Revolution der Denkart oder Denkart der Revolution [Reprint 2021 ed.] 9783112485040, 9783112485033


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Revolution der Denkart oder Denkart der Revolution [Reprint 2021 ed.]
 9783112485040, 9783112485033

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Revolution der Denkart oder Denkart der Revolution

Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Philosophie Schriften zur Philosophie und ihrer Geschichte 1

Akademie der Wissenschaften der UdSSR Institut für Philosophie Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Philosophie

Revolution der Denkart oder Denkart der Revolution Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants herausgegeben von M. Buhr und T. I.

Oiserman

Akademie-Verlag • Berlin

1976

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag, Berlin 1976 Lizenznummer: 202 • 100/16/76 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim G o r k i " , 74 Altenburg Einbandgestaltung: Willi Bellert Bestellnummer: 2178/1 Printed in G D R EVP 2 5 , -

Die in diesem Band vereinigten Beiträge Zur Philosophie Immanuel Kants waren Grundlage eines Symposiums, das aus Anlaß des 250. Geburtstages des Philosophen vom Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR am 28. und 29. März 1974 in Berlin durchgeführt wurde.

Inhalt Manfred Buhr (Berlin) Die Philosophie Immanuel Kants als theoretische Quelle des MarxismusLeninismus

11

T. I. Oiserman (Moskau) Der dialektische Materialismus und die Philosophie Kants

22

B. M. Kedrow (Moskau) Kant und die Naturwissenschaft Zwei Revolutionen in der Wissenschaft: Kopernikus und Kant

28

Hans-Jürgen Treder (Berlin) Kant und die Begründung der Kosmologie, Kosmogonie und kosmischen Physik auf Newtonscher Grundlage *

*

35

*

Jacques d'Hondt (Poitiers) Kant und die philosophische Tiefe

51

Jindrich Zeleny (Prag) Kants transzendentale Logik

67

N. W . Motroschilowa (Moskau) Das Problem der Aktivität der Erkenntnis in der „Kritik der reinen Vernunft" Kants

77

A. S. Bogomolow (Moskau) Einige Probleme der Dialektik Kants

92

Angel Bankow (Sofia) Die Lehre Kants von den analytischen und synthetischen Urteilen Martina Thom (Leipzig) Zum Freiheitsproblem bei Kant

. . . .

101 109

8

Inhalt

E. J. Solowjow (Moskau) Religiöser Glaube und Sittlichkeit in der Philosophie Kants *

*

122

*

Wilhelm Raimund Beyer (Salzburg) Der Reinheitsbegriff bei Kant

135

Hermann Klenner (Berlin) Zur Rechtslehre der reinen Vernunft *

162 *

*

Günter Kröber (Berlin) Kants Entwicklungsgedanke und sein Wissenschaftsverständnis

178

Hermann Ley (Berlin) Naturbegriff bei Kant

186

Swetoslaw Slawkow (Sofia) Immanuel Kant und die Mathematik

191

Herbert Hörz (Berlin) Kausalität in Kants Philosophie und in der Quantentheorie *

*

202

*

Nicoiao Merker (Rom) Kant 1974

220

Jean-Pierre Cotten (Paris) Kant und die Vorgeschichte der materialistischen Dialektik

227

Winfried Schröder (Berlin) Heivetius und Kant - zur materialistischen und idealistischen Ethik der bürgerlichen Emanzipationsphilosophie

232

Zbigniew Kuderowicz (Krakau) Kants Rolle in der Entwicklung der philosophischen Anthropologie *

*

.

.

.

248

*

Hans Jörg Sandkühler (Bremen) Revolutionärer Materialismus als Erkenntnistheorie

251

Andräs Gedö (Budapest) Kantsche Erkenntniskritik - Marxsche Erkenntnistheorie

281

9

Inhalt

Vera Wrona (Berlin) Neuerwachtes Interesse am Neukantianismus

294

Dieter Wittich (Leipzig) Der Neukantianismus und die Spezialisierung der bürgerlichen Philosophie auf Erkenntnistheorie

303

Vladimir Ruml (Prag) Die Problematik der theoretischen Erkenntnis bei Kant und im logischen Positivismus

309

Erhard Albrecht (Greifswald) Der Rückschritt des Neupositivismus und Strukturalismus gegenüber Kant

314

Bernd P. Löwe (Berlin) Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden" und das Dilemma bürgerlicher Friedensforschung

329

Robert Steigerwald (Eschborn) Der geheime Kant im Werk von Georg Lukäcs

349

S. I. Popow (Moskau) Der Humanismus Kants und die sozialdemokratische Konzeption des „ethischen Sozialismus" *

*

359

*

Wiesiaw Banasiewicz (Warschau) Die Philosophie Kants in Polen

373

Radu Tomoiagä (Bukarest) Immanuel Kant und die rumänische Kultur

378

Namenverzeichnis

390

Manfred Buhr (Berlin)

Die Philosophie Immanuel Kants als theoretische Quelle des Marxismus-Leninismus

Immanuel Kant war einer der größten und einflußreichsten Philosophen der progressiven Bourgeoisie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. D i e Wirkung seiner Philosophie reicht weit über seine Zeit hinaus. Das vor allem deshalb, weil sie Fragen aufwarf und beantwortete, löste und ungelöst ließ, die untrennbar mit dem Herausbildungs- und Entwicklungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft sowie mit der Wissenschaftsentwicklung der Zeit verbunden waren. Im engeren Sinne bezeichnet die Philosophie Kants Höhepunkt und Abschluß der europäischen Aufklärungsbewegung. Zugleich stellt sie aber auch den Beginn der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie dar - jener Periode des philosophischen Denkens, die von Kant über Fichte und Schelling zu Hegel und Feuerbach führte und die - neben der klassischen bürgerlichen politischen Ökonomie sowie dem utopischen Sozialismus und Kommunismus - zu einer der theoretischen Quellen des Marxismus-Leninismus wurde.

K a n t und die klassische bürgerliche Philosophie Das Gesagte deutet an, daß die Philosophie Kants als Moment eines größeren Ganzen gesehen werden muß: der klassischen bürgerlichen Philosophie. Unter klassischer bürgerlicher Philosophie ist die Entwicklung des philosophischen Denkens von Bacon und Descartes bis zu Hegel und Feuerbach zu verstehen. E s ist diejenige philosophische Bewegung, die die Interessen und Forderungen der aufstrebenden Bourgeoisie in ihren Systemen ausspricht, von diesen vorwärtsgetrieben wird, sie im Kampf gegen die überkommene und reaktionäre feudal-klerikale Ideologie fixiert und in einer eigenen Weltanschauung zu systematisieren und zu begründen versucht. Diese gegenüber der alten feudal-klerikalen Weltansicht neue bürgerliche Weltanschauung ist durch zwei Voraussetzungen gekennzeichnet: durch die Proklamierung der Aktivität des Menschen (des Subjekts) und durch die These von der Beherrschbarkeit der objektiven Realität durch den Menschen kraft seiner Erkenntnisfähigkeit. D i e klassischen bürgerlichen Philosophen haben dafür verschiedene Lösungen ausgearbeitet. E s ging ihnen jedoch letztlich immer darum, diese Voraussetzungen zu begründen. Sie umschrieben diesen Sachverhalt mit dem Begriff

12

M . Buhr

der Vernunft. Ihr Denken wurde von einem unerschütterlichen Glauben an die Kraft der Vernunft vorangetrieben. Dafür nur wenige Belege, die für sich selber sprechen. Diderot hielt fest: „ D i e Vernunft bedeutet für den Philosophen, was die Gnade für den Christen bedeutet." 1 Bei Holbach heißt es lapidar: „Indessen müssen wir auf dieser Welt mit Hilfe (der) Vernunft urteilen", und es ist „der Stimme der Vernunft zu folgen" 2 . Hegel wird später davon sprechen, daß „der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt..., der einfache Gedanke der Vernunft (ist), daß die Vernunft die Welt beherrsche" 3 . Und der bewußte Einsatz seines Denkens wird von der Einsicht getragen sein: „Was der Mensch sein Ich nennen kann, und was über Grab und Verwesung erhaben i s t , . . . ist fähig, sich selbst zu richten. E s kündigt sich als Vernunft an, deren Gesetzgebung von nichts mehr sonst abhängig ist, der keine andere Autorität auf Erden oder im Himmel einen anderen Maßstab des Richtens an die Hand geben kann." 4 Die Überzeugung der progressiven bürgerlichen Denker von der Kraft der Vernunft war derart unerschütterlich, daß Robespierre noch am 7. Mai 1794, nach fast fünfjähriger praktischer Revolutionserfahrung und nur knapp drei Monate vor seinem Sturz und seiner Hinrichtung, im Konvent erklären konnte: „Alle Erdichtungen schwinden vor der Wahrheit dahin, und alle Narrheit zerfällt vor der Vernunft." 5 Man muß die Philosophie Kants in diesem Kontext sehen, um ihre historische Rolle im Prozeß der Herausbildung und Entwicklung der klassischen bürgerlichen Philosophie zu bestimmen. Denn die Kantsche Philosophie reiht sich uneingeschränkt in diesen Prozeß ein. Wenn Kant nämlich die Vernunft als das Vermögen bestimmt, „von dem Allgemeinen das Besondere abzuleiten und dieses letztere... nach Prinzipien und als notwendig vorzustellen", so meint er das nicht nur erkenntnistheoretisch, wie die spätbürgerliche Kant-Nachfolge, vom Neukantianismus bis zum Neupositivismus, immer wieder behauptet hat und behauptet. D a s „nach Prinzipien und als notwendig vorstellen" heißt bei Kant: verbindlich für alle Menschen, vor allem im praktischen (gesellschaftlichen) Bereich. Schon der nächste Satz gibt darüber Aufschluß: „Man kann (die Vernunft) auch durch das Vermögen, nach Grundsätzen zu urteilen und (in praktischer Rücksicht) zu handeln, erklären." 0 Zugrunde liegt diesen Kantschen Ausführungen die Idee von der Aktivität des Menschen im Geschichtsprozeß, die er in seiner „Anthropologie" so ausspricht: „ D a ß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine

' D . D i d e r o t , Philosophische Schriften, Berlin ,1961, S . 3 8 5 2

P. T h . d ' H o l b a c h , System der N a t u r , Berlin 1 9 6 0 , S. 4 8 2 , 1 1 7

3

G . W . F . H e g e l , Sämtliche W e r k e , hrsg. v o n H . Glockner, Stuttgart 1 9 4 9 , B d . 11, S. 34

0

M . R o b e s p i e r r e , H a b t ihr eine R e v o l u t i o n ohne R e v o l u t i o n g e w o l l t ?

H e g e l s theologische J u g e n d s c h r i f t e n , hrsg. v o n H . N o h l , T ü b i n g e n 1 9 0 7 , S . 8 9 K . Schnelle, L e i p z i g o. J . ( R e c l a m ) , S. 3 6 4 e

I. K a n t , A n t h r o p o l o g i e in pragmatischer Hinsicht, L e i p z i g o. J . , § 38

( R e d e n ) , hrsg. v o n

D i e Philosophie Kants als Q u e l l e des Marxismus-Leninismus

13

Person und, vermöge der Einheit des Bewußtseins, bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen." 7 Der Gleichklang des Denkens Kants mit der gesamten klassischen bürgerlichen Philosophie ist offensichtlich. Seine Philosophie muß als ein großangelegter Versuch genommen werden, die Interessen und Forderungen des aufstrebenden Bürgertums philosophisch zu begründen. Seine Philosophie - und das ist sein Beitrag zur philosophischen Besinnung der progressiven Bourgeoisie - läuft dabei auf das Suchen nach wirklich gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis und nach wirklich sicheren wissenschaftlichen Kriterien für die ethischen Werte hinaus.

K a n t und die mathematische Naturwissenschaft Entscheidend bei diesem Unternehmen wird Kants Begegnung mit der mathematischen Naturwissenschaft in ihrer Newtonschen Gestalt. Diese gibt ihm die Überzeugung, daß die objektive Realität durchgängig von einer Gesetzmäßigkeit (Naturnotwendigkeit) beherrscht ist. Daß es erkennbare naturgesetzliche Wahrheit gibt, ist für Kant unabdingbare Voraussetzung jeder Wissenschaft. Dabei gilt ihm die Naturwissenschaft der Zeit als Wissenschaft schlechthin, ihre Methode als Muster und Vorbild. Kant befindet sich hierin in vollem Einklang mit der Tradition, vor allem mit der rationalistischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, die ihren Erkenntnisbegriff aus der neuen Naturwissenschaft bzw. in engster Anlehnung an sie gewinnt. J a , in Kant erreicht diese Entwicklung ihren Höhepunkt. Für Kant sind wahre Wissenschaft und mathematische Naturwissenschaft - wobei er immer an die Newtonsche Naturwissenschaft denkt - identisch. Alles, was nicht mathematische Naturwissenschaft ist oder zumindest nicht nach ihren Prinzipien in ein System gebracht werden kann, verdient den Namen Wissenschaft nicht, ist keine „eigentliche Wissenschaft", sondern „nur uneigentlich so genanntes Wissen". In jeder Wissenschaft, schreibt Kant in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft", ist „nur so viel eigentliche Wissenschaft... als darin Mathematik anzutreffen ist". Wissenschaft steht und fällt bei Kant mit der mathematischen Naturerkenntnis. Kants Stellungnahme zur mathematischen Naturwissenschaft ist ein Grundelement seines philosophischen und methodischen Denkens. Sie schwingt in allen seinen Bemühungen mit und darf bei der Interpretation seiner Philosophie nicht außer acht gelassen werden. Sie ist für ihre Untersuchung um so bedeutsamer, als sie einmal die Grundlage für Kants Wissenschaftsbegriff abgibt, zum anderen aber 7

Ebenda, § i

14

M. Buhn

sein Denken zu einer gewissen Zwiespältigkeit verführt, die zu einem Knotenpunkt des ferneren philosophischen Fortschritts in Richtung der Ausarbeitung der Dialektik innerhalb der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie werden wird.

Fruchtbare dialektische Fragestellungen Kant kam in seiner Philosophie dergestalt, indem er von der gesellschaftlich-historischen Grundproblematik, dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, sowie vom fortgeschrittensten Stand der Wissenschaftsentwicklung der Zeit, der mathematischen Naturwissenschaft, ausging, zu bleibenden wissenschaftlichen Einsichten, fruchtbaren dialektischen Fragestellungen, die die weitere philosophische Entwicklung bestimmten, sowie zu hervorragenden humanistischen Bekenntnissen, von denen sich die Bourgeoisie, insbesondere die imperialistische, längst losgesagt hat. Zu verweisen ist zunächst auf die dialektischen Einsiebten der Philosophie Kants. In der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" (1755) wendet Kant, ausgehend von der Newtonschen Naturwissenschaft sowie die Einwände der Cartesianer und Leibniz' gegen Newton berücksichtigend, als erster Denker der bürgerlichen Neuzeit entwicklungsgeschichtliches (dialektisches) Denken auf die Entstehung unseres Planetensystems an. Für Kant war das Sonnensystem - und damit natürlich auch unsere Erde - das Produkt einer langen historischen Entwicklung. War aber die Erde „etwas Gewordenes, so mußte ihr gegenwärtiger geologischer, geographischer, klimatischer Zustand, mußten ihre Pflanzen und Tiere ebenfalls etwas Gewordenes sein, mußte sie eine Geschichte haben nicht nur im Raum nebeneinander, sondern auch in der Zeit nacheinander". Gerade das letzte aber verneinte die auf Kant überkommene Naturanschauung entschieden. Sie war ihrem Wesen nach metaphysisch (undialektisch). In diese, wie Engels sagt, „versteinerte Naturanschauung" schlug Kant die erste Bresche, die „der Springpunkt alles ferneren Fortschritts" war. „Die Kantsche Theorie von der Entstehung aller jetzigen Weltkörper aus rotierenden Nebelmassen war der größte Fortschritt, den die Astronomie seit Kopernikus gemacht hatte. Zum erstenmal wurde an der Vorstellung gerüttelt, als habe die Natur keine Geschichte in der Zeit." Und Engels steht nicht an, zusammenfassend festzuhalten: „Hätte die große Mehrzahl der Naturforscher weniger von dem Abscheu vor dem Denken gehabt, den Newton mit der Warnung ausspricht: Physik, hüte dich vor Metaphysik! - sie hätten aus dieser einen genialen Entdeckung Kants Folgerungen ziehen müssen, die ihnen endlose Abwege, unermeßliche Mengen in falschen Richtungen vergeudete Zeit und Arbeit ersparten." 8 D e r durchgehende Grundgedanke der Kantschen Theorie von der Entstehung des Planetensystems war die Annahme, daß die Welt „ganz offenbar bloß durch 8

K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 20, S. 14, 52

D i e Philosophie Kants als Quelle des Marxismus-Leninismus

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den Streit der Kräfte in einem regelmäßigen Laufe erhalten" wird, daß der Streit zwischen den Grundkräften der Materie gleichsam ein dauerhaftes Leben in der Natur garantiere. 9 Diesen Grundgedanken verband Kant mit der Idee des Gesamtzusammenhangs und der gegenseitigen Bedingtheit aller Naturerscheinungen. E r stellt fest: „Je näher man die Natur wird kennenlernen, desto mehr wird man einsehen, daß die allgemeine Beschaffenheit der Dinge einander nicht fremd und getrennt sind. Man wird hinlänglich überführt werden, daß sie wesentliche Verwandtschaften haben", daß sie „so zu sagen, ein System ausmachen, in welchem eine auf die andere beziehend ist." 10 Nicht nur bei der Betrachtung von Naturerscheinungen, sondern auch im Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung (Geschichte) kam bei Kant dialektisches Denken zum Durchbruch. In seiner Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784) formuliert er: „Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird." 11 Beginnendes historisches Denken, der Gedanke vom Streit entgegengesetzter Kräfte und die Idee vom Gesamtzusammenhang und der gegenseitigen Bedingtheit der Erscheinungen - das sind dialektische Einsichten der Philosophie Kants, die allein genügt hätten, dieser für immer einen hervorragenden Platz in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften zu sichern.

Dialektische Fassung des Erkenntnisproblems Bei der Behandlung der Darstellung des Erkenntnisprozesses durch Kant hielt Hegel fest: Der Begriff, den Kant von der Erkenntnis entwickelte, „der Begriff von Unterschiedenem, das ebenso untrennbar ist, einem Identischen, das an ihm selbst ungetrennt Unterschied ist, gehört zu den Großen und Unsterblichen seiner Philosophie" 12 . In der Tat hat Kant in seiner Philosophie eine dialektische Fassung des Erkenntnisproblems gegeben: Die Erkenntnis wird in ihr als Prozeß dargestellt, in dem sich seine gegensätzlichen Momente durchdringen und zur Einheit (Synthesis) werden. K a n t : „Die Synthesis ist nicht einfache Identität an sich, sondern Einheit der Mannigfaltigkeit..., d. h. Einheit mit dem andern, und nicht mit sich selbst." 13 Freilich hat Kant die Probleme, die aus der dialektischen Fassung des Erkenntnisproblems resultieren, nicht bewältigt. Aber die damit im Zusammenhang stehen9

Vgl. I. Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Wiesbaden 1960, Bd. 1, S. 812

10

Ebenda, S. 392

11

I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Vierter Satz

12

G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Leipzig 1948, Bd. 1, S. 204

13

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 135

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M. Buhr

den Fragen unter dem Gesichtspunkt der „Einheit der Mannigfaltigkeit" gestellt zu haben, bedeutete einen kaum abzuschätzenden Fortschritt in der Geschichte der Philosophie, insbesondere des Erkenntnisproblems, weil dadurch das erstemal eine dialektische Fassung des Erkenntnisproblems gegeben wurde. Die Gegensätze, die Kant als notwendige Momente des Erkenntnisprozesses festhält, werden durch ihn abstrakt zusammengespannt: Sinnlichkeit und Verstand, Anschauung und Begriff, Inhalt und Form, Vielheit (Mannigfaltigkeit) und Einheit sind bei Kant in der Wirklichkeit absolut voneinander getrennt. Die Vereinigung dieser gegensätzlichen Momente des Erkenntnisprozesses erfolgt nur im Bewußtsein und durch dessen Tätigkeit. Der ganze Erkenntnisprozeß wird so bei Kant eine ausschließlich subjektive Angelegenheit. Hier ist jener Punkt, an dem der subjektiv-idealistische Grundcharakter seiner Philosophie deutlich zum Vorschein korhmt. Kants selbstgestellte Aufgabe, die Gesetze der Erkenntnis zu formulieren, ist jedoch von den subjektiv-idealistischen Voraussetzungen seiner Philosophie her nicht zu bewältigen. Nicht im Bewußtsein findet die Einheit der Gegensätze statt, wie Kant vorgibt, sondern diese sind dem Gegenstand der Erkenntnis selber eigen. Das aber ist die materialistische Ansicht. Nach materialistischer Auffassung bedarf es keines besonderen Aktes des Bewußtseins, damit die Gegensätze vereinigt werden. Wie eine Polemik gegen die Auffassungen Kants hören sich die Marxschen Worte aus der Einleitung zur „Kritik der Politischen Ökonomie" an: „Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung ist. Im ersten Weg wurde die volle Vorstellung zu abstrakter Bestimmung verflüchtigt; im zweiten führen die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Weg des Denkens."14 Die Einheit ist so nicht bloße Angelegenheit des Subjekts (Bewußtseins), die Mannigfaltigkeit nicht ausschließlich Sache des Objekts (der Wirklichkeit), sondern Einheit und Mannigfaltigkeit sind im Objekt, das im Erkenntnisprozeß vom Bewußtsein nicht konstituiert, sondern widergespiegelt wird.

Subjektiver Idealismus und Agnostizismus Mit der dialektischen Fassung des Erkenntnisproblems hat Kant auf den weiteren philosophischen Fortschritt außerordentlich fruchtbar gewirkt, ungeachtet seiner subjektiv-idealistischen Voraussetzungen. Fichte und vor allem Hegel werden die Kantsche Fragestellung aufnehmen und bis zu jenem Punkt vorantreiben, an den Marx und Engels - unter veränderten gesellschaftlichen Voraussetzungen und nun nicht mehr vom Standpunkt der Bourgeoisie aus, sondern von dem des Proletariats - anknüpfen werden, um sie der prinzipiellen Lösung zuzuführen. 14

K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 13, S. 632

D i e Philosophie Kants als Quelle des Marxismus-Leninismus

17

Darüber hinaus sind die subjektiv-idealistischen Voraussetzungen der Kantschen Philosophie eng mit dem Agnostizismus seiner Erkenntnislehre verknüpft. Kant entwickelt nämlich in der „Kritik der reinen Vernunft" (1781) die Ansicht, d a ß die Dinge nicht erkannt werden können, wie sie an sich selber sind, sondern nur als Erscheinungen. Die spätbürgerliche und imperialistische Philosophie, vom Neukantianismus über den Empiriokritizismus bis zum Neupositivismus, wird gerade an den subjektiv-idealistischen und agnostizistischen Grundcharakter der Kantschen Philosophie anknüpfen, diesen weiterbilden und - ihn aus dem Zusammenhang reißend - aufblähen sowie kultivieren. Indem Kant also dergestalt in seiner Philosophie die objektive Realität in zwei Welten teilt, d. h. zwei Seinssphären, die Sphäre der (unerkennbaren) Dinge an sich und die Sphäre der (erkennbaren) Erscheinungen, konstruiert, verleiht er seiner Philosophie insgesamt einen widerspruchsvollen und kompromißhaften Charakter, insbesondere im Hinblick auf die Grundfrage der Philosophie. Lenin resümiert deshalb: „Der Grundzug der Kantschen Philosophie ist die Aussöhnung des Materialismus mit dem Idealismus, ein Kompromiß zwischen beiden, eine Verknüpfung verschiedenartiger, einander widersprechender philosophischer Richtungen zu einem System." 15

D i e A k t i v i t ä t des Menschen Ungeachtet dessen hat Kant mit der dialektischen Fassung des Erkenntnisproblems betont jenen Prozeß des philosophischen Denkens eingeleitet, den Marx in den „Thesen über Feuerbach" so charakterisierte: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus - den Feuerbachschen mit eingerechnet - ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde - aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt." 16 Es ist das Aufwerfen des Problems der Aktivität des Menschen bei der Gestaltung seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt, das Marx hier als Verdienst der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie hervorkehrt. Kant war der erste Denker, der diese Problematik bewußt in den Mittelpunkt seiner Philosophie gestellt hat. Das kommt in mehreren Lehrstücken seiner Philosophie zum Ausdruck, als tragendes Motiv ist sie ihr durchgängig eigen. Besonders deutlich wird das an Kants Philosophie-Begriff. Kant führte zu seiner Zeit einen völlig neuen, wenn nicht revolutionären Philosophie-Begriff ein. „Wissenschaft hat einen inneren wahren Wert nur als Organ der Weisheit", so stellt er in seinen Vorlesungen über Logik (!) fest und fügt erläuternd hinzu: „Als sol-

2

15

W. I. Lenin, Werke, Bd. 14, S. 195

16

K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 3, S. 5 3 3 Buhr/Oiserman

18

M. Buhr

ches ist sie ihr aber auch unentbehrlich, so daß man wohl behaupten darf: Weisheit ohne Wissenschaft sei ein Schattenriß von einer Vollkommenheit, zu der wir nie gelangen werden."17 Damit es zu einem solchen Schattenriß nicht kommt, dazu ist - nach Kant - das Bemühen um Philosophie unabdingbar. Unter „Philosophie" aber versteht Kant weniger ein Lehrgebäude als vielmehr eine Tätigkeit, nämlich zu philosophieren, d. h., die Dinge in ihren Zusammenhängen und in ihrer Allgemeinheit zu sehen und zu lehren. Hierauf ist nach Kant „die Humanität der Wissenschaft" begründet, die er als „Selbsterkenntnis der menschlichen Vernunft" bestimmt, „ohne welches wir kein Augenmaß der Größe unserer Erkenntnis haben" können.Davon ausgehend kommt Kant dann zu folgender Bestimmung der Philosophie: „Was . . . Philosophie nach dem Weltbegriffe . . . betriilt: so kann man sie auch eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft nennen, sofern man unter Maxime das innere Prinzip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht. Denn Philosophie in der letzteren Bedeutung ist ja die Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft, dem, als dem obersten, alle andern Zwecke subordiniert sind und sich in ihm zur Einheit vereinigen müssen." Das „Feld der Philosophie" kann deshalb - nach Kant - in folgende vier Fragen eingekleidet werden, über deren humanistisches, die Aktivität des Menschen betonendes Anliegen kein Zweifel aufkommen kann: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?" und schließlich, die ersten drei Fragen in sich schließend, „Was ist der Mensch?"19 Die Aufgaben, die Kant der Philosophie stellte, waren von hervorragender historischer Bedeutung. Es waren die Forderungen des klassischen bürgerlichen Humanismus in jenem Stadium seiner Entwicklung, als er die Ideologie der progressiven Bourgeoisie war. In diesem Zusammenhang muß die Philosophie Kants gesehen werden. Sie ist eine Absage an die feudal-klerikale Ideologie, die den Menschen zur Passivität verurteilte. Kant wollte mit seiner Philosophie die Aktivität des Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen begründen. Der Mensch ist in der Lage, die Welt zu beherrschen - das wollte Kant mit seiner Philosophie sagen. Der Humanismus der Kantschen Philosophie Nicht zuletzt kommt in der Philosophie Kants das Problem der Aktivität des Menschen im sogenannten Primat der praktischen gegenüber der theoretischen Vernunft sowie in der These der Unabhängigkeit der Moral von der Religion zum Ausdruck. In diesen Lehrstücken der Kantschen Philosophie ist das Problem der Tätigkeit, der Aktivität des Menschen am ausgeprägtesten angesprochen. Deshalb 17 18

I. Kant, W e r k e in sechs Bänden, Bd. 3, S. 4 4 9 Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie, hrsg. von B. Erdmann, Berlin 1 8 8 2 , Bd. 2, S. 6 0

19

I. Kant, W e r k e in sechs Bänden, Bd. 33, S. 4 4 8

Die Philosophie Kants als Quelle des Marxismus-Leninismus

19

ist - nach Kant - auch die praktische Philosophie, d. h. vor allem die Ethik und die Geschichtsphilosophie, der eigentliche Ort der Bewährung der Philosophie. Gegen die feudal-klerikale (und damit gegen jede Form religiöser Ideologie) hält Kant fest: „Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden."20 Aus dieser Feststellung leitet Kant das Grundgesetz seiner Ethik ab: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."21 Kant nennt dieses Grundgesetz der Ethik auch „kategorischer Imperativ", weil seine Geltung unbedingt, das heißt für alle Menschen verbindlich sein soll. An dieser Stelle seiner Philosophie wird deutlich, daß Kant diese im Hinblick auf eine bestimmte ökonomische Gesellschaftsformation, im Hinblick auf die bürgerlich-kapitalistische Welt entwickelt, was zugleich ihre Grenzen markiert. Und in der Tat sind es die Art und Weise der zwischenmenschlichen Beziehungen im Kapitalismus, die Kant den abstrakten Charakter seiner Ethik (ihre Gesetze sollen für alle Menschen gelten, für die Ausbeuter genauso wie für die Ausgebeuteten) aufzwingen. Aber nicht die Kantsche Ethik ist primär abstrakt, sondern die zwischenmenschlichen Beziehungen im Kapitalismus erschöpfen sich im Abstrakten und Formalen, denn sie unterliegen den Gesetzen der Konkurrenz, moralisch: der Selbstsucht und des Egoismus. Durch die Erklärung der absoluten Verbindlichkeit des kategorischen Imperativs für alle Menschen will Kant im Einklang mit den humanistischen Idealen der Aufklärung der Selbstsucht und dem Egoismus der bürgerlich-kapitalistischen Welt Einhalt gebieten, um - wenigstens formal - die bürgerliche Gesellschaft als Gemeinschaft postulieren zu können. Allein, es spricht für die Größe Kants, wenn er - gleich Hegel - die beiden Seiten dieses Sachverhalts gesehen, zumindest geahnt hat. Auf der einen Seite den unzureichenden Zustand der bürgerlichen Gesellschaft, die nach dem Gesetz der Konkurrenz eingerichtet ist und dadurch der übergroßen Mehrzahl der Menschen ein menschliches Dasein verwehrt, andererseits aber auch, daß gerade dieser „Zustand" über die bürgerliche Gesellschaft hinaustreibt. Kant hatte gleichsam eine Vorahnung von den Triebkräften der gesellschaftlichen Entwicklung, wenn er formuliert: „Einzelne Menscheil und selbst ganze Völker denken wenig daran, daß, indem sie, ein jedes nach seinem Sinn und einer oft wider den andern, ihre eigene Absicht verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fortgehen, und an derselben Beförderung arbeiten."22 Der Kantschen Philosophie ist so ein humanistisches Anliegen durchgängig, das sich im Einklang befindet mit der humanistischen Überlieferung der gesamten 20

Ebenda, Bd. 4, S. 59 f.

