Geschichte der Gewalt: Krieg - Revolution - Terror 9783863126582

In der Geschichte ist immer Gewalt - und immer das Streben nach Frieden. Die Frage nach der Gewalt ist womöglich die Urf

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German Pages 320 [322] Year 2011

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Inhaltsverzeichnis
Frieden und Gewalt: Eine Einführung
I. Gewalt in der vormodernen Welt
1. Gewalt in der Antike
2. Gewalt im Mittelalter
3. Entstehung der modernen Gewalt
4. Exkurs: Das Recht als Gewalt
II. Gewalt in der modernen Welt
1. Revolution
Die Schatten Kains
Die Revolution der Heiligen
Gewalt als Diskurs
Tugend und Gewalt
Das Zeichen des Henkers
Die Utopie an der Macht
Gesichter
Gewalt und Legitimität
Humanität und Gewalt
Exkurs: Gewalt und Sexualität
2. Krieg
Civitas und militia
Zähmungen des Krieges
Der revolutionäre Krieg
Der Mensch als Masse
Heimatfronten
Der totale Krieg
Der technologische Krieg
Der Partisanen-Krieg
Der Neue Krieg
Krieg als Diskurs
Gesichter
Exkurs: Eine Welt ohne Krieg?
3. Terror
Sprache und Gewalt
Kommunismus
Nationalsozialismus
Ethnische Säuberung und Völkermord
Terrorismus
Terror als Diskurs
Gesichter
Exkurs: Gewalt als Widerstand
III. Ausblicke
1. Gewalt in der Geschichte
2. Gewalt als Zukunft?
Anmerkungen
Bibliographie
Personenregister
Sachregister
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Geschichte der Gewalt: Krieg - Revolution - Terror
 9783863126582

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Karl Heinz Metz Geschichte der Gewalt

Karl Heinz Metz

Geschichte der Gewalt Krieg · Revolution · Terror

Für Veronica und die Hoffnung auf Frieden

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© 2010 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Redaktion: Christina Kruschwitz Satz: Jung Crossmedia Publishing GmbH, Lahnau Umschlaggestaltung: Finken&Bumiller, Stuttgart Umschlagmotiv: Michelangelo Merisi da Caravaggio (1573–1610): Die Enthauptung Johannes des Täufers (Ausschnitt). Oratorium der Kathedrale San Giovanni dei Cavalieri, Valletta. Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-23147-8 Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Primus Verlag. Umschlaggestaltung: Christian Hahn, Frankfurt a. M. ISBN 978-3-89678-697-5 www.primusverlag.de Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-70959-5 (für Mitglieder der WBG) eBook (epub): 978-3-534-70960-1(für Mitglieder der WBG) eBook (PDF): 978-3-86312-658-2 (Buchhandel) eBook (epub): 978-3-86312-659-9 (Buchhandel)

Inhaltsverzeichnis Frieden und Gewalt: Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Gewalt in der vormodernen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Gewalt in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Gewalt im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Entstehung der modernen Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Exkurs: Das Recht als Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Gewalt in der modernen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schatten Kains . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Revolution der Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt als Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tugend und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zeichen des Henkers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Utopie an der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt und Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humanität und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Gewalt und Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 35 39 43 47 55 58 62 64 66 69

2. Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Civitas und militia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zähmungen des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der revolutionäre Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mensch als Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heimatfronten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der totale Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der technologische Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Partisanen-Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Neue Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krieg als Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71 71 76 80 87 97 104 115 141 160 180

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Inhaltsverzeichnis

Gesichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Exkurs: Eine Welt ohne Krieg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 3. Terror . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnische Säuberung und Völkermord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terror als Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Gewalt als Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213 213 224 240 250 259 270 283 285

III. Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1. Gewalt in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 2. Gewalt als Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

Frieden und Gewalt: Eine Einführung In der Geschichte ist immer Gewalt – und immer das Streben nach Frieden. Die Frage nach der Gewalt ist womöglich die Urfrage des Menschen. Aus ihr geht alle Religion hervor und alle Politik: Die Religion als Versuch einer symbolischen Antwort auf die Frage, warum die Menschen die Gewalt nicht loswerden, die Politik als Versuch einer praktischen Bewältigung der Gewalt durch eine Herrschaft, die sie zu zähmen vermag. Und doch verschwindet die Gewalt nie, weder im Staat, der ohne Drohung und Gewalt den Frieden im Inneren nicht zu sichern vermag und Gewalt im Äußeren, als Krieg, oft exzessiv nutzt, noch in der Religion, die gleichfalls gewalttätig wird, gegen Ketzer und Heiden, sobald sie sich anschickt, die Gesellschaft nach ihren Werten ordnen zu wollen. Alle großen Versuche, den Frieden unter den Menschen dauerhaft werden zu lassen, sind gescheitert – und doch, vielleicht gäbe es die Menschheit nicht mehr ohne sie. Die Hoffnung auf Frieden ist die größte von allen, so wie die Furcht vor Gewalt die größte ist. Trotzdem gibt es Gewalt und es gibt die Rühmung der Gewalt, von der Apologie des Krieges bis zu ihrer Preisung als „Geburtshelferin“ einer neuen Gesellschaft, in der die neuen Menschen dann friedlich zusammenleben würden. Philosophisch, theologisch, politologisch, militärisch, soziologisch etc. ist vielfach über Gewalt gehandelt worden und auch Historiker haben sich oft mit den Facetten der Gewalt beschäftigt, mit Kriegen, Revolutionen, Aufständen. Eine Studie zur „Geschichte der Gewalt“ hingegen fehlt, sowohl als Monographie im Kontext der neueren Geschichte Europas wie als Einzeldarstellung zu den großen Zeitaltern, etwa der Antike, der Moderne. Gewalt erscheint als Aspekt einer speziellen Ereignisgeschichte, nicht als Phänomen an sich. Sie als solches historisch zu fassen, im Wesentlichen beschränkt zwar auf den Geschichtsraum Europas, doch jenseits der National- wie der Ereignisgeschichte, ist daher die Absicht dieses Buches. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der neueren Geschichte, wobei die Darstellung sich zur Gegenwart hin immer mehr verdichtet. Doch wie alle Historie wird ein Rückblick auf die Zustände vor Beginn der Neuzeit unentbehrlich, weshalb der erste Großabschnitt einführende Bemerkungen zu Antike und Mittelalter vorträgt. Das Ziel ist, den Unterschied von vormoderner und moderner Gewalt deutlich zu machen, d. h. die Geschichtlichkeit sowohl der verschiedenen Formen von Gewalttätigkeit wie ihrer Rechtfertigungen aufzuzeigen. Der darauf folgende zweite Großabschnitt beschäftigt sich dann mit der sogenannten Moderne, beginnend mit dem 15. Jahrhundert als Ansatz für die breitere Darstellung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Drei Grundphänomene moderner Gewalt werden in diesem Zusammenhang erörtert, nämlich die revolutionäre Gewalt, die militärische Gewalt und die terroristische Gewalt. Wenn die Revolution jenen Einschnitt

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Frieden und Gewalt: Eine Einführung

herbeiführt, welchen die Moderne in der Politik gemacht hat, weil alle ihre Kategorien von dort herrühren, dann ist das Phänomen der spezifisch modernen Gewalt ohne die Französische Revolution nicht zu verstehen. In ihr kommt es zum Umschlag von der noch religiös inspirierten millenarischen Erhebung, d. h. einer Erzwingung der Wiederkehr Christi, zur säkularen Auflehnung gegen jede Art von Transzendenz, zur Totalität menschlicher Selbstherstellung. Eines Gottes bedarf man nicht länger. Der Umbruch militärischer Gewalt schließt sich daran an. Die Ideologie, zuerst der Nation, dann von Klasse und Rasse einerseits, die Mobilisierung der Masse andererseits, kennzeichnen den modernen Krieg politisch, wobei seine Totalität durch eine Technologie massenweiser Vernichtung realisiert wird. Die Technik verwirklicht etwas, das politisch bereits angelegt ist. Das zeigt sich denn auch in der Entstehung terroristischer Regime im 20. Jahrhundert, in denen die Erfindung von 1793 systematisiert wird. Ihr Friede befreit die Gesellschaft nicht mehr von der Furcht, sondern verstetigt sie vielmehr durch die institutionelle Präsenz der Gewalt, in Polizei, Geheimpolizei, Militarisierung, Lagern, bis hin zum Genozid. Überall, in Revolution, Krieg, Terrorherrschaft wird dabei der Mensch auf seinen Körper als Angriffsfläche der Gewalt reduziert, einer Gewalt, die zunehmend souverän wird. Revolution, Krieg, Terror führen zur Gewalt als Selbstzweck, je mehr sie sich zu Totalitäten entwickeln, d. h. je mehr sie darin ihre Rechtfertigung sehen, einen idealen Endzustand herbeizuführen, einen Zustand ohne Gewalt, erreicht durch deren Totalisierung. Das letzte Kapitel fasst die Ergebnisse der historischen Untersuchung kurz zusammen. Jedem Kapitel folgt ein Exkurs, in dem ein Aspekt von Gewaltsamkeit erörtert wird, der zwar vom Thema der politischen Gewalt abweicht, wie es für das Buch wesentlich ist, der aber in der Frage nach der Gewalt enthalten bleibt und deshalb kurz zu erinnern ist.

I. Gewalt in der vormodernen Welt 1. Gewalt in der Antike In der Bannung der Gewalt entsteht Gemeinschaft, weil sich in ihr die Furcht löst, jene Fremdheit zwischen Menschen, die fundamental ist. Gemeinschaft bannt Gewalt in ihren beiden elementaren Formen: als Gewalt, die den weiblichen Körper besitzen will, als Gewalt, welche die menschliche Arbeit und die von ihr erzeugten Güter besitzen will. Sexualität und Gewalt, d. h. Kräfte, die unmittelbar den Körper ergreifen, zwingen fort zur Vermittlung solcher Unmittelbarkeit als Religion und politischer Gemeinschaft. Ohne Religion als Ritualisierung von Sexualität und Gewalt ist eine Gemeinschaft nicht zu haben, ohne eine sich politisch organisierende Gemeinschaft gibt es keine Religion, weil deren Ordnungswirkung lediglich sozial entstehen kann. In beiden Fällen geht es um Sicherheit und um Deutung. Woher kommt das Leben, woher seine Vernichtung durch den Menschen? Dabei scheint die Tötung von Tieren am Anfang gestanden zu haben. Tiere werden getötet, um ihres Fleisches willen, doch spürt bereits der primitive Jäger, dass er etwas tötet, das auch in ihm ist: das Leben. Das Tieropfer im religiösen Kult wirkt damit als eine Art Entsühnung vor einer übergeordneten Lebenskraft, dem Göttlichen. Zugleich versammelt es die Gemeinschaft im Ritual des Opfermahls, des gemeinsamen Essens von Fleisch, zusammen mit den Göttern. Dieses Ritual hält sich auch nach der Sesshaftwerdung, wenngleich nun domestizierte Tiere geopfert werden. Zugleich verlagert sich die Gewalt vom Tier auf den Menschen selbst, je intensiver dieser vom Ackerbau lebt, sesshaft wird, immobil, an ein begrenztes Territorium gebunden. Hier beginnt der Krieg in seiner zweifachen Form: Dass in der Bibel die Gewalt mit der Erschlagung des Hirten Abel durch den Ackerbauern Kain einsetzt, in der römischen Gründungslegende Romulus den Bruder Remus erschlägt, als dieser die symbolisch gesetzte Einfriedung der „civitas“ verletzt, verweist auf die Struktur der Gewalt als Schutz von Territorium, d. h. Friedensraum durch Abgrenzung. In der Jagd erfährt der Mensch die Gewalt als Erstes. Sie ist seine Inkubation in das Töten, die mit dem Krieg fortreicht in die Zeit der Stadt. Das Beute-Machen verlagert sich von der Jagd auf die Eroberung, zuerst als Raub, dann zunehmend auf Überlagerung, d. h. auf die gewaltsame Durchsetzung der andauernden Herrschaft einer schmalen Erobererschicht über die unterworfene Mehrheitsbevölkerung. Auch hier entsteht Frieden durch die herrschaftliche Inbesitznahme der Gewalt, allerdings keine civitas, weil die Herrschaft der Eroberer kaum Autorität besitzt über ihre auf Gewalt gegründete Wahrung des inneren Friedens hinaus. Wesentlich für die Gewinnung von Autorität in vormoder-

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I. Gewalt in der vormodernen Welt

nen Gesellschaften ist daher die Symbolisierung der Beziehung zur Gewalt, realisiert durch das religiöse Opfer, die Bindung der Gewalt an das Heilige. Damit kanalisiert die Gesellschaft ihre potentielle Gewaltsamkeit und entlastet sich davon zugleich durch deren Zuweisung an das Göttliche. Durch diese Zuweisung wird die Gewalt innerhalb der Gesellschaft in gewisser Weise tabuisiert. In ähnlicher Weise wirkt dann die zweite Kanalisierung der Gewalt, die Überführung der privaten Rache in das öffentliche Recht, in die Rechtssprechung, die ein wesentliches Moment der politischen Autorität ist. Das Gericht ist Symbol und Funktion der öffentlichen Rache. Es lenkt die Vergeltung in den Kanal der politisch geregelten Gewalt, verhindert die wilde Gewalt und zeigt dem Übeltäter wie dem Geschädigten, dass in der Gesellschaft „Ordnung“ herrscht, weil es Strafe gibt. Die Strafe ist die Wechselseitigkeit des Rechts und das Recht, neben dem Heiligen und der Verfügung über Gewalt, die wesentliche Stütze von Herrschaft. Wo demnach die Rache zum Recht fortgebildet wurde, entsteht die zivilisierte Gesellschaft, verschwindet die primitive.1 Entscheidend ist, einen Kreislauf der Gewalt zu verhindern, jene Ewigkeit der Blutrache, die nicht mehr zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden vermag. Das Recht setzt Endlichkeit und es vermag dies deshalb, weil sie von der Herrschaft und ihrem Monopol der Gewalt getragen wird. Die Rechtsetzung und die Rechtsdurchsetzung ermöglichen die Dauerhaftigkeit des Friedens in der Gesellschaft, deren unabdingbare Voraussetzung das Gewaltmonopol bildet. Nun steht jedoch der Krieg, obwohl er die von der Gesellschaft legitimierte Form der Gewalt ist, neben der Hinrichtung von Verbrechern, dem Friedensgebot der „Stadt“ entgegen. Der zurückkehrende Krieger ist vom Blut besudelt, die Gewalt ist in ihm. Er muss sich von ihr reinigen, ehe er in den Friedensraum der civitas eintreten darf. Die Gewalt ist wie eine ansteckende Krankheit: Sie ist bodenlos. Wenn der Gewalttäter in die Friedensgesellschaft zurückkehrt, ohne „gereinigt“ worden zu sein, droht eine Ansteckung durch Nachahmung.2 Denn da soziale Interaktion wesentlich durch Nachahmung geformt wird, wäre die Gegenwart eines ungereinigten Gewalttäters eine Gefahr für den Frieden. Im Mythos des Oedipus etwa wird die Stadt von der Unreinheit der Pest heimgesucht, solange der unreine Mensch, der Vatermörder Oedipus, in ihr weilt. Erst sein Selbstopfer sühnt die Tat und rettet die Stadt.3 Die Katharsis richtet die Ordnung des Friedens erneut auf, weil im Opfer die Gewalt dem Göttlichen übergeben wird. Im Bogen vom „Naturzustand“ der Blutrache, bei dem Verwandtschaftsgruppen die Absolutheit ihres Zusammenhalts durch die Absolutheit der Rache zu sichern suchen, über das religiöse Opfer, in dem eine bereits sozial gegliederte Gemeinschaft die Absolutheit der Rache relativiert, indem sie diese auf ein gedachtes Absolutes, das Göttliche, bezieht, zur politischen Gesellschaft, in der die Institutionen von Recht und Gnade jene Autorität gründen, die der Gewalt berechenbare Grenzen setzt, spannt sich der zivilisatorische Bogen einer fortschreitenden Minderung der Gewalt innerhalb eines sich weitenden sozialen Verbandes. Soziales Handeln verwirklicht sich dabei über Sprechen, das seinem Wesen nach ein Vorgang der Verständigung ist, und nicht, wie die Gewalt, der Vernichtung. In der Stadt mit ihren politischen wie kommerziellen Tätigkeiten wird die

1. Gewalt in der Antike

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sprachliche Verständigung entscheidend für das friedliche Zusammenleben. Die Phänomene des sozialen Lebens werden sprachlich gefasst und damit für jeden fasslich, sie werden intersubjektiv. Damit kann sich der soziale Konflikt sprachlich äußern, was zugleich eine Voraussetzung für seine Verrechtlichung ist. Nirgends ist das Bewusstsein für die friedenswahrende Wirkung von Sprache so ausgeprägt gewesen wie in den antiken Stadtrepubliken, insbesondere in Athen, in Gebilden, in denen der Umschlag in die Gewalt, der Umsturz der Regierungsformen eine beunruhigende Erfahrung blieb. Zu ihr gehörte auch, dass zwischen der Ordnung der Begriffe und jener der polis eine Abhängigkeit bestand und also eine Verwirrung der leitenden Begriffe zur Vorstufe der Gewalt werden konnte. Die politische Philosophie der Griechen zieht aus dieser Furcht ihren Impuls und setzt dagegen die dialogische Suche nach Frieden, auch gegen die monologische Rede der Rhetoriker, die agitatorisch überzeugen wollen und damit Sprache aus ihrer Verständigungsfunktion in ein Gewaltmittel umzuformen suchen. Bei Plato ist der Dialog deshalb in seinem Wesen eine ständige Suche, getrieben von der Frage, wie man leben soll, was ein „gutes Leben“ sei und wie es zu verwirklichen wäre (Gorgias). In dieser Suche pflegt der Mensch seine Seele, bildet sie zu einer Ordnung, in welcher er als Einer mit Anderen in eine Gemeinschaft tritt. Wo die Seelenkraft, der eros, nicht in eine solche Ordnung gebunden wird, entsteht das Böse, die Gewalt. Das Böse ist die verwahrloste Seele, ist eros tyrannos, ein in sich zerfallener Mensch, in dem sozusagen Bruchstücke seines Ich wie wild umhertaumeln, gewalttätig nach außen schießen. Damit ist die politische Gemeinschaft selbst vom Chaos bedroht, von Gewalt, Bürgerkrieg, Tyrannei, weshalb es die Pflicht jeden Bürgers ist, solch zerstörerischen Menschen entgegenzutreten und mit der polis den Dialog und die Suche nach einer Ordnung des eros zu wahren (Politeia). Die polis war äußerlich die Gesamtheit derer, die waffenfähig und waffenwürdig waren, d. h. derer, die ihre Fähigkeit und Berechtigung zur Gewalt an die politische Gemeinschaft übergeben hatten, damit zu „Bürgern“ (politen) wurden. In ihr stellten sie sich unter den Frieden, als Achtung vor den Mitbürgern und vor dem Recht. Vor sie stellten sie sich mit ihrer Gewalt, als Verteidigung gegen den äußeren Feind. Das Recht erst vollendet den Aufstieg des Menschen aus dem Tierischen und er wird schlimmer als alle Tiere, wenn er sich von ihm losreißt, wie Aristoteles sagt, wenn er zum Wesen der Gewalt wird. Daher ist das Streben nach einem Leben unter dem Recht, d. h. im Staat, ein dem Menschen naturgemäßes, da er sonst nicht überleben könnte (Politik). Dass der Mensch ein Wesen der Gewalt sei, wenn ihn nicht das Gesetz in Ordnung einbinde, lehrte die Drohung des Bürgerkrieges, lehrte die Allgegenwart des Krieges.5 Es war ein Krieg um Territorium, um landwirtschaftlich nutzbares Land, der endlos wurde, weil Griechenland in viele selbstständige Stadtrepubliken zerrissen blieb, die einander ständig bekämpften. Zwar gab es immer wieder Versuche, über Bündnisse zu einem „gemeinsamen Frieden“ zu gelangen und für die Zeit der Olympischen Spiele, an denen alle griechischen Staaten teilnahmen, galt eine Friedenspflicht. Ansonsten jedoch blieb der Krieg eine stete Drohung. Wurde eine Stadt erobert, so zerfiel ihr Recht und alle Bürger stürzten in die Sklaverei, sofern man sie nicht erschlug. Vor den Mauern der Stadt, die auch symbo-

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I. Gewalt in der vormodernen Welt

lisch aufzufassen sind, als Gesamtheit der Politen, gab es kein Recht, blieb die Gewalt wild. Dass die politische Gemeinschaft der Raum der Gewaltlosigkeit zwischen den Bürgern ist, gilt bereits bei Homer als ihr Prinzip. Die Errichtung des Gerichts (aeropag) in Athen wird der Göttin Athene selbst zugeschrieben und gilt damit als sakrosankt. Kehrt die Gewalt in die polis zurück, wird diese „krank“ und droht zu sterben. Gewalt blieb legitim da, wo sie der unmittelbaren Verteidigung galt oder gegen Personen gerichtet war, die „Fremde“ waren, etwa gegen Barbaren oder Sklaven. Dass in Sparta den Heloten jedes Jahr erneut der Krieg erklärt wurde, entspricht dieser Logik, wonach die Gewalt gegen jene gerichtet bleibt, die „politisch“ nicht zu uns gehören, die Fremde sind. Der Dualismus von Frieden und Krieg war unter den Menschen so unaustilgbar wie unter den Göttern, die sich selbst unter die Krieger mischten, allem Hass des Zeus auf die Gewalt zum Trotz. Doch ein dauerhafter Frieden kam erst, als er von einer fremden Macht erzwungen wurde, als Rom gegen Ende des 2. Jahrhunderts Hellas unterworfen hatte. Wenn es das Wesen des Rechts ist, Frieden zu stiften, dann ist es das Wesen der Rechtlosigkeit, Gewalt hervorzurufen. Mit der Sklaverei war immer schon ein Stück Rechtlosigkeit in der antiken Gesellschaft enthalten, doch blieb zumindest in Griechenland deren Zahl zu gering, um zu einer Gefahr zu werden. Den einzigen Unterschied machte Sparta, in dem eine rechtlich rigide geordnete Gemeinschaft über eine unterworfene, rechtlose Bevölkerung herrschte, von deren Arbeitsleistung sie lebte. Die spartanische Herrschaft über die Heloten beruhte allein auf Gewalt, die rücksichtslos geübt wurde, und auf deren mentalen Effekt, einer alles durchdringenden Furcht, die in die Fatalität hineinzwingen wollte, weil die stets präsente Gewalt, obwohl von einem „Staat“ ausgeübt, „wild“ geblieben war, regellos, willkürlich, unberechenbar. Der Spartaner lebte von und durch Gewalt, doch weil er eine Minderheit bildete in einer Mehrheit Unterworfener, musste er seine Gewaltfähigkeit durch Disziplin, Gehorsam, Abhärtung, Waffenübung erhöhen. Das sicherte die Stabilität des spartanischen Staates und bewahrte ihn vor dem Bürgerkrieg, wie er die demokratischen Gemeinschaften erschütterte, die ihre sozialen Gegensätze nicht durch Unterwerfung und Ausbeutung eines anderen Volkes stillstellen konnten. Dort führte es dann oft in die Tyrannis, die Gewaltherrschaft eines Einzelnen, der außerhalb des Rechts stand. So blieb die Gewalt ein Brandmal auch der griechischen Geschichte: Gewalt der Bürgerkriege und der Tyrannis. Und auch Athene vermochte Mars nicht zu ächten, der Handel und die aus ihm fließende kommunikative Vernunft, das kommerzielle Kalkül vermochten den Krieg als Mittel zur Erlangung staatlicher „Größe“ nicht zu beseitigen. Im Gegenteil: Die Handelsmacht Athen setzte ihre ernormen finanziellen Mittel ein für das Abenteuer des Krieges, den es eben deshalb auf ein finanzielles Kalkül vermindern zu können glaubte. Es war wie in einer Schlacht, deren fataler Ausgang sich bereits dadurch abzeichnete, dass man auf die Reserven zurückgreifen musste, kaum dass der Kampf begonnen hatte. Alle Vernunft war verlorengegangen. Die Gewalt hatte sie ersetzt. Die Athener waren erblindet. Bei Thukydides (460–410), der diesen Krieg der Athener beschreibt, ist der Krieg wie ein blindes Schicksal, das sich aus dem Handeln der Menschen ergibt, ihrem Stolz, ihrem

1. Gewalt in der Antike

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Streben nach Besitz und Macht, bei dem sie Folgen auslösen, die sie nicht absehen können. Die Götter sind Phrase geworden, sie deuten nichts mehr, bedeuten nichts mehr. Das Recht zerfällt unter dem eskalierenden Chaos des Krieges. Der Mensch kehrt in sein eigentliches Wesen zurück, in die Anarchie, die Gewalt, die Furcht. Daher gibt es auch kein Gut und Böse, keine Tugend, denn der Krieg verschlingt alles, bis der mühsame Polis-Bau ihm wieder eine brüchige Grenze setzt. Der Krieg, die Gewalt, ist das Tragische, unauflösbar, nur in der Tragödie fassbar oder eben einer Historie, die das immer Gleiche der menschlichen Natur in den Zuckungen ihres zeitlichen Handelns zu fassen sucht. Der von Thukydides aufgezeichnete Dialog zwischen den Unterwerfung fordernden Athenern und den Meliern zeigt Zivilisation als dünne Tünche: Als jene sich der Unterwerfung verweigern, werden sie ausgelöscht. Die Geschichte ist so blind wie die Menschen, die in ihr handeln, ihre Blindheit ist die Quelle der Gewalt. Die Geschichte bleibt ohne Sinn, weil die Menschen ihre Blendung durch die Gewalt nicht zu überwinden vermögen. Sie ist eine Höhle ohne Ausgang, eine Höhle der Historiker, nicht der Philosophen. Erst als am Ende des Peloponnesischen Krieges, an der Wende zum 4. Jahrhundert, Griechenland buchstäblich ausgebrannt war, kam es zur Verdammung innergriechischer Kriege, die nun wie Bürgerkriege angesehen wurden, doch keineswegs zur Verdammnis des Krieges an sich, des Krieges gegen die „Barbaren“, die nicht in das kulturelle „Wir“ gehörten, und gleich wilden Tieren bekämpft werden sollten.6 Die Furcht vor dem Bürgerkrieg, die Hinnahme, wenn nicht Rühmung des Krieges gegen einen Feind, der nicht „zu uns“ gehört: Das sind die beiden Pole auch des römischen Blicks auf die Gewalt. Das historische Wunder Roms als einer kleinen Stadt, die ein Weltreich nicht nur eroberte, sondern auch über Jahrhunderte zu erhalten vermochte, gründete wesentlich in der politischen Bewältigung dieser Polarität. Roms Herrschaft basierte nicht allein auf der Gewalt, sondern auf einem institutionellen Gefüge aus Autorität und Gewalt von großer Stabilität, allen Brüchen und Konflikten zum Trotz. Diese Stabilität hatte ihren Ursprung darin, dass die Herrschaft eine „öffentliche Sache“, eine res publica geworden war, an der alle Bürger teilhaben konnten und sollten, geordnet in Institutionen, die sich um neue ergänzten und eben dadurch die bestehende Ordnung erhielten. Insbesondere der Aufstieg für neue Eliten blieb offen, allem patrizischem Dünkel zum Trotz: Ein wichtiger Aspekt für die Vermeidung von innerer Gewalt und Bürgerkrieg. Als dynamische Kraft dieses langfristigen Wandels wirkte dabei der Krieg, den Rom seit dem Sturz des Königtums (um 500) nahezu unentwegt geführt hat. Die Gewalt vor der Stadt, das immer weitere Ausgreifen Roms in die umliegenden Gebiete, erzwang eine Organisation des Volkes als eines kampfbereiten Heeres. Diese aber war nur zu haben, wenn der „Staat“ eine Autorität entwickelte, die letztlich die Gewalt bezwang, gerade auch die Gewaltfähigkeit plebejischer Bürgersoldaten. Elite-Offenheit, „republikanische“ Partizipation, Rechtssicherheit der Bürger und die Lösung der sozialen Konflikte durch die Verteilung eroberten Landes gründeten ein Gemeinwesen, in dem sich kriegerische Gewalt und republikanische Tugend zu einer „imperialen“ Dynamik verbanden (arma virtusque).7 Wo die innere Gewalt derart in Rechtsformen eingebunden und begrenzt

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war, erschien es als notwendig, auch die äußere Gewalt rechtlich zu fassen. Für die Römer hieß das, nur „gerechte Kriege“ zu führen, d. h. Kriege, deren Rechtmäßigkeit durch die Klage über zugefügtes Unrecht begründet und durch eine religiöse Zeremonie als mit dem Willen der Götter vereinbar erklärt wurde. Die Zustimmung von Senat und Volk fügte dem die politische Dimension zu. Für ein so vom Krieg besessenes Volk wie dem der Römer war es psychologisch wesentlich, Gewalt und Frieden, bellum und civitas strikt voneinander zu trennen. Bevor das Heer in den Krieg zog, wurde es einem kultischen Akt unterzogen, der den Bürger, dessen erste Pflicht der Friede und die Beachtung der Gesetze war, zum Krieger machte. Kehrte es zurück, erfolgte eine symbolische Reinigung der blutbefleckten Waffen. Jedes kriegerische Handeln, jedes Zeichen von Krieg, z. B. Symbole von Waffen, das Aufstellen der Bürger in militärischen Einheiten, die Verehrung von Kriegsgöttern blieben im Bereich der Stadt verboten.8 Die religiös sanktionierten Formalien dienten dazu, die Gewalt des Krieges in einer Rechtsform zu umschreiben, die ihren Kern im Frieden der Wohnstätten der Bürger (domi) hatte. Es war der Schrecken des Bürgerkrieges, dem hier gewehrt werden sollte und der sich dann doch, 88 mit dem Staatsstreich Sullas und später, einstellte, als das Heer in Rom einrückte und den Senat umstellte. Damit war die Gewalt in die civitas eingebrochen. Mit den Proscriptionen, d. h. der massenhaften Liquidierung politischer Gegner ohne Gerichtsverfahren, trat die Furcht an die Stelle des Rechts und damit der Autorität als wesentlichem Träger der Herrschaft im Frieden. Das „politische“ Verhältnis von Autorität und Gewalt begann sich aufzulösen und erst die Restauration unter Augustus brachte eine neue Balance, in der die in der Monarchie ausgedrückte Vorherrschaft der militärischen Gewalt zwar verhüllt blieb, doch eindeutig war. Analog dazu veränderte sich die Verfassung dieser Gewalt, d. h. des Heeres. Wenn in der Republik alle beteiligt waren und mehrere regiert hatten, gewählt auf bestimmte Zeit, so waren auch im republikanischen Heer alle als Bürgerkrieger beteiligt gewesen, für die begrenzte Zeit eines Krieges. Seit Sulla jedoch trat an deren Stelle der bezahlte Soldat, dem die Gewalt den Lebensunterhalt verdiente und der dem Einen folgte, der befahl und ihm Sold, Beute und Ruhm verschaffte. In einem derart auf Krieg bezogenen Staat wie Rom musste eine solch einschneidende Veränderung der Militärverfassung auf die bürgerliche Verfassung zurückwirken. Die Organisation der Gewalt bestimmt die Form der politischen Organisation und wenn diese Organisation nicht mehr von der civitas ausgeht, sondern vom Krieg, dann wird sie zu einer quasi militärischen. Die Kehrseite der militärischen Organisation eines immer größeren Herrschaftsgebietes, das anders nicht mehr zusammenzuhalten war, zeigte sich im imperialen Frieden, der pax Romana. Der Friede galt nur den innerhalb der Herrschaftsgrenzen Lebenden, wobei die territorialen Grenzen die alten Mauern der Stadt ersetzten. Jenseits der Grenzen war Krieg, lebten Barbaren, d. h. Menschen ohne Ansprüche an Recht und Frieden. Brachen die Grenzen, die wie Wälle gegen das Chaos derer aufgerichtet waren, die zu Recht und Frieden unfähig schienen, denen man es allenfalls mit „zivilisierender Gewalt“ hätte aufzwingen müssen: Brachen diese Grenzen, so kehrte der Krieg zurück in die Mitte der Gesellschaft.

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In diesen Kontext gehört auch die Durchführung der Auspicien vor der Entscheidung, eine Schlacht zu schlagen. Bestimmte Zeichen, die rituell festgelegt sind, werden über den Ausgang der Schlacht befragt, also das Schicksal zur Gewissheit gezwungen oder zumindest der Versuch dazu gemacht. Wenn es, wie im antiken Bewusstsein, letztlich die dem Menschen verborgene Wirksamkeit göttlicher Mächte ist, die über die Menschendinge entscheidet, dann wird der Ring der Fatalität nur da gesprengt, wo es gelingt, sich in das Wissen dieser Mächte einzuschleichen oder sie durch Gebete, Anrufungen, Preisungen, Opfer für sich einzunehmen. Zugleich ist es psychologisch wichtig, den eigenen Kämpfern zu zeigen, dass man die numinose Welt, also jene eigentliche Realität, in der die tatsächlichen Entscheidungen fallen, mit der vielfach scheinhaften Menschenwelt in Verbindung gebracht hat: Die Kämpfer vertrauen auf den Beistand der Fortuna, sie sind sehend geworden und damit mutig. In der römischen Gesellschaft blieb Gewalt im Sinne der Selbstverteidigung bis zum Ende der Republik üblich und erlaubt, eine Gewalt, die von den sozialen Gruppen, Sippen- bzw. Klientelverbänden ausgeübt wurde, aus denen sich diese Gesellschaft aufbaute. Rechte werden dabei wesentlich als Besitzrechte aufgefasst, die nur durch die Fähigkeit zu ihrer Verteidigung, zur Gewalt, gesichert werden können: ein Prinzip, das für alle aristokratisch geordneten Gesellschaften gültig ist.9 Diese soziale Durchgängigkeit der Gewalt zeigt sich in der römischen Gesellschaft im Verhältnis zu den Familienangehörigen ebenso wie zu den Sklaven. Sie gründet den Zusammenhalt des eigenen Sippenverbandes ähnlich wie der Gewaltgebrauch nach außen den Zusammenhalt der res publica begründet. Die Schwäche der juristischen Gewalt im Inneren, die Abwesenheit einer effektiven Polizei bis zum Beginn der Kaiserzeit, gehört in diesen Zusammenhang einer grundsätzlichen, wenngleich begrenzten Gewaltfähigkeit der die Gesellschaft begründenden sozialen Verbände als Bedingung der republikanischen Freiheit. Gewalt erschien hier als etwas, das zum sozialen Dasein dazugehörte. Die Freude an Gladiatorenkämpfen gehört hierher und ebenso ihre Rechtfertigung, auf diese Weise könne in Friedenszeiten der kriegerische Charakter des Volkes erhalten bleiben, seine Bereitschaft zur Gewalt, seine Geringschätzung des Lebens. Stets waren es Fremde, die in diesen spectacula umgebracht wurden oder sich gegenseitig umbrachten, oft unbewaffnet gegen wilde Tiere getrieben. Die Gewalttätigkeit wurde zum Schauspiel, das die Massen begeisterte wie die Oberschicht, Gewalt als Schauspiel, Sterben als gierig beobachtetes Spektakel. Ein Mitleid, das sich auf den Menschen an sich gerichtet hätte, gab es nicht. Private Gewalt und staatliches Recht widersprachen einander nicht, sondern ergänzten sich, wenn etwa private Gewalt die schwache juristische dabei unterstützte, Übeltäter vor Gericht zu bringen bzw. bestimmte Strafen zu vollziehen, wenn sie durch ihre schiere Präsenz Übeltun abschreckte, wenn sie die Republik gegen jene verteidigte, die sich in ihr zu Tyrannen aufwerfen wollten.10 In der römischen Politik war daher stets ein Moment der Gewalt, geübt von der clientela eines großen Patrons, später zunehmend von bezahlten Banden, die von ehrgeizigen Politikern zur Einschüchterung ihrer Gegner benutzt worden sind. Auch die Entstehung wie Fortdauer der nach dem Senat wichtigsten politischen Institution, des Tribunats, war eng an Gewalt ge-

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bunden. Die Ordnung der römischen Republik entstand demnach aus der letztlichen Anerkennung ihrer übergeordneten Gewaltfähigkeit durch die sie konstituierenden, gleichfalls gewaltfähigen Gruppierungen. Aus diesem Zusammenwirken verschiedener „politischer“ Elemente ergab sich zugleich jenes Moment militärischer Schlagkraft, das die Heere der Antike auf lange Zeit nahezu unbesiegbar werden ließ. Der soldatische Kämpfer war Bürger, d. h. er kämpfte für eine politische Gemeinschaft, der er als Freier angehörte, an der er mit Rechten teilhatte. Er kämpfte als Teil eines Ganzen, wie er in der Bürgerstadt auch nur als Teil eines Ganzen zu existieren vermocht hatte. Der Zusammenhalt, die Abhängigkeit voneinander, bedingt durch Arbeitsteilung und Rücksichtnahme zwischen dicht zusammenlebenden Menschen, ließen früh ein Potential an Disziplin entstehen, das in Form geschlossener infanteristischer Einheiten auch militärisch nutzbar wurde. Tapferkeit zeigte sich hier vor allem als Disziplin, nicht als heroisches Verhalten individualisierter Kämpfer. Dass diese Taktik einer kompakten Infanterie, die ihre Wucht nicht durch hohe Mobilität, sondern aus ihrer Massenkonzentration bezog, auf eine Strategie der offenen Feldschlacht mit möglicher Vernichtung des Feindes zielte, ist offenkundig. Offenkundig ist ebenso, dass ohne das Element von Freiheit und Partizipation ein Bürgerheer auf Dauer nicht zu haben war. Der politisch-militärische Niedergang Roms wie die darauffolgende Ära des Mittelalters haben demnach mit einem Verschwinden des Bürgersoldaten zu tun, der sich nur noch in den neu entstehenden, freien Städten fand, in den Schweizer Haufen eine erste neue Organisation fand und mit der Französischen Revolution schließlich in die moderne Form des Massenheeres aus Wehrpflichtigen überleitete. Der Krieg reduziert alles auf Bedingungslosigkeit. Er schafft die Eindeutigkeit von Freund und Feind und sein einziges Kriterium ist der Sieg. Im Krieg war man den Göttern Roms nahe, suchte das Bündnis mit ihnen, fühlte sich im Sieg durch ihre Gnade gerechtfertigt. Die griechische Zweideutigkeit, die Nähe des Krieges zum Tragischen, der Gewalt zur Blindheit, wie sie sich in der Schilderung des Trojanischen Krieges offenbart, wo das Unheil nicht nur über die Besiegten kommt, sondern auch über die Sieger, fehlt dem Römer. Der Krieg ist männliche Bewährung für den politischen Aufstieg. Er bringt Ehre und Beute und den Abglanz göttlicher Zustimmung. Ein Mitgefühl für die Besiegten, für die Schrecken des Krieges, der Gewalt konnte hier nicht entstehen. Die Austilgung ganzer Städte und Völkerschaften, die massenweise Versklavung der Besiegten, grausame Strafen wie die Kreuzigung tausender aufständischer Sklaven entlang der Via Appia nach dem Aufstand des Spartakus, die Abschlachtung von Menschen als öffentlichem Schauspiel: Eine Blutspur zieht sich durch die römische Geschichte, ohne die sie nicht Universalgeschichte Europas hätte werden können, so wenig allerdings wie ohne jene zivilisatorische Kraft, die es immer wieder vermochte, der Gewalt Formen des Rechts abzugewinnen, ohne die soziale Dauer unmöglich ist.

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2. Gewalt im Mittelalter Kaum eine Religion hat ihr Ethos so sehr von der Gewaltlosigkeit abgeleitet und den Frieden unter den Menschen so sehr gerühmt wie das Christentum. Und doch ist seine Geschichte mit Gewalt und Krieg verflochten gewesen, solange sie der Herrschaft nahe war. Jesus, der dem Petrus das Schwert verbot und die geschlagene Verletzung heilte, der in der Bergpredigt die Friedfertigen „Söhne Gottes“ nannte und ohne Widerstand einen grausamen Tod erlitt, der Gekreuzigte, mit Dornen höhnisch Gekrönte, vereinte alle Gewalt, derer Menschen fähig waren, auf seinen gemarterten Leib. Das wurde zur Botschaft der Erlösung als Erlösung von der Gewalt, die mit dem Sündenfall unter die Menschen gekommen war und in deren Ausübung sie ihre Schuld unentwegt erneuerten. „Denn wer das Schwert nimmt“, wie es bei Matthäus heißt, „soll durch das Schwert umkommen“. Der Rückzug von der Gewalt, sei es als Kampf gegen den römischen Staat, wie ihn Juden als messianische Pflicht übten, sei es als Dienst im Staat, war damit vorgezeichnet. Der Rückzug als Warten auf die Wiederkehr Christi und das Ende der sündenverfallenen, gewalttätigen Welt brach jedoch mit der vom Staat erwarteten aktiven Teilnahme, vor allem an der militärischen Gewalt. Das Friedensgebot provozierte die Verfolgung durch den Staat und es wurde schwächer, je mehr das Christentum aus einer Randreligion von Randgruppen in die Mitte der Gesellschaft hineinwuchs, eine Gesellschaft, die sich mit der zunehmenden Bedrohung des Reiches von außen zu Recht in ihrem Dasein bedroht fühlte. Im Christentum, aus der Weltverneinung entstanden, gewann die Weltbejahung an Bedeutung. Die aber war die Bejahung der Gewalt. Mit dem Sieg Konstantins (324) verbindet sich die christliche Kirche mit dem Staat. Bei Augustinus wird daraus die Lehre von den zwei Reichen, in denen die Christen zu leben haben, dem der Gewalt und jenem des Friedens, bis denn Christus wiederkommt und alle Gewalt enden wird. Hier findet sich dann wieder die Vorstellung vom „gerechten Krieg“, in dem Unrecht durch Gewalt bestraft wird. Die „beiden Reiche“ beginnen ineinander überzugehen, nach außen durch den Heidenkrieg, nach innen durch das Prinzip des compelle intrare, des Zwangs, sich in der Kirche einzufügen, angewandt zuerst gegen antike Heiden, dann gegen christliche Ketzer. Schrittweise wird das Christentum Teil der Herrschaft und es organisiert sich selber herrschaftlich als hierarchische Kirche unter dem Bischof von Rom, als dogmatische Festlegung der Wahrheit gegen jene Häretiker, die allein mit Hilfe der politischen Herrschaft zum Schweigen gebracht werden können, durch Gewalt. Nach 380 war auf diese Weise ein Gefüge entstanden, in dem das Theologische die politische Autorität stützte und diese wiederum das Theologische in Dogmen fixierte und Abweichler liquidierte. Gewalt und Religion hatten wieder zueinander gefunden. Der Bruch, den Jesus gemacht hatte, war überwunden, institutionell zumindest in einer Kirche, die sich anschickte, Herrschaft zu werden, Gewalt zu üben. Und doch, da: wo sie ihren Ursprung zeigte, in ihren Heiligen, Demütigen vor allem, blieb die Botschaft Christi erhalten, die Botschaft des qualvoll Gekreuzigten, der nicht im Zeichen des Kreuzes siegte, sondern starb, und nur die Hoffnung zurückließ, die Hoffnung auf Frieden allen Menschen auf Erden, bald, wenn die Zeit er-

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füllt sei. Das Warten auf diese Endzeit bzw. die „das Fleisch“ bändigende Furcht davor wurde zur großen psychischen Kraft dieser Gesellschaft, die der physischen Gewalt entgegenwirkte, sie aber auch ekstatisch freisetzen konnte. Dass diese Zeit nicht kam, nicht in Jahrzehnten, nicht in Jahrhunderten, zerstörte die Hoffnung auf Frieden wie die Bereitschaft zur Gewaltlosigkeit und setzte Herrschaft und Gewalt an ihre Stelle, die wenigen allein ausgenommen, die das Kreuz als Leid anzunehmen bereit blieben und die eben dadurch ein göttliches Heil gewannen, das über sie in der Gesellschaft wirksam wurde. Die Kirche sammelte gewissermaßen den Leidensschatz ihrer Blutzeugen, die passiv, wehrlos gelitten hatten, um damit die Bluttaten abzugelten, die in ihrem Namen verübt worden waren, vergab symbolisch das unschuldig vergossene Blut der Märtyrer wie einen Ablass an die blutbefleckten Täter, die trotz ihres gerechten Tötens den Makel des Blutes an sich nicht losgeworden waren. Das christliche Mittelalter unterscheidet sich in seiner Gewaltsamkeit nicht von früheren Zeitaltern. Und diese Gewaltsamkeit ist im Grundsatz gesegnet, seit dem germanischen Königtum im 9. Jahrhundert neben dem Priestertum die Teilhabe am göttlichen Charisma zugewiesen wird. Die „christliche Gesellschaft“ war nun jene, in der die beiden „Reiche“ der Gewalt und des Friedens eins werden sollten. Das Ringen um die Vorherrschaft zwischen Kaiser und Papst im 11.–13. Jahrhundert ging daher um Herrschaft, nicht um die Wiederherstellung urchristlicher Gewaltlosigkeit und Herrschaftsaskese. Da der Grundsatz, wonach die Kirche kein Blut vergießen dürfe, so ausgelegt wurde, dass die Kleriker dies nicht dürften, konnte die Kirche dort, wo sie Herrschaft ausübte, durchaus Gewalt ausüben, formal zwar indirekt, durch Beauftragte, für die Betroffenen aber nicht weniger wirksam. Die geringere Gewaltfähigkeit der Päpste, nicht ihre christlich geforderte Gewaltaskese, entschied schließlich den Streit zugunsten der Fürsten, zugunsten der entstehenden Nationalstaaten. Gewaltfähig und durchaus gewalttätig in ihren Territorien, zur Gewalt aufrufend in den Predigten gegen die Ungläubigen blieb die christliche Kirche im Kreis der Gewalt. Die Vorstellung, dass der Krieg an sich von Übel sei, war der Unterscheidung „gerechter“ und „ungerechter“ Kriege gewichen und die ersten gerechten Kriege waren jene, die um des rechten Glaubens willen gefochten wurden. Zum pragmatischen Grund der Anpassung der Kirche an die politische Macht trat ein prinzipieller: Die Vorstellung eines absolut Bösen, Satans, als dualistischer Notwendigkeit zum absolut Guten, dem einen, einzigen Gott. Satan und Gott führen selbst Krieg und der Menschenkrieg wäre dann nur ein Widerschein dieses metaphysischen Krieges, so wie dieser ein Widerschein des Monotheismus ist, der nur einen Gott kennt und also nur das eine Böse. Blieben in der Antike die Götter viele und in ihrem Dasein von den Opfern, der Verehrung der Menschen abhängig, denen sie ähnlich schienen, so war der monotheistische Gott der absolut Andere, der in den Menschen sein Recht behauptete gegen jenen zweiten Anderen, welcher ihm dieses Recht streitig machte und mit Verführung drohte, lockte. Die Menschheit als metaphysisches Schlachtfeld, mit der Apokalypse als Endkampf, die Getreuen Gottes gegen jene Satans: Das ist die Tiefendimension des christlichen Krieges, von der her die Gewalt der Christen erst ihre christliche Bedeutung erhält. Diese Metaphy-

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sik der Gewalt zeigt sich auch im Aufstieg der Hölle. Für die frühen Christen bestand das größte Schrecknis darin, am Jüngsten Tag nicht auferstehen zu können, als Strafe für ihre Sünden auf ewig tot bleiben zu müssen. Einer Hölle als Gewaltort bedurfte es erst, als mit dem Ausbleiben der die intensive Erwartung der den Menschentod überwindenden Wiederkehr Christi diese zähmende Erlösungsfurcht abnahm und das Christentum zugleich an Anhängern gewann. Aus der Sekte unbedingter Gläubiger wurde eine Kirche vieler, deren Hingebung nicht mehr vollständig war. Diese psychische Bedingungslosigkeit sollte nun durch eine Gewaltdrohung ersetzt werden, die den Körper selbst betraf, als Folter, die nie zu Ende ging. Die Höllenstrafen sind Körperstrafen, die verbrennen, zerstückeln, aufspießen, mit Satan als Herren eines Gewaltreichs, das souverän neben den beiden Reichen des Augustinus stand und in dem Gott keine Macht mehr besaß. Wer im Leben nicht bedingungslos Gott gehorchte, d. h. der Kirche, der verfiel im Nachleben ebenso bedingungslos dem Teufel, d. h. der ewigen Folter. Da die Kirche, zu der das Christentum sich entwickelte, je mehr es sich der Herrschaft näherte, meist nur indirekt, über die Verbindung mit den weltlichen Fürsten, gewaltfähig – und das heißt im vollen Sinne herrschaftsfähig – werden konnte, bot ihr die Hölle eine Gewalt des Dazwischen, die Furcht bzw. Gehorsam erzeugte durch die Drohung mit folternder Gewalt, bildhaft dargestellt an tausenden von Kirchenwänden und absolut glaubhaft in einer Gesellschaft, deren ganzes Weltverständnis religiös bestimmt war. Auf diese Weise entstand eine symbolische Gewaltfähigkeit von ungeheuerer Kraft, die über das Bewusstsein herrschte, ohne sogleich direkt gewalttätig sein zu müssen, wenngleich sie ohne das Eingreifen realer Gewalt auf Dauer wohl nicht hätte bestehen können, der Ketzerverfolgung als Warnzeichen vorweggenommener Höllengewalt auf Erden. Die Gerechtigkeit der nachirdischen höllischen Gewalt, seit etwa 600 kirchlich festgestellt, führt fort zur Gerechtigkeit der irdischen Gewalt. Seit Ende des 8. Jahrhunderts wird es üblich, vor Beginn einer Schlacht die Messe zu lesen und die Reliquien von Heiligen begleiten die Truppen. Soldatenheilige entstehen, so der heilige Michael, der heilige Georg. Die rasch zunehmende Gewalttätigkeit auch zwischen Christen führte dann nach der Jahrtausendwende zu einer ersten, religiös begründeten Ritualisierung und Begrenzung des Krieges. Streitigkeiten zwischen Christen sollten vor Gericht ausgetragen werden. Kirchen und Geistliche, aber auch Kaufleute und Bauern durften nicht angegriffen und die Lebensgrundlagen des Volkes, wie Mühlen, Weinberge, Rinder, nicht vernichtet werden. Zudem sollte an bestimmten religiös bedeutsamen Tagen, Sonntagen und Festtagen zuerst, dann der Advents-, der Fasten-, Oster- und Pfingstzeit, ein „Gottesfrieden“ gelten.11 Symbolisch bedeutsam ist auch, dass der christliche Krieger vor Beginn der Schlacht nach Messe und Gebet ein Stück Erde in den Mund nahm, als Gedanken an die Erde, die ihn schon bald bedecken könnte, Teil jener ars moriendi, von der die mittelalterliche Gesellschaft so tief erfüllt gewesen ist. Damit war ein erstes Regelwerk geschaffen, das zwar nie völlig beachtet wurde, aber auch nie völlig unbeachtet blieb und vor allem mit seiner Unterscheidung von Kämpfenden (Kombattanten) und Nicht-Kämpfenden ein Prinzip ausgedrückt hat, das wesentlich geworden ist für alle späteren Beschränkungen kriegerischer Gewalt. Doch der Gottesfriede galt nur für jene, die an den richtigen

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Gott glaubten. Dass der Krieg gegen die Ungläubigen zugleich die Gewalt zwischen den Gläubigen beseitigen, den Gottesfrieden stärken würde, war ein Gedanke, der für den Kreuzzug sprach. Der andere war jener einer Führung der Christenheit durch ein Papsttum, das den Krieg als „Gottes Willen“ predigte (1095). Der Gott der Christen war nun so gut ein Gott des Krieges wie andere Götter auch. Sieg oder Niederlage galten letztlich als Zeichen göttlichen Willens, was aber bedeutete, dass Gott im Krieg anwesend war, dass auch er die Gewalt regierte und nicht Satan oder Kain. Die Gewalt konnte Heilstat werden, so Bernhard von Clairvaux (1146/47), wenn sie denn um Christi Willen erfolgte. Die Heiden hatten Jerusalem erobert und die heiligen Stätten entehrt: Dass Gott sie nicht daran hinderte, habe damit zu tun, dass er den Gläubigen die rettende Möglichkeit zu einem Heilstun geben wolle.12 Wer im Kampf gegen die Muslime fiel, in Palästina wie in Spanien, wurde durch päpstliche Erlasse von allen Sünden freigesprochen, oft auch die Kampfteilnehmer. Das eroberte Land gehörte Christus bzw. seinem Stellvertreter, dem Papst, und wurde von ihm als Lehen weitervergeben. Für die Päpste eröffnete der „Heilige Krieg“ die Möglichkeit, unter Umgehung der weltlichen Herrscher, insbesondere des Kaisers, unmittelbar zum Krieg aufzurufen, d. h. direkt gewaltfähig und also herrschaftsfähig zu werden. Der erste Kreuzzug war denn auch ein Krieg von Papst und Kirche, nicht von weltlichen Herren. Die Kirche führte Krieg um des wahren Glaubens willen. Das bedeutete, dass sie Herrin dieses Krieges war, und dass die Vernichtung ihrer inneren Feinde, der Ketzer, gleichfalls einem Tun des „Heiligen Krieges“ entsprach. Für die Vernichtung der in Südfrankreich lebenden Albigenser stellte der Papst den Ablass der Sünden in Aussicht (1209). Der Tod Unschuldiger schien hinnehmbar, denn wo das menschliche Richten fehlen mochte, würde es das göttliche, unfehlbare Gericht ausgleichen: Gott werde die Seinen schon erkennen. Der Papst bestimmte den Feind und lieferte ihn als rechtlos jedem Gewalttäter aus, der bereit war, ihn zu vernichten. Damit war im Grunde die Trennung von Kirche und Königsherrschaft durchbrochen. Die Kreuzzüge wurden Teil des päpstlichen Griffs nach der Vorherrschaft im Abendland, nach der Vereinigung der „beiden Reiche“ in einer umgreifenden Respublica Christiana. Kurzfristig gescheitert, trugen sie doch längerfristig den Krieg in das Ethos der Gesellschaft zurück, aus dem ihn das frühe Christentum so entschieden hatte verbannen wollen. Aus dieser Ethisierung der Gewalt ging zugleich ihre Ritualisierung hervor, in der durch das Konzil von Poitiers (1000) angestoßenen Bewegung des Gottesfriedens einerseits, in der Moralisierung des „ritterlichen“ Kampfes andererseits. Bei den erobernden germanischen Stämmen der Völkerwanderungszeit galt der Krieg als Tugend der Männlichkeit und in den folgenden Jahrhunderten der Auseinandersetzung um feste Herrschaftsbereiche wie der Abwehr äußerer Feinde war er zur Selbstverständlichkeit herrschaftlichen Handelns geworden, den die Kirche im Prinzip anerkannte, den sie heiligte, wenn es ein Krieg gegen Heiden war. Damit wurde der Krieger zur zentralen sozialen Figur neben dem Priester. Er übte in dieser Gesellschaft nicht nur militärische, sondern auch politische Funktionen aus, als Herr seiner Untertanen wie als Diener höherer Herren. Die antike Trennung von Toga und Schwert war hier verschwunden. Wollte die Kir-

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che in der politischen Gesellschaft machtvoll vorhanden sein, musste sie dem entsprechen und sie tat es durch die Teilnahme an der Zeremonie, durch die ein junger Mann zum Ritter wurde. Dabei legte man das Schwert auf den Altar, ein Gebet wurde darüber gesprochen, in dem die künftige Gewaltsamkeit der Waffe vor Gott gerechtfertigt wurde: als Schutz der Schwachen, als Schrecken der Heiden, als Furcht der Verbrecher. Diese seit Mitte des zehnten Jahrhunderts übliche Zeremonie einer Sakralisierung der Gewalt fand mit den Kreuzzügen und der Entstehung von Ritterorden ihren Höhepunkt, in denen die eigentlich pazifistische, weltabgewandte Askese des Mönchs mit dem Bluthandwerk des Kriegers eine Verbindung einging. Priestertum und Kriegertum verschränken sich, gehen zuweilen ineinander über. Die Waffen des Ritters werden zu Symbolen eines heiligen Kampfes: so wie der Helm etwa das Haupt schützt, schützt er auch das Haupt der Christenheit, die Kirche, oder so, wie das Schwert mit zwei Schneiden trifft, so kämpft es für den weltlichen Herrn und Gott zugleich. In der Ritualisierung der Liebe im Minnesang, der Ritualisierung des Kampfes im Turnier, das sich erst durchsetzte, als ein Körperschutz durch Rüstungen möglich geworden war, vollendete sich dann die mittelalterliche Zähmung der Gewalt und der Gewalttäter. Wie nötig dies war und häufig wie erfolglos, zeigen die immer wieder ins Hemmungslose abgleitenden Grausamkeiten mittelalterlicher Kriege. Dass eine Stadt nicht auf Gnade hoffen durfte, wenn ihre Mauern gebrochen waren, galt in Antike wie Mittelalter als selbstverständlich. Zwar sollten Kirchen und Kleriker verschont bleiben, doch Fälle, in denen alle auffindbaren Bewohner einer eroberten Stadt erschlagen wurden, sind keineswegs selten. Auch werden Gehöfte niedergebrannt und Felder zerstört. Denn konnte man den Gegner nicht in seiner Befestigung angreifen, suchte man ihn durch Vernichtung seiner wirtschaftlichen Grundlagen zum Nachgeben zu zwingen. Es zeigte sich, dass auch das ritterliche Ethos wie die christliche Ethik unfähig blieben, bis in jene Bipolarität kriegerischer Gewalt vorzudringen, die ihr Wesen ausmacht, nämlich die Enthemmung des Tötens und die Gier nach Beute. Beides sind psychische Zustande sozialer Asozialität, denn sie geschehen zusammen mit anderen, und sie brechen zugleich die elementaren Regeln der Gesellschaft. Gerade für den mittelalterlichen Krieg war die kriegerische Gewalt auch eine Form der Bereicherung, vom Plündern der Erschlagenen und der Dörfer und Städte bis zu vornehmen Kriegsgefangenen, die Lösegeld zu zahlen hatten und damit die größte Chance besaßen, überhaupt gefangen genommen und nicht gleich erschlagen zu werden. Die Schlacht bildete dann folgerichtig jenen dies non, eine Art leerer Zeit jenseits der rechtlich und moralisch gefüllten Zeit des Lebens, in der die Gewalt ihr Wesen zeigte: die Minimierung von allem auf schiere Materialität. Wenn in den Rittern die Gewalt konzentriert war und diese verstreut auf ihren Lehensgütern lebten, so bestand stets die Gefahr, dass sie ihre Gewaltfähigkeit nicht nur für ihren Oberherrn, sondern zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen gebrauchen würden. Die im 13. Jahrhundert energisch geforderte Unterscheidung zwischen dem erlaubten Krieg der Fürsten und dem rechtswidrigen, „räuberischen“ Privatkrieg versuchte durch einen „Landfrieden“ die Sicherheit der „schwachen“ Untertanen gegen die „starken“, die Ritter-

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krieger, zu gewährleisten und zugleich diese in die Unterordnung zurückzudrängen. Die Fehde in ihrer ritualisierten Form der Aufkündigung des Friedens war die symbolische wie praktische Konsequenz der Aufteilung der Gewaltfähigkeit an die durch den Vorgang der Ritter-Erhebung zum Recht auf Gewalt befähigten Personen. Das feudale Grundrecht auf Gewalt zog den Einsatz von Gewalt zur Verteidigung oder Durchsetzung eigener Rechtsansprüche nach sich: Nicht der friedliche Appell an ein Gericht entschied, sondern der überlegene Einsatz von Gewalt. Erst gegen Ende des Mittelalters wird die Vorstellung gebrochen, die Gewalt sei eine Selbstverständlichkeit des sozialen Daseins. Das Verdrängen der Ritter durch dem Fürsten untergeordnete, bezahlte Söldner und Soldaten, in Verbindung mit der technischen Innovation anonym tötender Pulverwaffen, schuf dem Landfrieden seine materielle Basis und beseitigte die Fehde. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war dann im Reich wie in Frankreich oder England die Fehde rechtlich verboten worden und weitgehend verschwunden. Da diese, allen Geboten zum Schutz der „Schwachen“ zum Trotz, meist in den hörigen Bauern des Gegners die einfachsten Opfer fand, bedeutete die Vernichtung der Gewalt der Ritter, der Fehde, den wichtigsten Schritt zum Frieden. Ein herrschaftliches „Staatsgebiet“ entstand, eine große „Stadt“ sozusagen, innerhalb dessen Frieden herrschte und niemand mehr das Recht besaß, ihn zu brechen. Damit war der Weg in die Moderne gebahnt. Das Wesen des modernen Staates war die Entwaffnung aller Einwohner, ihre Nivellierung zu waffenlosen Untertanen. Herrschaft verabsolutierte sich durch die Monopolisierung der Gewalt, sie rationalisierte sich durch die Universalisierung des Friedens oder versuchte es zumindest. Im Feudalismus war das Waffentragen und damit die Berechtigung zur Gewalt das Recht aller freien Männer. Nicht alle waren frei. Den hörigen Bauern blieb das Waffentragen verboten und auch den Frauen. Das Recht auf Gewalt bildete das Zentrum der sozialen Rechtsstellung insgesamt. Je höher die Stellung in der sozialen Hierarchie, desto umfassender das Recht auf Gewalt, mit dem König als oberstem Gewalthaber, der aber noch kein Monopol darauf besaß. Die Hierarchie der Starken umfasste alle Waffenberechtigten, vom „Spießbürger“, der seine Stadt verteidigte, über den berufsmäßigen Gewalttäter, den ritterlichen Adel, bis zum Fürsten. Die Hierarchie der Schwachen umfasste die Waffenlosen, eben Bauern, Frauen, Kindern, die Armen, dazu die Kleriker, deren priesterliche Würde auf eine Ethik des Schwachseins abzielte. Die Rechtlosen, d. h. die Verbrecher, Räuber, hingegen waren dann jene, die bewaffnet gingen, ohne ein Recht darauf zu haben und die deshalb besonders hart bestraft wurden, nicht nur, weil sie raubten oder töteten, sondern weil sie gegen die Hierarchie der Gewalterlaubnis bzw. des Gewaltverbots verstießen. Unter diesen Umständen musste die Gewalt zu etwas werden, was zum Bestand des Daseins gehörte, weil seine Verfügbarkeit den Bestand der sozialen Hierarchie bis hin zur Pathetik des Rittertums bestimmte, weil ihre stete Wiederkehr sich in die Todeswellen von Hungersnot und Seuchen einfügte, weil sie dem Sturz des Menschen in das Reich Kains entsprach. Da Gewalt Herrschaft begründete, Territorien ausweitete, bildete sie auch das selbstverständliche Zentrum der mittelalterlichen Geschichtsschreibung: Sie formt die gesta temporum, von denen zu berichten allein sich lohnte.13 Die Spra-

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che des Krieges übergreift dabei das reine Waffengeschehen und symbolisiert sich als Sprache des religiösen Ringens gegen den eigenen Unglauben wie fremde Ungläubige. Über die Symbolik eines „Krieges“ gegen den Glaubenszweifel, dann gegen die Heiden, und das heißt in beiden Fällen: gegen die Anfechtungen des Satans, tritt die kriegerische Gewalt in den Kreis des Ethos, der sie so gut rechtfertigt wie begrenzt. Im Zeichen des Satans erscheinen dann Siege als Ausweis göttlicher Zuwendung und damit als doppelter Beweis für die Legitimität von Herrschaft. Die Gewaltüberlegenheit des Siegers ermöglicht erst praktisch seine fortdauernde Herrschaft, die göttliche Zustimmung überhöht sie ins Transpragmatische. Der Herrscher ist der Krieger und bis in die Gegenwart gehören die Zeichen militärischer Gewalt zu den Insignien der Herrschaft, von symbolischen Rüstungen, Schwertern, Feldherrnstäben, Uniformen bis zum Abnehmen von Paraden und dem Abschreiten von Ehrenkompanien. Als Gewalt zwischen „Herren“ hielt sich der mittelalterliche Krieg jedoch meist in jenen Grenzen, die Herren gegenüber ihresgleichen beachten. Die mittelalterliche Gesellschaft war eine arme Gesellschaft, mit einer wenig ertragreichen Landwirtschaft, eine Gesellschaft der wiederkehrenden Hungersnöte und des steten Hungerns, eine Gesellschaft, in der nur wenige genug, und sehr wenige im Überfluss zu essen hatten. In einer solchen Gesellschaft Krieg zu führen hieß, längere Kampfhandlungen möglichst zu vermeiden, und wenn Kriege dennoch lange, womöglich „hundert Jahre“ dauerten, so vor allem deshalb, weil sie als Kämpfe so kurz bleiben mussten, wollten die Heere nicht in einem ausgefressenen Land verhungern, in einem Land, das viel zu rasch ausgefressen war, weil die Erträge einer weitgehend auf Subsistenz ausgerichteten Landwirtschaft minimal blieben, kaum hinreichend, um das Überleben der Bevölkerung zu sichern und gänzlich ungenügend, um noch eine größere Zahl fremder Kämpfer zu versorgen. Der kurze Krieg braucht eine Ökonomie des Überschusses, an Nahrungsmitteln zuerst. Deshalb auch blieben die Heere meist klein, umfassten 1000–2000 Bewaffnete, und konnten nur für begrenzte Zeit im Feld gehalten, d. h. materiell unterhalten werden. Der Krieg zeigt die Gewaltfähigkeit der Herren und also ihre Fähigkeit zur Herrschaft, er zeigt im Appell an Gott die Gewalt als etwas göttlich Gesegnetes und also etwas mehr als nur Physisches, er zeigt im Streben nach Eroberung das Wesen von Herrschaft als Verfügung über Territorium und dessen Ausweitung. Die Herren mussten auch als Gefangene Herren bleiben, d. h. auch dann, wenn sie mit ihrer Gewaltfähigkeit die Bedingung ihres Herrenseins verloren hatten. Die „ritterliche“, d. h. herrenhafte Behandlung der besiegten Ritter durch die siegreichen hatte eine symbolische Dimension und nicht nur eine materielle, sie galt ebenso dem Erhalt des Herrenstatus an sich wie der Erpressung von Lösegeld. Die Herren schützten sich selbst, ihr Ehrenkodex demonstrierte ihr Herrensein vor den Untertanen, den Untergebenen, die kein Kodex schützte, allenfalls Rechtsregeln der Kirche, die sich als brüchig erwiesen vor der Festigkeit des Kodex. Die Eigentümlichkeit der legalen Gewalt im Mittelalter besteht im Paradox einer Religion, welche die Gewaltlosigkeit zum Kern hat, und einer von ihr gesegneten Praxis der Gewalttätigkeit. Nun gibt es Religionen, die durch ihre Vielgötterei die Gewalt mit bestimmten Göttern verbinden und anderen die Tätigkeiten des Friedens zuweisen, wie es

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etwa die Römer taten. Dann gibt es Religionen, die von einer fundamentalen Achtung des Lebens ausgehen, und die Gewaltwirklichkeit des sozialen Daseins durch eine strikte Trennung von Kasten oder durch den Rückzug in die Askese zu bewältigen suchen, wie die Religionen Indiens. Im Judentum, als Monotheismus, ist die Gewalt hingegen mit dem einen Gott verbunden, der sein auserwähltes Volk zur Gewalt berechtigt, etwa gegen die Amalekiter, oder es straft, indem er es der Gewalt anderer aussetzt. Im Islam verbindet sich die frühe Gründung aus der rächenden Gewalt gegen das abtrünnige Mekka und der Idee des Heiligen Krieges gegen die Ungläubigen mit bedingter Toleranz gegenüber den unterworfenen Religionen des Buches, Judentum und Christentum. Im Christentum selbst wird neben die Absolutheit des Gewaltverbots die Absolutheit einer gesegneten Gewalt gesetzt, die Gottes Willen tut, wobei die Kreuzzüge als das wesentliche Bindeglied wirken. Und auch im evangelischen Bekenntnis, das mit dem Katholizismus bricht, werden „Kriege um gemeinen Friedens willen“ für berechtigt gehalten (Augsburgisches Bekenntnis von 1530). Einzige Bedingung daneben ist nur, dass er „nach kaiserlichen und anderen üblichen Rechten“ geführt werde, d. h. das „ius in bellum“ eingehalten wird. Immer aber geht es darum, dass das Wesen von Religion der Schutz des Lebens vor dem Tode ist. Wo jedoch der Tod zur Ewigkeit geworden ist, zur finalen Absolutheit eines Menschseins, das nur noch materiell existiert, tut sich ein Bruch auf, der die Religion zu verschlingen droht.

3. Entstehung der modernen Gewalt Der grundlegende Gedanke der modernen Welt besteht in der Überzeugung, dass der Mensch nichts anderes sei als ein materielles Funktionsgefüge und also auch die Gesellschaft ein solches Gefüge sei, getrieben von bestimmten materiellen Impulsen, die bestimmten Ablaufmustern folgten. Dies alles könne durch Vernunft erkannt und also instrumentalisiert werden. Die neue Materialität dieses Verständnisses von Mensch und Gesellschaft realisierte sich im Umgang mit der Gewalt über den Mechanismus der Bezahlung, d. h. im Aufstieg des Söldners, der für Geld totschlug. Damit war es zum einen möglich geworden, Gewalt als rationales Handeln aufzufassen, als eine Art Werkzeug der Politik, ähnlich einem Werkzeug in der technischen Herstellung von Gütern. Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes stehen dann für die beiden Konsequenzen dieser Möglichkeit, nämlich Gewalt rational kalkulierend zur Gewinnung persönlicher Macht einzusetzen oder sie im „Staat“ zu konzentrieren und diesen damit recht eigentlich zu begründen, wie ihm zugleich eine neue, pragmatische Legitimation in der Wahrung des Friedens zu verschaffen. Damit war die Abkehr von jeder transzendenten bzw. religiösen Begründung von Herrschaft vollzogen, und die Vorstellung zweier, ineinander verschobener und doch getrennter „Reiche“ abgetan. Es gab nur ein Reich, das weltliche, das ganz menschlich war und ganz materiell. Wenn es überhaupt etwas gab, aus dem die Gewalt „an sich“ ableitbar schien, dann war es der religiöse Wahn, d. h. die Überzeugung, das Theologische habe im Raum des Politischen eine entscheidende Bedeutung. Im Gegenteil,

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so die politischen Rationalisten der entstehenden Moderne, es besaß dort überhaupt keine Bedeutung, es war schlichtweg verderblich. Das Theologische wurde in den gleichfalls neu entstehenden Bereich des Privaten verwiesen, des Intimen, Individuellen, des vom Öffentlichen abgegrenzten Lebensbereiches. Dort sollte jeder für sich tun und denken können, was ihm beliebte. Wurde das Theologische in die Öffentlichkeit getragen und drohte es in religiösen Wahn und religiöse Gewalt umzuschlagen, musste der Staat dagegen angehen, aber nicht, weil er die rechte Theologie besaß, nur, weil er der Gewalt unter Bürgern wehren wollte. In die Seelen der Untertanen solle der Staat „keine Fenster“ machen: äußere Konformität genüge, so die englische Königin Elisabeth I., die sich um den Frieden sorgte, nicht um die Rechtgläubigkeit. Damit war das Mittelalter dahin, in dem der Glauben das Bindeglied gebildet hatte zwischen den beiden Reichen und damit zugleich Voraussetzung gewesen war für die gute Ordnung der Gesellschaft als einer Gesellschaft unter Gott. Mit dieser Enttheologisierung des Politischen einher ging jedoch ein großer Verlust. Dann die Fähigkeit zur Transzendenz wie das Bedürfnis danach ist für das erfüllte menschliche Leben wesentlich. Ein Mensch, der sein materielles Dasein nicht zu übergreifen vermag, ist geistig tot. Das Theologische, dessen Essenz in dieser Transzendenz besteht, lässt sich nicht stillstellen. Will man es unterdrücken, muss man Gewalt anwenden. Wird es hingegen machtvoll in der Öffentlichkeit, so wird es nach der Herrschaft zu greifen suchen, weil ihm die Vorstellung einer nur „materiellen“ Politik abstoßend sein muss. Damit wird es möglich, Gewalt als Heils-Handeln aufzufassen, nunmehr modern als rationale Herstellbarkeit des Paradieses. Dabei spannt sich der Bogen vom Millenarismus bzw. der aktiven Herbeiführung des Tausendjährigen Reiches bis zur Utopie bzw. dem rational konstruierten, durch Vernunft legitimierten Bild einer „guten“ Gesellschaft, die der guten, von historischen Verstümmelungen befreiten Natur des Menschen entspricht. Wo Utopie und Millenarismus sich treffen, entsteht die Ideologie als materialistische Transformation von Religion hin zur Selbstanbetung des Menschen, doch unter Ausscheidung jener, die dabei stören. Die rein materielle Auffassung von Mensch und Gesellschaft und deren Rekonstruktion durch Vernunft bilden demnach die eine Bruchlinie zur Moderne, mitsamt ihrer Konsequenz einer rationalen Gewalt. Eine zweite Bruchlinie wäre dann die der institutionellen Konzentrierung der Gewalt nach Beseitigung des mittelalterlichen Fehde-Wesens. Das neuzeitliche Verständnis politischer Gewalt trennt zwischen dem Land, in dessen Inneren Friede herrschen soll, weil nur noch einer legitim gewaltfähig ist: der Fürst, und nicht mehrere, und den souveränen Staaten, die alle legitim gewaltfähig sind und die ihre Konflikte als Diplomatie oder als Krieg austragen. Daher gilt der Bürgerkrieg, der Krieg im Land, als Katastrophe, der Staatenkrieg hingegen als Normalität. Die Ausübung von Gewalt sah sich stets zur Rechtfertigung gezwungen, weil ein Handeln, welches derart radikal in das schiere menschliche Leben eingreift, dem sozialen Bewusstsein über Zeichen: Symbole, Sprache vermittelt werden muss. Neu ist aber die Herstellung einer Beziehung zwischen Gewalt und Vernunft. Die erste solch rationale Konstruktion der Gewalt stammt von Niccolò Machiavelli. Herrschaft wird auf Gewaltverfügung zurückgeführt

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und jede andere Art der Begründung durch Formen der Legitimierung, d. h. von Autorität jenseits der Gewalt, wird beiseitegeschoben, sei es der Legitimierung durch Erbfolge, Tradition und Religion, wie sie in diesem Dreiklang für die Monarchie des entstehenden Absolutismus in Anspruch genommen worden ist. Das Problem des Absolutismus bestand im Erhalt der Herrschaft und damit auch des inneren Friedens, das Problem Machiavellis hingegen war das, was Herrschaft entstehen lässt. Sein Wille, die Phänomene „kalt“ anzuschauen, d. h. die Wirklichkeit vor die Moral zu stellen und Moral als Phrase der Macht aufzufassen, vollzieht den Bruch der Moderne bedingungslos, setzt Modernität als Bedingungslosigkeit. Es gibt keine Schranken mehr, nur noch die Frage, wer über die überlegene Gewalt verfügt, und diese Überlegenheit ist noch mehr ein Ergebnis der Rücksichtslosigkeit, sie zu gebrauchen, als einer schieren Quantität der Mittel. Der Erfahrungsraum, aus dem Machiavelli seine Auffassungen gewinnt, ist das zunehmende politische Chaos der italienischen Renaissance. Das in vielerlei Stadtrepubliken zerfallene Italien lebte in einem Zustand fast ständigen Krieges. Das Papsttum selbst war Gewalt geworden, gipfelnd in Alexander VI. und seinem Sohn Caesare Borgia. Franzosen, Spanier, Deutsche durchzogen das Land. Mit der Plünderung Roms (1527) durch katholische Söldner wurde dann die Vorstellung einer Herrschaft, in der das Theologische eine eigenständige begründende Kraft besaß, auch symbolisch gebrochen. Das Theologische wurde Teil der Staatsraison, und wo es dagegen reagierte, vereinigte es sich mit der Gewalt, wurde Religionskrieg oder revolutionärer Millenarismus. Wenn nun das Wesen einer rationalen Politik darin besteht, die Gewalt der Rationalität zu unterwerfen, ist damit zum einen das Theologische als das Irrationale auszuschließen, zum anderen das Rationale als Wille zu fassen, die eigene Verfügung über Gewalt überlegt zu festigen und zu erweitern. Es ist der Wille eines Einzelnen, Macht zu erwerben und zu erhalten, als starkes Handeln gegen die fortuna, das unberechenbare, zukünftige Geschehen, von dem Machiavelli dennoch glaubt, es sei „wie ein Weib“, das sich letztlich dem Starken füge, d. h. der Gewalt. Herrschaft ordnet Gesellschaft durch Gewalt und die Furcht davor, weil die Menschen selbst durch nichts anderes in ihrer Natur geordnet werden können, die durch Eigensucht, Rücksichtslosigkeit und Feigheit gekennzeichnet ist. So bewegt sich alles im Kreis, alle Politik, alle Geschichte. Die Gewalt und der sie ordnende, rationalisierende Wille eines Herrschenden ordnen die Gesellschaft. Wo dieser verlischt, fällt die Gewalt in das Massenchaos zurück. Sie wird chaotische Gewalt, bis wiederum ein willensstarker Neuordner sie an sich reißt. Machiavelli blickt auf ihn wie ein kalter Gott. Selbst die Macht zu erringen war er zu schwach, so sehr sie ihm wahre Lüsternheit seiner Existenz blieb. Mit den Mächtigen teilte er die Einsamkeit, den stets wachen Blick des Fuchses, die Furcht vor dem Wolf, d. h. einer Gewalttätigkeit, vor der die eigene Gewalttätigkeit versagte. Allein die Sexualität vermochte als triebhafte Illusion die Einsamkeit für Momente zu brechen. Die Einsamkeit ist der Preis der Gewalt wie der des kalten Gedankens, der vor der Gewalt nicht zurückschreckt. Die Konsequenz dieses Gedankens führt Machiavelli in den erlauchten Kreis der Hölle. Vor seinem Tod träumte er, zwei Scharen von Toten begegnet zu sein, nämlich den Seligen auf dem Weg zum Paradies, stumpfen und elend aussehenden Menschen, und

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den Verdammten auf dem Weg in die Hölle, würdigen Männern der Antike, Philosophen und Tätern. Auf die Frage, wem er folgen möchte, habe er ohne Zögern sich für die Hölle entschieden. Diese Rede ist religiös nicht zu verstehen. Es ist eine Rede der Moderne, gerichtet auch gegen jene und jenen, der bereits im Diesseits nicht nur sich, sondern die ganze Gesellschaft auf den Marsch in die Seligkeit zwingen will: Girolamo Savonarola lässt die Menschen, die göttlichen Gebote vor Augen, im Wissen um ihre Schwachheit, Verderbtheit zittern. Vor der Absolutheit der göttlichen Forderung verfällt der Mensch in Angst und mit ihr herrscht dieser „Prophet ohne Waffen“ über die Florentiner. Damit entsteht aus der pragmatischen Scheidung von Freunden und Gegnern eine ontologische: Wer sich nicht bekennend unterwirft, ist ein Verworfener Gottes. Diese Herrschaft einer absoluten Moral, errichtet aus der ekstatischen Furcht vor dem reinen Propheten, hätte nur dauern können, wenn sie sich bewaffnet hätte, wenn aus der ekstatischen Gewalt des Mobs eine bewaffnete Gewalt geordneter Herrschaft geworden wäre, wie der Sekretär einer solchen Herrschaft, Machiavelli, es genau erkennt. Keine Herrschaft über das Bewusstsein kann dauerhaft werden, wenn sie sich nicht kausal mit der physischen Gewalt verbindet, denn stets gibt es jene, deren Bewusstsein nicht kontrolliert werden kann, aber deren Körper zu kontrollieren sind, durch Schmerz, Verletzung, Tod. Savonarola, in seinem Bündnis mit Gott, hat das nicht begriffen. Jene, die bewaffnet sind, verbrennen ihn (1498). Machiavelli hat längst verstanden. Keiner verbrennt ihn. Machiavellis Menschenbild ist gewaltbezogen. Der Frieden als Wert an sich existiert hier nicht. Der Mensch bleibt, was er ist und immer war. Eine Erlösung gibt es nicht, so wenig wie deren säkulare Fortschreibung als Fortschritt. Es gibt auch keinen Begriff des Leidens, keinen Gedanken des Mit-Leids. Das Kruzifix, zum Herrschaftszeichen geworden, rührt an kein Existentielles mehr. So gibt es auch kein Erschrecken vor der Gewalt, kein Bewusstsein des Tragischen, keine Scheidung von Gutem und Bösem, allerdings auch keine „gute“ Gewalt, keinen Kreuzzug, keinen gerechten Krieg. Krieg ist Krieg, Gewalt ist Gewalt, nichts anderes, nichts Moralisches, nichts Unmoralisches. Es ist schlichtweg das Grundphänomen menschlichen Zusammenlebens überhaupt, aber mit beobachtbaren Regelhaftigkeiten, deren Beachtung wesentlich ist für den Erfolg im Streben nach Herrschaft. Menschliche Vernunft erschöpft sich demnach in der Beobachtung von Wirklichkeit und deren Verallgemeinerung zu brauchbaren Regeln. Das ist zugleich der Ansatz der entstehenden Naturwissenschaft, die ihr Ziel in der Technik findet. Beide sind materialistisch; die Wissenschaft vom Menschen sucht diesen vom Tier her zu begreifen und deutet seinen Verstand als Ergebnis einer materiellen Entwicklung, versteht also auch die jeweils ablaufenden Denkvorgänge als Produkt materieller Prozesse. Diese bei den französischen Materialisten um die Mitte des 18. Jahrhunderts radikalisierte Auffassung des Menschen als Natur und nichts weiter vollendet den Bruch mit dem religiös geprägten Mittelalter. In ihr ist der Mensch sein Leib, dem nichts mehr entgegensteht als die Furcht vor dessen innerer Verletzung durch Krankheit und Hunger, vor dessen äußeren Verletzung durch die Gewalt. Wenn Gott als das metaphysisch Absolute weggedacht ist, bleibt nur noch das Leben als das physisch Relative, zu dessen einziger Absolutheit die Gewalt

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wird als das, was das Leben der Einzelnen überdauert. Die kommunikative Regelung sozialen Handelns erfolgt durch wertende Begriffe bzw. Moral, die selbst relativ werden, wenn ein sie begründendes Absolutes fehlt bzw. die sich an den Gewaltverhältnissen der Gesellschaft ausrichten. Ein Merkmal der hier sich zeigenden modernen Gewalt wäre es dann, die Moral von der Gewalt abzuleiten, ohne den Umweg über eine Begründung vom metaphysisch Absoluten her. Das Tragische als Versagen des individuell-relativen Menschen vor dem Absoluten eines göttlichen Gebots verschwindet. Das Relative scheitert im Relativen und nur die Gewalt bleibt ewig.

4. Exkurs: Das Recht als Gewalt Die Gewalt ist etwas ebenso Elementares wie Archaisches: Sie ist elementar, insofern sie eine Möglichkeit des menschlichen Körpers ausdrückt, und sie ist archaisch, insofern wir sie in den frühesten Gesellschaften finden, zu denen Menschen sich verbunden haben. Neben die Gewalt des Jägers und die Verteidigung gegen Raubtiere tritt schon früh die Gewalt innerhalb der Gruppe und deren Befriedung durch die sühnende Wiederherstellung des Friedens. Das Opfer, im religiösen Ritual vollzogen, hat hier seinen sozialen Ort. Mit der Verfestigung der Gemeinschaften zu politischen Ordnungsgefügen bildete sich die Rache zur Strafe fort. Bemerkenswert ist, dass die Gewalt in ihrem Äußersten, dem Töten, im Menschen an einen Schrecken rührte, den er dadurch abzuwehren suchte, dass er das rächende Töten anonymisierte, vom Anbinden des Übeltäters an einen speziellen Unglücksbaum, dem Herabstürzen von einem steilen Felsen bis zur Kreuzigung14 oder, in einem langen Bogen, bis zur Mechanisierung des Tötens mit Guillotine oder elektrischem Stuhl. Auch der Schierlingsbecher gehört hierher. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war das Ertränken eine häufig gewählte Art der Hinrichtung, ähnlich dem Verbrennen, zwei Tötungsarten, die vor allem gegen Ketzer und Hexen angewandt worden sind, aber auch gegen Homosexuelle. Wichtig war die Zerstörung der Leiche, ihr Versenken im Wasser, ihr Verbrennen. Hatte man früher, wie bei den Juden, den Anblick des Hingerichteten vor den Augen Gottes verbergen wollen, oder, wie bei Völkern mit starkem Ahnenglauben, die Rückkehr der Rachegeister dieser Menschen verhindern, so bezeichnete nun das Zerstören einer Leiche die Zerstörung einer Auferstehung am Jüngsten Tag. Diese Finalität des Todes, zweifach gesetzt durch die Vernichtung des Lebens im Leib und der Leibeshülle, blieb auch im nachchristlichen Zeitalter erhalten, von der Zerstörung Guillotinierter in ihren Leichen durch ungelöschten Kalk bis zum Verbrennen vergaster Juden. Kaum sonstwo ist die Gewalt so sehr Exzess als da, wo sie sich als Strafe ausgibt, und in dieser exzessiven Gewalt zeigt sich eine große Kontinuität der Formen und Begründungen von der Antike bis ins 18. Jahrhundert, ehe die Rationalität schließlich auch die Gewaltsamkeit der Rechtsdurchsetzung erfasst und verändert. Der Exzess der strafenden Gewalt zeigte sich demnach nicht einfach im schieren Töten, sondern im radikalen Zugriff auf den Körper. Die Folter als Mittel zur Abpressung eines

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Geständnisses geschah zwar noch in einem abgegrenzten Verließ, doch die Ausführung der Strafen war öffentlich, erfolgte allerdings außerhalb des Friedensraums der Stadt, vor den Stadtmauern. Während das Verhör, die Folter in den Arkanbereich der Herrschaft gehörte, zeigte die Öffentlichkeit der Hinrichtung allen, dass die herrschaftliche Stellvertretung der Rache ausgeübt worden war, und sie zeigte zugleich die Wahrheit von Anklage und Urteil durch dessen demonstrativen Vollzug. Sie war eine Schauveranstaltung, die weniger den ihr offiziell zugewiesenen Zweck der Abschreckung erfüllte, vielmehr jene Lüsternheit befriedigte, welche die Grausamkeit in vielen Menschen wachruft und befriedigt. Von den Strafen: Verbrennen, Köpfen, Hängen, Blenden, Pfählen, Auspeitschen, Handabhauen, Rädern, dem Aufschlitzen des Leibes mit Herausreißen des Herzens,15 gab es keine, deren Grausamkeit die Menschen vertrieben, statt sie angezogen hätte. Hinrichtungen aller Art glichen öffentlichen Festen, mit Musikanten und den Verkäufern von Speisen und Getränken, mit Tribünen für zahlende Zuschauer. In einer Gesellschaft, in der die Gefährdung des Körpers alltäglich blieb, vor allem durch Hunger und Hungersnot, durch Krankheiten, denen eine nahezu hilflose Medizin nicht wehren konnte, in der die Brutalität allgegenwärtig war, als Raub, Messerstecherei, Prügelei, mit den wiederkehrenden Einbrüchen von Krieg und Pest: In einer solchen Gesellschaft war ein Erschrecken vor jener Grausamkeit, wie sie im Namen des Rechts geübt wurde, nicht zu erwarten. Es war eine Gesellschaft, die sich im Antlitz des Gekreuzigten wiedererkannte, in der Präsenz von Gewalt und Schmerz, die andauern musste, solange die Kains-Welt andauerte. Es war eine Gesellschaft voller Furcht, besessen von dem Gedanken, in der Welt seien übernatürliche Kräfte wirksam, göttliche wie teuflische, die miteinander im Kampf stünden, und der Mensch sei ihr Schlachtfeld. Dass Satan sich in Menschen einnistete, die sich ihm ergaben, um sie Gott zu entziehen, und dass er durch diese von ihm verdorbenen Menschen Krieg gegen jene führe, die sich verweigerten, galt auch im 16. und 17. Jahrhundert als Tatsache, deren juristische Erfassung allerdings insofern schwierig blieb, als sie schwer nachzuweisen war. Gegen Satans Macht versagten die überkommenen Rechtsprozeduren zumeist, vor allem, da er im Geheimen operierte, wie die von ihm Besessenen auch. Das Aufspüren von Hexen war daher ebenso schwierig wie wichtig. In der „Jagd“ auf Hexen zeigt sich bereits das Muster ähnlicher weltanschaulicher Verfolgungen. Der verborgene Feind muss anhand weniger Zeichen entdeckt werden. Zunächst muss jeder unter Verdacht gestellt werden, um ihn dann auf wenige, andere abzuwälen. Denunziation ist Exkulpation, ist Vermeidung des Verdachts durch Beschuldigung anderer. Und weil die Denunziation im Großraum eines Absoluten erfolgt, als Verschwörung weniger im Bündnis mit Satan gegen Gott, diente sie nicht nur als sichernder Ausweis eigener Rechtschaffenheit vor der Gemeinschaft, sondern zugleich als Ausweis vor Gott selbst. Auf Seiten der Herrschaft, der geistlichen wie weltlichen, diente die Hexenjagd der Machtsicherung in Phasen sozialer Verwirrung und Hilflosigkeit. Seuchen und Hungersnöte als Folge schlechter Ernten bewirkten eine riesenhafte soziale Ohnmacht, die an der Vorstellung einer satanischen Verschwörung böser Menschen begrifflich gefasst und durch deren Vernichtung zumindest teilweise überwunden werden konnte.

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Erst mit dem Durchbruch des Rationalismus begann sich ein Wandel anzubahnen. Er lehnte den Exzess der Grausamkeit ab, den er mit jener „Alten Gesellschaft“ verband, die er beseitigen wollte. Die neue, revolutionäre Rechtssprechung konnte zwar noch weniger als die überkommene auf Gewalt und Tod verzichten, doch sie wollte diese rational gestalten. In der Tötungsmaschine des Doktors Guillotin fand sie ihr geeignetes Mittel: Alle wurden gleich getötet, es gab keine Unterschiede des Standes mehr zwischen dem ehrenhaften Schwert und dem unehrenhaften Galgen. Und es konnten viele schnell getötet werden, seriell, wo die Hinrichtung mit dem Schwert ein Einzelvorgang ist, eine handwerkliche „Kunst“, wo das Richtschwert schon nach jeder Hinrichtung unbrauchbar geworden war.16 Zur massenweisen Tötung, wie sie die revolutionäre Liquidierung möglicher und wirklicher Feinde erforderlich macht, ist die Methode des Ancien Régime ganz unbrauchbar, das Verbrecher wie Hochverräter noch einzeln beseitigen konnte. Die „Maschine“, diese emotionslose Vorrichtung zum schmerzlosen, seriellen Töten, eine Gleichheitsmaschine, die dem Tod kein Gefühl mehr entgegenbrachte, nicht Lust noch Leid, Sadismus oder Grauen, kein Zerstückeln der Leiber, kein Herausschneiden von Genitalien oder Herzen, war zugleich eine kühle Mechanik der Vernichtung gegen die lüsterne Wut des Mobs. Die Massen strömen zwar noch auf den Hinrichtungsplatz, doch die Serie lässt sie allmählich erkalten, sie werden satt, gelangweilt, steuerbar. Robespierre, der Blut und Tod hasste, pries sie als etwas Reines, weil völlig Kaltes, jedem Gefühl Entrücktes, und allein das Reine vermochte solches Töten zu rechtfertigen. Joseph Guillotin rühmte sie eben deshalb als humane Apparatur, eine Behauptung, die für das moderne Töten kennzeichnend geworden ist, für Maschinengewehre und Giftgas, Atombombe, die intelligenten Bomben des 21. Jahrhunderts mit ihren „Kollateralschäden“. Ihnen allen ist gemein, dass derjenige, welcher eine Maschine bedient, einen Hebel zieht oder einen Knopf drückt, völlig anonym handelt. Nicht mehr die Grausamkeit eines Gewaltaktes interessiert, sondern die Quantität, die sich in der Statistik ausdrückt. Diese technisch ermöglichte Anonymität und ihr Unbeteiligtsein sind für das moderne Töten grundlegend geworden, wobei sich erneut die kriegerische und die juristische Gewalt verbinden, wie in der Alten Gesellschaft auch, wo die Hieb- und Stichwaffen des Krieges den Leib des Feindes ähnlich treffen und zerstückeln sollten wie Henkerschwert, Strick oder Rad. Die Anonymisierung des juristischen Tötens ließ dann auch die Hinrichtung in das Innere des Gefängnisses wandern, obwohl noch 1889 das Reisebüro Cook eine Fahrt zur Teilnahme an einer Hinrichtung in Paris organisierte und die letzte öffentliche Exekution in Frankreich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg vor einer zahlreichen Zuschauerschaft stattgefunden hat. Doch bereits im 19. Jahrhundert wurde die Todesstrafe nur noch selten ausgesprochen und noch seltener vollstreckt und am Ende des 20. Jahrhunderts ist sie in Europa verschwunden. Denn wenn die Guillotine den einen Beginn der Modernität in der Strafgewalt bezeichnet, so kennzeichnet das Gefängnis, zusammen mit der Polizei-Organisation, den anderen. Die moderne Gewalt ist demnach wesentlich institutionelle, genormte Gewalt, „technisch“ entworfen wie eine Maschine „mit Zirkel und Lineal“. Ihr Ziel sind geregelte, störungsfreie Abläufe, sind soziale Funktionsgefüge, d. h. Disziplinstrukturen, wie

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sie für ein möglichst optimales Zusammenwirken immer vielfältigerer, aufeinander einwirkender Handlungsbereiche erforderlich sind. Ohne sie wäre die immer komplexer werdende moderne Industriegesellschaft nicht mehr funktionsfähig, mit ihrem hohen Grad an Arbeitsteilung, wechselseitiger Abhängigkeit, ihrer wachsenden Differenzierung sozialer Rollen, ihrer zunehmenden Zeitgenauigkeit. All das verliert an Bedeutung in bäuerlichen Gesellschaften mit geringer Mobilität und Arbeitsteilung, in der die kleinen Gemeinschaften die Regel sind und die Regeln durchsetzen. Dort ist die körperliche Gewalt unvermittelt und Gewohnheit, so wie in ihnen der Körper an sich das soziale Zentrum bildet, in der Muskelarbeit, dem Essen, Trinken, Verdauen, der Sexualität, der Schlägerei, der „Ehrengewalt“. In der Alten Gesellschaft waren Verbrechen und Gewalt endemisch gewesen, Gewalttätigkeit des täglichen Lebens, dem Gesinde wie den eigenen Kindern gegenüber, mit der steten Furcht vor Diebstahl oder Überfall, inmitten der Stadt wie bei Reisen über Land. Das Leben galt wenig, dem Gewalttäter wie einem Staat, der sich nur durch die Androhung von Strafen zu helfen wusste, die von kaum fassbarer Brutalität waren und durch die Bedrohung auch geringer Delikte mit dem Extrem der Todesstrafe. Der Henker erschien als Verteidiger der Gesellschaft, schon weil man kaum über andere Mittel der Verteidigung verfügte. Gefängnisse gab es nur selten und sie dienten meist der Einschließung von Angeklagten für den Prozess bzw. bis zur Vollstreckung des Urteils, sei es als Prügelstrafe oder als Exekution. Ein geordnetes Polizeiwesen existierte nicht. Auf dem flachen Land versuchte man durch berittenes Militär vor allem das Unwesen der Räuberbanden zu begrenzen, in den Städten sollten Nachtwächter und ehrenamtliche Wachpersonen für Sicherheit sorgen. Ansonsten hatten die Menschen sich selbst zu helfen. Man trug Degen und Pistolen bei sich, unternahm Reisen nur in Gruppen und blieb nachts zuhause. Kam es zu Aufläufen, so brach die öffentliche Sicherheit gänzlich zusammen und man rief nach den Soldaten. Immerhin begann in den absolutistischen Staaten, ausgehend von Frankreich im 18. Jahrhundert, die Aufstellung einer Berufspolizei, in den Städten wie von Landreitern auf den Straßen des flachen Landes, was allerdings in Großbritannien lange Zeit abgelehnt worden ist. Polizei und Freiheit schienen sich nicht zu vertragen. Ohne eine Polizei neuen Typs war aber an die wirksame Bekämpfung der Gewalttätigkeit nicht zu denken, sei es der endemischen, kriminellen wie der immer wieder epidemisch ausbrechenden sozialen. Mit dem Übergang in die Industrialisierungsphase jedoch nahmen Kriminalität wie soziale Gewalt noch zu. Denn die überkommenen Gefüge der sozialen Kontrolle verfielen, je mehr sich die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Untertanen und Herrschaft auflösten, je mehr Menschen in der Anonymität der rasch wachsenden Städte lebten, anstatt unter den wachsamen Augen von Nachbarschaft und lokaler Herrschaft im Dorf. Zugleich nahm durch das Bevölkerungswachstum die Zahl junger Leute stark zu und mit ihr die Gewaltbereitschaft. Der Staat antwortete darauf zunächst in der überkommenen Weise, mit einer Verschärfung seiner Gewalt- und Strafandrohung. Immer mehr Straftaten belegte man mit dem Extrem der Todesstrafe, ohne dass das Alter eine Rolle gespielt hätte.

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Dies galt insbesondere für Großbritannien. 1776 standen dort 160 Delikte unter Todesstrafe, bis 1819 kamen weitere 63 hinzu. Der freiheitlichste Staat Europas besaß die unerbittlichsten Strafgesetze, die allerdings immer weniger durchgesetzt wurden, einerseits, weil die Übeltäter nur ein geringes Risiko eingingen, gefasst zu werden, andererseits, weil sich in der Öffentlichkeit zunehmend Unbehagen regte, Menschen wegen verhältnismäßig geringer Vergehen, meist Eigentumsdelikten, das Leben zu nehmen. Eine sinkende Zahl von Exekutionen bei einer steigenden Zahl von mit Hinrichtung bedrohter Vergehen und einer steigenden tatsächlichen Kriminalität verwies auf eine Krise der britischen Rechtspflege. Erklärte etwa der Rechtsreformer Samuel Romilly (1786) den Bankrott eines auf extremer Abschreckung aufgebauten Rechtswesens, so behaupteten andere, allein „der Schrecken des Todes“ könne die Gesellschaft davor bewahren, von Verbrechern überwältigt zu werden. Das Verbrechen wurde hier gewissermaßen als in der Person des Verbrechers inkarniert gedacht, was bedeutete, dass es nur mit der Person selbst beseitigt werden konnte. Dem nun widersprach ein psychologischer Materialismus, der von der Erziehbarkeit aller Menschen ausging, d. h. von der aufklärerischen Maxime, wonach der Mensch in seiner „Natur“ durch die Gesellschaft geformt werde, also auch umformbar sei. Scharf gegen die religiöse Lehre vom sündhaften Menschen gerichtet, dem allenfalls göttliche Gnade helfen konnte, forderte dieser neue Psychologismus Institutionen der Umerziehung ein: Gefängnisse, in denen nicht mehr mit körperbezogener Gewalt bestraft werden sollte, vielmehr mit einer neuen Form von Gewalt: psychischer Gewalt, nach rationalen Gesichtspunkten instrumentalisiert. Die Strafe will stets das menschliche Bewusstsein besetzen, exemplarisch da, wo der Verbrecher stellvertretend für Rache und Furcht der Anderen vernichtet wird, individualisierend dort, wo der Verbrecher selbst in seinem Bewusstsein okkupiert werden soll. Dabei tritt das Motiv der Rache zurück, aus dem ursprünglich das ganze Recht und der ganze innergesellschaftliche Gewaltverzicht hervorgegangen ist. Das zeigt sich daran, dass man sich des Körpers nur deshalb bemächtigt, weil man ihn braucht, um das Bewusstsein zu instrumentieren. Die materialistische Vorstellung von der „Menschen-Maschine“, die alle Körpervorgänge zu einem technologischen Modell zusammenfasste, mündete in Anweisungen der Instrumentalisierung und Optimierung. Wo der Mensch allein materialistisch aufgefasst wurde, musste die Todesstrafe als bloße Vernichtung erscheinen. Und vernichtet wurde jenes elementare Eigentum, das Leben, zu dessen Schutz der Staat doch entstanden sei. Denn materialistisch gesehen ist der Körper das erste Eigentum, dessen Verwertung als Arbeit Gesellschaft erst begründet. Die Körperstrafe trifft hier das Erste wie das Letzte des Menschen, d. h. sein Eigentum und sein Leben. Jenseits davon ist nichts mehr vorhanden, anders als im religiösen Blick auf den Menschen, bei dem der Körper als Materielles hinfällig ist und der Sündhaftigkeit ausgesetzt. Die unsterbliche Seele hingegen verweist auf etwas jenseits der Materie. Religiös gesehen ist daher die Zerstörung des Lebens relativ, materialistisch ist sie absolut. Die Konsequenz, bei Jeremy Bentham (1790) klar ausgesprochen, war dann die Ablehnung der Todesstrafe. In einem Gefängnis neuer Art, dem Panopticon, einem „verglasten Eisenkäfig“ (Bentham), sollte der Häftling unter steter Kontrolle gehalten werden.

4. Exkurs: Das Recht als Gewalt

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Durch erzieherisches Instrumentieren seiner materiellen Leidenschaften bzw. seiner LustSuche und Leid-Vermeidung, hatte man ihm die sozial erwünschten Verhaltensweisen einzutrainieren, also eben nicht durch Körperstrafen, sondern psychisch durch zeitweise Isolation, Redeverbot, ständige Überwachung, rigide Disziplin. Eng mit dem neuen Gefängnis verbunden war die Polizei. Entsprach dem Prinzip des Gefängnisses die Umerziehung, so entsprach dem Prinzip der Polizei die Verhütung von Verbrechen. Verhütung hieß, das Risiko, gefasst zu werden, dramatisch zu erhöhen, anstatt bei maßloser Strafandrohung die Masse der Straftaten unbestraft zu lassen. Der schiere Körper trat als Angriffsfläche der Strafe ganz zurück, Psyche und psychische Gewalt wurden zentral. Mit der 1829 begonnenen Einführung einer Berufspolizei, die ganz bewusst unbewaffnet war (von einem Knüppel abgesehen) und dem Bau von Gefängnissen neuen Typs (ab 1821), in denen die Häftlinge in Einzelzellen untergebracht waren, statt angekettet in großen Gewölben und Kellern, setzte Großbritannien ein Beispiel „rationaler“ Rechtspflege, das in den folgenden Jahrzehnten zur Ordnung des modernen Rechtswesens geworden ist. Hatte die Gesellschaft ihren Frieden nach innen, und damit ihre Existenz überhaupt, wesentlich darauf gegründet, dass die Rache „vergesellschaftet“ wurde, also das Rächen eines Verbrechens vom privaten zum kollektiven Anliegen wurde, so suchte sie nun diesen Frieden dadurch zu erreichen, dass die Strafe „erzieherisch“ werden sollte, indem sie sowohl vorbeugende Drohung wurde wie nachvollziehende Veränderung kriminellen Verhaltens. Der atheistische Liberalismus glaubt jedoch nicht an das Ende der Gewalt, wie es der Extremismus der (Um)Erziehung tut, der atheistische Sozialismus etwa von Benthams extremem Nachfolger und Verleugner, Robert Owen, bei dem die Prävention in den totalen Mechanismus der Herstellung eines „neuen Menschen“ führt, der zu abweichendem Verhalten unfähig geworden ist, weil er die Totalität der sozialen Kontrolle verinnerlicht hat. Mit der Rationalisierung des Verhältnisses von Recht und Gewalt, also mit dem Versuch, die physische Gewalt allein dem Verbrechen zuzuweisen, dem Recht hingegen neue Formen der nicht körperlichen Strafe, entstand die Möglichkeit, aus einer Atmosphäre des Krieges herauszutreten, welchen die Gesellschaft mit den als abgesonderte Gruppe gesehenen Kriminellen führte. Der Straftäter blieb ein Mitglied der Gesellschaft, der zwar gegen sie gehandelt hatte, der aber prinzipiell wieder in sie zurückkehren konnte. Als sich jedoch die Erwartung, durch Polizeipräsenz und umerziehende Haftstrafe das Verbrechen minimieren zu können, nicht erfüllte, gewannen die älteren Vorstellungen einer unwandelbaren verbrecherischen „Natur“ gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder an Überzeugungskraft und mit ihnen die Todesstrafe, nun als Methode, „unerziehbar“ verbrecherische Personen endgültig aus der Gesellschaft zu entfernen. Dieser Ansatz, der stark an die Überzeugungskraft des in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einflussreichen eugenischen Arguments gebunden war, verlor allerdings danach an Bedeutung. Soziologische Überlegungen traten erneut nach vorne. So zeigte sich, dass kriminelle Gewalt zwar zum einen eng mit einer instabilen sozialen Umgebung verbunden ist, in der etwa intakte Familien mit „anwesenden Vätern“ weitgehend fehlen und in der Jugendliche früh mit

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I. Gewalt in der vormodernen Welt

physischer Gewalt in Berührung kommen. Zum anderen aber wirkte auch eine beschädigte physische Umwelt als Auslöser (broken-windows-Paradigma). Gewalt erwies sich als Milieu-Erscheinung, als nachahmende Erfahrung der Gewalt Anderer, die dort eskaliert, wo die physische Umwelt verwahrlost ist. Dies ist zugleich ein Hinweis auf die Frage nach dem Ursprung der Gewalt generell. Als kriminelle Gewalt ist sie Bereitschaft zum Schlagen, zum Zerstören, die sich aus der Sozialerfahrung bestimmter Personen ergibt, aber erst dann in Gewalttätigkeit eskaliert, wenn die – soziale wie physische – Umgebung nicht mehr normstabil ist, d. h. den Eindruck erweckt, auf normwidriges Verhalten werde nicht korrektiv reagiert. Damit gilt für die kriminelle wie für jede Gewalt, dass sie zwar in der Gesellschaft nie vollständig zu beseitigen ist, ihr Umfang jedoch davon abhängt, wie stabil die soziale Ordnung ist, d. h. inwieweit es ihr gelingt, Gewalt zu monopolieren, Verstöße zu bestrafen.

II. Gewalt in der modernen Welt 1. Revolution Die Schatten Kains Die erste Frage aller Politik ist immer die nach der Gewalt. Die erste Frage aller Religion ist immer die nach dem Frieden. Doch das Ziel der Politik ist der Friede. Hier, im Frieden der Gesellschaft, treffen sich Politik und Religion. Beiden ist gemeinsam, dass sie nicht von einer Ewigkeit des Friedens ausgehen. Für die Religion ist der ewige Friede nur jenseits der von Menschen gestalteten Gesellschaft und Geschichte möglich, also „jenseits von Kain“ und einer mit dem Brudermord in Gang gesetzten Geschichte, in einem Zustand, in welchem allein das Göttliche herrscht. Es ist ein Zustand jenseits der Freiheit. Zum Zustand der Freiheit gehört dann die Unabdingbarkeit der Gewalt, jedoch nicht ihre Allmacht. Zu ihm gehört folgerichtig die Sterblichkeit. Diese zerschlägt jede Art von Gesellschaft fortwährend in Einzelne und fügt sie fortwährend wieder zu einer sozialen Verbindung zusammen, weil die Menschen als Einzelne nicht zu überleben vermöchten, weil allein die soziale Verbindung „Sicherheit“ ermöglicht: Sicherheit vor Gewalt, Sicherheit als soziale Hilfe in Zeiten der Schwäche. Aus dem Wissen um die Sterblichkeit erwächst die Frage nach dem „Warum“, erwächst die Vorstellung der Unsterblichkeit, erwächst die Religion. Im Mythos von Kain und Abel verweist Abel auf die Möglichkeit der Liebe in der Welt, auf ein Gott gefälliges Leben, auf einen Weg zu Gott inmitten der Geschichte, der da endet, wo nur noch Gott ist und keine Geschichte. In dieser für das Christentum wesentlichen Vorstellung wird gesagt, dass in der geschichtlichen Welt unabwendbar Gewalt sein wird, aber dass es auch einen Weg der Gewaltlosigkeit gibt. Kain wird durch den erschlagenen Abel nicht besiegt, aber auch der Sieg Kains kann nie vollständig sein, weil im Zeichen des Erschlagenen das Göttliche präsent bleibt, präsent unter Menschen, also nur partiell, ehe es absolut wird und die Geschichte Kains durch die göttliche Liebe beseitigt werden wird: wann immer es Gott gefällt. Damit ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis des Göttlichen zum Geschichtlichen, und zwar ganz konkret im jeweiligen Leben der Menschen in ihrer Gesellschaft. Es gibt aber auch den Protest gegen eine Teilung des sozialen Lebens in die unvereinbaren Wege Kains und Abels und in die Unabsehbarkeit des göttlichen Heilsplans. Kurzum, es ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis des Politischen zum Theologischen, wobei das Theologische umso weiter vom Politischen entfernt sein wird, je mehr die Mitglieder einer Gesellschaft als Einzelne, je weniger sie als Kollektiv aufgefasst werden. In einer in allen Le-

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bensbereichen von der Religion durchdrungenen Gesellschaft wird in ihrer politischen Organisation die Autorität nicht ohne religiöse Legitimation entstehen können und Bestand haben. Im extremen Fall der Herrschaft des Papstes über Kirche und Kirchenstaat wären das Theologische und das Politische identisch, allerdings begrenzt auf ein Territorium und im Widerspruch zum Anspruch der Kirche, „die Welt“ umfassen zu wollen und zu einem „göttlichen Heil“ zu führen, das sich nur jenseits der Welt, durch die Wiederkehr Christi verwirklichen ließe. Die tatsächliche Identität von Politischem und Theologischem würde demnach bedeuten, dass das Politische ihm unterliegt. In der „Apokalypse“ des Johannes wird das beschrieben, als Zustand des „Tausendjährigen Reiches“, nach Armageddon, dem fürchterlichen Krieg gegen Babylon, dem gotteswidrigen Staat und dem ihm verbündeten Satan. Christus herrscht mit den ihm Getreuen für tausend Jahre, bis in einem Endkampf Satan auf ewig besiegt wird und Gott mit jenen Menschen, die das Endgericht überstanden haben, in einem neuen Jerusalem gemeinsam wohnen wird. Die Lasten des Sündenfalls und der Tat Kains sind dann für immer gelöscht, Gewalt, Tod, Tränen, Mühsal. Die Treulosen und Verdorbenen aber verbrennen im Feuersee. In der Apokalypse ist nur Gewalt. Das Blut der Erschlagenen strömt über die Welt und die Vögel fressen sich satt an ihrem Fleisch. Im Himmel aber ist Jubel über den Sieg des Lammes. Christus, dessen „Waffen“ Geißelsäule und Geißel, Staupbesen, Dornenkrone, Kreuz und Lanze die Schrecknis der erlittenen Gewalt symbolisieren, wird zum Kriegsherren, der mit Gewalt die Erde reinigt, bis nur noch die „Auserwählten und Getreuen“ übrig bleiben. Armageddon und Eschaton ergänzen sich in einem Denken, in dem das Theologische das Politische verschlungen hat. Die Zurückweisung einer politischen Eschatologie durch Augustinus, sein Bestehen auf dem unaufhebbaren Unterschied von civitas terrena und civitas Dei, von Politik bzw. Geschichte und Theologie bzw. Heilserwartung formuliert den zweiten Ansatz einer christlichen Deutung des Verhältnisses von Politischem und Theologischem. Der Gottesstaat ist von aller Geschichte uneinholbar und auch die Kirche vermag ihn nicht zu realisieren, allenfalls auf ihn zu verweisen. Der irdische Staat, das Reich Kains, steht für vanitas, Gewalt, Tod, Stolz, der göttliche für veritas, für Demut und Opferbereitschaft für den Weg Abels, der zu Gott führt. Der Christ, der den Weg Abels geht, bleibt so bewusst ein Fremder im Reiche Kains, im Staat, den er „wie eine Wüste“ durchquert auf seinem Weg zu Gott. Damit ist eine wahrhaft christliche Existenz eine unpolitische Existenz, sowohl da, wo sie sich für Armageddon rüstet, wie dort, wo sie sich auf die Pilgerreise hin zur „Stadt Gottes“ begibt. Beide Wege realisierten sich in der Reformation des 16. Jahrhunderts, als in einer Gesellschaft, deren Selbstverständigung noch ganz religiös geprägt war, plötzlich die Eindeutigkeit des Religiösen wegbrach und die das Bewusstsein von Wahr und Falsch, Gut und Böse regelnden Begriffe ins Ungefähre abglitten. Sie wurden interpretierbar, nahezu beliebig und die sie bis dahin autoritativ festlegende Institution, die Römische Kirche, war nicht in der Lage, sie mit Gewalt „richtig“stellen zu können. Die politische Herrschaft, die Fürsten, zögerte oder unterstützte diesen Vorgang, weil sie aus der Schwächung der Kirche eine Stärkung ihrer Macht erwartete und weil die „augustinische“ Auffassung des Staates, wie Luther sie vertrat, dieser Erwar-

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tung entgegen kam. Eine Verbindung der beiden „Reiche“ anerkennt er jedoch, und zwar als Gewalt für die Verteidigung des Glaubens: Wenn die Herrschaft das Christentum gegen die islamischen Türken verteidigt, tut sie das Werk Gottes. Als die Türken zum ersten Mal vor Wien stehen (1529) und die Eroberung des Abendlandes droht, sieht Luther die Apokalypse nahen, denn die Türken tun des Teufels Werk und ihre Bezwingung, als Bezwingung des Teufels, wird die Türe zum Jüngsten Tag aufstoßen. Im Kainsdrama des Krieges bricht die Erlösung durch, aber eben des großen Krieges gegen den ungläubigen Feind und nicht des revolutionären Aufstandes gegen den Fürsten des Landes. Für Luther ist in der bedingungslosen Unterwerfung Abels der Weg zur Gnade Gottes vorgezeichnet. Der Staat mit seiner sozialen Hierarchie gilt als das Ergebnis des fortwirkenden Sündenfalls, denn nur durch ihn und seine Drohung der Gewalt gibt es Ordnung in der Welt, d. h. werden jene, die sich Gott nicht in Demut unterwerfen, daran gehindert, vom Teufel geführt, die göttliche Schöpfung mit Gewalt zu zerstören. Die Herrschaft wird sich des Gehorsams der Gläubigen versichern, indem sie den wahren christlichen Glauben schützt, und sie wird sich den Gehorsam der Ungläubigen sichern, indem sie diese mit der Gewalt bedroht. Deshalb kann der Staat auch nicht nach dem Evangelium regiert werden, weil seine Friedensfunktion aus der Gewalt hervorgeht, die Heilsfunktion des geistlichen Regiments hingegen aus der emphatischen Gewaltlosigkeit. Folgerichtig bleibt jeder gewaltsame Widerstand selbst gegen eine unchristliche Obrigkeit verboten. Die mittelalterliche Einheit von Politik und Religion ist damit aufgelöst worden.1 Luthers erbitterte Absage an alle, die Evangelium und Gewalt verbinden, durch Gewalt das Reich Christi auf Erden erzwingen wollen, zeigt sich in seiner Wendung gegen die aufständischen Bauern und die religiösen Radikalen, aber auch gegen Zwingli und dessen Versuch, den Staat theokratisch zu deuten, Politik am Evangelium ausrichten zu wollen. Ging es bei den Bauern (1525) noch im Wesentlichen um die Beseitigung von Beschwerden, um Selbstverwaltung, Abgaben, Leibeigenschaft, die mit dem „guten, alten Recht“ begründet wurden, allerdings in der Berufung auf das Evangelium bereits einen transhistorischen Bezugspunkt vortrugen, so kam es mit der Verabsolutierung des Transhistorischen zum Ansatz einer „Revolution“ im moderneren Sinn, bei der eine völlig neue Gesellschaft und das Ende der Geschichte, der Beginn einer Neuen Zeit in den Blick genommen wurde. Hatte Luther auf die radikale Verchristlichung des jeweils einzelnen Lebens vor Gott abgehoben, so bildete das für Thomas Müntzer und die Täufer-Bewegung lediglich den ersten Schritt in der Herstellung des wahrhaft christlichen Daseins, dem ein zweiter folgen musste. Denn ein christliches Leben konnte für sie nur in einer christlichen Gesellschaft gelebt werden, die eschatologisch aufgefasst wird. Das Schicksal der Menschheit steht hier auf dem Spiel und der Sieg über das Böse.2 Apokalypse und Mystik bilden dabei ein psychisches Geflecht. Die Vorstellung vom notwendigen, gottgewollten Untergang der bestehenden, verdorbenen Gesellschaft und die Vorstellung des Einswerdens mit „der Wahrheit“, dem Göttlichen, münden in die egomanische Bedingungslosigkeit, in das Gefühl, gewissermaßen zum Werkzeug des Absoluten geworden zu sein. Im Tausendjährigen Reich löst sich dann die Einsamkeit der individuellen, mystischen Erfahrung zur Teilhabe aller

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II. Gewalt in der modernen Welt

an der Unmittelbarkeit des Göttlichen, das gewaltlos herrscht, stellvertretend durch die Reinen oder unmittelbar durch Jesus. Gewalt ist demnach an das Vorhandensein der Unreinen, Gottlosen gebunden: Sie behaupten sich mit ihr gegen Gott und die gottgefälligen Menschen, sie werden schließlich durch Gewalt vernichtet, die danach aufhört, vorhanden zu sein. Wo Luther durch die strikte Beschränkung auf die Heilige Schrift einen Bezugsrahmen für das Wissen von Gott zu erhalten sucht, sprengt ihn Müntzer durch die Behauptung einer unmittelbaren Erfahrung des Göttlichen, die sich beim Lesen der Bibel einstellen kann, aber auch ohne dieses erreichbar ist. Der „Geist Gottes“ führt die Menschen, in denen er wirkt, und er wendet sie gegen jene, in denen er nicht wirkt. Mit ihrer Erwählung ist die Welt nicht mehr das Reich Kains, sondern dieses Reich ist abgespalten vom entstehenden Reich des Heils der „auserwählten Freunde Gottes“, die „den Weizen vom Unkraut absondern“. Das Weltenende steht nahe bevor: Es gilt, die Herrschaft Gottes durch die radikale Verchristlichung der Gesellschaft vorzubereiten.3 Wer sich dagegenstellt, ist ein Feind Gottes, sei er nun Fürst, Kleriker oder einfacher Mann. Die den Fürsten von Gott gegebene Herrschaft ist an das Gebot gebunden, die Frommen zu schützen, die Ungläubigen zu bestrafen. Folgen die Fürsten diesem Gebot nicht, verlieren sie ihr göttliches Mandat und müssen mit Gewalt gestürzt werden, die dann laut Müntzers „Fürstenpredigt“ (1524) auch recht ist. Wie diese neue Gesellschaft beschaffen sein muss, bleibt unklar. Es sollte wohl eine Gemeinschaft Gleicher sein, in der alle brüderlich zusammenlebten und die Erträge ihrer Arbeit teilten. Der gewaltsame Anlauf zum Gottesreich scheiterte 1525, als Müntzer nach der verlorenen Schlacht von Frankenhausen hingerichtet wurde. Der von Gott auserwählte, reine Mensch vermochte es nicht, in einer Gesellschaft zu leben, in der viele, sehr viele unrein waren und, schlimmer noch, in der sie herrschten und die Gesellschaft insgesamt ins Unreine rückten. Der Versuch einer Gruppe von Täufern, in der Stadt Münster das „Neue Jerusalem“ aufzurichten (1534/35), um von dort die Welt „mit dem Schwert zu erneuern“,4 endete in einer terroristischen Despotie unter einem charismatischen Führer, Jan van Leiden, und schließlich der blutigen Eroberung der Stadt durch das Heer des Bischofs. Blieb die Religion als eine psychische Kraft, die Menschen zu kampfbereiten Verbänden zusammenschweißte, für Volksbewegungen bzw. Aufstände noch für zwei Jahrhunderte wichtig, bis zu den Konterrevolutionen bzw. der spanischen Guerrilla, so verlor sie bereits im 16. Jahrhundert an legitimatorischer Bedeutung für die Kriege der „Herren“ bzw. der entstehenden Staaten. Nur der Krieg gegen die Türken, d. h. die Feinde des Christentums insgesamt, wurde noch religiös gerechtfertigt, nicht aber die Kriege gegen die Protestanten bzw. der Protestanten gegen die Katholiken und den katholischen Kaiser. Der letzte innerchristliche Religionskrieg von Seiten des Reichs war gegen die Hussiten geführt worden (1419–36), ein Krieg, der bereits gegen eine Volkserhebung gerichtet war, die in Böhmen revolutionären Charakter angenommen hatte. Die Herrschaft, je mehr sie sich als „Staat“ zu fassen begann, verselbständigte das Politische und ordnete ihm das Religiöse unter. Dieser führte keine konfessionellen Kriege mehr. Das konfessionelle Moment blieb hingegen im Bürgerkrieg wesentlich, eben als Menschen zu Kampfverbänden

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organisierende Emotion. Auch wenn etwa der Schmalkaldische Krieg (1546–47) und der Dreißigjährige Krieg (1618–48) nicht zuletzt aus religiösen Gründen geführt worden sind, so waren es doch formell politische Gründe, wie Bruch des Friedens im Reich oder Aufstand gegen den König, die zur Begründung der kriegerischen Gewalt genannt wurden. Und dass in diesen Konflikten eine strikt konfessionelle Trennlinie ohnehin nicht einzuhalten war, verstärkte das politische Moment über die rhetorische Formel hinaus. Das Eingreifen Frankreichs in den Dreißigjährigen Krieg auf Seiten der Protestanten: eines erklärt katholischen Staates, geführt von einem Kardinal der Römischen Kirche, markiert endgültig das Ende der Religion als Kriegsgrund. Die jeweiligen Kirchen segneten nur noch die jeweiligen Waffen und rechtfertigten im Inneren die jeweilige Herrschaft. Wer nicht in der rechten Art beten wollte, musste das Land verlassen. Die Kirchen wurden zu den Bütteln der Herrschaft, verstärkten deren Autorität meta-politisch, ohne sie noch zu irgendetwas zu verpflichten. Die Herrschaft definierte Religion als verpflichtende Konfession und sie tat es mit Gewalt. Die Konfessionen beruhten seit der Reformation auf Gewalt, die katholische noch mehr als andere. Ohne die fürstliche Gewalt hätte der Katholizismus in Deutschland das 16. Jahrhundert kaum überlebt, wäre Frankreich keine katholische Nation geblieben. Die Einforderung des eigenen Gewissens wurde zum revolutionären Akt, der sich erst durchzusetzen vermochte, als das Metapolitische der Religion selbst säkular geworden war, d. h. Ideologie. Für die schließliche „Politisierung“ des Krieges ist die Unterwerfung der Religion unter die Politik deshalb bedeutsam geworden, weil nun das Bedingungslose des Konflikts, wie es bei einem wesentlich metaphysischen Feind unvermeidbar war, der Bedingtheit einer bewaffneten Auseinandersetzung wich, in der es nur um Physisches ging, um Territorium, Vorherrschaft, Kontributionen. Auf der „physischen“ Ebene konnte man sich einigen, auch über Religionsdinge, die als völlig politische Angelegenheiten ganz dem arcanum des Fürsten zugewiesen blieben. Die Repression im Inneren galt hier als Voraussetzung „politischer“ Kriege und Friedensschlüsse im Äußeren. Das publicum blieb ausgeschlossen und es reagierte, indem es das religiöse als ein ideologisches Motiv erneuerte.