21

Ebenda, S. 140

22

Ebenda, Bd. 6, S. 34

2*

20

M. Buhe

Menschheit. Deshalb beantwortet er in und mit seiner Philosophie die Frage: „Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?" ohne jede Einschränkung bejahend. Er sieht jedoch dieses Fortschreiten weniger in veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen als vielmehr in einem beständigen geistigen Fortschritt, der die Grundlage für eine allmähliche Änderung auch der Gesellschaft abgeben kann. In dieser Beziehung ist Kant der typische Denker des deutschen Bürgertums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Marx: „Die charakteristische Form, die der auf wirklichen Klasseninteressen beruhende französische Liberalismus in Deutschland annahm, finden wir bei K a n t . . . , (der) die materiell motivierten Bestimmungen des Willens der französischen Bourgeoisie zu reinen Selbstbestimmungen des ,freien Willens', des Willens an und für sich macht."23 Das heißt, die von Kant vertretenen und im Sinne der aufstrebenden Bourgeoisie theoretisch gerechtfertigten und begründeten Ideen der Freiheit, der Gleichheit und der Gerechtigkeit, der menschlichen Würde, des ewigen Friedens usw. sind im Rahmen seiner Philosophie von der Menschheit zwar ständig anzustrebende Ideen, aber nie ganz zu verwirklichende Zustände. Sie sind Forderungen im Sinne von bloßen Postulaten. Mit anderen Worten: Kant stellt zwar die von ihm in seiner Philosophie vertretenen progressiven bürgerlichen Ideen als unabdingbare humanistische Forderungen der Existenz und des weiteren Fortschritts der gesamten Menschheit hin, rückt ihre Verwirklichung jedoch in die ferne Zukunft. Wenn demnach der Kantschen Philosophie ein gewisser Unglaube nicht abgesprochen werden kann, so hat sich ihr zukunftsträchtiger humanistischer Optimismus in letzter Instanz doch als stärker erwiesen. Sein Bekenntnis zur Französischen Revolution, die er als „eine Begebenheit" bezeichnet, welche die „moralische Tendenz des Menschengeschlechts beweiset" 24 , zeugt davon ebenso wie der Beschluß der „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre" (1797): „Man kann sagen, daß (die) allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung nicht bloß einen Teil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ausmache; denn der Friedenszustand ist allein der unter Gesetzen gesicherte Z u s t a n d . . . , (der) durch allmähliche Reform nach festen Grundsätzen versucht und durchgeführt, in kontinuierlicher Annäherung zum höchsten politischen Gut, zum ewigen Frieden, hinleiten kann." 25 D i e Philosophie Kants und die Gegenwart Im Vorwort zur deutschen Ausgabe seiner Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" aus dem Jahre 1882 bekannte Engels: „Die materialistische Geschichtsauffassung und ihre spezielle Anwendung auf den mo23 24 25

K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 3, S. 178 I. Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 357 Ebenda, Bd. 4, S. 479

Die Philosophie Kants als Quelle des Marxismus-Leninismus

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dernen Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie war nur möglich vermittelst der Dialektik. Und wenn die Schulmeister der deutschen Bourgeoisie die Erinnerung an die großen deutschen Philosophen und die von ihnen getragne Dialektik ertränkt haben im Sumpf eines öden Eklektizismus, so sehr, daß wir die moderne Naturwissenschaft anzurufen genötigt sind als Zeugin für die Bewährung der Dialektik in der Wirklichkeit - wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel." 26 Von diesem Bekenntnis eines der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus hatte die revolutionäre Arbeiterklasse bis auf den heutigen Tag nichts zurückzunehmen - das auch im Hinblick auf Kant nicht. Im Gegenteil. Kant steht am Beginn der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie. Als solcher gehört seine Lehre zu den theoretischen Quellen des Marxismus-Leninismus. Und es ist ein Grundprinzip des Marxismus-Leninismus, daß die anhaltende Auseinandersetzung mit dem philosophischen Erbe, d\ h. seine kritische Durchdringung und Aufhebung, ein konstitutives Moment der ideologischen Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft ist. Das philosophische Erbe (und nicht nur dieses) ist ja nicht bloß Geschichte, also von rein historischem Interesse, sondern aktuelle Vergangenheit. Dadurch aber ist es Gegenwart. Es ist als Tradition Gegenwart und damit verfügbar - verfügbar von entgegengesetzten Klassenkräften. Unter diesem Aspekt ist jede Beschäftigung mit dem philosophischen Erbe Teil des ideologischen Klassenkampfes. Dies im Falle Kants hervorzuheben ist um so wichtiger, als die Wirkungsgeschichte seiner Philosophie sehr widersprüchlich war und ist. Die vergänglichen Momente der Kantschen Philosophie wurden ja nicht nur von der im engeren Sinne spätbürgerlichen Ideologie konserviert und gegen den Marxismus-Leninismus ausgespielt, sondern auch von der revisionistischen und sozialreformistischen Ideologie von gestern und heute. Kants Bedeutung liegt, und zwar nicht nur historisch, sondern eben auch für unsere Gegenwart, in seiner Rolle als Begründer der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie, in den dialektischen Einsichten, humanistischen Bekenntnissen und dem eminent wissenschaftshistorischen Aspekt seiner Philosophie. Diese „Bedeutung" ist gegen die Kant-Verfälschung der bürgerlichen, revisionistischen und sozialreformistischen Ideologie zu verteidigen. Die durch die Kantsche Philosophie aufgeworfenen Fragen fanden ihre prinzipielle Beantwortung in der marxistisch-leninistischen Philosophie. Und ihr humanistisches Anliegen findet seine Verwirklichung im Prozeß der Gestaltung des Sozialismus und Kommunismus. Dies festzuhalten gilt um so mehr, als Kant selber bereits der Überzeugung war, „daß nach manchen Revolutionen der Umbildung endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schoß, worin alle ursprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zustande kommen werde" 27 .

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K . Marx / F. Engels, Werke, Bd. 19, S. 1 8 9

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I. Kant, W e r k e in sechs Bänden. Bd. 6, S. 4 7

T. I. Oiserman

Der dialektische Materialismus und die Philosophie Kants Die Bedeutung der klassischen deutschen Philosophie als eine der Quellen des Marxismus kann nicht ohne die Erforschung der Lehre von Kant erfaßt werden. Die Lehre Kants, obwohl sie nur den Beginn dieser mächtigen intellektuellen Bewegung ausmacht, verdient eine ausführliche Erforschung im Rahmen der Problematik des dialektischen Materialismus. Lenin schrieb: „Die Marxisten kritisierten (am Beginn des 20. Jahrhunderts) die Kantianer und die Anhänger Humes mehr auf Feuerbachsche und (Büchnersche) als auf Hegeische Art." 1 Er betonte also, die Gedankengänge der Kantschen Philosophie nicht a limine zu verwerfen, sondern sie zu verarbeiten, richtigzustellen, zu vertiefen. 2 Es gibt keinen Grund, zu behaupten, daß diese Aufgabe von uns, den marxistischen Philosophen, schon völlig gelöst sei. Die wichtigste Errungenschaft der klassischen deutschen Philosophie besteht bekanntlich in der Dialektik. Dabei diente dieser Terminus Kant zur Bezeichnung solcher Widersprüche, in die die reine, d. h. sich nicht auf die Erfahrung stützende Vernunft verfällt, soweit sie fatalerweise bestrebt ist, über die Grenzen jeder möglichen Erfahrung hinauszugehen. Doch bedeutet dies nicht, daß Kant ein Gegner der Dialektik war. Viele Denker, die sich nicht als Dialektiker bezeichneten, waren in Wirklichkeit Meister der dialektischen Analyse, während andere Denker, die im Namen der Dialektik auftraten, in der Tat deren Gegner waren. Die philosophiegeschichtliche Analyse setzt die Unterscheidung des objektiven Inhalts der philosophischen Lehren und der subjektiven Form ihrer Darlegung voraus. Marx hat darauf hingewiesen, daß einer der Hauptmängel des bisherigen Materialismus dessen Kontemplativität sei, d. h. das Nichtverstehen der aktiven Rolle des erkennenden Subjekts, das nicht einfach die es umgebenden Dinge wahrnimmt, sondern diese verändert und dank dessen erkennt. Der kontemplative Materialismus deutet die Erkenntnis als Resultat der Einwirkung der Außenwelt auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Folglich verstand er die erkenntnistheoretische Rolle der Praxis nicht, die in der Einwirkung des erkennenden Subjekts auf die Gegenstände der Erkenntnis besteht. Mehr 1 2

W. I. Lenin, Werke, Bd. 38, S. 169 Vgl. ebenda.

Der dialektische Materialismus und die Philosophie Kants

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noch: in ihrer vollen Entfaltung, d. h. als wissenschaftliche Erkenntnis, setzt diese die Herrschaft des Menschen über bestimmte spontane Naturkräfte, setzt schöpferische Tätigkeit, Freiheit voraus. Nur die Betrachtung des Erkenntnisprozesses vom Standpunkt der dialektischen, sich historisch vollziehenden Verwandlung der Notwendigkeit in Freiheit überwindet die Kontemplativität, die metaphysische Beschränktheit des vormarxschen Materialismus. Kant war der erste Philosoph, der die Interpretation des Erkenntnisprozesses als eines im wesentlichen kontemplativen Prozesses bahnbrechend bekämpfte. Als Idealist allerdings verabsolutierte er die subjektive Seite des Erkenntnisprozesses und verwandelte die Naturerscheinungen in etwas, das durch die Erkenntnisfähigkeit selbst geschaffen wird. Er leugnete jedoch nicht die objektive Realität oder die Welt der Dinge an sich. Er betrachtete die letzteren als Grundlage der Erscheinungen. Weshalb hielt er dann die Dinge an sich für unerkennbar? Zu den Quellen des Kantschen Agnostizismus gehört auch seine Überzeugung, daß die Dinge an sich, als letzte substantielle Grundlage der Erscheinungen, nicht in die Sphäre der menschlichen Tätigkeit einbezogen werden können, nicht von dieser geformt, verändert werden. Der Irrtum Kants, der in einem bestimmten Sinn als großartiger Irrtum bezeichnet werden kann, barg in sich den Keim einer tiefen dialektischen Fragestellung des wichtigsten erkenntnistheoretischen Problems. Von diesem Standpunkt aus muß man auch den Gedanken Kants vom Primat der praktischen Vernunft über die theoretische Vernunft einschätzen, ungeachtet dessen, daß die praktische Vernunft nur als sittliches Bewußtsein charakterisiert wird. Kant meinte, es gibt theoretisch unlösbare Probleme, die ihre wirkliche Lösung in der Praxis erfahren. Man muß die wissenschaftliche Bedeutung einer solchen Fragestellung unterstreichen. Ihre Bestätigung findet sie unter anderem im Problem der praktischen Willensfreiheit. Kant schrieb: „Die Freiheit im praktischen Verstände ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit." 3 Das Vorhandensein einer Freiheit dieser Art wird, so sagt Kant, durch die Praxis der sittlichen Handlung bewiesen. Somit besteht Kant auf der Existenz einer solchen Art zweckmäßiger Handlungen, welche sich qualitativ von der theoretischen Handlung unterscheiden und, dank dessen, die Funktion des Beweises, der Bestätigung unter Bedingungen erfüllen, unter denen die theoretische Untersuchung dieses nicht vermag. Dabei unterstreicht Kant, daß die Grundsätze der Philosophie mit Hilfe der praktischen Vernunft als eindeutige Schlußfolgerungen aus solchen Tatsachen aufgestellt werden. Die theoretische Vernunft erforscht die Tatsachen allseitig, methodisch mit dem Zweck, ihre unbedingt invarianten Voraussetzungen aufzudecken, deren Existenz praktisch bewiesen wird. Solche Voraussetzungen soll man nicht als Hypothese verstehen, sondern als einzig mögliche Erklärung der Tatsachen oder sogar als einzig möglichen Grund ihrer Existenz. Es versteht sich, daß nach Kants Lehre nicht nur die Willensfreiheit, sondern 3

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Karl Vorländer, Halle a. d. S., o. J., S. 4 5 9

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auch das „Ding an sich" solche notwendigen Voraussetzungen der klar festgestellten Tatsachen darstellen. Das „Ding an sich" ist eine unbedingte Voraussetzung für die Existenz der Erscheinungen: beides, „Ding an sich" und sittliches Bewußtsein, meinte Kant nicht nur theoretisch, sondern praktisch zu beweisen. D i e dialektische Methode als Methode der wissenschaftlichen, der theoretischen Forschung setzt, wie Engels gezeigt hat, eine Analyse der Begriffe voraus, also die Fähigkeit, mit diesen zu operieren. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist die Philosophie Kants eine entscheidende Stufe in der historischen Vorbereitung und Herausbildung der dialektischen Logik. Kant hat einerseits den Empirismus und andererseits den Rationalismus tiefgründig kritisiert. Die Empiristen meinten, d a ß der sinnliche Ursprung der Begriffe diese ihrer notwendigen Allgemeinheit beraube. Humes Skeptizismus war der logische Abschluß dieser in ihrem G r u n d e nominalistischen Interpretation der allgemeinen Begriffe, an welche sich der philosophische Empirismus hielt. Kant verstand sehr wohl, d a ß die empiriitische Konzeption der Universalien eine bestimmte Berechtigung besitzt, weil induktive Schlüsse nur einen begrenzten Kreis von Erscheinungen umfassen. E r war mit dem Empirismus auch darin einig, d a ß Begriffe, die keinen empirischen Inhalt besitzen, auch kein Wissen von der Außenwelt liefern. Doch ging er von der Überzeugung aus, d a ß naturwissenschaftliche und mathematische Aussagen wirklich notwendige Universalität besitzen, weswegen dann eine empirische, nominalistische Interpretation dieser Aussagen prinzipiell unhaltbar sei. Im Unterschied zu den Empiristen haben die Rationalisten den notwendigen und universellen Charakter der mathematischen und naturwissenschaftlichen Wahrheiten theoretisch verteidigt. Doch sie bestritten den empirischen Ursprung von Wahrheiten dieser Art, da die Induktion immer unvollständig bleibe. D i e Erkenntnis des Allgemeinen ist, dem Rationalismus zufolge, von der Erfahrung unabhängig. Der Rationalismus nahm deshalb die Existenz eines überempirischen Wissens an, welches er zu realisieren bestrebt war. Kant hat die rationalistische Vorstellung von einem apriorischen Inhalt der allgemeinen Schlußfolgerungen der Wissenschaft entschieden abgelehnt. D e r Ansicht Kants entsprechend kann Apriorität nur der Form des Wissens eigen sein, nicht aber dem Inhalt, welcher nur aus den Sinnesdaten entsteht. Das bedeutet, d a ß wissenschaftliche Sätze, die universelle und notwendige Gültigkeit besitzen, apriorisch nur insoweit sind, als die ihnen eigene Universalität und Notwendigkeit nicht durch die Grenzen möglicher Erfahrung eingeschränkt sind. Doch folgt daraus nicht, d a ß der Inhalt dieser Sätze von der Erfahrung unabhängig sei. Im Gegenteil: im Rahmen der Erfahrung, über die die Wissenschaft verfügt, haben wissenschaftliche Sätze empirische Grundlagen. Somit begründet die Kantsche Konzeption der Apriorität eine notwendige, aber natürlich relative Unabhängigkeit der theoretischen Schlüsse von ihrer empirischen Grundlage. Eine solche Fragestellung unterscheidet sich wesentlich von einer rationalistischen Konzeption über ein überempirisches Wissen, obwohl auch jene Konzeption aus philosophi-

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sehen Analysen der Grundlagen der Mathematik und Mechanik hervorgegangen war. Eben deshalb spielte Kants Kritik der rationalistischen Metaphysik des 17. Jahrhunderts eine hervorragende Rolle in der Geschichte der Dialektik. Kant, sowohl Empirismus als auch Rationalismus kritisierend, versuchte nicht, beide auf eklektische Weise zu vereinigen. Seine Fragestellung bezüglich der Beziehung zwischen Rationellem und Sinnlichem hat die dialektische Lösung dieses Problems vorbereitet. Indem Kant den Gegensatz von Empirischem und Theoretischem aufdeckte, enthüllte er die Einheit dieser Gegensätze. Der Lehre Kants zufolge ist Erfahrung ohne Kategorien unmöglich, mit deren Hilfe die Erfahrungselemente sich miteinander verbinden und die Schlüsse aus der Erfahrung Notwendigkeit und Beweisbarkeit erhalten. Doch sind Kategorien bekanntlich nicht unmittelbar in der Erfahrung des erkennenden Individuums gegeben. Da die Kategorien Formen des Denkens darstellen, die durch die Erfahrung mit vielseitigem Inhalt erfüllt werden, betrachtete Kant diese als apriorische Funktionen der Vernunft. Eine unhistorische Betrachtungsweise der Kategorien verhindert das Verständnis ihres objektiven, sich historisch herausbildenden Inhalts. Jedoch zeigte die Erfahrungskonzeption Kants, indem sie Erfahrung mit der kategorialen Synthese der Sinnesdaten verband, den Weg zur dialektischen Überwindung der Einseitigkeit des Empirismus wie auch des Rationalismus auf. Der moderne Positivismus lehnt die Kantsche Auffassung der Erfahrung als nicht nur durch die Sinnesdaten, sondern auch durch das vom individuellen Bewußtsein unabhängige Kategoriensystem Bedingte ab und deutet Erfahrung als Gesamtheit subjektiver Erlebnisse des Individuums, d. h., er führt die subjektivistische Interpretation der Erfahrung bis zum Äußersten. Dabei zeigt der Entwicklungsgang des philosophischen Denkens, daß die Begründung der epistemologischen Objektivität der Erfahrung unmöglich wird, wenn man die von Kant durchgeführte Unterscheidung zwischen Erfahrungsurteilen und einfachen Wahrnehmungsurteilen verwirft. Die Analyse der Beziehungen zwischen Sinnlichkeit und Denken führt Kant zu dem Schluß, daß theoretische Kenntnisse nicht auf ihre empirischen Quellen zurückgeführt werden können. Indem er den empirischen Reduktionismus verwirft, stellt Kant die Frage nach dem Widerspruch zwischen Rationellem und Sinnlichem, nach dem dialektischen Sprung vom empirischen zum theoretischen Niveau des Wissens. Da bei Kant eine bewußt dialektische Fragestellung dieses Problems noch fehlt, erklärt er den qualitativen Unterschied des theoretischen Wissens vom empirischen nur mit dem Vorhandensein einer apriorischen Form. Eine solche Lösung des Problems trägt natürlich subjektivistischen Charakter. Die Grundfrage von Kants „Kritik der reinen Vernunft" lautet bekanntlich: W i e sind synthetische Urteile a priori möglich? Im Lichte der Kantschen Auffassung vom Wesen des Apriorischen als einer kategorialen Synthese der Sinnesdaten wird verständlich, daß es sich hier um die Möglichkeit von Wissenschaft, von wissenschaftlich-theoretischen Kenntnissen handelt, die die notwendige Form der Universalität, welche der Welt der Erscheinungen eigen ist, aufdecken. D a ß

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solche Formen der Allgemeinheit wirklich existieren - das wird durch die Existenz der Mathematik und der Mechanik bestätigt. Es gilt jedoch zu klären, wie jener Mechanismus aussieht, der die Bildung dieser Art von Urteilen bedingt, ohne welche Wissenschaft eigentlich unmöglich wäre. Und indem er die Grundfrage der „Kritik der reinen Vernunft" weiter entwickelt, stellt Kant die Frage: Wie ist reine Mathematik möglich? W i e ist reine Naturwissenschaft möglich? Es erfordert keinen großen Scharfsinn, um das Wesen dieser Fragen zu erfassen: Es handelt sich hierbei um die gnoseologische Natur der wissenschaftlich-theoretischen Erkenntnis. In der „Kritik der reinen Vernunft" wirft Kant die Frage nach einer neuen Logik auf, die sich von der gewöhnlichen, von der formalen Logik unterscheidet, da diese sehr enge Grenzen hat. Die gewöhnliche, formale Logik abstrahiert „von allem Inhalt der Verstandeserkenntnis und der Verschiedenheit ihrer Gegenstände und hat mit nichts als der bloßen Form des Denkens zu tun" 4 . Dabei unterscheiden sich theoretische Urteile durch ihre Allgemeinheit und Notwendigkeit qualitativ von empirischen Vorstellungen. Nach Kant hat dieser Unterschied seine Wurzel im Unterschied des Apriorischen vom Empirischen, und dieser macht eine Logik des theoretischen Wissens notwendig, welche den Mechanismus der kategorialen Synthese der Sinnesdaten und die Anwendungsgrenzen der Kategorien erforscht. Eben deswegen „würde es eine Logik geben, in der man nicht von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiere" 5 . Da eine der Hauptaufgaben der dialektischen Logik in der Untersuchung der grundlegenden allgemeinen Denkformen und ihrer Anwendung im Prozeß der wissenschaftlichen Forschung besteht, enthält die Kantsche transzendentale Logik in sich die Fragestellung nach einer dialektischen Logik. Gerade die dialektische Logik, die die allgemeinsten Denkformen erforscht und das wissenschaftliche Verständnis der allgemeinsten Gesetze aller Formen der Bewegung und Entwicklung begründet, löst das von Kant aufgeworfene Problem, aber natürlich ausgehend von grundsätzlich anderen philosophischen Positionen, die jeglichen Apriorismus, Subjektivismus und Agnostizismus ausschließen. Bei der Analyse der Kategorientafeln, die er als die Grundbegriffe des Verstandes charakterisiert, unterstreicht Kant, daß jede dieser vier Tafeln aus je drei Kategorien besteht, wobei die zweite jeweils die Negation der ersten ist und die dritte jedesmal die Einheit der ersten und zweiten bildet. So etwa erweist sich in der Gruppe der Kategorien der Qualität - also Relation, Negation, Limitation die erste Kategorie als These, die zweite als Antithese und die dritte als Negation der Negation. Kant selbst verwendet diese Ausdrücke nicht, er spricht nur davon, daß „die dritte Kategorie aus der Verbindung der zweiten mit der ersten ihrer Klasse entspringt" 6 . Doch nimmt er damit eigentlich die Dialektik der Negation vorweg, die ihre systematische Entwicklung dann bei Fichte und Hegel erhielt. 4 5 6

Ebenda, S. 101 Ebenda, S. 102 Ebenda, S. 125

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Im zweiten Teil seiner transzendentalen Logik entwickelt Kant die Lehre von den Antinomien als den immanenten Widersprüchen der reinen Vernunft. Diese Widersprüche, so meint Kant, sind nicht zu lösen, da ihre Quelle darin liegt, daß die Vernunft bestrebt sei, über die Grenzen jeder möglichen Erfahrung hinauszugehen und eindeutig die Welt als Ganzes zu bestimmen. «Es ist unschwer einzusehen, daß die Lehre von den Antinomien (wie auch die gesamte „transzendentale Dialektik") sich bei Kant unmittelbar gegen die spekulative Metaphysik richtet. Diese Seite der Philosophie von Kant charakterisiert positiv seine negative Dialektik. Man muß auch unterstreichen, daß Kant sich nicht auf die These von der grundsätzlichen Unlösbarkeit der Antinomien beschränkt, sondern auch denkbare, also empirisch unbeweisbare, doch mögliche Bedingungen aufzeigt, unter denen die genannten Antinomien zu lösbaren Widersprüchen werden. Dabei vermerkt er unter anderem die Einseitigkeit der Bestimmungen des Weltganzen als endlich oder unendlich und kommt dabei ganz nahe an die Erfassung der Einheit von Endlichem und Unendlichem heran. Er weist auch auf die denkbaren Bedingungen der Einheit von Freiheit und Notwendigkeit hin. Kants Argumentation trägt idealistischen und agnostizistischen Charakter, doch schließt dieser Umstand dialektische Fragestellungen nicht aus. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Lehre von den Antinomien nicht auf die Frage nach den Irrungen der Vernunft zu reduzieren, obwohl diese Lehre eine nicht unwichtige historische Rolle gespielt hat. Ein hervorragendes Verdienst Kants besteht im Beweis der Notwendigkeit von Widersprüchen des theoretischen Denkens. Diese Entdeckung ist eines der wichtigsten Kapitel in der Geschichte der vormarxistischen Dialektik.

B. M. Kedrow

(Moskau)

Kant und die Naturwissenschaft Zwei Revolutionen in der Wissenschaft: Kopernikus und Kant Im Jahre 1973 feierte die ganze Welt den 500. Geburtstag des großen polnischen Astronomen Nikolaus Kopernikus, mit dessen Namen die Entstehung der Naturwissenschaft als einer selbständigen Wissenschaft verbunden ist. Das Geburtsdatum des großen deutschen Philosophen und Naturforschers Immanuel Kant ist ein Einschnitt in diesem halben Jahrtausend: auf dem Gebiet der Naturwissenschaft steht Kant gewissermaßen in der Mitte zwischen Kopernikus und der Gegenwart. Beide Gelehrte gingen in die Geschichte der Wissenschaft als Marksteine auf dem Erkenntnisweg der ganzen Menschheit ein, wobei jeder von ihnen den Beginn einer neuen Periode der Naturforschung bedeutet, den Beginn einer Revolution in der Wissenschaft. In beiden Fällen begann diese Revolution auf dem Gebiet der Astronomie: im ersten Fall betraf sie die Struktur unserer Weltinsel, des Sonnensystems, im zweiten Fall dessen Genese. Die Revolution des Kopernikus hat die von Kant vorbereitet. Der Ausgangspunkt in der Astronomie ist in beiden Fällen kein Zufall: die Astronomie war, erstens, einer der am meisten ausgearbeiteten Zweige der damaligen Naturwissenschaft, in dem die Notwendigkeit eines revolutionären Umsturzes herangereift war. Zum zweiten war sie ein Wissenszweig, in welchem ein Umsturz unmittelbaren Einfluß auf die übrigen Zweige der Wissenschaft und auf die gesamte Wissenschaft ausüben konnte. Zum dritten trug gerade die Astronomie unter allen Naturwissenschaften jener Zeit ausgeprägt weltanschaulichen Charakter; sie handelte vom Weltaufbau im ganzen, also auch von dem Platz, den unser Planet mit seinen Lebewesen in der Welt einnimmt. Wenn man diesen Vergleich zwischen Kopernikus und Kant fortsetzt, ist zu bemerken, daß jeder auf seine Art einen Umbruch in der Denkweise und der Weltauffassung herbeiführte. Kopernikus hat nicht nur das heliozentrische Weltsystem geschaffen und damit das geozentrische System des Ptolemäus zerstört: Er hat zum ersten Mal mit erschütternder Klarheit bewiesen, daß die Menschen vom äußeren Eindruck, der scheinbaren Bewegung der Himmelskörper, zu falschen Schlußfolgerungen veranlaßt worden waren, während sich die wirklichen Beziehungen zwischen den Dingen, die wahren Bewegungen der Körper hinter diesem Schein verbergen. Seither begannen die Gelehrten hinter dem Schein die Wirklichkeit zu suchen,

Zwei Revolutionen in der Wiss. Kopernikus und Kant

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hinter dem Sichtbaren das Unsichtbare, hinter den Erscheinungen ihr Wesen, das uns nicht sinnlich gegeben ist, sondern nur mit Hilfe des abstrakten Denkens erkannt wird. Mit diesem Moment nahm die wirkliche Wissenschaft ihren Anfang. Daher verstärkte sich auch die Bedeutung der Mathematik in der Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts als Instrument der beginnenden Revolution, denn die Mathematik hat es nicht mit dem sinnlich Wahrnehmbaren zu tun und versetzt uns durch ihr eigentliches Wesen in die Sphäre des abstrakten Denkens. Nicht zufällig war für Kant die Verwandlung eines Wissenszweiges in eine Wissenschaft davon abhängig, wieviel Mathematik er enthielt. Die von Kopernikus begonnene und von Galilei und Newton fortgesetzte Revolution in der Wissenschaft war jedoch beschränkt, begrenzt. Zwar hat sie an die Stelle des Scheines die dem unmittelbaren Blick verborgene Wirklichkeit gesetzt, die von der Wissenschaft gesucht, entdeckt und in der mathematischen Sprache formuliert werden soll; doch erwies sich diese Revolution in wesentlicher Hinsicht als sehr unvollkommen, als auf halbem Wege stehengeblieben: sie gestattete es, die Welt und alle ihre Dinge als unveränderlich zu betrachten, als sich in ewigem Kreislauf bewegend. Hier vernachlässigten die Forscher des 18. Jahrhunderts das revolutionäre Grundprinzip: dieses forderte eben, hinter dem unmittelbaren Schein die Dinge in ihrem wirklichen Wesen zu erforschen. Denn in der Tat: unser geistiger Blick erfaßt im Strom des Seins vor allem die stabilen Inseln - die Gegenstände der Natur, die er fixiert und als fertige, unveränderliche nimmt. Hinter deren scheinbarer Unveränderlichkeit und Beständigkeit ihr Fließen, ihre Fähigkeit, sich zu verändern und zu entwickeln, zu erkennen - das bedeutet, die kopernikanische Revolution zu Ende zu führen. Solche Konsequenz besaßen die Gelehrten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch nicht, ja selbst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ließen sich die, die dies vermochten, noch an den Fingern abzählen. Zu ihnen gehörten Lomonossow in Rußland und Kant in Deutschland. Die Bedeutung der kosmogonischen Hypothese von Kant bestand darin, daß sie dazu zwang, die erste Revolution in der Wissenschaft zu ihrem logischen Abschluß zu bringen, und daß sie damit die Ausgangspositionen zur zweiten Revolution schuf. Denn jetzt begannen die Forscher hinter allem, was bisher unbeweglich, unveränderlich und ewig schien, das historisch Entstandene, sich Entwickelnde, Anfang und Ende Besitzende zu erblicken, zu suchen und zu finden. Dies war der Beginn einer weiteren Revolution in der Wissenschaft, die sich während des gesamten 19. Jahrhunderts fortsetzte und die gesamte belebte und unbelebte Natur in ihren Wirkungsbereich einbezog. Engels schrieb in seiner „Dialektik der Natur": in Kants Entdeckung „lag der Springpunkt alles ferneren Fortschritts. W a r die Erde etwas Gewordenes, so mußte ihr gegenwärtiger geologischer, geographischer, klimatischer Zustand, mußten ihre Pflanzen und Tiere ebenfalls etwas Gewordenes sein, mußte sie eine Geschichte haben nicht nur im Raum nebeneinander, sondern auch in der Zeit nacheinander." 1 1

K . Marx / F. Engels, Werke, Bd. 20, S. 3 1 6

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Dieses war die von Kant begonnene zweite wissenschaftliche Revolution. Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert führte sie dann zur dritten Revolution, welche die Mikroweit einbezog. Ich möchte auf den Umstand aufmerksam machen, daß des öfteren oberflächlich denkende Menschen erklären: Kopernikus, Galilei und Newton seien Metaphysiker gewesen, die die Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Sonnensystems anerkannt haben, während Kant als Dialektiker ihre Ansichten zusammen mit ihrer Metaphysik widerlegt und in die Astronomie die Idee der Entwicklung eingeführt habe. Daraus folgt dann, daß die Vorläufer von Kant irrten und Kant ihre Ansichten völlig verworfen und die wahre Antwort auf die verrufene Frage gefunden habe: W i e ist die Welt entstanden? Natürlich war im Weltsystem von Newton Metaphysik enthalten; sie führte zur Idee des ersten Anstoßes, welchen der Allmächtige bei der Erschaffung der Welt den Planeten in Tangentenrichtung versetzt habe. Doch war denn dies das wichtigste bei Newton? Es war doch nur eine Folge seiner einseitigen Deutung der Himmelsmechanik. Das wichtigste aber war die Erfassung aller Weltkörper durch ein einheitliches Gravitationsgesetz, mit dessen Hilfe die Struktur des Sonnensystems erklärt wurde. Wenn auch unvollständig, wenn auch nur im Rahmen einer mechanischen Deutung der Naturerscheinungen, hat Newton, gestützt auf die Ergebnisse von Kopernikus, Galilei, Kepler und anderen seiner Vorgänger, doch einen Teil des universellen Zusammenhanges der Naturerscheinungen aufzudecken vermocht - ein wesentliches Element der Dialektik, ohne das die kosmogonische Hypothese vön Kant nicht hätte entstehen können. Newton deckte die Struktur des Sonnensystems auf und erklärte diese auf Grund strenger Naturgesetze. Doch damit begnügte er sich. Weiter ist er nicht gegangen. Jedoch darf man ihm heute daraus keinen Vorwurf machen: den Gelehrten und seine Rolle in der Wissenschaft muß man nach dem beurteilen, was er geschaffen hat, nicht nach dem, was er noch nicht zu schaffen vermochte. Kant hat die Ansichten Newtons und anderer seiner Vorläufer nicht widerlegt, nicht verworfen, sondern deren Werk weitergeführt, ihre Arbeit weiterentwickelt. Dort, wo Newton mit Notwendigkeit einen Punkt setzen mußte und seine Forschungen unterbrach, dort führte Kant diese Linie weiter, wobei er sich völlig auf die Newtonschen Ergebnisse stützte. So steht es um die Kontinuität großer Entdeckungen, um den geschichtlichen Zusammenhang der Ideen. Davon zeugt schon der Titel des grundlegenden Werkes des „vorkritischen" Kant mit voller Klarheit: „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt". Also, nochmals: Newton nicht verwerfen, sondern sich auf ihn und seine Grundsätze stützen, dabei seine Lehre von extremen, falschen Extrapolationen befreien dies ist der Standpunkt Kants gewesen. Derselbe kontinuierliche Zusammenhang läßt sich auch unmittelbar zwischen Kopernikus und Kant feststellen. Einst sprach Mendelejew über die Anfänge des

Zwei Revolutionen in der Wiss. Kopernikus und Kant

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wissenschaftlichen Denkens und sagte dabei: „Zu Anfang bewegte man die Erde." Und wirklich, die anscheinend bewegungslose Erde, die bei Ptolemäus noch im Mittelpunkt des Weltalls stand, erwies sich als ein kleiner Planet, der sich um die Sonne und um seine eigene Achse drehte. Auf diese die gesamte Wissenschaft revolutionierende Idee folgte der nächste Schritt in derselben Richtung, und zwar zur Anerkennung der Tatsache, daß unsere Erde irgendwann einmal zusammen mit dem Sonnensystem aus einem noch einfacheren materiellen Gebilde entstanden ist. Die Aufgabe, die Kant gestellt und für seine Zeit in glänzender Weise gelöst hat, besagte: die Struktur des Sonnensystems ist gegeben, gegeben sind die Gesetze, nach denen die Weltkörper - die großen und die kleinen - ihre Bewegungen vollziehen und Wechselwirkungen aufeinander ausüben. Wenn man nun hypothetisch einen noch einfacheren Zustand dieser Materie annimmt (sagen wir etwa in Form eines ursprünglichen Chaos), so kann man die Genese des heute existierenden Systems als Resultat einer Folge von Veränderungen erklären, die sich in der ursprünglichen Nebelwolke vollzogen haben müssen, als sie sich unter der Wirkung der uns bekannten, heute wirkenden Gesetze befand. Weil, so sagte Kant, „die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann" 2 . Das bedeutet, daß die Struktur einer Sache zum Schlüssel ihrer Genese wird. Wie man einen solchen Schlüssel benutzt, hat Kant als erster gezeigt. Gerade in diesem Sinne sind seine stolzen Worte zu verstehen: „Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen! das ist, gebet mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll." 3 Diese Worte erinnern an den Aphorismus des Archimedes: „Gebt mir einen Punkt außerhalb der Erde, und ich hebe die Welt aus ihren Angeln." Doch haben die Worte Kants einen noch großartigeren Klang, denn sie zeugen von seinem damaligen Glauben an die uneingeschränkte Macht der menschlichen Vernunft, die er dann später so unvorsichtig durch den Glauben einzuschränken begann. Nur ein echter Revolutionär in der Wissenschaft kann den philosophischen Sinn der von ihm geschaffenen kosmogonischen Hypothese so interpretieren... Seither wird die Astronomie, um mit Engels zu sprechen, als „aufgelöst in einen Prozeß" betrachtet/' Es gilt zu beachten, daß Kant seine schöpferische Tätigkeit ausübte, als die Naturwissenschaften unter der Herrschaft der Gesetze der Mechanik standen. Der Mechanizismus jener Zeit trug zum Unterschied von seinen Epigonen einen fortschrittlichen Charakter. Er entstand im Kampf der Wissenschaft gegen die mittelalterliche Scholastik mit ihrer Lehre von den „verborgenen und absoluten 2

I. Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, in: Frühschriften, Bd. I,

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Ebenda, S. 46

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K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 20, S. 307

Berlin 1961, S. 4 4

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Qualitäten" und von den verschiedenen ausgedachten „Substanzen". Dabei hat dieser Mechanizismus der Bücherweisheit und den scholastischen Phantasiegebilden eine ganz einfache und klare Sache entgegengestellt: Man muß auf empirische Weise eine bestimmte reale Seite der realen Dinge und Erscheinungen der Natur erforschen, und zwar deren einfachste Seite - die mechanische. Dementsprechend galt es in erster Linie, die mechanische Bewegung beliebiger Naturobjekte zu erforschen. Immer dann, wenn die Forscher anstelle ausgedachter „Substanzen" oder „verborgener Qualitäten" diese reale Seite der zu erforschenden Erscheinung aufdeckten, taten sie einen großen Schritt voran. Es genügt wohl, an die Entdeckung des Blutkreislaufs bei den höheren Säugetieren durch Harvey zu erinnern, welche die Grundlage für die wissenschaftliche Physiologie schuf. Nun ist aber die mechanische Bewegung ihrem eigentlichen Wesen nach etwas der Materie Äußerliches, ihr organisch nicht Zugehörendes. Doch wenn Kant sagte: „Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen!" - so meinte er damit die sich bewegende Materie, die mit innerer Aktivität, eigener Bewegung erfüllt ist. Der Sinn seines Aphorismus liegt gerade darin: „Gebt mir bewegte Materie." Die Frage nach der Natur, dem Charakter der Bewegung war der Ausgangspunkt für die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Ansichten Kants. Als dialektischer Denker war Kant bestrebt, den immanenten, untrennbaren Zusammenhang zwischen Materie und Bewegung aufzudecken, doch als ein Sohn seiner Zeit, als Naturforscher, der völlig auf dem Boden der Mechanik Newtons stand, war er gezwungen - ob er wollte oder nicht - , den objektiven Besonderheiten der mechanischen Bewegung - als etwas der Materie Äußerliches - Rechnung zu tragen. Welchen Ausweg findet nun Kant aus diesem Widerspruch? Davon zeugt seine erste wissenschaftliche Arbeit „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte". Kant war damals 22 Jahre alt. Zu jener Zeit war unter den Mathematikern und Physikern ein heißer Streit über das M a ß der Bewegung entbrannt (und zwar über das Maß der mechanischen Bewegung). Die cartesianische Schule hielt den Impuls für das M a ß der Bewegung (also m • v, das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit). Leibniz, der die Descartesschen Kräfte für „tot" erklärte, meinte, d a ß das M a ß der Bewegung die, wie er sich ausdrückte, „lebendigen Kräfte" (m • v2) seien. Später hat Engels gezeigt, daß jedes dieser Maße einen besonderen Wirkungsbereich hat. Kant ging nun seinen eigenen, originellen Weg, und obwohl vom rein mechanischen Standpunkt aus sein Weg ein falscher war, war er doch ein Ausweg aus dem •eben genannten Widerspruch. Kant verwarf folgenden Gesichtspunkt: „Wenn mafi nicht weiter siehet", schrieb er, „als etwa die Sinne lehren", so hält man dann diese Kräfte für die Quelle der Bewegung, für „etwas, was dem Körper ganz und gar von draußen mitgeteilt" •wurde, „und wovon er nichts hat, wenn er in Ruhe ist" 5 . 5

I. Kant, Allgemeine Naturgeschichte . . ., a. a. O., Bd. 2, S. 371

Zwei Revolutionen in der Wiss. Kopernikus und Kant

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Im Gegensatz zu dieser Idee, die von der Mechanik Newtons herkommt, stellt Kant den Grundsatz der Selbstbewegung der Materie auf, wie auch die Idee der Entwicklung, die Idee der Evolution. Obwohl Kant den Streit zwischen den Cartesianern und Leibniz nicht entschied, fand er dessenungeachtet das Fundament für alle seine naturwissenschaftlichen Ansichten, die er wie in seiner „vorkritischen", so auch in der „kritischen" Periode vertrat. Acht Jahre später hat Kant auf der Grundlage der Idee von der Untrennbarkeit von Materie und Bewegung seine kosmogonische Hypothese erarbeitet. Er ging davon aus, daß Bewegung (die mechanische Bewegung) organisch, innerlich der Materie eigen sei und daß die gesamte Entstehungsgeschichte des Sonnensystems aus einem Urchaos durch Wechselwirkung und Einheit der zwei Grundformen dieser Bewegung bedingt ist, durch das Spiel zweier entgegengesetzter Kräfte - Attraktion und Repulsion. Als religiöser Mensch räumte Kant auch Gott eine bestimmte Rolle ein. Doch war das nicht der Gott des ersten Anstoßes, sondern etwas viel Bescheideneres, das die Prärogative der Naturwissenschaft keinesfalls berührte: Gott schuf, Kant zufolge, das Urchaos und Gesetze, die er dann schon nicht mehr verletzen konnte. Im weiteren vollzog sich die Bewegung der Materie und die Evolution ihrer Formen spontan. „ . . . die allgemeine Ruhe (dauert) nur einen Augenblick", schrieb Kant. „Die Elemente (d. h. die Materieteilchen - B. K.) haben wesentliche Kräfte, einander in Bewegung zu setzen, und sind sich selber eine Quelle des Lebens. Die Materie ist sofort in Bestrebung, sich zu bilden." 6 Seine „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" hat der dreißigjährige Kant 1755 veröffentlicht; ein Jahr vorher schrieb er seine „Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse, wodurch sie die Abwechslung des Tages und der Nacht hervorbringt, einige Veränderungen seit den ersten Zeiten ihres Ursprungs erlitten habe". Darin wird bewiesen, daß sich die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde infolge der Ebbe- und Flutbewegungen ständig verlangsamt. Daraus werde sich schließlich das Ende des Planeten ergeben. „Das Veraltern eines Wesens ist in dem Ablauf seiner Veränderungen", so schrieb Kant, „nicht ein Abschnitt, der äußere gewaltsame Ursachen zum Grunde hat. Eben diese Ursachen, durch welche ein Ding zur Vollkommenheit gelanget und darin erhalten wird, bringen es durch unmerkliche Stufen der Veränderung seinem Untergang wiederum nahe. Es ist eine natürliche Schattierung in der Fortsetzung seines Daseins und die Folge eben derselben Gründe, dadurch seine Ausbildung bewirkt worden, daß es endlich verfallen und untergehen muß." 7 Bei der Ausarbeitung seiner kosmogonischen Hypothese ging Kant von dem gegenwärtigen Zustand des Sonnensystems zurück zu dessen Urzustand, dem Urnebel. Nun aber schreitet er in Gedanken vorwärts und sucht den Endzustand des Systems. Das Prinzip ist dasselbe, nur wendet man sich jetzt, vom Gegenwärtigen

3

6

Ebenda, S. 84

7

Ebenda, S. 1 6 Buhr/Oiserman

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B. M. K e d r o w

ausgehend, nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft, nicht dem Moment der Geburt und Entstehung, sondern dem Moment des Todes und Unterganges zu. Dies ist der Schlüssel einer wissenschaftlichen Prognose, und diesen Schlüssel hat auch Kant gefunden. Diesem Prinzip des Historismus ist Kant allerdings an jenem Punkt untreu geworden, wo sich die unbelebte Natur mit der belebten berührt. Diese Berührung hat Kant nicht anerkannt - die Kluft zwischen dieser und jener Natur war damals noch zu tief. Die unbelebte Natur konnte, so meinte Kant, mechanisch er• klärt werden, doch die lebendige keinesfalls, das war unmöglich. Kant stellte die für ihn unlösbare Frage: „Ist man imstande zu sagen: Gebt mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Raupe erzeuget werden könne? Bleibt man hier nicht bei dem ersten Schritte aus Unwissenheit der wahren innern Beschaffenheit des Objekts und der Verwickelung der in demselben vorhandenen Mannigfaltigkeit stecken? Man darf es sich also nicht befremden lassen, wenn ich mich unterstehe zu sagen: daß eher die Bildung aller Himmelskörper, die Ursach ihrer Bewegungen, kurz, der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kundwerden wird." 8 Liegt nicht hier die erkenntnistheoretische Quelle des dann folgenden Agnostizismus von Kant? So stehen also Kopernikus und Kant zueinander - zwei richtungsweisende Meilensteine in der Geschichte der Naturwissenschaft und der Philosophie, die den Ausgangspunkt für zwei Revolutionen in der Wissenschaft bildeten. 8

I. Kant, Frühschriften, Bd. I, S. 47

Hans-]ürgen

Treder

(Berlin)

Kant und die Begründung der Kosmologie, Kosmogonie und kosmischen Physik auf Newtonscher Grundlage I. Newton und K a n t : Mathematischer und physischer Teil des W e l t b i l d e s

Der von Newton in seinen „Philosophiae naturalis principia mathematica" (1687) begründete physikalische Dynamismus erklärt die Struktur der Materie und die Gesetze ihrer Bewegung aus der Annahme inhärenter Grundkräfte, deren Einheit die Materie selbst konstituiert. Für die Selbstkonsistenz der Materie ist gemäß Newtons Dynamismus (zumindest) eine Attraktionskraft und eine Repulsivkraft notwendig; beide Kräfte wurden von Newton als Zentralkräfte aufgefaßt. Das Urbild der Attraktionskraft war die Newtonsche Gravitation; eine Repulsivkraft als Gegenstück zur Gravitation wurde explizite von Newton in seiner „Optik" (1704) eingeführt. Auf dem Kontinent haben dann besonders F. M. Voltaire und P. L. M. de Maupertuis den Newtonschen Dynamismus gegen den mechanistischen Cartesianismus und die Leibniz-Wolffsche Monadologie vertreten (1736/39). Auf der Konzeption der beiden die Materie konstituierenden Grundkräfte beruhten der dynamische Atomismus von R. Boscovich und die dynamische Naturphilosophie seit I. Kant. In seiner Kritik des cartesianischen Mechanismus und des klassischen Atomismus (von Demokrit und Epikur bis P. Gassendi) führte Kant insbesondere aus, daß die von Descartes und den klassischen Atomisten vorausgesetzte „Undurchdringlichkeit der Materie" in Wahrheit die Annahme einer singulär entarteten Repulsivkraft bedeutet; denn - wie Kant bemerkte - der „bloße Satz des Widerspruchs allein kann keine Materie zurücktreiben". Ähnlich argumentierte gleichzeitig mit Kant auch J. H. Lambert. Die „Unteilbarkeit der Atome" bedeutet nach ihm in Wahrheit die Wirkung einer unendlich großen Attraktionskraft zwischen ihren Massenpunkten, „welche momentan wirksam ist". Oft wurden die Trägheitskräfte, insbesondere die Zentrifugalkräfte, mit der postulierten universellen Repulsivkraft identifiziert - unter Berufung auf das Newtonsche Gegenwirkungs-Axiom und seine Anwendung im d'Alembertschen Prinzip. Schon Kant hat diese Fehlinterpretation der Dynamik ausführlich widerlegt. Jedoch sah sich noch 1894 H. Hertz in der Einleitung zu seiner „Mechanik" genötigt, gegen den Versuch zu polemisieren, die Trägheit „doppelt in Rechnung zu stellen", das heißt, sie nicht nur als Widerstand gegenüber einer Beschleunigung, sondern auch als Beschleunigungs-Ursache aufzufassen. Das unendliche Universum enthält nach der Naturphilosophie Newtons unendlich viele Atome, derart, daß die mittlere Massendichte Q im Universum end3*

36

H.-J. Tredcr

lieh ist: !M\ lim l—\ = e > 0 .

(1)

Die Gesamtmasse des Universums divergiert also: M = qV r^j gr3

oo

für

r

oo,

(2)

und auf Grund des Newtonschen Gravitationsgesetzes divergieren dann auch das Gravitationspotential - f M 4* q> ^ —— (¿5) r 3 und die Gravitationskraft 4-7T Ä ~ - * / g r . o

(4)

Die Gravitationskraft ist für dieses Newtonsche Universum also tatsächlich nicht wohldefiniert. Dieses Paradoxon hat Newton bereits selbst erkannt. Newtons Problem führte unmittelbar auf die stellar-dynamischen Hypothesen von Halley. Kant und Lambert sahen dann in dem Gravitationsparadoxon das Hauptproblem der theoretischen Kosmologie überhaupt. 1 Newton hielt sein Paradoxon für unauflösbar und war aus theologischen Gründen hierüber froh, da er hierin den Beweis für die Notwendigkeit eines wiederholten gelegentlichen Eingreifens des Schöpfers in den Weltmechanismus sah. Die Welt kann, gemäß Newton, auf Grund des Gravitations-Paradoxons nicht beliebig lange existieren; sie würde kollabieren. Daher muß der Schöpfer immer wieder einmal eingreifen, und das tut er nach Newton so, daß er die Anfangsbedingungen (Orte und Geschwindigkeiten) jedes einzelnen Atoms neu einstellt und dadurch dafür sorgt, daß die Welt eine bestimmte Zeitlang weiterläuft; haben dann die Geschwindigkeiten wieder bedenklich zugenommen, greift der Schöpfer erneut ein. Dieser Eingriff des Schöpfers ist physikalisch überhaupt nicht feststellbar, da das gesamte Universum gleichzeitig geändert wird. Man merkt weder vor noch nach dem singulären Eingriff etwas von der äußeren Einwirkung; die Welt läuft nach dem Eingriff des Schöpfers nach denselben Geset2en wie vorher, nur mit korrigierten Anfangsbedingungen; daher erschien Newton jede kosmogonische Fragestellung als ein Scheinproblem. 1

Es ist zu bemerken, daß K a n t derjenige der älteren Philosophen war, der Newtons Intuition und ihre Implikationen am klarsten erfaßt hatte, ohne daß Kant die zum Teil erst heute zugänglichen naturphilosophischen Aufzeichnungen Newtons kannte.

K a n t und die Begründung der Kosmologie

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D i e Selbstkonsistenz des Kosmos forderte hingegen (hierin Descartes und Leibniz folgend) Kant in seiner Kosmologie und Kosmogonie. K a n t sah in der Newtonschen Naturphilosophie nur den „mathematischen Teil" des naturwissenschaftlichen Weltbildes und forderte seine Ergänzung durch einen „physischen Teil" derart, d a ß beide Teile zusammen Entwicklung und Zustand des Universums auf Grund der Naturgesetze selbst verständlich machen. Dies ist die entscheidende Wendung, die K a n t in die kosmologische Fragestellung hineintrug. Für Newton war der physische Teil zufällig und die kosmogonische Fragestellung leer. Kant erkannte hingegen, d a ß eine wissenschaftliche Kosmologie nicht möglich ist, ohne die Konsistenz des physischen und des mathematischen Teils zu postulieren. Aus dieser Konsistenzforderung ergibt sich die Problematik der theoretischen Kosmologie von Kant bis Einstein und von Einstein bis heute. - Es entsteht die Frage, entweder, unter Voraussetzung etwa der vollständigen Newtonschen mathematischen Prinzipien, also der Newtonschen Raum-Zeit-Lehre, Dynamik und Gravitationstheorie, die Annahmen über den physischen Teil der Welt - die Verteilung der Massen und Geschwindigkeiten im Kosmos - so zu fassen, d a ß sich ein selbstkonsistentes Modell des Universums ergibt, oder unter Zugrundelegung bestimmter Grundvorstellungen über den physischen Teil des Weltbildes die Voraussetzungen über die Geometrie und Dynamik des Kosmos derartig zu wählen, d a ß die Selbstkonsistenz auf diese Weise gesichert ist. Newton war - wie später Kant - der Ansicht, d a ß sein Gravitationsgesetz in seiner konkreten Form fmAmB •HAB



Z

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'AB

eine synthetische Wahrheit a priori (im Sinne Kants) ist. Newton war hier sogar bemüht, zu zeigen, d a ß sein Gravitationsgesetz bereits in der antiken Naturphilosophie bekannt war und besonders schon von Piaton als denk- und naturnotwendiges Gesetz formuliert wurde. Für Newton fielen hierbei Denk- und Naturnotwendigkeit des Gravitationsgesetzes zusammen; denn nach Newtons Philosophie sind die Strukturen sowohl der Welt als auch des Bewußtseins Schöpfungen Gottes; beide realisieren Gottes Gedanken und sind damit notwendig in Harmonie. D a s Gravitationsgesetz war für Newton ein notwendiger Bestandteil eines dynamischen Atomismus und der damit verknüpften Raum-Philosophie: Die als punktförmig zu denkenden Atome wechselwirken untereinander durch „Kraftflüsse", die eine „Raumeinnahme" durch die Materie vortäuschen; die Atome sind die (singulären) „Quellen" der K r a f t flüsse. 2 2

Diesen Lösungsversuch des erkenntnistheoretischen G r u n d p r o b l e m s teilt N e w t o n mit der gesamten klassischen Philosophie von Descartes, Hobbes, Spinoza und Leibniz bis zu der „copernikanischen W e n d u n g " bei K a n t mit ihrer Konzeption der „synthetischen Urteile a priori".

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Die Gesetzmäßigkeit der Kraftflüsse wird durch die Struktur des Raumes bestimmt, zumindest bei den „Fernkräften", die die „Raumeinnahme" im Sinne Kants ausmachen. In seiner „Optik" ließ Newton auch Kräfte zu, die wesentlich schneller als r~2 abnehmen und nur in der Nähe der „punktförmigen" Atome wirksam sind; zu diesen Kräften gehören die Repulsivkräfte, die nach Newton und Kant die „Undurchdringlichkeit" der Materie - und als Folge hiervon die beim Stoß wirksamen Kräfte - erzeugen. Kant unterschied die „Raumeinnahme" der atomaren punktförmigen Materie durch ihre Fernkräfte von der „Raumerfüllung", die durch die die Undurchdringlichkeit erzeugenden Repulsivkräfte bewirkt wird. Die Repulsivkräfte sind bei Kant von „delta-artigem Charakter". Für die Distanzabhängigkeit der Fernkräfte gilt auch bei Kant die Newtonsche Argumentation über die Beziehung zwischen Raumstruktur und Kraftgesetz; da die Nahkräfte die Raumerfüllung bedeuten, ergibt sich für sie das Kraftgesetz ® N ah ~

«5 (r -

r0).

Die sogenannte Undurchdringlichkeit der Materie ist also nach Kant durch ein „hard-core" in der Kraft vorgetäuscht. 3 Das Kraftfeld eines punktförmigen Atoms bekommt somit, gemäß Newton, Boscovich (1763) und Kant, die (etwas anachronistisch hingeschriebene) Struktur: e =

-

ffYl —3 t + r

Cd ( t — r 0 ) ;

hierbei ist r° ein „effektiver Teilchenradius" und ö (x) die Diracsche Delta-Funktion.

II. Kants Kosmologie als physischer Teil des Weltbildes Kant hat seine wegweisenden Gedanken zur Kosmologie erstmalig an demselben Ort formuliert, an dem er die wissenschaftliche Kosmogonie „nach Newtonschen Grundsätzen" begründete. 4 3

Die mechanistische Physik nach Descartes beruht daher nach Kant in Wahrheit auf der Annahme, daß alle Kräfte „hard-core"-Kräfte seien. - Dieser Auffassung waren auch Voltaire und Lambert. '* Kant entwickelte seine Kosmologie vor allem im l . T e i l seines Buches „Allgemeine Naturgeschichte des Himmels" (1755) sowie im 7. Hauptstück des 2. Teiles dieser Schrift. Kosmologische Ausführungen enthalten auch Kants spätere Schriften „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes" (1763) und „Über die Vulkane im Monde" (1785). J. F. Gensieben gab in seiner deutschen Ausgabe von W. Herschels „Über den Bau des Himmels" (1791) authentische Aussagen Kants zur Kosmologie wieder.