Die Revolution der Heiligen Wenn Revolution auf die Zerstörung des Bestehenden zielt, dann ist sie ohne Gewalt nicht durchführbar. Soll diese Zerstörung vollständig sein, muss auch die Gewalt umfassend werden und sie wird kein Ende mehr finden, ehe sich die neue Herrschaft korrumpiert. Denn eine vollständige Zerstörung ist nur vor dem Traumbild einer Gesellschaft jenseits aller (bisherigen) Geschichte denkbar, vor dem Bild eines Neuen Jerusalem, in dem nur noch die Gerechten leben. Die Vernichtung der Ungerechten ist dafür unabdingbar, doch zeigt sich rasch, dass sie nie völlig gelingt, dass sie „immer unter uns“ bleiben und eben deshalb die Überwindung Kains unvollendet geblieben ist. In der eschatologischen Revolution tritt daher die rettende Gewalt der Entscheidungsschlacht neben die reinigende Ge-

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walt der neuen Gesellschaft, in der immer noch Unkraut gejätet werden muss. Es ist dies die Struktur jeder totalen Revolution, nur in der Sprache einer ganz von religiösem Bewusstsein durchzogenen Gesellschaft ausgedrückt. Damit erweisen sich die Aufstände Müntzers und der Täufer als „Revolutionen“ im modernen Sinn.5 Diese Revolutionen wollten gewissermaßen das Scheitern des theokratischen Anlaufs der Päpste zwischen dem späten elften und dem frühen 14. Jahrhundert rückgängig machen, nur eben jetzt im protestantischen, antipäpstlichen Sinn. Politische und religiöse Gemeinde, Sünde und Verbrechen sollten denselben Gesetzen unterworfen sein. Eine Begründung des Staates, des weltlichen Lebens jenseits der geoffenbarten Wahrheit durfte es hier nicht geben. Mit der allmählichen Auflösung der Absolutheit des religiösen Bewusstseins entstand dann die Möglichkeit einer neuen Deutung der Herrschaft, entstand die Möglichkeit einer eigenen „politischen“ Sprache und mit ihr die Entdeckung des „Politischen“ als einer Sphäre, die sich von allem Theologischen mit Entschiedenheit abzugrenzen suchte, beginnend mit Machiavelli, gipfelnd bei Thomas Hobbes. In seiner Zeit, den zwei Jahrzehnten der Englischen Revolution (1638–1660), explodierte das Religiöse im Bürgerkrieg und verschwand dann in der Ordnung des Politischen. Dessen zentrale Problematik bestand allerdings nicht nur in der Befriedung der wilden Gewalt im Staat, sondern ebenso in der Frage, wie sich das individuelle Gewissen zwischen Religion und staatlichem Recht als eigenständige Kraft zu behaupten vermöge. Konflikte werden infernalisch, wenn in ihnen um „Wahrheit“ gerungen wird, doch sie brechen erst aus, wenn Herrschaft und Besitz zur Disposition stehen.6 Den Konflikt von der Wahrheit auf den Besitz zurückgelenkt zu haben, um ihn dort zu befrieden, ist die große, Gewalt zähmende Leistung der Englischen Revolution. Von zwei Auseinandersetzungen nimmt sie ihren Ausgang, nämlich von der Frage, ob der König nach Belieben in das „Eigentum“ seiner Untertanen eingreifen darf, sowie davon, ob er das Recht hat, über ihr Gewissen zu verfügen. Dass sich beide Fragen schier unlösbar miteinander verbanden, trieb den Streit in die Gewalt. Nur wenn die Religion die Herrschaft stützte, besaß sie im „langen Mittelalter“ genug Autorität, um mit einem Mindestmaß an Gewalt zu regieren. Da aber mit der Glaubensspaltung jede kirchlich gesetzte Festlegung ihren Nimbus des Absoluten verloren hatte, bedrohte der Dissens über die religiöse „Wahrheit“ eine derart religiöse Legitimierung von Herrschaft und damit den inneren Frieden. Dieser Gegensatz war in England besonders ausgeprägt, wo sich eine radikalprotestantische Opposition entwickelt hatte, welche die Anglikanische Staatskirche zu „reinigen“ gedachte. Diese Kirche, von Heinrich VIII. als Instrument der königlichen Autorität geschaffen, im Namen des „Gewissens“ anzugreifen bedeutete daher, sowohl die Autorität des Monarchen in Zweifel zu ziehen wie zu behaupten, das individuelle Gewissen stehe nicht in der Verfügung der Herrschaft. Bedrohlich wurde die Auflehnung dieser Puritaner, als sich ihr Protest mit dem des Unterhauses gegen die Eingriffe der Krone in das Eigentum derer verbündete, die als Eigentümer das Unterhaus wählten. Das „Alte Recht“ der Steuerbewilligung verband sich mit dem religiösen Protest gegen die herrschaftssichernde Nutzung der Staatskirche: Erst in dieser Verbindung wurde der Konflikt gewalttätig und je mehr das Theolo-

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gische ins Zentrum des Streits rückte, desto gewalttätiger wurde er. Wenn es keinen Bischof mehr gebe, d. h. keine hierarchische Gehorsamsanordnung des Glaubens, dann könne es auch keinen König mehr geben, d. h. keine Ordnung der Gesellschaft durch Autorität: Diese Überzeugung bestimmte das Handeln Jakobs I., für sie bestieg sein Sohn Karl I. das Schafott (1649).7 Der Friede in der Gesellschaft konnte demnach nur dann aufrechterhalten werden, wenn es ein allgemeines Wertbewusstsein gab, dessen Stabilität durch die verbindliche Auslegung verbindlicher Texte gewährleistet wurde. Die Behauptung der Puritaner, Gott offenbare sich weiter, allerdings nur den von Gott erwählten „wahren Gläubigen“, relativierte die Schrift und brach jenen unbedingten Wort-Bezug, auf dem Luther seine Reformation gegründet und den die eschatologische Erhebung bereits Müntzers verworfen hatte. Wenn Gott aber mit seinen tätigen, geschichtswirksamen Offenbarungen, providences, weiter wirksam war, dann brach jede Schranke zwischen den Reichen Kains und Abels, dann wurden die wahren Gläubigen, lauschend auf die fortgehenden Offenbarungen, zu „Werkzeugen Gottes“, mit denen dieser seinen Willen durchsetzte. Die sozialen Normen wurden dabei weitgehend bedeutungslos, d. h. die Gruppe der wahren Gläubigen war durch sie bzw. die herrschaftliche Ordnung der Gesellschaft nicht mehr integrierbar. Der Erwählte trat in eine mystische Verbindung mit Gott und wenn er sich wieder der Gesellschaft zuwandte, erfuhr er sie als das radikal Andere, eben Nicht-Göttliche. Er war der Neue Mensch, sozusagen die Vorhut Gottes in einer Gesellschaft, die noch weitgehend in der Dunkelheit verharrte und in der die Verstockten, die Heuchler machtvoll waren. Sie zu bekämpfen hieß, ein Werk der Rettung für die Vielen zu vollziehen, sie aus der Dunkelheit zu führen, wenn nötig mit Gewalt, die damit rettende, göttlich gesegnete Gewalt wurde. Der Erwählte tat also nicht Kains Tat, sondern die Gottes. Und er erschlug jene, die dabei im Wege standen, die royalistischen Anglikaner, die Katholiken. Die „Wahrheit“ war in die Gesellschaft gekommen und mit ihr die Gewalt in ihrer radikalsten Form. In England, Schottland, Irland tobte der Krieg, am blutigsten in Irland, wo man nicht nur den Mitbürger erschlug, sondern im Iren die Hassgestalt des zweifachen Fremden, des ethnisch Anderen und des Ketzers. Die Eroberung der Stadt Drogheda im September 1649 ist eine Beispiel entfesselter Gewalt, die bewusst auf den Schrecken zielt, auf die Zerstörung des Willens, Widerstand zu leisten, auf einen traumatischen Effekt, mit dem man den Feind auf ein Stück Fleisch zu reduzieren sucht, das nur noch leben will.8 In Irland stürzte die Gewalt in jene Form der Bedingungslosigkeit, die sich da einstellt, wo das Theologische das Politische vernichtet hat. Eben dadurch, dass die puritanische Eroberung die katholischen Iren als Eigentümer zu beseitigen suchte, was weitgehend gelang, dass sie diese in einen Zustand von Heloten herabzudrücken suchte, die nichts anderes besaßen als ihre Arbeitskraft, welche sie um des Überlebens willen den neuen protestantischen Herren anbieten mussten: Eben dadurch wurde eine friedliche Lösung der „irischen Frage“ unmöglich. Wo ein Konflikt, sei er ethnisch, religiös, sozial, auf eine gemeinsame Teilhabe am Eigentum bezogen werden kann, wird er als Frieden lösbar. Wo diese Teilhabe fehlt, droht ein Absturz in nichts als Gewalt. Eigentum, Herrschaft

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und soziales Herrensein verbanden sich mit einer bestimmten Religion und ethnischen Zuschreibung und im Gegensatz dazu Armut, Unterwerfung, soziale Ausgrenzung mit einer anderen Religion und ethnischen Zugehörigkeit. Das Ergebnis war ein Dualismus von Gewalt und Gegengewalt über zweieinhalb Jahrhunderte irisch-englischer Geschichte hinweg, dessen mühsame Auflösung erst begann, als die katholischen Iren wieder partizipationsfähig wurden: als Staatsbürger und als Eigentümer, jenseits der Religion. Hatte es während der Englischen Revolution zunächst noch als möglich gegolten, dass König und Unterhaus sich auf der Basis des Eigentums, d. h. des Steuerbewilligungsrechts der Eigentümer, würden einigen können, so sprengte die religiöse Frage rasch jeden Kompromiss. „Politisch“ konnte man sich eben noch einigen, religiös nicht, denn die Religion brachte ein Moment der Bedingungslosigkeit in die Auseinandersetzung, das allein durch Gewalt lösbar schien. Mit Beginn des Bürgerkrieges gewannen die Radikalen auf Seiten des Parlaments rasch an Einfluss: weniger im Parlament, das an „Politik“ festzuhalten suchte, als im Heer, das sich zunehmend als Vollstrecker des göttlichen Willens verstand. In Oliver Cromwell besaß es zudem einen Führer, der aus Bedeutungslosigkeit aufgestiegen war und in dessen Charisma sich militärisches Genie mit der Gewissheit verband, durch sein Handeln Gottes Werk in der Geschichte zu vollziehen. Indem er sich Gott völlig unterwarf, verlor er jenes individuell schwankende „Gewissen“, das andere beunruhigen mochte, wenn sie Gewalt anwandten. Die Leerstelle dieses „Gewissens“, seine Ersetzung durch das Absolute, ließ ihn zu jenem Führer werden, dem seine Männer wie blind folgten, weil er alle ihre Gewissen auf sich nahm. Für ihn war Glaube Gewalt: Unterdrückung der Gläubigen, solange ihre Gegner regierten, Vernichtung der Ungläubigen, wenn die Zeit gekommen war. Der Krieg ist die Tätigkeit der Unbedingtheit.9 Denn wo gäbe es eine größere Eindeutigkeit von Freund und Feind als dort, wo man einander totschlägt. Für Cromwell galt die Gesinnung, die Bedingungslosigkeit des Eintretens für die „Sache“, als entscheidende Kraft des Sieges, nicht nur weil sie gottgesegnet war, sondern weil vor ihr alle Skrupel verschwanden. Doch als der Sieg schließlich erfochten war, zerfiel die Einheit der Sieger. Das Parlament, obwohl „gesäubert“ von den Anhängern des Königs wie den Kritikern des Heeres, suchte verzweifelt, die Kontinuität irgendwie zu erhalten, weil es nur durch die Wahrung des Politischen sich selbst zu erhalten vermochte. Die Radikalen, im Bund mit dem Heer, drängten es immer mehr zurück, erzwangen Königstötung und Republik, die Beseitigung des Oberhauses. Je mehr die Kontinuität aus überkommener Verfassung und Recht zerbrach, desto geringer wurde die Autorität des Parlaments, desto abhängiger wurde es von der Gewalt, d. h. dem Heer. Als dieses es schließlich beseitigte (am 20. April 1653), war nur noch die Gewalt geblieben.10 Der Anlauf zu einer Republik der Heiligen hätte nicht nur eine weitere Eskalation der Gewalt nötig gemacht. Er hätte sie zugleich perpetuiert. Cromwell, nun im Besitz der Herrschaft, erkannte, dass dies nicht nur den Zerfall seines im Heer organisierten Gewaltmonopols bedeutet hätte, sondern dass damit die tiefste Grundlage der noch bestehenden Gesellschaft ins Wanken geraten wäre: das Eigentum. Durch seinen Bruch mit den sektiererischen Radikalen brach er zugleich mit je-

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der eschatologischen Erwartung und lenkte zurück zur Politik als Wahrung des Friedens. Das „fleischliche Vernünfteln“ hatte sich gegen die „providentielle“ Erwartung durchgesetzt. Als der Letzte, der in der Gesellschaft noch bewaffnet war, garantierte er den Frieden und damit Leben und Eigentum der Bürger. Alle waren entwaffnet worden, von ihm bzw. dem ihm gehorchenden Heer. So rechtfertigte er selbst seine Herrschaft, von jenem Minimum an Autorität her. Mit der Betonung des Eigentums und seiner Sicherung suchte er dieses Minimum zu erweitern und in der erneuten Einbindung der Eigentümer in den Staat, d. h. über die Berufung von Parlamenten, das im eschatologischen Krieg weithin zerstörte Politische wiederherzustellen. Das private Eigentum also bildete die Brücke von der Revolution zum „settlement“, zum dauerhaften Frieden, der zwar die königliche Herrschaft beschränkte, aber die soziale Ordnung wahrte. Cromwell ist das Beispiel eines Täters, der mit Gewalt zur Herrschaft gelangte und dazu das Politische zerstören musste, der aber nach Erringung der Macht in der Wiedergewinnung des Politischen nicht nur ein unabdingbares Mittel zum Erhalt seiner Herrschaft erkannte, sondern zugleich deren neue Rechtfertigung, nachdem er sich von der eschatologischen Rechtfertigung der Gewalt abgewandt hatte: Legitimer Herrscher ist dann der, welcher den Frieden wahrt und das Recht sichert, und er kann es deshalb, weil er über jene Gewalt verfügt, welche stärker ist als die Gewaltfähigkeit aller anderen, die sich ihm deshalb unterwerfen müssen. Cromwells Utopiebruch sicherte seine Herrschaft und bewahrte das Land vor einem neuen Bürgerkrieg, der unvermeidlich geworden wäre, hätte man das Tausendjährige Reich herzustellen versucht. Das überkommene Recht wie das ihm eng verflochtene Eigentum wären dabei zerstört worden, hätten die „saints“ gesiegt. In seiner Verteidigung erwarb Cromwell Autorität, mit ihr ermöglichte er alle spätere britische Geschichte.

Gewalt als Diskurs Es gibt zwei Formen sozialen Diskurses, nämlich einen, der auf den Konsens zielt, und einen anderen, der die Gewalt will. Geht es im ersten Diskurs um die Gewalt als größtem Übel, dem dadurch gewehrt werden soll, dass man ihre Unabwendbarkeit zugleich anerkennt und über ihre Monopolisierung durch den Staat zu minimieren sucht, so gilt sie im zweiten Diskurs als geringstes Übel vor dem großen Übel einer unvollkommenen Gesellschaft, deren Vernichtung jede Gewalt rechtfertigt. In beiden Fällen geht es um Rechtfertigung von Gewalt zum Zweck des Friedens. Der Frieden gilt als erreichbar und eben das trennt die moderne von der vormodernen Zeit, in welcher der Zustand Kains als unaufhebbar schien. Die Vernunft nun erklärt die Gewalt als wider die Vernunft gerichtet, doch sie bedarf der Eschatologie, um die Gewalt als im Reich des ewigen Friedens für abschaffbar zu erklären. Sie entgöttlicht das Theologische und macht es damit für sich okkupierbar, transformiert es in Utopie und Ideologie. Oder sie erkennt gerade in dieser eschatologischen Transformation die Ursache des Übels einer „wahnsinnig“ gewordenen

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Gewalt und lenkt zurück auf den Absolutismus des Materiellen, das physische Dasein des Menschen allein. Dieser Mensch, der sich mit seiner Vernunft als souverän erklärt, erträgt die Gewalt nicht mehr. Die theologische Kains-Begründung steht dieser Souveränität entgegen. Folgerichtig wird die Gewalt instrumentalisiert, als Mittel der Vernunft zur Beseitigung unvernünftiger Verhältnisse in neuer Weise gerechtfertigt.11 Die Vorstellung des Gesellschaftsvertrags, in dem die Menschen aus der Allgegenwart der Gewalt in die Herrschaft fliehen, in welcher die Gewalt gezähmt, d. h. nur noch als erwartbare Drohung bei Verletzung festgelegter Regeln vorhanden ist, gehört in diesen Zusammenhang. Die Friedensordnung, d. h. der Staat, ist das rationale Ergebnis der Interessen der vielen Einzelnen, die als Eigentümer in ihn eintreten: als Eigentümer ihres Elementareigentums, d. h. ihres Körpers, wie als Eigentümer von dessen Erzeugnissen, d. h. von Gütern, die Marktwert besitzen. Beides hat der Staat zu schützen. Eben hierin besteht seine Rationalität. Die „wilde“ Gewalt des Naturzustandes, wie sie sich etwa im Bürgerkrieg wiederherstellt, ist demnach irrational, und da das Fortschreiten zur Rationalität in den sozialen Beziehungen zugleich als Fortschreiten von der Barbarei zur Zivilisation aufgefasst wird, gilt auch jede Gewalt jenseits jenes Minimums, das der Staat zur Rechtswahrung nötig hat, als Übel. Die Minima des von seinem Körper her aufgefassten Menschen und der Sicherheit wahrenden staatlichen Gewalt bilden dann den modernen „Staat“ jenseits älterer Formen von Herrschaft. Seine Legitimität ist rein funktionell. Wo er seine Sicherungsaufgabe nicht mehr zu erfüllen vermag, d. h. wo er nicht rasch jede entstehende wilde Gewalt durch seine überlegene Gewaltfähigkeit zu unterdrücken vermag, erkrankt er wie ein physischer Körper, und er stirbt, wenn er der wilden Gewalt unterliegt. Dann muss ein neuer Staat um des Friedens willen entstehen und wenn er den Frieden sichern kann, ist er legitim. Es ist das Argument Cromwells nach dem Utopiebruch, als er sich als „Polizist“ in einer von wilder Gewalt bedrohten Gesellschaft legitimierte, der die Bürger in ihrem Eigentum sicherte, in ihren Körpern, mit denen sie in die Gesellschaft eintraten, in ihren Gütern, mit denen sie in ihr zu handelnden Personen wurden. Das ist zugleich das Argument von Cromwells Zeitgenossen und aufmerksamen Beobachter Thomas Hobbes (1588–1679). Der materialistische Minimalismus reduziert den Menschen auf seine Körperlichkeit, in der alle gleich sind,12 und leitet daraus den Naturzustand eines „Krieges aller gegen alle“ ab, in dem sich Freiheit und Gleichheit zuerst realisieren, ehe aus der Angst die Vernunft wächst. Die menschliche Vernunft ist letztlich ein Geschöpf der Angst vor Gewalt. Hier kommt zum ersten Mal der Begriff des „Schreckens“ (terror) zu einer zentralen Bedeutung: Die zur Gewalt neigende Leidenschaftsnatur des Menschen wird allein durch den Schrecken in den Frieden hineingezwungen: eben den Schrecken durch die Todesbedrohung im Naturzustand, dann durch den Schrecken, den die Strafdrohung des Staates bewirkt. Nicht seine soziale Natur führt den Menschen in die Gesellschaft, wie das die Philosophen bisher angenommen hatten, sondern die Angst vor Gewalt, die Angst vor den Anderen.13 Um aber dem Frieden Stabilität zu verleihen, ist es notwendig, auch das Bewusstsein der Bürger zu beeinflussen, d. h. sie in den Regeln und Gesetzen friedlichen Zusammenlebens zu unterweisen, die zugleich fortwäh-

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rende Anerkennungen der den Staat ordnenden Herrschaft darstellen. Ohne den so erreichten selbstverständlichen Gehorsam bliebe jede Herrschaft lediglich als Effekt der Gewaltverfügung wirksam, sie wäre ständig vom Kollaps bedroht. Die Okkupation des Bewusstseins durch den Staat, die Richtigstellung der moralischen Begriffe zur Rechtfertigung des Gehorsams wird deshalb zur entscheidenden Aufgabe einer Herrschaft des Friedens, ohne die sie auch ihre Monopolisierung der Gewalt nicht behaupten könnte.14 Wer glaubt, im Besitz der „Wahrheit“ zu sein, wird versuchen, sie in der Gesellschaft mit allen Mitteln durchzusetzen, d. h. er wird die Form ihrer staatlichen Befriedung zerstören, um die eigene Wahrheit zur Herrschaft zu bringen. Damit wäre die Vertreibung der „Wahrheit“, d. h. der Suche nach einem die Geschichte übergreifenden Absoluten, aus der Gesellschaft die Bedingung für die Dauerhaftigkeit des in ihr vorhandenen Friedens. Dass diese Bedingung immer wieder zerfällt, dass die Suche nach Wahrheit nie auf Dauer aus der Gesellschaft zu verbannen ist, lässt den Staat zum „sterblichen Gott“ werden. Wahrheit und Gewalt sind latente Potentiale, die sozusagen gemeinsam explodieren und in deren letzter Unbeherrschbarkeit die „Sterblichkeit“ des Staates bzw. des Friedens in der Gesellschaft ihren Grund hat. Dabei verbindet Hobbes zwei Bewusstseinszustände miteinander: Politik wie Religion entstehen ihm zufolge gleichermaßen aus der Angst, so wie ihr gemeinsames Ziel darin besteht, dieser Angst zu wehren. In beiden Fällen wird im Bewusstsein ein Gebilde geschaffen, auf das man die Angst überträgt, sie damit jedoch zugleich fassbar, benennbar, kontrollierbar werden lässt. Verschwindet diese kompensatorische Angst, zerfällt dieses kontrollierende Gebilde, fällt die Angst unmittelbar auf die Menschen zurück. Leviathan und Behemoth stehen damit gegeneinander: Handelt es sich beim „Leviathan“ um einen Sicherheits-Zustand, in dem eine absolute Herrschaft Rechtsregeln setzt und die Gewalt aus der Gesellschaft entfernt, um sie bei sich zu monopolisieren, so ist der „Behemoth“ sein Gegenteil, also der Kriegs-Zustand, in dem die Gewalt in der Gesellschaft wütet und jede Sicherheit zerstört, des Besitzes wie des Lebens. In ihm „stirbt“ der Staat, weshalb der einzige Zweck politischen Handelns darin besteht, ein solches Sterben zu verhindern. Eine leviathanische Politik besitzt daher keine Utopie eines zu erreichenden Endzustandes. Der Selbsterhalt ist der einzige Zweck, des Staates wie der in ihm lebenden Menschen. Es gibt keinen übergeordneten Zweck, kein absolutes Ideal und also gibt es auch keine Teilnahme des Volkes, der Massen, keinen populären Enthusiasmus. Würde es dergleichen geben, wäre für Hobbes der Staat bereits krank, geriete er in Gefahr, den einzigen Egalitarismus zu verletzen, den er kennt: die Gleichheit des Schutzes vor Gewalt. Will man demnach Hobbes widersprechen, so muss man seine Verbannung der Wahrheitssuche und seine Auffassung des Naturzustandes zurückweisen. Eben dies tut Jean Jacques Rousseau (1712–1778). Nicht der Naturzustand, vielmehr der Zustand der Vergesellschaftung durch den Staat ist ein „Zustand des Krieges“.16 Lebt nämlich der Mensch im Naturzustand in einem Gleichgewicht zwischen elementaren Bedürfnissen und Fähigkeiten, so beginnen im Kulturzustand mit den wachsenden Möglichkeiten von Kommunikation und Produktion die Bedürfnisse gewissermaßen zu explodieren. Sie wachsen rascher

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als die Möglichkeiten der Gesellschaft, sie zu erfüllen, und eben das führt zu Konflikten um den Besitz der knappen Güter, die letztlich in Gewalt münden. Mit dem Eigentum kommt die Gewalt in das Leben der Menschen,16 da seine ungleiche Verteilung im Zustand relativer Knappheit bei den Besitzlosen den Wunsch weckt, es sich anzueignen, bei den Besitzenden die Furcht entstehen lässt, es zu verlieren und also die Bereitschaft, es zu verteidigen. Da Rousseau die Entstehung des Eigentums mit der Entstehung des Ackerbaus in Verbindung bringt, kehrt hier die Figur des Ackerbauern Kain zurück. Die Überwindung Kains würde dann bedeuten, den Kulturmenschen mit dem natürlichen Menschen dadurch zu versöhnen, dass er seine Bedürfnisse mit der Gütermenge der Gesellschaft in Übereinstimmung bringt bzw. dass zwischen dem Bewusstsein des Einzelnen und der Ordnung der Gesellschaft Identität besteht. Wo es Identität von individuellem Willen und Gemeinwillen gibt, kann es demnach keine Gewalt geben. Doch um dies herzustellen, bleibt sie notwendig. Es ist die revolutionäre Gewalt, welche die Gesellschaft „reinigt“ und sie so mit dem Absoluten identifiziert. Es ist eschatologische Gewalt, jenseits eines metaphysischen Gottes zwar, eine Eschatologie, die sich in eine Tat verlagert, welche die Geschichte zu einem Ende führt, das ihr selbst innewohnt. Das Ziel ist die bevorstehende „Revolution“, in der die Menschen alles zerstören, was sie gemacht haben, um neu beginnen zu können. Die Revolution beseitigt nicht irgendeinen Tyrannen, sondern alle, sie verändert das Wesen des Menschen an sich. Als „Revolution der Herzen“ enthüllt sie eine neue moralische Welt, eine Welt von Liebe und Frieden, in der jeder für jeden völlig durchschaubar wird, eine Gesellschaft gläserner Menschen, in der es keine Individualität mehr geben kann: Wenn nur ein Einziger stört, muss er ausgestoßen werden, denn nur, wo alle miteinander identisch sind und also jeder Einzelne mit der Gemeinschaft, können Glückseligkeit und Tugend allumfassend werden. Im Gemeinwillen der volonté générale geht der Einzelmensch vollständig auf. Es kommt zur aliénation totale, zur Totalität der Entfremdung als Beseitigung von allem, was den Einzelnen von anderen unterscheiden würde. „Freiheit“ ist die Tätigkeit der Vernichtung des Individuellen zugunsten eines Gehorsams, der dem Allgemeinen Willen gilt. Wo dieser herrscht, ist die Gewalt verschwunden, weil es nichts Abweichendes, Individuelles und also keinen Egoismus mehr gibt. Der Allgemeine Wille wird zu einer weltlichen Religion, die das Christentum ablöst. Er ist die weltanschauliche Seite jener „totalitären Demokratie“,17 die den Allgemeinen Willen mit dem Volk identifiziert. Das Volk geht sozusagen schwanger mit diesem Willen, selbst wenn es das noch nicht weiß, und es ist die Aufgabe der Wissenden, z. B. eines Rousseau, es ihm zu sagen. Die „Schuld“ des Menschen ist nicht mehr eine vor Gott, die nur durch Gnade fortgenommen werden kann. Es ist eine Schuld des Menschen vor sich selbst, ein Verlust der „Natur“ und der in ihr inkarnierten Güte des Menschen, durch verderbliche und verderbende soziale Institutionen. Sie zu zerstören, zur Natur zurückzukehren wäre dann eine „Erlösung“, mit welcher der Mensch sich selber rettet. Am Ende steht der Neue Mensch, erreicht durch die Totalität der Neuen Gesellschaft. Sie wäre nur da gefährdet, wo sich Einzelinteressen entwickeln, d. h. Einzelne aus der sozialen Identität in die Individualität überzuwechseln beginnen. Die Totalität der Vergesellschaftung gewährleis-

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tet also die Herrschaft des Allgemeinen Willens, der nicht eine Mehrheit der individuellen Willen sein kann, sondern etwas, das in allen Einzelnen gleich vorhanden ist. In dem einen, einheitlichen Willen drückt sich die eine, einheitliche Wahrheit aus, gegen die jeder Widerspruch nicht nur der Irrtum einer einzelnen volonté particulière wäre, sondern der Verrat an der Menschheit selbst. In Rousseau entlädt sich die Anarchie der Gefühle eines Menschen, der in sich keinen Halt findet, gegen eine Gesellschaft, in der jene „Wahrheit“ nicht zu finden ist, nach der er so sehr verlangt. Nur in der Gesellschaft könnte diese zerrissene Seele Ruhe finden und findet sie doch nicht, weil diese Gesellschaft unvollkommen ist, so durchzogen von Egoismus, Luxus, Heuchelei, Lüge, dass sie von Grund auf verdorben erscheint. Dabei verweist die Annahme, das Eigentum sei die Ursache der Gewalt wie der sie zähmenden Herrschaft, d. h. allen Übels in der Geschichte, in Verbindung mit der Annahme, der Mensch sei von Natur aus gleich und gut, seine Verdorbenheit daher lediglich eine Folge der verdorbenen, durch ungleiche Privilegien und Eigentum korrumpierten Gesellschaft, auf die Möglichkeit, das Übel aus der Welt zu schaffen. Die revolutionäre Gewalt „rettet“ daher den Menschen im Namen von Tugend und Vernunft und führt ihn zu dem zurück, was er „eigentlich“ ist und also sein soll. Der nächste Schritt ist dann, dieses Wissen von Tugend und Vernunft vom „Herzen“ in „Wissenschaft“ zu überführen. Die „Ideologie“ soll eine solche Wissenschaft der richtigen Ideen werden, die von einer materialistischen bzw. sensualistischen Theorie der menschlichen Wahrnehmung ausgeht und „mathematische“, d. h. zwingende Ableitungen erlaubt. Die Identität von Einzel- und Allgemeinwillen ist damit auch rational ausdrückbar bzw. die soziale Kommunikation in einer Art rationaler Ableitung festgelegt. Ihr Dialogisches, Diskursives, Kontroverses verschwindet. Es herrscht „Friede“, Bewusstseinsstille.

Tugend und Gewalt Die Tugend findet ihren Grund in der Vernunft, die Vernunft aber findet ihn in der Geschichte, und zwar als Weg von der Gewalt zum Frieden. Die Geschichte wird damit zur Gewährleistung der Zukunft, einer Zukunft, in der es keine „Geschichte“ der bisherigen Art mehr geben wird, weil in ihr die Identität von Einzel- und Gesamtwillen erreicht worden ist, deren Zwiespalt bisher „Geschichte“, d. h. Herrschaft der Ungleichheit, Krieg, religiösen „Aberglauben“ hervorgebracht hat. Die „Geschichte“, bei Hobbes als Drohung des Behemoth präsent, bei Rousseau als Entfernungszustand von der Natur, wird nun zum Fortschritt, zum Zeitpfeil in die vollkommene Gesellschaft, so bei Condorcet, dem Ideologen der Revolution, die nur „menschheitlich“ gedacht werden konnte, weil sie geschichtlich gedacht wurde. Die Ideologie formuliert damit das absolute Wissen, doch um das zu tun, braucht sie das Konstrukt einer Absolutgeschichte als Fortschritts- und Gewissheitsgeschichte. In ihr entfaltet der Mensch seine „Perfektabilität“, also seine Fähigkeit, „perfekt“, vollkommen zu werden. Zwischen der Fähigkeit, vollkommen zu werden, und der

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Vollkommenheit selbst, d. h. der identischen, egalitären Gesellschaft, steht die Gerechtigkeit, die eine vollkommene sein muss, sonst wäre Vollkommenheit nicht erreichbar. Als vollkommene Gerechtigkeit jedoch muss sie Terror werden, Schrecken unter den vielen, die noch in der Unvollständigkeit leben, in der Partikularität und Egozentrik ihrer Existenzen. Der Terror ist ein erzieherisches Instrument, das auf die Psyche zielt und sie durch die Bedrohung des Körpers zwingt, eine Bedrohung, die immer wieder vorgeführt wird durch die Exemplarik vollzogener Bestrafung bis hin zur Vernichtung. Damit ist der Schritt zur „Revolution“ vollzogen, und zwar einer „menschheitlichen“, weil sie vom Menschen gemacht wird und in ihm ihr Ziel findet. In den allegorischen Darstellungen tritt der „neue Mensch“ nackt auf. Die Vergangenheit „der Gnade“ ist von ihm abgefallen, liegt zu seinen Füßen: Kronen, Wappen, Kelch. Dieser nackte Mensch ist nicht Adam, belastet durch die Erbsünde und also unfähig zur Selbsterlösung. Es ist der Mensch Rousseaus, der die Vergangenheit der Gnade von sich stößt und in seiner Nacktheit jene Menschenrechte realisiert, die keines Gottes mehr bedürfen. Es ist der abstrakte, vollkommene, gute Mensch der „Ideologen“, die sich als „Redner des Menschengeschlechts“ positionieren, wie jener „Anarcharis“ Cloots, der vom ewigen Frieden redete, den befreienden Krieg vorausgesetzt, und der im März 1794 seinen Kopf unter die Guillotine legen musste, weil es die Befreiung der Menschheit erforderte. Wo die Frage nach der Ordnung der Gesellschaft zugleich die ganze Menschheit umfasst, gibt es kein Entrinnen. Es bleibt nur noch die Alternative von Wahrheit oder Tod. Aus dieser Alternative bricht die riesenhafte Gewaltsamkeit der Französischen Revolution hervor. Denn die „menschheitliche“ Frage gewinnt Dynamik durch ihre Verbindung mit der sozialen Frage, d. h. mit der materiellen Deutung des Postulats der Gleichheit. Was von Seiten der besitzenden Bourgeoisie mit der Forderung begonnen hatte, Adel und Klerus als politisch-gesellschaftliche wie geistige Elite abzulösen, radikalisierte sich rasch durch die Erhebung „der Straße“, d. h. jener, die im Unterschied zur Bourgeoisie nichts zu verlieren hatten. Als die Canaille nach der Erstürmung der Bastille bemerkte, dass die Gewalt tatsächlich „auf der Straße“ lag, dass die politische Herrschaft ihr Gewaltmonopol aufgegeben hatte, verfiel das Politische zur Gewaltsamkeit, verfiel die Kommunikation zu Gewaltrede und Drohung. Wer sich hier an die Spitze setzte, „ohne Mitleid, ohne Erschrecken, ohne Achtung vor der Menschlichkeit“, weil er sich selbst in der Wahrheit wähnte, der konnte zum Führer werden, wie Saint Just, wie Robespierre.18 Furcht, die euphorisch wird, führt in einen Zustand der Raserei, in dem die Gewalt jedes Maß verliert, also nicht einfach nur zerstört, erschlägt, sondern es lustvoll tut, bis hin zum Sadismus. Eine solche Gewalt tötet nicht nur den Leib, sie verunstaltet ihn zugleich in Ritualen: dem Zerstückeln der Leichen, dem Herausschneiden der Genitalien, wie bei den erschlagenen Schweizer Gardesoldaten des Königs, des Herzens, wie bei einer Hofdame der Königin. Die radikale Dynamik der Französischen Revolution, mit ihrer Transformation von der wilden, geradezu lüsternen Gewalt der Straße zum kühlen System staatlichen Terrors, realisiert und symbolisiert in der Mechanisierung des Tötens durch „die Maschine“ des Doktors Guillotin, speiste sich aus dem Zusammenfließen von Canaille und Agitatoren.

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Die Canaille, jene von der zerbröckelnden ständischen Gesellschaft nicht mehr integrierbaren Gruppen, der Tagelöhner, Heimarbeiter, Bedienten, Arbeitslosen, bis hin zu Bettlern und Dieben, war eine heterogene Masse von Personen, die nur ihre wirtschaftlich wie sozial gefährdete Daseinsweise und eine dumpfe Ablehnung der bestehenden sozialen Ordnung verband. Handlungsfähig wurden sie nur, wenn ihr unmittelbares physisches Dasein bedroht schien oder wenn die herrschaftliche Gewaltdrohung zu schwanken begann. Ihre Unruhen waren wie Explosionen, die rasch verpufften. Erst durch das Hinzutreten der Agitatoren erhielten sie eine Richtung und damit eine gewisse Dauer: Die Richtung auf die Revolution zu durch die Programmatik einer neuen Gesellschaft der Gleichen und Tugendhaften, die wie selbstverständlich mit der Erwartung des allgemeinen Wohlergehens verbunden wurde. Der Hass der Canaille auf alle, denen es besser ging, verband sich mit dem Hass der Agitatoren auf jene, die Positionen von Einfluss und Ansehen einnahmen, von denen die Agitatoren annahmen, sie stünden ihnen selbst zu. Bereits in der Englischen Revolution hatte es eine solche Tendenz gegeben, als der Rabble Londons die Radikalisierung vorangetrieben hatte und später erbitterte „Gleichmacher“ (Levellers) versuchten, aus der politischen eine soziale Revolution werden zu lassen. An Cromwells Utopiebruch gescheitert und ohne wirkliche Führer, vermochte es jedoch diese Bewegung nicht, eine dynamische Kraft zu werden wie in Frankreich nach 1789. Hier fanden die städtischen Randschichten agitatorische Führer, die ihre Wut in Begriffen fortbildeten und ihr so eine gewisse Dauer verliehen. Es waren Personen mit Wissen, die gesellschaftlich gescheitert waren, sozial Geduckte, in deren Ehrgeiz der Hass brannte, und die nun, im Zustand der Krise dieser gehassten Gesellschaft, euphorisch wurden und aus ihren Begriffen die Gewalt herauswachsen ließen. Ein Drittes gab es nicht, nur Wahrheit oder Tod, für sich wie für den Feind. Demgemäß konnte es auch keine „dritte“, mittlere, vermittelnde Gesellschaft zwischen der zu zerstörenden alten und der zu errichtenden neuen geben. Wie Hobbes unterstellten auch die radikalen Aufklärer, dass die gesellschaftliche Welt wie die natürliche rational zu erkennen sei, und dass aus dieser Erkenntnis „technische“ Herstellbarkeit ableitbar wäre. Die erdachte Identitätsgesellschaft war demnach herstellbar, und da ihre beiden Prämissen: Gutartigkeit des Menschen (Rousseau) und Fortschritt in der Geschichte (Condorcet) auf einen Glückszustand deuteten, war dieser auch erreichbar. Damit wird die Revolution zum Ausgang einer Errettung der Menschheit mit den Franzosen als dem neuen auserwählten Volk und zum Beginn des ewigen Friedens – eine Idee, die der Revolution geradezu apokalyptische Züge verlieh: Die Apologie der Gewalt als Bedingung für das Tausendjährige Reich. „Revolutionen“ sind Bruchereignisse in der Geschichte eines Volkes und ein solcher Bruch verläuft mitten durch das Bewusstsein der Zeitgenossen. Es ist ein Bruch, den die Gewalt macht und der jede Legitimität zerfrisst, der alles auf die Gewalt, schließlich auf die überlegene Gewalt zurückwirft. Das unterscheidet die „Revolution“ von der „Rebellion“ alten Typs, die sich fast ängstlich im Rahmen überkommener Legitimitätsvorstellungen zu halten sucht. Revolution ist Legitimitäts- und Traditionsbruch und sie ist das Pathos davon, weil sie auf nichts als den Menschen, d. h. auf einen abstrakten Begriff davon,

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bezogen ist. Der Mensch ist sein eigenes Geschöpf so wie alle Gesellschaft, alle Geschichte. Revolution ist folglich Weltanschauungskrieg. Ehe die Bastille gestürmt werden konnte, mussten die Begriffe gestürmt, der „Humanismus“ gegen das „Gottesgnadentum“ in Stellung gebracht werden. War es gelungen, die regulativen Begriffe, d. h. die Ethik des ZuTuenden zu besetzen, dann barg der Griff nach den Gewehren kein großes Risiko mehr. Mehr noch: Hatte man die Begriffe besetzt, konnte die Gewalttätigkeit zum Humanismus werden. Das „Volk“, in Gestalt der Intellektuellen, griff nach den Begriffen, entriss sie den überkommenen Herren: Das war das womöglich folgenreichste Ereignis der Großen Revolution. Daher die Rolle der Intellektuellen und der Agitatoren, die vom Wort leben: der Intellektuellen, Rousseau, Condorcet, La Mettrie, Diderot, die Worte, Bedeutungen „produzieren“, der Agitatoren, St. Just, Robespierre, Danton, Marat, die „Schlag“-Worte daraus machen, Wörter zum Zuschlagen. Dass sie dies in einer sozialen Situation des EliteBruchs tun, in dem die alte Elite die Gesellschaft nicht länger zu ordnen vermag, in dem neue Schichten ökonomisch wie ideologisch vorherrschend geworden sind, ohne es schon politisch zu sein, erklärt ihren Erfolg. Der Aufstand war demnach ein kollektiver Protest gegen die Unfähigkeit der herrschenden Oberschicht, in einer gewandelten sozioökonomischen Lage weiterhin verbindliche Maßstäbe für das soziale Verhalten vorzugeben und damit die Gesellschaft psychisch „in Ordnung“ zu halten. „Freiheit“ als massenhaftes Begehren wäre dann kaum mehr als eine Phrase der Absage an die alten Regeln einer unglaubwürdig gewordenen Herrschaft, was sich bereits daran zeigt, wie rasch sie wieder für eine despotische Neuordnung der Regelverhältnisse aufgegeben worden ist. Dass die Krone im einfachen Volk ihr Ansehen verloren hatte, ermutigte es, „auf die Straße“ zu gehen. Die entscheidende Frage war bereits am 23. Juni gestellt worden, als der Präsident der sich selbst zur „Nationalversammlung“ erklärenden Versammlung des Dritten Standes auf den Befehl des Königs, sich aufzulösen, antwortete, man werde nur „den Bajonetten“ weichen.19 Damit war die Machtfrage gestellt, d. h. dem königlichen Befehl war jene Autorität verloren gegangen, welche allein die gewaltlose Selbstverständlichkeit des Gehorsams hervorzubringen vermag. Dass die Krone aber auch unter den Soldaten ihre Autorität zu verlieren begann, zerstörte ihre Fähigkeit, Gewalt anzuwenden. Die Soldaten verweigerten zunehmend den Gehorsam, wählten Soldatenräte. Und mit der Bildung der „Nationalgarde“ aus Untertanen, die sich bewaffnet organisierten, löste sich das Gewaltmonopol der königlichen Herrschaft endgültig auf. Der sujet wurde zum citoyen durch Selbstbewaffnung. Damit war bereits Mitte Juli 1789 die Machtfrage entschieden, zuungunsten des Königs, doch noch nicht zugunsten einer Parteiung oder einer Person, die nun in einen erbitterten Kampf um sie eintraten. Im Bündnis mit der Straße werden die Gemäßigten vernichtet, also jene, die da glauben, eine Eskalation der Gewalt könne nur verhindert werden, wenn man ihr frühzeitig durch einen Kompromiss mit der Tradition, d. h. Krone und Kirche, entgegentrete. Der völlige Niederriss der überkommenen Institutionen der politischen Herrschaft und der weltanschaulichen Ordnung des Bewusstseins hingegen musste diese Eskalation freisetzen, und eben das wünschten die Radikalen, die sich danach gegenseitig zu vernichten suchten, kaum dass sie Sieger geworden waren.

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Die Basis der Radikalen wurde so immer schmäler und sie reagierten darauf mit der Systematisierung des Terrors. Aus dem teils spontanen, teils angestifteten Schrecken von MobAktionen wurde eine Organisation der Furcht durch Polizei, Denunzianten, revolutionäre Volksgerichte, serielle Hinrichtungen. Der Schrecken wurde kalt, verlor das Lüsterne spontaner Gewalttaten. Die gierig-vergnügte Betrachtung der bluttriefenden Guillotine wich der Langeweile und dann der Furcht, selbst denunziert und liquidiert zu werden. Der Übergang zum kalten Schrecken, spätestens im Juli 1794 mit der Liquidierung der sozialrevolutionären Führer „der Straße“, die sich zunehmend von den bürgerlichen Agitatoren entfernten, war folgerichtig und fatal zugleich. Er war folgerichtig, weil nun die Straße unkontrollierbar zu werden begann. Die Ersetzung der Spontaneität durch die Organisation des Schreckens stärkte die Stellung der „Terroristen“, doch sie entzog ihnen zugleich jene stets gewaltbereiten Massen, denen man nur „den Feind“ zeigen musste, damit sie losschlugen. Mit der Institutionalisierung des Terrors versuchte das revolutionäre Regime zugleich, die Gewalt erneut zu monopolisieren, d. h. „Staat“ zu werden, die eigene Herrschaft zu festigen. Eine Wendung zum Rechtsstaat konnte man auf diese Weise jedoch nicht erzielen, weil mit dieser Monopolisierung nicht rechtliche Sicherheit, vielmehr die Systematisierung der Willkür verbunden war. Insgesamt wurden auf diese Weise zwischen August 1792 und Juli 1794 rund 17 000 Menschen guillotiniert, davon zwar in der Mehrzahl Handarbeiter (31%) und Bauern (28%), doch mit rund 15% überproportional viele Angehörige der privilegierten Stände von Adel und Klerus, deren Anteil an der Bevölkerung bei 2% lag. Insgesamt dürften dem Grande Terreur etwa 40 000 Menschen zum Opfer gefallen sein und in den seit 1792 tobenden revolutionären Kriegen starben weitere 500 000 Franzosen. Der „Schrecken“ ist stets ein Mittel der Herrschaft gewesen. Dem Feind erscheint der Schrecken als Drohung der nackten, vernichtenden Gewalt. Bei Montesquieu (1748) gilt die terreur als Kennzeichen der Despotie, d. h. einer Herrschaft der Gewalt, die weder Tugend (wie die Republik) noch Ehre (wie die Monarchie) besitzt. Demgemäß richtet sich die Kritik der absolutistischen Monarchie auch gegen deren so bezeichnete despotische Tendenz, etwa in Form königlicher Willkürmaßnahmen. Mit dem revolutionären Radikalismus erhielt der Terror dann eine positive Bedeutung, eben die der Herstellung einer neuen, tugendhaften Gesellschaft. Tugend und Terror, Republik und Despotie werden eins. Der revolutionäre Terror wird institutionalisiert: Er liquidiert nicht mehr im Exzess, sondern durch Gerichte. Sobald er institutionalisiert ist, trägt er sich selbst. Er erzeugt den Schrecken, vor dem er sodann Schutz verspricht, nicht allen zwar, doch der Mehrheit, in deren Namen er pauschal Feinde vernichtet, wobei das Pauschale psychologisch wichtig wird, weil keiner genau wissen soll, ob nicht auch er als Feind klassifiziert werden könnte. Der souverän gewordene Terror ist Herr der Angst, denn sein Schutz ist eine Zusicherung, sich nicht fürchten zu müssen, die man sich immer wieder verdienen muss, durch den Gebrauch der revolutionären Phrasen, durch Denunziation. Im Zeichen des Terrors regiert eine kleine Minderheit die große Mehrheit in deren Namen. Daher das Beharren auf Einstimmigkeit, „Unteilbarkeit“ des Konsens, mit dem sich die Herrschenden symbo-

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lisch legitimieren, daher die Notwendigkeit, die Abweichenden, den Dissens zu vernichten. Doch sobald der Terror vom Staat ergriffen, „der Straße“ entrissen und gegen sie gewendet wird, sobald sich die Revolution nicht mehr in den Massen verwirklicht, sondern in einem Apparat, entsteht ein Bruch, denn zwar erhöht die Beseitigung der Unberechenbarkeit des Mobs die Souveränität der revolutionären Herrschaft, andererseits jedoch droht ihr ein nachhaltiger Verlust an Gewaltfähigkeit, sofern sie ihn nicht durch paramilitärische Sondereinheiten ausgleicht, die der herrschenden „Partei“ unmittelbar unterstehen. Die Nationalgarde war der Versuch einer solchen Sondereinheit, die sowohl die Abhängigkeit des regierenden Komitees vom Mob wie von der regulären Armee begrenzen sollte. Dass sie die radikalen Jakobiner beim Putsch ihrer Feinde nicht zu schützen vermochte, hatte nicht nur mit dem Zufall zu tun, dass der Pariser Kommandeur zum entscheidenden Zeitpunkt völlig betrunken war. Es hatte mehr noch systematische Gründe, denn weder bildeten die Jakobiner eine organisierte „Partei“ noch war die Nationalgarde deren diszipliniertes „Schwert und Schild“. Der Sturz Robespierres am „9. Thermidor“ (1794) war daher ein Ergebnis dieses Verlusts der Straße, der durch den Terror allein nicht ersetzt werden konnte. Zudem begann die Gruppe der „Terroristen“ sich selbst zu spalten. Die Furcht hatte die Praktiker der Furcht ergriffen, die Furcht, gesäubert zu werden. Ihre Verschwörung trieb Robespierre aufs Schafott und symbolisch einige seiner Mittäter. Die neue Herrschaft stabilisierte sich in einer Gesellschaft der Überlebenden, in deren Bewusstsein sich die Erfahrung des Terrors als organisierter, die Erfahrung des Mobs als spontaner Willkür eingebrannt hatte, eines Bewusstseins, in dem zumindest für eine Generation die Ideologie ausgebrannt war. Die Revolution ist ein universales Ereignis und ihr Universelles zeigt sich zuerst als Universalismus der Gewalt. Wo bestimmte historisch gewordene Rechte als allgemeine Menschenrechte aufgefasst werden und wo ein Staat seine weltgeschichtliche Einzigartigkeit auf der „Entdeckung“ solcher Rechte gründet, wird aus dem Krieg eine Erlösungstätigkeit. Der „heilige Krieg“ kehrt wieder, nur in neuer rhetorischer Kleidung. Der Menschenrechts-Krieg ist sogar noch radikaler, denn wenn man sich im Religionskrieg noch damit beruhigen konnte, dass der unbesiegte, unbekehrte Heide dann eben in die Hölle fahre, gibt es im universalistischen Krieg den Ausgleich menschlicher durch göttliche Gewalt nicht. Die gerechte Menschengewalt muss alles selber tun, sie muss total werden, sie muss für ihre Feinde bereits auf Erden die Hölle vollziehen. In Maximilien Robespierre (1758–94) ist das ganze Wesen dieser totalen Revolution: Er ist der Mensch der künftigen Gesellschaft, der gewissermaßen in die alte, verkommene gefallen ist und ihr nun den Heilsweg zu zeigen sucht, geleitet von der Absolutheit des Wissens, der Wahrheit selbst. Die Religion ist abgetan und mit ihr der metaphysische Bezug der „Wahrheit“. Diese ist ganz Mensch geworden in den Menschenrechten und als revolutionär erreichbare Zukunft in Aussicht gestellt. Damit sind zugleich die Feinde eindeutig geworden: Die Gläubigen der alten katholischen Kirche, die in der ganz menschbezogenen Nation das Heil ihrer Seele nicht finden können. Wenn man also die überkommene Gesellschaft vernichten wollte, musste man ihr nicht nur die Gewalt, man musste ihr auch das kollektive Bewusst-

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sein entreißen. Damit tritt die Revolution in ihr zweites Stadium ein. War in der ersten Phase die Bereitschaft zur Gewalt eine der letzten Konsequenz, so wird sie nun zur unabdingbaren Voraussetzung, zum permanenten Ausnahme-Zustand, der das Bewusstsein erobert. Die Agitatoren treiben auf diesen Zustand hin, denn wo andere das Chaos fürchten, sehen sie nur Eindeutigkeit, die von Freund und Feind. Er ist der Schritt von den Fehlbarkeiten, Bedingtheiten des „alten“ Menschen und seiner Gesellschaft in die Vollkommenheit, Unbedingtheit eines „neuen“, den der aus der Zukunft gefallene Führer bereits verkörpert. Der Tod wird zum tiefen Symbol dieser ganzen Bedingungslosigkeit. Fasst man ihn historisch als Katastrophe des individuellen Bewusstseins auf, so verschwindet er in einer transhistorischen Gesellschaft identischer Willen, in der das Bewusstsein unsterblich geworden ist und lediglich der Leib zerfällt. Ist der Leib jedoch relativ geworden, kommt auch seiner Zerstörung keine wesentliche Bedeutung zu, weder dem Leib des Feindes noch dem des Revolutionärs. Der Revolutionär glaubt sich unsterblich, weil er sich mit der Masse vereint, weil er sich mit der Geschichte identifiziert, d. h. mit einer Zeit, die alle Leiber umgreift. In jedem Revolutionär, in Robespierre wie denen, die nach ihm kommen, brennt der Ehrgeiz des Geduckten, der in der bestehenden Gesellschaft unten steht, zu den Namenlosen gehört und dulden muss, dass andere oben sind, ihrer Herkunft, ihres Vermögens wegen und ihn zum Ducken zwingen. Es ist ein Ehrgeiz, in dem der Hass lodert und die Bereitschaft zur Gewalt, wann immer die bestehende Ordnung wankt. Der Ehrgeiz des Geduckten wird dann zum Selbstbewusstsein jenes Bedingungslosen, der „die Wahrheit“ kennt, die nichts weiter ist als sein ideales Ich, das er als kollektives Ich, als Identität der Masse zu erzwingen sucht. Dann ist der Revolutionär ganz bei sich, weil ganz im Volk aufgegangen, und unsterblich geworden. Wenn es, wie Robespierre glaubt, nur zwei Arten von Menschen gibt, die verdorbenen und die tugendhaften, dann ist die Revolution der Kampf für die Tugend, der nur als Vernichtung ihrer Feinde gewonnen werden kann. Die Verdorbenen aufspüren, sie in Akten zu benennen, den Richtern überliefern – das ist fortan seine Haupttätigkeit. Dabei gilt die Säuberung nicht nur den Anderen, sie ist etwas, das die totale Revolution sich selber antun muss, soll sie nicht erstarren. Die Permanenz des Ausnahmezustands muss festgemacht werden, sonst wäre die Revolution als ein Absolutes gescheitert. Zudem ist der Revolutionär als Mann des Ausnahmezustands an die Macht gekommen und so wie seine Prinzipien ihm sagen, dass es weiterhin von Verrätern und Spionen nur so wimmelt, so sagt ihm seine praktische Einsicht, dass er nur im Ausnahmezustand wird überleben können. Zu viel Blut klebt an seinen Händen. Wer soll es ihm abwaschen? Tugend und Terror bedingen daher einander, solange die identische Gesellschaft noch nicht hergestellt wurde. Der organisierte Schrecken ist dann lediglich die Praxis der Tugend in der alten, verdorbenen Gesellschaft, geübt durch jene Tugendhaften, noch eine Minderheit, die in die neue Gesellschaft hinüberführen, hinüberzwingen.20 Die Tugendhaften sind nach Robespierre „das wahre Volk“, welche die Freiheit als „Despotismus“ verwirklichen müssen, gegen eine Mehrheit, die sozusagen noch in der Unwahrheit lebt und erst zur Wahrheit, zur allumfassenden Brüderlichkeit identischer Willen befreit werden muss. Der Revolutionär redet vom „wahren“

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Volk her, d. h. von der Zukunft her, die er in der Gegenwart verkörpert. Er redet damit in einer Sprache, die von der Gegenwart her nicht fassbar ist, weil er sie aus einer Zukunft ableitet, die er für die einzige Realität erklärt, weil sie in der Wahrheit ist. Geschichte und Gegenwart hingegen werden als „Fiktion“ gedeutet, deren Unwirklichkeit die revolutionäre Sprache als scheinbar paradoxe oder absurd erscheinen lässt.21 Es kommt zum Utopiesprung, in dem das Bestehende als das zu Vernichtende gilt, um einer Wahrheit willen, die in der Sprache der Zukunft formuliert ist. Robespierres Vertrauen in das Wort kommt aus dieser Überzeugung, nämlich die Zukunft zu inkarnieren und auf diese Weise wie magisch die Gegenwart zu beherrschen. Der Terror hielt die Gegenwart offen, er war Türöffner zur Zukunft, einer Zukunft, die ins Leere ging: Die Gewalt konnte erst enden, wenn nur noch Tugendhafte übrig blieben. Diese Bedingung jedoch war nicht erfüllbar. Der Mensch blieb „krumm“. In jeder Revolution verknoten sich Soziales und Politisches. Politisch zielt sie auf eine grundlegende Veränderung der Herrschafts- und damit auch der Gewaltorganisation einer Gesellschaft, sozial auf die Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse und damit auch der Verteilung des Wohlstands. Ohne das soziale Moment gewinnt eine Revolution keine Dynamik in den Massen, deren Antrieb nicht die Armut, sondern das Ressentiment gegen die Reichen ist. Den „Wort-Führern“ geht es um die Nutzung der Straße zuerst, um ihre Unterdrückung dann. Dabei ist für den Verlauf einer Revolution das Verhältnis beider Momente bedeutsam. Eine Revolution wird umso gewalttätiger, je wichtiger das Soziale darin ist, weil dieses eine Totalität des Neuen durchsetzen will, einen Umsturz der Besitzverhältnisse insgesamt und nicht nur der herrschaftlichen Ordnung. Soziale Revolutionen sind stets utopisch. Sie versprechen die Zukunft als die Wirklichkeit des Utopischen, herstellbar durch Gewalt. Mit dem utopischen Versprechen gewinnen Wort-Führer die Dynamik der Massen für ihren Kampf um die Macht, und da sie es nach ihrem Sieg nicht einzulösen vermögen, müssen sie danach mit Gewalt gegen diese vorgehen, wobei sie aber an der rechtfertigenden Utopie festhalten. Ist in der ersten Phase des Machtkampfes die Utopie revolutionär, so wird sie in der zweiten Phase terroristisch. Nun geht es darum, Verräter und Saboteure zu finden, an denen die Verwirklichung des Utopischen scheitert. Die meisten Revolutionen von 1789 an waren sozial-utopische. Revolutionen, in denen das politische Moment bestimmend bleibt, sind eher Ausnahmen. Die Amerikanische Revolution (1773–83) ist die bedeutendste von ihnen. Die Verbindung von Individualität, Eigentum und Freiheit definierte das Streben nach dem Zustand des Glücks als „pursuit of happiness“ eines jeden Einzelnen und eben nicht als kollektiven Vorgang, gesteuert von elitären Zukunftsmenschen. Durch diesen Bezug auf die soziale Konkretheit des Individuums, die immer pluralistisch ist, weil individuelle Menschen stets verschieden sind in ihren Wünschen, Begabungen, weil ihre Suche nach Vorteilen sie selbst meint und nicht die Anderen, kann die „Gleichheit“ nur eine des Rechts sein, frei zu handeln und die Art seines Glücks selbst zu bestimmen. Soziale Ungleichheit, von den „Gründervätern“ der Vereinigten Staaten her gesehen, ist das Kennzeichen einer freien Gesellschaft, deren Mitglieder in einem ständigen Wettbewerb um knappe Güter

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stehen, um Besitz, Prestige, politische Macht. Der Wettbewerb balanciert gewissermaßen die Gewalt, indem er innere Zwänge erzeugt und stetig erneuert. Die Gesellschaft der Eigentümer ordnet sich weitgehend selbst und sie bedarf ungleich weniger der Gewalt als Gesellschaften der proklamierten Gleichheit, die ständig das unterdrücken, was Ungleichheit schafft, Differenzierung, Wettbewerb, und die letztlich an einem Informationsdefizit leiden, das sie durch Befehlswirtschaft und Geheimpolizei auszugleichen suchen, weil sie die offenen Informations-„Märkte“, das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, das Wechselspiel der öffentlichen Meinung, unterdrücken. Die politische Revolution bleibt im Relativen, im Gemenge von Tradition und Vernunft, die Amerikanische, letztlich auch die Englische. Sie hütet sich vor dem Absoluten, setzt mehr auf den krummen Menschen als auf einen herzustellenden geraden, einheitlichen. Sie bleibt in einer Geschichte, die zu verbessern, nicht utopisch zu beenden ist. Sie setzt den Menschen nicht an die Stelle Gottes.

Das Zeichen des Henkers Der Mensch ist ein Wurf, der ins Leere geht – wenn er nicht von Gott gefangen wird. In der Gefangenschaft Gottes allein fügt sich der Mensch in die Ordnung, nur in ihr ist so etwas wie Friede möglich. Wo sich der Mensch aus dieser Gefangenschaft lösen will, wo er sich als Herr und Hersteller der Gesellschaft, seiner Existenz selbst aufzufassen sucht, stürzt er in jenes Chaos, das er ist, wenn Gott, wenn die Kirche als Gehäuse des göttlichen Gehorsams ihn nicht gefangen halten. Wo alles als herstellbar gedacht ist, kann auch alles für zerstörbar gehalten werden. Mit Worten entwirft sich der Mensch das Bild der guten Welt, die er dann mit Gewalt einzufordern beginnt. Der Mensch, so erscheint es in dieser Sichtweise, gerät im Gedanken seiner absoluten Freiheit in einen Wahnzustand, in dem er glaubt, das Paradies schaffen zu können und doch nur eine Hölle schafft.22 Es ist die Sichtweise des Joseph de Maistre (1753–1821), es ist die Sichtweise der Konterrevolution, die er philosophisch begründet, nachdem sie sich längst als Gewalt begründet hatte. Der Ursprung der Konterrevolution liegt weltanschaulich im Gegensatz von anthropomorpher Ideologie und metaphysischer Religion, sozial im Gegensatz von bäuerlichem Land und gewerblicher Stadt. Er hatte sich bereits in der Englischen Revolution abgezeichnet und kam nun mit voller Wucht zur Wirkung. Die Große Revolution, bereits in ihren frühen Jahren eine Sache aufgeklärter Agnostiker, bald eine Herzensangelegenheit erregter Antiklerikaler, Atheisten oder vager Deisten, die sich ihr „Höchstes Wesen“ selbst zurechtmachten, konnte der überkommenen Religion und ihrer Institutionalisierung in Gestalt der katholischen Kirche keinen sozialen Ort mehr zuerkennen. Die Kirche stand wie eine Barrikade vor den Pforten Utopias und sie war ungleich bedrohlicher als das Königtum, regierte sie doch das Bewusstsein der Mehrheit durch das Versprechen ewigen Lebens. Dass die Priester der katholischen Kirche, die nach dem Protest des Papstes gegen die revolutionäre „Zivilverfassung des Klerus“ vom Juli 1790 unterdrückt worden war,

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nicht mehr die Sakramente spenden durften, insbesondere jenes Sterbesakrament, mit dem der Tod zur Pforte des Paradieses werden konnte: Dies war ein metaphysischer Schrecken, gegen den auch der Schrecken von Exekutionspeletons und Guillotine wenig vermochte. Dass es etwas gab, das durch Terror nicht zu vernichten war und das die Wahrheit der revolutionären Tugend als Lüge bezeichnete, konnte die Radikalen nur mit Hass erfüllen. So musste der Krieg gegen die Konterrevolution, wie sie sich 1793 in der Vendée entzündete, als Vernichtungskrieg geführt werden, als Vernichtung der Menschen selbst, in deren Bewusstsein schier unausrottbar sich das Übel eingewurzelt hatte. Er ist zum ersten Genozid des modernen Europa geworden.23 Bäuerliche Unruhen hatte es immer wieder gegeben. Sie fügten sich stets in die Kreisbewegung einer Wiederherstellung der „guten“ – und das hieß der „alten“ – Ordnung. Diese gute alte Ordnung war eine, in der jeder einem Stand angehörte und jeder Stand seinen gesicherten Platz in einer hierarchischen Ordnung besaß, die als große „Kette des Seins“ die ganze Welt bis hin zu Gott durchzog, dem Schöpfer von allem. „Innovationen“ blieben hier verhasst, weil Neuerungen in einem Zustand hierarchischer Herrschaft meist mit Verschlechterungen der sozialen Lage der Schwächeren einhergingen. Die bäuerliche Gewalt blieb defensiv und verstand sich auch so. Sie ließ den König hochleben und verjagte seine Steuereintreiber.24 Das „Vive le Roi, mais sans la taille“ der französischen Bauernaufstände wurde zum Grundmotiv aller vormodernen Erhebungen: Man anerkannte die gottgegebene Herrschaft, lehnte nur als ungerecht empfundene Neuerungen ab, hier etwa eine Steuer. Daher musste eine „Revolution“, die nicht mehr in eine idealisierte Vergangenheit zurückwollte, sondern vorwärts in einen völlig neuen, „innovativen“ Zustand der Gesellschaft, der ohne Zerstörung alles Überkommenen nicht zu haben war, unter jenen, denen mit dem Überkommenen die Ordnung ihres sozialen Daseins wegbrach, eine Gegengewalt provozieren, die selbst revolutionär wurde. Die Konterrevolution war so total wie die Revolution selbst. Sie wollte das „neue Regime“ so vollständig vernichten wie die Revolution das „alte Regime“ und sie ging wie die Revolutionäre davon aus, dies sei nur dadurch zu erreichen, dass man den Feind physisch beseitigte, und zwar vollständig. Die Konterrevolution erschlug die Patriots, ob bewaffnet oder nicht, und ihre vermuteten Sympathisanten so gefühllos wie es die Patrioten mit den Chouans taten, und die Fühllosigkeit nahm zu, je länger der Krieg dauerte. Die Republik erklärt den konterrevolutionären „Banditen“ den „totalen“ Krieg, der die Lebensgrundlagen der Bevölkerung vernichten soll: die Wälder sind abzuschlagen, die Häuser niederzubrennen, Ernten und Vieh fortzuschaffen, Frauen, Kinder, alte Leute zu deportieren.25 Mit seinen „patriotischen Spaziergängen“ will der kommandierende General Turreau das Aufstandsgebiet „in eine Wüste“ verwandeln. Hinter den Linien säubert der republikanische Kommissar Carrier, einer der großen „Terroristen“, Stadt und Land von möglichen Feinden, nicht zuletzt in seinen „Nationalbädern“ als einer „wirtschaftlichen Weise“, Feinde zu beseitigen, indem man sie, meist katholische Priester, in Gruppen zu jeweils Hundert, insgesamt wohl um die 3000, in der Loire ersäufte. „Die Straßen sind übersät mit Leichen, zuweilen liegen sie in Haufen übereinander“, meldet ein anderer General. „Aber Mitleid ist nicht

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revolutionär.“ Zeitgenossen sprechen von einer halben Million Toter. Über die Aufstandsgebiete senkt sich Friedhofsruhe. In der Konterrevolution ist der religiöse Bürgerkrieg endgültig politisch geworden. Revolution wie Gegenrevolution führen gegeneinander einen Krieg, der total werden muss, weil für den Feind kein Platz mehr ist in der eigenen Gesellschaft. In der altständischen Gesellschaft hingegen hatte prinzipiell jeder einen Platz, von den mobilen Vagabunden abgesehen. Dabei war allerdings die Ungleichheit vorausgesetzt und statt einer „Freiheit“ für alle gab es „Freiheiten“ für diese und jene. Für den konterrevolutionären Diskurs, wie er mit Maistre entsteht, ist dies die einzige Form von Gesellschaft, welche der Mensch zu ertragen vermag, weil sie ihn in die Ordnung zwingt. Sie tut dies zweifach, nämlich einmal durch die Präsenz der in der Kirche vermittelten göttlichen Gnade, zum anderen durch die Präsenz des Henkers, d. h. der die Gewalt kontrollierenden Herrschaft, die mit Sanktionen auf jede wilde Gewalt antwortet. Die religiöse Ordnung – und Bedrohung – des Bewusstseins und die politische Ordnung – und Bedrohung – des Körpers wirken hier untrennbar zusammen. Eine hobbesianische Züchtigung allein vermag deshalb den Frieden in der Gesellschaft nicht zu erhalten, weil der Mensch sich nur da der Zucht unterwirft, wo diese von einer ewigen, unbedingten Instanz abgeleitet wird. Der Mensch ist durch seine Kains-Tat aus dem göttlichen Frieden gefallen und nur die Ausrichtung auf diesen Frieden als Bewusstsein, der Gnade zu bedürfen, vermag das Chaos seiner zerrissenen Seele zu ordnen. Die für das revolutionäre Selbstverständnis grundlegende Zurückweisung der „Gnade“, insbesondere jeder metaphysischen Gnade-Bedürftigkeit des Menschen, macht die Revolution zu einem Aufstand gegen Gott. Die daraus hervorschießende riesenhafte Gewalttätigkeit ist dann die von Gott gesetzte Nemesis. Der aus dem Bewusstsein seiner Gnadenbedürftigkeit heraustretende revolutionäre Mensch wird zum radikalen Gewalttäter, der die Blutspur der Geschichte in einen reißenden Strom verwandelt. Gott bleibt „der Gott des Krieges“, denn der Krieg als Tat der Menschen zeigt fortwährend ihre existentielle Bedürftigkeit der Gnade und die Züchtigung, die sie sich selber zufügen. Die Gewalt erzwingt im Menschen den Gedanken Gottes: Er würde ihn sonst vergessen.26 Dabei führt für Maistre die Linie dieser seelischen Korrumpierung von Luther und Calvin, diesen Zerstörern des züchtigenden Gehäuses der römischen Kirche, zu Rousseau, bei dem der Verlust einer institutionellen Ordnung der Seele zur geistigen Entwurzelung und also zur radikalen intellektuellen Träumerei führt. Dem Gottesverlust entspricht der Kainsverlust: Er bildet sozusagen die Trophäe aus der Tötung Gottes. Doch der Sieg ist scheinbar, so wie der Rousseau’sche Gutmensch nur eine Einbildung ist. Der Mensch bleibt Treibsand der Geschichte, sein Versuch, ihr Meister zu werden, ein Wahn. Dass es ihm trotz alldem nicht gelungen ist, sich zugrunde zu richten, gilt Maistre als ein Beweis für das Dasein Gottes. Die Menschen handeln in jener kurzen Zeit, die ihrem Dasein entspricht, das macht auch ihre Versuchung durch die Gewalt aus. Wo aber Gott in der Geschichte ist, ist er in der langen Zeit, der Dauer. Was nicht aus der Dauer kommt, sie vielmehr zu zerstören strebt, kann selbst nicht von Dauer sein. Denn da der Mensch maßlos ist, vermag er ein Maß lediglich in einer Gesellschaft zu finden, deren Maßstäbe

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die Zeit der jeweils vorhandenen Generationen weit übergreifen, deren „Ewigkeit“ über ihre lange Dauer in ein metaphysisch Ewiges fortreichen. Aus der Leere der Tradition jedoch wächst die totale Gewalt. Für Maistre ist „der Mensch nur eine Krankheit“: Ist er eine Krankheit Gottes, der ihr nur zu wehren vermag, indem er die einzige Fähigkeit der Menschen, „die Fähigkeit zu zerstören“, wuchern lässt, bis er sich schließlich selbst zerstört?

Die Utopie an der Macht Der Lichtkegel der Ideologie ist die Utopie. In ihr sind die Schatten des Henkers verschwunden, wie sie in der dunklen Anthropologie Maistres über den Menschen fallen. Der Mensch der Utopie bedarf der Gnade nicht mehr, weil er zur Selbstvervollkommnung fähig ist und er unterliegt nicht länger der Gewalt, weil zwischen ihm und allen anderen kein Unterschied mehr besteht. Die Utopie gewinnt ihr „Licht“ aus der Negation der historischen Erfahrung. Sie ist Gegen-Geschichte und daher mit der „Revolution“ verbunden als einem Ereignis, welches die Zeit aufbricht und ein Heil, eine Heilung der Übel, erkennen lässt, das ganz von dieser Welt ist. Die Revolution macht die Zukunft für den Menschen verfügbar, der damit seine Freiheit und Souveränität realisiert. Sie zerstört die Fatalität und damit die Gnade. Das vermag sie nicht ohne Gewalt. Dass dies einem Bruch mit der ganzen Weltgeschichte gleichkomme, dass die Französische Revolution daher eine „Weltrevolution“ sei, galt ihren Freunden wie Feinden als offenkundig. Das Neue an der revolutionären Utopie ist ihr Bezug auf ein Absolutes, nämlich die Geschichte. Die Geschichte wird absolut, wenn sie als reines Menschenwerk aufgefasst wird. Es kommt dann nur noch darauf an, dass die Gesetzmäßigkeit dieses Werkes erkannt wird, um es wie eine Ingenieurkunst fortsetzen zu können. Die „Vernunft“ ist dabei der erste „bürgerliche“ Schritt, die „Arbeit“ wird schon bald der zweite, „proletarische“ sein. „Gott“ ist jedenfalls keine Kategorie der revolutionär fortgeschriebenen Utopie. War es die ganze Menschheitsgeschichte nahezu unmöglich, Welt und Gesellschaft ohne Gott, Götter zu begreifen, und gewiss lebensgefährlich, einen solchen Gedanken zu äußern, so wird nun eine Selbstverständlichkeit daraus. Das Göttliche wird auf seine eschatologische Präsenz in der Geschichte abstrahiert, diese dann mit den Menschenbegriffen der Vernunft und der Arbeit gleichgesetzt. Der abstrakte, noch zu realisierende „Mensch an sich“ ersetzt den abstrakten, noch zu realisierenden Gott. Damit verändert sich zugleich der Stellenwert der „Gewalt“. Bleibt sie im christlich-religiösen Denken, allen rechtfertigenden Einschränkungen beim Heidenkampf zum Trotz, im letzten doch im Bannkreis Kains, so erhält sie nun die Chance vollkommener Unschuld. In der modernen Gewalt bleibt der Gedanke, das vergossene Blut könne über die Täter kommen, moralisch unfassbar. Die Sieger können sich rächen, doch das ist etwas anderes. Dieser Gedanke ist tief und reicht bis in die Urgründe des Menschlichen zurück, in Reinigungsrituale und dem Erschrecken vor der eigenen Tat. Im Prinzip der modernen Gewalt als herstellendem Utopismus gibt es

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weder Mitleid noch Selbstfurcht. Diese Gewalt ereignet sich in der Struktur von „Gomorrha“, mit nunmehr dem Menschen als richtendem Vernichter, einschließlich der Ausstoßung jener, die erschrocken zurückschauen. In der Sprache der modernen Gewalt wird Gomorrha zum Heil durch Vernichtung, in der Revolution, im totalen Krieg. Dass ein „totales“ Ereignis wie die Revolution mit totaler Gewalt einherging, weil nach vollständiger Zerstörung des Alten das vollständig Neue aufgerichtet werden könne, erschien allen als unvermeidlich. Für die Freunde der Revolution rechtfertigte dies jede Totalität der Gewalt, für ihre Feinde jede Totalität der Gegengewalt. Diese Totalisierung der Gewalt erhielt ihre Kraft aus dem Heilscharakter der revolutionären Tat. In der Konsequenz war es das Konzept Trotzkis und Lenins ebenso wie Maos oder Fanons, nämlich durch die Totalität der Gewalt nicht nur, wie von Condorcet bis Marx gedacht, das zu tun, was historisch an der Zeit sei, sondern das zu tun, was historisch noch nicht an der Zeit war. Die totale Gewalt musste daher langfristig werden, um die Zeit „dazwischen“ zu überwinden, d. h. aus der Revolution als Sprung in eine Zukunft, die schon die Revolutionäre erwartete, musste eine „permanente Revolution“ werden, die erst mühsam baute, was noch nicht in Sicht war. Die permanente Revolution war die Methode, eine Gesellschaft der Gleichen, eine „klassenlose“ Gesellschaft in einem Land zu erreichen, das dafür noch keine sozialen Voraussetzungen besaß, d. h. keine entwickelte Industrie, keine machtvolle Bourgeoisie, kein massenhaftes Proletariat. Auf den Gewaltakt „von unten“, der Zerstörung der alten Herrschaft, musste daher die Institutionalisierung der Gewalt als Terror folgen, d. h. die Wiederherstellung der Herrschaft bzw. des Staates in Form einer Diktatur der Zukunftsmenschen, der „Avantgarde“. Es ist dies durchaus die Robespierre’sche Abfolge, nur eben unter der Bedingung, dass die Diktatur lange währen musste, weil Geschichte und revolutionärer Moment nicht übereinstimmten: „Die Geschichte“ war noch nicht bereit für eine revolutionäre Umwälzung, deshalb musste diese auf lange Zeit „in der Geschichte“ bleiben, in ihrer Dialektik von Gewalt und Gegengewalt, ohne rasch in eine Nachgeschichte übergehen zu können, aus der mit der reaktionären Gewalt auch die revolutionäre, also alle Gewalt verschwunden sein würde. Zukunftsmensch und Zukunftsideal, Utopie gehören zusammen. In der Utopie zeichnet der in seiner Gegenwart einsame Zukunftsmensch ein Bild der künftigen Gesellschaft als der guten an sich. Er tut es kraft seiner Vernunft und er erklärt seine Vollmacht als einer, der diese Gesellschaft nicht nur zu denken, sondern auch herzustellen vermag. Als eine gute bzw. vollkommene Gesellschaft steht sie jenseits der Geschichte. Der in ihr künftig lebende neue Mensch ist daher von ihren Merkmalen frei. Er besitzt weder Eigentum noch Stolz, d. h. Individualität, und es gibt keine Gewalt, d. h. keine Herrschaft und keine Ungleichheit. Damit richtet sich die Utopie gegen die religiöse Trennung der „beiden Reiche“ wie gegen die damit verbundene Vorstellung, ein „vollkommener“ Zustand, der zugleich Endzustand wird, sei nur durch göttliches Wollen erreichbar. Er ist zugleich deshalb Endzustand, weil die vollständige Gleichheit aller Menschen die Entstehung von Neuem unmöglich macht, denn das Neue ist immer das Ergebnis von Unterschieden, Individualität, Konflikten. Dabei richtet sich der Blick auf eine idealisierte Antike, in der es jene Tren-

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nung der Sphären des menschlichen Lebens in eine politische, soziale, private nicht gab. Der Mensch war so einheitlich gewesen wie der soziale Verband, dem er (als Freier) angehörte. Mit dieser Trennung entsteht die Moderne und ihre neue Form von Freiheit, die – zumindest rhetorisch – auf die menschliche Einzelperson bezogen ist, ihr über die „Menschenrechte“ zusteht und nicht mehr ausschließlich dadurch, dass sie einer bestimmten politischen Gemeinschaft, einer civitas, angehört. Erst die Trennung der Spären ermöglicht das für die moderne Freiheit wesentliche Nebeneinander von Gleichheit und Ungleichheit, was zur Ursache für die Verschiedenheit, Nichtidentität der Mitglieder einer politisch verfassten Gesellschaft wird. Ohne die Heraustrennung des Besitzes als „Privateigentum“ wäre diese Trennung nicht entstanden. Der Besitz verliert seine politische Stellung, die er etwa im Feudalismus besaß, er wird individualisiert und er individualisiert die Gesellschaft. Diese Auftrennung der bürgerlichen Gesellschaft in die konträren Prinzipien „Gleichheit“ und „Eigentum“ enthält ihre ganzen Konflikte wie ihre ganze Dynamik und den ganzen Hass, den die Utopie auf sie richtet. In der modernen Gesellschaft ist der eine einheitliche Mensch nicht herstellbar. Wenn man ihn herstellen will, muss das Eigentum zerstört werden, und das gelingt letztlich nur durch Gewalt, weil – so das Argument – das Eigentum selbst nur durch Gewalt entstanden sei und sich nur durch Gewalt zu behaupten vermöge. Die dynamischen Effekte des Eigentums, wie der Pluralismus der Freiheit, die individualisierende Leistung, der wirtschaftliche Wettbewerb, werden weniger geleugnet als verworfen, weil sie eine Gesellschaft der Identischen verhindern. Religiös gesehen wurde hier der Dualismus von „Welt“ und „Gott“ überwunden. Der Gedanke der Apokalypse, aber auch der asketischen Gruppe jener, die vorangehen, geschart um einen messianischen Führer, den novus dux, findet sich bereits bei dem Abt Joachim von Fiore gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Bei ihm tritt neben die von Augustinus herrührende statische Trennung der Zwei Reiche, die allein durch einen unbeeinflussbaren göttlichen Entschluss aufzuheben wäre, eine dynamische Heilsgeschichte, die in der Geschichte, also inmitten des menschlichen Handelns, am Endzustand arbeitet. Die christliche Trinität von Vater, Sohn, Heiligem Geist verwirklicht sich in der Menschengeschichte als Abfolge der Drei Reiche, die einander potenzieren, aufbauen, vorantreiben, statt auf menschlich unabsehbare Zeit voneinander getrennt zu bleiben. Das „Dritte, Tausendjährige“ Reich, dessen baldiges Kommen Joachim aus der „Offenbarung des Johannes“ erliest, wird ein asketisches, dem Absoluten zugewandtes sein, mit einem neuen Menschen, bei Joachim in der Mönchsgemeinschaft verkörpert. Die joachitische Überzeugung, dass im historischen Prozess ein Heilsversprechen angelegt sei, das jene meinen würde, die es „jetzt“ erkennen, hat eine Wucht des Gedankens ausgeübt, deren Wellen bis in die Gegenwart reichen. Es ist ein Gedanke, der die Utopie zur Handlungsaufforderung werden lässt, zuerst bei den Millenariern. Utopien sind immer totale Gesellschaften, in denen es keine Individualität gibt, weil es keine Unterschiede mehr geben darf und also keine Spontaneität und kein menschliches Glück, weil es auch dessen sinngebenden Gegensatz, nämlich Unglück, Leid nicht mehr gibt. Alles muss gleich sein: Kleidung, Nahrung, Wohnung, Architektur, Bewusstsein. Vor allem Letzteres, denn durch Verschieden-

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heit im Bewusstsein verliert die totale Gesellschaft ihre ideologische Bedingungslosigkeit: Anderes als das Bestehende wird denkbar. Noch eine zweite Gefahr gibt es, nämlich die Entstehung von Eigentum. Daher wird auch die Arbeit egalisiert. Jeder muss arbeiten, doch keiner darf etwas erwerben. Alles wird gleich verteilt, was die materielle Bedingungslosigkeit dieser Gesellschaft garantiert, denn jeder bleibt von der Verteilung abhängig, da er über nichts eigenes verfügt. Die Herrschaft ist total geworden und sie erreicht ihr Ideal da, wo sie sich selbst abschafft, weil sie Bewusstsein und Arbeit der Menschen derart zu bewusstlosen, automatisierten Abläufen minimiert hat, dass alles andere unmöglich geworden ist. Das Muster: Gerechtigkeit als Terror, und das Ziel: der Neue Mensch als kollektive Identität blieben unverändert, die intellektuellen Strategien ihrer Rechtfertigung hingegen änderten sich im Laufe der Zeit. Mit der weitgehenden Säkularisierung des Theologischen im 18. Jahrhundert erklärt sich die Utopie zur „Wissenschaft“, weil nun Rationalität im Zeichen planender Machbarkeit nur unter diesem Begriff fassbar geworden ist. Die politische Revolution verbindet sich mit der technischen, industriellen, die ihr zweierlei liefert: Die Bestätigung einer Herstellbarkeit der Gesellschaft wie des Menschen durch Arbeit und Technik sowie die rationale Erkennbarkeit und Verwertbarkeit aller Phänomene durch Wissenschaft. Die zur Wissenschaft erhobene Utopie rechtfertigt sich nun nicht mehr moralisch, sondern scientistisch. Das nie ganz fortzuschaffende moralische Dilemma eines im Namen der Moral, der Tugend und Menschenrechte „Feinde und Gleichgültige“ liquidierenden revolutionären Humanismus verschwindet, wenn die „Wissenschaft“ die Moral ersetzt bzw. von sich ableitet. Die kalte Gewalt, so entscheidend für eine sich aus dem Terror aufbauende neue Herrschaft, findet in der scientistischen Utopie ihren idealen argumentativen Bezugspunkt. Der Mensch wird zu einem materiellen Objekt, formbar wie zerstörbar entsprechend gewisser materieller Eigenschaften. Dies war auch das Menschenkonzept des modernen Krieges, und es war jenes der totalitären Diktatur. Die Utopie war geschichtsmächtig geworden und sie enthüllte ihr Wesen als reine Gewalt. Nur der Utopiebruch vermochte den Menschen noch zu retten. Erst dann nämlich vermag sich das Politische als jene soziale Weitung auszubilden, in welcher der „krumme“ Mensch Kants seinen Platz hat: als Individuum mit einem „Gewissen“, in dem er sich vor sich selbst, vor der Gesellschaft verantwortet und, so er es vermag, auch vor Gott. Wo diese Weiterung unmöglich geworden ist, wo also die Herrschaft die Moral mit ihrem Gewaltmonopol durchzusetzen sucht, bleibt nur noch „die Wahrheit als Schrecken“. Der Terror wird zum Kern der Utopie des 20. Jahrhunderts, die in die Gewalt abstürzt und in die Verneinung dessen, was sie einst als ideale Gesellschaft in Aussicht stellte. Die ideale Gesellschaft wird zur Drohung. Die Totalität der Utopie und die zu ihrer Machtergreifung notwendige Totalität der Gewalt münden in einen Zustand der Bewusstlosigkeit, in dem der Einzelne nur noch als Serie vorhanden sein kann, oder er wird ausgemustert. Die Zerstörung des Bewusstseins durch die Willkürherrschaft über die Begriffe ergänzt die physische Gewalt des allgegenwärtigen Überwachungsstaates. Physische und semantische Gewalt sind in der utopischen Gesellschaft eins geworden. Die herrschaftli-

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che Willkür der Begriffsbestimmung und die herrschaftliche Willkür im Zugriff auf die Körper bilden die Wechselglieder der totalitären Deformierung des Politischen. Wo die Begriffe in die völlige Beliebigkeit der Herrschaft geraten, geraten auch die Körper der Menschen in diese Beliebigkeit. Das tiefe Wissen aller politischen Philosophie, von Sokrates und Konfuzius an, dass die Begriffe immer wieder gegen die jeweilige Herrschaft „richtiggestellt“ werden müssen, ist hier verlorengegangen. Wo sich aber politische „Autorität“ nicht mehr vor solchen Begriffen verantworten muss, weil alle Begriffe mit Gewalt besetzt sind, weil jeder, der sie anders auffasst, niedergetreten wird, gibt es keine Autorität mehr. Die Kennzeichnung der totalitären Utopie durch George Orwell als „Stiefel, der immer wieder in ein Menschenantlitz tritt“, trifft auch auf die sie begleitende totalitäre Semantik zu, die fortwährend ihren Stiefelabdruck im Bewusstsein hinterlässt. Was bei Orwell als Newspeak in der Zerstörung der Kommunikation durch die Zerstörung aller festen Bedeutungen bzw. deren Verdrehung ins Gegenteil endet, begann bei St. Just und Robespierre mit der Liquidierung von Menschen im Namen der Menschenrechte mit der Humanität der Guillotine.

Gesichter Das Antlitz des Menschen wird in der Geschichtsschreibung kaum sichtbar.27 Es verschwindet in der Masse, die nur Zahlenwert besitzt, oder in den einzelnen Großen, die sich nach vorne drängen. Dass es in der Geschichte auch, vielleicht vor allem, um menschliche Existenz geht, wird allzu oft vergessen. Das Wissen um den Tod gründet die ganze Existenz. Es bleibt dem Leben ein drohendes Rätsel, für Jahrtausende rituell gezähmt in der Religion: ein Wissen, das dennoch in seinen Weiterungen immer wieder in das Leben einbricht, als Verletzung, Erkrankung, Bedrohung, als Gewalt. Die Gewalt ist die schrecklichste Bedrohung, weil sie vom Menschen selbst ausgeht, weil er sie sich selber zufügt. Sie bleibt eine Maske, die sich nur in den Gesichtern löst, wenn sie am Boden liegen. Wieder rollen die Henkerskarren durch die Rue Honoré. Überall drängen sich die Menschen, ein Schreien ist in der Luft, schwillt an, wenn die Karren näherkommen. Als der zweite Karren kurz anhält, bilden Frauen einen Kreis und umtanzen ihn höhnend. Ein Mann hockt darauf, an eine der Seitenlatten gefesselt, den Kopf mit einem Tuch verbunden, an der dunkelrotes, verkrustetes Blut klebt. Von Zeit zu Zeit öffnet er mühsam die Augen, schließt sie wieder. Erst spät, gegen halb sieben, kommen die Karren mit ihrer menschlichen Last am Platz vor den Tuilerien an, wo fast zierlich die Guillotine steht, um die sich eine riesige Menge drängt. Zwanzigmal fällt das Beil zu Boden. Die Henker tun ihr Werk geschickt und mit geübten Griffen, obwohl sie heute nicht ihren Rekord überbieten, der bei 12 Köpfen in 5 Minuten liegt. Das Blut trieft vom Schafott herab und bildet große Pfützen, wie nach einem starken Regen. Schließlich legt man den Letzten auf das Brett. Es ist der Mann mit dem blutverschmierten Tuch um den Kopf. Als der Henker es wegreißt, fällt der zerschmetterte Unterkiefer herab, das Gesicht ist wie eine klaffende rote Fleisch-

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masse, Blut schießt hervor und ein fürchterlicher Schrei des tobenden Schmerzes ist über dem Platz, der untergeht im sausenden Schlag des Fallbeils und im brüllenden Jubel aus Tausenden aufgerissener Münder. Was bleibt? Eine Grube ungelöschten Kalks, denn es soll nichts bleiben als der flüchtige Schatten des Todes. Die Erde birgt die Leiber nicht mehr. Man stößt sie in ihre dunklen Höhlen wie stinkenden Kot. Man schreibt den 28. Juli 1794. Robespierre ist tot. Es ist ein Bild des Schreckens, das zum Aufblicken zwingt aus den Geschäften und Geschäftstätigkeiten der Geschichte und ihrer Geschichtsschreibung. Es gibt aber auch Bilder einer merkwürdigen Zärtlichkeit, ohne welche die Geschichte sich selbst auslöschen würde. So etwa jenes der jungen Frau, die ihr kleines Kind Marie Antoinette entgegenhielt, einer abgemagerten, verhärmten Frau, die da gefesselt auf dem rumpelnden Henkerskarren hockte, einer Frau, die auch Mutter war und die nun auf ihrem letzten Weg von einem Kind angelächelt wird. Nicht wichtig ist, ob sie eine „feile Hure“ gewesen sei, der „die Beine versagten als sie vornübergelegt wurde“, wie Hébert höhnte, ehe er selbst „vornübergelegt“ wurde. In den Zeiten des Glanzes war Marie Antoinette niemand gewesen, der beeindruckt hätte. Nun war aller Glanz erloschen und nur ein zitternder, elender Mensch geblieben, dem die Beine versagten. Die junge Frau, die ihr das Kind entgegenhob, wusste das, eine andere, die ihren Speichel der gestürzten Königin ins Gesicht schleuderte, wusste das nicht. In solch winzigen Begebenheiten ist der ganze Schrecken und die ganze Zärtlichkeit der Existenz. In ihnen sind zugleich zwei unterschiedliche Ansichten von Politik angelegt, nämlich eine, in der Politik lediglich ein Teil des eigene Menschseins ist und eine andere, in der alles politisch wird. Die eine ist die Weise des Bedingten, die kein Absolutes kennt, keines des Guten, keines des Bösen, weil sie sich selbst nicht im Besitz des Absoluten weiß. Die andere ist die Weise des Unbedingten, welche die Wahrheit besitzt, eine abstrakte Wahrheit, in der fehlbare Menschen keinen Platz haben. Der bedingungslose Mensch kann sich auf Bedingungen nicht einlassen. Er ist eine Person der Gewalt, denn nur diese ist bedingungslos, im Wunsch zur Vernichtung, im Willen, dass nichts „Anderes“ mehr sei. In Zeiten der Krise stehen die Bedingungslosen fest, werden zu Führern. Vor dem Tod flüchten sie sich in die Gewalt als äußerste Kraft, in den Tod anderer, der ihr Leben beweist, in jene Unsterblichkeit, die sie für sich beanspruchen, wenn sie das Werk der „Vorsehung“ zu tun behaupten, die jenseits des Göttlichen in der Geschichte wirksam sei und sie als Werkzeug auserwählt habe. Die Vorstellung, die Wahrheit und ihre soziale Allmacht sei nur über Leichenhaufen erreichbar, kehrt in der Französischen Revolution immer wieder, in jeder Revolution, die „vollständig“, total sein will. Nicht nur müssen alle Feinde beseitigt werden, denn das wäre bloß ein pragmatisches Argument, welches dem apokalyptischen Geschehen nicht genügen würde. Ihre Vernichtung muss, wie in archaischen Zeiten, zugleich als Opferung verstanden werden, in der die eigene Bluttat auf ein Größeres übertragen wird, auf die Vorsehung, die in der Geschichte erkennbar wird. Ein solches Erkennen ist aber nur möglich, wenn die tatsächliche Geschichte zur Fiktion erklärt und also zerstörbar wird und etwas an ihre Stelle tritt, in dem die Wirklichkeit kein

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Einspruchsrecht mehr besitzt: eine Utopie, und in dem überhaupt niemand ein Einspruchsrecht geltend machen kann: eine Ideologie. Hier wird die Politik zur Totalität des Lebens selbst. Die Gesichter der Menschen verschwinden, aber selbst die Gesichter der großen Täter zerfallen, auf der Guillotine, im Bunker, im Palast, gelähmt zwischen Exkrementen.

Gewalt und Legitimität Die Entstehung und Ausweitung der revolutionären Gewalt ist das große Thema der Gewaltgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts als Mittlungsphase zur Moderne, in der zum einen durch die konfessionelle Spaltung die Religion noch einmal zu einer Gewalt entzündenden mentalen Kraft wird, zum anderen sie im entstehenden Staat ihres eigenen Gewaltimpulses beraubt und in die Gewaltinstitution des Staates einbezogen wird. Die Religion wird Herrschaftsmittel des Staates, und das nirgends intensiver als in Frankreich, wo es nicht zufällig dann zum revolutionären Bruch mit der Monarchie und der ihr dienenden Kirche gekommen ist. Im Exzess der religiösen Gewalt, im religiös begründeten Bürgerkrieg, im Massaker, verliert die Religion endgültig ihr Ethos des Friedens und verfällt einer Zynik der Macht, die sie sich dann in Gestalt des Staates unterwirft. Bildet der Terror den Gewaltkern der Revolution, so bildet das Massaker diesen Kern für eine religiös entfesselte Gewalt. Dass der Begriff massacre im Französischen die Schlachtbank bezeichnet, auf der ein wehrloses Lebewesen, ein Tier, geschlachtet wurde,28 verweist auf ein Mehrfaches, nämlich auf das tieranaloge Abschlachten Wehrloser, auf die Extermination einer ganzen Gruppe, aber wohl auch auf den Ritus einer Opferung. In den großen europäischen Massakern verbinden sich diese Motive zur spezifischen Gewaltstruktur der „Abschlachtung“, von den Juden Jerusalems im Ersten Kreuzzug (1099), den Katharern (1209) oder den Waldensern (1556), bei denen zum ersten Mal der Begriff tierischer Abschlachtung auf Menschen übertragen worden ist. Mit der BartholomäusNacht vom 24. 8. 1572, der rund 13 300 Menschen zum Opfer fielen, ist dann der Begriff fest in die Sprache der Gewalt übergegangen. Massaker werden stets von Gruppen verübt, die für sich selbst das Recht auf Herrschaft in Anspruch nehmen, dabei aber wissen, dass viele ihnen keine Autorität zuerkennen, also dieses Recht bestreiten. Zwischen ihnen und den Anderen steht dann nur noch die Gewalt, die schrankenlos, gewissenlos wird, weil in den Anderen keine soziale Gemeinsamkeit mehr zu erkennen ist. Die Fremdheit des Anderen ist total geworden und das letzte scheinbar Gemeinsame, das schiere Menschsein, reduziert sich auf Physiologie, auf Materie, dem Tier vergleichbar. Die hierfür notwendige Gewissenlosigkeit muss daher zuvor im Bewusstsein hergestellt worden sein, durch weltanschauliche Festlegung dessen, was „uns“ konstituiert und was „uns“ von den Anderen radikal unterscheidet. Eine solche Radikalität der Ab- und Ausgrenzung stellt sich dann ein, wenn die überkommene Form von Autorität ihre soziale Bindekraft verloren hat und die Angehörigen eines sozialen Verbandes die fast unbewusste Sicherheit ihres Wertbe-

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zugs, ihres Gehorsams, verloren haben. Aus Verunsicherung wächst Angst, wird die Suche nach Schuldigen, erscheint die Gewalt als Möglichkeit, die Identität der eigenen Gruppe zurückzugewinnen. Massaker wie Terror sind Zustände einer enthemmten Gewalt, in denen ein Politisches nicht mehr vorhanden ist, weil die Balance der Gewalt durch ein Gemeinsamkeit herstellendes moralisch-rechtliches Normgefüge nicht oder nicht mehr gegeben ist. In den Gewaltverhältnissen kolonialer Unterwerfung und der Sklaverei wird diese Trennung von biologischem Menschsein und kultureller Verweigerung einer Mitmenschlichkeit dann extrem. Das biologische Menschsein wird von den Herren über die Ausbeutung der Sexualität realisiert, mit Negersklavinnen wie Indianerinnen. Ein Menschsein darüber hinaus wird allein in der Gewaltfähigkeit der Anderen erkennbar, die menschliche Gewalt ist wie die eigene und keine von Tieren, eben eine Gewaltbereitschaft, die im Bewusstsein gründet, in der mentalen Fähigkeit zu Verschwörung, Aufstand, Mord. Das Massaker, wie später der Terror, erzeugen durch Gewalt Furcht. Sie vernichten nicht einfach „Feinde“, sie wollen diese Vernichtung bewusst als Waffe gegen das Bewusstsein der Anderen nutzen, d. h. eine Art Furcht-Starre erzeugen, die jeden Widerstand psychologisch blockiert. Das Übermaß an Gewalt soll die Sinnlosigkeit jeder Auflehnung zeigen, es soll aber zugleich die Furcht der Gewalttäter verbergen, ihr Wissen, dass ihre Gewaltfähigkeit begrenzt, womöglich unterlegen ist. In einer kolonialen Situation etwa ist das Politische nicht vorhanden. Die koloniale Herrschaft etabliert und erhält sich durch Gewalt, die sich durch die Kollaboration gewisser einheimischer Gruppen personell abzustützen sucht, da sie zahlenmäßig zu schwach bleibt, um über den einzelnen Gewaltakt hinaus dauerhaft Macht ausüben zu können. Die Kollaborateure kommen dabei aus Gruppen, die in der einheimischen Gesellschaft benachteiligt waren und denen die Kollaboration die Chance zum sozialen Aufstieg bietet. Ihre Gewaltbereitschaft, genährt aus Furcht und Rache, ist noch größer als die der erobernden Herren. Die Legitimität solcher Gewalt wird dabei transpragmatisch begründet, im Hegemonialzustand der Religion durch den Bezug auf die „wahre Religion“. Die Massaker der Conquista in Amerika,29 aber auch der Bartholomäus-Nacht (1572) oder der Cromwell’schen Eroberung Irlands (1649)30 folgen diesem Muster. Eine pragmatische Rechtfertigung scheitert im Fall des Massakers am Exzess der Gewalt: Herrschaft und die von ihr ausgeübte Gewalt gilt bis ins 18. Jahrhundert als legitim, sofern diese Gewalt begrenzt bleibt. Das massenhafte Töten Wehrloser, das Zerstören der Lebensgrundlagen durch Brandschatzung und die massenhafte Vergewaltigung brechen jeden Anspruch auf Legitimität. Deshalb hat koloniale Herrschaft auch immer wieder versucht, neben einer subalternen Kollaboration von Personen oder Gruppen, die nicht der Herrschaftsschicht der eroberten Gesellschaft angehörten, eine elitäre Kollaboration mit eben dieser Schicht zu erreichen (sog. indirect rule). Die überkommene Autorität konnte auf diese Weise für die koloniale Herrschaft genutzt und also direkte Gewalt wie das Eintreten von Massakern vermindert werden. Das Massaker ist immer illegitime Gewalt, weil Legitimität sich eben dadurch begründet, dass sie ihre Grenzen bestimmt. Totale, grenzenlose Herrschaft kann nicht legitim sein, sie bleibt Willkür. Sie kennt keine Bindung an Gesetze, Verträge, Regelungen, sie ist

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so gesetzlos wie ein Verbrecher. In einer solchen Herrschaft hat auch das Massaker seinen Platz, aber nur einen untergeordneten, weil es sich dem Kontrollhandeln der Herrschaft durch die Willkür der unteren Chargen zu entziehen droht. Der Terror ersetzt das Massaker, weil er institutionalisiert werden kann, kontrolliert in einer Hierarchie von Institutionen. Im Genozid des 20. Jahrhunderts findet dann allerdings selbst die Willkürgewalt des Massakers seine institutionelle Form, geplant und auf eine Zahl von Menschen ausgeweitet, die alles riesenhaft überstieg, was vorher an Mordtat möglich gewesen war.

Humanität und Gewalt Die Frage nach Gewalt und Friede, Recht und Verbrechen wird stets eine historische Antwort finden. Wenn sie dabei nicht endet, so hat das damit zu tun, dass man im Historischen kein Absolutes zu finden vermag, die Suche nach dem Absoluten jedoch zum Grundbestand des kulturellen Menschseins zu gehören scheint. Die Revolution wäre dann eine solche Suche, die sich an die Religion anschließt und in eine neue Form von Anbetung fortführt, den Humanismus, ausgedrückt in den „Menschenrechten“. In diesem Sinn ist die „Erklärung der Menschenrechte“ die Essenz der Revolution. Sie ist es, was ihren „menschheitlichen“ Anspruch begründet, eben die Befreiung des Menschen erreicht zu haben. In den Menschenrechten manifestiert sich der „Fortschritt“ als Ereignis, das „alle“ betrifft und nicht nur eine kleine Elite aufgeklärter Denker. Mit ihm wird der Mensch Herr einer Geschichte jenseits der Gnade. Mit ihm rechtfertigt er die revolutionäre Gewalt als „Geburtshelfer“ der Freiheit. Erst aus diesem Griff nach dem Absoluten erklärt sich die weltanschauliche Dynamik der Revolution. Die Gewalt erhält einen geradezu sakralen Charakter, und zwar umso mehr, je mehr sie sich als menschheitliches Tun versteht, so wie es die Religion auch getan hatte. Damit ist die revolutionäre Gewalt zum Kern der modernen Gewalt geworden. In dem Maß, in welchem die kriegerische Gewalt geächtet wurde, mit humanitären Argumenten und solchen der Vernunft, tauchte sie als revolutionäre wieder auf. Die Revolution ist ein Aufstand gegen die Geschichte, zunächst gegen eine bestimmte, nationale, und die in ihr entstandene Hierarchie, dann gegen die Geschichte an sich, in der es stets Hierarchien von Herrschaft gegeben hat. Das ist ihr menschheitlicher Impuls und ihn kann sie nur als Argument fassen, wenn sie sich auf den nackten Menschen selbst bezieht, in dessen Körper gewissermaßen Rechte eingeschrieben sind, die vor aller Geschichte liegen, deren Verwirklichung jedoch nun zum Ziel aller Geschichte erklärt wird und mit deren Verwirklichung sie an ihr Ende kommt. Mit den Menschenrechten schreibt sich die Utopie in die Geschichte ein und behauptet sich als deren Sinn und Ziel. In der Antike ist das volle Menschsein mit der vollen Teilhabe an der politischen Gemeinschaft verbunden. Erst in ihr verwirklicht sich der Mensch als Mensch, d. h. als soziales Wesen. Wo er es nicht vermag, weil die Polis ihn nicht aufgenommen hat, bleibt er sprachbegabtes Tier, Sklave. Dieser steht gewissermaßen außerhalb der symbolischen

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Mauer der Stadt und also außerhalb ihres Friedensgebotes. Er bleibt Objekt der Gewalt. Um die „Freiheit“ denken zu können, ist die Sklaverei hier die Voraussetzung. Der Mensch besitzt nur Rechte, wenn er frei ist, frei von der Gewalt anderer, frei von der Anstrengung körperlicher Arbeit. Die Körper der Unfreien verrichten die Arbeit. Sie sind die Objekte der Gewalt und als solche eben nur Körper, unfähig zur Freiheit und ihren Weiterungen, wie dem Polis-Dienst, der Tugend. Der Unfreie ist dem Freien sozial unähnlich, daher kann der Freie in ihm auch keinen Mit-Menschen erkennen. Mit der Stoa entsteht zwar der Gegengedanke einer allgemeinen, „nackten“ Humanität, doch es bleibt ein Gedanke ohne direkte Wirksamkeit. Das Christentum knüpfte dann an diesem nackten Dasein an, symbolisiert im Bild des „nackten Christus“, des auf Gott allein bezogenen, jeweils einzelnen Menschen. Doch die Personalität dieses Menschen vor einem außerweltlichen Gott realisierte sich jenseits der sozialen Welt und sie blieb als Erlösung untrennbar gebunden an die göttliche Gnade. In der sozialen Welt selbst blieben Ungleichheit und Unfreiheit erhalten, blieb die Gnade ein Zeichen der Herrschaft, so wie die Gewalt. Der Gedanke, in der Zerstörung der weltlichen Gnade zugleich die Gewalt zu zerstören, lag nahe und er radikalisierte sich durch die Vorstellung, in der Zerstörung der göttlichen Gnade den Menschen auf seine reine, absolut nackte Gestalt zurückführen zu können. Allerdings ist er in eben dieser Nacktheit dem Zustand der Gewalt nahe, als Opfer wie als Täter, der stets Opfer werden kann. Die dem Menschen „an sich“ zugeschriebenen Rechte können daher nur sozial gesichert werden. Bei der Vorstellung, wie dies geschehen könnte, spielt erneut die Gewalt und ihre Einschätzung eine Rolle. Entweder ist diese Sicherung nur durch die Drohung mit überlegener Gewalt durchzusetzen, gegen den Egoismus der Einzelnen, oder dieser Egoismus balanciert sich selbst. Im klassischen Liberalismus Adam Smiths erwerben die Menschen über die Arbeitsteilung und das damit verbundene Eigentum ein egoistisches Interesse am friedlichen Zusammenhalt der Gesellschaft, das sich altruistisch vertieft durch das Streben nach sozialer Anerkennung. Indem Smith die Gesellschaft aus dem menschlichen Bedürfnis des Tauschens, aus der „propensity to trade and barter“ hervorgehen lässt, bedarf er der Gewalt als eines Grundmotivs nicht mehr. Diese ist eine Art störender Zufall, der nur zur scheinbaren Hauptsache werden konnte, weil sie die eigentliche soziale Eigenschaft des Menschen unterdrückt hat, nämlich den friedlichen Tausch. Alle späteren liberalen Friedenshoffnungen gehen von diesem Gedanken aus, dass freies Wirtschaften, d. h. „Freihandel“ als Prinzip, die Gewalt unterdrücken und das wirkliche soziale Wesen des Menschen freisetzen werde. Tauschen, Wirtschaften setzte das Eigentum voraus und erzeugte es stets von neuem, weil die Anerkennung dessen, was den Anderen gehört, die Voraussetzung jedes friedlichen, gewaltlosen Tausches ist. Das Eigentum bildete hier den Gegensatz zur Gewalt, so wie es als bürgerliches, privates Eigentum als Ergebnis von Arbeit und Erwerb aufgefasst wurde und nicht von Gewalt oder Raub, wie das aristokratische, „feudale“. Vom Eigentum her formuliert sich auch der moderne Begriff eines Widerstandsrechts, wie er etwa in der Englischen Revolution wirksam geworden ist, ehe ihn der religiöse Furor überwältigte. Und auch in der Amerikanischen Revolution wird die „taxation without representation“ zum Aus-

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gangspunkt einer Gewalt, die ein Eigentum verteidigt, das in seiner Rechtsdimension als property alle meint, die zur Gesellschaft gehören. Es ist der angelsächsische Weg zu den Menschenrechten, nicht der französische. Die Bürgerrechte eines Engländers sind das Ergebnis einer langen Tradition, in der jeder ein Erbe ist. Sie konstruieren ein soziales Eigentum neben dem privaten an bestimmten materiellen Gütern. Beide Formen von Eigentum sind im „property“ enthalten, was heisst, dass jeder Engländer zugleich Eigentümer ist, zumindest von Rechten, aber zugleich auch seiner freien Arbeit und von deren Ertrag. Eigentum, Rechte sind das Ergebnis von Geschichte, deren Zerstörung sie selbst zerstören würde. Frankreich hingegen trennt sich mit den Menschenrechten von aller bisherigen Geschichte, um etwas ganz Neues zu beginnen. Die Menschenrechte bilden in der französischen Menschenrechtserklärung vom 27. August 1789 die Scheidelinie zwischen Geschichte und Nachgeschichte. Ihre Missachtung in aller bisherigen Geschichte wird demgemäß zur „alleinigen Ursache des öffentlichen Unglücks“ erklärt. Damit werden sie zu einem weltanschaulichen Programm für einen menschheitlich agierenden Staat, wie sich das in extremer Form in den Menschenrechtsartikeln der jakobinischen Verfassung von 1793 zeigte, die einen eigenen Artikel enthielt zum Recht, ja zur Pflicht des Widerstands gegen eine „Regierung, welche die Rechte des Volkes verletzt“: Wer allerdings der Meinung war, die gegenwärtige Regierung tue dies, wurde geköpft. Was sich hier auftut, ist der Bruch zwischen den hypothetischen Rechten des nackten Menschen und den tatsächlichen des politisch eingekleideten Bürgers. Zeitgenossen wie Edmund Burke haben das bereits frühzeitig bemerkt. Die Nacktheits-Hypothese hingegen wurde zentral für jene materialistische Wende, wie sie das europäische Bewusstsein seit dem 17. Jahrhundert mit zunehmender Kraft zu durchdringen beginnt. Mit der Trennung von Natur- und Gesellschaftszustand erscheint die Gesellschaft als das Veränderliche, die Natur als das Beständige. Soll die Gesellschaft ebenso ein Beständiges werden, so der Gedanke, muss sie aus der Natur abgeleitet werden. Was diese Natur aber sei, wird definiert. Man konnte in den nackten Leib die Menschenrechte ebenso einschreiben wie die Pawlow’schen Reflexe, die Dogmen der Rasse oder, in ihrem Namen, auch die Gewalt. Fasste man die Menschenrechte und die sich auf sie beziehende Herrschaft etwa von der Rousseau’schen volonté générale her auf, dann konnte es keinen Gegensatz zwischen Menschenrechten und Terror geben, weder 1793 noch 1936 in der Verfassung der UdSSR, in Kraft gesetzt auf dem Höhepunkt stalinistischer „Säuberungen“. In der vom nackten Menschen ausgehenden sowjetischen Auslegung standen die sozialen Rechte folgerichtig im Zentrum, also die Sicherung des materiellen Daseins, das kollektiver Art war, während die individuellen Rechte, etwa Meinungsfreiheit, Freiheit der Mobilität, des Eigentums, die Versammlungsfreiheit, keine Rolle spielten. Im Sozialismus bildete die Arbeit des als „nackt“ gedachten Menschen den Ausgangspunkt, weltanschaulich bezüglich ihm dadurch eingeschriebenen Rechten, politisch bezüglich jener klassenlosen Gesellschaft, in der die Arbeit von ihren herrschaftlichen Entfremdungen, d. h. von der Geschichte, befreit werden würde. Gewalt erscheint dann als das unvermeidliche Ergebnis von Klassenherrschaft und also von Ausbeutung, Unterdrückung, Aufruhr. Die Beseitigung der Klassen, d. h. von Eigentum bzw.

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Herrschaft der Eigentümer, führt fort in einen Zustand des Friedens und der Menschenrechte. Diese Beseitigung, als Beseitigung aller bisherigen Geschichte, ist nur als totale Revolution möglich und nur durch totale Gewalt erreichbar. Es ist eine Gewalt, die sich als Humanismus versteht, weil sie „den Menschen“ rettet, indem sie Menschen totschlägt.

Exkurs: Gewalt und Sexualität Gewalt und Sexualität sind physisch-psychische Erregnungszustände, die in ihrer Exzessivität einander vergleichbar sind. Sexualität ist zudem seit jeher zugleich eine bevorzugte Beute des männlichen Krieges gewesen. Frauenraub, Versklavung, Vergewaltigung haben den Krieg seit Anbeginn begleitet und sie tun es bis in die Gegenwart. Gewalt und Sexualität sind menschliche Elementarkräfte, die zum Exzess neigen. Eben deshalb ist es eine soziale Notwendigkeit, sie in Regeln zu bändigen. Innerhalb der „Mauern“ der civitas wird die Gewalt beschränkt und auf das Recht bezogen. Gleiches geschieht mit der Sexualität. Nur wo die Mauern brechen, richtet sich die Gewalt erneut auf die Sexualität, kaum dass sie den Feind erschlagen hat. Das kann die Willkür des Eroberers sein, es kann aber ebenso ein Wille sein, die Regeln zu zerstören. In der Französischen Revolution nun gibt es den ersten Versuch, eben dies zu tun. Ihre Maxime ist der individualistische Exzess, die unbegrenzte Freiheit eines jeden, zu tun, was er für nötig hält, um glücklich zu sein. Fasst man den Menschen rein materiell auf, dann reduziert sich dieses Glück auf Wolllust, auf eine Sexualität, die keinen Normen mehr unterworfen ist. Sexualität, Gewalt und Verbrechen werden damit eins, was der Apologet dieser Vereinigung, der Marquis de Sade, klar ausgesprochen hat. Der Mensch erscheint als eine Art triebhafter Maschine, die keinen freien Willen besitzt, also unverantwortlich bleibt, getrieben von Gewalt und Sexualität, dem Wunsch, zu beseitigen, was stört, zu besitzen, was Lust erzeugt. Mit den Regeln wird folgerichtig auch die Gesellschaft verworfen. Der sadistische Zustand ist einer, in dem Sexualität und Gewalt eins geworden sind, vereint in der Natur des Menschen, dessen einziges Ziel die je eigene Verwirklichung dieser Natur bis zur Vernichtung ist. Da es jedoch in einem solchen Zustand Herren und Opfer geben muss, ist die Gewalt dabei die dominante Kraft. Sie ist es, die unterwirft, verfügbar macht. Bemerkenswert bleibt, dass in dieser Utopie eines totalitären Egoismus der Tod als existentielle Erschütterung fehlt. Tod gibt es hier nur als Töten Anderer. Die Utopie Sades, möglich geworden in jenem zweifachen Extremzustand aus Französischer Revolution, die alle sozialen Gefüge und moralischen Normen in Frage stellt, und Gefängnis, in dem Sade 25 Jahre seines Lebens verbrachte: Diese Utopie ist die radikalste je geschriebene. In ihr werden alle bisher geltenden moralischen Regeln verworfen und eine bedingungslose Dichotomie von Täter und Opfer entworfen, deren Essenz in der Identität von Sexualität und Gewalt besteht. Vor ihr vermag keine Gesellschaft standzuhalten, wenn denn Gesellschaft die Zähmung des Triebhaften durch Regeln ist, ein zivilisatorischer Zwang, der erst friedliches Zusammenleben möglich werden lässt.

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In der Vergewaltigung ist dieser Zwang kollabiert und er kollabiert dort massenhaft, wo die Gewalttätigkeit massenhaft und selbstverständlich geworden ist. Zur massenhaften Vergewaltigung kommt es da, wo der Krieg in die Stadt eingebrochen ist, von Troja bis Berlin, 1945, bis Bosnien, 1993, bis heute. Für die durch Gewalttaten enthemmten Eroberer sind die Frauen der Feinde Beute. Die Tünche der Zivilisation ist so dünn wie die tragenden Regeln, die nur so lange gelten, als sie durch staatliche Gewalt erzwungen werden. Eine Moral, die „von innen“ trägt, gibt es zumindest in der Masse nicht. Nirgends sonst ist das Gewaltverhältnis von Täter und Opfer so unvermittelt, ist das schiere Überleben so zentral, zählt die Menschlichkeit so wenig.31 Dass die Haager Konvention (1907) Vergewaltigungen unter die Kriegsverbrechen einordnete, hat die Praxis, den weiblichen Körper als Beute zu nehmen, nicht nachhaltig eingeschränkt. Für das Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit wird die Zahl der vergewaltigten Frauen auf 2 Millionen geschätzt, meist durch russische Soldaten, ehe die militärische Führung, um die Disziplin der Truppe besorgt, mit harten Strafen dagegen vorging. Etwa 200 000 russisch-deutsche Kinder wurden aus solchen Vergewaltigungen geboren, neben zahllosen Abtreibungen. Die Besiegten, hier die Frauen, werden „zu Schmutz unter [den] Stiefeln“ der Sieger, bei denen der Alkohol die letzten möglichen Reste an humaner Achtung oder auch nur antrainierter Regelbeachtung ersäuft.32 Die Vergewaltigungsorgien japanischer Soldaten im chinesischen Nanking im Dezember 1937, französischer Kolonialsoldaten in Süditalien im Frühjahr 1944 folgen demselben Muster der Sexualbeute, der ersten und letzten Kriegsbeute, die man dem Soldaten lässt, so lange, bis die in der Vergewaltigung explodierende wilde Gewalt die Kommandierbarkeit der Soldaten zu untergraben droht. Der Tritt auf den am Boden Liegenden ist stets der bequemste. Frauen werden dabei besonders in Haftung genommen: Von den Siegern, wenn man an den Frauen der Besiegten seinen Sieg vollzieht, von den Siegern, wenn sie die Frauen ihres Volkes eines besonders schweren Verrats bezichtigen, weil sie mit dem Feind sexuelle Kontakte hatten, ihr Volk quasi biologisch verrieten. So etwa das Scheren der Köpfe von rund 20 000 Französinnen nach dem Einmarsch der Alliierten (1944) und ihr Herumführen an Ketten durch die Reihen höhnender, prügelnder „Sieger“. Erschien hier die Frau als passives Objekt von Gewalt, so ist mit der Rekrutierung von Frauen für das Militär eine neue Situation entstanden. Inzwischen dienen in den meisten Heeren der industrialisierten Staaten Frauen an der Waffe und sie töten so effizient und unbedenklich wie die Männer. Die zunehmende Rolle von Frauen im Terrorismus, besonders auffällig in der westdeutschen RAF, lässt die überkommene Vorstellung zweifelhaft werden, Frauen seien aufgrund ihrer biologischen Konstitution kaum für Gewalttätigkeit anfällig. Was Frauen bisher von ihr fernhielt, waren die sie umgebenden sozialen und mentalen Strukturen. Das religiös geformte Urteil einer geringeren Bedeutung gegenüber dem Mann sowie patriarchalische Herrschaftsverhältnisse in Familie und Staat, verbunden mit einer Tabuisierung weiblicher Gewalt, standen einer dem Mann vergleichbaren Gewalttätigkeit entgegen, die positiv als Merkmal seiner Männlichkeit gewertet wurde. Der Feminismus in seiner absoluten Form als Totalität der Gleichheit hat die dominante,

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wenngleich nie vollständige, Gewaltstarre der Frau gelöst. Sie kann sich nun einreihen in die Gewaltgeschichte der Männer. Neben die scheinbare Intellektualisierung der sexuellen Gewalt bei Sade und den weiblichen Körper als Kriegsbeute, die beide Ausnahmen sind, weil sie den sozialen Kollaps voraussetzen, tritt die „gewöhnliche“ Vergewaltigung, d. h. die sexuelle Gewalt im Zustand sozialer Regelgeltung. Dass die Gesellschaft so strikt gegen diese Regelübertretung reagiert, hat mit ihrer Furcht vor der „Wildheit“, dem Animalischen zu tun, zu dessen Kontrolle sie eigentlich entstanden ist. Sexualität und Gewaltfähigkeit jedoch sind die Impulskerne solcher Wildheit, die durch soziale Normen nur begrenzt werden können, doch im Untergrund der Psyche weiterhin vorhanden bleiben. Denn Gewalt und Sexualität verbinden sich in einer großen Gemeinsamkeit, nämlich der Herrschaft über den Körper eines anderen, und damit in der tief befriedigenden Emotion herrschaftlicher Verfügung über andere, bis hin zu Verletzung und Tötung. So ist es kein Zufall, dass sexuelle Gewalt als Vergewaltigung meist gegen Schwache geübt wird, gegen Abhängige, Kinder, soziale Außenseiter, z. B. Prostituierte.33 Dass diese Gewalt männlich ist, hat nicht zuletzt ihre Ursache in der patriarchalischen Verfassung der Gesellschaft, die den Mann weniger „domestiziert“, an die Friedenswerte von Haus und Familie bindet und von ihm eine „aktive“ soziale Rolle erwartet, in der Sexualität, aber auch in der Erhaltung eines Potentials an Gewalt als Möglichkeit seiner Verwendung als Gewalttäter, Kämpfer, Soldat. Dass im Mittelalter die Kastration eine Strafe war, die gegen kriegsfähige Männer, meist gegen Adelige, angewandt wurde und mit der Zerstörung ihrer Sexualität zugleich die Zerstörung ihrer Kriegsfähigkeit erreichen sollte, gehört in diesen Zusammenhang und auch, dass getöteten Feinden zuweilen ihre Geschlechtsorgane abgeschnitten worden sind.