Kant und die Begründung der Kosmologie

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Für Kant bildeten tatsächlich Kosmogonie und Kosmologie eine notwendige Einheit nicht nur von ihrem Gegenstand, dem Kosmos, her, dessen Struktur und Geschichte durch die Kosmologie und Kosmogonie wissenschaftlich untersucht werden. Kant sah in der Kosmologie und der Kosmogonie die notwendige zweite („physische") H ä l f t e des naturwissenschaftlichen Weltbildes, dessen erste („mathematische") H ä l f t e Newton in seinen „Principia mathematica" formuliert hatte. N e w tons Prinzipien geben, gemäß Kant, die allgemeinen Gesetze an, die die Bewegung der Materie ursächlich bestimmen. Newtons Axiome lassen aber die physischen Bedingungen offen, unter denen diese Gesetze wirken, das heißt, Newtons Gesetze sind für beliebige Welten formuliert. Kants Problem war die Untersuchung der Wirksamkeit dieser Gesetze im wirklichen Kosmos. Hierbei ging K a n t von der methodologischen Konzeption aus, d a ß genauso, wie in Newtons Mechanik die Gesetzlichkeit komplizierter Bewegungsvorgänge aus den einfachen dynamischen Axiomen Newtons hergeleitet wird, die komplexe Struktur des physischen Kosmos mit Hilfe der Newtonschen Axiome als das E r gebnis einfacher Anfangszustände und als Folge der Wirksamkeit der Newtonschen Gesetze unter einfachen und willkürfrei festgestellten physischen Verhältnissen im Kosmos zu verstehen ist. Im explizite ausgesprochenen Gegensatz zu Newtons eigener Auffassung ging Kant davon aus, d a ß es möglich sein muß, im Rahmen der dynamischen Grundgesetze die physischen Verhältnisse im Kosmos aus sich selbst heraus zu verstehen und so zu einer in sich konsistenten physikalischen Theorie des Kosmos und seiner Teilsysteme zu kommen. Dagegen hatte Newton angenommen, d a ß die physischen Verhältnisse im Kosmos, unter denen seine dynamischen Grundgesetze wirken, die willkürlichen Festsetzungen des Schöpfers wären und d a ß darüber hinaus zur Aufrechterhaltung dieser Zustände gegenüber den aus den dynamischen Gesetzlichkeiten folgenden Störungen ein immer erneutes regulierendes Eingreifen des Schöpfers in das physische Weltgeschehen notwendig sei. Mit seiner zusätzlichen, weit über Newton hinausführenden Fragestellung nahm Kant gleichzeitig, im positiven Sinne eines konkreten Lösungsversuches, die Kritik an Newtons Naturphilosophie auf, die der Cartesianismus und besonders auch Leibniz geübt hatten. Sowohl Descartes wie auch Leibniz hatten ein naturwissenschaftliches Weltbild gefordert, das Dynamik, Kosmologie und Kosmogonie in sich vereinigt und nicht nur die Gesetzlichkeiten der heutigen Bewegungen der Körper, sondern auch den Ursprung dieser Bewegung und den Ursprung der heutigen Anordnung der Körper im Kosmos zureichend begründet. Sowohl Descartes als auch Leibniz verfehlten aber bei ihrem Programm die wahren Gesetze der Dynamik, die, wie Kant hervorhob, erst Newton formuliert hat. Kants Aufgabenstellung war dann also, auf Grund dieser wirklichen mathematischen Gesetze die volle Physik des Kosmos zu verstehen. D i e wissenschaftlichen Grundlagen, auf die sich Kants Kosmologie stützte, waren außer Newtons Prinzipien besonders die Entdeckung der Eigenbewegungen

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der Fixsterne (in ihrer Darstellung durch J. Bradley), die morphologischen Untersuchungen über die „Figur der Himmelskörper" von P. L. M. de Maupertuis (1732) und schließlich ein früherer Versuch einer physischen Kosmologie auf Newtonscher Grundlage, den Thomas Wright in seiner Schrift „An Original Theory of the Universe" (1750) entwickelt hatte. Zu diesen Quellen und zu der programmatischen Fragestellung von Descartes und Leibniz kam bei Kant sowohl für seine Kosmologie als auch für seine Kosmogonie noch die Aufnahme des großartigen Ansatzes zu einer physischen Kosmologie bei den griechischen Atomisten, deren hervorragende Vertreter, Leukipp, Demokrit, Epikur und Lukrez, Kant wiederholt nennt. Kants Hauptquelle war hier natürlich das große naturphilosophische Epos von Lukrez „De rerum natura". In Kants Buch ist sein Verhältnis zu den griechischen Atomisten und zu Lukrez ambivalent. Kant vergleicht seine Kosmologie und Kosmogonie wiederholt mit der bei Lukrez, betont dabei aber immer wieder erneut bedeutsame Unterschiede und distanziert sich vom Atheismus und Materialismus bei Epikur und Lukrez. Dies hat nicht nur sozusagen universitätspolitische Gründe (zu Kants Lebzeiten durfte sich ein preußischer Universitätslehrer nicht in den Verdacht bringen, Materialist und Atheist zu sein) und beruht auch nicht allein auf den eigenen philosophischen Vorbehalten Kants gegen die materialistische Metaphysik von Epikur, sondern es bestehen tatsächlich neben der Verwandtschaft auch bedeutende naturwissenschaftliche Differenzen zwischen den Grundlagen der Kosmologien bei Kant und bei Lukrez, die für das Verständnis der Kantschen Kosmologie von Bedeutung sind. Auch Lukrez erklärte den physischen Kosmos aus sich selbst heraus, und der grundsätzliche Ansatz von Lukrez, daß unser Bild vom Kosmos nur dann richtig sein kann, wenn es aufzeigt, daß und wie der Kosmos überall und zu allen Zeiten durch die Bewegungsgesetze seiner Atome bestimmt wird, war auch grundlegend für Kants eigene kosmologische Konzeption. Aber, wie Kant hervorhob, die Grundlagen des antiken Atomismus implizieren das Übergewicht des Zufälligen über das Gesetzliche, während der Kantsche Newtonismus gerade die Bestimmung von Struktur und Entwicklung des Kosmos durch die dynamischen Prinzipien als deren zureichenden Grund voraussetzte. Ferner beruht der Atomismus von Epikur und Lukrez auf einer rein machanistischen Naturphilosophie, die alles physikalische Geschehen auf die freie Bewegung (den freien Fall) der massiven trägen Atome zurückführt, wobei die einzige Wechselwirkung zwischen ihnen sich auf gelegentliche - nach Epikur sogar ohne zureichenden Grund zustande kommende - Stöße beschränkt. Kant hingegen wurde zum Hauptvertreter der dynamischen Theorie der Materie als des methodologischen Fundaments der Newtonschen Physik, nach der die Atome der Inbegriff einer Einheit von Repulsiv- und Attraktionskräften sind, so daß nach Kant die Newtonsche Naturgesetzlichkeit die konstitutive Eigenschaft der Materie selbst ist. D a ß trotz dieser grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem Verständnis der Naturgesetzlichkeit bei Kant und Lukrez eine weitreichende Verwandtschaft in

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ihren kosmologischen Konzeptionen besteht, zeigt, was schon Kant hervorhob, d a ß das große Grundprinzip, daß der physische Kosmos aus sich selbst, das heißt aus seinen eigenen Gesetzen heraus, zu verstehen ist, die Kosmologie bereits weitgehend prägt. Die innere Verwandtschaft von Kant und Lukrez beruht eben auf diesem wissenschaftsmethodischen Postulat. Es spiegelt sich in Kants Darstellung auch darin wider, daß bei Kant das Aufzeigen des zureichenden Grundes, das heißt die kausale Argumentation mit der Herleitung der kosmischen Prozesse und Strukturen aus ihren Ursachen, die teleologische Betrachtungsweise, nämlich das metaphysische Argumentieren mit den Zielen des Schöpfers bei der Erschaffung der Welt, völlig überwiegt. Die teleologischen Betrachtungen sind bei Kant nur Rankenwerk. Kant betonte - nach E. Haeckels Formulierung - , „daß die Befugnis der menschlichen Vernunft zur mechanischen (kausalen) Erklärung aller Erscheinungen unbeschränkt" ist. In diesem Punkt war Kant übrigens seinem Vorläufer Wright weit überlegen, der seine kosmologische Theorie mit erbaulichen theologischen Betrachtungen nicht nur verband, sondern mit diesen auch wesentlich argumentierte, wogegen sich Kant entschieden wandte. - Kant erwies sich hier aber auch den in vielen Einzelheiten und einigen Grundanschauungen mit Kants Kosmologie kongenialen „Kosmologischen Briefen" von J. H. Lambert (1761) überlegen. Denn auch bei Lambert treten neben die dynamischen Argumentationen aus den Prinzipien der Newtonschen Dynamik gleichberechtigt teleologische Argumente als Grundlage für sein Bild vom physischen Kosmos. - Es ist auch zu bemerken, daß die Beziehungen zwischen Wright und Kant sowie Wrights Bedeutung für Kant meist überschätzt werden. 5 Kant beginnt seine kosmologischen Schlüsse mit einer Darstellung der Prinzipien der Newtonschen Naturphilosophie, auf denen sie beruhen, wobei Kant den Inhalt der Newtonschen Bewegungsgesetze und ihre notwendige Ergänzung durch das Newtonsche Gravitationsgesetz darlegt: Die kräftefreie Trägheitsbewegung allein ergäbe ein zentrifugales Auseinanderstreben der Materie, die Gravitation ohne die ihr widerstrebende Trägheitsbewegung den zentripetalen Kollaps jedes Systems. Alle beständigen Systeme im Kosmos beruhen auf einem Gleichgewicht zwischen den Zentripetal- und den Zentrifugalkräften. Dieser Schluß ist nach Kant unabhängig von der Größe der Systeme. Masse und Ausdehnung des Systems bestimmen aber entsprechend den Newtonschen Axiomen die in den Systemen 5

W e d e r Kant noch Lambert haben Wrights Buch gelesen. K a n t kannte nur eine Wrights weitschweifige Darstellung sehr verdichtende Besprechung, in die Kant offensichtlich viel mehr hineinlas, als Wright tatsächlich ausgesagt hatte. Lambert kannte Wright überhaupt nur vom Hörensagen. Gerade die Konzeption der „Weltinseln" ist von Wright keineswegs in der hinreichenden Klarheit ausgesprochen worden, die K a n t annahm. D e r Begründer der „Weltinsel-Theorie" in der Kosmologie ist vielmehr Kant allein. Lambert, W . Herschel und Laplace gelangten später unabhängig voneinander zu Teilaspekten der Kantschen Theorie. Lambert kommt hierbei das Verdienst zu, zu einem mathematisch formulierbaren Ansatz für die „Weltinsel-Kosmologie" gelangt zu sein.

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auftretenden mittleren Geschwindigkeiten und damit auch ihre Form. Die Universalität der Newtonschen Gravitation ist also auch der Grund dafür, d a ß der physische Kosmos eine einheitliche Struktur mit überall gleichen Strukturelementen besitzt. Da diese fundamentale Struktur des Kosmos eine notwendige Folge der Grundaxiome der Dynamik ist, sind diese Strukturelemente bereits aus wenigen Daten deduzierbar. Kant nahm eine Anregung auf, von der er glaubte, daß Wright sie explizite ausgesprochen hätte. Kant deutete, hier in der Nachfolge von Demokrit und Lukrez stehend, die Milchstraße als ein linsenförmiges Sternsystem von vielen Millionen oder Hunderten von Millionen Sternen, die sich alle auf Newtonschen Bewegungsbahnen um ihr gemeinsames Schwerezentrum bewegen. Kant bemerkte (vgl. III), daß aus denselben kosmogonischen Gründen, die er im 2. Teil seines Werkes für den Aufbau des Sonnensystems geltend machte, ein solches rotierendes Sternsystem notwendigerweise sehr flach sein muß, und legte dar, daß von einem Stern aus, der - wie unsere Sonne - irgendwo im Innern dieses Weltsystems eingeordnet ist, sich der optische Eindruck der Milchstraße ergeben muß mit einer Auszeichnung der Milchstraßenebene auch in der Stellar-Astronomie. Kant schloß auf die Notwendigkeit von (relativen) Eigenbewegungen der Sonne und aller Fixsterne als Folge der differentiellen Rotation, nämlich der Abhängigkeit ihrer Umlaufsgeschwindigkeiten von ihrer Entfernung vom Milchstraßenzentrum. - Die Kleinheit der astrometrisch festgestellten Eigenbewegungen gemäß Halley und Bradley erklärte Kant aus den gegenüber den Dimensionen des Sonnensystems extrem großen Abständen zwischen den Fixsternen. 6 Die Mindestdistanz der Sonne vom Milchstraßensystem schätzte Kant auf einige tausend Lichtjahre und die Mindestumlaufzeit um das Milchstraßenzentrum auf einige Millionen Jahre. Das Milchstraßensystem selbst sollte, nach Kant, aus vielen Millionen - oder noch besser aus vielen hundert Millionen - Sonnen bestehen. (Alle diese Zahlen sind erstaunlich gute Schätzwerte.) - Im unendlichen Kosmos ist unser Milchstraßensystem, nach Kant, aber nur eine von unendlich vielen ähnlichen „Weltinseln". Alle diese Weltinseln haben notwendigerweise dieselbe Struktur wie unser Milchstraßensystem, dessen Aufbau ja, nach Kant, eine notwendige Konsequenz der Newtonschen Dynamik ist. Nur ist die Distanz zwischen den Weltinseln wieder sehr viel größer als die Distanz zwischen den Sternen innerhalb der Weltinseln, und die Abmessungen der Weltinseln verhalten sich zu den Abständen zwischen den Weltinseln wie die Größe des Sonnensystems zu den Sternabständen. - Daher erscheinen die fremden Weltinseln als kleine Objekte am Himmel, die sich jedoch wegen ihrer riesigen wahren Ausdehnungen nicht - wie die Sterne als Punkte, sondern als endliche Scheibchen darstellen. Ihre morphologische Erscheinungsform hängt einfach von der zufälligen Orientierung ihrer Drehachsen 6

Unter Berufung auf Huygens fand Kant als mittlere Distanz zwischen den Sternen des Milchstraßensystems die Größenordnung von einigen Lichtjahren.

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zu unserem Milchstraßensystem ab. Aus dieser Erkenntnis konnte Kant alle von Maupertuis beschriebenen Formen der „Nebelsterne" ableiten und auch ihre statistische Häufigkeit verständlich machen. Es erscheint bei Kant als wahrscheinlich, daß alle „Nebelsterne" extragalaktische Sternsysteme von der Art unserer Galaxis, das heißt Weltinseln, sind. - Die Schwierigkeit der Nebelforschung von Huygens und Halley über Kant, Maupertuis und Lambert bis zu Lundmark und Hubble war die Unterscheidung zwischen den galaktischen Sternhaufen, den tatsächlichen Gas- oder Staubnebeln in unserer Galaxis und den extragalaktischen „Weltinseln". Quantitativ überwiegen aber Kants Weltinseln die Anzahl aller anderen nebelartigen Objekte am Himmel. Kant schloß jedoch noch weiter, daß, der Universalität der Newtonschen Gravitation entsprechend, diese auch zwischen den Weltinseln wirksam ist, so daß die Weltinseln ihrerseits dynamisch zusammenhängende Systeme bilden (Nebelhaufen) mit entsprechend großen Dimensionen und Zeitperioden in ihrer Bewegung. Auch diese Systeme sind, wie Kant andeutet, wohl nicht die letzten Elemente, sondern es gibt wahrscheinlich eine unendliche Hierarchiefolge der Systeme von Systemen. Hierbei sind die Systeme niederer Ordnung jeweils die Elemente eines Systems nächsthöherer Ordnung, und die Dimensionen der Systeme und ihrer Abstände voneinander wachsen in entsprechenden Proportionen an. Diese Ergebnisse des 1. Teils seines Buches wurden von Kant ergänzt im 7. Kapitel des 2. Teils, der die Schöpfung „im ganzen Umfang ihrer Unendlichkeit sowohl dem Raum wie der Zeit nach" behandelt. Kant nimmt hier die Fragen von Lukrez und von Newton nach den Möglichkeiten und Bedingungen einer Selbstkonsistenz des - entsprechend den Newtonschen Prinzipien aufgebauten - Kosmos auf. Er gelangte zwangsläufig zu dem Resultat, daß eine solche Selbstkonsistenz nur dann möglich ist, wenn der Kosmos räumlich und zeitlich unendlich ist. Es sind also die Bedingungen und Konsequenzen einer solchen raum-zeitlichen Unendlichkeit zu untersuchen. Sowohl Lukrez wie Newton hatten einen möglichen Kollaps des Kosmos als zeitliche Grenze von dessen Existenz angesehen. Kant bemerkt, daß alle Teilsysteme im Kosmos auf Grund des allmählichen Reibungsverlustes an Bewegung (durch Umwandlung von Bewegungsenergie in Wärme) einen Gravitationskollaps erleiden müßten, da die Zentrifugalkräfte dann den Zentripetalkräften nicht mehr das Gleichgewicht halten können. Als notwendige Bedingung für einen unendlichen Kosmos, der mit der Universalität der Newtonschen Gravitation verträglich ist, nahm Kant eine inhomogene Verteilung der Dichte Q der kosmischen Massen an, die ein Schwerezentrum definiert, obwohl der unendliche Raum selbst keinen ausgezeichneten Ort besitzt. Kants Vorstellung über die kugelsymmetrische Dichteverteilung der kosmischen Massen läßt sich analytisch so fassen, daß bei ihr die Gesamtmasse:

M = J QdV v

für

F - * oo

M = 4:n lim j Qr2dr r-*oo

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H.-J. Treder

der Welt unendlich groß ist, die Schwankungen des Gravitationspotentials

oo gegen Null. Daraus schloß Kant, daß sich die Sterne und Sternsysteme zunächst in der Nähe dieses Zentrums herausgebildet hätten und sich dieser Bildungsprozeß dann in einer „Kettenreaktion" vom Zentrum aus in immer weitere Entfernungen fortpflanzte, wobei die Entstehung der älteren Sternsysteme jeweils Anlaß für die Bildung neuer Sternsysteme w a r ; und während dann die Sternsysteme in der Nähe des kosmischen Zentrums bereits kollabiert sind, bilden sich in einem unendlichen Prozeß in wachsender Distanz von diesem Zentrum immer erneut weitere Sternsysteme. Kant sagt, daß somit der Prozeß der „Weltschöpfung" niemals abgeschlossen ist. Wiederum ist zu bemerken, daß Kants dynamische Konzeption im Ansatz nicht nur das enthält, was um 1900 zunächst Kelvin und dann J. Jeans über die kosmogonische Bedeutung der „Gravitations-Instabilitäten" herausgearbeitet haben, sondern Kants Ideen schließen die sich jetzt erst durchsetzende Erkenntnis ein, daß die Entstehung der Sterne und Sternsysteme nicht (wie noch vor einigen Jahren angenommen wurde) ein einmaliges Geschehen aus der fernen Vergangenheit ist, sondern ein auch noch heute und in aller Zukunft stattfindender Prozeß. Kant bemerkte zudem, daß der schließliche Kollaps der verschiedenen Weltsysteme nicht das endgültige Ende ihres Entwicklungsprozesses darstellen wird, sondern die Unendlichkeit der Ausdehnung des Kosmos und der in ihm enthaltenen schweren Masse garantieren sollte, daß der Gravitationskollaps selbst die Massenbewegung neu anstößt und dann ein neuer kosmogonischer Zyklus beginnt.

III. Kants Kosmogonie: D i e W e l t als eine Hierarchie von Entwicklungsprozessen In der mechanistischen Naturphilosophie von Descartes sind - im Gegensatz zum späteren Dynamismus Newtons, Leibniz' und Kants - alle Kräfte eliminiert und die Wechselwirkung der Körper auf ihre bloße Undurchdringlichkeit als Folge der Inkompressibilität der primären Materie zurückgeführt. Die Planeten werden nach Descartes rein kinematisch durch einen Ätherwirbel mitgeführt, dessen Zentrum die Sonne bildet. Analog sind die Hauptplaneten die Zentren kleinerer Ätherwirbel, welche die Satelliten mit sich führen. Diese Ätherwirbel der Sterne (Sonnen) entstanden, gemäß Descartes, bei der Bildung der Sonne und der Planeten aus der primären Materie, so daß die Himmelsmechanik des Sonnensystems, nach

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Kant und die Begründung der Kosmologie

Descartes, die direkte Konsequenz der Kosmogonie ist. Descartes gelangte so zu einer qualitativen Erklärung der Bewegungsgesetze der Planeten, die auf der Hydrodynamik idealer wirbelnder Flüssigkeiten beruht. Tätigkeit und Inkompressibilität der den Raum erfüllenden - und ihn erst bildenden - „Ersten Materie" (Äther) reichen aus, die Entstehung der cartesianischen Wirbel im Rahmen der Kosmogonie der Sonne und der Planeten zu erklären. Die cartesianische Himmelsmechanik fordert aber grundsätzlich eine exakte Kreisförmigkeit und strenge Komplanarität aller Planetenbahnen. Die tatsächlich vorhandenen Abweichungen hiervon müssen durch Zusatzhypothesen erklärt werden, wie sie später Leibniz einführte. - Die eigentliche Schwierigkeit für die cartesianische Himmelsmechanik war jedoch das 3. Keplersche Gesetz, worauf zuerst Newton hinwies: Die Stärke des Sonnenwirbels SJi/ji ist nach dem 3. Keplerschen Gesetz für das Planetensystem keine Konstante, sondern eine Funktion der Planetenabstände R von der Sonne: M = Sonnen-Masse

71

/ = Newtonsche Gravitationskonstante.

Kant sagte nun, daß die cartesianischen Wirbel nicht den heutigen Zustand des Sonnensystems abbilden, welcher exakt durch die Newtonsche Himmelsmechanik beschrieben wird. Entgegen der cartesianischen Raumtheorie und Kontinuumphysik ist das Sonnensystem heute kein Plenum, sondern im wesentlichen ein Vakuum mit isolierten Massen, der Sonne, den Planeten und ihren Monden etc. (deren Abstraktionen die Newtonschen „Massenpunkte" sind). Die cartesianischen Wirbel beschreiben aber den Frühzustand des Sonnensystems; sie gehören nach Kant nicht zur Himmelsmechanik, sondern zur Kosmogonie. Ihre Herausbildung und schließliche Zerstörung bildet die Frühgeschichte des Sonnensystems. Nach Kant ist die Materie des Sonnensystems ursprünglich quasi-kontinuierlich über den gesamten Raum des Sonnensystems verteilt gewesen mit einer Massendichte, die vielleicht kleiner als

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war, so daß die Materie des Sonnensystems primär bis in die Nähe der nächsten Fixsterne reichte. Diese ursprüngliche Materie war gas- und staubförmig mit einem sehr großen Übergewicht der kleineren Partikel gegenüber den größeren. Diese Partikel bewegten sich im allgemeinen statistisch ungeordnet in einem von Kant als „chaotisch" bezeichneten Bewegungszustand. Jedoch war diesem chaotischen Bewegungszustand noch zusätzlich eine systematische Bewegung aufgeprägt, nämlich ein endlicher Gesamtdrehimpuls. Dieser Gesamtdrehimpuls des SonnenUrnebels entstand, weil sich die Urwolke der Sonne gleichzeitig mit einer großen Anzahl anderer Urwolken, nämlich denjenigen eines Sternsystems von Millionen

46

H.-J. Treder

von Sonnenmassen, herausbildete, wobei dann alle Urwolken - in statistischer Verteilung - verschiedene innere Drehimpulse mitnahmen. Durch ihre eigene Newtonsche Gravitations-Anziehung kollabierte nun die Sonnenwolke; bei diesem Kollaps stießen ihre Partikel laufend zusammen, und ihre ungeordnete Bewegung wurde durch unelastische Stöße aufgezehrt. Hierbei verfügte Kant durchaus schon über die Einsicht, daß sich die hierbei verbrauchte lebendige Kraft in innere Wärmeenergie umsetzte. - Ohne den primären Drehimpuls würde die ganze Urwolke in eine einzige Zentralmasse kollabieren. Die systematische Bewegung kann durch die Stöße jedoch nicht zum Verschwinden gebracht werden. Sie enthält den „Trägheitswiderstand" in Form der Zentrifugalkräfte v R

~ — «rf a>2R

v = Geschwindigkeit K. M a r x / F . Engels, Werke, Berlin 1956 ff., Band 3, S. 31 (im folgenden: M E W )

9j

M E W 3,30. Mit einem einzigen Satz zerstört Marx den idealistischen Reinheitsbegriff: „Der

96

M E W 3,44

97

M E W , Erg.Band I, 572

,Geist' hat von vorneherein den Fluch an sich, mit der Materie .behaftet' zu sein."

160

W . R. Beyer

einer „Reinheit" viel Anmaßung in der Philosophie betrieben werden kann. Wir Heutigen wissen um den Snobismus mancher „Reinheitspostulate". Seit der Reinheitsbegriff - unkantisch - in der Philosophie von Erkenntnis zum Bekenntnis überwechselte, gewannen idealistische Reinheitsapostel manchenorts hohes Ansehen. Der Reinheitsbegriff wird von Engels im Sammelbegriff „Reich des reinen Gedankens"98 im Anklang an Kant für die philosophische Abgrenzung des ErkenntnisVorgangs genommen. Kant war sich immer dessen bewußt gewesen, daß sich sein Reinheitsbegriff nur auf „Erkenntnisse", ja nur auf „Kritik der Erkenntnisse"99 bezieht. Nur im Erkenntnis/?™^/? gewinnt „Reinheit" für Kant die zentrale Rolle im philosophischen System. Nur hier gilt, daß „von den Erkenntnissen a priori diejenigen rein heißen, denen gar nichts Empirisches beygemischt ist"100. Marx und Engels wußten aber auch genau, daß der Reinheitsbegriff von den Junghegelianern aus seinem philosophischen, determinierenden Rang verdrängt worden war101 und über die einfache Prädikatbenutzung bis zur Attributeigenschaft abgestuft dauernd benützt wurde. Kant hatte noch implizite Definitionen hierfür gegeben.102 Reinheit dominierte für ihn im „reinen" Begriff, der nur negativ abgegrenzt blieb. Der Empirie-Verlust bildete sein Positivum. Für Marx und Engels und den Marxismus-Leninismus stellt sich dies als Negativum, als Welt -Verlust. Dies hat Lenin deutlich herausgearbeitet in seinem Werk „Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie". Er nennt es „Obskurantismus", wenn die „reine Theorie sorgfältig von der Praxis getrennt wird"103. Lenin spottet über die seinerzeitige Kant-Kritik, die sich in „Reinheiten" tummelte. Er zitiert Kuno Fischer: „Die Kritik der reinen Vernunft nach Abzug der reinen Vernunft...", im Hinblick auf die Frage des „Dinges an sich", die ihn am meisten interessierte, und billigt den Fortgang des Zitates: „Die Kritik der reinen Vernunft nach Abzug des Dinges an sich ist Berkeleyscher Idealismus."104 Lenin hält Dietzgen die Benützung einer „irrigen und verworrenen Terminologie Kants"105 vor, wenn dieser von einem „über die Grenzen der Erfahrung Hinausreichen" spricht. Nun ist es klar, daß „Reinheit" nicht über alle Erfahrung hinausreicht, sondern wie jeder a priori geltende Begriff in und mit seinem Begriffsinhalt eben vor der Erfahrung, Kant sagt „transzendental", gilt. 98 99

MEW 21,306 K r . d. r. V., B 79

100

Ebenda, B 3

101

V o r allem durch Bruno Bauers „Reine Kritik". Zu diesem Thema siehe: Hans Martin Sass,

102

Siehe: Lewis White Beck, „Können Kants synthetische Urteile in analytische umgewandelt

„Bruno Bauer. Feldzüge der reinen Kritik", Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1 9 6 8 werden?", in: Gerold Prauss, „Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln", Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1 9 7 3 , S. 35 103

W . I. Lenin, Werke, Bd. 14, Berlin 1 9 6 4 , S. 1 8 8

10''

Ebenda, S. 1 9 4

105

Ebenda, S. 1 1 4 / 1 1 5

D e r Reinheitsbegrifi bei Kant

161

Lenin billigt aber wiederum die Kritik, die A. Riehl an Avenarius übte, als er dessen „Kritik der reinen Erfahrung", die „nichts beigemischt" wissen wollte, „als was selbst Erfahrung ist"106, als „augenscheinlichen Zirkel" entlarvte. Die KantImitationen von Richard Avenarius, der zwar dem „Genius Kant huldigen" wollte, wirken heute - wie schon zu Lenins Zeiten - lächerlich.107 Avenarius kennt zwei Begriffe von Erfahrung, und zwar „reiner Erfahrung": einen synthetischen und einen analytischen. Der erste lautet: „Erfahrung ist Ausgesagtes, welches in allen seinen Komponenten rein nur Bestandteile unserer Umgebung zur Voraussetzung hat." Trotz aller Kant-Beflissenheit von Avenarius muß vermerkt werden: Kant hätte die Worte „rein" und „nur" nie nebeneinander gestellt. Der analytische Begriff, der mit dem ersten nicht zusammenfallen soll108, lautet: Reine Erfahrung „ist eine Erfahrung, welcher nichts beigemischt ist, was nicht selbst wieder Erfahrung wäre - , welche mithin in sich selbst nichts anderes als Erfahrung ist"109. Der Reinheitsbegriff landet also auch hier, diesmal kantgetreu, bei der - Identität. Nun mag das neukantianische Reinheitspostulat philosophiegeschichtlich im Gegenzug zur Reinheitspropaganda der Junghegelianer gestanden haben. Der Bedeutungswandel des philosophischen Reinheitsbegriffs ging aber weiter und führt heute von Erkenntnis weg zum Bekenntnis. Reinheit wird nicht mehr vorausgesetzte, sondern einfache, behauptete Richtigkeit des Denkens. „Reinheit" entpuppt sich als Anmaßung, als Geltungsanspruch. Sie wird erneut steigerungsfähig gesehen und blamiert sich als Philosophikum, wenn wir - nun als una vox ex pluribus zitiert - bei Georg Lukäcs jüngst lesen, daß er „völlige Reinheit der marxistischen Lehre" 110 fordere. „Reinheit" sinkt zur Maske des Revisionismus und bewährt sich damit erneut als: Abstraktion von Welt. 106

Ebenda, S. 144 ff.

107

Richard Avenarius, Kritik der reinen Erfahrung, Fuess' Verlag, Leipzig 188-8. Hier S. XII

106

Ebenda, S. 5

109

Ebenda, S. 4 und 5

110

Hierzu: Tibor Hanak, Lukäcs war anders, Verlag Anton Hain, Meisenheim am Glan 1973, S. 80

11

Buhr/Oiserman

Hermann Klenner

(Berlin)

Zur Rechtslehre der reinen Vernunft Der Jurist im Kreise philosophischer Laudatoren scheint in einer aussichtslosen Lage zu sein. W i e uns überliefert ist1, schätzte Kant den Umgang mit Juristen nicht. Und was seine „Rechtslehre" von 1797 anlangt, so wird diese Arbeit entweder unter Kants Senilica 2 oder aber unter die zu jungen, nämlich unter die iwkritischen Schriften eingereiht 3 , also: nicht einmal Kants Rechtsphilosophie scheint kantisch zu sein. Ja, und M a r x : der verwarf Kants Naturrechtssystem schon als 19jähriger Student der Rechte, noch bevor er sich der „grotesken Felsenmelodie" Hegels auslieferte' 1 , von seiner eigenen ganz zu schweigen. Ich weiß also, was ich wage, wenn ich mich als Marxist und - auch - Jurist dennoch zu Kant bekenne. Nun hat es mit den Rechtsphilosophien der großen Philosophen überhaupt so seine Bewandtnis: nichts gegen Hobbes' Materialismus, aber rechtfertigt sein „Leviathan" nicht beliebige Diktaturen? 5 Nichts gegen Hegels Dialektik, aber läßt er nicht gerade in seiner „Philosophie des Rechts" die Dialektik stillstehn? 8 Und nichts gegen Kants Ansätze einer materialistischen Entwicklungstheorie von Galaxis und Metagalaxis, aber legitimiert seine „Rechtslehre" mit ihrer Unterwerfungsstrategie des Volkes unter die Oberen nicht gerade den Stillstand in der Geschichte? Kants sich in diesen Tagen zum 250. Mal jährender Geburtstag mag Anlaß sein, die Frage nach der Bedeutung seiner Rechtsphilosophie, der „Rechtslehre der reinen Vernunft", wie er sie nannte 7 , zu stellen. Steht sie auf der Höhe seiner 1

J. G. Hasse, Letzte Äußerungen Kants ( 1 8 0 4 ) , in: A . Buchenau / G . Lehmann (ed.), Der

2

alte Kant, Berlin 1 9 2 5 , S. 30 S o : Schopenhauer, Sämtliche Werke, Leipzig 1 8 7 7 , Bd. 2, S. 3 9 6 ; F. Paulsen, Immanuel Kant, Stuttgart 1 9 0 4 , S. 3 6 4 ; H. Cunow, Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie, Berlin 1 9 2 3 , Bd. 1, S. 2 2 3

3

S o : Chr. Ritter, D e r Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen, Frankfurt/M. 1 9 7 1 ,

4

Vgl. K . Marx / F. Engels, Werke, Ergänzungsband 1, Berlin 1 9 6 8 , S. 7, sowie Bd. 3, Seite

5

Vgl. F. W o l f , K a n t and Hobbes concerning che foundation of political philosophy, in:

6

S o : E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1 9 6 1 , S. 1 4 5

7

Kant, Briefwechsel, Leipzig 1 9 2 4 , S. 7 4 1

S. 71 178 Proceedings of the third International Kant-Congress, Dordrecht 1 9 7 2 , p. 6 0 7

Zur Rechtslehre der reinen Vernunft

163

sonstigen, die klassische deutsche Philosophie begründenden Weltanschauung? Welchen Standort markiert sie innerhalb der Geschichte der Rechtsphilosophie? Ist sie, wie ein Prominenter versichert®, die zwar ablösungsreife, aber die Rechtswissenschaft bis zum heutigen Tag beherrschende Theorie? Deckt Kants Rechtslehre wirklich die erst neuerdings vorgetragene Behauptung 9 , daß die von ihm bereitgestellten Grundbegriffe als Axiome in Savignys System der Rechtswissenschaft eingegangen und so für das obrigkeitsstaatliche Justizdenken zumindest des vergangenen Jahrhunderts verantwortlich seien? Hat er in Kontinentaleuropa mehr verändert als Napoleon? 10 Ist Kant tatsächlich die Schlüsselfigur für den Zustand der heutigen BRD-Rechtsideologie, verdient er in das dortige Kreuzfeuer geraten zu sein: von sonst eher Aufgeklärten wird ihm vorgeworfen, auf sein Menschenbild gehe das wirklichkeitsfeindliche Recht zurück11, von der anderen Seite wird beteuert 12 , er habe die in Thomas von Aquin gipfelnde Traditionslinie abendländischen Rechtsdenkens abgebrochen, jedenfalls: er sei der „Verderber des Rechts". Wie man sieht, zu Kants Rechtslehre Stellung zu nehmen, heißt zugleich in den ideologischen Klassenkampf von heute einzugreifen; und trotzdem, oder gerade deshalb, ist es erforderlich, eine historisch-reale Bewertung seiner Rechtsphilosophie zu versuchen.13 Es gehörte schon immer zur Aufgabe von Marxisten, alles, was in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Denkens wertvoll war, gegen die jeweiligen Verfallsstrategen reaktionärer Klassen zu verteidigen, aber diese Verteidigung kann sinnvoll nur kritisch und materialistisch erfolgen: auch Kants Theorie ist - von so zeitloser, „reiner" Vernunft geprägt zu sein sie auch vorgibt - ideeller Ausdruck einer materiell geprägten Wirklichkeit, der deutschen Zustände in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Und die hatten es in sich! Denn Deutschland steckte damals in einer Sackgasse. Es war hinter seinen westeuropäischen Nachbarn zurückgeblieben; mehr als drei 8

R. Pound, On the present status of legal philosophy, in: Actorum Academiae Universalis

9

H. Kiefner, Der Einfluß Kants auf Theorie und Praxis des Zivilrechts, in: J. Blühdorn /

Jurisprudentiae Comparativae, Vol. III, Pars IV, Rom 1 9 5 5 , p. 2 0 1 J. Ritter (ed.), Philosophie und Rechtswissenschaft, Frankfurt/M. 1 9 6 9 , S. 5 ; ähnlich verkehrt: J. Braun, Kant und Hegel - Positionen des Vernunftrechts, in: Juristische Schulung, 9/1974, S. 5 5 4 f. 10

S o : O. W . Holmes, Collected Legal Papers, New York 1 9 2 1 , p. 2 0 2

11

R. Wiethölter, Rechtswissenschaft, Frankfurt/M. 1 9 7 1 , S. 7 3 ; sowie Wiethölter, in: J. W a s sermann (ed.), Erziehung zum Establishment, Karlsruhe 1 9 6 9 , S. 9 A . Kaufmann, D i e ipsa res iusta, in: Festschrift für K . Larenz, München 1 9 7 3 , S. 3 6

13

Vgl. K . A . Mokitschew (ed.), Geschichte der politischen Lehren, Moskau 1 9 7 1 , Bd. 1, Seite 2 5 0 ff. (russ.); J. Baszkiewicz / F. Ryszka, Geschichte der politischen und juristischen Lehren, Warschau 1 9 7 0 , S. 3 0 8 ff. (poln.); Gh. Gilescu, Geschichte der politisch-juristischen Lehren, Bukarest 1 9 6 8 , Bd. 1, S. 1 8 7 ff. (rum.); sowie die letzte veröffentlichte Arbeit meines großen Kollegen A . A . Piontkowski, Die politische und Rechtsphilosophie I. Kants, in: Sowjetstaat und -recht, 2/1974, S. 84 ff. (russ.)

ll*

164

H. Klennet

Viertel seiner 23 Millionen Einwohner lebten auf dem Lande, die meisten der Bauern in feudaler Abhängigkeit, in Ostelbien als Erbuntertanen, und die Ausbeutung verschärfte sich. Aber auch das Handwerk, der bestimmende Teil des Gewerbes (Kant entstammte ihm, sein Vater war Sattlermeister) stagnierte: die mittelalterliche Zunftverfassung hemmte seine quantitative Ausbreitung wie seine qualitative Veränderung. Die Proletarier traten überwiegend als Landarbeiter oder Zunftgesellen, also als feudalgebundene auf, kapitalistisch ausgebeutete Industriearbeiter gab es keine hunderttausend. Verhängnisvoll wirkte die ökonomische Zerrissenheit: es existierte kein einheitlicher Markt, nicht einmal ein Handelszentrum; die Herausbildung der objektiven Bedingungen für eine bürgerliche Revolution schleppte sich dahin. Die politische Zentralgewalt war ohnmächtig, in den Territorialstaaten herrschte faktisch, rechtlich und mit Hilfe des Klerus auch ideologisch der Adel. Der deutsche Feudalismus war in den Zustand einer Daueragonie getreten, er konnte weder leben noch sterben. Preußen, aus dessen finsterster Ecke Kant zeit seines Lebens nicht herauskam, hatte sich zur europäischen Großmacht stilisiert, seine Bauern waren nach den mecklenburgischen die am meisten unterdrückten. Wohl war Preußen, nach Lessings Zeugnis 14 , das sklavischste Land Europas, aber seine militaristische Regierung betrieb ihre nach innen und nach außen aggressive Gewaltpolitik unter dem Eindruck eines sich ändernden Kräfteverhältnisses in „aufgeklärter" Form: ohne die volksfeindlichen Interessen der Feudalklasse aufzugeben, versuchte sie sich an die sich ändernden Bedingungen, zu denen die Existenz eines selbstbewußten europäischen Bürgertums mit internationaler Ausstrahlungskraft gehörte, anzupassen. Mit dieser Anpassungspolitik lähmte das aufklärerisch verbrämte Adelsinteresse zusätzlich die ohnehin nur schwach entwickelte bäuerliche und bürgerliche Opposition. In diese verfallende Feudalordnung - Engels spricht von einem Dunghaufen, in dem es sich die Deutschen gemütlich gemacht hatten 15 - , in dieses Chaos schlug die Revolution. Aber es war nicht die deutsche. Für das Sommerende dieses Jahres 1789 hatte sich Kant die Ausarbeitung seiner seit längerem geplanten Rechts- und Moralphilosophie vorgenommen, die er bereits Ostern 1790 abzuschließen gedachte. 16 In ihr wollte er jene Staatsverfassung im Detail darstellen, die er in seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk, 1781, angekündigt hatte 17 als die „Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen: daß jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann". 14

G. E. Lessing, Gesammelte Werke, Berlin 1 9 5 7 , Bd. 9, S. 3 2 7

13

K . M a r x / F . Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1 9 5 7 , S. 5 6 6 . Allgemein: G. Schilfert, Deutschland von 1 6 4 8 - 1 7 8 9 , Berlin 1 9 6 2 , S. 1 2 5 ff., sowie U.-J. Heuer, Allgemeines Landrecht und Klassenkampf, Berlin 1 9 6 0 , S. 21 ff.

16 17

Kant, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), (West-)Berlin 1 9 5 5 , Bd. 23, S. 4 9 5 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1 9 4 4 , S. 3 9 8 . Fichte wollte sich bereits dieser Aufgabe unterziehen; vgl. Kant, Briefwechsel, S. 6 2 7

Zur Rechtslehre der reinen Vernunft

165

Aber auch in Kants Plan zur Ausarbeitung seiner „Rechtslehre" schlug die Revolution. Nicht in dem Sinne, daß sie ihm das Konzept verdarb. Eher im Gegenteil. Kant war mit dem rechtsphilosophischen Stoff wohlvertraut. Zwischen 1767 und 1788 hatte er zwölfmal das Naturrechtskolleg (vor wenig mehr als je 20 Hörern!) gelesen. Da ihm, wie allen Professoren, durch Ministerialerlaß die freie Gestaltung des akademischen Unterrichts verboten war, hatte er seiner Vorlesung Gottfried Achenwalls „Ius Naturae" (Göttingen 1758) zugrunde gelegt. Seine im Nachlaß vorgefundenen Erläuterungen 18 belegen, daß er sich bei aller Wertschätzung eine kritische Distanz zu Achenwall bewahrt hatte, nicht dieses Naturrecht konnte die Konzeption seines auszuarbeitenden eigenen liefern. 19 Daß etwa die preußisch-deutschen Zustände oder der patriarchalische Despotismus des gerade in Ausarbeitung befindlichen Landrechts das Modell für seine Rechtsphilosophie abgeben könnten, stand für Kant außerhalb der Diskussion: verwerflich sei es, Gesetze über das, was getan werden solle, aus demjenigen abzuleiten, was getan w i r d ; nicht vom Empirischen, sondern vom Vernünftigen müsse man beim Recht ausgehen, denn eine empirische Rechtslehre sei ein Kopf ohne Gehirn. 20 Auf den Pferdefuß dieser radikalen Trennung von Empirie und Vernunft wird noch hinzuweisen sein, eines aber verdient vorerst festgehalten zu werden: entgegen der bis in die jüngste Zeit vorgetragenen Infamie, Kants politische Theorie sei auf den Staat Friedrichs II. zugeschnitten 21 , lag für Kant dieser Staat unter aller Kritik. Auf dessen und jedes anderen Staates sich aufgeklärt gebenden Absolutismus anspielend, schreibt er in einer Fichtes Diktion zuschreibbaren Nachlaßbemerkung: „Der Fürst hält sein Volk wie das liebe Vieh, er schiert ihm die Wolle knapp ab, läßt sie nicht nach ihrem sondern nach seinem Willen weiden und davor, daß er sie durch seine Hunde wider den Wolf bewacht, speiset er sie auf. Der Oberherr traktiert die Untertanen wie rotzige Jungen, läßt ihnen keinen Verstand als zum Gehorchen und ist der allgemeine Eigentümer." 22 Kant entwarf seine Rechtsphilosophie bewußt im Gegensatz zu den deutschen 18

Kant, Gesammelte Schriften, Berlin 1 9 3 4 , Bd. 19, S. 3 2 5 ff.

19

G. Buchda (Das Privatrecht Immanuel Kants, Jena 1 9 2 9 , S. 4 ff.) hat in Auseinandersetzung mit der damals herrschenden Meinung den Nachweis geliefert, daß Kants „Rechtslehre" nicht auf Achenwalls „Naturrecht" fußt. Außerdem verdient Buchdas Entdeckung (S. 3 6 ) , daß die Absätze 4 - 8 des § 6 von Kants „Rechtslehre" ein falscher Texteinschub sind, Beachtung. D e r jüngste Nachdruck der Akademie-Ausgabe von Kants Werken, (West-)Berlin 1 9 6 8 , Bd. 6, S. 4 9 5 , verweist irrtümlicherweise auf T. Tenbruck (in: Archiv für Philosophie, Stuttgart 1 9 4 9 , S. 2 1 6 ) als den angeblichen Entdecker des Texteinschubs.

20

Kant, Metaphysik der Sitten, Leipzig 1 9 4 5 , S. 34

21

So in einer von Revanchisten herausgegebenen Preisschrift: J. Müller, Kantisches Staatsdenken und der preußische Staat, Kitzingen 1 9 5 4 , S. 1. W i e gehabt bei: H. Prutz, Kant und der preußische Staat, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 49, S. 5 3 7 ( 1 8 8 2 )

22

Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 1 9 , S. 5 1 4

166

H. Klenner

Zuständen; das von ihm konstruierte Naturrecht ist das angeblich durch eines jeden Menschen Vernunft (a priori) erkennbare Recht, er verspricht, ein System reiner, von allen Anschauungsbedingungen unabhängiger Erkenntnisse und Vernunftbegrifie zu liefern. 23 Und daher betraf die Französische Revolution das Innerste seiner Rechtstheorie. Denn diese Revolution war angetreten, um die Vernunft auf den Thron zu setzen. Rousseau, dessen „Gesellschaftsvertrag" seinerzeit Kants Tagesablauf durcheinandergebracht hatte, dessen Porträt der einzige Bilderschmuck in Kants Wohnung war24, sollte nun die Bewährungsprobe seiner Ideen erhalten. Und wenn auch Kants Ausruf bei der Verkündung der französischen Republik: „Herr, nun laß Deinen Diener in Frieden dahinfahren, denn ich habe das Heil der Welt gesehen", nur gut erfunden sein mag25, seine Begeisterung ist unbestreitbar. Selbst in sein religions- und in sein kunstphilosophisches Hauptwerk fügt er nachträglich Sympathiebemerkungen für die Französische Revolution ein.26 Diese Begeisterung war nicht von der Art Schillers, dessen Strohfeuer erlosch, als die Revolutionäre handgreiflich wurden. Kant hielt der Revolution bis zu ihrem und seinem eigenen Ende die Treue. Davon zeugt seine endlich 1797 erschienene Rechtsphilosophie, an der er während des ganzen Revolutionsverlaufs arbeitete und der er, weil er sie - wie die Revolution auch - immer noch nicht für abgeschlossen hielt, den Titel „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" gab und die er dann mit seiner „Tugendlehrc" zur „Metaphysik der Sitten" vereinigte. Für dieses Werk sowie für seine drei während der Revolution ausgearbeiteten politischen Abhandlungen („Theorie und Praxis", „Zum ewigen Frieden", „Streit der Fakultäten") - der handschriftliche Nachlaß Kants belegt, daß seine Materialsammlungen zu diesen vier Veröffentlichungen ineinander übergehen, sie sind eigentlich als eine Einheit zu betrachten - liefert die Französische Revolution das unüberhörbare Leitmotiv. Insofern ist Kants Konzept vom Recht untrennbar mit der großen Revolution von damals verbunden. Kant gedenkt ihrer mit „Enthusiasmus", „Zujauchzen", „heißer Begierde", „Interesse des ganzen Menschengeschlechts", einer Anteilnahme also, die gleicherweise seinen Intellekt wie sein Interesse betrifft. In seiner Stellung zur Revolution der Franzosen überwand er seinen sonstigen Dualismus von Erkennen und Wollen. Und hier werden seine Schriften, von denen sein Bewunderer Fichte (Brief vom 4. Juli 1797 an Reinhold) meinte, sie seien unverständlich für den, der nicht schon wisse, was darinstehe, auf einmal wieder lesbar. 23

Kant, Metaphysik der Sitten, S. 18, 65, 116

2

'' Kant, Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, Berlin 1912, S. 87, 204

25 28

Von: K. Varnhagen von Ense, Tagebücher, Hamburg 1869, Bd. 11, S. 187 Kant, Kritik der Urteilskraft, Leipzig 1948, S. 2 3 8 ; Kant, D i e Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Leipzig 1950, S. 212

Zur Rechtslehre der reinen Vernunft

167

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" - das waren die Losungen, unter denen das Volk von Paris die Bastillen des Feudalismus stürmte. Und wenn Kant in unverwechselbarem Gleichlaut „Freiheit, Gleichheit und weltbürgerliche Einheit (Verbrüderung)" zu den dynamischen Kategorien der Politik erklärt, die kraft Vernunft der Staatsverfassung zugrunde liegen27, so war das seine Identifikation mit dem revolutionären Frankreich, gleichzeitig aber seine Kontraposition zu den Feudalordnungen diesseits des Rheins. Denn der in Fortführung des Werkes von Spinoza und Rousseau auch von Kant formulierte Anspruch der Vernunft auf rationale Gestaltung von Natur und Gesellschaft durch freie Menschen, der „Rechtsanspruch der Menschenvernunft auf Freiheit", wie Kant sagt28, mußte mit den bestehenden deutschen Zuständen kollidieren; und Kant macht daraus überhaupt keinen Hehl. Wo immer er auf feudalen Despotismus und feudalen Plunder zu sprechen kommt, er attackiert 29 : - den Adel, den er samt Fideikommiß und Majorat als „Anomalie", als „temporäre Zunftgenossenschaft", als überfällig also, markiert; - die Leibeigenschaft, die er unverblümt als Verbrechen bezeichnet; - die absolute Monarchie, denn nur die reine Republik ist für ihn die rechtmäßige Verfassung; - die Kriegs-, Rüstungs- und Eroberungspolitik (es gereicht Kant zur Ehre, daß er gegen die Teilung Polens ebenso offen auftrat wie gegen die Intervention in die französische Revolution und den Söldnerverkauf an fremde Staaten); - den Kolonialismus und Sklavenhandel durch diejenigen, die von der „Frömmigkeit viel Werks machen und Unrecht wie Wasser trinken"; - die „furchtbare Gewalt" des Klerus und die Kirche, die er vom Staat zu trennen vorschlägt und deren Güter enteignet zu werden verdienen. Wohlgemerkt, es handelt sich bei diesen Attacken Kants nicht um Randbemerkungen, Entgleisungen oder Exerzitien pro domo. Weil seine „Rechtslehre" in ihren essentiellen Elementen alle wesentlichen Attribute des Feudalismus negiert, erweist sie sich als antifeudal. Insofern wirkt Kants Prinzip, sein philosophisches System von allem zu säubern, was nur empirisch ist, progressiv; und insofern demonstrieren die immer wieder gegen Kant erhobenen Vorwürfe 30 , ihn habe das positive Recht überhaupt nicht interessiert, außerdem sei er viel zu wenig juristisch geschult, als daß er die Rechtsphilosophie zu fördern vermocht hätte, nur den Unverstand dieser Kritiker, die sich ihrerseits übrigens nur allzusehr für das braune Recht ihrer Zeit „interessiert" haben. Wenn auch Kant ein Reformist in dem Sinne war, daß er sich den Übergang vom Staat seiner Zeit zum Staat seiner Vernunft „nicht revolutionsmäßig, durch 2V

Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 23, S. 139, 143

28

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Leipzig 1947, S. 87

29

Zum Folgenden: Kant, Metaphysik der Sitten, S. 78, 153, 156, 170, 175, 180, 2 0 3 ; Kant,

30

K. Larenz, Reich und Recht in der deutschen Philosophie, Stuttgart 1943, Bd. 1, S. 2 8 9 ;

Gesammelte Schriften, Berlin 1912, Bd. 8, S. 344, 359 W. Sauer, System der Rechts- und Sozialphilosophie, Basel 1949, S. 281

168

H. Klenner

einen Sprung, d. i. durch gewaltsame Umstürzung", sondern durch „allmähliche Reform nach festen Grundsätzen, in kontinuierlicher Annäherung" - das ist das Ende seiner „Rechtslehre"31 - wünschte, so war er doch weder ein Opportunist, noch gehörte er zum Stamm jener systemimmanenten Kritiker, von denen die gegenwärtigen Unterdrückungssysteme mehr aufrechterhalten als verändert werden: Kant macht die „Neigung, immer oben zu schwimmen", ebenso lächerlich, wie er sein Anliegen, nach Prinzipien zu reformieren, vom Verdacht frei hält, am Staat etwa bloß „flicken" zu wollen. 32 Von hier aus ist es auch verhältnismäßig leicht zu zeigen, daß die zu Beginn dieser Studie erwähnten Versuche, eine geradlinige Entwicklung von Kant zu Savigny aufzudecken - was darauf hinausläuft, Kants intellektuelle Autorität vor die reaktionäre Rechtstheorie und Justizpraxis Preußen-Deutschlands zu spannen - , mit den Tatsachen jedenfalls nichts zu tun haben. Kants Rechtsphilosophie ist weder das euklidische Fundament von Gustav Hugos Manier, das gegenwärtige Recht durch das vergangene zu legitimieren 33 , noch lieferte er für Savignys Rechtssystem die Axiome. Was immer die Ritter der historischen Rechtsschule sich einbildeten: Kant stellte dem überkommenen das vernünftige Recht entgegen, während sie die erworbenen Rechte als die einzigen anerkannten.34 Übrigens hat bereits Karl Marx Kant vor der Anmaßung Hugos verteidigt, sein Naturrechtslehrbuch als einen Sprößling der Kantischen Philosophie auszugeben. Kants Philosophie, schreibt der 24jährige Marx 35 , sei „die deutsche Theorie der französischen Revolution", Hugos „Naturrecht" hingegen die „deutsche Theorie des französischen ancien régime". Auf dieser Frontstellung von damals auch heute noch zu beharren, ist übrigens nicht Rechthaberei. Der Streit um unser theoretisches Erbe betrifft immer noch aktuelle Vergangenheit, insofern also Gegenwart. Im Fall Kant - Savigny liegt das auf der Hand: wird doch das BRD-Zivilrechtssystem als ureigene Schöpfung Savignys angesehen.36 Indem Kant das Naturrecht dem positiven Recht entgegensetzt, hat er weder nachgewiesen oder auch nur nachweisen wollen, daß es überhaupt kein verbindlich geltendes positives Recht geben könne37, noch hat er uns damit gelehrt, daß es für die Richtigkeit einer Rechtsordnung keinerlei Sicherheit gäbe38. Im Gegenteil: er konzipierte in allerbester Aufklärertradition das Naturrecht als den der 31

Kant, Metaphysik der Sitten, S. 1 8 6

32

Kant, ebenda, S. 3 2 4 ; Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 23, S. 1 6 2

33

So : E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtl., 2. Halbband, München 1 9 1 0 , S. 33

34

Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Berlin 1 8 4 0 , Bd. 1, § 5 3

35

K . Marx / F. Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1 9 5 6 , S. 80

36

Vgl. W . Flume, Das Rechtsgeschäft, (West-)Berlin 1 9 6 5 , S. 2 9 1 ff., 4 4 0 ff.

37

So: G. Dulckeit, Naturrecht und positives Recht bei Kant, Leipzig 1 9 3 2 , S. 67

38

So: H. Coing, K a n t und die Rechtswissenschaft, in: Kant und die Wissenschaften, Frankfurt/M. 1 9 5 5 , S. 42

Zur Rechtslehre der reinen Vernunft

169

Menschenvernunft entstammenden Maßstab des positiven Rechts, damit letzteres wissenschaftlich beurteilt und bei Nichtübereinstimmung in richtiger Richtung praktisch verändert werden kann. Ganz ähnlich geht das Selbstverständnis der neokantianischen Rechtsphilosophie, den Weg Kants konsequenter als er selbst zu Ende zu gehen 39 , daneben. Kant setzte nämlich seine eigene „reine Rechtslehre" der sogenannten „statutarischen Rechtslehre" entgegen 40 , worunter er eine Rechtstheorie verstand, die ausschließlich das empirisch gegebene Recht als Gedankenmaterial benutzt. Gerade von solcher Art aber ist die „Reine Rechtslehre" Hans Kelsens, die sich in der logischen Bearbeitung einer empirisch erfaßbaren, im großen und ganzen wirksamen Vielheit von Rechtsnormen erschöpft und folglich im Sinne Kants nicht als reine, sondern als statutarische Rechtslehre zu bezeichnen wäre. Gewiß geht Kelsen von Kants Dualismus, der von ihm für unüberbrückbar erklärten Kluft zwischen Sein und Sollen 41 , aus. Aber er geht in eine den Intentionen Kants entgegengesetzte Richtung: bietet Kant der Absicht nach eine Rechtslehre der reinen Vernunft, so liefert Kelsen eine vorsätzlich von aller Vernunft gereinigte Rechtslehre. Freilich, wenn man genauer hinsieht, entpuppen sich Kants angeblich reine Rechtsvorstellungen als zwar im wesentlichen vom Feudalismus, nicht aber von den Interessen des Bürgertums gereinigt. Ausgezogen, um das durch eines jeden Menschen Vernunft erkennbare Recht für den Zustand einer vollkommenen Verfassung und deren unwandelbare (!) Gesetzgebungsprinzipien aufzufinden'' 2 , landet er schließlich bei dem Modell eines geregelten „Mein und Dein", das - wie sollte es auch anders sein - von bourgeoisem Gedankengut durchsetzt ist. Es erging ihm also nicht besser als den französischen Aufklärern, die sich durch die Revolution belehren lassen mußten, daß das Reich der Vernunft, das sie zu installieren getrachtet hatten, nichts anderes war als das idealisierte Reich der Bourgeoisie. 43 Die bourgeoisen Züge der von Kant ins Auge gefaßten bürgerlichen Verfassung zeigen sich bereits in der zentralen Stellung, die er innerhalb seiner Rechtslehre der Regelung dieses Mein und Dein, dem Privatrecht, zuweist, von dem er das öffentliche Recht ableitet. Sie zeigen sich vor allem aber darin, daß sein Recht nur die formalen Bedingungen der äußeren Freiheit reguliert. 44 Das ist der tiefere Sinn seiner Definition des Rechts („das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem all39

S o : H. Kelsen, in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, Wien 1 9 6 8 , S. 3 4 8 . Dazu: Klenner, Rechtsleere, in: Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie, Bd. 14, Berlin 1 9 7 2 , S. 73 f. Kant, Gesammelte Schriften, Berlin 1 9 3 6 , Bd. 2 1 , S. 1 7 8

41

Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 6 1 5 . Dazu: E. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre

42

Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 33, 65, 1 1 6

und Marxismus, W i e n - B e r l i n 1 9 2 9 , S. 2 3 43

K . Marx / F. Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1 9 6 2 , S. 1 7

v*

Zum Folgenden: Kant, ebenda, S. 3 4 f., 2 1 9 ; Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 4 4

170

H. Klenner

gemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann") sowie seiner Charakterisierung des allgemeinen Rechtsgesetzes („Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne"). Weder Rechtsdefinition noch Rechtsgesetz noch kategorischer Imperativ („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde") sind etwa Leerformeln. Vielmehr ist damit - übrigens unter dem Einfluß von Adam Smith - genau jener Gesellschaftsvorstellung das juristische Konzept geliefert, die auf dem wechselseitigen Eigennutz aufbaut und vorgibt, mittels einer spontanen Reproduktion ihrer Bedingungen eine allseitige Harmonie erzielen zu können. Dieser konkurrenzkapitalistischen (damals produktiven) Illusion ist Kants rein negatorischer Freiheitsbegriff auf den Leib geschrieben: nur die Willkür kann frei genannt werden, und: keinem wird das Seine zugewiesen, aber jedem wird es gesichert45, was soviel heißt, daß jeder einzelne seine Glückseligkeit dann erreicht, wenn die Allgemeinheit ihn nur immer gewähren läßt. Laissez faire, laissez passer! So verbindet sich in Kants Charakterisierung des angeblich vernünftigen politischen Systems, der rechtsstaatlich organisierten, freiheitsorientierten republikanischen Staatsgewalt, ständig eine Schilderung, ja eine Vorwegnahme des für die bürgerliche Gesellschaft Zutreffenden mit dem von dieser Gesellschaft irrtümlicherweise Erhofften. Das zeigt sich an Kants Modell des Staates als eines Automaten''6, der die Freiheit bringt, indem er sie nicht bringt, der das soziale Verhalten der Gesellschaft sichert, indem er das asoziale Verhalten der Einzelnen reguliert, der die Harmonie des Ganzen dadurch bewirkt, daß jeder für sein eigenes Glück selbst sorgt. Nun sind natürlich solche Gedanken, damals gehabt, durchaus fortschrittlich; aber von ewiger oder von reiner Vernunft sind sie nicht gezeugt. Sie richten sich gegen die Sozialstaatskonzeption des aufgeklärten Absolutismus. Weil Kants Rechtsphilosophie auch neuerdings wieder in deren Nähe gerückt wird, verdient das betont zu werden. Christian Wolff etwa hatte aus seiner allgemeinen Konzeption heraus, daß eines jeden Wohlfahrt und Glückseligkeit direktes und höchstes Ziel des Staates sei, geschlußfolgert, daß sich regierende Personen zu ihren Untertanen zu verhalten hätten wie Väter zu ihren Kindern. 47 Demgegenüber Kant: „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, ist der größte denkbare Despotismus." 48 In diesem Rahmen fügt sich auch Kants Theorie von der Strafe, die er als ius talionis, als zweckfreie Vergeltung nach dem biblischen Maßstab (2. Buch Mose, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 30, 65 46

Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 3 3 1 ; Bd. 19, S. 513

47

Ch. Wölfl, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Wesen des Menschen, Halle

48

Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 290 f.