2. Krieg Civitas und militia Der Raum des Friedens ist immer umgrenzt. Er ist eine Insel im Meer der Gewalt. Die Mauern der Stadt wehren damit nicht nur den äußeren Feind ab, sie umgrenzen zugleich den Bereich des Friedens. Zwischen Bürgern soll keine Gewalt sein, weshalb es die Aufgabe des „Staates“, der politischen Stadt ist, Frieden zwischen ihnen zu wahren. Die Gewaltfähigkeit der Bürger fand ihren legitimen Ausdruck allein in der Verteidigung der Stadt auf der Mauer und vor der Mauer, im Krieg. Innerhalb der Mauer blieb die Gewalt ein Verbrechen. Der Raum vor der Mauer als Raum einer jederzeit möglichen Gewalt blieb rechtsfrei. Recht gab es nur, wo Frieden herrschte. Der Krieg war ein rechtloser Zustand, weshalb sich auch die Frage nach dem „gerechten Krieg“ erst spät stellte, so bei Livius gegen Ende des letzten vorchristlichen Jahrhunderts: Gerecht sei ein Krieg, wenn nur noch in den Waffen Hoffnung zu sein scheine. Es war ein vergeblicher Versuch, den Krieg als „letztes Mittel“ zu begrenzen. Er blieb erstes Mittel, Zeichen von Herrschaft vor den

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Mauern so gut wie der Friede das Zeichen der Herrschaft innerhalb der Mauern war. Im Krieg verlässt die Gewalt den Raum des Friedens und tritt in jenen anderen Zustand über, in dem nicht ihr Minimum das Ziel ist, sondern ihr Maximum. Der Krieg ist die Negation der Politik, die in der Polis, dem umgrenzten Raum der Stadt, ihren sozialen wie geistigen Ort gefunden hat; der Krieg setzt den Vernichtungsgedanken gegen den Gemeinschaftsgedanken. Doch da zwischen politisch organisierten Gruppen die Gewalt, als Eroberung, Vertreibung, eine stete Möglichkeit ist, weil Gewalt Ressourcen besetzen, verfügbar machen kann, geografische wie soziale, muss Gewalt auch „politisch“ werden. Der Krieg ist das Paradox der Politik. Er bleibt in ihr in widersprüchlicher Weise gegenwärtig, denn zum einen muss Politik bzw. politische Herrschaft die Gewalt kontrollieren, wenn sie von ihr nicht zerstört werden soll. Zum anderen aber besteht die Gefahr, dass sie in ihrer sozialen Logik von der eliminierenden Logik der kriegerischen Gewalt überwältigt wird. Homer erzählt die Geschichte des Krieges als die einer Gewalt jenseits der Politik. Wenn die Polis zerbricht, ist alles Recht zerbrochen. Krieg ist eine Form organisierter Gewalt, wohl die älteste. Sie ist das legitimierte Töten von Menschen, die als Feind der eigenen Gruppe bezeichnet werden. Herrscher ist, wer den Feind benennen darf. Die Benennung des „Feindes“ bildet demnach die höchste Kompetenz von Herrschaft, weil sie mit der Freisetzung einer unbegrenzten, „eliminatorischen“ Gewalt verbunden ist. Über diese Feind-Benennung bildet sich die Politik in das Kriegerische fort. Sie versucht es zumindest. Krieg ist damit auch ein politisches Geschehen, was ihn von der spontanen wie der kriminellen Gewalt unterscheidet. Und er ist ein wechselseitiges Geschehen, denn obwohl zwar unbewaffnete, nicht kämpfende Personen in seinen Zerstörungsstrudel hineingezogen werden, findet er im Wesentlichen doch zwischen bewaffneten, kampffähigen und kampfbereiten Personen statt, die organisiert handeln. Krieg ist damit, wie die ihm verbundene politische Gemeinschaft bzw. der „Staat“, ein kulturelles Phänomen. Weil in ihm jedoch etwas geschieht, das dem Friedensprinzip der politischen Gemeinschaft radikal widerspricht, ist seine symbolische Rekonstruktion ebenso bedeutsam wie seine reale Durchführung. Friedensprinzip und Tötungsprinzip müssen aufeinander bezogen werden, d. h. die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft müssen für den Krieg aus ihrer innenpolitischen Pazifierung enthemmt werden, ohne dass allerdings diese verloren geht, denn an ihr hängen nicht nur die fortgeltenden Bedingungen des inneren Friedens, sondern auch die eingeübten Formen des Gehorsams gegenüber der jeweiligen Herrschaftsordnung, ohne die kein Militär funktioniert. Jede Gesellschaft, die kriegsfähig sein will, bewahrt eine solch symbolische Konstruktion des Krieges und aktualisiert sie in Phasen eines möglichen bewaffneten Konflikts. Dabei ist für Jahrtausende die Religion die wesentliche symbolische Dimension der Gesellschaft und damit zugleich des Krieges, ehe sie von der modernen Gewalt und ihren neuen Symbolkonstrukten schrittweise ersetzt worden ist. Dass der Friede ein absoluter Wert sei, ist eine Idee, welche im Abendland mit dem Christentum einflussreich, wenngleich keineswegs bestimmend geworden ist. In der Antike bilden weder Krieg noch Frieden eigene ethische Größen. Beide sind Mittel zum

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Zweck, des Erhaltens und Gedeihens der politischen Gemeinschaft. Friede ist eine Kriegsfolge, so wie das lateinische pax auf einen Vertragsabschluss hindeutet.1 In der römischen Kaiserzeit wird dann daraus das Herrschaftszeichen des Kaisers und seiner umfassenden Gewalt-, d. h. Befriedungsfähigkeit. Krieg erscheint somit als Zustand, der immer wieder ausbricht, als eine Art zweiter Normalität neben jenem anderen Zustand, der Frieden heißt. Doch ohne Frieden innerhalb der „Mauern“, der politischen Gemeinschaft, vermag diese nicht zu bestehen. Wenn daher die Außenseite der Politik für Rom der Krieg war, so musste deren Innenseite umso strikter von seinem Wesen, der Gewalt, den Waffen, abgegrenzt werden. Die um die Stadt gezogene Linie des pomeriums (von post-murum) trennt daher symbolisch Krieg und Frieden als Raum- wie Bewusstseinszustände. Alles, was mit Krieg zu tun hatte, musste vor dieser Linie stattfinden, die Heeresversammlung so gut wie der Empfang von Gesandten aus Staaten, mit denen man im Krieg lag, und auch die Tempel der Götter, die Zerstörung bedeuteten (Mars oder Vulkanus).2 Bei Erreichen des pomeriums müssen Waffen und Rüstungen abgelegt werden. Wird es vom Feldherren überschritten, erlischt seine (Kommando-)Gewalt. Und nur auf besonderen Beschluss darf er für einen Tag als „Triumphator“ in die Stadt einziehen. Lediglich wenn die Stadt unmittelbar militärisch bedroht wird, fällt die Trennung von Krieg- und Friedensraum (militiae und domi) mit der zeitbegrenzten Einsetzung eines Diktators. Durch den Diensteid (sacramentum) tritt dann der Römer aus seinem Bürgersein in das Soldatsein über: Er erhält mit ihm die rituelle Erlaubnis zum Töten von Feinden, die dieses vom Mord unterscheidet,3 und er tritt unter die Befehlsgewalt des Feldherrn, die bis zum Recht reicht, die Todesstrafe zu vollziehen, wenn der Diensteid gebrochen wurde, etwa durch Flucht in der Schlacht oder Desertion. Diesem Übergang entspricht auf der symbolischen Seite die Gewinnung der Zustimmung der Götter durch Riten und Opfergaben bzw. die Zusage solcher im Fall des Sieges. Vor dem Abzug des Heeres wird schließlich eine „Reinigung“ (lustratio) vollzogen, indem die Schuld des Tötens zeichenhaft auf ein Opfertier übertragen wird. Zudem gibt es eine jährliche Zeremonie, in der die Waffen symbolisch gereinigt werden (armilustrium). Und damit ein Krieg gerechtfertigt werden kann, müssen zu den Formalien der Kriegserklärung an den Feind noch „gerechte Gründe“ genannt werden, so die Verteidigung, der Schutz von Bundesgenossen, auch die Vergeltung für erlittene Schmach, die Verteidigung der Ehre. Es geht im Grunde immer um Verteidigung, nie um einen unprovozierten Angriff. Caesars Eroberung Galliens wurde mit dem Schutz eines Bundesgenossen begründet, aus dem dann ein Eroberungskrieg geworden ist, bei dem noch vage auf die Zivilisation, die man den Barbaren bringen wolle, als Begründung hingewiesen wurde. Das Zivilisationsargument ist prägend geworden für die spätere Barbaren-Bekämpfung, vom Kolonialismus bis zur Demokratieverbreitung. Aber davor steht ein „gerechter Grund“: Cicero hat halb ironisch einmal bemerkt, Rom sei zu einem Imperium geworden, weil es ständig Bundesgenossen habe verteidigen müssen. Für die Katastrophe einer politischen Gemeinschaft, den Bürgerkrieg, gibt es allerdings keinen „gerechten Grund“. Caesar fingiert halbherzig einen, indem er die Verletzung seiner sozialen Ehre (dignitas) durch den Senat anführt, die Missachtung seiner gallischen Verdienste für den

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Staat. In Wahrheit ist es der Bruch, den die Bürgerkriege (seit 88 v. Chr.) gemacht haben, für die es weder Rechtlichkeit noch Gerechtigkeit geben konnte, nur jenen Terror (Proscriptionen), zu dem die Herrschaft greift, wenn sie nur noch Gewalt geworden ist. Im römischen Krieg sind bereits alle Elemente des Krieges als eines geordneten Tötens bestimmter Menschen vorhanden, die kollektiv als „Feind“ definiert wurden. Eben dadurch, dass das Töten einer Ordnung unterworfen wird, kann es gezähmt werden. Civitas und militia treten damit in ein Spannungsverhältnis. Ohne die Ordnung der politischen Gemeinschaft ist eine Ordnung des Krieges nicht möglich, bleibt er wilde Gewalt, die verpufft. Ein Krieg, der einem Herrschaftszweck folgt, d. h. der politisch ist und nicht nur einfach Plünderung, kann ohne eine Ordnung des Tötens nicht geführt werden. Das Wesen dieser Ordnung ist die Disziplin als Konsequenz einer Friedensordnung des Gehorsams. Sie ist die „Moral“ des Kriegers, eben der Gehorsam als Kern einer Regelbeachtung, die auch Bedingungen einschließen konnte, wie man sich dem kapitulierenden Feind oder der zivilen Bevölkerung gegenüber zu verhalten habe. Wenn der Krieg, um überhaupt möglich zu werden, die Regeln des Friedens emphatisch außer Kraft setzt, muss er zugleich eigene Regeln durchsetzen, durch symbolische Akte, Training und Drohung, um führbar und damit auch beendbar zu bleiben. Die kriegerische Gewalt muss in jenen tiefen Grund der Psyche eingefügt werden, in dem die elementaren Potentiale der Gewaltbereitschaft wie der Angst dominieren. Die psychische Ritualisierung durch die Disziplin ermöglicht es dann, Menschen in Extremsituationen zu steuern, ihre emotionale Überwältigung, sei es durch die Wut der Gewalt, sei es durch die Panik der Furcht, weitgehend zu begrenzen. Die Intensität der Disziplin hängt dabei eng mit der jeweiligen Kampfform zusammen. Kompakte Formen, wie die den antiken Krieg beherrschende Phalanx mit ihren dicht zusammen stehenden Kämpfern, benötigen ein hohes Maß an Disziplin. Lose Formen, wie der ritterliche Kampf mit seinen hoch mobilen Einzelkämpfern, benötigen dagegen eine andere Weise der Disziplinierung, die mehr auf ein Ethos des Einzelnen setzt als auf eine bewusstlose Einfügung in ein Kollektiv. Im Ritterkampf erscheint der Feind als konkrete Person und damit zugleich als Mensch. Die Fähigkeit des Verletzens und Tötens ist hier an zwei Personen festgemacht, die einander gewalttätig gegenüberstehen, und eben diese Singularität der Kampfhandlung lässt die Regelbeachtung zu einem Zwang werden, den man sich selber antut, auch weil davon im Falle der eigenen Schwäche die Chance des Überlebens abhängt. Die Erbitterung, mit der diese „ritterlichen“ Einzelkämpfer auf Fernwaffen reagierten, welche das Töten ähnlich anonymisierten wie die geschlossenen Haufen aus Fußkämpfern, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass durch sie ihr Ethos der Regelbeachtung sinnlos gemacht wurde, von der Armbrust bis zum Gewehr. Damit sind die drei wesentlichen Momente des Krieges genannt, nämlich Ordnung als Ritualisierung des Tötens, Waffe als Optimierung einer anthropologischen Potenz, Territorium als politischer und ökonomischer Siegespreis. Um „in der Ordnung“ zu bleiben, bedarf der Krieg sowohl der Disziplin wie der Politik, d. h. der begrenzenden Beziehung zur politischen Gemeinschaft als eines Friedensraums. Die Disziplin ordnet die Gewalt,

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steigert zugleich ihre Leistungsfähigkeit wie ihre Kontrollierbarkeit, macht sie instrumentell. Die politische Beziehung relativiert sie zum Frieden hin als der entscheidenden Größe menschlichen Daseins. Der Krieg muss sich vor dem Frieden verantworten, nur dann kann er in ihn zurückkehren und mit ihm der Krieger. Allerdings entbindet die Politik die Gewalt als Krieg auch aus der Friedensgemeinschaft, rechtfertigt ihn. Die Ungeheuerlichkeit, die in jener Enthemmung zur Gewalt liegt, wie sie im politischen Entschluss zum Krieg vollzogen wird, ist in moderner Zeit immer weniger verstanden worden. Denn Gewalt ist ein körperlicher wie seelischer Extremzustand, der zwar körperlich geradezu punktartig „abgeschaltet“ werden kann, seelisch jedoch fortwirkt. Die Erfahrung von Gewalt, erlittener wie ausgeübter, verändert das Gefüge der Seele, bei manchen so sehr, dass sie unfähig werden, in die Friedensordnung der Gesellschaft zurückzukehren. Durch Gewalt psychisch deformierte Menschen werden entweder apathisch oder asozial. Das gilt insbesondere für Soldaten, deren Brutalisierung, also der Zerfall der kriegerischen Gewalt „gegen den Feind“ in die wilde Gewalttätigkeit lustvollen Umbringens und Vergewaltigens, weithin die psychische Entlastung einer nicht mehr bewältigten Gewalterfahrung ist. Das Klugheitswissen des Kriegsvolks der Römer, dass der Soldat einer symbolischen Heimholung bedarf, um wieder Bürger werden zu können, ist in der Neuzeit im Kontext der Soldzahlung und der Kriegsunternehmer, also der Fiskalisierung der kriegerischen Gewalt, zuerst vergessen und dann von Revolution und Ideologie pathetisiert worden. Mit den „Kriegszitterern“ der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs setzte schließlich die Wende zur Psychiatrie ein. Die Zahl der im Ersten Weltkrieg nervenkrank gewordenen deutschen Soldaten wird auf über 600 000 geschätzt, Männer, die Zuckungen und Lähmungen an Armen oder Beinen hatten, die nicht zu kontrollieren waren, plötzliche Ohnmachten, hysterische Anfälle erlitten, bei geringsten Aufregungen rasenden Herzschlag verspürten, handlungsunfähig wurden. Nach 1914 wurde deshalb neben der Chirurgie die Psychiatrie zur zweiten Kriegsmedizin. Zu den zwischen dem 2. August 1914 und dem 31. Juli 1918 verstorbenen deutschen Soldaten, insgesamt 1,2 Millionen, kamen 702 778 als „dienstunbrauchbar“ Entlassene, davon „nur“ 89 760 „Verstümmelte“ (meist Arm- oder Beinamputierte und Blinde). Der riesengroße Rest bestand aus psychisch traumatisierten Personen, Menschen mit gestörter, oft zerstörter Seele. Hatten die Soldaten des pathetischen Krieges ihre seelische Verstörung noch durch den Sinntransfer einer sie tragenden nationalen Gemeinschaft halbwegs kompensieren können, so wurde später die Sinnhaftigkeit ihrer Gewalterfahrung zunehmend brüchiger. Der Rückzug der Gesellschaft in die Zivilität zum einen, der Kampf gegen einen kaum greifbaren Partisanenfeind zum anderen führen zu psychischen Belastungen, bei denen dann eine massive Bedrohungserfahrung den seelischen Zusammenbruch zur Folge haben kann. Am Ende des 20. Jahrhunderts bluten die Armeen hochtechnisierter Staaten „seelisch“ aus und nicht mehr körperlich, erkranken bis zu 30% der an Kampfhandlungen beteiligten Soldaten an psychischen Störungen, kommen auf einen körperlich Verletzten sechs seelisch Verletzte. Das Combat Stress Disorder wird zur realen Bedrohung der Einsatzbereitschaft der Truppe, für die Armeen Israels in Palästina oder der USA in Vietnam oder Afghanistan wie die an-

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derer Länder. Die Entwicklung der Waffentechnik spielte dabei eine wichtige Rolle, deren treibende Kraft in der Expansion fernwirkender Waffen bestand und also in der Anonymisierung des Feindes durch artefaktische Distanz.

Zähmungen des Krieges Was bleibt, ist die Furcht und sie ist nirgends größer als da, wo der Krieg in die wilde Gewalt abstürzt. Dass in der Welt Friede sei, ist eine Vorstellung, die voraussetzt, dass die „Mauern“ der „Stadt“ die bewohnte Welt umfassen, bis zu jenen Rändern, an denen unbefriedbar die ewigen Barbaren wohnen. Es ist eine Vorstellung, die im kurzlebigen Alexander-Reich anklingt und in der Pax Romana eine lange währende, wenngleich nicht ewige Erfüllung gefunden hat. In der Respublica Christiana des Mittelalters formt sich diese Idee erneut. Ein „Gottesfrieden“ soll zwischen den Christen herrschen, gebunden durch das Friedens- und Liebesgebot Christi. Und als ein solcher Frieden nicht erreichbar schien, so blieben doch zumindest seine Bruchstücke erhalten, etwa der Schutz der Kirchengebäude und Kirchenleute, dann aller unbewaffneten Personen. Es war dies die erste Zähmung der kriegerischen Gewalt jenseits von Disziplin und Verträgen. In der Antike wirkte Gewalt bei der Zähmung kriegerischer Gewalt mit, als Strafdrohung, als Gewaltfähigkeit des Feindes, denn wenn er diese nicht mehr besaß, war er auch nicht mehr vertragsfähig. In den Schutzregeln des Gottesfriedens hingegen wirkte keine zähmende Gegengewalt, sondern ein Ethos. Wer nicht kämpfte, wurde nicht bekämpft. Eine Ausnahme bildeten die Erklärung des bedingungslosen Kampfes (guerre mortelle) zu Beginn einer Schlacht sowie die Eroberung einer Stadt nach Zurückweisung der Kapitulationsforderung.4 Die Weiterung zum ritterlichen Kampf hoch spezialisierter Kombattanten bestand dann in der Beachtung fester Regeln, die in Erziehung und Turnieren geübt und gezeigt wurden. Ritterlicher Kampf und kirchliches Gebot verbinden sich hier zur ersten „Ethik“ des Krieges, dessen Kehrseite seine Akzeptanz durch das im Pazifismus gründende Christentum ist. Wie sehr die Form des Kampfes die Form und Möglichkeit einer solch ethischen Regulierung kriegerischer Gewalt beeinflusst, zeigt der Kollaps des ritterlich-christlichen Regelgefüges mit dem Aufkommen der Schweizer Gewalthaufen. Seine Kommerzialisierung durch den Verkauf kriegerischer Gewalt gegen Geld einerseits, die Verbreitung der Pulverwaffen andererseits reduzierten den Krieg seit dem 16. Jahrhundert erneut auf das Prinzip des gnadenlosen Tötens und Getötetwerdens. Infanteristisches Massenprinzip und unpersönliches Töten durch Fernwaffen erneuerten die Anonymität der Gewaltausübung und ihre Vergeldlichung zerstörte jegliche Rücksichtnahme. Die auf die Reformation folgenden Religionskriege lösten die christliche Gemeinsamkeit auf, oder was davon noch übrig geblieben war. Im Dreißigjährigen Krieg erreichte die Brutalisierung des Krieges ihren Tiefpunkt. Hier hatte sich der Krieg in seine Frühform zurückverwandelt, in Raub und Plünderung, in Gewalt, vor allem geübt gegen die Bevölkerung, ausgeübt von Kriegern, deren einziger Erwerb der Krieg war. Vermutlich kamen im Dreißigjährigen Krieg 8 Mil-

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lionen Menschen um (bei einer Bevölkerung von ca. 15 Millionen, 1600), davon geschätzte 350 000 als am Kampf beteiligte Personen. Den Krieg wieder „in Ordnung“ zu bringen, die wuchernde wilde Gewalt zu regularisieren, wurde so zur großen Aufgabe der Epoche. Es war die Aufgabe des entstehenden modernen Staates, der mit der Aufstellung stehender Heere aus Berufssoldaten, die unmittelbar dem Fürsten unterstellt waren, die Gewalt bei sich monopolisierte. Die sich herausbildende Ordnung des Krieges als Bestimmung erlaubter und verbotener Gewalt diente damit der Durchsetzung dieses Monopols auch gegenüber den Soldaten selbst, war ein elementares Mittel zu ihrer Kontrolle und Unterwerfung. Galten bei den Truppen der Kriegsunternehmer, etwa des kaiserlichen Generalissimus Wallenstein, noch die Artikelbriefe als eine Art Vereinbarung zwischen diesem und dem angeworbenen Soldaten über Gefordertes, Erlaubtes und Verbotenes, so erließ der Schwedenkönig Gustav Adolf (1632) für sein aus dem Volk rekrutiertes Heer ein einheitliches Disziplinarrecht, das zum Vorbild für die unmittelbare Unterordnung unter den Fürsten selbst geworden ist. Das hier entstehende Kriegsrecht war damit ein Disziplinrecht zuerst und erst dann eine Art Völkerrecht als Verabredung unter kriegsfähigen Herren über Zulässiges und dessen Gegenteil. Wer kriegsfähig, d. h. souverän war, galt auch als kriegsberechtigt, und souverän waren allein die Fürsten. Damit herrschte im Staat das Friedensgebot, wie einst nur in der ummauerten Stadt. Zwischen den Staaten jedoch erschien der Krieg als legitim, ja notwendig als Mittel der Expansion, d. h. als Zeichen der Lebenskraft eines Staates. Damit wurde die Diplomatie zum wesentlichen Ausdruck politischer Souveränität, d. h. zur Tätigkeit der nun entstehenden „Außenpolitik“, die im Krieg ihr Zentrum fand, in Bündnissen, Verhandlungen, Friedensschlüssen. Mit den „gezähmten“ Soldaten sollte nun ein gezähmter Krieg geführt werden, kontrolliert, kontrollierbar durch die fürstlichen Monopolisten. Zum ersten Mal übte der Herrscher alle physische Gewalt direkt aus und nicht mehr über Mittelsmänner, seien es Lehensträger, seien es Söldnerführer, deren Loyalität nie völlig gesichert blieb. Rigider Drill, drakonische Strafen und regelmäßige Bezahlung bildeten die Säulen dieses Monopols, zu denen noch die Logistik als den Gehorsam sicherndes Instrument trat, gegen das Entgleiten der Soldaten in die wilde Gewalt durch Marodieren und Plündern. Die Reflexion dieses Übergangs von einem Zustand vielfältig verteilter Gewalt zu einem zentrierter Gewalt wird etwa gleichzeitig von Hugo Grotius und Thomas Hobbes geleistet. Formuliert Hobbes diese Zentrierung auf ein Monopol der Herrschaft für die inneren Verhältnisse einer politischen Gemeinschaft und also gegen den Bürgerkrieg, so zieht Grotius (1625) daraus die Konsequenz für den äußeren Krieg als Auseinandersetzung zwischen Staaten, die bestimmten Regeln zu folgen habe. Krieg und Frieden werden deutlich voneinander abgehoben, einmal dadurch, dass erneut die potentiell zu Tötenden, d. h. die Soldaten, von den keinesfalls zu Tötenden, den Zivilisten, abgegrenzt werden, was eine Bedingung jeder „ethischen“ Regelung des Krieges darstellt. Zum anderen nimmt die Zahl derer, die zum Krieg fähig sind, massiv ab, da nicht nur die Durchsetzung des inneren Gewaltmonopols das Fehderecht der Ritter beseitigt hatte, sondern auch die enormen Kosten großer stehender Heere die ökonomische Fähigkeit zum

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Führen von Kriegen auf wenige „große Mächte“ beschränkte, auf die fünf Großen des 18. Jahrhunderts, auf Großbritannien und Frankreich, Österreich, Russland und Preußen.5 Verstand man, wie Grotius, das Kriegsvölkerrecht als ein den Krieg nach Möglichkeit zu verhinderndes Unterfangen, so blieben lediglich zwei solcher Ausnahmen eines zu rechtfertigenden Krieges erhalten, nämlich die Verteidigung bei einem Angriff sowie eine präventive Kriegsführung, um einen offenkundig unmittelbar bevorstehenden Angriff abzuwehren. Ein Recht zum Krieg lässt sich demnach allein aus dem Naturrecht zur Selbstverteidigung ableiten. Expansionskriege zur Ausweitung des Territoriums und also der Machtbasis konnten auf diese Weise nicht gerechtfertigt werden, weshalb die Lehre des Grotius auch keinen wesentlichen Einfluss auf Politik und Völkerrechtstheorie der absolutistischen Ära ausgeübt hat. Allerdings öffnete eine großzügigere Auslegung des Präventivgedankens neue Möglichkeiten einer expansiven Kriegspolitik, wie sie bis zu den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und bis zur imperialen Politik der USA an der Wende zum 21. Jahrhundert wesentlich geblieben ist, selbst wenn mit der Ächtung des Angriffskrieges seit den 1920er Jahren die Position von Grotius formal rehabilitiert wurde. Der Krieg im 18. Jahrhundert, wie ihn Christian Wolff und Emer de Vattel definierten, anerkannte den präventiven Angriffskrieg zur Sicherung des Mächtegleichgewichts, d. h. der gegenwärtigen Machtstellung eines Staates, gegen dessen mögliche Bedrohung, also ohne das Vorhandensein unmittelbar feststellbarer feindlicher Vorbereitungen zu einem Angriff. So lässt Vattel die Frage beiseite, ob ein Kriegsgrund gerechtfertigt sei oder nicht, da dies nie verbindlich festzulegen wäre. Worauf es ihm ankommt, ist die angewandten Mittel festzulegen, Normen der Kriegsführung verbindlich zu machen. Die „Gerechtigkeit der Sache“ wird durch die „Gesetzlichkeit der Mittel“ ersetzt, was den „regulären Krieg“ zum Ergebnis hat. Das führt zur Maxime, dass nichts getan werden dürfe, was die Rückkehr zum Frieden behindern könnte. Dieser bleibt sozusagen ein halber Sieg, also ein Kompromiss, weil das Verlangen nach einem ganzen Sieg den Gegner zu äußerstem, auch regelwidrigem Widerstand veranlassen müsste. Der Friede ist demnach das Ziel aller Politik und der Krieg nur ein Mittel, das begrenzt bleiben muss, weil allein so ein Frieden erreicht werden kann, den auch der Verlierer akzeptiert. Die „Rationalität“ des Krieges ist seine Verrechtlichung und Entmoralisierung. Sie zeigt sich als territoriales Kalkül. Damit erhält das Territorium zentrale Bedeutung, d. h. ein genau abgegrenzter Raum mit nutzbaren Ressourcen, durch die ein Krieg ökonomisch ermöglicht wird bzw. den zu erobern, nicht einfach auszuplündern, als Ziel der Kriegsführung gilt. Der moderne Staat gründet sich deshalb als Territorial- und Steuerstaat. Er definiert seine Macht über den Besitz von Territorium und seine Machterweiterung über den Erwerb von Territorium, und das meist gewaltsam. Das ausgeprägt „Politische“ dieses Staatenkrieges hatte hierin seine Ursache: dass es eben um Machtgewinn in Form von Territorium ging und nicht um Weltanschauung oder „Welt“-Herrschaft. Da die Heere teure Investitionsgüter waren, denn nicht nur die Feuerwaffen kosteten viel Geld, die durch langen Drill trainierten Soldaten kosteten noch mehr, ging man möglichst sparsam mit ihnen um. Nie waren früher die Kämpfer aus den sozial niederstehenden Schichten rekrutiert worden, bis hin zu Vaganten

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und nahezu Schwachsinnigen, aus dem „sozialen Abschaum“, wie Wellington sie einmal nannte. Und nie waren sie wertvoller gewesen, wohltrainierte Menscheninstrumente, die es vermochten, in immer größerer Geschwindigkeit ihre Musketen zu laden und abzufeuern, und die man durch Kommandos in bestimmte Bewegungen zu versetzen vermochte, auf dem Exerzierplatz wie auf dem Schlachtfeld. Es ist das Gesellschaftsverständnis eines rationalen Materialismus, das hier dominiert. Man kann, wie es König Friedrich II. von Preußen einmal ausgedrückt hat,6 auf die Welt wie von einem fernen Planeten blicken und alles unendlich klein, fast bedeutungslos auffassen. Bleibt man jedoch in der Welt, gleicht man einer Ameise in ihrem blind-geschäftigen Tun. Hoffnung ist für Friedrich eine Puppe, mit der Kinder spielen. Wo es aber keine Hoffnung mehr gibt, werden auch die Leiden und Freuden der Einzelnen belanglos, so wie die Masse in ihren Freuden und Leiden belanglos bleibt. Diese Fühllosigkeit ist prägend für die „großen Männer“, die daher so leicht große Gewalttäter sein können, als Staatsführer wie als Feldherrn. Der Soldat, als mechanisches Räderwerk betrachtet, gepresst, gedrillt, bedroht durch barbarische Strafen, gehorcht nur aus Furcht, wie der König annimmt, aus Furcht vor der Strafe, die größer weil unmittelbarer ist als die bloße Möglichkeit, auf dem Schlachtfeld zu sterben. Dort begegnet er zwar dem Tod, doch er sucht ihn zu besiegen, indem er sich ihm anschließt, indem er ihn den Anderen zufügt. Die Furcht treibt ihn unentwegt, zwingt ihn zum Gehorsam, zwingt ihn zum Töten. Sie ist die psychische Feder, die immer wieder gespannt werden muss. Der Mensch, von seiner Triebnatur her aufgefasst, wird gezähmt, in der Gesellschaft durch seine Entwaffnung, im Militär durch seine rigide Disziplinierung. Der Soldat wie auch der Untertan zählt hier nach seinem instrumentellen Wert, der sich nur quantitativ realisieren lässt. Menschenwert besitzt er keinen. Daher erwartet der Feldherr, Friedrich selbst, von ihm keine Begeisterung, sondern nur, dass er seine „verdammte Pflicht und Schuldigkeit“ tut. Er tat es oft nicht. Die Desertion stellte folgerichtig das größte Problem dieser Heere dar, nicht nur des preußischen, selbst wenn der Spott, man brauche die eine Hälfte der Truppe, um die andere zu bewachen, übertrieben war. Immerhin zeigt die Furcht Friedrichs vor Nacht- und Waldmärschen, Wasserholen in kleinen Abteilungen, Kampieren in der Nähe von Wäldern, dem Vorgehen in einem nicht völlig offenen Gelände, dass alles gemieden werden sollte, was Gelegenheit zur Flucht bot.7 Die Geschlossenheit der Truppe, die Vermeidung von allem, was diese Geschlossenheit lockern konnte, war ein wesentliches Prinzip einer Kriegsführung, die zuallererst auf der Zähmung von Menschen beruhte, die wie wilde Tiere galten, deren Gehorsam stets aufs Neue erzwungen werden musste. Daher war das System einer geordneten Versorgung durch Magazine so wichtig, weil eine sich aus dem Land selbst versorgende Truppe rasch unkontrollierbar geworden wäre. Die Notwendigkeit, in der Nähe der Magazine zu operieren, wie die Furcht vor Massendesertionen in gebrochenem Gelände diktierte die Kriegsführung. Das indirekte Vorgehen ergab sich dann als Konsequenz. Man suchte, die gegnerischen Truppen von ihren Nachschublinien abzuschneiden, ihre Magazine zu besetzen und sie so zum Rückzug zu zwingen bzw. selbst nur langsam vorzurücken, etwa 20 km täglich, und ständig neue Ma-

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gazine zu errichten. Die Notwendigkeit, diese Magazine zu befestigen bzw. von festen Stützpunkten aus zu operieren, erzwang wiederum den Festungsbau und die Belagerung als wesentliche kriegerische Tätigkeiten. Dabei blieb die Truppenzahl beschränkt. In den Schlachten Friedrichs standen einander meist zwischen 30–40 000 Soldaten gegenüber. Im Trommelschlag wurde in geschlossenen Linien vorgerückt, Salven abgefeuert und mit gefälltem Bajonett der Durchbruch versucht.8 Allerdings galt die Schlacht als letztes Mittel, bedeutete sie doch in jedem Fall den Verlust des Investitionsgutes „Soldat“. Krieg war zwar auch Blutvergießen, aber noch mehr die Drohung damit. Und er war ein Geschehen, das nur die Herren betraf und betreffen sollte, nicht die Untertanen. Denn im Krieg ging es um große Politik, die eine Angelegenheit der Herren, der Fürsten, bleiben musste. Am besten war es, wenn die Untertanen den Krieg kaum bemerkten, und unabdingbar blieb es, dass sie sich nicht mit ihm identifizierten. Der Schutz der nicht Kämpfenden beruhte daher auf der Voraussetzung ihrer Gleichgültigkeit. Sie zahlten ihre Abgaben jedem, der über sie herrschte. Der gezähmte Krieg und der gezähmte Untertan bedingten einander. Der Krieg gehörte wie jede legitime Gewalt zum „Geheimnis“ der Herrschaft, das die Untertanen nichts zu kümmern hatte. Demgemäß lösten sich die Bewaffneten immer mehr aus der Gesellschaft und formten eine eigene, weithin abgeschlossenen Kaste. Dies, ihre soziale Abgrenzung, verbunden wie sie war mit der Stützung einer absolutistischen Herrschaft, ließ sie für das zunehmend selbstbewusste Bürgertum des 18. Jahrhunderts verdächtig werden, dessen kommerzielle Geschäfte den Frieden voraussetzten und dessen Vertrauen in die Kraft der Vernunft den Krieg als eine ebenso barbarische wie sinnlose Tätigkeit erscheinen ließ, der einer überholten Gesellschaftsstufe zugehörte.9 Ein dauerhafter Friede schien möglich, vorausgesetzt nur, dass jene Clique einer herrschenden Aristokratie entmachtet wurde, deren sozialer Vorrang auf ihrer Jahrhunderte währenden Ausübung von Gewalt beruhte. Hier, an diesem Gedanken, dass Gewalt und Krieg mit der Herrschaft einer bestimmten sozialen Gruppe zu tun habe, deren einzige gesellschaftliche Rechtfertigung in der Ausübung von Gewalt bestand, entzündete sich eine radikale Kritik der bestehenden Verhältnisse, die sich von deren Beseitigung die Verwirklichung des ewigen Friedens erhoffte.

Der revolutionäre Krieg Die Vorstellung, durch gewaltsame Veränderung der vorhandenen politischen Verhältnisse den ewigen Frieden zu erreichen, beginnt mit der Französischen Revolution. Sie ist bis in die Gegenwart einflussreich geblieben. Mit der Französischen Republik entstand zum ersten Mal ein Staat, der „die Befreiung der Menschheit“ auf seine Fahnen und Standarten geschrieben hatte. Die Befreiung von der schlechten, aristokratischen Herrschaft sollte zugleich Befreiung vom Elend des Krieges sein, denn Völker, befreit von der Geißel machtlüsterner Herren, geeint im Bekenntnis zu den Menschenrechten, bedurften einer kriegerischen Gewalt nicht länger. Der Krieg, welcher allen Krieg beenden sollte,

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wurde bereits vom revolutionären Frankreich seit 1792 geführt, ehe er von Wilson und Lenin 1917, von ihren Nachfolgern seither geführt worden ist, immer wieder. Doch es gab auch Gegenstimmen, und zwar nicht nur jener, die ohnehin an die Ewigkeit des Krieges glaubten. Der Friede sei möglich, so Immanuel Kant 1795, doch eben unter Bedingungen, wie sie dem „krummen“ Wesen des Menschen entsprächen. Eben deshalb geht er zwar vom „republikanischen“ Prinzip aus, grenzt es jedoch von der „Demokratie“ ab, die er im Rousseau’schen „Gemeinwillen“ verankert sieht. Diese ist ein Widerspruch zur Freiheit, weil sie alle zur Zustimmung zwingt bzw. die Widerstrebenden unterdrückt. Damit ist sie eine Form der Despotie, die immer da entsteht, wo gesetzgebende und ausführende Gewalt nicht voneinander getrennt sind. Hingegen ist der Republikanismus mit der Freiheit vereinbar und er ist zudem die Bedingung des Friedens. Denn in ihm entscheiden die „Staatsbürger“ über Krieg und Frieden und sie werden sich hüten, „alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen“ zu wollen.10 Dabei knüpft Kant an Montesquieu an, der das Wesen der Monarchie als „Krieg und Expansion“ gekennzeichnet hatte (1748), sowie an den 1761 von Rousseau neu veröffentlichten Friedensplan des Abbé Saint Pierre (1712) mit dem Vorschlag eines europäischen Friedensbundes. Unter der Voraussetzung dieses Republikanismus könnte dann die Idee des ewigen Friedens als „Völkerbund“ von Staaten gedacht und verwirklicht werden, von Staaten also, in denen das sich politisch repräsentierende Volk aus Furcht vor den „Drangsalen des Krieges“ die Exekutive zum Frieden zwingt.11 Das „Völkerrecht“ als Regelung des Krieges würde damit zum Friedensrecht zwischen den Staaten, die in einem „Völkerbund“ zu einer ähnlichen „föderativen“ Rechtsverbindung kommen könnten, wie die einzelnen Menschen in ihrer föderativen Rechtsverbindung zum Staat. Kant steht damit zugleich am Ende einer Entwicklung wie am Beginn einer neuen. Aus der Erfahrung des durch das Kriegsvölkerrecht gezähmten Staatenkrieges und im aufklärerischen Vertrauen auf die Kraft der Vernunft schließt er auf die Möglichkeit des ewigen Friedens, trotz der „Bösartigkeit der menschlichen Natur“. Aus der Erfahrung der Großen Revolution und der sie begleitenden neuen Kriege wächst ihm die Skepsis zu, dass auch ein Friedensbund in „beständiger Gefahr“ bliebe, von der „rechtsscheuenden, feindseligen Neigung“ der Menschen zerstört zu werden. So hält er die schwierige, doch lebensfreundliche Balance zwischen Utopie und Zynismus, die er „dem Staatsbürger“ als Hoffnung zumutet, dass der „Unsinn“ des Krieges aufhöre und das „Geschichtszeichen“ der Revolution letztlich doch auf eine Zukunft republikanischer Freiheit verweise, „die nicht kriegssüchtig sein kann“. Denn wenn der Daseinszweck des Menschen darin besteht, wie Kant erklärt, sich Vernunft zu erwerben, dann wäre auch die Gesellschaft, der Zusammenschluss vieler Einzelner zu einem Gemeinsamen, in der Vernunft gegründet, weil Erwerb wie Übung der Vernunft nur mit anderen möglich sind. Dadurch, dass der Mensch seine Vernunft entwickelt, befähigt er sich zugleich dazu, eigenverantwortlich, sittlich zu handeln, d. h. so, dass das größere Ganze, die anderen Menschen bis hin zur „Menschheit“, dabei berücksichtigt werden. Krieg wäre damit Ausdruck eines Zustandes, in dem die Vernunft noch nicht voll verwirklicht worden ist und die Menschen mehr ihren Leidenschaften als ihren Verstandeskräften folgen. In diesem Zu-

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stand dient der Krieg durchaus dem zivilisatorischen Fortschritt, indem er die Vergesellschaftung erzwingt und gegen träge Erschlaffung wirkt. Im Vernunftzustand hingegen, der längst betreten wurde, ist er ganz verderblich geworden. Dieser Vernunftzustand verwirklicht sich in Gesetzen, als Legalität, in der sich die Moralität sozial zu entfalten vermag, wenn auch stets bedroht von der Ambivalenz des Menschlichen, seiner Potenz eines „radikal Bösen“. In der Philosophie Kants wäre der ewige Friede dann das Ende eines Bogens der Entwicklung, der mit dem Heraustreten des Menschen aus dem Naturzustand beginnt, eines Heraustretens um der Vernunft willen, die nur in Gesellschaft zu haben war. Der Krieg wäre demnach die Geschichte dieses Bogens, der da zu einem Ende kommen kann, wo der Republikanismus als Vernunftherrschaft in der Gesellschaft ihn beseitigt, zunächst über ein Völker- bzw. Friedensrecht, analog dem Gesetzesrecht innerhalb des Staates, idealiter als sittliches Weltbürgertum, analog zur Versittlichung des Staatsbürgers in der Gesellschaft. Die Hoffnung, dass die Französische Revolution auf einen solchen Republikanismus hinführen werde, hat Kant nie verlassen, allem Terror, allem Krieg zum Trotz. Es war ein Irrtum. Mit der Revolution begann eine neue Art des Krieges zu entstehen, in der die Zähmung des alten zerbrach. Dieser neue, revolutionäre Krieg rechtfertigt sich, wie die Revolution auch, aus der neuen Trinität von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Das neue Frankreich, das eben feierlich jedem Angriffskrieg abgeschworen hatte, attackierte mit Vehemenz seine Feinde, zuerst „vorbeugend“ gegen einen vermuteten Angriff, dann offen imperialistisch in der Forderung nach Annexionen und Kontributionen. Gerechtfertigt wurde dies nicht mehr dynastisch durch das Konstruieren von Erbansprüchen, sondern eben revolutionär durch die Behauptung, nur die Fürsten bekämpfen, die Völker hingegen befreien zu wollen. Der revolutionäre Krieg war ein „brüderlicher“ Krieg und ein zentrales Moment solcher Brüderlichkeit bestand darin, dass die revolutionäre Nation die noch schlafenden Völker weckte und führte, als Avantgarde der Freiheit, gewaltsam und auch gegen ihren Willen, was nichts bedeutete, da diese Völker gewissermaßen im Zustand der Bewusstlosigkeit lebten und erst zu Bewusstsein, dem richtigen, französischen, gebracht werden mussten. Dieser neue Krieg war ein Zivilisationskrieg, der auf Seiten derer, die über die wirkliche Zivilisation verfügten, als ein moralischer geführt wurde: ein Argument, das ein Jahrhundert später, nachdem es in den Kolonialkriegen den Gewehren vorangetragen worden war, auch in Europa dominant werden sollte. Die Revolution siegt nur, wenn die Gewalt das Volk ergreift, wenn das Gewaltmonopol des Staates zerbricht und die vordem Waffenlosen bewaffnet gehen. Die Auflösung der königlichen Armee seit dem Bastillesturm, die wilde Gewalt der Sansculottes, die Bildung einer Bürgermiliz in Gestalt der Nationalgarde sind Ausdruck dieses Vorgangs. Doch das ist nur ein Stadium im Ausbruch der neuen, der revolutionären Gewalt, in dem sich das Volk bewaffnet. Es ist zugleich der zweite Schritt in der Selbsterhebung zur „Nation“, nach dem ersten, der Proklamation des Dritten Standes zur „Nationalversammlung“. Der dritte Schritt besteht in der Erklärung des „Volkskrieges“ gegen die Fürsten Europas: „Zu den Waffen, Bürger, bildet Bataillone! Marschieren wir! Marschieren wir! Damit unreines

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Blut unsere Ackerfurchen tränke!“, heißt es im Refrain des Sturmlieds der Revolution, das ein Kriegslied ist und mit dem Versprechen der Kinder endet, den Sarg der gefallenen Brüder teilen zu wollen. Es ist das Lied der Freiwilligen aus Marseille, mit denen die Umwandlung des königlichen Sold-Heeres in ein Volksheer begann, der ein Jahr darauf (im August 1793) das von der Regierung verfügte allgemeine Aufgebot (levée en masse) folgte, d. h. die kausale Verbindung von Staatsbürger-Sein und Soldat-Sein, wie vordem in der republikanischen Antike. Dass daraus erst 1798 ein Gesetz geworden ist, das den zunehmenden Zwang, Militärdienst zu tun, legalisierte, hatte mit der sozusagen republikanischen Präferenz Kants zu tun, also damit, dass die Bürger den Frieden selbst dem pathetischsten Krieg vorzogen, und zwar immer mehr, je länger dieser Krieg dauerte, und er dauerte fast ein Vierteljahrhundert. Es war allerdings erst Napoleon, dessen gewaltiger Menschenverbrauch schließlich den Kriegsdienst fast aller wehrfähigen Männer erzwang. Mit der Revolution trat der Krieg in die bürgerliche Gesellschaft ein. Gewalt als Revolution wie als nationaler Krieg verband sich hier erstmals mit dem Gedanken der Freiheit, der Befreiung, der Emanzipation. Aus dieser Ideologisierung des Krieges und der damit verbundenen Mobilisierung der Bevölkerung heraus entstand eine neue Form militärischer Gewalt, die das ganze 19. und 20. Jahrhundert erschüttert hat und (vielleicht) erst heute zu Ende geht. Das Militär ist ein Abbild der Gesellschaft, wohl das genaueste, das es gibt, weil es die Organisation des Machtkerns einer politischen Gemeinschaft verkörpert und dieser Machtkern in der Fähigkeit besteht, überlegene Gewalt auszuüben. Umbruchsituationen zeigen dies am deutlichsten, ändert sich doch mit der herrschaftlichen Ordnung der Gesellschaft zugleich auch die Organisation der Gewalt in ihr. Folgerichtig entsteht in der Französischen Revolution eine Armee neuen Typs wie eine neue Form des Krieges. Das Volk war von einer „Population“, die im Absolutismus nur quantitativ zählte, zur „Nation“ geworden, in deren Namen Krieg geführt wurde und die diesen Krieg als ihre Sache verstand, zumindest im Grundsätzlichen. Dem entsprach, dass die kastenähnliche Trennung von Offizieren und Mannschaften aufgehoben wurde. Napoleons bekannte Bemerkung, in seinem Heer trage jeder Soldat den Marschallstab im Tornister, umschreibt übertreibend das Aufstiegsprinzip der revolutionären Armee. Selbst wenn die Fahnenflucht auch in dieser Armee vorhanden war und mit der Perpetuierung des Krieges unter Napoleon zu einem Massenproblem wurde, mit 66 000 verhafteten Deserteuren 1811, so handelte es sich bei ihr doch nie um eine Truppe gepresster Soldaten, die nur kämpften, weil die Furcht vor der Strafe noch größer war als jene vor dem Feind. Das verlieh ihr ein zuvor unbekanntes Maß an Beweglichkeit, im weitgehenden Verzicht auf eine ausgebildete Logistik wie in der Fähigkeit, das Gelände zu nutzen. Wichtiger noch wurde, dass die neue Armee als Volksheer ein nahezu unerschöpfliches Rekrutierungsreservoir besaß, denn „jeder Franzose ist Soldat und zur Verteidigung des Vaterlandes verpflichtet“ (Gesetz vom Sept. 1798). Das heißt, die neue Armee war eine Massenarmee, die in Hunderttausenden zählte, statt Zehntausenden, und sie konnte sich daher ungleich größere Verluste leisten, ohne auszubluten. Ende 1794 umfasste das republikanische Heer eine Million Mann. Bereits ein Jahr zuvor waren 150 000 neue Soldaten eingezogen worden, von 300 000 Wehr-

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fähigen, was das Potential zur Auffüllung ausgebluteter Einheiten deutlich macht. War der absolutistischen Kriegsführung daher mehr an Manövrieren, Belagern und dem Vermeiden von Schlachten gelegen, so zielte die der Revolution auf das Gegenteil, das Stellen des Feindes, das Erzwingen der Schlacht. Die tragische Konsequenz daraus war, dass der Wert des Soldatenlebens in den Überlegungen der Generäle radikal abnahm. Hierzu trug bei, dass die Kämpfer der Revolutionstruppen kaum militärisch geschult waren, ganz um Unterschied zu den Berufssoldaten der alten Heere, die Jahre des Drills hinter sich hatten. Zu solchem Drill fehlte die Zeit. Acht Tage Ausbildung mussten genügen, das war auch Napoleons Überzeugung. Danach konnte der Rekrut in die Schlacht geschickt werden und er kam meist – wenn überhaupt – nur noch als Krüppel zurück. Man brauchte Soldaten, man war im Krieg, und man ersetzte Drill durch Masse. Allerdings musste eine neue Taktik hinzukommen, wollte man einerseits die Unterlegenheit gegenüber gedrillten Soldaten ausgleichen und andererseits schnelle, durchschlagende Erfolge erzielen. Der Grundsatz des Organisators der neuen Armee, Lazare Carnot, bestimmte das Schlachtgeschehen: „Agir toujours en masse“.12 Gegen das Manövrieren in der Schlacht mit seinen langgestreckten Linien, in drei oder vier Reihen gestaffelt, um ein ständiges Nachladen der Hinterlader zu ermöglichen, und den Versuch, den Feind zu umfassen, stellte Carnot die tiefgestaffelten Kolonnen, die im Sturm wie ein Keil die gegnerischen Reihen durchbrechen sollten. Diese Methode war im Vergleich zu der ausgeklügelten Manövrierkunst der alten Heere barbarisch, doch sie erlaubte es, mit kaum ausgebildeten Soldaten erfolgreich gegen Berufsheere anzutreten. Hier war der Krieg zur Totalität geworden, wie die Revolution auch. Seine Logik bestand in der Vernichtung des Feindes: Schlage den Feind, wo immer du ihn triffst, verfolge ihn bis zum letzten Mann, erlaube kein neues Sammeln. Die neue Kraft dieses totalen Krieges war das völlige Ausschöpfen der menschlichen Ressourcen und ihr Einsatz als Wucht zusammengedrängter, anrennender Körper, vorbereitet durch Artilleriebeschuss und Salvenfeuer, armiert mit Bajonetten, gerammt in andere Körper, begleitet vom rasenden Schlag der Trommeln. Das Ergebnis war eine Kriegsführung von einer Dynamik und Aggressivität, wie Europa sie seit den Hunnenstürmen nicht mehr erlebt hatte. Da die Revolutionsarmee keinen geordneten Nachschub kannte, brauchte sie um logistische Rückensicherung kaum besorgt zu sein, musste dann allerdings auch ständig in Bewegung bleiben, weil sie aus dem Land lebte und selbst wohlhabendere Gebiete dieser Aussaugung nur begrenzt standhielten. So wurde der Krieg, begonnen unter der Parole der Verteidigung, fortgeführt unter jener der Völkerbefreiung, bald zu einem gigantischen Raubunternehmen, an dem alle profitierten, von den Soldaten über die Offiziere bis hin zur Regierung, der Kontributionen und geplünderte Kunstschätze zuflossen. Was bei alledem auffällt, ist der hazardartige Charakter des Ganzen. Es ist eine Haltung des Äußersten, die hier herrschend wird. Strategie wie Taktik ähneln einander, die Kolonnen auf dem Schlachtfeld, von einigen hundert bis einigen tausend Soldaten, bis zu den Kolonnen aus ganzen Armeen, die den Feind zu stellen suchten. Es war durchwegs eine Vorwärts-Kriegsführung, die ein Rückwärts nicht bedachte, weil jeder Rückzug zur Katastrophe werden konnte. Wo der Feind nicht in Entscheidungsschlachten zu fassen und zu

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vernichten war, wo der Krieg in Gegenden geführt werden musste, die nicht als auszubeutende Nahrungsbasis genutzt werden konnten, dort griff die Strategie des Vernichtungskrieges ins Leere, wurde die Niederlage unabwendbar. Napoleons Vorstoß nach Palästina, das Festrennen gegen die Guerrilla in Spanien, der Feldzug gegen Russland sind die katastrophischen Exempla dieser Strategie. Bereits zwei Wochen nach dem Einmarsch in Russland im Juni 1812 hatte die Armee Napoleons 135 000 Mann verloren. Von der einrückenden Hauptarmee mit rund 350 000 Mann kehrten Ende 1812 noch etwa 1000 Soldaten zurück. Entsprechendes gilt für die taktische Ebene. Gelang es den Sturmkolonnen nicht, durchzubrechen, so wurden sie von der Wucht des Aufpralls schier zerquetscht, wie beim dramatischen ersten Angriff auf die britischen Stellungen in der Schlacht von Waterloo (18. 6. 1815), bei dem Napoleon ein Drittel seines Heeres verlor. Rund 140 000 Soldaten trafen dort aufeinander, mit 400 Kanonen auf einer Fläche von weniger als 5 Quadratkilometern. Ziel war die Vernichtung des Feindes, gleich um welchen Menschenpreis. Nach wenigen Stunden war die Schlacht entschieden und 50 000 Männer tot, ein SchlachtFeld, übersät von Leichen, mit dem Wimmern Sterbender als einzigen Lauten, durchstreift von Plünderern – ein Schlachtfeld wie viele dieser Zeit. Und selbst da, wo der Durchbruch gelang, gab es ungeheure Verluste. Bei Wagram, einer der sogenannten Meisterschlachten Napoleons, blieben 30 000 tote Franzosen auf dem Schlachtfeld. Die besiegten Österreicher verloren 8000 Mann. In der Schlacht von Eylau (8. 2. 1807) fielen 43 000 Soldaten, davon 25 000 Russen und 18 000 Franzosen. Solche Totenmassen in einer einzigen Schlacht hatte es früher nicht gegeben. Im ersten bedeutenden Gefecht der Revolutionskriege bei Valmy (20. 9. 1792), noch ganz im Stil des alten Krieges geführt, waren neben 300 Franzosen 184 Preußen gefallen. Der Mensch hatte jeden Geldwert verloren. Er war Staatsbürger geworden und zählte nur noch quantitativ, als „unbekannter Soldat“, dem dann ein Monument errichtet wurde. So war es nur folgerichtig, dass Napoleon auf die Versorgung Verwundeter keinen Wert legte und selbst die bescheidenen Vorkehrungen der Alten Gesellschaft aus Gründen der Sparsamkeit aufgegeben hat. Eigene Verwundete (um Feinde kümmerte man sich ohnehin nicht) wurden in Notlazaretten untergebracht und die Zivilbevölkerung zu ihrer Versorgung und zur Pflege gezwungen. An Schmutz, Wundbrand, Fleckfieber und Amputationen ohne Betäubung und hygienische Vorkehrungen starben riesenhaft mehr als durch das Kampfgeschehen selbst. Insgesamt dürften die Verluste der napoleonischen Kriegsführung um die 1,4 Millionen Menschen betragen haben, davon 200 000 Soldaten, die von den Verbündeten gestellt worden waren, deren Menschenressourcen Napoleon so radikal zu plündern suchte wie ihre materiellen. Jeder Krieg ist ein Zustand äußerster Anspannung. Nur wer dabei einen Überschuss an Kraft zu behaupten vermag, kann in ihm Führer sein. Solche Kraft jedoch kommt aus einem tiefen psychischen Zwiespalt von manischem Selbstvertrauen und radikalem Fatalismus. Die innere Geschichte bedeutender Kriegsherren wie Friedrich II. oder Napoleon beweist dies. Das Ergebnis ist Zynismus, Verachtung der Massen wie Bewusstsein eines gewaltigen Anonymen, das sich über die Welt wälzt und dessen Blindheit sie ihre Augen und Hände leihen. „Im Kriege“, so bemerkt Napoleon, „sind die Menschen nichts, ein Mann

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aber ist alles“. Der Krieg wird zum Abenteuer des Lebens, seines Lebens, das nur durch Menschenopfer zu haben ist. Einer als sinnlos aufgefassten Welt setzt dieser Tatmensch seinen Willen entgegen. Dabei ist der Erfolg streng genommen nur insofern wesentlich, als er weiteres Handeln ermöglicht. Der Fatalismus bildet dann eine Art Feldlager der Seele, in dem sich aus Erschöpfung ein neuer Angriff formiert oder der Entschluss zum Tod. Napoleon war ein Mensch des bedingungslosen Willens. Seine Entschiedenheit verhinderte, was in einer Schlacht am gefährlichsten schien, nämlich Unsicherheit, ein Wanken der Reihen. Sie verlieh ihm den Nimbus des Übermenschlichen. In dieser Willenskraft gründete der Glaube, die Schlacht regieren zu können, ihr Lenker zu sein und nicht ein Getriebener. Die Willenskraft war für ihn daher wesentlich eine Kategorie der „Moral“, d. h. des Marschierens, Angreifens, Durchbrechens, Verfolgens. Wenn Napoleon die Defensive hasste, so deshalb, weil in ihr das Zusammenpressen der Zeit als Zusammenpressen der Psyche bis in einen Zustand der Besessenheit nicht mehr funktionierte. Die Zeit löste sich auf, wurde schwammig, dehnte sich, war mit dem Willen nicht länger zu erobern. Die Fatalität, aus der sich der große Täter durch das besessene Handeln hatte retten können, kehrte in der langen Zeit zurück und überwältigte ihn schließlich. Napoleons Kriegskunst war daher wesentlich ein übergroßes Vermögen ständiger Improvisation. „Geplant“ war nur das Ziel, die Vernichtung des Feindes, alles andere – also nahezu alles – war Reagieren auf den Augenblick. Dass einem solchen Mann Begeisterung entgegengebracht wurde, dass etwa Napoleon nach einer Schlacht noch Schwerverwundete zujubelten, Menschen ohne Beine, Blinde, Sterbende, erscheint kaum fassbar und ist dennoch wahr. Für Stendhal ist er jener, der die Leidenschaft in die Welt zurückgebracht hat, eine Leidenschaft, die durchaus mit Krieg, dem Töten und Getötetwerden zu tun hat. Für Goethe erscheint im „Dämonischen“ Napoleons ein neuer Mensch, ein Täter, der nur er selbst ist und nur sich selbst verwirklicht – in der Welt der Anderen und also mit Gewalt. Schiller hasste ihn dafür. Für Schiller ist der Täter zugleich ein Scheiternder. Für Goethe hingegen wird der Täter Napoleon zu einem „gigantischen Helden“, angetreten gegen die Trägheit des gewöhnlichen Menschen, der nichts schafft, nur sich selbst erhält. Napoleon hingegen bewundert er als einen schöpferischen Menschen wie einen Künstler: Ästhetik des Gigantischen, gegründet auf dem Verbrauch von Myriaden Menschenleben. Im Zustand der Gewalt wird derjenige zum Führer, der nicht wankt, der dem allgegenwärtigen Tod einen Mythos der Unsterblichkeit entgegensetzt und der damit dem Schrecken, selbst dem Sterben einen Sinn zu geben scheint, dessen riesenhafte Leere hinter der Magie der Gewalt verschwindet. Wie alle Gewalthaber liebt er die organisierte Gewalt, die kommandiert werden kann, und fürchtet die anarchische. Zeitlebens wird etwa Napoleon den Massen eine mit Furcht durchmischte Verachtung entgegenbringen. Dass sein Aufstieg mit dem Zusammenschießen des „Mobs“ begann (5. 10. 1795), ist daher durchaus folgerichtig. Die Menschen werden für ihn durch nichts als Selbstliebe angetrieben. Darum wird der Kluge eben dieser Selbstliebe schmeicheln, durch Pathos, Phrasen, Titel, Besitz, um sie desto sicherer führen zu können, auch in ihr Verderben. Wie es ein früherer Beamter Napoleons ausdrückte, waren alle von seinen Behauptungen, seinen Erfolgen so geblen-

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det, dass sie völlig überrascht waren, als es anders kam: Als sein Wille vor dem anderer versagte.13 Es war das Zerbrechen seiner Magie, nämlich Gewalt über das Leben zu haben und einen Willen, der die Geschichte als das Schicksal der Anderen buchstabierte. Napoleon konnte den Krieg nicht beenden. Jenseits des Krieges existierte nichts, das ihn trug. Die Vorstellung, dass Politik ein eigener, dem Krieg womöglich übergeordneter Bereich des Handelns sei, lehnte er ab. Auf Gewalt und der Angst davor beruhte seine „Karriere ohne Ende“, die nur durch seine militärische Vernichtung, das Entreißen der Gewaltfähigkeit zu beenden war, wie der Diplomat Talleyrand wusste.14 Erst dann entstand Platz für den Frieden, für die Diplomatie. Mit Napoleon wird die nationale Glorie zur integrierenden Ideologie der europäischen Staaten und diese Glorie war kriegerischer Herkunft. Für die folgenden zwei Jahrhunderte bestimmte sie die kriegerische Gewalt in Europa, ihre Apologie wie ihre äußere Erscheinung als Krieg anonymisierter Massen auf immer entfernteren Schlachtungsfeldern. Mit dem revolutionären Krieg nahm der totale Krieg erste Gestalt an, denn anders als total war er nicht zu führen, als guerre à outrance, als Krieg zum Äußersten, wie man es nannte. Das ganze Volk wurde in die Kriegsanstrengung einbezogen, kämpfte für das Vaterland, ob nun Uniformen genäht oder Gewehre hergestellt wurden oder der Feind niedergeschossen wurde. Die Front war überall und jeder hatte ein Krieger zu sein, was auch heißt, dass jede Zusammenarbeit mit dem Feind dasselbe war wie die Fahnenflucht eines Soldaten. In diesem Krieg mit seinen zwei Gesichtern: dem Patrioten-Soldaten und dem Partisanen, durfte es keinen Frieden geben und keine Politik, nur den Endsieg.