1725, § 2 6 4

Zur R echtslehre der reinen Vernunft

171

21, 24): Auge um Auge, Zahn um Zahn, Beule um Beule, das heißt als spontane Gerechtigkeitsproduktion konzipierte. 49 Dieser Theorie Formalismus vorzuwerfen, übersieht, daß die bürgerliche Gesellschaft, soweit sie überhaupt Gesetzlichkeit braucht, bestenfalls eine formale Gesetzlichkeit produziert. Denn der Zweck der Strafe im Kapitalismus kann immer nur die Reproduktion von maximalen Ausbeutungsbedingungen sein50, ist also, da das Verbrechen ein notwendiges Produkt dieser Gesellschaft ist, mit dem Satz charakterisiert: Ihr laßt den Armen schuldig werden, dann überlaßt Ihr ihn der Pein. Daher ist es Illusion und Irreführung zu gleicher Zeit, wenn von bürgerlichen Strafrechtsreformern der Gegenwart die gewiß überfällige Veränderung des Sexualstrafrechts oder des Strafvollzugssystems innerhalb der Grenzen bürgerlicher Vernunft als endliche und endgültige Verabschiedung des ius talionis ausgegeben wird. 61 Das ius talionis wirklich aufzugeben heißt, zu einer Gesellschaft überzugehen, die sich die Bedingungen organisiert, auf deren Grundlage die schöpferischen Kräfte jedes Menschen als Gliedes der Gesamtheit kontinuierlich und erweitert reproduziert werden. Das aber kann keine auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruhende Gesellschaft sein. Ähnlich steht es mit Kants vielverlästerter Auffassung von der Ehe als eines Vertrages zum wechselseitigen Besitz der Geschlechtseigenschaften von Mann und Frau. 52 Diese Ehekonzeption des do ut des widerspiegelt eine Gesellschaft, in der auch das Intimste in Warenform produziert wird: kein Gebrauchswert schämt sich, Tauschwert zu sein. Übrigens ist Kants Auffassung auch hier antifeudal und antiklerikal: während ein zeitgenössischer Gegner Kants 53 die Ehe nur zum Zweck vernünftiger Befriedigung des Geschlechtstriebes legitimierte (und vernünftige Befriedigung definierte als die Absicht, Kinder zu zeugen - Preußens Könige brauchten schließlich Soldaten - ) , während nach damaligem Allgemeinem Landrecht (II, 1, § 136) die Eheschließung durch priesterliche Trauung vollzogen wurde,.werden bei Kant die Ehen auf Erden geschlossen und in natürlich-bekannter Weise dort auch vollzogen. D a ß so bei Kant die Liebenden ein Recht auf Ehe haben, hat ihm der damalige Berliner Aufkläricht schwer übelgenommen. 54 49

Kant, Metaphysik der Sitten, S. 195, 159. D a z u : A. Piontkowski, Hegels Lehre über Staat und Recht, Berlin 1960, S. 144

50

K. M a r x / F . Engels, Werke, Bd. 8, Berlin 1960, S. 507

51

U. Klug, Abschied von Kant und Hegel, in: J. Baumann (ed.), Programm für ein neues

52

Kant, Metaphysik der Sitten, S. 91, aber auch Kant, Frühschriften, Berlin 1961, Bd. 2,

Strafgesetzbuch, Frankfurt/M. 1968, S. 36 S. 251. Zu Kants Ehedefinition vgl. Brechts klassisches Sonett, in: Gedichte, Bd. 4, Berlin 1961, S. 171 53

L. J. H. Höpfner, Naturrecht, Gießen 1795, S. 177 ff. Auch: Ch. Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, Halle 1754, S. 628, erklärte den Beischlaf nur dann für erlaubt, wenn er der Kindererzeugung dient

54

F. Nicolai, Leben und Meinungen Sempronius Gundiberts, eines deutschen Philosophen, Berlin 1798, S. 146

172

H. Klenner

Zum progressiv bürgerlichen Gedankengut zählt auch Kants Trennung der Legalität von Moralität und Religiosität. Bekanntlich hatte Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft" alle nur denkbaren Gottesbeweise widerlegt und sich dadurch - wie Hobbes, Descartes, Diderot, Montesquieu und natürlich auch Rousseau - einen Platz auf dem Index der verbotenen Bücher erschrieben. 55 Weil Kant so den Himmel gestürmt und die ganze Besatzung habe über die Klinge springen lassen, verglich ihn Heinrich Heine später mit Robespierre. 56 Während Kant jedoch in seiner „Kritik der praktischen Vernunft", aber auch in seiner „Tugendlehre" das höchste Wesen wieder aus der Versenkung hervorgeholt hatte, ließ er in seiner „Rechtslehre" Gott nur in einem einzigen, folgenlosen Zusammenhang auftreten. 57 Kants Rechtsphilosophie ist also atheistisch. Die Rechte, die den Menschen laut Kant zustehen, sind ihnen nicht - wie sogar noch in den Menschenrechtserklärungen von Virginia (1776) oder Paris (1789) - von Gott verliehen oder auch nur von ihm abgeleitet. Sie sind Forderungen der Vernunft des Menschen. Daß damit Kant sowohl der Theologie, der Hauptwissenschaft des damaligen Despotismus, wie Herder sie bezeichnete 58 , als auch dem Klerus die von ihnen beanspruchten Mitwirkungsrechte an der politischen Macht aberkannte, liegt auf der Hand. W i e die deutschen Zustände gegen Ende des 18. Jahrhunderts nun einmal waren, wäre es ein Wunder, wenn nicht auch Kant seinen Tribut an die ökonomische und politische Zersplitterung, an die Ohnmacht der Bauern, die Feigheit des Bürgertums, kurz: an die allgemeine Misere gezahlt hätte. Und Kant hat gezahlt! Das wird deutlich an seinem undemokratischen Konzept der Volkssouveränität. Mit Hilfe von Gewaltenteilung und formaler Rechtsstaatlichkeit schränkt Kant seinen Demokratiebegriff bis hart an die Grenze einer Rücknahme ein. Wohl bekannte er sich vom Ansatz her zu Rousseau und wurde nicht müde, immer wieder zu betonen, daß der vereinigte Wille aller, das Volk also, Grundlage des Staates und Quelle des Rechts sei, daß da, wo Staat und Volk nicht identisch seien, Despotismus herrsche. 59 Aber vor der logisch unvermeidlichen Konsequenz, der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit aller, drückte sich Kant: den Tagelöhnern, Ackerbauern, Handwerksgesellen, Bediensteten, Hauslehrern (sich selbst also während neun Jahren seines Lebens!) und den Frauen billigte Kant wie übrigens Frankreichs revolutionäre Nationalversammlung 1789 auch - kein Wahlrecht zu: die Mehrheit des Volkes ist demnach „nicht Bürger zu sein qualifiziert" 60 . Daß ausgerechnet an diesen Spießbürgergedanken Kants der professorale Ideenlieferant des letzten CSU-Parteitages mit seiner Behauptung anknüpft, eigentA . Sleumer, Index Romanus, Osnabrück 1 9 5 1 , S. 1 4 9 , 1 7 5 56

Heine, Sämtliche Werke, Leipzig 1 8 9 0 , Bd. 4, S. 2 5 9 . Dazu: D. Cantimori, Eine literarische Parallele zwischen Kant und Robespierre, in: W . Markov (ed.), Maximilien Robespierre, Berlin 1 9 6 1 , S. 4 6 9 ff.

a7

Kant, Metaphysik der Sitten, S. 4 7

58

Herder, Werke, Weimar 1 9 5 7 , Bd. 3, S. 2 6 7

50

Kant, ebenda, S. 7 6 ; Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 23, S. 129, 1 6 3

00

Kant, ebenda, Bd. 8, S. 2 9 5 ; Kant, Metaphysik der Sitten, S. 1 3 7

Zur Rechtslehre der reinen Vernunft

173

lieh sei nur der Eigentümer als vollwertiger Staatsbürger zu behandeln 61 , braucht hier nicht kommentiert zu werden. Was aber Kant anlangt - hier zeigt sich konkret seine Neigung, das historisch Notwendige als bloße Idee der Vernunft zu behandeln. Das vorrevolutionäre Bürgertum vermag seine Gesellschaftsprognose nur. a priori zu konstruieren. Seine damit als ewigwährend angekündigte Herrschaft wird mit Axiomen, nicht mit Beweisen begründet. Das eben ist das Gefährliche an einer idealistischen Rechtsphilosophie: ihre Ergebnisse sind, weil nicht wissenschaftlich zwingend aus den Erfordernissen des gesellschaftlichen Fortschritts abgeleitet, eigentlich immer nur erschlichen und daher auch zurücknehmbar. Zumindest sind sie in geradezu entgegengesetzte Richtungen deutbar. So gibt etwa ein braver Interpret an, daß Kants politisch-juristische Grundsätze darauf hinauslaufen, dem „Freiheitsschwindel" entgegenwirkende Bürger heranzubilden 62 , während sie ein anderer als „jakobinisches Gift" denunziert. 63 Indem Kant die materiellen Interessen der (französischen) Bourgeoisie zur reinen Selbstbestimmung des freien Willens verklärte 64 , verlegte er das Diskussionsfeld von der Gesellschafts/wwc« in eine von ihr abgetrennte Gesellschaftstheorie. Das kann leicht zu der Illusion führen, daß die Rechtsphilosophie über den kämpfenden Klassen steht: sie habe, so Kant 65 , gleicherweise das Geschäft des Königs wie das des Volkes zu beleuchten und zu erklären, daß im Ernstfall beide unrecht haben! Außerdem ist von hier der Weg geöffnet, um aus der Tagesmisere in die Welt des Geistes flüchten zu können - „denn süß ist wohnen, wo der Gedanke wohnt, fern von allem" - und ein Volk zu lehren, wie man in Ketten frei sein kann. Dazu hat Kant sich zwar nicht verstiegen, aber die Erklärung der vollkommenen Rechtsverfassung zum „Ding an sich selbst"66 bedeutet zweifellos einen gefährlichen Einbruch des Agnostizismus in die Rechtsphilosophie. Andererseits - und daß Kant zwischen Materialismus und Idealismus schwankt, hat gerade Lenin herausgearbeitet 67 - sind in Kants politisch-juristischen Analysen eine ganze Reihe materialistischer Elemente verborgen. 68 So vermerkt er einmal, daß zur Gleichheit der Rechte eigentlich die Gleichheit der Mittel gehöre, diese

61

H. Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch, in: Frankfurter

Allgemeine,

29. Sept. 1973, S. 11 62

D . Reidenitz, Naturrecht, Königsberg 1803, Vorbericht.

63

C. L. Haller, Restauration der Staatswissenschaft, Winterthur 1820, Bd. 1, S. 74

M

Marx/Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 178

Kant, Beantwortung der F r a g e : Was ist Aufklärung? (1784), in: Kleine philosophische

36

Kant, Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: Kleine

Schriften, Leipzig 1962, S. 212 philosophische Schriften, Leipzig 1962, S. 222 Ebenda, S. 225

38

Ebenda, S. 222

39

Ebenda, S. 220

Kant, Ob das mensdiliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei (aus dem Streit der Fakultäten), in: Kleine philosophische Schriften, Leipzig 1962, S. 246 16

Buhr/Oiserman

242

W. Schröder

sie sich selbst zufügten, wenn es recht böse wird, eine verstärkte Triebfeder zu nehmen wissen, es nun doch besser zu machen, als es vor jenem Zustand war" 41 . Wie sich zeigt, hängt dies mit folgendem für Kant letztlich unlösbaren Problem zusammen: Wie kann ein Mensch, der seiner Natur nach ein „ungeselliges Wesen" ist, zu einer gesellschaftlichen Ordnung gelangen, in der eine harmonische Übereinstimmung zwischen partikularen und allgemeinen Interessen besteht? Unlösbar ist dieses Problem für Kant deshalb, weil es ihm erwiesen scheint, daß der Mensch, der ein Tier ist, um unter anderen seiner Gattung zu leben, einen Herrn nötig hat. Da er diesen Herrn jedoch nur aus der Menschengattung nehmen kann, ist auch er ein Tier, das gleichfalls einen Herrn benötigt. Daher folgert Kant: Der Mensch „mag es also anfangen, wie er will, so ist nicht abzusehen, wie er sich ein Oberhaupt der öfientlichen Gerechtigkeit verschaffen könne, das selbst gerecht sei; er mag dies nun in einer einzelnen Person oder in einer Gesellschaft vieler dazu auserlesener Personen suchen. Denn jeder derselben wird immer seine Freiheit mißbrauchen, wenn er keinen über sich hat, der nach Gesetzen über ihn Gewalt ausübt." 42 Es ist augenscheinlich, daß Kant damit die Autonomie des Staates rechtfertigt, zugleich aber einen despotischen Staat ablehnt und eben aus diesem Grunde keine reale Möglichkeit sieht, einen Staat zu schaffen, der nicht despotisch und doch autonom ist. Dementsprechend gibt es für Kant auch keine hinlängliche Bestätigung dafür, daß die Menschen in der Lage sind, ihre Geschichte selbst zu machen und einen despotischen Staat durch einen Staat zu ersetzen, der den allgemeinen menschlichen Interessen gerecht wird. Seiner Ansicht nach wird „durch eine Revolution . . . vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen" 43 . Es ist daher durchaus folgerichtig, daß Kant einen Herrn über die Menschen setzt, der nicht zur Menschengattung gehört, den kategorischen Imperativ, und daß er nicht in der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse die Realisierung der von ihm postulierten ethischen Normen, des „idealisierten Reiches der Bourgeoisie" sieht, sondern annimmt, diese Veränderung könne allein ein Ergebnis des freien, öffentlichen Gebrauchs der Vernunft, des von jedem einzelnen Menschen zu verwirklichenden allgemeinen geistigen Fortschritts sein, oder, anders formuliert, der geistigen und moralischen Selbstverwirklichung des Menschen und der Menschheit. Das von den französischen Aufklärern aus der Natur - und zwar einer bürgerlichen Natur - abgeleitete Citoyenideal und die sich daraus ergebenden konkreten politischen Forderungen werden damit von Kant spiritualisiert und in eine allgemeine Selbstgesetzgebung des individuellen Willens aus praktischer Vernunft übersetzt.44 41

Ebenda

42

Kant, Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a. a. O., S. 226

43

Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, a. a. O., S. 205

44

W. Heise, Aufbruch in die Illusion, Berlin 1964, S. 105 ff. Dazu auch M. Buhr, Artikel: Vernunft, in: Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1974

Helvétius und Kant - Zur Ethik der bürgerlichen Emanzipationsphilosophie

243

Es kann daher keine Meinungsverschiedenheiten darüber geben, daß es sich bei der utilitaristischen Ethik der französischen Materialisten und der idealistischen Ethik Kants um zwei unterschiedliche Formen der Ethik der bürgerlichen Emanzipationsphilosophie handelt. Es zeigt sich auch hier, daß die bürgerliche Emanzipation ein gesetzmäßiger historischer Prozeß ist, der sich zu unterschiedlichen Zeiten und in einer unterschiedlichen internationalen Kräftekonstellation im nationalen Rahmen vollzog, und daß diese Gesetzmäßigkeit in bezug auf die Herausbildung der bürgerlichen Ideologie sowohl spezifisch nationale Eigenheiten als auch internationale Übereinstimmungen nicht aus-, sondern einschließt. Als erwiesen kann aber auch angesehen werden, daß die verbreitete Auffassung, die französische Aufklärung und insbesondere der französische Materialismus seien durch die klassische deutsche Philosophie überwunden worden, mehr als problematisch ist und dringend einer Überprüfung bedarf. Dies ist übrigens auch deshalb erforderlich, weil Marx und Engels nicht bestätigen, daß trotz der „Misere des deutschen Status quo" 40 die klassische deutsche Philosophie „das Bewußtsein einer neuen Epoche war, der Epoche der Entwicklung des Systems der bürgerlichen Gesellschaft Westeuropas", und daß sie „zum Zentrum des philosophischen Erkenntnisfortschritts" wurde, weil sie „die neuen Impulse und Anforderungen produktiv zu verarbeiten" vermochte. 46 Marx und Engels gingen vielmehr von der „Misere des deutschen Status quo" aus, die sie unter dem Gesichtspunkt der bürgerlichen Emanzipation in England und Frankreich sahen. Da es ihnen darum ging, diese „Misere" zu überwinden, stellten sie sich die Frage, welchen realen Beitrag die klassische deutsche Philosophie dazu geleistet hat und welche Konsequenzen sich aus ihrer gesellschaftlichen Funktion ergeben. Dabei kamen sie zu folgenden Ergebnissen: 1. - 1845: „Die Metaphysik des 17. Jahrhunderts, welche von der französischen Aufklärung und namentlich von dem französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts aus dem Felde geschlagen war, erlebte ihre siegreiche und gehaltvolle Restau-

ration in der deutschen Philosophie

und namentlich in der spekulativen

deutschen

Philosophie des 19. Jahrhunderts. Nachdem Hegel sie auf eine geniale Weise mit aller seitherigen Metaphysik und dem deutschen Idealismus vereint und ein metaphysisches Universalreich gegründet hatte, entsprach wieder, wie im 18. Jahrhundert, dem Angriff auf die Theologie der Angriff auf die spekulative Metaphysik und auf alle Metaphysik." 47 2. - 1845/46: „Der Zustand Deutschlands am Ende des vorigen Jahrhunderts spiegelt sich vollständig ab in Kants ,Critik der practischen Vernunft'. Während die französische Bourgeoisie sich durch die kolossalste Revolution, die die Ge45

M E W , Bd. 4, S. 5 0 f., auch 2, S. 5 6 6 ff.

46

G. Stiehler, D e r Idealismus von Kant bis Hegel, Berlin 1 9 7 0 , S. 1 9 3 . Eine ähnliche A u f fassung vertritt Martina Thom in dem Aufsatz: Die Bedeutung der Freiheitsproblematik f ü r Kants Übergang zum Transzendentalismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie X X ( 1 9 7 4 ) , Heft 3, S. 2 9 1 und 2 9 7

47

16*

M E W , Bd. 2, S. 1 3 2

244

W. Schröder

schichte kennt, zur Herrschaft a u f s c h w a n g . . . brachten es die ohnmächtigen deutschen Bürger nur zum ,guten Willen'. Kant beruhigte sich bei dem bloßen .guten Willen', selbst wenn er ohne alles Resultat bleibt und setzte die Verwirklichung dieses guten Willens, die Harmonie zwischen ihm und den Bedürfnissen und Trieben der Individuen ins Jenseits. Dieser gute W i l l e Kants entspricht vollständig der Ohnmacht, Gedrücktheit und Misère der deutschen Bürger, deren kleinliche Interessen nie fähig waren, sich zu gemeinschaftlichen, nationalen Interessen zu entwickeln . . . Diesen kleinlichen Lokalinteressen entsprachen einerseits die wirkliche lokale und provinzielle Borniertheit, andererseits die kosmopolitische Aufgeblähtheit der deutschen B ü r g e r . . . . Die charakteristische Form, die der auf wirklichen Klasseninteressen beruhende französische Liberalismus in Deutschland annahm, finden wir wieder bei Kant. Er sowohl wie die deutschen Bürger, deren beschönigender Wortführer er war, merkten nicht, daß diesen theoretischen Gedanken der Bourgeoisie materielle Interessen und ein durch die materiellen Produktionsverhältnisse bedingter und bestimmter Wille zugrunde lag; er trennte daher diesen theoretischen Ausdruck von den Interessen, die er ausdrückt, macht die materiell motivierte Bestimmung des Willens der französischen Bourgeois zu reinen Selbstbestimmungen des ,freien Willens', des Willens an und für sich, des menschlichen Willens, und verwandelt ihn so in rein ideologische Begriffsbestimmungen und moralische Postulate. . . . Durch die J u l i r e v o l u t i o n . . . wurde die der ausgebildeten Bourgeoisie entsprechende politische Form den Deutschen von außen zugeschoben. Da die deutschen ökonomischen Verhältnisse noch bei weitem nicht die Entwicklungsstufe erreicht hatten, der diese politischen Formen entsprachen, so akzeptierten die Bürger diese Formen nur als abstrakte Ideen, an und für sich gültige Prinzipien, formme Wünsche und Phrasen. Kantsche Selbstbestimmung des Willens und der Menschen, wie sie sein sollen. Sie verhielten sich daher viel sittlicher und uninteressierter zu ihnen als andere Nationen; d. h., sie machten eine höchst eigentümliche Borniertheit geltend und blieben mit allen ihren Bestrebungen ohne Erfolg." 48 3. - 1847: „Auch Goethe war nicht imstande, die deutsche Misère zu besiegen; im Gegenteil, sie besiegte ihn, und dieser Sieg der Misère über den größten Deutschen ist der beste Beweis dafür, daß sie ,von innen heraus' gar nicht zu überwinden ist. Goethe war zu u n i v e r s e l l . . . um in einer Schillerschen Flucht ins Kantsche Ideal Rettung vor der Misère zu suchen; er war zu scharfblickend, um nicht zu sehen, wie diese Flucht sich schließlich auf die Vertauschung der platten mit der überschwenglichen Misère reduziert.'" 19 4. - 1847/48: „Den deutschen Verhältnissen gegenüber verlor die französische Literatur alle unmittelbar praktische Bedeutung und nahm ein rein literarisches Aussehen an. Als müßige Spekulation über (die wahre Gesellschaft), über die Verwirklichung des menschlichen Wesens mußte sie erscheinen. So hatten für die deutw VJ

MEW, Bd. 3, S. 176 ff. MEW, Bd. 4, S. 232

Helvétius und Kant - Zur Ethik der bürgerlichen Emanzipationsphilosophie

245

sehen Philosophen des 18. Jahrhunderts "die Forderungen der ersten französischen Revolution nur den Sinn, Forderungen der .praktischen Vernunft' im allgemeinen zu sein, und die Willensäußerungen der revolutionären französischen Bourgeoisie bedeuteten in ihren Augen die Gesetze des reinen Willens, des Willens, wie er sein muß, des wahrhaft menschlichen Willens. Die ausschließliche Arbeit der deutschen Literaten bestand darin, die neuen französischen Ideen mit ihrem alten philosophischen Gewissen in Einklang zu setzen oder vielmehr von ihrem philosophischen Standpunkt aus die französischen Ideen sich anzueignen." 50 An dieser Einschätzung hat Engels auch später festgehalten. Noch 1886 spricht er in „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie" vom „ohnmächtigen Kantschen .kategorischen Imperativ'" und von der „Philisterschwärmerei für unrealisierbare Ideale". 51 Jedoch ist auch bemerkenswert, daß Engels hier Fcuerbachs materialistische und Kants idealistische Moraltheorie miteinander vergleicht und beide als der wirklichen Welt gegenüber ohnmächtige Formen bürgerlicher Theorie wertet. „Nach der Feuerbachschen Moraltheorie", schreibt er, „ist die Fondsbörse der höchste Tempel der Sittlichkeit - vorausgesetzt nur, daß man stets richtig spekuliert. Wenn mein Glückseligkeitstrieb mich auf die Börse führt und ich dort die Folgen meiner Handlungen so richtig erwäge, daß sie mir nur Annehmlichkeit und keinen Nachteil bringen, d. h. daß ich stets gewinne, so ist Feuerbachs Vorschrift e r f ü l l t . . . Auch die Liebe herrscht an der Börse, insoweit sie nicht bloß sentimentale Phrase ist, denn jeder findet im andern die Befriedigung seines Glückseligkeitstriebs, und das ist ja, was die Liebe leisten soll und worin sie praktisch sich b e t ä t i g t . . . Mit andern Worten, Feuerbachs Moral ist auf die heutige kapitalistische Gesellschaft zugeschnitten, so wenig er selbst das wollen oder ahnen m a g . . . Kurz und gut. Es geht der Feuerbachschen Moraltheorie wie allen ihren Vorgängerinnen. Sie ist auf alle Zeiten, alle Völker, alle Zustände zugeschnitten, und eben deswegen ist sie nie und nirgends anwendbar und bleibt der wirklichen Welt gegenüber ebenso ohnmächtig wie Kants kategorischer Imperat i v . . . Feuerbach (kann) aus dem ihm selbst tödlich verhaßten Reich der Abstraktion den Weg nicht finden... zur lebendigen Wirklichkeit. Er klammert sich gewaltsam an die Natur und den Menschen, aber Natur und Mensch bleiben bei ihm bloß Worte. Weder von der wirklichen Natur noch von den wirklichen Menschen weiß er uns etwas Bestimmtes zu sagen. Vom Feuerbachschen abstrakten Menschen kommt man nur zu den wirklichen lebendigen Menschen, wenn man sie in der Geschichte handelnd betrachtet." 02 Als Ergebnis kann somit abschließend festgehalten werden: Nach Marx und Engels fand der unterschiedliche Entwicklungsstand der bürgerlichen Emanzipation in Frankreich und Deutschland in den materialistischen und idealistischen Theorien seinen unterschiedlichen theoretischen Ausdruck. Dabei waren sich Marx 50

M E W , Bd. 4, S. 4 8 5 f.

51

M E W , Bd. 2 1 , S. 2 8 1

52

M E W , Bd. 2 1 , S. 2 8 8 - 2 9 0

246

W . Schröder

und Engels durchaus dessen bewußt, daß die bürgerlichen Emanzipationsbewegungen in den einzelnen Ländern nicht unabhängig voneinander verliefen und z. B. auch die Herausbildung eines bürgerlichen Weltbildes in Deutschland durch die Französische Revolution 53 und die englische und französische Aufklärung des 18. Jahrhunderts mitbestimmt wurde. Offensichtlich waren sie jedoch weder der Auffassung, daß sich dadurch unmittelbar das Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Adel in Deutschland entscheidend verändert hat, noch, daß dadurch die ideologisch-philosophische Entwicklung in Deutschland im europäischen Maßstab eine Spitzenstellung erlangte. W i e Marx und Engels wiederholt hervorheben, nahm die deutsche Bourgeoisie erst um 1840 - wie die französische vor 1789 - den politischen Kampf gegen den feudalen Absolutismus auf 04 , und da damit die „Misere des deutschen Status quo" ihr Ende fand, bezeichnen sie dieses Jahr als „einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte" 55 . Unter dem gleichen Aspekt schreibt Engels im Jahre 1888: „Wie in Frankreich im achtzehnten Jahrhundert, so leitete auch in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert die philosophische Revolution den politischen Zusammenbruch ein. Aber wie verschieden sahen beide aus!" 5 6 Es ist daher gewiß auch durchaus kein Zufall, daß Marx und Engels, obwohl sie die Bedeutung der klassischen deutschen Philosophie nicht gering einschätzten, schon in der „Deutschen Ideologie" gegen Bestrebungen Stellung genommen haben, die darauf gerichtet waren, „in der Weltherrschaft der Theorie die Weltherrschaft Deutschlands" zu proklamieren. 57 Wenn man darüber hinaus bedenkt, daß sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Frankreich der utopische Sozialismus und Kommunismus herausbildete 58 und daß in dieser Zeit auch englische bürgerliche Ökonomen und die französischen bürgerlichen Historiker die Existenz von Klassen und ihren Kampf untereinander erkannten, dann wird noch deutlicher, daß es nicht begründet ist, davon zu sprechen, die klassische deutsche Philosophie stelle in der Entwicklung der bürgerlichen Philosophie einen Höhepunkt dar. Richtiger scheint es vielmehr, in ihr - neben der englischen und französischen bürgerlichen Emanzipationsphilosophie - die deutsche Form der bürgerlichen Emanzipationsphilosophie zu sehen und anzuerkennen, daß sie als eine solche einen spezifischen Beitrag zur Herausbildung des bürgerlichen Weltbildes im nationalen und internationalen Rahmen geleistet hat. 53

M E W , Bd. 2, S. 5 6 7 f.

54

M E W , Bd. 8, S. 1 7

55

M E W , Bd. 8, S. 1 4 und 2 4 9

50

M E W , Bd. 2 1 , S. 2 6 5 . Lenin hat gezeigt, daß diese Verschiedenheiten historisch gesehen die zwei W e g e der bürgerlichen Emanzipation beinhalten, den „französischen Weg" der Revolution von unten und den „preußisch-deutschen Weg" der Revolution von oben. (Lenin, Briefe II ( 1 9 0 5 - 1 9 1 0 ) , Berlin 1 9 6 7 , S. 2 2 2 f. und S. 225)

57

M E W , Bd. 3, S. 4 1

68

In diesem Zusammenhang ist die viel zu wenig beachtete Bemerkung von Engels aufschlußreich, daß „Hegel - neben Saint-Simon - der universellste Kopf seiner Zeit war" ( M E W , Bd. 20, S. 23, auch 20, S. 3 1 6 und 25, S. 6 1 9 ) .

Helvétius und Kant - Zur Ethik der bürgerlichen Emanzipationsphilosophie

247

Auch in diesem Fall bietet „die Analyse der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse . . . die Möglichkeit, die Wiederholung und Regelmäßigkeit festzustellen und die Zustände in den verschiedenen Ländern verallgemeinernd zu dem Grundbegriff der Gesellschaftsformation zusammenzufassen". Wie Lenin weiter betont, bietet „erst diese Verallgemeinerung... dann die Möglichkeit, von der Beschreibung der gesellschaftlichen Erscheinungen (und ihrer Beurteilung vom Standpunkt des Ideals) zu ihrer streng wissenschaftlichen Analyse überzugehen, die beispielsweise das hervorhebt, was das eine kapitalistische Land von einem anderen unterscheidet, und das untersucht, was ihnen allen gemeinsam ist"09. Dies sollte weder bei einer Analyse der Kantschen Philosophie im besonderen und der klassischen deutschen Philosophie im allgemeinen unberücksichtigt bleiben noch bei einer Bestimmung der ideologischen Voraussetzungen für die Herausbildung des wissenschaftlichen Sozialismus und des qualitativen Unterschieds zwischen beiden, das heißt des von Marx, Engels und Lenin vollzogenen radikalen Bruchs mit den überlieferten Ideen. 60 59 60

Lenin, Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 131 MEW, Bd. 4, S. 481. Dazu auch der Hinweis von Lenin: „Rückständige oder in ihrer Entwicklung zurückgebliebene ökonomische Verhältnisse führen stets dazu, daß Anhänger der Arbeiterbewegung auftauchen, die sich lediglich einzelne Teile der neuen Weltanschauung oder einzelne Losungen und Forderungen zu eigen machen, ohne imstande zu sein, mit allen Traditionen der bürgerlichen Weltanschauung im allgemeinen und der bürgerlich-demokratischen im besonderen entschieden zu brechen" (Lenin, Werke, Bd. 16, Berlin 1962, S. 354. Dazu auch Bd. 31, S. 387). Es versteht sich, daß bei Marx, Engels und Lenin die Forderung nach dem entschiedenen Bruch mit den überlieferten Ideen nichts mit einem Traditionsnihilismus gemein hat. Hier geht es um den Bruch mit der Theorie, Methode und Ideologie. D a ß man die Entwicklung vom Materialismus der französischen Aufklärung zum historischen und dialektischen Materialismus auch nicht im Sinne des Hegeischen Schemas: Affirmation - Negation - Negation der Negation interpretieren kann, hat Lenin gleichfalls ausdrücklich in seiner Auseinandersetzung mit den Volksfreunden betont, die dem „Marxismus Hegeische Dialektik" vorwarfen (Lenin, Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 156-179). Derartige Versuche sind zwangsläufig idealistisch und eklektisch.