Der Mensch als Masse Als der Untertan politisch zum Staatsbürger geworden war, wurde er militärisch zum Menschenmaterial. Die Vorstellung, dass republikanische Gesellschaften, anders als aristokratische, den Krieg meiden würden, weil in ihnen die Staatsbürger selbst über ihren möglichen Tode abzustimmen hätten, erfüllte sich ebenso wenig wie jene andere, wonach industrialisierte Gesellschaften unkriegerisch sein würden, weil sie – ihrer wachsenden Verflechtungen wegen – durch einen Krieg nur wirtschaftlich verlieren würden, statt durch Beute zu gewinnen. Es waren die Vorstellungen liberaler Intellektueller, wie Cloots und Kant, Spencer und Tocqueville, die an die „Vernunft“ glaubten, denn es war entschieden unvernünftig, sich freiwillig in Lebensgefahr zu begeben oder einen Handelspartner zu ruinieren, mit dem man gute Geschäfte machen konnte. Es waren Vorstellungen, die auf die politische Verfassung eines Gemeinwesens zielten und nicht auf das Territorium. Nicht das Territorium, sondern die politische Freiheit, die Ausstattung mit Technologie und Kapital sollten fortan als Kriterien eines politischen Handelns gelten, das auf den Wohlstand der Nationen gerichtet war und im Krieg bloß dessen Zerstörung erblicken konnte. Außer Betracht blieb dabei jener emotionale Faktor, der mit den Revolutionskriegen durch ganz Europa getragen worden war, nämlich der Nationalismus. Dennoch ge-

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lang es im Jahrhundert der Industrialisierung zwischen 1814 und 1914, den Krieg wenn nicht zu vermeiden, so doch ihn wieder zu zähmen. Von den nationalen Einigungskriegen Italiens (1859–60) und Deutschlands (1866, 1870–71) abgesehen, blieb Europa von größeren Kriegen verschont, und selbst diese fielen kurz und vergleichsweise unblutig aus, was die Zahl der Toten betrifft. Die nach 1814 restaurierten europäischen Regime waren nicht „republikanisch“, sondern aristokratisch, mit einer zunehmenden Teilhabe des Bürgertums, dessen Nationalismus durch seine Einbeziehung in die monarchische Kabinettspolitik gezähmt wurde. Das Italien Cavours wie das Deutschland Bismarcks sind hierfür Beispiele. Die Struktur des Massenkriegs, wie er im 20. Jahrhundert dominant werden sollte, wurde allerdings bereits im neuzehnten vorgeformt, im revolutionären Nationalismus als psychischer Mobilisierung des ganzen Volkes beginnend und fortgeführt durch die Technologie der Mobilität, die Eisenbahn. Mit ihr wurde nicht nur die Zeit über die Beschleunigung von Truppenbewegungen und Aufmarschplänen zur zentralen Kategorie der Strategie, mit ihr wurde zugleich die logistische Ausschöpfung der Ressourcen eines Landes für die Kriegsführung in einem bislang unbekannten Maße ermöglicht. Vor allem aber wurden nunmehr dauerhafte Massenheere möglich, weil die Logistik der Eisenbahn sowohl ihren raschen Transport wie ihre kontinuierliche Versorgung sicher stellen konnte.15 Stellte die Eisenbahn den Weiterungseffekt einer eigentlich zivilen Technik dar, so entsprang die technische Revolutionierung der Waffen ganz einer militärischen Absicht. Beide, Eisenbahn wie weit und schnell feuernde Waffen, produzierten Masseneffekte. Die Eisenbahn transportierte Massen, die neuen Waffen vernichteten sie. Über HinterladerGewehre und Geschütze bis hin zu Magazingewehren und schließlich Maschinengewehren wurde die Schussfolge schubartig erhöht. Lag etwa das Maximum eines VorderladerGewehrs im frühen 19. Jahrhundert bei 5 Schuss pro Minute, so erreichte man mit dem Hinterlader, wie ihn die preußische Armee erstmals 1866 einsetzte, etwa 8 Schuss und mit dem Maschinengewehr H. Maxims von 1885 bereits rund 800 Schuss.16 Zur Feuerdichte kam die Reichweite durch größere Geschütze, zwischen 8 und 20 km. Soldaten der Armee Napoleons hatten mit ihren Vorderlader-„Musketen“ bloß eine maximale Schussfolge von vier Schüssen in drei Minuten erreicht, mit einer Schussweite von 400m, ihre Kanonen feuerten zwei Schuss pro Minute mit einer Weite von 600 m. Menschenmassen, massierte Feuerdichte und weitreichender Artilleriebeschuss erzeugten eine völlig neue Anonymität nicht nur des Tötens, sondern des Kampfgeschehens überhaupt, dessen Konsequenz im Verschwinden des Soldaten in Schützengraben und Bunker bestand. Der immer weiter ausgreifenden Bewegung im Bereich der Logistik, des Nachschubs an Menschen und Material, stand eine Minimierung bis hin zum Stillstand im eigentlichen Kampfgebiet gegenüber, das vom klassischen „Schlachtfeld“ zur „Front“ zu werden begann: zur lang gestreckten Linie aus Gräben und Unterständen, armiert mit Maschinenwaffen, der eine ebensolche feindliche Linie in einiger Entfernung gegenüberlag, mit einem zerklüfteten Niemandsland dazwischen, über das der Angriff vorzutragen war, und weit reichenden Geschützen dahinter, die durch Trommelfeuer diesen Angriff vorbe-

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reiten sollten. Nur mit Masse schien unter solchen Umständen ein Krieg noch führbar zu sein, mit Massen an Menschen, mit Massen an Material. Die Vorstellungen Carnots und Napoleons konnten nun im Zeichen der mobil gewordenen Logistik verwirklicht werden, was zugleich hieß, dass das Schlachtfeld in die Gesellschaft insgesamt ausgeweitet worden war, die nun zum Hinterland der Front wurde, ihr durch Logistik voll erschlossener Ressourcenraum. Das Beobachten des Eisenbahnbaus in den potentiell feindlichen Ländern wurde zu einer zentralen militärischen Kategorie und auch der Eisenbahnbau selbst wurde militärischen Gesichtspunkten unterworfen. So begann in allen europäischen Staaten gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Wettrüsten im Zeichen des Faktors „Masse“, durch Erhöhung der Militärdienstzeiten vor allem, die Erhöhung der Truppenzahlen, durch strategischen Eisenbahnbau, den Bau von Schlachtflotten, den Ausbau der Rüstungsindustrie. Und während die Militärs die Möglichkeit prüften, unter solchen Umständen einen Krieg zu führen, den sie für unvermeidlich hielten, zog der sich entwickelnde Pazifismus daraus die Folgerung, dass der Krieg kein Mittel der Politik mehr sein könne, weil er als Massenkrieg nur noch Vernichtungskrieg sei. Das, was Clausewitz im Blick auf die Revolutionskriege den „absoluten Krieg“ nannte, d. h. die vollständige Mobilisierung eines Volkes für den Krieg im Zeichen des Nationalismus mit dem Ziel des totalen Sieges, und was Kant als „Ausrottungskrieg“ bezeichnet hatte, d. h. als Krieg, der dem Feind selbst ein Minimum an Vertrauen verweigert und daher auch zu keinem Frieden führen kann,17 eben das wurde unter den Möglichkeiten der Technologie zur bestimmenden Realität des 20. Jahrhunderts. Wenn die moderne Gewalt im Krieg aus den Faktoren Menschenmasse, Technologie und Ideologie besteht bzw. ihrer vollständigen Ausnutzung durch die Mobilisierung aller gewaltrelevanten Ressourcen, dann ist der amerikanische Bürgerkrieg der erste „moderne“ Krieg gewesen. Obwohl in ihm Menschen derselben Sprache und Kultur gegeneinander fochten, standen sich gleichwohl zwei unterschiedliche „Zivilisationen“ in einem vier Jahre dauernden Krieg gegenüber, von dem zu Beginn angenommen worden war, er werde „in 60 Tagen“ zu Ende sein. Am Ende, nach der Kapitulation des Südens am 9. April 1865, waren von den 1,5 Millionen Soldaten des Nordens 360 000 tot, von den 620 000 des Südens 260 000. In allen Kriegen, die von den USA geführt worden sind, mussten weniger Amerikaner das Leben lassen. Die Verluste unter der Zivilbevölkerung in einem erbarmungslos geführten Krieg sind dabei noch nicht mitgezählt, in einem Krieg, der ganz bewusst auch in und gegen die Bevölkerung geführt worden ist, vor allem von Seiten des Nordens, der den Krieg im Land des Feindes führte, gegen Partisanen, die seine Nachschublinien bedrohten, in einer Zivilbevölkerung, deren weiße Mehrheit feindselig gestimmt war, gegen einen Feind, den man vor allem in seiner Logistik, mehr noch, in seiner „Moral“ treffen musste, wollte man den Krieg beenden. Beendet werden konnte er nur durch die bedingungslose Kapitulation des Südens, erst dann, als der Verlierer alles eingesetzt und alles verloren hatte. Beide Armeen bestanden ausschließlich aus Zivilisten, zuerst Freiwilligen, dann ab 1863 im Norden bzw. 1862 im Süden aus Wehrpflichtigen. Die reguläre Armee zählte bei Kriegsbeginn lediglich 16 000 Mann, von deren 198 Kompa-

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nien 183 an der Indianergrenze stationiert waren und dort auch verblieben. Eine Marine existierte nur als Küstenwache. Das einzig professionelle Element der in kürzester Zeit aufgestellten Massenheere bestand in den Kadern höherer Offiziere, die aus den regulären Verbänden kamen. Als Bürgerkrieg war der Konflikt ein politischer Krieg, bei dem es nicht nur um die Beibehaltung bzw. Beseitigung der Negersklaverei im Süden ging, sondern zugleich um die künftige Gestalt der USA. Als ein „war between mechanics and agriculturalists“, als den ihn der Unions-General W.T. Sherman kennzeichnete, war er eine Auseinandersetzung zwischen einem Staatsdenken, das eine eher schwache Bundesmacht, die Dominanz einer landwirtschaftlichen Lebensweise sowie eine isolationistische Außenpolitik favorisierte, und einem dazu diametralen Staatsverständnis, das auf Zentralisierung, Industrialisierung und Intervention setzte. Bei der erdrückenden Überlegenheit des Nordens in allen kriegsrelevanten Bereichen lag es im Interesse des Südens, den Norden durch einen lange hingezogenen Krieg zu zermürben, d. h. gleichfalls einen „moralischen“ Krieg zu führen. Strategisch bedeutete dies, dass der Süden den Vorteil nutzte, auf den inneren Linien zu operieren, um die eigenen Nachschublinien kurz zu halten und nur einen kleineren Teil der verfügbaren Truppen zu deren Verteidigung aufwenden zu müssen. Der Norden scheiterte dagegen bei seinen anfänglichen Versuchen, durch eine Entscheidungsschlacht den Feind vernichten und so den Krieg rasch beenden zu können. Auf den äußeren Linien kämpfend, versuchte er daher in einer zweiten Phase, durch Einsatz seiner weit überlegenen Ressourcen an Soldaten und Material immer neue Fronten zu schaffen, um damit zugleich die Verteidigungslinien des Südens immer weiter zu verlängern und schließlich zu überdehnen. Für beide Seiten wurde die Eisenbahn in einem riesigen, z. T. noch wenig erschlossenen Raum von entscheidender Bedeutung für Mobilität und Logistik, wobei der Norden mit mehr als dem Doppelten an verfügbaren Bahnstrecken im Vorteil war. Der Kampf um Kontrolle oder Zerstörung der Bahnstrecken bildete ein wichtiges Moment in einer Kriegsführung, in der erbitterte, blutige Großschlachten (wie Gettysburgh im Juli 1863 mit 51 000 Toten) und weit ausholende hochmobile Vorstöße nebeneinanderstanden und in ihrem Zusammenwirken den Krieg entschieden. Zugleich erwies sich, dass weder Kavallerie noch Infanterie gegen eine gut eingegrabene Truppe eine Chance hatte. Ausgerüstet mit rasch nachladbaren Hinterladergewehren mit gezogenen Läufen, die eine Reichweite von bis zu 1000m besaßen, konnten selbst frisch rekrutierte Soldaten einem Schockangriff standhalten. So waren bereits vier Fünftel aller Wunden durch Infanteriegeschosse verursacht, und nur noch ein Zehntel durch Hiebund Stichwaffen. Damit wurde der Bürgerkrieg zum ersten Feldkrieg, in dem der Schützengraben eine wesentliche Rolle spielte und bereits vor Aufkommen der Maschinenwaffen die taktische Defensive förderte, eine Lehre, die allerdings nach 1865 weder in Amerika noch in Europa zur Kenntnis genommen worden ist. Sherman führte seinen Krieg militärisch, politisch und moralisch und er führte ihn total. Militärisch war das Ziel, im Rücken des Feindes dessen Nachschublinien zu zerstören und ihm eine weitere Front aufzuzwingen. Politisch war das Ziel, durch einen spektakulären Erfolg die Zermürbungserscheinungen im Norden zu stoppen und Präsident Lincoln gegen einen zum Kompro-

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missfrieden bereiten Kandidaten zur Wiederwahl zu verhelfen. Moralisch war das Ziel, die Kriegsbereitschaft des Südens zu zerbrechen, indem man den konföderierten Soldaten verdeutlichte, dass ihre Familien, Häuser, Felder von ihnen nicht geschützt werden konnten, dass der Gegner mit ihnen tun konnte, was ihm beliebte. Es war ein „war against their resources“, ein Krieg, in dem der Kampf an der Front erst zu gewinnen war, wenn die Fähigkeit des Feindes, Krieg zu führen, moralisch wie materiell, zerstört worden war. Mit dem französisch-russischen Bündnis von 1894 und dem Hinzutreten Großbritanniens 1904 war für das Deutsche Reich eine bedrohliche Situation entstanden. Sucht man einen langfristigen Grund für den Ersten Weltkrieg, so findet man ihn im Bündnis, zu dem Frankreich Russland verlockte, ein Bündnis, das nicht nur Deutschlands Außenpolitik endgültig militarisierte, sondern auch Russland in die Katastrophe stürzte. Sollte es zum Krieg kommen, so würde es ein Krieg an zwei Fronten werden. Der Gedanke eines Präventivkrieges wurde immer verlockender, vor allem, weil der fortschreitende Ausbau der russischen Eisenbahnen auf die deutsche Grenze zu auch für Russland die technologische Option zum Massentransport von Soldaten an die Front eröffnete. Bismarcks Ablehnung des Präventivkrieges hatte gute Gründe gehabt, denn weder wusste man im Voraus, ob ein Krieg wirklich unvermeidlich war, noch konnte dabei der Vorrang der Politik vor dem Militär gewahrt bleiben. Politik war Diplomatie mit dem Krieg als letzter Alternative, bei deren Gebrauch bereits wieder auf Diplomatie und den Friedenschluss zu blicken war. Mit dem Wechsel von der Strategie Moltkes für einen Zwei-Fronten-Krieg, die den Krieg zuerst im Osten führen wollte, im Westen aber die Defensive wählte, zum Schlieffen-Plan, der für das Gegenteil optierte und die stark befestigte französische Grenze durch ein Vorgehen über das neutrale Belgien vermeiden wollte, hatte aber die Politik vor dem Militär kapituliert. Das Zeit-Rennen um die rascheste Mobilmachung bzw. den schnellsten Transport zur Grenze ersetzte dann die Zeit der Diplomatie durch jene der Eisenbahnfahrpläne und minimierte so die Chancen diplomatischen Handelns. Der militärischen „Einkreisung“ Deutschlands wurde – vor allem hinsichtlich des französischen Revanchismus – die Absicht zugeschrieben, mittelfristig einen Krieg führen zu wollen. Problematisch war auch, dass diese militärische Einengung des Blicks die Öffentlichkeit erfasst hatte, und zwar in allen betroffenen Staaten. Die ursprüngliche Hoffnung, den Krieg als „kalkuliertes Risiko“ führen zu können, d. h. mit der Eroberung Serbiens durch Österreich den Panslavismus schwächen und damit Österreich als einzigen Verbündeten Deutschlands stärken zu können, wich rasch der Einsicht, einen „Sprung ins Dunkle“ gewagt zu haben, wie es der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg ausdrückte (14. 7. 1914). Der Erste Weltkrieg bezeichnet eine Wende der Weltgeschichte und eine in der Geschichte der kriegerischen Gewalt. Die Militärs aller kriegführenden Länder waren besessen vom Gedanken der Offensive, von der sie sich einen Krieg der Bewegung ins Herz des Feindes erhofften. Es sollte ein kurzer sein, glaubte man doch, ein langer sei nicht mehr führbar, weil dazu die Ressourcen zu knapp und die Gefahren innerer Unruhen zu groß seien. Auch schien Moltke 1866 wie 1870 gezeigt zu haben, dass ein solcher Krieg führbar sei. Voraussetzung eines schnellen Krieges war allerdings, den Feind ständig in Bewegung

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zu halten und zum Zurückweichen zu zwingen, um ihm keine Möglichkeit zu geben, Verteidigungsstellungen einzunehmen. Schnell feuernde Waffen und weit reichende Geschütze zwangen den Soldaten in den Untergrund. Die Feuerkraft von 50 000 Maschinengewehr-Schützen entsprach der einer halben Million Gewehrschützen. Drei Mann mit einem Maschinengewehr konnten ein ganzes anstürmendes Battailon in drei Minuten auslöschen. Das Töten war apathisch geworden: Sich in tiefe Unterstände ducken, während stundenlang schwere Artillerie die eigenen Stellungen beschoss, rasend schnell nach oben hetzen, wenn das Feuer eine kurze Pause machte, um dann hintere Positionen zu beschießen. Denn nun begann der feindliche Sturmangriff über die von der Artillerie zerpflügte Todeszone zwischen den Schützengräben und nur wenn unverzüglich das eigene MG zu schießen begann, konnte die Stellung gehalten werden, gab es eine Chance, selber zu überleben, inmitten von Schmutz, Gestank, Tod. Der Krieg war zum Belagerungskrieg geworden, gegen Festungen und eingegrabene Stellungen, früh schon im Westen und Süden, erst später im Osten, wo noch große Bewegungsschlachten gefochten wurden. Dabei war allen Militärs bewusst, dass der neue Krieg mit seinem extrem gesteigerten Vernichtungspotential nur unter der Bedingung zu führen war, Soldaten massenhaft in den Tod zu schicken. Die Logik der modernen Infanterie-Taktik, so ein britisches Militär-Lehrbuch aus dem Jahr 1905, bestand darin, ihnen das Wissen einzutrainieren, wie sie zu sterben hatten. Gelinge das nicht, sei es besser, überhaupt auf den Krieg zu verzichten.18 Es gelang, in autoritär regierten Ländern wie in demokratischen, wenngleich nur bis zu einem gewissen Punkt, an dem die halb patriotische, halb erzwungene levée en masse in die Panik eines mort en masse umschlug. Im April 1917 konnten die Soldatenrevolten in Frankreich nur die Hinrichtung Hunderter von Soldaten bezwungen werden, denn nur noch die Furcht vor dem Exekutionskommando konnte die Soldaten zurück an die Front treiben. Seit Ende Oktober 1918 konnten in Deutschland und Österreich keine Exekutionskommandos mehr die schwankende Disziplin erzwingen. Es zeigte sich, wieder einmal, dass eine Herrschaftsordnung, die unter ihren Bewaffneten keinen Gehorsam findet, auf Sand gebaut ist. Im August 1914 hatte der Krieg begonnen, im Oktober war er bereits zu einer eingegrabenen Front erstarrt, die sich von Flandern bis zur Schweizer Grenze erstreckte und sich in den nächsten vier Jahren nicht mehr wesentlich ändern sollte. Die Lehren des amerikanischen Bürgerkriegs (1861–65) wurden bewusst ignoriert, nämlich dass eingegrabene Soldaten mit schnell feuernden Waffen jeden angreifenden Feind, sei es Infanterie oder Kavallerie, mit enormen Verlusten zurückschlagen konnten und dass die Moral einer Truppe, die hauptsächlich aus Zivilisten bzw. Reservisten bestand, am ehesten in schützenden Stellungen aufrechtzuerhalten war. Sie wurden ignoriert, weil sie dem „Elan“Denken der Offiziere wiedersprach, die es mit Bezug auf eine Moral „how to die“ und auf das Argument zu rechtfertigen suchten, gegen schwere Geschütze und Mörser böten Schützengräben keinen Schutz. Wichtig sei, eine Überlegenheit an Feuerkraft herzustellen, die es den eigenen Truppen ermöglichte, möglichst nahe an die feindlichen Stellungen vorzurücken, um diese dann durch eine „Todeszone“ hindurch im Sturm zu nehmen,

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mit aufgepflanztem Bajonett. Das Bajonett besaß hier eine moralische, und nur nebenher eine zweite Bedeutung als Waffe. Sie galt als „männliches“ Prinzip des Tötens, realisierte die ganz unmittelbare Todesbereitschaft. Und der Angriff in Massenformationen schien bereits deshalb unentbehrlich, wie schon in den Revolutionskriegen, weil sonst zu befürchten war, die Soldaten, wehrpflichtige Zivilisten, würden fliehen oder liegen bleiben, statt die Todeszone zu durchqueren. In der Schlacht mussten Dinge getan werden, die niemand bei kühlem Verstand tun würde, schrieb ein französischer General 1911, schon gar kein Zivilist. Denn wer würde heftigem Gewehrfeuer entgegenlaufen oder einem anderen ein Messer in den Leib stoßen? Es sei denn, er hatte seinen Verstand verloren und wäre psychisch auf jene Apathie des Tötens und Getötetwerdens reduziert worden, die man militärisch die „Moral“ der Truppe nannte. Die Überzeugung also, Krieg sei im industriellen Zeitalter allein als Offensive durchführbar, und die Befürchtung, die Massenheere aus verweichlichten, „nervösen“ Zivilisten seien nur noch in der Offensive einsetzbar, ergänzten sich. Das massenhafte Abschlachten in Angriffen über Todeszonen, die militärisch erfolglos blieben, entsprang absichtsvoller Planung. Der Gedanke, die Qualität militärischer Führung zeige sich an ihrer Fähigkeit, große Verluste zu vermeiden, wurde folgerichtig ins Gegenteil verkehrt: Ein Feldherr, der nicht bereit schien, große Verluste, „bis an die Grenze der Vernichtung“, in Kauf zu nehmen, galt als unfähig, Krieg führen zu können.19 In letzter Konsequenz bedeutete dies, dass nicht mehr eine Schlacht geschlagen wurde, mit der man den Feind besiegen, vom Schlachtfeld vertreiben wollte, sondern dass es darum ging, um den Preis eigener hoher Verluste den Feind ausbluten zu lassen. Entscheidend blieb allerdings, die eigenen Verluste deutlich geringer zu halten als die des Feindes, was nicht gelang. Hatte Napoleon noch die gegnerischen Heere im Blut seiner eigenen Soldaten ersaufen lassen, weil er durch die Wehrpflicht den demografischen Faktor militärisch nutzen konnte, seine Widersacher nicht, so hatte sich das bis 1914 grundlegend geändert. Nun nutzten alle die Demografie als militärische Ressource. So setzte zwar der Plan des deutschen Generals Falkenhayn an der Demografie an, was konsequent war, doch er scheiterte, weil im Zustand demografischer Gleichzeitigkeit allein Massenvernichtungswaffen den Feind hätte vernichten können, ohne selbst dabei fast zugrunde zu gehen. Hier, im deutschen Angriff auf Verdun, der 10 Monate dauerte und rund 700 000 Tote forderte, im britischen Angriff an der Somme, der 5 Monate anhielt und allein auf Seiten der Angreifer eine halbe Million an Toten kostete, wurde der Krieg zur „Blutpumpe“, angesetzt am militärisch zu nutzenden „Menschenmaterial“, mit dem Kalkül, dass der jeweilige Feind: in Verdun Frankreich, an der Somme Deutschland, die riesigen Menschenverluste nicht würde aus seiner Bevölkerung ersetzen können. Es gibt Ereignisse, in denen der Raum die Zeit stillstehen lässt, in denen der Stillstand einer Zeit, die sich nur noch quantitativ bewegt, einen Zustand der Fatalität entstehen lässt, in dem Extremes und Normales identisch werden. Es ist jene Zeit von „Carthago“, von der Flaubert einmal bemerkte, man müsse sehr traurig sein, um sie verstehen zu können. Eine solch „carthagische“ Trauer, die nur einen Sturm spürt, der ihr die Trümmer ins

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Gesicht schleudert und keinen, der auf das Paradies zutreibt, ist die Erfahrung von Verdun nie gewesen, dieser längsten und größten Schlacht der Weltgeschichte. So ließ die französische Regierung in den Versailler Vertrag die Bestimmung aufnehmen, wonach weiße Grabkreuze allein für gefallene alliierte Soldaten verwandt werden dürften, schwarze hingegen für die gefallenen Deutschen – „als Zeichen der Schande“. In Verdun achtete man bereits streng darauf, die oft zerfetzten Leichen strikt zu selektieren und wenn es nur ein Uniformknopf, ein Koppelschloss war, das Rückschlüsse auf die Zugehörigkeit verstümmelter, verbrannter, vergaster Körper oder Körperteile erlaubte. Die Überreste der guten Soldaten wurden in Kisten für ein später zu errichtendes Ehrenmal gepackt, die der bösen auf einen Haufen zusammengetragen, mit Erde abgedeckt und mit einem schwarzen Kreuz markiert. Dass nun ein Feldherr einen Angriff gerade da ansetzte, wo der Feind am stärksten war, an der größten französischen Festungsanlage also, widersprach zwar allen Regeln der Kriegskunst. Aber das Ziel dieses Angriffs entsprach auch keinem der klassischen Kriegskunst mehr, sondern der neuen Art, Krieg zu führen durch Vernichtung von Massen. Am 21. Februar 1916 begann der deutsche Angriff. Von Anfang an handelte es sich dabei um ein gigantisches Artillerieduell. So verschossen die Franzosen täglich rund 100 000 Granaten, zur Vorbereitung von Offensiven bis zu 225 000. Auf einem Schlachtfeld von rund 350 Quadratkilometern standen sich bis zu einer Million Soldaten gegenüber und etwa 90% des französischen Heeres nahmen an der Schlacht teil. Während die Deutschen die gegnerischen Befestigungen sturmreif zu schießen suchten, legten die Franzosen ein stundenlanges Sperrfeuer vor die anstürmenden Truppen des Feindes. Bereits Anfang März war zu erkennen, dass das Ausbluten begonnen hatte, die Deutschen aber ebenso bluteten wie die Franzosen, die in wohl ausgebauten Festungen saßen, während die Deutschen über offenes Gelände angreifen mussten. Der Verteidiger von Verdun, General Philippe Pétain hielt es daher für richtig, auf das Prinzip der Blutpumpe einzugehen. Der Krieg sei in seiner jetzigen Form nur als Abnutzungskrieg zu führen, so notierte er, als riesige „bataille d’usure“. Dann würde jene Seite den Sieg davontragen, „die den letzten Mann besitzt“. Die Anonymität wurde allgewaltig. Die kommandierenden Stäbe saßen weit hinter dem Kampfgeschehen in der Etappe, über Telegraf und Zwischenkommandos nur indirekt mit ihm verbunden. Hatten die Generäle 1870 noch im Feuerbereich geführt, so lebten sie nun in einer Atmosphäre bürokratischer Kriegsverwaltung. Offiziere jenseits des Hauptmanns fanden sich kaum im Kampfgeschehen. Die Soldaten vegetierten in ihren Unterständen, in denen man bei starken Niederschlägen oft bis zum Leib im Schlamm versank und jede unvorsichtige Bewegung MG-Feuer auslösen konnte. Die Lage der in ihren Kasematten verschanzten Verteidiger war nur sehr bedingt eine bessere. Der Artilleriebeschuss brachte oftmals auch tiefe Keller zum Einsturz und begrub die dort anwesenden Männer unter Schutt und Trümmern. War es schließlich den Angreifern gelungen, in das Fort einzudringen, setzten sie Flammenwerfer ein, welche die unterirdischen Gänge in Glutöfen verwandelten und die Besatzung verbrannten oder erstickten. Auch Gas wurde eingesetzt. Der Tod war alltäglich, etwas Normales, so wie die Ratten, die Kälte, der Hunger. „Der Sinn ist abhandengekommen, der Schmerz ausgelaugt“, so

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der Unteroffizier und Schriftsteller Ernst Toller. Der Mensch sei zum Maschinenteil geworden, benutzt, fortgeworfen. Der Mensch, einst aus Höhlen hervorgekrochen, kriecht in sie zurück, in Gräben, Unterstände, Bunker, um sich vor den Spitzenprodukten seiner eigenen Zivilisation zu schützen, eine Welt, in die das „Licht“ nur noch durch Schießscharten zu gelangen vermag. Nach dem Scheitern des Bewegungskrieges in der Marne-Schlacht (6.–9. 9. 1914) war mit der Vorstellung eines „kurzen Krieges“ zugleich die strategische Idee verloren gegangen. Die mit dem Bewegungskrieg verbundene Niederwerfungsstrategie war nicht mehr durchführbar, aber zur Ermattungsstrategie wollte man sich dennoch nicht bekennen, obwohl sie es war, die den weiteren Kriegsverlauf bestimmte.20 Eine Ermattungsstrategie ist defensiv und menschensparend und erst nach dem Scheitern von Verdun war zumindest in Deutschland verstanden worden, dass man sich Angriffe als strategisches Konzept nicht mehr leisten konnte. Der Übergang der militärischen Führung an die Generale Hindenburg und Ludendorff (August 1916) war demgemäß verbunden mit dem Übergang zum Konzept der „Verteidigungsschlacht im Stellungskrieg“, das eine flexible Verteidigung „in die Tiefe“ durch hintereinanderliegende Stellungslinien vorsah.21 Mit dem Verzicht auf die Offensive verbunden war eine Verlagerung der Entscheidungsebenen nach unten, ein Abbau der Hierarchien und eine Betonung der materiellen gegenüber den moralischen Ressourcen. Hatte die Betonung der „Moral“ den Menschenverbrauch befördert und die Unbegrenztheit des materiellen Nachschubs vorausgesetzt, so entsprach die Umkehrung dieses Musters den rasch zunehmenden Schwierigkeiten Deutschlands, Verluste an Menschen und Material auszugleichen. Schnitt die britische Seeblockade Deutschland von überseeischen Ressourcen ab, so konnten die Alliierten in großem Umfang auf diese zurückgreifen, auch auf ihre Kolonien als gefügige Lieferanten von Soldaten und Material wie auf die großzügige Unterstützung durch die formell noch neutralen USA. So gesehen musste eine Ermattungsstrategie längerfristig zur Niederlage Deutschlands führen, was ein wesentliches Argument für eine Strategie der Niederwerfung und eines kurzen Krieges gewesen ist. Mit der Erklärung des unbegrenzten U-Boot-Krieges gegen Großbritannien und der Förderung der sozialen Revolution in Russland suchte das deutsche Oberkommando daher jene beiden Staaten indirekt zu schwächen, die in ihrem proto-militärischen Potentialen: Menschen, Material, Raum, nicht direkt zu treffen waren.22 Dass es nicht gelang, Großbritannien massiv zu schwächen, weder 1916 in der Seeschlacht bei Skagerak, noch 1917 durch den U-Boot-Krieg, dass vielmehr die Regierung Wilson diesen zum Vorwand nahm, auch formell in den Krieg einzutreten, ließ dann die Niederlage unvermeidlich werden. Die USA führten einen Krieg, um den Krieg an sich zu beseitigen. Das jedenfalls war die rhetorische Begründung Wilsons und es war eine absolute, die auf die ganze Menschheit und die ganze Geschichte zielte. Für die USA war es ein weiterer Schritt auf dem Weg von der „Peripherie“ zur Weltmacht, der 1898 begonnen hatte, mit Krieg, Schlachtflottenbau, imperialer Expansion. Imperiale Gewalt zur hegemonialen Ausdehnung erschien Wilson durchaus als „natürlicher Antrieb“, wie er sich aus „dem Bewusstsein der eigenen Stärke“

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ergebe (1902): Die Demokratie war dann nur die Fahne, die man der eigenen Herrschaftsbildung voraustrug, wie einst der spanischen Conquista das Kreuz. Dies entsprach dem amerikanischen Selbstverständnis als exemplarischem Welt-Volk, das allen anderen zeige, wie in der rechten Weise zu leben sei. Es entsprach zugleich dem Wesen dieses Krieges, der bereits dadurch ein absoluter wurde, weil er das Volk insgesamt mobilisierte, nicht zuletzt weltanschaulich. Diese Mobilisierung konnte dann am besten gelingen, wenn man die Absolutheit des Krieges nicht aus der Waffentechnik oder seinem Massencharakter ableitete, sondern aus der im Feind verkörperten Absolutheit des Bösen. Die Welterlösung vom Krieg durch die Besiegung dieses Bösen wurde dann glaubhaft. Ein „Frieden ohne Sieg“ war spätestens mit dem Eintritt der USA in den Krieg damit nicht länger möglich, weshalb Wilson auch einen entsprechenden Vorschlag Papst Benedikts X. von Mitte Juli 1917 zurückwies, den einzigen, der den erschöpften, ausgebluteten Völkern Europas die Sinnlosigkeit des Krieges hätte lehren können. Nur der Sieg schuf moralische Eindeutigkeit, wie sie in den 14 Punkten verkündet (8. 1. 1918) und dann in Versailles und Umgebung durchgesetzt wurde. Es war ein Niederwerfungsfriede, wie er dem absoluten Krieg entsprach, ein Friede, dessen Moralität darin bestand, dass man seine Forderungen mit der Kriegsschuld des Feindes begründete, die dieser anzuerkennen hatte. Der Krieg ging damit weiter, als Streit um den Krieg, als wachsende Bitterkeit um den Zynismus, der sich in zu Phrasen ausgedroschene Moral gekleidet hatte: In Großbritannien, als deutlich wurde, dass die Regierung längst vor Kriegsbeginn ihr Land in ein Militärbündnis mit Frankreich verwickelt hatte, ohne das Parlament zu informieren, in Amerika, als klar wurde, dass die USA in den Krieg eingreifen mussten, um zu verhindern, dass die enormen Kriegsschulden der Alliierten im Falle ihrer Niederlage oder Zahlungsunfähigkeit nicht bezahlt werden konnten. Am heftigsten ging der Streit in Deutschland selbst und es waren die Radikalen von rechts und links, die im moralisierenden Zynismus der Sieger sich selbst erkannten. Wer die Macht besaß, der bestimmte, was als Moral zu gelten hatte, und Macht war nichts als die Verfügung über Gewalt. Neun Millionen Soldaten waren gefallen und Hunger und Seuchen hatten noch einmal dieselbe Zahl an zivilen Opfern gefordert. Schätzungsweise 800 000 Menschen waren allein in Deutschland als Folge der britischen Blockade verhungert. Es war ein Preis, der die Politik nicht veränderte. Die wenigen, die es versuchten, blieben allein, der politische Träumer Kurt Eisner so gut wie der ökonomische Realist John M. Keynes. Clemenceau war immer stärker, mochte sein Name sich auch ändern. Die Versailler Frieden sollten den absoluten Frieden einleiten und sie scheiterten eben deshalb und gleich zweifach: sie kommandierten und kommandieren lässt sich nur im Zustand überlegener Gewalt, die zuschlägt, wenn nicht hingenommen wird. Und sie diskreditierten die Moral zur Phrase, etwa das Verbot von Geheimverträgen (die doch längst abgeschlossen waren), die Freiheit der Meere auch im Krieg (die durch die britische Blockade bzw. deren amerikanische Akzeptanz längst zerstört war), die Beschränkung der Rüstung (die nur für Besiegte galt), das Selbstbestimmungsrecht der Völker (das Deutschen, Arabern, Iren verweigert wurde), die schrittweise Aufhebung des Kolonialismus (die Briten und Franzosen wohl nur für einen Witz halten konnten). Vor den Türen von

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Versailles standen, buchstäblich, Vertreter der Iren, der Vietnamesen, um die hohen Delegierten an ihre hehren Worte zu erinnern, vergeblich. Man trieb sie weg. Sie sollten wiederkommen, bewaffnet.

Heimatfronten Der Mensch ist ein weltanschauliches Tier. Er braucht Begründungen für sein Tun, vor allem für das, was ihn in der Gesellschaft hält, was ihn überlebensfähig macht: für die Anerkennung der sozialen Ordnung und die damit verbundene Regelung der Gewalt. Gewalt wird kommunikativ ge- oder entbunden. Krieg entsteht immer zuerst im Bewusstsein und nur dort kann er auch beendet werden. Eben deshalb ist er in den „modernen Zeiten“ so schwer zu beenden gewesen. Will man ein ganzes Volk mobilisieren, will man einen absoluten Krieg führen, muss Krieg im kollektiven Bewusstsein vorbereitet werden. Das ist die Konsequenz einer „republikanischen“ Gesellschaft, in der dann die Bereitschaft zum Krieg die Sorge um das eigene Leben überwindet, wenn ein als absolut gezeigter Feind bekämpft werden soll. Die Berichte sind eher eindeutig. Der Schriftsteller Harold Nicholson erzählt von einer erregten Menschenmenge in einer südenglischen Stadt, die einen deutschen Schäferhund jagte und schließlich das heulende Tier in einer Straßenecke steinigte. Es ist August 1914. Aus den Slums einer nördlichen Industriestadt hört man, dass wieder einmal die Läden jüdischer Händler geplündert wurden, diesmal aber nicht, weil sie Juden waren, sondern weil man sie ihrer deutsch klingenden Namen wegen für Deutsche hielt. In vielen Städten wurde es üblich, dass Frauen jungen Männern, die noch keine Uniformen trugen, mit Gewalt weiße Federn an die Kleidung zu heften suchten, das Zeichen für Feiglinge, wobei die radikal-feministischen Suffragetten sich in patriotischem Eifer besonders hervortaten. Es gab allenthalben patriotische Kundgebungen und auf den Festen der besseren Gesellschaft sammelte man nicht mehr für die Armen, sondern für die erwarteten Kriegsopfer. Die Presse, vom sozialistischen „Clarion“ bis zur konservativen „Daily Mail“, sah mit Befriedigung ihre jahrelangen Ankündigungen eines „unvermeidlichen Krieges“ gegen Deutschland erfüllt. In den Buchläden fanden sich bald neben den Bestsellern über eine bevorstehende deutsche Invasion die gelehrten Werke von Professoren, die nachwiesen, dass die Deutschen als Nation moralisch wie kulturell von minderem Wert seien und deshalb der Krieg gegen sie geradezu eine zivilisatorische Tat. Die – nicht unumstrittene – Auffassung, dass Großbritannien nur Weltmacht bleiben könne, wenn es gelänge, den schier unwiderstehlichen ökonomischen Aufstieg Deutschlands gegebenenfalls auch militärisch einzudämmen, verband sich mit der zivilisatorischen Behauptung, die deutsche Politik identifiziere Macht mit Recht. Britische Erfahrungen zwischen Opium-Krieg und Buren-Krieg blieben ausgeblendet. Die vor dem Krieg vielfach gespaltene Gesellschaft schien geeint im Anblick eines Feindes, der Gemeinsamkeit vermittelte. Arbeiterschaft und besitzende Gesellschaft, Aristo-

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kratie und Slum, Konservative und Liberale überboten sich in ihrer Vaterlandsliebe. Die Begeisterten gingen zur Armee oder verschwanden in Munitionsfabriken, wie all jene, die keine Begeisterung zeigten, immerhin jeder Zweite im dienstfähigen Alter, sodass ab 1916 der Patriotismus erzwungen werden musste, weil es an Freiwilligen zu fehlen begann. Die Totenlisten in den Zeitungen wurden immer länger, immer mehr Verwundete und Verstümmelte kamen von der Front zurück, Lebensmittel wurden knapper, das Leben grau. Der Krieg wurde zu einer Gewohnheitssache. Am Anfang war noch jeder einzelne Gefallene ein Schock, danach wurde der Tod massenhaft und langweilig und man nahm die Nachricht vom Sterben eines Bekannten oder Freundes mit gleichmütigem Fatalismus hin.23 Auch auf dem Schlachtfeld war der Tod ordinär geworden, kein „Heldentod, zugefügt von den Helden der anderen Seite“, wie es der britische Frontbefehlshaber Sir John French bedauernd feststellte. Das Heldentum hatte im neuen Krieg der Maschinengewehre, Flammenwerfer, Sprenggranaten den Anschein des Heroischen verloren. Es war Erdulden, Ausharren, war der pure Wille zum Überleben, der den Soldaten kämpfen ließ. Und auch der Feind des neuen Krieges besaß nichts Heldisches mehr. Er war „Barbar“ geworden, Wesen jenseits einer zivilisatorischen Gemeinsamkeit, wie ehedem nur der Afghane oder Kaffir. Die Kennzeichnung der Deutschen als „Hunnen“ vollzog diesen Vorgang sprachlich nach. In der Absolutheit des Feindes verwirklicht sich die soziale Einheit: eines Volkes, einer Klasse, einer Parteiung. Aus der Absolutheit des Feindes verwirklicht sich Gewalt als moralische Tat. Mit der Absolutheit des Feindes verband sich folgerichtig die Absolutheit einer Vision über den Zustand nach seiner Niederringung. Die Kriegsvision des Ersten Weltkrieges war der dauerhafte, wenn nicht ewige Friede, denn da Deutschlands „Militarismus“ zur Ursache nicht nur dieses Krieges erklärt worden war, konnte man sich nach dem Sieg das Ende aller Kriege erwarten, weshalb dieser Sieg ein absoluter, ein „knock-out victory“ zu sein hatte. Der Patriotismus des Krieges begann sich also zu wandeln. Das Nationale wurde universalisiert und zugleich entstand so etwas wie ein zweiter Patriotismus, insbesondere in Großbritannien, als der Kriegspremier David Lloyd George Sozialpolitik mit Kriegsmoral verband, und zwar nicht nur in der älteren Weise, die um die Körpertüchtigkeit der Rekruten besorgt war, um sie in möglichst großer Zahl und möglichst gesund auf die Schlachtfelder zu senden. In ein „land fit for heroes“ sollten nicht nur die Frontkämpfer zurückkehren, auch die Kämpfer an der Heimatfront, ohne welche ein Krieg nicht mehr führbar war, die Arbeiter in den Rüstungsfabriken, die Eisenbahner usw., sollten ein solches Land vorfinden, wenn der Sieg errungen war. Für die Einbindung der Arbeiterschaft spielte die Version eines zweiten Patriotismus eine wichtige Rolle, 1914 wie 1939.24 Ergänzt wurde dies alles durch die mediale Kriegsertüchtigung, durch Zensur und Propaganda. Großbritannien, das im Krim-Krieg (1854–56) den Kriegsjournalismus erfand, hatte dabei zum einen gelernt, wie sehr eine unkontrollierte Berichterstattung die Moral der Heimat beschädigen, wie aber zugleich eine Berichterstattung, die patriotisch berichtete, sie stärken konnte. Das Arrangieren von Photographien gab es bereits 1855, die Einbindung von Journalisten in das Kampfgeschehen, aus sicherer Entfernung natürlich, um

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sie nicht zu verunsichern, war gleichfalls eine britische Erfindung, diesmal aus dem Ersten Weltkrieg. Die Propaganda diente der ideologischen Kriegsertüchtigung der Gesellschaft. Sie vermittelte der Heimatfront die Atmosphäre des Krieges und stärkte damit ihre Zurichtung zur Kriegswirtschaft. Zentral wurde dabei die Organisation der Arbeit und die Pazifierung der Arbeiterbewegung. Wenn bald hunderttausende Männer auf den Schlachtfeldern und in der sie versorgenden Etappe standen, dann fehlten sie in der Produktion, die einen immer gewaltigeren Bedarf an Vernichtungsmitteln befriedigen sollte. Dass man dabei das „Auskämmen“ der männlichen Arbeiterschaft in die Hände der Gewerkschaften legte, erwies sich als besonders wirkungsvoll, um Krieg und Produktion effizient miteinander zu verbinden. Die Gewerkschaften entschieden, wer die ausblutenden Reihen der Frontsoldaten zu füllen hatte, und sie sorgten damit zugleich für einen disziplinierenden Druck auf jene, die in den Betrieben bleiben durften. Dafür erhielten sie endlich die Anerkennung durch den Staat, der zugleich regelnd in die Arbeitsverhältnisse der für die Rüstung wichtigen Betriebe eingriff (1915). Dort wuchs denn auch die Zahl der beschäftigten Frauen rasch an, von 212 000 (1914) auf 920 000 (1918). Die Frauen bildeten die industrielle Reservearmee des Krieges. Generäle wie Politiker versicherten ihnen, ihr Kampf an der Heimatfront sei so wichtig wie der Kampf der Männer an der Kriegsfront. Beide Fronten näherten sich einander an, die eine war ohne die andere nicht mehr möglich. Die Militarisierung der Heimatfront, ihre direkte Einbeziehung in den Krieg jedoch hatte erst begonnen. Mit der Technik des Bomberkrieges sollte sie zwei Jahrzehnte später total werden. Mit 100 000 Mann hatte Großbritannien in den Krieg eingegriffen. Vier Jahre später waren 6 Millionen Mann für den Krieg eingezogen worden, 745 000 gefallen, 1,6 Millionen verwundet, davon die Hälfte dauerhaft arbeitsunfähig. Zwei Millionen Menschen hatten den Gatten oder den Vater verloren. Der Krieg war vorbei, die Massen jubelten.25 Die Soldaten, die gewaschen, gekämmt und beklatscht in die Heimat zurückkehrten, fanden, dass sich nichts geändert hatte. Kriege sind Einbrüche des Außerordentlichen in das Leben des Alltäglichen, seine aus Monotonie fließende Sicherheit. Die Rückkehr ist fast noch schwieriger als der Aufbruch. Das Erlebnis des Außerordentlichen vermittelt Sinn und Gemeinsamkeit, denn wo der Feind handgreiflich sichtbar wird, da wird der Nächste zum Kameraden: Im gemeinsamen Griff nach der Waffe begegnen sich die Hände. Und wer der Feind war, das hatte man bereits lange vorher gesagt bekommen. Wie William Temple, später Erzbischof von York, aus seiner damaligen Londoner Pfarrei notierte: „Sie sind bereit, jede Untat der Deutschen zu glauben, man braucht dazu nicht einmal den Bruchteil eines Beweises zu liefern.“26 Horrorgeschichten wie jene, die Deutschen würden die Leichen gefallener Soldaten zu Fett und Schweinefutter verarbeiten, wurden bereitwillig durch die Presse verbreitet und allgemein für wahr gehalten. Erst als die Kriegshysterie sich nach 1918 zu legen begann, konnte diese Geschichte als frei erfunden bezeichnet werden.27 Nun waren die „German Huns“ besiegt, doch ob die Welt dadurch wirklich Frieden und Gerechtigkeit verwirklicht hatte oder auch nur Großbritannien „fit for heroes“ geworden war, darüber wuchs schon bald der Zweifel.

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Moderne Kriege werden als „Kulturkriege“ geführt und sie sind immer Zwei-FrontenKriege, mit einer Heimatfront neben der des eigentlichen Krieges, wobei der heiße Krieg immer an der Heimatfront beginnt, als Mobilmachung der Ökonomie und der Ideologie. Im Zeichen der Weltpolitik war das der Bau von Schlachtflotten, symbolisiert in den Kindern der besseren Gesellschaft, die Marineuniformen trugen, realisiert in Dreadnoughts und Panzerkreuzern. Im 20. Jahrhundert, so die Überzeugung, könne ein Staat nur dann Großmacht sein, wenn er weltweit handlungsfähig sei. Mit dieser Fähigkeit oder eben Unfähigkeit würden zugleich die Machtverhältnisse neu gerichtet, wobei das militärische Potential den Ausschlag gebe, auch hin zum Krieg. Der um die Jahrhundertwende einflussreiche Sozialdarwinismus deutete den Krieg als den großen Mechanismus der Selektion kollektiver „fitness“, selbst um den Preis einer Vernichtung der „fittesten“, gesundesten Körper eines Volkes zu Leichen. Da die Weltpolitik hierarchisch aufgefasst wurde, konnte es nicht viele „Plätze an der Sonne“ geben, sondern nur wenige, womöglich nur einen. Diese Vorstellung einer Welthierarchie wie einer Neuverteilung der Positionen beschäftigte nicht nur Großbritannien als möglichen Verlierer, sondern ebenso die beiden dynamischen Aufsteiger, Deutschland und die USA. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten Letztere nicht nur die Anerkennung ihrer Hegemonie über Lateinamerika durchgesetzt, sondern zugleich mit dem Bau einer großen Schlachtflotte begonnen. Wie es deren Schöpfer, der Admiral Alfred Mahon ausdrückte (1890), entscheide die Fähigkeit, die Seewege zu kontrollieren, darüber, wer die bestimmende Rolle im neuen Jahrhundert spielen werde. Da er davon ausging, es könne Großbritannien auf längere Sicht nicht gelingen, diese Rolle weiterhin zu spielen, war für ihn ausgemacht, dass die USA sie auszufüllen hätten. Damit rückte Deutschland zum potentiellen Gegner auf, dem man nicht nur ähnliche Ambitionen auf die Führungsrolle zuschrieb, sondern das man rasch auch als Feind der eigenen politisch-zivilisatorischen Werte definierte. Mit Beginn des Weltkriegs begann sich dieser Gegensatz zu militarisieren, trotz des entschiedenen Einspruchs einer Gegenbewegung in der Öffentlichkeit, die vor den Folgen eines Eingreifens warnte, da sie eine dauerhafte Verwicklung der USA in internationale Konflikte und Kriege befürchtete. Mit der Ersetzung des um strikte Einhaltung der Neutralität bemühten Außenministers Bryan durch R. Lansing, einen offenen Interventionisten, war die Entscheidung auf der Ebene der Regierung bereits gefallen, auch wenn Wilson selbst noch mit dem Versprechen in den Wahlkampf von 1916 zog, Amerika aus dem Krieg herauszuhalten, gegen den republikanischen Gegenkandidaten, dem die Absicht unterstellt wurde, das Land in den Krieg führen zu wollen. Damit war die Heimatfront längst eröffnet. Es war ein Kampf, nicht nur um Krieg oder Frieden, sondern auch um die kulturelle Hegemonie. Während Amerikaner deutscher, jüdischer und irischer Abstammung überwiegend für die Neutralität eintraten, forderte die Gruppierung der weißen angelsächsischen Amerikaner (WASP) den Kriegseintritt. Da sie die Meinungsführerschaft in Medien und Politik besaßen und gezielt Nachrichten verbreiteten, die von den Briten geliefert wurden, war ihr Einfluss auf die schweigende Mehrheit beträchtlich. Die Zuspitzung des Machtkonflikts auf einen Kulturkrieg, wie er zur Ideologie des Weltkriegs geworden war, passte in dieses Schema einer Mobilisierung der Heimat-

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front. Die manichäische Abgrenzung vom Feind, exemplarisch ausgedrückt in Wilsons Formeln vom „Kreuzzug für die Demokratie“ und vom „Krieg, um alle Kriege zu beenden“, wurde mit Kriegseintritt zur ideologischen Waffe, mit der alle Kriegsgegner einer unamerikanischen, wenn nicht landesverräterischen Gesinnung bezichtigt und zum Schweigen gebracht wurden. Die Mission der Pilgerväter, in „wüstem Land“ ein neues Jerusalem zu errichten, in dem Politik und Moral identisch sein sollten, wurde nun auf die Welt übertragen und damit der Krieg als moralisches Handeln gerechtfertigt. Staatliche und halbstaatliche Organisationen übernahmen den Kampf an der Heimatfront, so vor allem das „Committee on Public Information“, in dem die Elite der amerikanischen Kulturschaffenden die Minderwertigkeit der deutschen gegenüber der „westlichen“ Kultur zu beweisen suchten, um daraus die zivilisatorische Mission eines amerikanischen Kriegseintritts abzuleiten. Filme wie der über „The Great Beast of Berlin“ stellten den Krieg in eine apokalyptische Beziehung. Deutsche Bücher wurden aus den Bibliotheken entfernt, zuweilen symbolisch verbrannt, der Deutschunterricht weitgehend unterdrückt, deutsche Musik nicht mehr gespielt (natürlich auch keine von Österreichern), deutsche Lehnwörter übersetzt (Bratwurst wurde z. B. zur „liberty sausage“). Deutsche Vereine, Zeitungen, Schulen verschwanden.28 Patriotische Organisationen durchforschten zusammen mit der Polizei die Gesellschaft nach illoyalen Personen und möglichen Spionen. Grundrechte, wie die Freiheit der Meinungsäußerung, wurden außer Kraft gesetzt. So war bereits nach kurzer Zeit der Krieg an der inneren Front gewonnen. Alle Gruppen, die sich nicht völlig dem hegemonialen Modell der WASP hatten einfügen wollen, von den ihre Sprache pflegenden Deutschen bis zu den kapitalismuskritischen Sozialisten, waren zum Schweigen gebracht worden. Eine Kriegssprache war entstanden, die keinen „mittleren Grundsatz“ (Kant) zwischen „gut“ und „böse“ mehr zuließ. Der Spott Clemenceaus in Versailles über den Messias aus Amerika traf über die Person Wilsons hinaus die weltanschauliche Essenz dieses expansiv gewordenen Puritanismus, der sich eine Weltmission zuschrieb. Im Zeichen dieses Messias-Komplexes hat Amerika im 20. Jahrhundert und darüber hinaus noch so manchen Krieg geführt, stets in der Erwartung, mit dem Sieg sei ein ewiger Friede im Zeichen Amerikas erreichbar, das Ende der bisherigen Geschichte durch ein kommendes amerikanisches Zeitalter herstellbar (1918, 1945, 1989). Für Clemenceau blieb dieses Denken ein Märchen, denn er erkannte in der Politik stets zuerst den Feind, in Frankreich all jene, welche die Große Revolution nur mit Einschränkungen haben wollten. Aber die Revolution konnte man nur ganz haben oder gar nicht. Und auch der Krieg war nur ganz oder gar nicht zu gewinnen. Clemenceau wusste, dass im Bewusstsein des Intellektuellen der „Ernstfall“ dann eintritt, wenn um Werte gekämpft wird, wenn sie als absolut erklärt und jeder Diskussion entzogen werden. Absolute Werte erzeugen Sicherheit, weil sie auch die verdeckten Ungläubigen zum Bekenntnis zwingen oder sie als Feinde kenntlich machen. Der geistige Krieg kann nur mit ihnen geführt werden. Clemenceaus Politik war in der Revolution gegründet, sie war fortwährender Krieg gegen ihre Feinde und nur halben Bewunderer, sie war ein guerre franco-francaise, von dem zu einem großen Krieg umzuschalten nicht schwierig war, einem Krieg, bei dem selbst die halben Franzosen zu ganzen

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werden mussten, wenn sie den deutschen Feind erblickten, wenn sie sich in einem „heiligen Bündnis“ zusammenschlossen, dem einzig Heiligen, das der Atheist Clemenceau gelten lassen wollte. In Georges Clemenceau, den einflussmächtigsten Politiker der Dritten Republik und Ministerpräsidenten Frankreichs im Krieg (seit 1917), ist der Hass die Kraft des politischen Handelns, und er ist unversiegbar. Für ihn konnte die jakobinische Republik nur überleben, wenn sie gegen den Feind kämpfte, nämlich die katholisch-monarchistische Rechte und das Deutsche Reich. Revanche und Reaktion, das waren die Prinzipien, an denen sich der radikale Republikanismus kräftigte. Damit waren die Heimatfront wie die zu erwartende Kriegsfront seit 1871 bestimmt. Es war auch ein Kampf gegen die zunehmende patriotische Ermüdung vieler Franzosen, ihre Furcht vor einem Krieg, ihre Hinnahme des Verlusts von Elsass-Lothringen. Zudem drohte sich ein anderes geheiligtes Bündnis aufzulösen, das von bürgerlichen Radikalen und Arbeiterbewegung; zur Kluft zwischen Links und Rechts kam nun noch die Spaltung der Linken selbst. Dagegen führte man politische Stellvertreter-Kämpfe, gegen die katholische Kirche, gegen das Deutschland der „boches“. Versuche, den Frieden durch eine détente mit Deutschland zu erreichen, gab es durchaus, getragen vor allem vom Führer der Sozialisten Jean Jaurés, der aber bei Kriegsbeginn von einem Patrioten umgebracht wurde. Wie überall schlossen sich nun die Reihen. Ein absoluter Krieg sollte geführt werden, der nicht nur die Rückgewinnung der verlorenen Provinzen, sondern die „Brechung des preußischen Militarismus“ als moralisches Kriegsziel proklamierte. Für den Präsidenten Poincaré bildete das die Voraussetzung für die Herstellung des Friedens in Europa. Bis zum Endsieg sollte daher das Wort „Friede“ als Verrat angesehen werden, so der damalige Ministerpräsident A. Briand. Auch die Sozialisten schlossen sich dem an und lehnten weitere Kontakte mit deutschen und österreichischen Gesinnungsgenossen ab. Die katholische Kirche, vor kurzem noch zum privaten Verein erklärt und ihres Besitzes beraubt, segnete sogleich die Waffen. Seit 1789 war die Nation nicht mehr so einig gewesen. Nun, im Großen Krieg, stellte es sich heraus, dass der ganze Humanismus zur Phrase wurde, wenn man nur die Waffe in Anschlag brachte. Einige mochte dies erschüttern, Clemenceau hatte es immer gewusst. Zu dieser Erschütterung mag man auch die Rebellion der zwischen Pathos und Schützengraben erschöpften Soldaten im Sommer 1917 zählen, für die erstmals das Bild eines „Dolchstoßes“ in den Rücken der kämpfenden Front verwendet worden ist. Zu diesem Zeitpunkt waren von den bei Kriegsausbruch eingezogenen 3,6 Millionen Franzosen drei Viertel tot, verwundet oder gefangen. Dass rund 100 000 Rüstungsarbeiter etwa zur selben Zeit in Streik traten, zeigte, dass auch die Heimatfront zu wanken begann. Die Furcht vor einer sozialen Revolution bei einem Frieden, der nicht Pathos und Beute eines Sieges einbrachte, die Frage, wofür denn Hunderttausende Franzosen gestorben seien als Frage an die verantwortlichen Politiker, brachte den Staatspräsidenten Poincaré schließlich dazu, seinen Intimfeind Clemenceau zum Ministerpräsidenten zu ernennen. Der Preis für den schließlich errungenen Sieg war hoch. Von den insgesamt 8 Millionen eingezogenen Soldaten hatten 1,385 Millionen das Leben lassen müssen, 10% der er-

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wachsenen männlichen Bevölkerung. Eine Million war schwer kriegsbeschädigt, zwei Millionen hatten leichtere Verletzungen. Über die Hälfte der Auslandsguthaben war verloren gegangen, die Industrieproduktion um 50% geschrumpft. Frankreich schätzte seine Einbußen auf 91 Milliarden Goldfrancs und forderte vom besiegten Deutschland die Bezahlung bis zum letzten Centime: Es erhielt 5 Milliarden, ehe die Zahlungen eingestellt wurden (1931). Die Frage, ob sich ein Sieg „lohnt“, ist stets auch die Frage, ob sich ein „totaler“ Sieg lohnt. Es ist zugleich die Kant’sche Warnung vor einem Vernichtungssieg, aufgezwungen einem Feind, mit dem man doch weiterhin leben muss, gedemütigt und voller Hass. So mündete der Siegfrieden nur in einen Nachkrieg, ausgetragen an einer Heimatfront, welche die Nation in Lager spaltete, die nicht selten bewaffnet waren, in Deutschland, Österreich, Italien. Gerade dort, wo die innere Einheit durch die Niederlage in einen noch erbitterteren Konflikt zerfallen war als je zuvor, machten sich Vorstellungen breit, sie gewaltsam wiederherzustellen. Und die Sprache der Gewalt war in den Jahren des Krieges an der Heimatfront längst bereitgestellt worden. Zentral wurde dabei die Idee der „Volksgemeinschaft“ als einer der deutschen Eigenart entsprechenden Einheitsform politischer Organisation, die zwischen einem östlichen Absolutismus und einem westlichen Demokratismus angesiedelt sein sollte und in welcher der Staat den Zusammenhalt einer Gesellschaft sicherstellen sollte, die als Konfliktbereich gedacht und als integrationsunfähig aufgefasst wurde. Der Staat sicherte die Ordnung der Gesellschaft, indem er ihre Konflikte verrechtlichte und damit befriedete. Die Gleichsetzung dieses Rechtsstaates mit dem preußisch-deutschen Staat immunisierte diesen gegen jene Kritik, die auf seine Herkunft aus Krieg und Militärwesen hinwies, sowie auf die nur begrenzte Demokratisierung. Diese Militarisierung hatte bereits ein Moment in den „Ideen von 1914“ gebildet, der Bejahung, nicht selten Begeisterung für den Krieg in den „besseren Kreisen“, unter Akademikern, Schriftstellern, Künstlern, gut situiertem Bürgertum, der Jugend. Ein Überdruss an der Langeweile des alltäglichen Lebens, die Vorstellung vom Krieg als Abenteuer und Heldentat, zugleich die Vorstellung, für etwas Großes, Wertvolles einzutreten, bildet ein weiteres Moment. Eine solch kulturkritische Vorstellung vom Krieg als dem Elementaren, durch welches der in zivilisatorischen Kleinigkeiten, Geschäften und Geschäftigkeiten zerfallene moderne Mensch seine Existenz wiederfinde, die Brüchigkeit des Daseins, der Heroismus der Entscheidung, war in Deutschland besonders ausgeprägt.29 Der alliierten Unterscheidung von westlicher Zivilisation und deutschem Militarismus stellte man die von deutscher „Kultur“ und alliierter „Zivilisation“ entgegen, die nichts als Materialismus und Händlertum sei.30 Von einer Gemeinsamkeit geistiger Anstrengung war nicht mehr die Rede, weder in Deutschland, wo sich in Aufrufen zahlreiche Künstler und Gelehrte uneingeschränkt mit der Kriegsführung solidarisierten, noch in anderen Ländern.31 Der Krieg, so sahen es die bürgerlichen Intellektuellen, war ein „Kulturkrieg“, dies sei sein eigentliches Wesen über alle Schützengräben hinaus. Angefüllt mit dem Kulturbegriff des 19. Jahrhunderts, der ganz bürgerlich und ganz national geprägt war, sahen sie im Krieg die Verteidigung ihrer Nation als Verteidigung dessen, was sie dazu machte, eben die na-

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tional geformte eigene Kultur als Gebilde aus politisch-historischer und geistig-literarischer Tradition. Engländer, Franzosen, Italiener, Russen, Amerikaner sahen es ähnlich. Mit diesem Krieg jedoch zerbrach eben diese bürgerlich-nationale Kultur. Die nächsten Kriege wurden mit anderen Kampfsprachen geführt: Der Rassenkrieg, der Klassenkrieg ersetzten die Kulturidee des 19. Jahrhunderts. Romain Rollands Aufruf an die Intellektuellen und Künstler, sich gerade dadurch um ihre Völker verdient zu machen, dass sie die Sache des Geistes als zutiefst humane Angelegenheit nicht in den Krieg hineinzogen, vielmehr sie als Basis der Gemeinsamkeit für einen künftigen Frieden bewahrten, verhallte ungehört. Die Intellektuellen hatten ihre erste Bewährungsprobe nicht bestanden. Sie sollten auch ihre künftigen nicht bestehen.