Zbigniew Kuderowicz

(Krakau)

Kants Rolle in der Entwicklung der philosophischen Anthropologie In Kants Auffassung des Menschen spielt die moralische Verantwortung eine wichtige Rolle. Er stellte die Frage nach dem Menschen als einem Subjekt der Freiheit sowohl wie als einem Teil der Natur. Das ist auch das Problem des Verhältnisses zwischen Natur und Kultur, zwischen natürlichen Bedürfnissen und sittlicher Pflicht, zwischen Sein und Sollen. Kant machte das Individuum für die Wahl der Maxime seines Handelns moralisch verantwortlich, und er lenkte daher seine Aufmerksamkeit auf das moralische Bewußtsein und das Gewissen des Individuums; im Gewissen äußere sich das moralische Gesetz, das jedoch aufgedeckt und dem Menschen bewußtgemacht werden muß. Fichte versuchte, den Kantischen Dualismus durch seine Tatlehre zu überwinden. Er sah als Bedingung für moralisches Handeln das Bezwingen partikulärer Neigungen an. war sich aber dessen bewußt, daß die moralische Verantwortung nicht nur von innerlichen Veränderungen in der Haltung des Individuums allein abhängt. In Fichtes Philosophie bildete sich die feste Überzeugung heraus, daß diese Frage nur dann gelöst werden könne, wenn man die Wechselwirkung zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Welt (in Fichtes Sprache: dem Nicht-Ich) berücksichtige. In seiner Konzeption schuf Fichte eine neue Grundlage für die menschliche Tätigkeit, indem er sie als Handlung des allgemeinen menschlichen Bewußtseins darstellte, welche der Außenwelt Sinn und Bedeutung gibt. In dieser Weise kann man Fichtes These: „Ich setze das Nicht-Ich", erklären. Fichte erkannte die Rolle, welche die Außenwelt für die Freiheit des Individuums spielt, und daher suchte er die Beantwortung der Frage nach den Möglichkeiten der moralischen Verantwortung nicht nur im Charakter des Individuums allein, sondern auch in seinem Verhältnis zur Außenwelt. In dieser Richtung verliefen auch Hegels Gedanken. Fichte bereitete den Weg für die Hegeische Auffassung des Menschen. Hegel hat über Fichtes Standpunkt geschrieben: „Nur aber erscheint das Ich hier nicht wahrhaft als freie, spontane Tätigkeit, da dasselbe als erst durch einen Anstoß von außen erregt betrachtet wird." 1 Die Fichtesche Konzeption war für Hegel

1

G . W. F. Hegel, Sämtliche Werke, Stuttgart 1956, Bd. 8, S. 162

Kant und die Entwicklung der phil. Anthropologie

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ein Beweis dafür, daß Fichte nicht imstande war, die Tätigkeit des Individuums als Tätigkeit eines freien Wesens darzustellen. Nach Hegels Ansicht kann das Verhältnis zwischen Mensch und Außenwelt nicht auf der Bestimmung von Sinn und Bedeutung der Außenwelt beruhen. Seinen philosophischen Vorgängern stellte Hegel die Konzeption der ontologischen Identität von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein gegenüber. Die Freiheit war für Hegel unlösbar mit dem Denken verbunden, weil das Denken eine allgemeine menschliche Eigenschaft sei, welche sie von den Tieren unterscheidet. Nur dem Denken verdanke es der Mensch, daß er „bei sich sein" kann, daß er von sich selbst abhängig, für sich selbst verantwortlich sein kann. In der Hegeischen „Logik" können wir lesen: „In dem Denken liegt unmittelbar die Freiheit, weil es die Tätigkeit des Allgemeinen, ein hiermit abstraktes Sichaufsichbeziehen, ein nach der Subjektivität bestimmungsloses Bei-sich-sein, das nach dem Inhalte zugleich nur in der Sache und deren Bestimmungen ist."2 Hegel sprach vom Ich als einem Zustand, in dem die Tätigkeit des einzelnen den Interessen der Allgemeinheit entspricht. Für Fichte ist das Ich freies, unabhängiges Subjekt, welches dem moralischen Gesetz entsprechend handelt. Hegel hat diesen Begriff des Ichs reicher gemacht, indem er das Ich mit dem Denken identifizierte. Er sagte direkt: „Ich und Denken sind dasselbe, oder bestimmter: Ich ist das Denken als Denkendes." 3 Seiner Ansicht nach konnte der Mensch nur als denkendes und vernünftig tätiges Subjekt für sich selbst verantwortlich sein. Für Hegel war die Fichtesche Philosophie keine Überwindung des Dualismus zwischen Natur und Moral. Darum versuchte er den kantischen Dualismus wenn nicht zu bezwingen, so doch aufzuheben. Für Hegel war Kants Auffassung des Menschen ein Aspekt des geschichtlichen Prozesses, eine Etappe der Menschheitsentwicklung. Die Hegeische Konzeption vom geschichtlichen Widerspruch hat bei Kant ihre Quelle. Ich möchte daran erinnern, daß die Kantische Geschichtsphilosophie vom Fortschritt durch das Böse gesprochen hat. Die Geschichtsphilosophie der Aufklärung (z. B. Condorcets Fortschrittskonzeption) hatte die Auffassung vom Fortschritt gegen das Böse. Für Kant ist der Fortschritt möglich nicht gegen, sondern durch das Böse. Kant hat geschrieben: „Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hierzu liegt die Anlage olfenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften; weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwicklung seiner Natur2

Ebenda, S. 8 2

3

Ebenda, S. 8 5

250

Z. Kuderowicz

anlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzelnen (isolieren)." 4 Kant betrachtete das moralisch Böse nicht als geschichtliche Erscheinung. Für ihn war das moralisch „radikal Böse" eine ewige Eigenschaft des Menschen. Die Ursachen des moralisch Bösen lagen für Kant außerhalb der Geschichte, und er war davon überzeugt, daß das moralisch Böse, besonders die Gegensätze im Individuum und die Gegensätze zwischen den Individuen und der Gesellschaft, eine Rolle innerhalb der Kräfte des Fortschritts spielen. Das ist Kants Realismus. Er stellte die Frage nach der Funktion des Bösen in der Geschichte, das heißt nach der Funktion des Antagonismus in der Geschichte. Das ist die Quelle der Hegeischen Geschichtsdialektik, obwohl Hegel diese Probleme anders dargestellt hat. Bei Hegel gibt es den Begriff von der Aufhebung der Gegensätze, und er nannte viele historische Formen dieser Gegensätze. Über die Hegeische Geschichtsphilosophie hat der Weg zum historischen Materialismus geführt. Am Anfang dieses Weges stand Kants Philosophie, besonders die dualistische Auffassung des Menschen und die Konzeption von der Rolle des Bösen im geschichtlichen Fortschritt. I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Vierter Satz

Hans Jörg Sandkühler

(Bremen)

Revolutionärer Materialismus als Erkenntnistheorie Die lebendige und konsequente Anwendung der materialistischen Dialektik auf alle Bereiche der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens ist nicht zuletzt abhängig von der Perspektive, in welcher der jeweils besondere sozialhistorische Charakter dieses Lebens berücksichtigt und bestimmt wird. Jeder Versuch, die philosophische Wissenschaft abstrakt auf das gesellschaftliche Leben anzuwenden, verstößt gegen die konkrete Dialektik und gegen den theoretischen wie praktischen Materialismus. Jeder dieser Versuche scheitert. Bereits vom ungeschichtlichen, vermeintlich „wertneutralen" Ansatz her scheitern alle noch so „marxistisch" aufgeputzten bürgerlichen Erkenntnistheorien, die paradoxerweise eine Antwort auf sinnlose Fragen erwarten: Fragen nach dem Wesen der Erkenntnis, Fragen nach dem Verhältnis der Erkenntnis zu der Praxis sind sinnlos, solange sie Verallgemeinerungen vor der konkreten sozialhistorischen und historisch-logischen Erkenntnisanalyse voraussetzen. Der marxistische, in einem kapitalistischen Staat arbeitende Erkenntnistheoretiker ist als Wissenschaftler gesellschaftlich tätig. Er ist deshalb veranlaßt, nach den besonderen Bedürfnissen zu forschen, die gnoseologische Lösungen bedingen. Seine Ergebnisse hängen in hohem Maße davon ab, ob er die gesellschaftliche Funktion seiner wissenschaftlichen Tätigkeit konkret auf den Rahmen bezieht, der mit dem ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Widerspruchssystem des staatsmonopolistischen Kapitalismus vorgegeben ist. Sein konkreter Bezug ist nicht die (fiktive) Homogenität der kapitalistischen Produktionsweise, ist nicht die (fiktiv) in sich abgeschlossene herrschende Bourgeoisie; er geht aus vom Entwicklungsstand des YLapitalverhältnisses, des Widerspruchs von Lohnarbeit und Kapital, von Bourgeoisie und Arbeiterklasse als gegenwärtig wechselseitigem Bedingungsverhältnis und darüber hinaus - dies ist wichtig - von der Entwicklungsspezifik des Systemwiderspruchs von Sozialismus und Kapitalismus. Jede erkenntnistheoretische Allgemeinaussage über das Wesen der Erkenntnis und ihr Verhältnis zu den bewußtseinsvorgängigen und gesellschaftlich-praktischen Erkenntnisdeterminanten muß aus diesen wesentlichen Verhältnisbestimmungen gewonnen werden. Als Resultat wird sie sinnvoll. Ausgangslage der Allgemein- und Gesetzesaussage sind die konkreten sozialhistorischen Verhältnisse, die noch wirkende materielle soziale Herkunft der Gegenwart und die historisch-logischen Determinanten, die sich aus der Zerstörung, der Aufhebung oder dem ungebrochenen

252

H. J. Sandkühler

Fortwirken dieser Herkunftswelt ideologisch ergeben. Dies gilt zugleich für den Erkenntnistheoretiker als Philosophiehistoriker. Theoretisch und methodologisch sind von höchster Bedeutung zwei einander* bedingende Perspektiven: erstens die der Bestimmung des Charkters der jeweiligen gesellschaftlichen Epoche, die seinen eigenen wissenschaftlichen Tätigkeitsboden abgibt, und zweitens die der Bestimmung des Charakters der jeweiligen gesellschaftlichen Epoche, die als sozialökonomische und ideologische Voraussetzung vergangener Theorien erkannt werden soll. 1 Zu dieser Vergangenheit verhält sich der Historiker erst dann nicht mehr als bloßer Archivar, wenn er sie vom Brennpunkt der Wirklichkeit parteilich-objektiv erforscht; dies bedeutet: unter dem Gesichtspunkt der objektiven Erkennbarkeit einer gesetzmäßigen Geschichte, in der das heute verfügbare Wissen gesellschaftlich akkumulierte. Der folgende Beitrag nimmt das Kant-Jubiläum zum Anlaß einiger Überlegungen a) zur philosophiegeschichtlichen Rezeptionslage hinsichtlich der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie, speziell zur Frage Idealismus und Materialismus, und b) zu einigen gegenwärtigen Erscheinungen in der Erkenntnistheorie. Als Beitrag aus der BRD thematisiert er bewußt den revolutionären Materialismus. Dies hat eine Voraussetzung und eine Folgerung. Voraussetzung ist, daß der wissenschaftliche Sozialismus in der BRD noch nicht die für das Alltagsbewußtsein selbst der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten wissenschaftlich-technischen Intelligenz gültige Erkenntnisgrundlage ist und deshalb das historische Bewußtsein des Bürgers der BRD noch keinen verbindlichen angemessenen Zugang zum Erbe, zur Genesis geltender (oder um ihre Geltung gebrachter, materialistischer, revolutionärer) Erkenntniswirklichkeit hat. Die Folgerung muß sein, daß sich die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie und -historie in der BRD zuallererst dem Materialismus verpflichtet; nur materialistisch kann sie die Geschichte der revolutionären bürgerlichen deutschen Ideologie und Philosophie als Geschichte auch des Materialismus neu schreiben. Zu schreiben ist an der Geschichte der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie, die - obwohl Quelle des wissenschaftlichen Sozialismus - in der BRD nach wie vor als Geistesgescbichte des „deutschen Idealismus" verbogen wird. Warum? Die Antwort beinhaltet zugleich die auf die Frage nach der Notwendigkeit des Materialismus als vorrangiger Leitlinie. Im Gegensatz zu seinem wahren Inhalt wird der „deutsche Idealismus" einseitig gegen die exakten Naturwissenschaften ausgespielt; er muß herhalten als Beispiel einer Weltanschauung, in deren Zentrum „freie" Subjektivität und „Autonomie" des bürgerlichen Menschen stehen und in welcher kein Platz bleibt für - Notwendigkeit, Gesetzmäßigkeit, Materialismus, Revolution. Der heutige bürgerliche Ideologe kämpft gegen den Anspruch des revolutionären Idealismus, die Geschichte bewußt, planmäßig und aus Einsicht 1

Vgl. F. Richter / V. Wrona, Theoretische Grundfragen der Geschichte der marxistischleninistischen Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (DZfPh), 1 9 S. 3 5 2

(1971),

Revolutionärer Materialismus als Erkenntnistheorie

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in ihre Gesetzmäßigkeit zu machen; „Machen der Geschichte" kann für den Ideologen der Bourgeoisie nur noch in der revolutionären Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft bestehen; deshalb konserviert er das historische Fortschrittsdenken des Idealismus als philosophischer Antiquar von praktisch nutzlosen Raritäten. Bürgerlicher Konservatismus und bürgerliche Restauration leben aus der Weigerung, soziale Prozesse wissenschaftlich als gesetzmäßige, objektiv notwendige Veränderungsbewegungen anzuerkennen. Damit steht für die ideologische Auseinandersetzung zweierlei fest: erstens ist der eindeutige Antipode des inzwischen längst irrationalistischen Idealismus - der Materialismus der Dialektik - wichtigstes Kampfmittel; und zweitens darf die Bourgeoisie nicht unwidersprochen die Geschichte der Philosophie in Deutschland usurpieren. Noch einmal: mit aller Strenge und ohne Ausweichen vor den schwerwiegenden praktischen und theoretischen Folgelasten - darunter dem schier unlösbar scheinenden Problem für jeden einzelnen Menschen: meine Existenz der materiellen Einheit der Welt untergeordnet zu begreifen - ist der Materialismus als Hauptinstrument der Theorie wie der ideologischen Auseinandersetzung anzuerkennen - und anzuwenden. Materialismus

heißt:

- die philosophisch-weltanschauliche wissenschaftliche Beantwortung der Grundfrage nach dem dialektisch-ontologischen Verhältnis von Sein und Bewußtsein und nach dem historisch-ontologischen von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein, von materiell-praktischer Arbeit und Erkenntnis; Beantwortung mit dem Satz, daß nicht das Bewußtsein die Welt der Menschen geschaffen hat, sondern das materielle Sein in Natur und Gesellschaft die Basis aller Bewußtseinsleistungen ist, die in den Fortschritt im Stoffwechsel mit der technologisch veränderten Natur schöpferisch nach Gesetzmäßigkeiten eingehen; - die wissenschaftliche Begründung der Geschichtlichkeit und Objektivität der Erkenntnis auf der Basis der materiell notwendigen gesetzmäßigen Erkennbarkeit der Welt; die wissenschaftliche und weltanschauliche bewußte Aneignung der Prozesse zwischen einzelnen Qualitäten der Materie bis hin zur höchsten materiellen Organisationsform: Bewußtsein; - als objektive Prozeßtheorie und als Theorie der Objektivität und Erkennbarkeit und Planbarkeit der Geschichte und als Anleitung zur Veränderung: die Weltanschauung der revolutionären Massen und des Subjekts unserer Epoche; der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten und ihrer Partei. In dieser Perspektive wirkt der Materialismus als Begründung der Einheit von Ontologie, Erkenntnistheorie und Logik und so als wesentliches Mittel des ideologischen Klassenkampfs. Er ist die Perspektive der „Geschichte", in welcher sich diese Einheit theoretisch herausgearbeitet hat. Von ihm ausgehend stellt sich mit aller Schärfe die Aufgabe der Kritik nicht allein am erkenntnistheoretischen Positivismus, Neo-Rationalismus, Idealismus und Irrationalismus, sondern auch an vermeintlich „marxistischen", in Wirklichkeit revisionistischen bürgerlichen Gnoseologien, die hinter dem Schein

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H. J. Sandkühler

der Fortschrittlichkeit den Marxismus hintertreiben; sie sind allesamt antimaterialistisch in der Form der Anti-Ontologie. Die kritische Frage an tatsächlich materialistische Erkenntnistheorien in der B R D und in Westberlin, in der D D R und in anderen sozialistischen Ländern — sie wird am Schluß aufgeworfen - hat dementsprechend jeweils eine völlig andere Qualität; gefragt wird, um zu lernen und um solidarisch zu warnen vor einer Verallgemeinerung erkenntnistheoretischer Problemlösungen, die verschiedenen Gesellschaftsformationen entstammen.

I. Zur Geschichte des revolutionären M a t e r i a l i s m u s in der Erkenntnistheorie Gegen die scheinbar „objektive Geschichtsschreibung" bürgerlicher Ideologen und gegen die Trennung von „Geschichte" und Praxis 2 forderte Marx, man müsse „die wirkliche, profane Geschichte der M e n s c h e n . . . erforschen, diese Menschen darstellen, wie sie in einem Verfasser und Schausteller ihres eigenen Dramas waren" 3 . Die „wirklichen Voraussetzungen", von denen die „Deutsche Ideologie" spricht'', sind für die Epoche der Ausbildung und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und für die sie widerspiegelnde bürgerlich-revolutionäre Philosophie bekannt. Bekannt ist nicht nur, d a ß und warum die Menschen ihre Geschichte selbst machen und schreiben; bekannt ist, welche Bedingungen und Verhältnisse einer objektiv humanen Geschichtsproduktion und einer objektiv wahren Geschichtsschreibung 5 Grenzen gesetzt haben. Diese Grenzen ergeben sich aus der am Beginn des 19. Jahrhunderts politisch noch nicht gebrochenen feudalen Gesellschaftsstruktur, aus dem Charakter der kapitalistischen, in England und Frankreich bereits weitgehend herrschenden ökonomischen Produktionsweise, aus der ökonomischen, sozialen und politischen Rückständigkeit deutscher Verhältnisse, aus dem W i d e r spruch der bürgerlichen Klasse gegenüber dem A d e l und gegenüber vorproletarischen Volksbewegungen und aus dem Klassencharakter der bürgerlichen Revolution in Frankreich, in welcher nicht-bourgeoise Massen, ohne sich durchsetzen zu können, über die klassenspezifisch bürgerlichen Reproduktionsinteressen hinaus neue gesellschaftliche Prozesse ankündigen. Deshalb, nicht: dennoch, widerspiegelt sich das widersprüchliche Ensemble „bürgerliche Gesellschaft" theoretisch, und konkreter auch philosophisch, im widersprüchlichen Ensemble eines Ideologiesystems, das bei allseitiger Analyse als objektive Reproduktion der Klassenbeziehungen erkannt werden kann. Widersprüchlich ist nicht allein die Verschränkung von mechanischer Naturwissenschaft und 2

K . Marx / F. Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1 9 5 8 , S. 4 0 (im folgenden: M E W )

3

M E W , Bd. 4, S. 1 3 5 (Hervorh. - Verf.) M E W , Bd. 3, S. 2 0

0

„Geschichtsschreibung" hier: allgemein theoretische Widerspiegelungen der Realgeschichte.

Revolutionärer Materialismus als Erkenntnistheorie

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dialektischer Naturspekulation; widersprüchlich ist die Vermittlung von ideologisch dominantem Idealismus und unsystematisiertem Materialismus - auch in der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie. Sie teilt als Element der bürgerlichgesellschaftlichen revolutionären europäischen Theorieentwicklung die Ambivalenz, den notwendigen Doppelcharakter der bürgerlichen ideologischen Reproduktionsweise. Die Geschichte der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie wird heute im Kapitalismus symptomatisch verzerrt wiederholt: angesichts der neuen geschichtlichen Subjekt- und Erkenntnisqualität „Arbeiterklasse/Sozialismus" reproduziert die fortschrittsfeindliche bürgerliche Ideologie die im damaligen Kapitalverhältnis fortschrittliche bürgerliche Theorie in eben der kaptalistisch - damals wie heute - notwendigen Erscheinungsweise des „reinen Idealismus". Diese Erscheinungsform trügt. Die Fiktion des „reinen Idealismus" ist die gesellschaftlich notwendige ideologische Entsprechung des „reinen Kapitalismus", dessen Klassenbeziehungen nur um den Preis seiner praktischen Negation aufgedeckt werden können. Für den historischen Materialisten ist es alles andere als überraschend, inmitten der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer idealistischen - vor allem: juristischen Weltanschauung den manifesten Widerspruch - den Materialismus - zu entdecken. Zweifellos war der Idealismus der unumgängliche Ausdruck des revolutionären Subjektanspruchs des Bourgeois vis ä vis der feudalen Gesellschaft. Der Idealismus ist einmal der Ausdruck des realen revolutionären Klassensubjekts, das die Revolution in der Theorie vorbereitet weiß; zum anderen drückt er angemessen die reale Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit aus. Aber-, das objektive Interesse der Bourgeoisie, ihre Herrschaft sozialökonomisch und politisch anzutreten und zu sichern, zwang zu kategorialen Begründungen der Objektivität und Notwendigkeit der Veränderung in der Gesellschaftsstruktur. Kategorien der Objektivität, Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit konnte der Idealismus nicht aus sich selbst, sondern nur durch die Anerkennung einiger wesentlicher materialistischer Prinzipien gewinnen. Der Idealismus verdeckt den revolutionären partikulären Klasseninhalt, der Materialismus sichert ihn deterministisch ab. Es wäre falsch, diese Funktion materialistischer Elemente im Idealismus als „apologetisch" in Mißkredit zu bringen. Er war revolutionär wie der Idealismus, der seiner bedurfte. Die Revolution in den Wissenschaften, auch in der Philosophie, stimmt njit der technologischen Revolution überein; es wäre sozialromantisch, die historische Rolle der Arbeitsteilung und der damit verbundenen Dominanz von Theorie und Wissenschaft (nicht nur der Naturwissenschaften) dadurch zu verkennen, daß man den Idealismus als reine „Spekulation des abstrakten Kopfes" kritisierte. Man muß den Idealismus des Satzes „Wissen ist Macht" als materiell notwendig und angemessen verstehen. „Reiner" Idealismus hätte den Reproduktionsnotwendigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft widersprochen; nicht minder ein „reiner" Materialismus auf dem Niveau der Mechanik. So ist es kein Zufall, daß die Theorien zum Beispiel Kants und des frühen Schelling materialistische Momente aufweisen, frei-

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H. J. Sandkühler

lieh in symptomatischer Prägung: in einem transzendentalen Erkenntnismaterialistnus. Und es ist kein Zufall, daß die Philosophie des jakobinischen, tendenziell sansculottischen Revolutionärs - Georg Forsters - diese Schranke überwindet und den Materialismus auf geschichtlich-gesellschaftliche Prozesse anzuwenden versucht. Kant und Schelling denken - subjektiv wider Willen - wie Forster, er bewußter, über die Grenzen der Bourgeoisie als Klasse hinaus und werden zu Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Widerspruchsbeziehungen. Die neuen Produktivkräfte - darunter Erkenntis, Theorie und Wissenschaft mit zunehmender Bedeutung - drücken sich ideologisch aus gegenüber fortvegetierenden Produktionsverhältnissen, die zu überwinden ökonomische und politisch-rechtliche Kategorien begründend eingreifen. W i e jede Ideologie widerspiegelt auch die klassische bürgerliche deutsche Philosophie nicht den insulären Status allein einer Klasse, sondern die Totalität der widersprüchlichen Beziehungen zwischen: ancien régime, Bourgeoisie und kapitalistisch seit der ursprünglichen Akkumulation erzeugtem Pöbel im Übergang zum Proletariat. Bei der Analyse ist also immer zu fragen, welche Seite dieser Widerspruchsbeziehung ideologisch vorherrschend wird. Das Profil des ...Idealismus" der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie ist solange konturenlos nachgezeichnet, wie nicht deren notwendiges materialistisches Korrelat aufgedeckt wird. Der Sieg des Idealismus über den mechanischen Materialismus und die Metaphysik der Schulphilosophie bediente sich auch materialistsicher Waffen. Der neue versteckte oder gar offene Materialismus qualifiziert erst den Idealismus um 1800 zu dem, was er ist: bürgerliche Ideologie, in der sich die bürgerliche Gesellschaft der Widersprüche ihrer Freisetzung nicht nur (wenn auch oft falsch) bewußt wird, sondern in der sie ihre Widersprüche theoretisch mit praktischen Folgen auch ausficht. Der im Idealismus notwendig gewordene Materialismus ist revolutionär. Diese These zur klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie ist nicht interessiert an einer neuen Sichtweise eines alten Problems. Sie ist begründbar und notwendig für die Qualifikation des historischen Bewußtseins in der Übergangsepoche des Kapitalismus. Sie nennt das beerbbare Erbe beim Namen. Lenins HegelLektüre ist das verpflichtende Beispiel. Daß Lenin Hegel, nicht aber Kant und Schelling, materialistisch studierte, ist kein Versehen. Hegel hebt die Kantische und Schellingsche Theorie auf ein qualitativ höheres Niveau. Die dialektische Rekonstruktion der Genesis des wissenschaftlichen Sozialismus hat, soweit die deutsche Philosophie Thema ist, bei Hegel anzusetzen - aber nicht bei Hegel stehen zu bleiben, denn er hat das Erbe seiner Zeit auch nur in den ideologischen Grenzen seiner Zeit angetreten. Deutsche Jakobiner, Materialisten und Präsozialisten wie Georg Forster und Johann Benjamin Erhard und Carl Wilhelm Frölich kannte er nicht. Was L. Feuerbach über frühere Materialisten notierte, gilt verstärkt für den impliziten Materialismus der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie: „Der deutsche Materialist ist also kein Bankert, keine Frucht der Buhlschaft deutscher Wissenschaft mit ausländischem Geiste, er ist ein ächter Deutscher, der bereits im

Revolutionärer Materialismus als Erkenntnistheorie

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Zeitalter der Reformation das Licht der W e l t erblickte." 6 Mit gutem Recht stellt A. W . Gulyga dieses Zitat seinem verdienstvollen W e r k „Der deutsche Materialismus am Ausgang des 18. Jahrhunderts" voran. Gulyga schreibt: „Die Theorie von der einheitlichen, idealistischen Entwicklung der deutschen Philosophie befindet sich in direktem Gegensatz zu den Tatsachen." Berechtigt ist auch die selbstkritische Einschätzung der marxistischen Philosophiehistorie und ihrer zeitweiligen Einseitigkeit: „Die Einschätzung der deutschen Philosophie am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eine aristokratische Reaktion auf den französischen Materialismus schloß sogar die Möglichkeit aus, die Frage nach der Existenz materialistsicher Ideen in Deutschland zu stellen." 7 Um so wichtiger ist es, d a ß die marxistische Philosophiegeschichtsschreibung vor allem in der D D R und in der UdSSR das Problem erkannt und erste Schritte unternommen hat. Die bisher nur ganz selten 8 gesehene Parallelität von Idealismus und Materialismus wird heute zunehmend, wenn auch übervorsichtig, berücksichtigt. Dies entspricht dem Leninschen Kriterium der Allseitigkeit dialektischer Methode, welche „Objektivität der Betrachtung", „die ganze Totalität der mannigfachen Beziehungen" und „die Entwicklung dieses Dinges (resp. der Erscheinung), seine eigene Bewegung, sein eigenes Leben" zu beachten verlangt. 9 Und es entspricht der wirklichen historischen Rolle des Materialismus, der sich vom „abstrakten Materialismus", von M a r x als „abstrakter Spiritualismus der Materie" kritisiert 10 , zu einer Qualität heraufgearbeitet hat, die die Einschätzung der „Heiligen Familie" voll verdient: Ohne schon die Höhe des englischen und französischen Sozialismus und Kommunismus - des „auf praktischem G e b i e t e . . . mit dem Humanismus zusammenfallenden Materialismus"u - zu erreichen, stellt der im Idealismus der deutschen Dialektik notwendig gewordene Materialismus ein w i e immer beschränktes Stück dar, welches „die Lehre des Materialismus als die Lehre des realen Humanismus und als die logische Basis des Kommunismus"i2 zu würdigen erlaubt. Nimmt man dieses „logisch" ernst, dann ist kein Gegenbeleg darin zu finden, d a ß der Materialismus der deutschen Dialektik und Erkenntniskritik nicht explizit von den Klassikern des Marxismus-Leninismus rezipiert wurde. Dieser Materialismus gehört „logisch" zum Erbe des Proletariats, weil er - mit Lenin als „Fazit, Summe, Schlußfolgerung aus der Geschichte der Erkenntnis der W e l t " ein Element „der Entwicklung des gesamten konkreten Inhalts der Welt" 1 3 darstellt. 6

L. Feuerbach, Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die W i l lensfreiheit, in: Ludwig Feuerbachs sämmtliche Werke, Bd. 10, Leipzig 1 8 6 6 , S. 1 1 9

7

A . W . Gulyga, Der deutsche Materialismus am Ausgang des 1 8 . Jahrhunderts, Berlin 1 9 6 6 ,

8

Vgl. P. Reimann, in: Unter dem Banner des Marxismus, 3. Jg., H. 1, 1 9 2 9 , S. 53

S. 2 f. 9

W . I. Lenin, Werke, Bd. 38, Berlin 1 9 6 4 , S. 2 1 2 f. (im folgenden: L W )

10

M E W , Bd. 1, S. 2 9 3

11

M E W , Bd. 2, S. 1 3 2

12

Ebenda, S. 1 3 9

17

Buhr/Oiserman

13

L W , Bd. 38, S. 84 f.

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H. J. Sandkühler

Bei aller Kritik am Kantschen Erkenntnisskeptizismus hat Lenin die für Kant notwendige Konsequenz in „Materialismus und Empiriokritizismus" bereits gezogen: „Der Grundzug der Kantschen Philosophie ist die Aussöhnung des Materialismus mit dem Idealismus, ein Kompromiß zwischen beiden, eine Verknüpfung verschiedenartiger, einander widersprechender philosophischer Richtungen zu einem System." 14 Daß mit dieser Feststellung „widersprechender" Tendenzen kein Verdikt über Kant gefällt ist, versteht sich bei genauer Berücksichtigung des Widerspruchsbegriffs der Leninschen dialektischen Logik kommentarlos. Die marxistische Beschäftigung mit Kant ist legitim. So bedurfte es nicht des Anstoßes eines Kant-Jubiläums zu möglicherweise Verlegenheitswürdigungen. I. S. Narskis Aussage, Kant habe im „kosmologischen Streit zwischen Materialisten und Idealisten den ersteren Recht" gegeben 15 , M. Buhrs Beitrag „Kant und das Grundproblem der klassischen bürgerlichen Philosophie" 16 , die interessante, differenzierte - im Gegensatz zu bürgerlichen Mißdeutungen im besten Sinne komparatistische - Analyse der Kategorie „transzendental" bei Marx und Kant 17 wie etwa auch die Verweise auf „das spontan-materialistische methodische Herangehen Kants an die Fragen der Naturerkenntnis" in seinen Frühschriften 18 und auf die klaren Belege für die Richtigkeit der Leninschen Beurteilung im „Opus postumum" 19 - dies alles und vieles mehr 20 bezeugt im Detail, daß jede pauschale Verdammung des Denkers falsch und schädlich wäre, der die bürgerliche Revolution „in der Form des Gedankens" (Hegel) ausgesprochen und in dessen revolutionärer Naturanschauung „der Springpunkt alles ferneren Fortschritts" in den Naturwissenschaften lag (Engels). 21 Diese Verteidigung des marxistisch-leninistischen Kant-Bildes gegenüber der anachronistisch-idealistischen Kant-Restauration, die sich dennoch nicht einmal die Wiederkehr des Gleichen leisten kann und Kant neukantianisch karikiert, ist gut vorbereitet. Die „Problematik, die als Materialismusproblem der Entwicklungsgeschichte des klassischen bürgerlichen deutschen Denkens bezeichnet werden kann" und deren - wenn auch noch nicht letztlich konsequente - Erforschung eine „durchgehende partielle Materialismusrezeption" festhalten ließ 22 , wurde von M. Buhr M

L W , Bd. 14, S. 1 9 5

15

I. S. Narski, Kants Antinomien und die Logik der Erkenntnis, in: DZiPh, 2 2

(1974),

S. 3 3 8 16

In: D Z f P h , 2 2 ( 1 9 7 4 ) , S. 2 6 1 - 2 6 8

17

W . Lehrke / St. Dietzsch, „Transzendental" bei Karl Marx, in: Wiss. Ztschr. d. Karl-Marx-

a

M. Thom, Philosophie als Menschenkenntnis. Zur Entstehung und Wertung des philosophi-

19

W . Förster, Rez. von F. Kaulbach: Immanuel Kant, in: DZfPh, 2 2 ( 1 9 7 4 ) , S. 3 8 1 - 3 8 5

20

Vgl. die umfassende Kant-Bibl., darunter die Kant-Literatur der D D R , von B. und St.

21

M E W , Bd. 20, S. 3 1 6

22

M. Buht / G . Irrlitz, Der Anspruch der Vernunft. Teil I, Berlin 1 9 6 8 , S. 2 0 5 ; vgl. S. 247,

Univ. Leipzig, Ges.- u. sprachwiss. R„ 23 ( 1 9 7 4 ) , S. 1 9 1 - 1 9 8 schen Systems I. Kants, in: Wiss. Ztschr. (s. Anm. 1 7 ) , S. 1 3 4

Dietzsch, in: Anm. 16, a. a. O., S. 2 0 7 - 2 1 6

Anm. 2 4 6

Revolutionärer Materialismus als Erkenntnistheorie

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für Schelling, Herder, Hamann und Jakobi und von G. Stiehler vor allem für Hegel erörtert. Von diesen Anregungen und wichtigen Voraussetzungen ausgehend ist es erst möglich, die Perspektive auf den Materialismus im revolutionären Idealismus weiterzuentwickeln. G. Stiehler ist unbedingt zuzustimmen, wenn er mit Lenin23 resümiert, der dialektische Idealismus habe sich „im Endergebnis dem einzigen wirklich wissenschaftlichen, dem materialistischen Denken dienstbar gemacht"24. Dennoch bleiben für die Einzelanalysen, die zu diesem Urteil führen, einige Fragen noch offen. Nicht zweifelsfrei nachweisbar dürfte die Annahme sein, der im dialektischen Idealismus entwickelte Materialismus sei ausschließlich eine fortschrittliche Reaktion auf den französischen Materialismus oder ein neuer Anschluß an diesen. Hat dieser Idealismus, der in Namensänderungen wie Schellings „Realidealismus" oder „Ideal-Realismus" seine neue Qualität zu begreifen suchte, wirklich nur „in negativer Form den materialistischen Standpunkt vertieft. . . und damit den dialektischen Materialismus vorbereitet" 25 ? G. Stiehler hat für Hegel geltend gemacht, er habe in widerspruchsvoller Weise die „Erkenntnis der dialektischen Einheit von Materiellem und Ideellem, von Sein und Denken" antizipiert.26 Dies ist so unbestreitbar wie auch die begründete These, daß mit Hegel die mechanisch-materialistische „lineare Ursache-Wirkungs-Relation im Verhältnis von Materiellem und Ideellem" 27 zugunsten des - wenn auch idealistischen objektivistischen - Begriffs der Schöpferkraft des Bewußtseins (des revolutionären Bürgers) überwunden war. Gerade aber hinsichtlich des Materialismus im Idealismus ist Hegels objektiver ontologischer - und damit objektivistischer - Idealismus nicht repräsentativ. Die Rekonstruktion der Entwicklung des dialektischen Idealismus allein aus der Perspektive der Hegeischen Aufhebung der vorangegangenen Theorien führt zu Vereinseitigungen. Die Widersprüche und Aporien Kants, Fichtes und Schellings sind durch Hegel idealistisch aufgehoben, keineswegs aber vollständig gelöst. Die für Kant und den frühen Schelling feststellbaren Lösungsversuche des erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Problems wurden durch Hegel nicht weitergetrieben, sondern systematisch anders aufgegriffen. In keiner Philosophie des dialektischen Idealismus ist das Verhältnis der Kategorien „Natur" und „Erkenntnis", „Materie" und „Bewußtsein" so prinzipiell idealistisch bestimmt und damit vernachlässigt worden. Es ist unangemessen, unter dem Eindruck der Sjtfte/wgeschlossenheit der Hegeischen Philosophie die Systemunfähigkeit bei Kant und Schelling abzuwerten. Kants Skepsis gegenüber der Erkenntnis des Wesens der objektiven Außenwelt und des frühen Schellings erfolglose Versuche, die Parallelität und Dialektik von Materie und Bewußtsein zu erfassen, müssen als 23 24

25 26 27

17*

LW, Bd. 38, S. 265 f. G. Stiehler, Der Idealismus von Kant bis Hegel. Darstellung und Kritik, Berlin 1970, S. 385 Ebenda, S. 385 Ebenda, S. 370 Ebenda

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Schwierigkeiten der revolutionären bürgerlichen Ideologie gewertet werden, die nicht von Hegel, sondern erst von der materialistischen Dialektik überwunden worden sind. Die marxistische Widerspiegelungstheorie hat gegen Hegels Erklärung der Identität von Sein und Bewußtsein die dialektisch- und historisch-ontologische Nichtidentität von objektiver Welt und Abbild begründet. Zumindest das Problem dieser Nichtidentität war bei Kant offengehalten. Man kann, ohne die Bedeutung Hegels irgend in Frage zu stellen, nicht umhin, anzumerken, daß die marxistische Philosophiegeschichtsschreibung der Größe Hegels Vereinseitigungen zu verdanken hat. Hier ist nicht nur zu verweisen auf die hegelianische Alternativsetzung von deutscher Revolutionstheorie und französischer Revolutionspraxis, die dazu führte, erstens den französischen Materialismus als bloß mechanisches Objektivitätsdenken ohne Subjektivitäts-Dimension mißzuverstehen28 und zweitens den deutschen revolutionären Jakobinismus zu unterschätzen. Schwerwiegendere Folgen sind: die Verabsolutierung der VernunftKategorie und die Unterbewertung der Rolle des „Natur"-Ansatzes im dialektischen Idealismus. Dies ist zu begründen. Da ist zunächst Kants antiempiristische Frage nach der Möglichkeit apriorischer, erfahrungsungebundener Erkenntnis.29 Kein Irrationalismus begründet die Kritik am Satz, „alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten"30. Die „Kritik der reinen Vernunft" beugt solchem Mißverstehen vor: „Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen, ist also nicht einerlei. Zum Erkenntnisse gehören nämlich zwei Stücke: erstlich der Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird (die Kategorie), und zweitens die Anschauung, dadurch er gegeben wird; denn, könnte dem Begriffe eine korrespondierende Anschauung gar nicht gegeben werden, so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand, und durch ihn gar keine Erkenntnis von irgendeinem Dinge möglich; weil es, soviel ich wüßte, nichts gäbe, noch geben könnte, worauf mein Gedanke angewandt werden könne."31 Selbst bei einem Verzicht auf materialistische Aussagen im „Opus postumum"32 und bei klarer Berücksichtigung der engen Grenzen des Kantschen Erkenntnisbegriffs wird man sagen können: 1. geht Kant von dem wichtigen Problem aus, daß auch Naturerkenntnis Subjekterkennen, subjektive Bewußtseinstätigkeit voraussetzt; 2. schließt Kant für „reine Begriffe a priori" außer der „Funktion des Verstandes in der Kategorie" zusätzlich ein: „noch 28

Auf diesen Mangel verweist T. I. Oiserman, Probleme der Philosophie und der Philosophie-

29

Vgl. M. Thom, Zur Erkenntnistheorie I. Kants, in: DZfPh, Sonderheft 1 9 6 8 , S. 2 1 7 - 2 3 9

geschichte, Frankfurt/M. 1 9 7 2 , S. 2 7 4 30

Kritik der reinen Vernunft, B X V I

31

K r . d. r. V., B 1 4 6 ; Vgl. B 1 7 9

32

W . F ö r s t e r gibt den Hinweis a u f : Kant's Opus postumum, hrsg. v. A.Buchenau, 1. Hälfte, Berlin/Leipzig 1 9 3 6 , S. 1 6 4 ; und 2. Hälfte, Berlin/Leipzig 1 9 3 8 , S. 4 2 9 : „Zuerst muß eine allen Raum (der W e l t ) einnehmende (ob erfüllende oder nicht) Materie sein, um den Raum, der sonst nur die subjektive Form der Anschauung sein würde, zum Sinnengegenstande (also auch möglicher Wahrnehmung) zu machen."

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formale Bedingungen der Sinnlichkeit (namentlich des inneren Sinnes) a priori. . ., welche die allgemeine Bedingung enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgendeinen Gegenstand angewandt werden kann"33; 3. setzt Kant in der „transzendentalen Ästhetik" ausdrücklich ein Entsprechungsverhältnis von Sinnlichkeit und Gegenstand und einen „von der Sinnlichkeit unabhängigen Gegenstand"34 voraus; damit hat selbst das unerkennbare „Ding an sich" nicht allein die Funktion, „die objektive Gültigkeit der sinnlichen Erkenntnis einzuschränken"35, sondern definiert Kants Nähe zum Materialismus. „Hat unser Agnostiker", spitzt Engels diese Doppelfunktion zu36, „diese formellen Vorbehalte einmal gemacht, so spricht und handelt er ganz als der hartgesottene Materialist, der er im Grunde ist." Kant selbst hat - wie später Schelling - seine Theorie der Erkenntnis von jenem vulgären Idealismus abgehoben, der die Existenz einer bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit leugnet. 1783 legte er in den „Prolegomena" Wert auf die Feststellung: „Der Idealismus besteht in der Behauptung, daß es keine andere als denkende Wesen gebe, die übrige Dinge, die wir in der Anschauung wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der Tat kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand korrespondierte. Ich dagegen sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren . . . Kann man dies wohl Idealismus nennen? Es ist ja gerade das Gegenteil davon."37 Nicht die Frage nach den (transzendentalen) Bedingungen der Möglichkeit und der Notwendigkeit von Erkenntnissen, nicht die Unterscheidung von Wesen (Ding an sich) und Erscheinung und nicht die Hervorhebung der logischen Kalküle und Abstraktionen, die jeder empirischen Wahrnehmung vorausgehen und die Synthese des Konkret-Allgemeinen im Begriff erst ermöglichen - nicht diese Kantschen Theorieelemente bedingen seinen Idealismus. Im Gegenteil ist es erstaunlich, wie Kant unter den materiellen gesellschaftlichen („transzendentalen") Voraussetzungen der Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit und des Fetischismus der Warenwelt gerade diese objektiven Probleme entwickelt. Kants Philosophie der Erkenntnisbegründung widerspiegelt die reale und die gesellschaftlich-notwendig falsch unterstellte Rolle der Vernunft gegenüber der Wirklichkeit, die nur durch revolutionäre Veränderungen des feudalen Systems durch die Bourgeoisie beherrschbar ist; die Theorie der Grenzen der Erkenntnis schränkt gegenüber absolutem Idealismus und utopischem Rationalismus den Bereich falschen bürgerlich-ideologischen Bewußtseins ein - und weitet ihn zugleich agnostizistisch aus; die Kritik der spekulativen Metaphysik wie 33

K r . d. r. V., B 1 7 9

34

Ebenda, A 252/253

35

Ebenda, A 2 5 5

36

M E W , Bd. 22, S. 2 9 7 f.

37

Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, A 63/64

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die der Theologie sind ungemein fortschrittlich - die dogmatische Verselbständigung der Skepsis kann nicht ausbleiben. Diese Ambivalenz drückt die ganze Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Weltvernunft aus, die sich objektiv begründen muß und sich objektiv dementiert. Kants Postulat „Das: leb denke, muß alle meine VorStellungen begleiten können138 und Marx' Forderung „Auch bei der theoretischen Methode daher muß das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben"39 sind aufeinander bezogen: formal als Kritik des transzendentalen Scheins in der Theorie (Philosophie bzw. Politische Ökonomie) ; material durch die historische Differenz, die sich aus der Marxschen Entdeckung des allgemeinen Subjekts der Erkenntniskategorien, der Gesellschaft in ihrer ökonomischen Formations-Besonderheit, ergibt. Kants Antwort auf seine richtige, nicht historisch überwundene Frage nach der Objektivität der Erkenntnis kann keine andere Antwort sein, als sie die gesellschaftlich notwendige abstrakte Widerspiegelung kapitalistischer Realabstraktionen gebietet. Der allgemeine Begründungsanspruch bürgerlicher Philosophie scheitert an der Schranke, innerhalb derer die Bourgeoisie als Klasse sich partikulär begründen muß. Diesen Schein konnte erst die „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft" ökonomisch-kritisch entdecken. Das theoretische und methodologische Werkzeug ist bei Kant weitgehend entwickelt. Wird diese Kluft berücksichtigt, bleibt gleichwohl ein weiteres hervorragendes Ergebnis der Kantschen Überlegungen hervorzuheben. In einem Fazit, das er 1790 anläßlich einer Kritik seiner „Kritik der reinen Vernunft" zieht, nimmt er Stellung zum Problem des Anfangs unserer Erkenntnis. Bei seiner „Nachforschung der Elemente unserer Erkenntnis a priori und des Grundes ihrer Gültigkeit in Ansehung der Objecte vor aller Erfahrung, mithin der Deduction ihrer objektiven Realität" 40 , kommt er zu dem Ergebnis, an dem auch der dialektische Materialismus festhält: Engels und Lenin haben bewußt auf den theoretischen Abstraktionscharakter von Kategorien wie „Materie" und die Notwendigkeit verwiesen, daß jede Erkenntnis von der sinnlichen Erfahrung bestimmter konkreter Existenzweisen der Materie ausgeht und erst im Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkret-Allgemeinen zur philosophischen Kategorie „Materie" gelangen kann; bei Kant heißt es: „Die Gegenstände als Dinge an sich geben den Stoff zu empirischen Anschauungen (sie enthalten den Grund, das Vorstellungsvermögen seiner Sinnlichkeit gemäß zu bestimmen), aber sie sind nicht der Stoff derselben."41 Und vergleichbar mit Marx unterscheidet Kant in eben diesem Kontext den logischen Charakter „dieses Hinaufsteigen(s)" vom realen Konstitutionsprozeß der Wirklichkeit, „wenn nämlich das ein Hinaufsteigen heißen kann, was nur ein Abstrahieren von dem Empirischen in dem Erfahrungsgebrauche des Verstandes ist, da dann das Intellectuelle, was wir selbst nach der Naturbeschaffenheit unseres Verstandes 38 39 40 41

Kr. d. r. V., B 131 f. K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 22 Akademie-Ausg. VIII, S. 188 Ebenda, S. 2 1 5

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vorher a priori hineingelegt haben, nämlich die Kategorie, übrig bleibt"42. Mit diesem Satz schiebt Kant jener Mißdeutung des „Aufsteigens" einen Riegel vor, wie sie noch heute manchmal in marxistischen Erkenntnistheorien vorkommt; es gibt kein unmittelbares Aufsteigen von einer unmittelbaren Empirie ohne vorgängiges Abstraktionsvermögen und ohne vorausgehende Abstraktionen, die als logische Kalküle aus der gesellschaftlich akkumulierten logischen Struktur des Wissens wirken 43 . Was Kant nicht weiß, ist, daß der Einsatz „apriorischer" Erkenntnismittel a) von der gesellschaftlichen Praxis des wirklichen Erkenntnissubjekts, der Gesellschaft, abhängt und b) diese der Erfahrung vorausgehenden „apriorischen" Mittel nicht in einer Tafel „ewiger" Kategorien aufgezählt werden können, weil ihre Qualität selbst von der universalen Geschichtlichkeit der Dialektik zwischen Natur, Gesellschaft und Erkenntnis bedingt und fortschreitend verbessert wird. Die logischen Figuren, die die „Bedeutung von Axiomen" erhalten haben, sind Schlußfolgerungen aus „milliardenmal" wiederholten logischen Akten, zu denen das menschliche Bewußtsein durch „die praktische Tätigkeit des Menschen" gezwungen war. 44 Kant hat die Idee „angeborener" Vorstellungen nachdrücklich verworfen; interessant ist, daß er nun im Gegenzug nicht die Idee einer jeweils neuen Erwerbung von einem fiktiven Nullpunkt der Erkenntnis (etwa beim Kind) propagiert. Was er hier denkt, ist wertvoll genug, materialistisch „auf die Füße" gestellt zu werden: „Die Kritik (der reinen Vernunft) erlaubt schlechterdings keine anerschaffene oder angeborne Vorstellungen; alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, nimmt sie als erworben an. Es giebt aber auch eine ursprüngliche Erwerbung... Dergleichen ist, wie die Kritik behauptet, erstlich die Form der Dinge im Raum und der Zeit, zweitens die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen."45 Hier liegt eines jener erkenntnistheoretischen Momente vor, die vom Kompromiß zwischen Idealismus und Materialismus sprechen lassen und unverzichtbar zum Erbe dialektischen Denkens gehören. Wiederholt sei: die Notwendigkeit der „Kritik der reinen Vernunft" ergibt sich weniger aus dem Zwang, die idealistische Annahme der „Vernunft" hieb- und stichfest zu machen, als aus jenem objektiven Widerspruchs Verhältnis, welches den Idealismus zum Kompromiß mit dem Materialismus treibt: dem Verhältnis von wissenschaftlich-rationaler Erkenntnis und ökonomisch-technologisch beherrschter Natur - Natur, wie sie im Kapitalverhältnis naturwüchsig sich durchsetzt, ohne daß dieses Verhältnis sein Wesen preisgibt. Zu einem sozialhistorischen Verständnis dieses Naturverhältnisses aus der Sicht der materiellen Produktion als „Stoffwechsel" mit der Natur ist der Idealismus der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie nicht durchgedrungen. Aber 43

Ebenda, S. 2 1 6

43

Vgl. H. J. Sandkühler, Praxis und Geschichtsbewußtsein. Studie zur materialistischen Dialektik, Erkenntnistheorie und Hermeneutik, Frankfurt/M. 1 9 7 3 , Kap. 4 . 2 . 1 . : „Abstraktes" und „Konkretes" als Prozeßelemente der Dialektik der Erkenntnis, S. 2 1 5 - 2 2 5

44

L W , Bd. 38, S. 1 8 1

45

Akademie-Ausg. VIII, S. 2 2 1

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gerade aus der Sicht der Menschen als Produzenten ergeben sich für den Idealismus notwendigerweise Probleme mit der Natur. Selbst der subjektive Idealismus Fichtes und der übersteigerte, geradezu anarchische Subjektivitätstaumel der frühen Schellingschen Naturrechtsschrift kommen um den Anstoß des „Nicht-Ich", der Objektivität, nicht herum. Weder eine historische „Dialektik der Natur" noch eine materialistische Geschichtsauffassung waren an der Tagesordnung. Hieraus aber den Rückschluß zu ziehen, „Vernunft" werde einseitig gegen „Natur" ausgespielt, der „deutsche Idealismus" habe „keinen Erkenntnisschritt über den Materialismus" der Franzosen hinaus getan 46 , Natur sei - was nur für Hegel zutrifft - nichts „als bloßes Anderssein des Geistes", „die Verabschiedung der mechanisch-metaphysischen Denkweise" sei mit „der Absetzung der Natur kongruent'"' 7 , geht an der Realität der Widerspiegelungsbeziehung zwischen Idealismus und bürgerlicher Produktionsweise vorbei. Die Analogie zwischen ^-historischen und Naturgesetzmäßigkeiten ist eine Funktion des Bedürfnisses, den Herrschaftswillen der Bourgeoisie nicht als Bruch mit dem Kontinuum der „natürlich" gewordenen Geschichte erscheinen zu lassen. Weder der Fortschritt der Produktivkräfte, darunter der exakten Wissenschaften, noch die Erfahrung des Thermidors der Französischen Revolution, noch die tatsächliche Bedrohung der sozialen und politischen Errungenschaften der bürgerlichen Revolution durch die feudal-altständische Restauration haben es zugelassen, diese Perspektive der Natur und der Notwendigkeit 48 preiszugeben. Eine solche, zum Beispiel von G. Stiehler vertretene Annahme hält der idealistischen Theorieentwicklung nicht stand. Aufgehoben wird das mechanische Verständnis der Natur als alleiniger Erkenntnis- und Praxis-Determinante; und auch dies nicht ersatzlos, wie einige kurze Hinweise auf Schelling und Forster belegen können. Der marxistischen Philosophiegeschichtsforschung in der D D R ist es zu verdanken, daß die Stellung Schellings in der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie geklärt ist. 49 Begrüßenswert ist die Konzentration auf jene frühen Schriften von 1797 bis 1800 - also vor allem die „Ideen zu einer Philosophie der 46

G. Stiehler, D e r Idealismus von K a n t bis Hegel, a. a. O., S. 3 7 5

47

Ebenda, S. 3 7 3

48

Ebenda, S. 9 7 ff.

49

Vgl. vor allem: M. Buhr, Die Stellung Schellings in der Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie, iif: Zur Geschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie, Leipzig 1 9 7 2 , S. 7 9 - 9 0 . - H. Seidel / L. Kleine, Einleitung zu: F. W . J. Schelling, Frühschriften, 2. Bd., Berlin 1 9 7 1 , V - L X X I I . - M. Buhr / G . Irrlitz, D e r Anspruch der Vernunft, a. a. O., S. 1 4 1 - 1 8 5 . - W . Förster, Die Entwicklungsidee in der deutschen Naturphilosophie am Ausgang des 1 8 . und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Veränderung und Entwicklung. Studien zur vormarxistischen Dialektik, hrsg. v. G. Stiehler, Berlin 1 9 7 4 , S. 1 7 1 - 2 1 0 , vor allem S. 1 7 5 - 1 8 7 . -

St. Dietzsch, Zeit und Geschichte. Untersuchungen

zur Identitätsphilosophie von F. W . J. Schelling, Diss., Leipzig 1 9 7 3 . - In der sowjetischen Forschung vgl. die Arbeiten von V . F. Asmus, A . Maksimov, M. Slotov, B. Cagin, M. F. Ovsjannikov, S. B. Senderovic, E. S. Linkov; vgl. Bibl. St. Dietzsch.

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Natur", „Von der Weltseele", der „Erste Entwurf eines Systems der Naturphilosophie" und das „System des transzendentalen Idealismus" - , in denen Marx den „aufrichtigen Jugendgedanken" Schellings fand und die schon Hegel und Heine den „Stifter der neueren Natur-Philosophie" hatten entdecken lassen. Während die neo-idealistische bürgerliche Forschung Schellings Materialismus, kaum aufgespürt (H. Zeltner, W. Wieland, A. Hollerbach, W. Schulz, D. Jähnig, J. Habermas u. a.), dementiert oder gegen Hegels Dialektik, unmittelbar zu Marx führend, hochspielt (F. W. Schmidt) und sich mit einer Ausnahme (W. Hartkopf) zu einer richtigen Einschätzung unfähig erweist, hebt der gegenwärtige Marxismus Schellings Frühphilosophie als Ansatz der „Dialektik der Natur" und wichtiges Element monistisch-materialistischer Theorie hervor. Erst die marxistische Dialektik, vor allem die der Natur, bietet den hermeneutischen Schlüssel zu Schelling. Seine frühe Natur- und Erkenntnistheorie verhält sich tatsächlich „zur bewußt-dialektischen Naturwissenschaft wie die Utopisten zum modernen Kommunismus"50. Schellings Naturphilosophie ist in guten Stücken materialistisch; und doch reflektiert sie noch nicht, was ihren Materialismus begründet: die Dialektik der Arbeit an und in der Natur. Sie kann noch nicht begreifen, was sie notwendig widerspiegelt: daß sie als Träger in einem „System der allgemeinen Exploitation der natürlichen und menschlichen Eigenschaften", als Wissenschaft fungiert, für die das Kapital die historischen Voraussetzungen der „universellen Aneignung der Natur wie des gesellschaftlichen Zusammenhangs selbst" geschaffen hat. Die Phase der vorkapitalistischen „Naturidolatrie" ist überwunden, und „die theoretische Erkenntnis ihrer (der Natur) selbständigen Gesetze erscheint selbst nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen . . . zu unterwerfen"51. Ohne Bewußtsein des Verhältnisses von Natur und Kapital widerspiegelt der Materialismus idealistischer Naturspekulation die „Naturwüchsigkeit" und Naturnotwendigkeit des historischen Kapitalentwicklungsprozesses; Naiwrgeschichte und GeseMsüi&itsgeschichte können noch nicht zusammengedacht werden, weil das Wesen kapitalistischer N a t u t a n e i g n u n g verhüllt ist. Schelling glaubt transzendental-theoretisch vereinen zu können, was der Sache nach nie und der Erscheinungsweise nach in der Arbeitsteilung getrennt wurde: Naturprozeß und Bewußtseinskonstitution. Gleichwohl enthält seine Theorie die Ahnung, daß diese Gegensätze „in der Natur zwar vorkommen, aber nur mit relativer Gültigkeit, daß dagegen jene ihre vorgestellte Starrheit und absolute Gültigkeit erst durch unsere Reflexion in die Natur hineingetragen ist"52. Rückblikkend nennt Schelling als Prinzip seiner Frühphilosophie, „die Genesis der Natur zu erklären" 53 ; dies sei die Leistung seines „Real-Idealismus"° 4 , die „von unserer 50

M E W , Bd. 20, S. 1 2

ol

K . Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1 9 5 3 , S. 3 1 3

52

M E W , Bd. 20, S. 14

53

Schellings Werke, ed. K . F. A . Schelling, X, S. 85

5/1

Ebenda, S. 1 0 7 Quelle)

(die nachstehend angeführten Seitenziffern beziehen

sich auf

dieselbe

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Freiheit schlechterdings unabhängige . . . Vorstellung einer objektiven Welt durch einen Prozeß" erklärt zu haben. Seine Prozeßtheorie folgt dem Grundsatz, „die Momente dieser sukzessiven Überwindung" der Trennung von Natur und Geist „als identisch . . . mit den Momenten der Natur" nachzuweisen55. Dem Verfasser des „Systems des transzendentalen Idealismus" geht es 1800 um die „Darstellung jenes Zusammenhangs, welcher eigentlich eine Stufenfolge von Anschauungen ist, durch welche das Ich bis zum Bewußtsein in der höchsten Potenz sich erhebt; und selbst das „System" noch geht aus vom „Parallelismus der Natur mit dem Intelligenten"56. Der idealistische Bewußtseinstheoretiker fragt nicht nur, wie „die Gegenstände als sich richtend nach den Vorstellungen gedacht werden"; die Doppelfrage wird eingeleitet mit „Wie können die Vorstellungen zugleich als sich richtend nach den Gegenständen" erklärt werden; Verbindung beider Fragen ist kein „Oder", sondern „und.".51 Fichte habe - kritisiert Schelling - „die Natur annihiliert"68. Was setzt er dagegen? Eine gegenüber den bisherigen Naturauffassungen „revolutionäre"59 Naturphilosophie, die „nichts anders als Naturwissenschaft" sein wolle60: „Wir wollen, nicht daß die Natur mit den Gesetzen unseres Geistes zufällig • • • zusammentreffe, sondern daß sie selbst notwendig und ursprünglich die Gesetze unsers Geistes nicht nur ausdrücke, sondern selbst realisieret Mit der Emphase des Satzes „Kommet her zur Physik und erkennet das Wahre!" 62 wird die Zielsetzung bestimmt, „ d a ß . .. das Ideelle auch... aus dem Reellen entspringen und aus ihm erklärt werden muß"63. Die „System"-Idee, die Natur erreiche ihr Ziel, „sich selbst ganz Objekt zu werden, . . . erst durch die höchste und letzte Reflexion", die Vernunft, und kehre so in sich zurück, ist zweifellos idealistisch64; ihr fehlt die historisch-ontologische Vermittlung durch „Arbeit"; aber sie beinhaltet die Idee des Primats der Materie und die der objektiven Tendenz der Materie, sich in ihrer höchsten Form, Im Bewußtsein, zu organisieren; hierauf kommt es an: Ontologie, noch nicht historisch denkbar, und Gnoseologie werden wieder verknüpft. Die Natur - und nicht der Geist - ist die „Schöpfung selbst"65, und „das System der Natur ist zugleich das System unseres Geistes"66. Schelling nimmt den Naturbegriff ernst und warnt davor, „daß die Notwendigkeit, die der Begriff ursprünglich mit sich führt, 55

X , S. 9 6 / 9 7

»

III, S. 3 3 0 / 3 3 1

57

III, S. 348

58

Schelling an Fichte, 3. 10. 1801

59

Schelling, III, S. 644 II, S. 6

161

II, S. 5 5 / 5 6

62

IV, S. 7 6 ; vgl. II, S. 378

® HI, S. 272 64

III, S. 341