Der totale Krieg Jeder Krieg setzt die Bereitschaft zur Gewaltanwendung voraus, d. h. die Einübung einer Kampfsprache als Benennung eines zur Vernichtung freigegebenen Feindes. Die Gewalt hat ihren ersten Ort stets im Bewusstsein und erst dann in den Fäusten. Dass der Zweite Weltkrieg nur zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Ersten ausbrach, wie eine vulkanische Masse, die sich stetig unter einer dünnen Oberfläche ansammelte, hatte vor allem damit zu tun, dass 1919 kein Friede eintrat, lediglich ein Nachkrieg, der den alten Hass wachhielt und ihn durch eine neue Ideologie in ein noch Radikaleres umformte. Wo die Bereitschaft zur Gewalt endemisch ist, kann kein Friede sein, und sie war es, vor allem in den durch den Krieg gebrochenen Ländern, in Russland und Deutschland. Das Bewusstsein jedoch ist wie eine geistige Brücke zwischen der Gesellschaft und dem Einzelnen. In ihrem Bewusstsein kommunizieren die Menschen mit der Gesellschaft und wie in jeder Kommunikation hängt das Gelingen davon ab, inwieweit die leitenden Begriffe Verständlichkeit erzeugen. Wo man diese Begriffe nicht gemeinsam versteht, kann man sich nicht verständigen. Wo in einer Gesellschaft keine stabilen Institutionen vorhanden sind, die das Feld des sozialen Verhaltens strukturieren, gibt es keine funktionierende Kommunikation, findet die „Brücke“ des Bewusstseins keinen Halt in der Gesellschaft, entsteht Unsicherheit, Furcht, Hass. Solche Institutionen waren in Deutschland nach 1918 weggebrochen und das Neue fand keinen hinreichenden Halt. Die Ideologie versprach ihn, nicht als Brückenbau in eine tief verunsicherte Gesellschaft, sondern als utopischen Bau in eine „Neue Ordnung“, die nur totalitär zu haben war. Die Ideologie machte alles einfach, daher war sie der Gewalt so nahe. Die totalitäre Ideologie mit ihrer Einebnung alles Individuellen war der Schützengraben ins kollektive Bewusstsein getragen. Individuen gab es nicht länger, nur abzählbare Mengen, über denen dann einer stand, nahezu vergöttlicht, der Führer. Aber auch er besaß kein Gesicht mehr, nur noch eine heroische Maske. Die Vorstellung der Sterblichkeit war verschwunden und mit ihr die Idee der Humanität, denn in der Masse starb und verschwand man, die Maske des Führers hingegen schien unsterblich. In dieser „Maske“ verschmolzen der Staat und die Person des Herrschers zu einer neuen Identität.

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Der „Führer“ war der Staat, d. h. der Staat besaß keine eigene Identität, etwa als Rechtsstaat, die er dem Führer hätte entgegenhalten können. Der Führer war das Recht, er besaß den Staat. Es war eine Maske der Brutalität, die deshalb auf viele so faszinierend wirkte, weil es in ihr keinen Zweifel gab, nur jene Besessenheit des „Willens“, die allein als Gewalt bestehen kann: Gewalt der Worte, Gewalt des Handelns. Der „Gefreite des großen Krieges“, ein Gesichtsloser, gab den Millionen ein Gesicht, und es war nur Gewalt darin und Hass, kein Zweifel und keine Verzweiflung. Die Maske des Führers wurde zur Maske des „Neuen Staates“, der nichts anderes sein sollte als eine Kriegsorganisation. An der Heimatfront säuberte und vernichtete man, bevor überhaupt eine „heiße“ Kriegsfront entstanden war. Politik und Krieg gingen ineinander über. Sie unterschieden sich allenfalls durch das Ausmaß der Gewalttätigkeit, nicht hingegen durch ihre Struktur, die nur Gewalt war, des Bewusstseins wie der Fäuste. Der in der Masse aufgegangene Mensch wird vollkommen verfügbar. Seine Rechte, Eigenheiten, Gesichter sind Verfügungsmasse geworden, definiert in Kategorien von Freund und Feind, zählbar in Quantitäten, nicht wägbar in Individuen. Es ist das Denken des totalen Krieges, das Blutpumpen ansetzt, wie es Denken terroristischer Herrschaft ist, welches als feindlich definierte soziale Gruppen der Gewalt unterwirft und zu beseitigen sucht. Der totale Krieg wird damit in zweifacher Weise zu einer Variante des Terrors. Er zielt auf die Verbreitung von Schrecken und er vernichtet kollektiv. Hatten früher Soldaten andere Soldaten bekämpft und sich dabei mehr oder minder an „professionelle“ Regeln gehalten, so bekämpften sie nun ein Kollektiv, von dem andere Soldaten lediglich einen Teil ausmachten. Da nicht alle zu vernichten waren, physisch, musste die Gewalt sie als Terror psychisch unterwerfen. Ein solch „terroristischer“ Kampf verband damit Technologie und Gewalt für den modernen Krieg im „tiefen“ Raum, in dem zum einen Kriegs- und Heimatfront ineinander übergingen und der zum anderen auf herkömmliche, „infanteristische“ Weise nicht oder noch nicht beherrschbar geworden war, in dem Bevölkerung als „Feind“ vorhanden war, als Partisan, als feindliches Kollektiv, das möglichst zu eliminieren war. Dass 1919 der Krieg nicht aufgehört hatte, dass nur die Waffen schwiegen, ermöglichte erst den Zweiten Weltkrieg. Im Ersten war die Politik kollabiert und ihre Wiederherstellung blieb mühsam und gelang nur teilweise. Vor allem in der Innenpolitik wirkte das absolut interpretierte Schema von Freund und Feind nach, eben als Identifizierung beider mit absoluten Werten des Guten und Bösen. Innenpolitisch implizierte das den Bürgerkrieg, außenpolitisch die Bereitschaft zum Krieg. Die Einheit von Kriegsfront und Heimatfront, technologisch vorbereitet durch die Entstehung der Rüstungsindustrie und einer rüstungsrelevanten Infrastruktur hinter der Kriegsfront, war durch die Technologie des Luftkrieges seit 1918 auch militärisch als einheitliche Kriegszone realisiert worden. Bereits im Ersten Weltkrieg war den Führern der einander bekriegenden Staaten bewusst, dass der Sieg im Krieg gleichermaßen an der Kriegs- wie der Heimatfront errungen werden musste, und ebenso, dass es sich dabei wesentlich um einen Krieg gegen die „Moral“ der feindlichen Bevölkerung handle, die zum Kollaps gebracht werden müsse, so wie die Moral der eigenen Bevölkerung zu stärken war. Doch bleiben die Möglichkeiten, den

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Krieg unmittelbar an der Heimatfront wirken zu lassen, technisch noch begrenzt. Die britische Hungerblockade gegen Deutschland, der darauf reagierende unbeschränkte U-Boot-Krieg waren solche Versuche, auch erste Angriffe mit Bomben auf Städte gegen Ende des Krieges. Sie bereiteten die technische Totalisierung des Krieges vor, wie sie dann von seiner weltanschaulichen Totalisierung nach 1939 realisiert worden ist. Das Bewusstsein von den „zwei Fronten“, an denen sich Sieg oder Niederlage entschieden, beeinflusste auch die Vorstellung vom Dolchstoß, den im November 1918 streikende Arbeiter in den Rücken eines noch unbesiegten deutschen Heeres geführt hätten. Dass der Krieg für Deutschland im Westen militärisch verloren war, trotz des jüngsten Sieges im Osten und obwohl die Front noch hielt, war für viele nur durch Verrat zu erklären. Die Sozialisten und die Juden, d. h. Gruppen, die sich nicht vollständig mit dem Vaterland zu identifizieren schienen, wurden weithin dafür verantwortlich gemacht, vor allem von jenen, die den Frieden lediglich als Unterbrechung eines großen Krieges auffassten, dessen Endphase noch bevorstand. Einen neuerlichen Zusammenbruch der Heimatfront zu verhindern, galt demnach als wesentlich für den „Endsieg“ nach der nur als vorläufig aufgefassten Niederlage von 1918. Daher mussten die Gegner frühzeitig beseitigt werden: Totalitäre Konsequenz eines zu führenden totalen Krieges, der zwischen Heimat- und Kriegs-„Front“ keinen Unterschied mehr machte. Die totalitäre Gleichschaltung der „Fronten“, die Erklärung aller Politik zum Front-Geschehen war die Konsequenz Adolf Hitlers. In der militärischen Gleichsetzung dieser Fronten jedoch waren sich alle einig, Diktaturen wie Demokratien samt ihren Militärs. Eine vom Kriegsgeschehen ausgenommene „Zivilbevölkerung“ konnte es nicht länger geben. Jeder war Kriegsteilnehmer, solange der Krieg währte. Der Zugriff der Gewalt wurde allumfassend: im Flächenbombardement der Städte, in der Zwangsarbeit, im Partisanenkampf und seiner Bekämpfung durch pauschale Hinrichtung „feindlicher“ Zivilisten, im Verbot der „Kollaboration“ und in der Gewalt gegen Kollaborateure. Damit realisierte sich im Zweiten Weltkrieg, was sich im Ersten seit 1916/17 abgezeichnet hatte und in Frankreich bereits als guerre totale bzw. als guerre integrale bezeichnet worden war. Die Mobilisierung „integrierte“ alle Bewohner eines kriegführenden Staates und alle verfügbaren Ressourcen. Ein irgendwie ziviler Sektor durfte nicht mehr vorhanden sein, d. h. das Recht wurde durch den Ausnahmezustand ersetzt, vor dessen Logik: den Krieg zu gewinnen, alles Recht auf das Ziel reduziert wurde. Die Kontrolle der Öffentlichkeit (als moralische „Ressource“) wie der Wirtschaft (als materielle Ressource) wurde total, die Kriegsziele wurden es ebenfalls. Einer bedingungslosen Kriegsführung entsprach der bedingungslose Sieg. Das „Politische“ als Bewegung zwischen Bedingungen und Bedingtheiten war in einer Kriegsführung und einem Kriegsdenken ausgelöscht worden, die alles auf den Vernichtungszweck minimiert hatte. Die Zerstörung des Politischen in seiner Balance von historischer Autorität und Gewalt in den besiegten Ländern, die tiefe Desillusionierung in den Siegerstaaten und der damit verbundene Verlust des Vertrauens in die staatliche Autorität ermöglichten jene Dialektik aus Fatalismus und Fanatismus, wie sie für die 1920er und 30er Jahre kennzeichnend geworden ist. Und noch war die Handlungs-

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fähigkeit Europas nicht zerstört, gab es europäische Großmächte, die das jahrhundertelange Ringen um Vorherrschaft aus eigener Kraft fortsetzen konnten. Doch vollzog sich dieses Ringen nun auf der – durch den Imperialismus bereiteten – Bühne der ganzen Welt, wo seit 1917 neue Spieler aufgetreten waren: die USA und die aus Russland mutierte UdSSR, daneben Japan. Zwar blieb Europa das Zentrum der Welt. Ohne seinen Zusammenbruch war eine Neuverteilung der Weltmacht nicht zu realisieren. Doch wenn der Erste Weltkrieg noch ein europäischer Krieg geblieben war, bei dem das Zentrum der Welt: Europa, seine Erschütterungen in einigen Wellen hatte in andere Weltteile auslaufen lassen, so wurde der Zweite Weltkrieg der erste, bei dem nicht Europa alles bestimmte, beginnend mit Japans Krieg gegen China ab 1931, dann gegen die USA und Großbritannien, der sich erst 1939 auf Europa ausweitete und erst am 2. 9. 1945 zu Ende ging, fast drei Monate nach der Kapitulation Deutschlands. Eine Hegemonialisierung der Kontinente, wie sie Japan und NS-Deutschland anstrebten, hätte den Weltaufstieg der USA wie der UdSSR blockiert. Sie war zugleich für die anderen großen kontinentalen Staaten nicht hinnehmbar. So wurden aus kontinentalen Auseinandersetzungen globale, die von jenen Staaten nicht gewonnen werden konnten, die erst versuchen mussten, sich eine kontinentale Machtbasis zu verschaffen, also Deutschland und Japan. Der Hitler’sche Griff nach einem „Indien“ in Russland, nach der Okkupation menschlicher und materieller Ressourcen als Basis für eine „kontinentale“ deutsche Machtpolitik wie der Griff Japans nach einem „Indien“ in China reflektierte die Überzeugung, dass Deutschland wie Japan demografisch wie ökonomisch zu stark waren, um die Rolle abhängiger Klientelstaaten zu spielen, dass sie gleichzeitig aber zu schwach blieben, um selbstständig Großmachtpolitik betreiben zu können. Ihre militärisch mobilisierbare Macht war gleichzeitig zu groß und zu klein in einer global gewordenen Rivalität, als deren entscheidendes Kriterium immer noch der Krieg galt. Aus diesem Dilemma auszubrechen, blieb demgemäß das Ziel Deutschlands, sei es im Ersten Weltkrieg als Hegemonie in „Mitteleuropa“, sei es im Zweiten als „Lebensraum im Osten“. Für Japan gilt Ähnliches in den Kriegen gegen Russland (1904/05), China (1931–45) und die USA (1941–45). Dagegen positionierten sich die wahren Großmächte mit „kontinentaler“ Basis, Großbritannien, Russland, die USA. Die Problematik der „halben“ Großmächte ohne kontinentale Basis sowie die weltanschauliche Aufladung der Gewalt durch den Ersten Weltkrieg und die tiefe Krise der politischen und sozialen Ordnung bilden einen Zusammenhang aus, der 1945/47 mit dem Verschwinden Europas als einer eigenständigen weltpolitischen Größe endet, als auch Großbritannien sein „Indien“ verloren hatte. Gewalt wird infernalisch, wenn sie sich ideologisiert. Diese Ideologisierung wurde im Zweiten Weltkrieg deshalb so total, weil die ihn führenden großen Mächte, NS-Deutschland und Sowjetunion, Japan, Großbritannien und USA, ihn alle unter der Prämisse führten, es gehe dabei nicht um Sieg oder Niederlage, sondern um Sein oder Nichtsein, des eigenen Volkes, der eigenen Zivilisation. So kehrte das Massaker wieder in die Gewalt zurück, doch nun in einem Umfang und einer planenden Absicht, die ihm nie zuvor zugekommen war. Der Zusammenbruch jeder Scheidung von Kämpfenden und Zivilisten

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führte zum Massaker als Methode. Das Kalkül des politischen Terrors, das pauschale Töten auch „potentieller“ Feinde, ergriff den Krieg. Die Bedingungslosigkeit des Krieges, ausgedrückt im Willen zur Vernichtung, wird gezähmt nur da, wo die Politik ihr Grenzen aufzwingt, und sie tut es dort, wo sie an eine Zeit nach der Gewalt denkt, in der „die Anderen“ immer noch „bei uns“ sind. Eine solche Zukunft kannte die Politik des Zweiten Weltkriegs nicht, weil bereits vorher der Gedanke einer Ausstoßung der Anderen in sie eingedrungen war, rassistisch im NS-Staat, politisch im Sowjet-Staat, ethnisch in Polen, der Tschechoslowakei. Aber auch in Frankreich, Großbritannien, den USA gewannen geschlossene Feindbilder an Einfluss, in denen der Andere allein als das absolut Böse fassbar war. Daher war der Krieg nur als ein totaler zu führen, also mit dem Ziel eines totalen Sieges und der Methode des Terrors. Totaler Sieg bedeutete, dass der Besiegte keine Rechte einfordern, nur auf Gnade hoffen konnte. Die Forderung nach „bedingungsloser Kapitulation“, schon vor ihrer Formulierung im Januar 1943 ein Prinzip britischer wie amerikanischer Kriegspolitik, die Ablehnung von Kontakten mit dem deutschen Widerstand bereits im September 1940 wie die Ausgrenzung Deutschlands aus den hehren Prinzipien der alliierten Atlantik-Charta vom August 1941: Sie zeigen den Willen zum totalen Krieg, der sich technisch im Bomberkrieg und der Atombombe realisierte. Für das nationalsozialistische Deutschland verwirklichte sich die Totalität der Gewalt bereits jenseits allen Politischen, in der Totalität des Rassenbegriffs, im Biologischen. Wenn das Wesen des Krieges die Vernichtung des Feindes in seinem Körper bedeutet, dann bedeutet ein biologisch aufgefasster Krieg die physische Eliminierung eines kollektiv aufgefassten Feindes über die bloßen Kombattanten hinaus. Die Radikalisierung der nationalsozialistischen Judenverfolgung fiel nicht zufällig mit dem Angriff auf die Sowjetunion zusammen. In beiden Fällen wurde Krieg gegen „Untermenschen“ geführt, d. h. gegen Menschen, die nicht jenen „Herrenmenschen“ verglichen werden konnten, als die sich die Nationalsozialisten sahen und zu denen sie ihr Volk durch Gewalt, Eugenik und Euthanasie zu machen gedachten. Die Arbeit, in ihrer Verbindung mit Freiheit das Pathos-Zentrum der europäischen Zivilisation seit der Aufklärung, stürzte hier erneut in die Sklaverei ab, und das radikaler als je zuvor. Der im Osten geführte Krieg als „biologischer“ Krieg erreichte damit ein Ausmaß an Vernichtung, das die riesenhaften Menschenverluste Russlands erst möglich machte, das Massensterben russischer Kriegsgefangener, die massenhafte Erschießung und Vergasung von Juden.32 Diese Biologisierung, als Endpunkt einer „demografischen“ Kriegsführung, ist die Tendenz des totalen Krieges an sich. Damit trifft sie sich mit dem modernen Krieg schnell feuernder, weit reichender Waffen, die gleichfalls quantitativ vernichten, wie auch mit dem Zusammenfallen von Kriegs- und Heimatfront, dem Verschwinden einer klaren Trennung von Kombattant und Zivilist. Hatte im Ersten Weltkrieg die Materialschlacht in den Todeszonen zwischen den Schützengräben stattgefunden, so verlagerte sie sich im Zweiten zunehmend in den Luftraum, in dem Briten und Amerikaner Krieg führten, ihre wachsende materielle Überlegenheit zur Geltung bringen konnten, ehe auch sie ab 1944 mit den Landungen in Italien und Frankreich in den Bodenkrieg eintraten. Rund ein Viertel der gesamten britischen Kriegs-

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ausgaben wurde für die Flächenbombardierung ausgegeben, bei zweifelhaftem militärischem Erfolg. So hatte etwa 1943 die deutsche Industrie durch Bombenangriffe einen Produktionsausfall von 9% hinnehmen müssen, doch stieg die Rüstungsproduktion insgesamt an und erreichte im zweiten Halbjahr 1944 ihren Höhepunkt. Der Luftkrieg als völlig neue Form kriegerischer Gewalt und als entscheidendster Ausdruck ihrer Technisierung hatte vor allem in Großbritannien die Erwartung entstehen lassen, das Konzept des entfernten Krieges (auf dem Festland, in den Kolonien) militärisch optimieren zu können. Churchills Forderung an die seit 1918 zur eigenen Waffengattung verselbständigte Royal Air Force, „to garrison the British Empire“ formulierte dieses Konzept als Prinzip wie als Pragmatik. Als Prinzip sollte es einen langdauernden, aussaugenden Bodenkrieg wie den von 1914–18 dadurch verhindern, dass man rasche Schläge gegen die materiellen und moralischen Ressourcen des Feindes im Hinterland führte. Als Pragmatik sollte es mit möglichst geringem militärischem und finanziellem Aufwand koloniale Aufstände unterdrücken.33 Während Großbritannien auf den Luftkrieg als strategische Offensive setzte, und zwar schon vor 1939/40, setzte Deutschland auf den Bodenkampf, dem die Luftwaffe zugeordnet wurde, ähnlich wie die Sowjetunion. Der „strategische“, d. h. durch Bomber geführte Luftkrieg ist mehr ein Abnutzungskrieg, der durch überlegene Ressourcen gewonnen wird, wobei die feindliche Zivilbevölkerung als Teil der militärischen Ressourcen gerechnet wird. Dass dies gegen ein in der Haager Landkriegsordnung enthaltenes Verbot verstieß, unverteidigte, „offene“ Städte zu bombardieren, störte niemand, denn es schien überholt im Zeitalter des Luftkriegs, technologisch überholt und damit zugleich moralisch entbehrlich. Ein Versuch, das Kriegsrecht an die neuen technologischen Möglichkeiten anzupassen und Luftbombardements zu verbieten, wenn sie mit Opfern unter der Zivilbevölkerung verbunden waren, war denn auch 1923 am Unwillen der Sieger von 1918 gescheitert. Der Luftkrieg bot für Großbritannien nach 1940 die einzige Möglichkeit, aktiv im Kriegsgeschehen zu verbleiben, nicht in der Passivität der bloßen Verteidigung verharren zu müssen. Politisch war das entscheidend, militärisch nicht, denn der Effekt auf die Kriegsfähigkeit Deutschlands blieb gering. Das „Dehousing“ Churchills sollte nicht nur die Körper, sondern zugleich die Psyche treffen, zerbrach sie aber nicht, trotz 600 000 verbrannter, erstickter Zivilisten in den zu Schutt und Asche zerbombten Städten, sondern führte nur in die Fatalität, in der die Menschen mit dem bloßen Erhalt ihres Überlebens so beschäftigt waren, dass sie alles andere hinnahmen. Dass die Fatalität den Gehorsam wirksamer einprägt als jede Ideologie, hatten die Schützengräben des Ersten wie die Lager des Zweiten Weltkriegs gezeigt. Deutlicher noch als anderes zeigt der Bomberkrieg die Logik einer Gewalt, die sich verselbständigt hat und nur noch sich selbst erhält. Vielleicht ist es dies, was den Krieg, was jede Gewalt „total“ werden lässt, nämlich eine Verselbständigung der Gewalt auf der Basis eines „totalen“, dualistischen Denkens, das den Feind nur noch apokalyptisch wahrzunehmen vermag und also allein in den Begriffen von Vernichtung und eigenem Überleben. Die Technik schafft dann dazu die Mittel. Die Ideologisierung hin zur Vernichtungsdefinition des „totalen“ Feindes realisierte „nur“ die technologisch möglich gewordene Vernichtungsmöglichkeit als eine totale, ge-

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nozidale. Totaler Luftkrieg und totale Waffe buchstabierten Potentiale, die sich allein durch eine totale Moral, die des gerechten Krieges, weltanschaulich bewältigen ließen. Mochten die politischen Führer die Ideologie des totalen Feindes für wesentlich halten, um sich psychisch zu kräftigen und vor allem ihre Legitimation vor den Massen aufrechtzuerhalten, so scheint bei den Militärs daraus eine Funktionalität des totalen Feindes geworden zu sein. Die Ideologie lieferte rhetorische Floskeln für ein Handeln, das funktionale Gründe hatte. Die rücksichtslose Behandlung etwa sowjetischer Kriegsgefangener durch die deutsche Armee hatte funktional mit der Unmöglichkeit zu tun, derart riesige Gefangenenmengen zu bewachen, ordnungsgemäß unterzubringen und zu verpflegen.34 Die Ideologie war die Floskel des Militärs, die in den obersten Rängen Material und Menschen kalkulierten, in den untersten mit dem täglichen Überleben beschäftigt blieben. Die Reduktion des Menschen zum „Menschenmaterial“ war universell geworden. Eigene Menschen wurden an der Front verbraucht, was unumgänglich schien, wenngleich bedauerlich. Fremde Menschen wurden durch Arbeit verbraucht oder schlichtweg „erledigt“, was unumgänglich schien und nicht bedauerlich. Die Judenvernichtung im Osten durch NS-„Sonderkräfte“ musste den Soldaten zwar „erklärt“ werden, als Mischung aus Antisemitismus und Partisanenbekämpfung, und sie schien als kollaborierender Appell an die Judenfeindlichkeit der Bevölkerung sogar funktionalen Sinn zu haben.35 Ein Erschrecken darüber aber gab es bei den Wenigsten. Man führte Krieg, musste gewinnen, weil auf weniger nicht zu hoffen war. Im totalen Krieg gipfelt jene Revolutionierung des Krieges, wie sie im Zeichen einer umfassenden, ideologischen wie materiellen Mobilisierung sich seit 1792 gegen den begrenzten, „diplomatischen“ Krieg, wie ihn noch Cavour oder Bismarck führten, durchgesetzt hat. Brachte die Ideologisierung des Krieges im Osten das eine Moment der Totalisierung einer Gewalt, die das Militärische übergriff, so bildete sich das andere aus der dramatisch wachsenden Unfähigkeit der deutschen Armee, mit den vorhandenen Ressourcen an Menschen und Material einen längeren Feldzug in Russland durchzuhalten.36 Die Folgen, nämlich die Beschlagnahme großer Nahrungsmittel-Bestände, die zu Hunger und Hungersnot unter der Zivilbevölkerung führen musste, daneben die Deportation von Zwangsarbeitern ins Reichsgebiet, schürten zugleich Widerstand und Partisanenkampf, was wiederum die Repression weiter erhöhte. Im Wendejahr 1943, als die Initiative an die Alliierten überging, betrugen deren Rüstungsausgaben 62,5 Milliarden Dollar, die der Achsenmächte jedoch entsprachen lediglich 18,3 Milliarden. Von den Ausgaben der Alliierten wurden die Hälfte von den USA, ein weiteres Viertel von der UdSSR aufgebracht. Dieser Niedergang setzte sich fort, symbolisiert am Tag der alliierten Landung in der Normandie (6. 6. 1944), als die Deutschen gegen die 13 000 Flugzeuge der Alliierten nur 300 eigene in den Kampf schicken konnten. Um den Krieg für sich entscheiden zu können, musste er von Deutschland schnell entschieden werden. Folgerichtig setzte die deutsche Militärdoktrin 1914 wie 1939 auf die „Entscheidungsschlacht“, die durch die den Raum überwindende technische Mobilität auf einem gewissermaßen ausgedehnten Schlachtfeld erreicht werden sollte, 1939/40 als „Blitzkrieg“ gestützt auf Panzer, Stukas und Luftherr-

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schaft. Technik und strategischer Überraschungseffekt sollten den Krieg in der „kurzen Zeit“ halten. Gelang dies nicht, mussten massive „kontinentale“ Ressourcen verfügbar gemacht werden, um eine längere Auseinandersetzung durchhalten zu können. Der Blitzkrieg im Westen (1939/40) führte jedoch nicht zum Siegfrieden, dafür wuchs die Abhängigkeit von Sowjetrußland. Der Angriff auf die UdSSR (22. 6. 1941) sollte damit sowohl kurz- und mittelfristig Ressourcen erobern wie langfristig ein Rassen- und Siedlungsprogramm verwirklichen. Kurzfristig sollten die Nahrungs- und Rohstoffressourcen der okkupierten Gebiete für die eigene Kriegsführung nutzbar gemacht werden, wobei man bewusst hinnahm, dass „zig Millionen Menschen verhungern“ (2. Mai 1941) müssten.37 Die Belagerung Leningrads mit über einer Million Toter und dem proklamierten Ziel, nach der – nie gelungenen – Eroberung die Stadt dem Erdboden gleichzumachen und die Überlebenden zu deportieren, zeigt einen Vernichtungswillen, in dem zwischen militärischer Führung und nationalsozialistischem Terrorismus nicht mehr zu unterscheiden war. Mit der Bereitschaft, im Osten einen Vernichtungskrieg zu führen, vollzog sich die bedingungslose Kapitulation des Soldaten und des ihn noch „moralisch“ eingrenzenden Ethos eines funktionalen Gewaltbegriffs, der den soldatischen Gegner kampfunfähig machen wollte, aber eben nicht auf die „Vernichtung der Lebenskraft“ eines ganzen Volkes zielte, wie der deutsche Generalstabschef Franz Halder im Juli 1940 notierte. Von dieser Kapitulation hat sich die Wehrmacht nicht wieder retten können, auch nicht durch die Verzweiflungstat des 20. Juli 1944. Von den während der deutschen Besatzungszeit umgekommenen rund zwei Millionen Menschen dürfte denn auch ein beträchtlicher Teil an Hunger gestorben sein. Ohne eine radikale Ausplünderung der Ressourcen war an eine Kriegsführung im Osten nicht zu denken. So reichten etwa die Treibstoffvorräte nur für drei Monate, da man bis dann bereits die Rohölquellen im Kaukasus erobert haben wollte. An Munition und Proviant verfügte man über Vorräte für vier Monate, und da Hitler damit rechnete, möglichst schon nach einem Monat den sowjetischen Widerstand gebrochen und nach fünf Monaten den Krieg beendet zu haben, erübrigten sich Vorkehrungen für einen Winterkrieg. Größere Rückschläge durfte es nicht geben, eine Verlängerung der Operationen in den Winter hinein musste katastrophisch werden. Die Vernichtung der bei Stalingrad am 23. November 1942 eingeschlossenen deutschen Truppen ist Symbol wie Realität dieser Katastrophe zugleich geworden. Während ihres Vordringens in Richtung Kaukasus waren Teile der vorrückenden Verbände bei Stalingrad auf zähen Widerstand sowjetischer Truppen gestoßen. Ein Versuch, den Ring durch eine Entsatzoffensive zu sprengen (21. 12. 1942), scheiterte und die Möglichkeit, selbst den Ausbruch aus dem Kessel zu unternehmen, hatte Hitler verboten. Die deutsche Luftbrücke funktionierte zwar, vermochte es aber längst nicht, die erforderlichen Mengen an Versorgungsgütern zu den Eingeschlossenen zu transportieren. Die eisige Kälte, ein zunehmender Mangel an Nahrung, Benzin, Munition bei ständigen massiven Angriffen sowjetischer Verbände zermürbten die Eingeschlossenen, drängten sie immer weiter zurück. Da Hitler die Kapitulation untersagte, brach der Widerstand stückweise zusammen. Dass die vor Hunger und Kälte kaum noch kampffähigen Soldaten dennoch weiterkämpf-

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ten, hatte mit jenem letzten Minimum an Willen zu tun, nicht gänzlich Objekt zu werden. Solange man noch eine Waffe in den Händen hielt, war man nicht völlig ausgeliefert. Erst als die Überlebenden wie eine graue, apathische Herde in die Gefangenschaft fortgetrieben wurde, war man völlig Gegenstand geworden. Als am 2. Februar 1943 die Waffen schwiegen und die Überlebenden weggetrieben wurden, nach 200 Tagen Kampf, hatte der Krieg seinen Wendepunkt erreicht. Rund 250 000 Soldaten hatten im Kessel von Stalingrad gekämpft, im Wesentlichen die deutsche 6. Armee mit rund 195 000 Mann, daneben 50 000 russische Hilfstruppen und 5000 Rumänen (wobei etwa 25 000 ausgeflogen wurden). Von den 90 000 Gefangenen überlebten 5000. Auf Seiten der sieben sowjetischen Armeen, die schließlich den Kessel stürmten, fielen rund 1,2 Millionen Soldaten. Daneben starben zahllose Zivilisten durch Bomben, Feuer, Hunger. Zwei Millionen Tote forderte die Schlacht, ein Blutbad wie Verdun. Der „Blitzkrieg“ war gescheitert und mit ihm der Mythos der deutschen Unbesiegbarkeit. Von nun an sank die Bereitschaft zur Kollaboration, begann der Partisanenkampf zu einem militärischen Problem zu werden, wuchs Stalin der Ruhm des russischen Helden und Retters zu, den er als Terrorist nie besessen hatte, festigte sich in Russland wie bei den Alliierten die Gewissheit des Sieges, brach in Deutschland wie bei seinen Verbündeten die fast abergläubige Überzeugung an Hitlers mit der „Vorsehung“ verbündetes Genie. Auch militärisch war der Verlust von 225 000 Soldaten, daneben große Mengen an Kriegsmaterial, nichts weniger als katastrophisch, selbst wenn es zutrifft, dass die Schlacht von Stalingrad über Wochen hin große russische Kräfte gebunden hat und es damit ermöglichte, südlich davon eine neue Abwehrfront aufzubauen. Der drohende Zusammenbruch der Südfront und die Einkesselung der dort operierenden beiden Heeresgruppen konnte so verhindert werden. Was Stalingrad jedoch zeigte, war, dass Hitlers Krieg in der Tat vom „letzten Bataillon“ abhing, dass Deutschland über keine Reserven verfügte, weder an Raum noch an Soldaten oder Material, Rohstoffen, wie sie Sowjets, Amerikanern, Briten zur Verfügung standen. Es kämpfte immer sozusagen mit der letzten Patrone, in Stalingrad wie im ganzen Krieg. Der Vernichtungskrieg, wie er nach 1941 im Osten geführt worden ist, war die Konsequenz dieses Ansatzes. Da ihn vor allem die deutsche Wehrmacht zu führen hatte, wurde ihre Verwicklung in die Gewalt jenseits der militärischen Konfrontation unvermeidlich. Mit der meist widerspruchslosen Hinnahme der Hungermaßnahmen gegen Kriegsgefangene und Bevölkerung, der Akzeptanz von Hitlers Aufhebung des Kriegsvölkerrechts für den Krieg im Osten, der passiven Unterstützung der Mordaktionen der Einsatzgruppen des SD brach das Militär in seinen verantwortlichen hohen Offizieren mit jenem Grundgesetz, das seit Jahrhunderten immer wieder militärische Gewalt von wilder Gewalttätigkeit abgegrenzt und in gewisser Weise legitimiert hat.38 Die auf diese Weise fortschreitende Identifizierung von Armee und Partei, d. h. die Einbeziehung des Militärs in den totalen, physischen wie ideologischen Gewaltapparat der Partei, war in der UdSSR bereits spätestens seit den Säuberungen Mitte der 1930er Jahre vollzogen worden. Nach dem deutschen Angriff war es diese als Terror organisierte Gewaltstruktur, die den Zusammenbruch verhinderte und die ungeheure Kraftanstrengung des Widerstands zustande brachte. Der

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Einzelne galt nichts, zählte nur in Quantitäten. Die Disziplin war radikal: Wer etwa im feindlichen Feuer zurückwich, wurde von rückwärts positionierten Kommandos erschossen, in Stalingrad etwa 13 500 Mann. Das entsprach Stalins Befehl Nr. 227, der für ein Zurückweichen im Kampf die Todesstrafe vorsah. Die ganze Bevölkerung wurde zum Soldatsein verpflichtet. So tötete der NKWD 8000 Russen, die im Winter 1941/42 aus Moskau fliehen wollten, als die deutschen Truppen sich der Stadt näherten. Gewalt und Befehl, Gesetz und Gehorsam gehen bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander über und wo noch nach der Moral gefragt wird, liefert die Ideologie sie. Gesetze, Moral binden die Gewalt nicht mehr, sie fordern sie geradezu heraus. Menschen wurden rücksichtslos „verbraucht“, oft als Ersatz von knappem Kriegsmaterial. Strafbataillone (422 000 Mann), Gulag-Häftlinge (rund eine Million), Frauenbataillone bildeten die unterste Schicht des sowjetischen Riesenheeres, doch auch die normalen Soldaten galten als kaum mehr denn Zähleinheiten, abzuwägen allein gegen Einheiten von Material und Zeit: „Wenn wir an ein Minenfeld kommen, rückt unsere Infanterie genauso vor, als wäre es nicht da“: Mit diesen Worten verdeutlichte Marschall Schukow gegenüber General Eisenhower dieses Prinzip der Verrechnung, hier bezogen auf Soldatenverluste gegen Zeitgewinn.39 Auch für die sowjetische Seite war dieser Krieg nur als Vernichtungskrieg zu führen. Die Deportationen ganzer Bevölkerungen, die als unzuverlässig galten, die Verschleppung oder Liquidierung von nationalen Eliten aus dem Baltikum und Polen (Katyn, April/Mai 1940, zwischen September 1939 und Mai 1941 wurden 400 000 Polen verhaftet oder deportiert), die massenweisen Liquidierungen durch Sondertruppen des NKWD mit vermutlich Millionen Toten, die Partisanenaktionen gegen tatsächliche wie mutmaßliche Kollaborateure, die sowjetische Kriegspropaganda, gipfelnd in den Aufforderungen zur Bedingungslosigkeit des Hasses bei Stalin oder Ilja Ehrenburg: Das alles waren Reaktionen auf den deutschen Angriff, die jedoch ganz jener Logik terroristischer Vernichtung entsprachen, wie sie das bolschewistische Herrschaftsgefüge seit der Oktoberrevolution geprägt haben. Dass diese Herrschaft radikal gefährdet war, sobald sie die absolute Verfügung über die Gewalt verlor, und dass es ihr keineswegs gelungen war, über die kommunistische Ideologie hinreichend Autorität zu gewinnen, zeigt das hohe Maß an Bereitschaft, mit den deutschen Truppen zusammenzuarbeiten, zeigen die neuen Appelle Stalins an den bislang verpönten russischen Nationalismus, an die bislang verfolgte orthodoxe Kirche. Unter Balten, Tartaren, Ukrainern, aber auch Russen waren viele zur Kollaboration bereit, bis hin zum Eintritt in die deutschen Kampfverbände. Etwa eine Million solcher „Hilfswilliger“ sollen in ihnen gedient haben, und es wären noch mehr gewesen, hätte Hitler dem nicht aus „rassischen“ Gründen widersprochen. Für viele, nicht nur Russen, auch Flamen, Niederländer, Franzosen, Spanier, die sich freiwillig zum Einsatz meldeten, war der Krieg ein Befreiungskrieg. Zu den an der Ostfront eingesetzten 2,5–3 Millionen deutschen Soldaten kamen so weitere knapp 2 Millionen nichtdeutsche. Was Hitler nie begriff, Stalin schon, war, dass große Kriege ohne massenweise Kollaboration nicht zu gewinnen, große Territorien auf die Dauer nicht zu halten waren. Der erfolgreiche Kolonialismus, insbesondere der Briten in ihrem Indien, hatte das gezeigt, so wie der kollaborierende Kolonia-

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lismus in Bälde zeigen sollte, dass eine zusammenbrechende Kollaboration den Zusammenbruch kolonialer Herrschaft nach sich ziehen musste. Die Kollaboration formt eine letzte Brücke zwischen Gewalt und Autorität, sie stellt nicht nur Ressourcen zur Verfügung, sie schafft zugleich ein Bruchstück an Legitimität, und auf beides ist nur schwer zu verzichten. Für den bolschewistischen Internationalismus war die Kollaboration eine Selbstverständlichkeit, auch wenn sich daran stets eine Phase der „Säuberung“ anschloss. Für den nationalsozialistischen Rassismus jedoch blieb sie ein Problem, weil dieser nur auf Gewalt setzte und weder die Kolonialmaxime der Briten, noch die Ideologiemaxime der Bolschewiken begreifen konnte, d. h. das Politische nicht einmal in seinen Restbeständen zu erfassen vermochte. Für die Briten hingegen bedeutete Kollaboration die massive Verminderung von Gewalt in der kolonialen Situation als Folge einer „indirect rule“ und also zugleich die Schonung der eigenen Machtressourcen. Den Bolschewiken bot sie die Möglichkeit, über die Verbindung von Armee, Geheimpolizei und einheimischen KP-Kadern rasch zu einer effektiven Machtübernahme in den eroberten Staaten zu kommen, die – für eine Übergangszeit – nationale Gruppen einbezog und pazifierte. Die Logik der Kollaboration im Zustand der Eroberung, einen Teil der Gewaltarbeit an Einheimische zu übertragen, wurde von diesen mit großer Radikalität ausgeführt, erhielten sie doch auf diese Weise Anteil an der Gewaltfähigkeit als elementarer Quelle aller Macht. Der bolschewistische Internationalismus, der die Kollaboration als Moment der Herrschaftsergreifung einplante, realisierte damit ein Prinzip expansionistischer Kriegspolitik, deren Ziel die Sowjetisierung Deutschlands als hochtechnologische Ressourcenbasis für die Durchsetzung der Sowjetmacht in ganz Europa bilden sollte. Dieser Lenin’sche Grundgedanke mündete seit 1930 in ein massives Rüstungsprogramm, dessen Ziel die Kapazität zu einem Angriffskrieg war, nachdem Erwartungen, proletarische Revolutionen im Westen würden den Sieg des Kommunismus einleiten, gescheitert waren.40 Probleme bei der Umsetzung des Rüstungsprogramms sowie die Säuberungen im Offizierskorps, denen mit Marschall Tuchatschewski der wichtigste Stratege der Roten Armee zum Opfer fiel, zeigten aber bei Planungen eines möglichen Angriffs auf Deutschland im Mai 1941, dass die Rote Armee dazu noch nicht hinreichend vorbereitet war. Stalins Absicht bestand wohl darin, die für die UdSSR durch seinen Pakt mit Hitler vom August 1939 geschaffene komfortable Situation, in der sich die kapitalistischen Staaten durch Kriege zu ruinieren suchten, möglichst andauern zu lassen, um dann in einem günstig erscheinenden Moment, vielleicht bereits im Laufe des Jahres 1942, selbst offensiv zu werden. Dabei war die UdSSR im Grunde bereits seit dem 17. September 1939, dem Angriff auf Polen im Kontext des Hitler-StalinPaktes, in den Weltkrieg eingetreten, obwohl mit diesem Staat ein Nichtangriffs-Abkommen bestand, so wie etwa auch mit Finnland, den baltischen Ländern oder Japan: alles Staaten, die dann Objekte sowjetischer Aggression geworden sind. Stalin wie Hitler wollten beide den Krieg, den sie ohne Mithilfe des anderen nicht zu führen vermochten. Das Ziel, Russlands vorrevolutionäre Grenzen wiederherzustellen, konnte nur über eine Verbindung mit Hitler erreicht werden. Das größere Ziel, den Kommunismus (d. h. die sowjetrussische Hegemonie) in Europa durchzusetzen, war nur über einen Krieg der kapi-

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talistischen Mächte und die anschließende Zerrüttung der kapitalistischen Gesellschaft zu erreichen. Eine Verbindung mit den Westmächten zur Verteidigung Polens hingegen, wie es 1939 angeboten worden war, hätte der UdSSR in diesen Zielen nichts gebracht, allerdings den deutschen Angriff unwahrscheinlich bzw. eine rasche deutsche Niederlage möglich werden lassen. Für einen auf die Sowjetunion bezogenen Kommunismus wie einen auf Deutschland bezogenen Faschismus blieb jedoch der jeweilig Andere weder geopolitisch noch ideologisch auf Dauer hinnehmbar, was punktuelle Bündnisse nicht ausschloss. Auf diese nahezu unabwendbare Konfrontation hatten Hitler und Stalin bzw. die von ihnen verkörperten Systeme ihre Völker hingezwungen, weil sie jenseits einer Praxis und Ideologie der Gewalt über keine Politik verfügten, die sich mit einem Frieden auf halbem Weg begnügt und auch nie mehr erstrebt hätte. Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hatte dann die UdSSR zumindest die Ziele einer russischen Großraumpolitik erreicht und konnte immerhin erwarten, die Ziele eines expansionistischen Kommunismus auch im politisch wie ökonomisch zerbrochenen Westeuropa erreichen zu können. Das gelang nicht, weil die USA wussten, dass sie ihre neu errungene Weltmachtstellung nur durch eine Kontrolle des industriestarken, geopolitisch wesentlichen Westeuropa würden stabilisieren können. Das Appeasement von Potsdam wurde zum Containment, das deshalb funktionierte, weil die durch den Krieg geschwächte UdSSR keinen weiteren großen Krieg riskieren konnte, andererseits durch den Erwerb von Atomwaffen vor amerikanischen Roll-Back-Versuchen geschützt blieb. 39 Millionen Menschen hatten ihr Leben verloren, waren erschossen, verbrannt, vergast worden, waren verhungert, davon 20 Millionen Russen, 5,1 Millionen Juden, 5 Millionen Deutsche. „Potsdam“ brachte Europa einen Frieden am Abgrund, und es waren diesmal nicht mehr die Europäer, die darüber entschieden, ob man sich wieder in ihn hineinstürzen sollte.

Der technologische Krieg Im Anblick des Feindes wird die Technik zur Waffe. Jede Waffe erzwingt Eindeutigkeit: Das ist ihre Logik, ohne die es sie nicht gäbe. In der Waffe fallen die technische Eindeutigkeit eines funktionalen Ablaufs und die politische Eindeutigkeit der Bestimmung des Feindes zusammen. Werkzeuge konstruieren die Waffe, d. h. ihr Gegenteil, denn der Zweck der Waffe ist die Destruktion, die Vernichtung von Menschen samt ihren Artefakten. Im zu Ende gedachten technologischen Krieg wird dieser zur technisch ausgeführten Vernichtungstätigkeit, in der Technik Technik vernichtet und in welcher der Mensch nebensächlich ist, quantitativ bedeutungslos, relevant nur noch in kleinen Eliten von Spezialisten vor Computer-Screens, geborgen in Bunkern: ein Szenario, das im Kontext eines zu führenden Atomkrieges bereits experimentelle Wirklichkeit geworden ist. Das Zeitalter der Massenheere, des quantitativen Siegesfaktors „Menschenmaterial“, ist schon im Zweiten Weltkrieg kulminiert und zugleich kollabiert. Im terroristischen Krieg allerdings, in

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dem der gewaltige technische Abstand zwischen „Taliban“ und „High-Tech Soldier“ geradezu ontologische Dimensionen annimmt, kehrt der Mensch als militärisches Quantum der technisch Schwachen zurück, als möglichst hohe Spreizung im „dead-body counting“ der einen, als Faktor zunehmender Abnutzung in der Erwartung der anderen. Das Verschwinden des Gegners ist das vielleicht wesentliche Merkmal des technologischen Krieges. Es ist das Ergebnis einer langen Entwicklung, nämlich des Siegeszuges der Fernwaffen. Die Tatsache, dass mit der Einführung pulverbetriebener Handfeuerwaffen seit dem 14. Jahrhundert die kriegerische Gewalt zunehmend zu einer Tätigkeit aus der Distanz geworden ist, ließ sie zu einer plebejischen Tätigkeit werden. Das Schwert als Waffe des Nahkampfes, das die Unmittelbarkeit der Lebensgefahr, die individuelle Wahrnehmung des Gegners und eine hohe Kunstfertigkeit im Gebrauch zu einer individualisierten ritterlichen, d. h. elitären Kampfweise verband und folgerichtig ein Ethos der Regelbeachtung daraus entwickelte, verschwand vor der Muskete, die von ihrem Träger nicht Kunst, sondern Drill forderte, also die gleichförmige Abfolge einer blinden Regelfolge von Handgriffen des Ladens, Hochhebens, Abfeuerns, Abstellens, nach Kommando. Doch bleib noch bis in den Ersten Weltkrieg hinein die Vorstellung einflussreich, dass der kriegerische „Wille“, nur da ausgebildet werden könne, wo der Kämpfer seine Gewalt als Blutgewalt unmittelbar am Körper des Feindes vollziehe, d. h. im Nahkampf durch Hiebe oder Stiche. Und da der „Wille“ als die im Krieg entscheidende, „letzte“ Ressource galt, blieb der Bajonettkampf als plebejische Spätform des vormodernen, individuellen Tötens wichtig. Die Maxime: „Kalter Stahl allein“ im Grabenkampf des Ersten Weltkriegs, wie sie etwa von Generälen wie Joffre oder Foch als Essenz des militärischen „Elans“ beschworen wurde, hatte mit dieser Überzeugung zu tun, dass ohne den blutigen Vollzug des Tötens der militärische Wille zum Töten erschlaffen würde. Die umfassende Technisierung des Krieges im Töten auf Knopfdruck, im elektronischen statt physischen Visualisieren des Feindes, hat dieser Überzeugung ein Ende gesetzt – bezogen auf den technologischen Krieg, ausgeübt von einer Elite der Berufskrieger, nicht auf den gegen ihn geübten Krieg der Technikschwachen, mit dem „Selbstmord-Attentäter“ als Gegenfigur zum „Militär-Ingenieur“. Im frühen 14. Jahrhundert tauchen die ersten Kanonen auf, ein halbes Jahrhundert später die ersten „Handbüchsen“. Bis Mitte des 15. Jahrhunderts hat sich das Geschütz von einer nahezu stationären Belagerungswaffe zur mobilen Feldartillerie fortentwickelt, nun aus Bronze gegossen und auf einer fahrbaren Lafette montiert. Und rund ein Jahrhundert darauf haben auch die Handfeuerwaffen ihre Schwerfälligkeit verloren, sind leichter, besser bedienbar, schneller abzufeuern, dank neuer Zündvorrichtungen und des rascher abbrennenden gekörnten Pulvers. Nun erst setzte das Zeitalter der Metalle, insbesondere des Eisens, recht eigentlich ein, als eines ihrer massenhaften Verwendung und Erzeugung. In einer noch weitgehend „hölzernen“ bzw. „steinernen“ (zivilen) Umgebung wurde der Krieg zum Herren der Metalle. Mit der Universalisierung der Pulverwaffen auf dem Gefechtsfeld im 16. Jahrhundert begann demnach auch die Verbindung von technikbasierter Produktion und Krieg eine neue, in die Zukunft weisende Form anzunehmen. Produk-

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tionsstätten entstanden, die weitgehend, wenn nicht ausschließlich für den Krieg erzeugten: Hüttenwerke, Pulvermühlen, Manufakturen zur Herstellung von Uniformen und Stiefeln. Der militärische Kernbereich allerdings, die Anfertigung von Gewehren, blieb noch lange Zeit ein handwerklicher, weil der zu geringe Präzisionsgrad der Handarbeit die serielle Herstellung mit austauschbaren Teilen verhinderte. Jede Waffe musste sorgfältig mit der individuellen Genauigkeit des Handwerks angefertigt werden. Erst die Entwicklung präzise arbeitender Werkzeugmaschinen im Kontext der Industriellen Revolution, d. h. seit dem frühen 19. Jahrhundert, ermöglichte jene serielle, maschinengestützte Massenproduktion standardisierter Güter, die für den modernen Konsum ebenso grundlegend geworden ist wie für den modernen Krieg.41 Mit dem seit 1847 von Samuel Colt in den USA produzierten Revolver begann dann das Zeitalter der Quantität auch für die Waffenherstellung. Um den Menschen zur Quantität werden zu lassen, mussten auch die Waffen in großen Zahlen vorhanden sein, und das wurde im Zeitalter der Wehrpflicht und der Massenheere zum drängenden Erfordernis. Die finale Logik solcher Quantifizierung, nämlich die quantitative Reduktion durch massenweise Vernichtung, realisierte sich technisch dann erstmals ein halbes Jahrhundert später mit der Vollendung des Maschinenprinzips im schnell feuernden Selbstlader, d. h. im Maschinengewehr. Im Bereich der Artillerie veränderten das Shrapnell-Geschoß und die Granate, im Bereich der Infanterie das Zündhütchen und das Langgeschoß das Kriegsgeschehen. Die Vernichtungswirkung dieser Waffen war deutlich höher als die ihrer Vorgänger, die Struktur des Krieges selbst wurde dadurch jedoch nicht verändert. Das geschah erst mit dem Einsatz der Maschinenwaffen. Mit der Feuerwaffe beginnt jene lange Linie einer Mechanisierung der kriegerischen Gewalt, wie sie für die westliche Zivilisation kennzeichnend geworden ist. Sie ist nur die Parallele einer gleichlaufenden Entwicklung im produktiven Bereich. Dahinter wirken eine langfristig dynamische Energienutzung, ein im Grunde materialistisches Menschenbild sowie die zunehmende Verwissenschaftlichung des Verhältnisses zur Natur.42 Das materialistische Grundverhältnis von Mensch und Maschine verwirklichte sich zuerst im mechanischen Tötungsuniversum, wie es seit dem 17. Jahrhundert um die Muskete entstand. Die Ladebewegungen für das Gewehr wie die Schrittfolgen der Soldaten oder die Bewegung ganzer Truppenkörper wurden hier eingedrillt durch eine Monotonie der Übung, die das Organische wie das Bewusstsein in die Regularität mechanischer Abläufe abstumpfen sollte. Der Mensch sollte alles Individuelle, d. h. potentiell Störende, verlieren und maschinell ausgerichtet werden. Er wurde nicht nur auf ein Maschinenhaftes hin trainiert, sondern auch als eine Art lebendige Maschine gedacht, als „Menschenmaschine“ im 18. Jahrhundert, mit physiologischen Abläufen, die mechanischen vergleichbar schienen, und einem Bewusstsein, das als physiologisch im Großhirn lokalisierbar galt. Alles war hier „mit dem Zirkel konstruiert“, nur eben die „harte“ Tötungsmaschine noch nicht, ehe die Präzisionstechnik der Werkzeugmaschinen auch hier Exaktheit entstehen ließ und jene Symbiose von Mensch und Waffe, wie sie sich im MG-Schützen, dem Kampfpiloten des Ersten Weltkriegs und danach ebenso realisierte wie symbolisierte: Der „kalte Stahl“ war zur blutigen Absurdität geworden, die Energetik hatte ihn abgelöst.

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Von der Technik her gesehen lassen sich fünf Faktoren des europäischen Krieges unterscheiden, in deren Expansion Europa die Welt überwältigt und ihr ein Paradigma militärischer Gewalt aufgezwungen hat, ehe es darunter zerbrach: die mit chemischer Energie betriebene Waffe, die fabrikmäßig produzierte Waffe, die schnell feuernde Waffe, die Luftwaffe, die eliminatorische Waffe (Gas, Atom, Viren). In einer ersten Phase kommt es zur Diversifizierung der Grunderfindung, zur Mechanisierung des Kriegers und zum Aufbau der Logistik, die den Waffen das Schießen ermöglicht und die „Mechanisierung“ der Soldaten, d. h. ihre Disziplin aufrechterhält. In der zweiten Phase erfolgt die Verbindung der nun möglich gewordenen industriellen Produktion mit der Vorbereitung bzw. Führung eines Krieges. Das „Hinterland“ wird zur Werkbank der Front, die Grenzen zwischen Soldaten und Zivilisten verschwimmen und sobald es eine fortentwickelte Antriebstechnik zulässt, werden beide zu selbstverständlichen Zielen einer Gewalt, die bereits eliminatorische Züge zeigt. Mit den sogenannten ABC-Waffen wird schließlich eine „Tötungsdichte“ erreicht, die man auf ganze Städte, Bevölkerungen, prinzipiell auf die Menschheit insgesamt ausweiten könnte. Die exakte Wissenschaft verdrängt die exakte Technik als Innovationskraft der militärischen Gewalt, zugleich erneuert sich die „primitive“ Gewalt, die aus dem „Willen“ ihren Elan zieht. Wenn die moderne Kriegsgewalt ihre Wucht weltanschaulich aus der revolutionären Ideologie bezieht, so tut sie es materiell aus dem Netzwerk von industrieller Massenproduktion, industriellem Transportwesen und gezielter Innovation durch angewandte Forschung. Zunächst waren die Ausbildung des Fabriksystems, die Entstehung eines speziellen Maschinenbaus, der Aufbau eines Eisenbahnnetzes unabhängig vom Kriegswesen entstanden. Es dauerte allerdings nicht lange, ehe das Militär die Gewaltpotentiale der industriellen Technik für sich nutzbar machte. Die neuen Verfahren der Eisenherstellung (Bessemer, Krupp) bildeten die Voraussetzung für die Anfertigung hoch belastbarer Geschütz- und Gewehr-Rohre. Die neuen Bohr-, Fräs- und Drehmaschinen ermöglichten eine standardisierte Massenfertigung. Die Eisenbahn jedoch realisierte eine Umkehrung in den strategischen Faktoren von Raum und Zeit. Mit der Zeitmaschine Eisenbahn wurde der Raum zu einer relativen Größe, ermöglichte sie doch nicht allein den raschen Transport großer Mengen an Soldaten. Auch die Logistik wurde revolutioniert, denn nun konnte man ebenso große Mengen an Nachschub liefern, ohne die ein Massenheer rasch kollabiert wäre. So erkannte der deutsche Nationalökonom Friedrich List schon früh (1834) die Doppelbedeutung der Eisenbahn. Sie ließ nicht nur das Netzwerk eines immer intensiveren Austausches von Stoffen und Gütern entstehen, also eine Volkswirtschaft, sondern sie ermöglichte zugleich die rasche Bewegung von Truppen innerhalb des Landes. Damit werde die Eisenbahn zu einer „neuen Verteidigungswaffe“, welche die Defensive begünstige, die herkömmliche Verteidigung durch Festungen ersetzte und, so hoffte List, den Krieg „totmachen“ könne. Bereits 1830 hatte das britische Militär festgestellt, dass eine Eisenbahnfahrt eine Infanterieeinheit in zwei Stunden ausgeruht und mit Ausrüstung an ihr Ziel bringen konnte, über eine Wegstrecke, für die sie zu Fuß zwei Tage benötigt hätte. Als Erstes nutzte Frankreich dann den Eisenbahn-Effekt militärisch in sei-

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nem Krieg gegen Österreich (1859), als es gelang, mit gut ausgebauten Eisenbahnen eine Armee von 120 000 Mann nach Oberitalien zu bringen, in 11 Tagen anstatt der für Fußmärsche veranschlagten zwei Monate. Damit war Lists Hoffnung bereits zuschanden gemacht, denn die französischen Generäle hatten gezeigt, dass die Eisenbahn vor allem eine offensive Kriegsführung begünstigte. Sorgfältig studiert durch den preußischen General Helmut von Moltke und umgesetzt in seinen Feldzügen gegen Österreich (1866) und Frankreich (1870), wurde die Eisenbahn-Zeit zu einer entscheidenden Größe militärischer Kalkulation, bis hin zur furchtsamen Beobachtung des russischen Eisenbahnbaus vor 1914 auf die deutschen Grenzen zu durch den deutschen Generalstab: Dass Russland seine enormen „Menschenreserven“ militärisch nur mit Hilfe der Eisenbahn zur Wirkung bringen könne, war eine durchaus begründete Überzeugung, die wesentlich zur schließlichen Bereitschaft beigetragen haben dürfte, den „großen Krieg“ zu wagen. Dabei bildete die Eisenbahn-Zeit lediglich einen Aspekt jenes umfassenden Beschleunigungseffekts, wie ihn die Industrialisierung freigesetzt hatte. Ein zweiter bestand in der Erhöhung der Feuergeschwindigkeit von den bis zu fünf Schuss pro Minute einer Vorderlader-Muskete zu den bis zu 200 Schuss des ersten Maschinengewehrs, wie es der Amerikaner Richard Gatling 1861 konstruiert hatte. Zwei Jahrzehnte später lag diese Schussfolge bereits bei 1200 Schuss pro Minute. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die schubartige Erhöhung der Feuergeschwindigkeit, sondern kaum weniger die Tatsache, dass die Muskete nahezu unverändert anderthalb Jahrhunderte (bis 1840) im Gebrauch der (britischen) Armee gewesen war, Gatlings Maschinengewehr aber bereits nach zwei Jahrzehnten technisch revolutioniert wurde. Diese Beschleunigung zeigte sich auch im Produktionsvermögen der Waffenfabriken. Als Preußen etwa von 1841 an seine Truppen mit dem von Nikolaus Dreyse konstruierten Hinterlader umzustellen begann, hatte man bis 1866 gerade die Hälfte des Feldheeres damit ausrüsten können. In der Schlacht von Königgrätz spielte dieses Gewehr dann eine wichtige Rolle beim Sieg Preußens über die mit Vorderladern bewaffneten österreichischen Einheiten. Als Preußen 1869 beschloss, ein neues Gewehr einzuführen, dauerte es lediglich vier Jahre, um die Umrüstung abzuschließen: Die neue, auf Werkzeugmaschinen gestützte Serienproduktion hatte es möglich gemacht. Die Industrie ermöglichte erst den modernen Krieg, weshalb es in letzter Konsequenz notwendig schien, einen Feind auf immer in Unterwerfung, wehrlos zu halten, indem man seine Industrie so gründlich vernichtete, dass er sie nie wieder würde aufbauen können. Die Reduktion der besiegten Deutschen zu Bauern als Methode ihrer dauerhaften Befriedung, wie sie der US-Finanzminister Henry Morgenthau einem zunächst begeisterten Roosevelt im September 1944 vorschlug, wäre eine solche Konsequenz gewesen. Morgenthau träumte sozusagen von einer kolonialen Situation der zivilisatorischen Minimierung auf den Ackerbau zur besseren helotischen Kontrolle durch den Eroberer: ein Gedankengang, auf dessen Hitler’sche Relevanz ihn bereits sein Ministerkollege Stimson verwies, und auch darauf, dass ein territorial geschrumpftes, re-agrarisiertes Deutschland seine Bevölkerung nicht werde ernähren können. 30 Millionen müssten verhungern. Der Plan wurde fallengelassen, nicht ganz allerdings, denn die Vorstellung, ein Volk durch Hunger

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in Unterwerfung zu halten, schien doch zu verlockend. Nahrungshilfen des Roten Kreuzes wie der Schweiz oder Irlands für die hungernde deutsche Bevölkerung wurden verboten. Marschall Montgomery etwa hielt 1000 Kalorien täglich (bei 2500 Kalorien als Normalmaß) für ausreichend, da die KZ-Häftlinge von Bergen-Belsen lediglich 800 Kalorien erhalten hätten. Verabreicht wurden dann 900 Kalorien im Hungerwinter 1946/47. Bei extremen Temperaturen und fehlender Versorgung mit Brennstoffen (trotz fortgehender Kohleförderung) erfroren Zehntausende, neben mehreren Hunderttausend Verhungerten. Erst als ab 1948 Amerikaner und Russen von Waffengefährten zu Feinden im Ringen um die Hegemonie in Westeuropa wurden und sich die jeweiligen Besatzungsmächte in ihren Machtbereichen um eine Kollaborationsbasis bemühten, begann sich mit dem Blickwechsel von den Besiegten zu möglichen Verbündeten die Art ihrer Behandlung zu ändern. Der Hunger als Methode verschwand, die Demontagen der Industrieanlagen kamen an ein Ende. Die „Bauern“ durften, mussten wieder „Mechaniker“ werden und bald auch Soldaten. Die Industrialisierung revolutionierte den Krieg. Wie Gatling es ausdrückte, sei mit dem Maschinengewehr das industrielle Prinzip der Einsparung von Arbeit auf die Kriegsführung übertragen worden. Die Tötungsarbeit sei mechanisiert worden, so wie vordem die Nähmaschine die Handarbeit mit der Nähnadel, die Erntemaschine die Handarbeit mit der Sense mechanisiert habe. Wie andere nach ihm erklärte auch Gatling seine Erfindung als Beitrag zur Humanisierung des Krieges, denn da das arbeitssparende Maschinengewehr Arbeiter, d. h. Soldaten einspare, werde es den Umfang der Armeen und also die Zahl der Gefallenen in jenem Maß vermindern, in dem die Feuerkraft ansteige. Diese Rede von einer Humanisierung des Krieges durch Radikalisierung der Vernichtungstechnik, sei es durch Verringerung der Kämpferzahlen, Verkürzung der Kriegsdauer oder Vermeidung von Kriegen qua Abschreckung, wurde zur Standardrede in der Apologie technologischer Vernichtungsinnovationen, von Nobels Dynamit, Gatlings MG, dem Flugzeug der Brüder Wright über den Einsatz von Giftgas bis zur Atombombe und der Militarisierung des Weltraums. Die Plausibilität dieses Arguments hing von der Voraussetzung ab, dass sich „unter Wettbewerbsbedingungen“ rasch ein militärtechnologisches Gleichgewicht herstellen werde, was einen Rüstungswettlauf implizierte, bei dem jeder um Vorteile rang. Ein solches gebrechliches Gleichgewicht stellte sich jedoch erst ein, als sich zwei weltdominante Mächte mit Atomwaffen bedrohten: Erst die genozidale Waffe realisierte für eine gewisse Zeit den militärtechnologischen Frieden, dessen Rationalität sich aus dem Verlust der Kategorie „Sieg“ und der Unabwendbarkeit der eigenen Vernichtung ergab. Hier sicherte die militärische Vernunft als Kalkül der Vernichtung dann tatsächlich den Frieden: Ein wahrhaft pathetisches Ergebnis des Siegeszugs der Vernunft in der westlichen Zivilisation. Doch das war eine Ausnahme- und Spätfolge der militärtechnischen Innovation. Zunächst regierte die militärische Angebots-„Ökonomie“, stimuliert durch die Machtkonkurrenz der großen Mächte, welche die quantitativen Effekte der neuen Waffentechnik mit jenen der Massenmobilisierung von Soldaten zu verbinden suchten. Mehr Soldaten mit schneller feuernden Waffen schien einen Machtvorteil zu ver-

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wirklichen, der als Drohung sogleich die Konkurrenz anderer Staaten in Gang setzte. Ein Rüstungswettlauf begann, der bei technisch etwa gleich innovativen Gegnern letztlich über die Opferzahlen entschieden wurde, über das „Blut“ sozusagen, das man aus der eigenen waffenfähigen Bevölkerung auf die Schlachtfelder „pumpen“ konnte. Im Ersten Weltkrieg binden sich all diese Momente zu einer, wenngleich noch nicht gefestigten Struktur, die im Zweiten Weltkrieg aushärtet. Es ist die Struktur des technologischen Krieges, dominiert durch schnell feuernde Waffen (rund 80% aller Gefallenen sterben im Feuer von Maschinengewehren), reguliert durch die Logistik der Eisenbahn, ökonomisch getragen durch die schrittweise Umwandlung der ganzen Volkswirtschaft in eine Kriegswirtschaft. Die Innovationen: der Lastkraftwagen und der Panzer als neue Mobilitätsfaktoren, das Flugzeug als mögliche Fernwaffe, die Technisierung der Kommunikation durch das Fernmeldewesen, das Giftgas als eliminierendes Kampfmittel, werden zwar bereits eingesetzt, gewinnen aber keine entscheidende Wirkung. Der Krieg bewirkte einen Schub in der Sachtechnik, insbesondere im Flugzeugbau, doch die Ausformung einer Methode ihrer Anwendung als Strategie und Taktik neuer technischer Kriegsmittel erfolgte erst später, in den 1920er Jahren. Für den Einsatz des Panzers war es die Betonung seiner Eigenschaften: Beweglichkeit und Feuerkraft, die zur Bildung spezieller Panzertruppen mit zugeordneter, über LKWs gleichfalls hochmobiler Infanterie führte. Für die Verwendung des Flugzeugs wurde der Gedanke von der Beherrschung des Luftraums als eigener Kampfzone zentral. Im Luftkrieg erreichte das energetische Prinzip der Reichweite eine neue Dimension, denn blieb der Panzer noch auf die militärische Kampfzone beschränkt, so radikalisierte das Flugzeug die Relativierung des Raums durch die Zeit. Die Weite des Raums wird dem raschen militärischen Zugriff geöffnet, die Scheidung von Kombattant und Nichtkombattant, von Militärischem und Zivilem schwindet. Der Luftkrieg realisiert damit technisch die bereits ebenfalls technisch ermöglichte Einheit von Front und Hinterland, von eigentlicher Kriegszone und sie unterstützender Industrie wie Logistik dahinter. Er realisiert zugleich die Ideologisierung des modernen Krieges als Versuch einer Zerstörung der feindlichen Moral im moral bombing. Pläne, durch massive Bombardierung von Städten, gegebenenfalls unter Einsatz von Giftgas, nicht nur die industrielle und logistische Basis des Feindes zu treffen, sondern auch seine moralische, lagen bereits der für 1919 vorgesehenen Luftkriegsführung der Alliierten zugrunde. Sie aufnehmend, konzipierte 1921 der italienische General Giulio Douhet den Totalen Krieg als schrankenlosen Luftkrieg, in dem auf der Ebene der Artefakte die eigene Kriegstechnik die gesamte Technik des Feindes zu vernichten suchte, und auf der Ebene der Menschen durch massive Bombardierung, bis hin zur eliminierenden Verwendung von Giftgasbomben, nicht nur die Körper zerstört, sondern auch der Wille der Überlebenden zerbrochen werden sollte. Noch nie war eine Kriegsführung so konsequent von einer Technologie abgeleitet worden wie hier. Und auch die im Zeitalter der Ideologie übliche moralisierende Rechtfertigung fehlte nicht, denn immerhin könne ein solch „total“ geführter Krieg diesen verkürzen und so die Opferzahlen verringern. Der Aufbau einer strategischen Bomberflotte und deren Einsatz zur „Pulverisierung“ ganzer Städte ab 1942 realisierte dieses Konzept dann militärisch.

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Die Verbindung von Giftgas und Flugzeug lag nahe, theoretisch, weil in der Verbindung beider der technische Gipfelpunkt einer Totalisierung der militärischen Gewalt erreicht wurde, aber auch praktisch, weil die Frontverwendung von Gas problematisch blieb, konnte es bei einer Änderung der Windrichtung doch auch die eigenen Soldaten schädigen. Aus Flugzeugen auf anonymisierte Bevölkerungen abgeworfen, konnte es jedoch durchaus seine Zerstörungswirkung verrichten, wie es die Spanier und Franzosen in Marokko (1925), die Briten gegen Afghanen (1919), die Italiener in Äthiopien (1935/36) denn auch taten. Folgenreicher aber war das Prinzip eben eines gegen anonymisierte Bevölkerungen eingesetzten eliminatorischen Kampfmittels, das in der Atombombe dann ihren (vorläufigen) Zielpunkt gefunden hat. Im Bomberkrieg erreicht das Prinzip der Fernwaffe einen ersten Höhepunkt, nämlich gesichtslos zu vernichten, bei entschiedener Verminderung des Risikos, selbst vernichtet zu werden, was durch die Erringung der Luftherrschaft durch Kampfflugzeuge erreicht werden sollte. Bei den Luftangriffen auf Deutschland blieb dieses Risiko noch hoch, starben doch von den 125 000 Soldaten des britischen Bomberkommandos 55 000 Mann. Doch schon bei den Angriffen auf Hiroshima und Nagasaki war das Risiko minimal und also das Unbeteiligtsein des Knopfdrucks so total wie die Hilflosigkeit des Feindes. Der Krieg, in seiner technischen Basis, der Produktion von Waffen, bereits ein fabrikmäßiger Vorgang, wird es nun auch in seiner Ausführung. Dass der Luftkrieg als erster den Übergang zum „totalen Krieg“ realisierte, hatte mit dieser doppelten Technizität zu tun. Der technische Schub im Flugzeugbau, im Ersten Weltkrieg eingeleitet und danach fortgeführt, hatte zu einer dramatischen Erhöhung der Geschwindigkeit der Traglasten wie der Reichweite geführt, von 800 km (1918) auf 3600 km (1939). Flugzeuge waren hochtechnische Geräte geworden, aus 70 000 Einzelteilen zusammengesetzt, in Großserien gefertigt, von einer funktionierenden Infrastruktur abhängig. Jetzt war Douhets strategische Theorie zur technischen Möglichkeit geworden. Verwirklicht wurde sie durch den britischen Premierminister Winston Churchill, der bereits für 1919 einen Angriff mit „tausend Bombern“ auf Berlin geplant hatte, um im Hinterland jene zweite Front zu eröffnen, mit denen die erste zu Fall gebracht werden sollte. Dabei war er sich völlig der Tatsache bewusst, dass ein solcher Krieg hinter den Kampflinien der Kombattanten ein grundsätzlich anderer werden musste, dass er die Bereitschaft voraussetzte, „die Zivilisation“ zu zerstampfen: „Zum ersten Mal“, so Churchill (1925) im Rückblick auf seine Überlegungen als Rüstungsminister von 1918, „bietet sich einer Gruppe gesitteter Menschen die Möglichkeit, die andere Gruppe zu vollständiger Hilflosigkeit zu verdammen“, also „Frauen und Kinder und die Zivilbevölkerung überhaupt zu töten“.43 Es ist die Konsequenz des genozidalen Krieges und sie ist bereits Ende der 1920er Jahre unter dem Schlagwort vom moral bombing zur Doktrin eines zu führenden künftigen Luftkrieges geworden, in Großbritannien bei dem Luftmarschall Hugh Trenchard, der den Aufbau der Royal Air Force organisierte. Seit Februar 1942 war dies dann das erklärte Ziel des britischen Luftkrieges: Nicht mehr gezielte Angriffe auf militärisch relevante Industrien oder Anlagen sollten im Zentrum stehen, sondern die „gegnerische Zivilbevölkerung“.44 Damit war der Luftkrieg endgültig zu einer eigenständigen Kriegsart geworden.

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Das Wesen des technologischen Krieges als eines totalen Krieges besteht in der Ausschöpfung aller technischen Möglichkeiten zur Vernichtung des Feindes und also im Verschwinden jeder Grenze für das Vernichtungshandeln. Die Totalität des Feindbildes entbindet die Totalität technisch möglicher Vernichtung: Wenn eine Kriegstätigkeit sich als Vollzug der Vernichtung von Gomorrha versteht, der Ausbrennung einer sündhaften Stadt durch ein reinigendes Feuer, entzündet von dem rächenden Gott, wie im Fall der Ausbrennung Hamburgs am 28. Juli 1943, mit 40–50 000 „zerschmolzenen“ Personen, dann realisiert die Technik nur den Impuls einer Politik jenseits des Politischen. Im totalen Luftkrieg war die „Moral“, das Kriegsrecht zerfallen, und wenn man sie „in Nürnberg“ wiederherzustellen suchte, dann nicht im Gedenken an Rotterdam, das mögliche Gedanken an Gomorrha nach sich gezogen hätte. Rotterdam wurde von der Liste der Kriegsverbrechen gestrichen, so wie Katyn. Wenn die Anonymisierung des massenweisen Tötens den Wesenskern des technologischen Krieges darstellt, dann verwirklicht sich dieser final in den finalen Waffen, die man nach dem A, B, C definiert. Das C, die chemische Waffe, macht dabei den Anfang. In ihr treffen sich jene drei Grundelemente des modernen Krieges, die nach Hinzutreten der ideologischen Unbedingtheit den bedingungslosen Krieg hervorgebracht haben: Wissenschaft, Technologie, Massenvernichtung. Steht im Bomberkrieg noch die Technologie im Zentrum, so wird mit der Verwendung der Chemie als Waffe die Wissenschaft zentral. Die Dynamik moderner Wissenschaft aber ergibt sich aus der Ersetzung der Tradition durch die Innovation, des lange vorhandenen Wissens durch die organisierte Suche nach neuem Wissen unter sozusagen technologischem Vorbehalt, d. h. der Überlegung, inwieweit ein empirisch getestetes Wissen technisch verwertbar sei. Diese Frage war vor allem in der Chemie selbstverständlich, die aus der Verwissenschaftlichung der Praxis heraus im Laufe des 19. Jahrhunderts erst entstanden war und im Kontext der Industrialisierung sogleich auf Anwendung zielte. Die Herstellung synthetischer Farben bildete dabei den Katalysator einer Entwicklung, in der wissenschaftliche Forschung und industrietechnische Nutzung eine Einheit bildeten. Die Gründung eigener Forschungsinstitute für Chemie, die 1911 ihre Arbeit aufnahmen, war daher nur folgerichtig. Einer der Direktoren war Fritz Haber, der ein Verfahren zur synthetischen Herstellung von Ammoniak entdeckt hatte, das der Ingenieur Carl Bosch zur industrietechnischen Methode weiterentwickelte. Die Ammoniaksynthese wurde rasch zur Basis der Herstellung von Sprengstoff in Deutschland, nachdem die Einfuhr von Salpeter durch die britische Blockade unterbunden worden war. Im Ersten Weltkrieg, in dem das deutsche Heer an einem Tag so viel Munition verbrauchte wie während der 10 Monate des Krieges gegen Frankreich (1870/71), wäre Deutschland bereits im Sommer 1915 aus Mangel an Sprengstoffen kampfunfähig gewesen. Die chemische Forschung ermöglichte die Fortführung eines Krieges schnell feuernder, riesige Mengen an Munition verbrauchender Waffen, die chemische Industrie ermöglichte die Herstellung der entsprechenden Riesenmengen. Aus Farbenfabriken wurden Werke zur Herstellung von „Kriegschemikalien“. Mit der Erstarrung des Krieges im Grabenkampf entstand der Gedanke, den Feind mit Reizgasen aus den Stellungen zu treiben und dann abzuschießen. Erste französi-

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sche Versuche mit Tränengas blieben allerdings erfolglos.45 Auch auf deutscher Seite begann man bereits seit Ende 1914 mit Reizstoffen, die durch Granaten abgefeuert wurden, zu experimentieren. Um die geringe Wirkung dieser Geschosse, die nur einen sehr begrenzten Raum verseuchten und nur eine geringe Toxizität besaßen, nachhaltig zu erhöhen, schlug Haber vor, Chlor aus Stahlflaschen abzulassen. Chlor, zur Bleichung von Stoffen wichtig, war ein typisches Produkt der Industriellen Revolution. Es konnte verflüssigt an die Front gebracht werden, verband sich mit Luft zu einem Gasgemisch und würde dann, vom Wind in die feindlichen Schützengräben getrieben werden, da es deutlich schwerer war als Luft und sich also nicht nach oben hin verflüchtigen konnte.46 Unter den Offizieren gab es deutlichen Widerstand gegen den Einsatz dieses den militärischen Ehrenkodex verletzenden Kampfmittels, von Haber als die „höhere Form des Tötens“ bezeichnet, weil es nicht mehr im schieren Zuschlagen, sondern sozusagen wissenschaftlich vollzogen wurde. Zudem verbot die Haager Konvention von 1899 „die Verwendung von Giften oder vergifteten Waffen“ sowie von „Geschossen, deren einziger Zweck ist, giftige oder erstickende Gase zu verbreiten“: Doch für den deutschen Generalstabchef Falkenhayn hatte der Krieg ohnehin eine neue Gestalt angenommen, hatte das technisch realisierbare quantitative Kalkül die Strategie des Bewegungskrieges ersetzt, in seiner „Blutpumpe“ von Verdun wie nun in der „Desinfektion“ des Feindes durch Gas. Zwar blieb es weiterhin die Absicht, den Gegner zur Flucht zu zwingen, doch konnte das Chlorgas zu Verletzungen der Schleimhäute und Augen und zum Erstickungstod führen. Am 22. April 1915, bei günstigem Wind, kam es dann nahe Ypern zum ersten großen Gasangriff,47 bei dem zwar der Durchbruch durch die feindlichen Linien gelang, dieser aber strategisch folgenlos blieb, weil die deutsche Militärführung nicht genügend Reserven bereitgestellt hatte, um den Vorteil auszunutzen. Ypern ist der Beginn jener zweiten Phase des modernen Krieges, in welcher die Technik nicht mehr im Kontext eines Erfahrungswissens operiert, das aus der zivilen Industrialisierung kommt. Mit dem Gaskrieg beginnt die Wissenschaft zu einer entscheidenden Größe militärischer Planung und Kriegsführung zu werden. Mit ihm ersetzt die Struktur des modernen Krieges als einer totalen Vernichtungstätigkeit die soldatische Vorstellung von individuellem Mut durch die terrorisierende Wirkung einer anonymen Angst. Das Gas erzielte damit neben dem direkten auch den indirekten Effekt der Demoralisierung des Feindes, es war zugleich eine „Moral“-Waffe. Seine Verbindung mit dem Bombenkrieg erschien somit als folgerichtig. Auch Haber erkannte den demoralisierenden Effekt des Gasangriffs als mindestens ebenso wichtig wie den direkten. Um die eigenen Soldaten nicht nur physisch, sondern ebenso psychisch zu schützen, entwickelte er die Gasmaske mit abschraubbarem Atemfilter. In ihr wird der Verlust des Gesichts vollkommen und das menschliche Antlitz zur technischen Maske, die ein fragiles Überleben in einer durch Technik zerstörten Umwelt ermöglicht. Dass während des Krieges etwa 1,3 Millionen Menschen durch Gasangriffe vergiftet worden waren, aber nur 91 000 davon starben, gehört in diesen Zusammenhang von begrenzter direkter, aber riesenhaft größerer indirekter Wirkung, von der allein die alle „Moral“ brechende Panik ausgeht, das „Grauen“, wie es britische Soldaten nannten. Mit diesem neuen Typus einer wissenschaftlichen Waffe

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stellte sich die Grundfrage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers und seines seit dem 17. Jahrhundert ausgebildeten Ethos einer Erkenntnis, die dem Fortschritt der Menschheit dienen sollte, ihrem geistigen wie materiellen. Die Antwort Fritz Habers ist zur Antwort aller Wissenschaftler geworden, die seitdem an solchen Waffen mitgearbeitet haben: „Der Wissenschaftler gehört im Frieden der Menschheit, im Krieg aber dem Vaterland“. Man kann „Vaterland“ durch „Demokratie“, „Sozialismus“ oder anderes ersetzen: Das Problem, vermutlich unlösbar, bleibt dasselbe. Auch in Großbritannien, dann in Frankreich, den USA, gehörte die Wissenschaft dem Vaterland. Am 25. September bereits kam es zum britischen Gasangriff bei Loos, mit Chlorgas, ehe Briten wie Deutsche dazu übergingen, es mit dem wirksameren Phosgen zu verbinden. Dabei verwandten die Briten seit 1917 spezielle Gaswerfer, die das Gasgemisch in Behältern gegen die feindlichen Gräben schleuderten, wo sie zerbrachen und ihren Inhalt freigaben. Die Abhängigkeit von Windrichtung und Wetterlage war damit überwunden und eine vergleichsweise hohe Zielgenauigkeit gesichert.48 Bereits 1916 waren von Franzosen und Deutschen bei Verdun Giftgasgranaten von der Artillerie verschossen worden. Damit war endgültig die Tötung durch das Gas realisiert worden. Im selben Jahr entstand die erste rein militärische Giftgasfabrik im englischen Porton Down, wo 1000 Wissenschaftler und Soldaten Kampfstoffe herstellten. Der Gaskrieg war Teil des „normalen“ Krieges geworden. Im Jahr 1918 wurde dann bereits 94% der gesamten während des Krieges verbrauchten Gasmenge freigesetzt, rund 66 Millionen Granaten.49 Zudem wurden die verwendeten Chemikalien immer gefährlicher. Das 1917 erstmals eingesetzte Senfgas etwa führte zum qualvollen Ersticken durch Ablösen der Schleimhaut in der Luftröhre. Zudem tötete es nicht nur massenhaft alles Leben in der betreffenden Region, sondern verseuchte auch für lange Zeit den Boden. Ein Wettlauf um den höchsten Vernichtungsgrad hatte begonnen, so entwickelte man 1918 das Lewisit mit noch höherer Wirkung als Senfgas in den USA, wo in Edgewood eine militärwissenschaftliche Forschungseinrichtung entstanden war, von einer Größe, wie es sie noch nie vorher gegeben hatte, mit 1200 Wissenschaftlern und 700 Assistenten, die mehr als 4000 giftige Substanzen auf ihre militärische Verwendbarkeit hin untersuchten.50 „Edgewood Arsenal“ war der Beginn spezialisierter militärischer Vernichtungsforschung, d. h. einer auf Anwendung zielenden Wissenschaft, deren einziger Zweck der Krieg war. Mit ihr neigte sich die Ära, in welcher die zivile „wirtschaftende“ Industrie und Industrieforschung auch militärisch nutzbar gemacht wurde, einem relativen Ende zu und eine neue Ära begann vorherrschend zu werden, in der sich das militärische Interesse als Forschungstreiber zu verselbständigen begann und an der die Wirtschaft bestenfalls über technologische „Spinn-Off“-Effekte und Rüstungsaufträge teilhatte. In Großbritannien wie den USA war aller rhetorischen Entrüstung über den „Hunnenstoff“ zum Trotz auch nach Kriegsende die Überzeugung bestimmend, dass „Giftgas ohne Zweifel eine legitime Kriegswaffe“ sei, obwohl man ihren „Erfinder“, Fritz Haber, als „Kriegsverbrecher“ anklagen wollte. Der „gerechte Krieg“ rechtfertigte jede Waffe. Bei den ersten Angriffen mit Chlorgas wurden die Soldaten durch Horden von Ratten gewarnt, die in Panik aus den Gräben über die Schlachtfelder rannten. Bei den systemati-

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schen Versuchen mit Kampfgas in den Laboratorien wurden sie zu experimentellem „Material“, so wie Mäuse, Hunde, Affen, so wie die Menschen selbst, die man alle in „Gaskammern“ bestimmten Stoffen und bestimmten Dosierungen aussetzte, wenngleich bei den menschlichen Versuchs-„Tieren“ die Maxime des Überlebens galt. Solche Forschungen wurden auch nach 1918 in großem Stil betrieben und bereits Mitte der 1920er Jahre gab es keine Militärmacht von einiger Bedeutung, die nicht über chemische Kampfstoffe verfügt hätte, Deutschland ausgenommen, dem man diese „für alle Zeiten“ verboten hatte. Zwar kam es 1925 im Rahmen des Völkerbundes zu einem Vertragsabschluss, der die Anwendung chemischer wie bakteriologischer Kampfstoffe verbot, doch war weder die Erforschung solcher Stoffe untersagt, noch ihre Anwendung bei einem chemischen Angriff als Verteidigungsmaßnahme.51 Und selbst unter diesem Vorbehalt weigerten sich die USA, den Vertrag zu ratifizieren (sie erfolgte erst 1980). Frankreich (1926), Italien und die UdSSR (1928), Deutschland (1929), Großbritannien (1930) ratifizierten zwar, doch setzte Italien bereits 1935–1936 Giftgas bei seinem Krieg gegen Äthiopien ein, und Japan, das nicht unterzeichnet hatte, benutzte es seit 1936 in China. Und auch die Rote Armee setzte 1930 Giftgas gegen aufständische Bauern im Wolgagebiet, im Kaukasus und der Ukraine ein. Mit der psychischen und physischen Vorbereitung auf einen neuen großen Krieg nahm das Interesse an chemischen Kampfstoffen zu. Kaum jemand zweifelte daran, dass dieser Krieg entscheidend auch ein chemischer sein würde. Vor allem in Großbritannien war die Vorstellung dominant, dass ein solcher Krieg insbesondere Krieg „im Hinterland“ sein werde, geführt von Bombern, die nicht zuletzt mit Gasbomben die Bevölkerung angreifen würden, worauf man bereits 1938 mit der Ausgabe von 30 Millionen Gasmasken reagierte, die ständig bereitzuhalten waren. Ihrerseits setzten die Briten auf das großflächige Versprühen von Senfgas aus großer Höhe mit einer erhofften „hundertprozentigen“ Tötungswirkung auf ungeschützte Personen. Auch im nationalsozialistischen Deutschland begann seit den späten 1930er Jahren eine massive chemische Aufrüstung. Dort hatte Ende 1936 der Chemiker Gerhard Schrader bei der Suche nach einem Insektenvernichtungsmittel eine neuartige Form von Giften entdeckt, die nicht nur über die Atmung, sondern auch über die Haut aufgenommen wurden und über eine Muskellähmung bzw. die Unterbindung bestimmter chemischer Vorgänge im Körper zum Erstickungstod führen. Diese sogenannten Nervengase: Tabun, dann Sarin, gegen die auch Gasmasken kaum Schutz boten, wurden seit 1940 in großen Mengen in eigens dafür errichteten Anlagen produziert, zusammen mit Phosgen und Senfgas. Dass Hitler nicht den Befehl zum Einsatz dieser in Granaten oder Bomben abgefüllten Kampfstoffe gegeben hat, von denen man annimmt, sie hätten 1943 oder 1944 noch die Niederlage abwenden können, ist unklar geblieben. Hitlers eigene tiefe Abneigung gegen chemische Waffen, deren Opfer er selbst im Oktober 1918 geworden war, zusammen mit der Befürchtung alliierter Luftangriffe mit chemischen Waffen, mögen die Ursache hierfür gewesen sein. Wenn das Nervengas eine deutsche Entwicklung war, den Alliierten unbekannt, so begannen diese doch gleichfalls mit der Entwicklung eines neuartigen Typs von Vernich-

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tungsmittel, nämlich einer „biologischen Bombe“. Bereits 1934 hatte die britische Militärführung ein Programm zur bakteriellen Kriegsführung beschlossen, zunächst zur Verteidigung durch Anlage von Vorräten an Impfstoffen. Mit Kriegsbeginn wurde dann die Angriffsfähigkeit mit bakteriologischen Mitteln zentral. Seit 1942 experimentierten britische Wissenschaftler auf einer Insel mit Milzbrand-Bomben und Schafen als Versuchswesen. Die Vorteile der Milzbrand-Bakterien, die auf Haut wie Atmung wirkten, in kurzer Zeit töten, leicht vermehrbar sind, aber als Sporen jahrelang ruhen können, ohne an Wirksamkeit zu verlieren,52 empfahlen sie für eine flächendeckende Kriegsführung. Großbritannien wurde damit zu dem Staat, der „die erste biologische Waffe des Westens – wahrscheinlich sogar der Welt – in Massen hergestellt“ hat.53 Da dies am leichtesten durchführbar schien, wollte man durch Milzbrand verseuchtes Futter in großen Mengen über Deutschland abwerfen, an denen das Vieh massenweise zugrunde gehen sollte. Die folgende Nahrungsmittelknappheit sollte dann die Moral der Zivilbevölkerung zermürben. Damit war zugleich eine zweite Variante der biologischen Kriegsführung entstanden, bei der nicht mehr die Körper der Feinde unmittelbar angegriffen wurden, sondern mittelbar, über die Zerstörung ihrer biologischen Umwelt. Seit 1942 arbeiteten Großbritannien und die USA mit ihren riesigen Kapazitäten an der Fortentwicklung dieser beiden Varianten biologischer Vernichtung, einer Erntevernichtung (Getreide, Reis) mit folgender Hungersnot und der Milzbrand-Bombe als Massenvernichtungsmittel im Auslöschen von Städten. Man erhoffte sich eine deutlich über 50% liegende Tötungsrate und rechnete mit einer massiven Verseuchung der betreffenden Gebiete, die für Jahrzehnte unbewohnbar bleiben würden.54 Wenn es dazu nicht gekommen ist, so deshalb, weil die Alliierten den Krieg schneller gewannen, als sie ihre biologischen Waffen zur Einsatzreife entwickeln konnten. Bei einer tatsächlich drohenden Niederlage hätte man sie eingesetzt, trotz möglicher deutscher Gegenschläge, die sich allerdings auf chemische Waffen beschränkt hätten, da dort die bakteriologische Forschung noch in den Anfängen steckte. Churchill, der bereits seit dem Ersten Weltkrieg tief beeindruckt war von der Möglichkeit, im 20. Jahrhundert mit „methodisch vorbereiteten und vorsätzlich auf Mensch und Tier losgelassenen Seuchen“ Krieg zu führen, war nicht nur 1939 bereit, bei einer deutschen Landung Senfgas einzusetzen. So forderte er im Juli 1944 den britischen Generalstab auf, Vorbereitungen zu treffen, um „Deutschland mit Giftgas zu durchtränken“.55 Kurze Zeit später wurde diese Aufforderung um den Hinweis auf „biologische Waffen“ ergänzt. Entsprechende Planspiele wurden durchgeführt. Welche Dimensionen die chemische Aufrüstung bei Kriegsende erreicht hatte, machen einige Zahlen deutlich: So besaßen etwa die USA bei Kriegsbeginn 1500 Tanks zum Versprühen von Giftgas aus Flugzeugen, bei Kriegsende 113 000, die Ausgaben für die chemische Rüstung stiegen von 2 Millionen Dollar (1940) auf eine Milliarde bereits zwei Jahre später. Großbritannien verfügte 1939 über 450 Tonnen Senfgas, Anfang 1942 über 20 000 Tonnen. Bei Kriegsende hatten die kriegsführenden Mächte eine halbe Million Tonnen chemischer Kampfstoffe angehäuft, das Fünffache dessen, was im Ersten Weltkrieg eingesetzt worden war.

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Kaum war ein Reich des Bösen vernichtet, tat sich ein neues auf. Zwar hatte die Atombombe eine neue technologische Waffe mit massenhaftem Vernichtungseffekt verfügbar gemacht, doch hielt man in Großbritannien und den USA wie in der Sowjetunion daran fest, dass die biologische Kriegsführung langfristig mindestens ebenso bedeutsam sein werde. Experimentiert wurde mit unterschiedlichen Krankheitserregern, wie dem Milzbrand, der Gelbsucht oder der Pest. Als schwieriger erwies sich die Verbreitung der Erreger im Feindgebiet, etwa über Trinkwasservergiftung oder durch Aussprühen in den auf dieses Gebiet zuwehenden Wind. Am schwierigsten jedoch war es, die ausgelöste Epidemie auf die feindliche Bevölkerung beschränken zu können und ihr nicht selbst zu unterliegen. Die Unterzeichnung eines Abkommens zum Verbot der Entwicklung oder Lagerung bakteriologischer Waffen zwischen den USA und der UdSSR (4. 4. 1972) zog die Folgerung aus dieser Problematik. Weitere 85 Staaten traten dem Abkommen bei. Chemische Kampfstoffe waren davon nicht erfasst. Mit ihnen führten dann die USA den ersten Umweltkrieg der Geschichte. Ab 1961 ließ die amerikanische Luftwaffe Gift auf Wälder und Pflanzungen in Südvietnam abregnen, um den kommunistischen Partisanen sowohl die Deckung in den Urwäldern wie die Nahrungsgrundlage zu entziehen. Die Vegetation verdorrte, die Tierwelt starb ab, Missgeburten häuften sich. Die Gebiete, in denen die USA kommunistische Partisanen vermuteten, wurden in „boxes“, abgegrenzte Teilgebiete, unterteilt, über denen Transportflugzeuge „Agent Orange“ absprühten, eine Chemikalie zur Unkrautvernichtung, neben anderen Giftstoffen. Das Ziel war es, den Urwald zu entlauben und die Reisfelder in diesen Gebieten zu zerstören, von denen sich – neben den Dorfbewohnern – auch die Partisanen ernährten. Die Ende 1961 von Präsident Kennedy persönlich genehmigte, weil gegen die Ächtung des Giftgaskrieges verstoßende Aktion, wurde mit zunehmender Verschlechterung der militärischen Lage ab 1965 intensiviert. Agent Orange galt dabei als besonders wirkungsvoll, weil es Dioxin enthielt, eine der giftigsten Substanzen, die es gibt. 80 Gramm, in das Leitungswasser etwa von New York geschüttet, würden den Tod der gesamten Bevölkerung verursachen. Über Vietnam wurden im Laufe des Krieges mindestens 366 kg abgesprüht. Es war, wie amerikanische Wissenschaftler (2003) feststellten, „die größte Kampagne chemischer Kriegsführung in der Geschichte“, mit langfristigen Schäden für die Bevölkerung, da sich das Dioxin in Boden, Wasser, Pflanzen ablagert und über die Nahrungskette in den menschlichen Leib einwandert. Die Zahl betroffener Menschen liegt je nach Schätzung zwischen 650 000 und 4 Millionen. In den 1980er Jahren kam es erneut zur Verwendung chemischer Kampfstoffe durch sowjetische Truppen in Afghanistan und durch den Irak im Krieg gegen den Iran. Und nach dem Zusammenbruch der UdSSR erwies sich, dass dort trotz des Abkommens von 1972 die Entwicklung und Produktion bakteriologischer Waffen unverändert weiterbetrieben worden war. Als im Jahr 1997 ein von 174 Staaten, darunter die USA, Russland und China, unterzeichnetes Abkommen zum Verbot der Entwicklung und Produktion chemischer Waffen in Kraft trat, das auch internationale Kontrollen vorsieht, verfügten allein die USA über 31 000 Tonnen Giftstoffe, abgefüllt in 3,6 Millionen Geschossen, genug um theoretisch die Menschheit gleich dreimal auszulöschen.

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Chemische und bakteriologische Kampfstoffe sind das Ergebnis des Zusammenwachsens von Wissenschaft und Industrie, von Forschung und Produktion. Sie vollziehen damit eine Phase in der Entwicklung moderner Technik nach, die sich in der Gütererzeugung bereits Jahrzehnte zuvor beim Übergang in die Technologien der zweiten Industrialisierungsphase vollzogen hatte. Mit der Schaffung spezialisierter militärischer Großforschung verfestigt sich dieser Übergang zu einer eigenen Struktur, ermöglicht durch eine Politik, die in der Machtkonkurrenz der Großstaaten hemmungslos finanzielle und intellektuelle Ressourcen in ihre Kriegsfähigkeit pumpt. Der Krieg, „kalt“ oder „heiß“, wird zu einem Dauerzustand, gekennzeichnet durch Wettrüsten und Planspiele präventiver Angriffe, spätestens seit dem Wettlauf in der Marinerüstung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Machtkampf wird global, wie die aus ihm hervorgehenden Konflikte. Über die Militärforschung dringt der Kriegszweck immer tiefer in die Wissenschaft wie die Technik ein. Die kriegerische Gewalt wird zunehmend intellektuell. Die Frage nach den Sieg verlagert sich tendenziell vom Schlachtfeld in die Laboratorien. Konsequent ist es dann, den Körper des Soldaten ebenfalls technisch zu denken, d. h. seine Leistungsfähigkeit jener der Maschinen anzupassen. Die Zerlegung des Soldatenkörpers in „wetware“ (Kopf, Hormone), „software“ (Gewohnheiten, Fähigkeiten, Disziplin) und „hardware“ (materieller Körper) bietet über die „wetware“ eine massive Eingriffsmöglichkeit in das Funktionieren aller Abläufe, indem man gezielt Psychopharmaka verabreicht. Der gedopte Soldat tötet hemmungslos, verliert seine Angst, erhöht Fitness und Ausdauer, verliert sein Schlafbedürfnis, so mit den „Go-Pills“, wie sie als „tactical management tools“ etwa von der US-Luftwaffe empfohlen worden sind (US Airforce Handout vom 23. 11. 2003). Dass bereits der LSD-Forscher Timothy Leary in den 1950er Jahren seine Experimente vom Militär finanziert bekam, passt in diesen Zusammenhang. Ein neues Reden von der „Humanität“ einer Gewalt macht sich breit, die gerade durch ihren Extremismus Frieden zu schaffen vermöge, wie schon zuvor in der „moralischen“ Verteidigung chemischer, dann bakteriologischer, schließlich atomarer Waffen. Zwar wurden davor die Erfindungen Gatlings oder Nobels fast zu Spielzeug in einem noch „konventionellen“ Krieg. Die Formen des „totalen“ Krieges bereiteten jedoch den Übergang zu einem genozidalen Vernichtungsgeschehen. Der ABC-Krieg buchstabiert die Absolutheit der Vernichtungsidee nur noch technologisch aus. Mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 beginnt ein neues Zeitalter militärischer Gewaltfähigkeit. In Hiroshima gipfelt die ganze Gewaltgeschichte in der Kulmination westlicher Technologie: Die höchste, je erzielte „Tötungsdichte“ (54% der Einwohner, ein „Wirkungsgrad“, der 6500-mal so hoch war wie der einer Sprengstoffbombe), realisiert durch „die größte Errungenschaft der organisierten Wissenschaft in der Geschichte“, wie es in der diesbezüglichen Presseerklärung des Weißen Hauses hieß, 120 000 Tote sogleich, 100 000 in den nächsten fünf Jahren. Das Zählen von Toten war längst überflüssig geworden, weil die vernichteten Menschen nicht mehr zählten, bedeutungslos geworden waren. Bedeutung in einem Krieg besitzen nur jene, die selber töten können, d. h. Kombattanten. Bei ihnen „zählt“ die Zahl noch. Beim Krieg

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im Hinterland verliert sie jede Bedeutung. Die Atombombe radikalisiert damit jenes Ineinanderfallen von Front und Hinterland, wie es seit dem 20. Jahrhundert den modernen Krieg geprägt hat, mit seiner Parallele des Partisanenkrieges, dessen Front sich im (eigenen) Hinterland aufgelöst hat und der gleichfalls seinen Endsieg im Kollaps der feindlichen Moral zu erreichen sucht. In beiden Fällen löst sich zugleich das territoriale Prinzip des konventionellen Krieges auf, wonach die Front der Verteidigung des eigenen Staatsgebietes dienen soll. Mit ihm verliert das Konzept der Souveränität, auf dem sich der neuzeitliche Staat gründet, die eine seiner beiden Säulen der Gewalt, nämlich die der territorialen Verteidigung gegen einen äußeren Feind. Nach Hiroshima ist nur noch der Staat vollständig souverän, der über die Atombombe verfügt: Eine Lektion, die seitdem von etlichen Staaten nachvollzogen worden ist, zuerst von der Sowjetunion in ihrer Machtkonkurrenz zu den Bomben-Erfindern USA. In der Atombombe wird die fortgeschrittendste Wissenschaft aller bisherigen Zeit zum technischen Konstrukt. Wenn die Naturwissenschaft den Gipfelpunkt des westlichen Rationalisierungsprozesses darstellt, dann zeigt sich in ihrer bruchlosen Verbindung mit dem Krieg ihr tiefster Wesenszug, nämlich selbst Gewalt zu sein. Das Gewalttätige der Rationalität liegt in ihrer radikalen Kausalität, ohne die sie nicht zu „reinen“ Ergebnissen kommen könnte. In der Verifikation auf Zwecke vollzieht sie ihre Funktion, jenseits derer sie nicht vorhanden ist. In ihr realisiert sich zugleich das Wesen einer spezifisch modernen Gewalt: die Totalität der Vernichtung als Selbstvernichtung, als Beseitigung der Menschheit überhaupt. Die Frage, warum denn Menschen vorhanden sein sollen: Eine Frage, die vordem allenfalls als Rede vor Gott möglich zu sein schien, wurde nun zur Frage vor einem Feind, dessen Absolutheit nur noch der Satans vergleichbar war. Die Politik hatte sich hier, d. h. da, wo sie zur Atombombe griff, selbst abgeschafft. Die Atombombe ist das zentrale Gewaltereignis des 20. Jahrhunderts, nicht nur, weil ihr Vernichtungspotential alles zuvor mögliche übertrifft, nicht nur, weil sie die Existenz der Menschheit selbst in Frage stellt und die Bewohnbarkeit der Erde, sondern weil sie nicht mehr historisch werden kann, weil sie unabsehbare Zukunft bleibt, eine technische Möglichkeit, die nicht mehr zu beseitigen ist. Die Zukunft, durch die Aufklärung als Pathos formuliert, durch die Technik als Beherrschung der Natur realisiert, hört auf, ein Versprechen auf Fortschritt zu sein. Sie fällt zurück in den Zustand der Fatalität. Die Fatalität der Bombe jedoch ist die Fatalität des Menschen selbst. Denn mit der Freiheitserklärung der Wissenschaft seit Galilei, Descartes, Lavoisier folgte diese dem Imperativ der unbeschränkten Forschung, die nur im „Buch der Natur“ lesen wollte und erkennen, was erkennbar war. Dabei setzte sie voraus, dass im Prinzip alles erkennbar sei und dass sich dieses Prinzip verwirklichen ließ, indem man in einem unermüdlichen Fortschreiten Unwissen in Wissen verwandelte. Damit war zugleich gesagt, dass dieses Fortschreiten nicht aufzuhalten war, dass es gewissermaßen rücksichtslos sein musste, denn das, was in dieses „Buch“ an Zusammenhängen eingeschrieben war, konnte von jedem entziffert werden, der es mathematisch zu lesen, konnte von jedem rekonstruiert werden, der es experimentell zu demonstrieren vermochte. Der wissenschaftliche Fortschritt war zum Fatum geworden, unaufhaltsam in der Konkurrenz

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der Wissenschaftler wie der Staaten, die aus ihm wirtschaftlichen und militärischen Nutzen zu ziehen suchten. Daher war der Weg zur Bombe wohl unvermeidlich. In ihrer tatsächlichen Verwirklichung verbanden sich dann zwei Linien, eine längerfristige der wissenschaftlichen Erkenntnis und eine kurzfristige der technischen Herstellung. Die längere Linie setzt mit Albert Einsteins Formulierung der Äquivalenz von Masse und Energie und mit den Versuchen Enrico Fermis ein, Elemente mit dem neu entdeckten Elektron zu beschießen und deren Umwandlungsformen zu untersuchen. Sie endet im Dezember 1938 mit der erfolgreichen Spaltung des Urankerns in Experimenten, die Otto Hahn und Fritz Strassmann in Berlin durchführen, und im Nachweis, dass beim Platzen des Urankerns weitere Neutronen frei werden, die zu einer lawinenartig anschwellenden Spaltung von immer mehr Uranatomen führen (April 1939 durch F. Joliot).56 Die nun einsetzende kurze Linie beginnt mit der Einsicht, dass auf diese Weise eine Bombe von ungeheuerer Sprengkraft gebaut werden konnte. Bereits im März war Fermi im amerikanischen Marineministerium vorstellig geworden, um auf die Möglichkeit einer neuartigen Waffe hinzuweisen. Hass und Faszination verbinden sich: Hass auf das nationalsozialistische Deutschland und Faszination durch die wissenschaftliche Durchdringung der Kernphysik. Opportunität kam hinzu, die Verbindung von Posten, Geld, Prestige mit dem staatlichen Druck zur Mitarbeit. All diese Faktoren wirkten auf allen Seiten: das Weltanschauliche, das Intellektuelle, das Opportunistische. Wenn allein die USA erfolgreich gewesen sind, dann deshalb, weil sie ein überlegenes wissenschaftliches Potential und eine riesenhaft überlegene materiell-ökonomische Potenz besaßen und weil sie sich in einen Wettlauf einließen, bei dem sie praktisch allein ins Rennen gingen. In Frankreich, Großbritannien, Sowjetrussland, Deutschland hatte man ebenfalls das Vernichtungspotential einer Uranspaltung mit Kettenreaktion erkannt, doch reichten nirgends die ohnehin durch den Zweiten Weltkrieg extrem ausgeschöpften Ressourcen hin, um in einen Wettlauf einzutreten. Der „Wettlauf“ blieb ein ideologisches Konstrukt,57 das gleichwohl unabdingbar war für die Psychologie des totalen Krieges gegen den totalen Feind auf Seiten der beteiligten Wissenschaftler wie für die Verfügbarmachung der erforderlichen enormen Ressourcen. Das größte technische wie materielle Problem dabei bestand in der Notwendigkeit, ausreichende Mengen des Isotops 235 zu isolieren, in dem allein eine explosionsartige Kettenreaktion möglich war, von dem im Natururan jedoch lediglich 0,5% vorhanden waren. Um diese Trennung vorzunehmen, waren Fabrikanlagen von nie zuvor vorhandenen Ausmaßen erforderlich und enorme Mengen an elektrischer Energie. Daneben bot sich mit der Entdeckung des Plutoniums eine weitere Möglichkeit, die totale Waffe zu konstruieren (1939/40): Das mit schnellen Neutronen beschossene Natururan, d. h. das dort zu über 99% vorhandene Isotop 238, verwandelte sich in das Transuran Plutonium, das viel leichter durch langsame Neutronen gespalten werden konnte.58 Die sich hiermit eröffnenden beiden Wege zur Bombe wurden ab Januar 1942 konsequent verfolgt, also der Bau der Uranbombe über die Isolieranlagen, jener der Plutoniumbombe über die Konstruktion eines Kernreaktors. Auch über die Möglichkeit, die in einem Reaktor anfallenden radioaktiven Stoffe

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militärisch zu verwenden, wurde bereits nachgedacht. Seit Frühjahr 1943 entstand parallel zu den Isolations- und Plutoniumsfabriken die Forschungsfabrik von Los Alamos in der Wüste New Mexicos, in der der Physiker Robert Oppenheimer als Projektleiter die Elite der Naturwissenschaftler versammelte, 5000 Personen (insgesamt waren 100 000 Personen direkt mit dem Bombenbau beschäftigt), im größten Forschungsprojekt aller Zeiten. Durch Zusammenfassung der bis dahin dezentral arbeitenden Laboratorien sollte die Fließgeschwindigkeit der Informationen nachhaltig erhöht, der Austausch zwischen Physikern, Technikern, Chemikern, Mathematikern optimiert werden. Tatsächlich gelang es, die auftretenden Probleme zu lösen, ausreichende Mengen an Uran 235 und Plutonium herzustellen und die entsprechenden Zünder zu konstruieren. Doch die Zeit eilte, nicht, weil NS-Deutschland selbst eine solche Bombe entwickelte, sondern weil mit seinem absehbaren, dann eingetretene Zusammenbruch der Feind verloren zu gehen drohte. Am 16. Juli 1945 explodiert die Plutonium-Bombe auf einem Versuchsgelände in New Mexico,59 am 6. August fällt die Uran-Bombe auf Hiroshima, am 9. August stürzt die Plutonium-Bombe auf Nagasaki.60 Militärisch ergab der Abwurf keinen Sinn, denn Japan war bereit zu kapitulieren, allerdings nicht bedingungslos, wie die Amerikaner es forderten, sondern unter Respektierung des Kaisers als Person wie Institution. Und eben diese Bedingung gestand man den Besiegten dann zu: nach Hiroshima, schon weil man wusste, dass allein die Autorität des Kaisers hinreichte, um die japanischen Einheiten zum Aufgeben zu veranlassen. Gedanklich wurde die Bombe bereits über Sowjetrussland abgeworfen. Wenn es der Mythos der Atombombe gewesen war, nicht nur den „Wettlauf“ mit den Deutschen zu gewinnen und damit den ganzen Krieg, sondern durch ihren Besitz den USA die Führungsrolle in der Welt zu sichern, dann musste der sowjetische Griff nach ihr erschrecken. Selbst wenn man von „7–10 Jahren, mindestens“ ausging, ehe die UdSSR über die Bombe verfügen werde,61 so erschien nun doch ein Rüstungswettlauf als unvermeidlich. Dass Sowjetrussland bereits nach vier Jahren ebenfalls über Atombomben zu verfügen begann, kam wie ein Schock. Die Massenproduktion von Bomben setzte ein, zugleich machte man sich auf den Weg zur endgültigen „Superbombe“, der Wasserstoffbombe. Wie bei der Entscheidung zur Entwicklung der Atombombe sind es Wissenschaftler, die sie den Politikern abzuringen suchen, diesmal geführt von Edward Teller, einem früheren Mitarbeiter Oppenheimers in Los Alamos und seit langem sein Rivale. Seine Begründung, alles, was möglich sei, solle auch gemacht werden, zieht die Konsequenz daraus, dass die wissenschaftliche Forschung immer mehr möglich werden lässt, das als möglich Erkannte jedoch auch realisiert wird und es nur die Frage ist, wer es zuerst tut. Forschung und technische Innovation finden in einem Zustand der Konkurrenz statt, dieser Fatalität der Moderne, deren Modernität eben darin besteht, dynamisch zu sein, Neues hervorzubringen. In den Auseinandersetzungen des Jahres 1949, ob die USA nach der Brechung ihres Atombomben-Monopols danach streben sollten, die Wasserstoffbombe zu entwickeln, wurde der Teller-Satz als wahr erkannt. Die Moral blieb jene des HaberSatzes, wonach der Wissenschaftler „im Krieg“ dem Vaterland gehöre, nur dass nun „der Krieg“ zum Dauerzustand geworden war. Die Folgerung daraus, dass es dann keine „Mo-

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ral“ mehr gäbe jenseits der – militärischen – Interessen des eigenen Staates und dessen Weltanschauung, blieb zwar nicht unwidersprochen. Einige Physiker des Manhattan-Projekts, wie Oppenheimer und Fermi, knüpften an N. Bohrs bereits 1944 gegebene Warnung vor einem atomaren Rüstungswettlauf an und lehnten die Entwicklung der „Superbombe“ ab. Hatte die Atombombe bereits, erstmals in der Geschichte der Menschheit, die Möglichkeit der Selbstvernichtung denkbar, dann realisierbar werden lassen, so potenzierte die Wasserstoffbombe diese Möglichkeit noch, biologisch durch die Zerstörung jeden Lebens nicht nur kurzfristig, sondern über alle Geschichtszeit hinaus durch die exzessive radioaktive Verseuchung, intellektuell durch die Zerstörung eines menschlichen Feindes um den Preis der Menschheits-Vernichtung. Im Sommer 1942 hatte Teller von der Möglichkeit gesprochen, dass die durch eine atomare Explosion erzeugte extreme Hitze im Wasserdampf der Atmosphäre zur Verschmelzung von Wasserstoff- zu Heliumkernen führen könne. Auf diesem Verschmelzungsvorgang beruht die Energie-Erzeugung der Sonne: Würde sie sich auf der Erde wiederholen, von der Atmosphäre aus die Meere entzünden, dann würde die Erde wie eine zweite Sonne verbrennen. Die Physiker berechneten Wahrscheinlichkeiten und fanden eine Unwahrscheinlichkeit, wenngleich keine absolute Gewissheit, dass dies nicht eintreten würde. Für Teller jedoch ergab sich eine neue Möglichkeit, nämlich mit der extremen Hitze einer atomaren Explosion nicht den Weltuntergang herbeiführen zu müssen, sondern eine technisch lenkbare Verschmelzungsreaktion in Gang zu setzen, die als Waffe dienen konnte. Nach Versuchsexplosionen der USA 1951/52, der UdSSR 1952, wurde am 1. März 1954 auf dem Bikini-Atoll im Pazifik die erste Wasserstoffbombe gezündet.62 Sie besaß nicht nur eine tausendfach höhere Sprengkraft als die Hiroshima-Bombe (10,4 Megatonnen TNT). Ihre extrem hohe Radioaktivität führte zur großflächigen Verstrahlung ganzer Gegenden. Die „Super“ funktionierte nicht nur wie die Sonne, wobei mit ansteigender Verschmelzungsenergie die gesamten Stoffmengen explosionsartig umgesetzt werden (anstelle der Kettenreaktion bei Atombomben). In ihr werden in Sekunden zugleich alle Elemente des Universums erzeugt und Elektronenwolken erzeugt wie in einer Supernova: Sie ist ein physikalisches Wunderglas, fast eine Zeitreise zu den Anfängen des Universums, als es eine Erde, Menschen noch nicht gab. In der Kriegsdoktrin der beiden dualistischen Mächte nach 1945 spielten die neuen atomaren und thermonuklearen Waffensysteme eine ganz unterschiedliche Rolle. Die USA mit ihrem riesigen technologischen und industriellen Potential setzten gewissermaßen die britische Doktrin fort, den Krieg vor allem als Luft- und Fernkrieg gegen das feindliche Hinterland zu führen, wobei die Atombombe das Flächenbombardement ersetzte. In ihren Militärplanungen eines möglichen Krieges gegen die UdSSR vom Dezember 1948 setzten die USA auf den Zielangriff mit 133 Atombomben auf 70 sowjetische Städte, von dem man sich weniger einen militärischen, als einen „moralischen“ Zusammenbruch erwartete, der das Herrschaftssystem zerfallen ließe und mit relativ geringen Bodentruppen die Niederwerfung des Feindstaates ermöglichen werde. Voraussetzung war, dass die Sowjetunion mit ihren überlegenen Landstreitkräften in Westeuropa angrei-

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fen würde, was die USA aus Ressourcen-Gründen nicht glaubten akzeptieren zu können: eine Kontrolle des westeuropäischen Industriepotentials hätte der UdSSR zu einer hegemonialen Stellung verhelfen können. Die UdSSR hingegen übertrug ihre Doktrin des infanteristischen Kampfes, mit der sie den Zweiten Weltkrieg geführt hatte, auf den möglichen neuen Krieg. Atomwaffen dienten hier der Abschreckung, d. h. die USA sollten durch das Risiko ihrer eigenen Vernichtung vor dem Einsatz solcher Waffen zurückschrecken. Das würde der Sowjetunion dann erlauben, ihre konventionelle Überlegenheit zur Geltung zu bringen. Die Weigerung der USA, einer (von Großbritannien, Frankreich, aber auch der Sowjetunion akzeptierten) Vereinbarung zur Ächtung von Atomwaffen beizutreten (1955), hatte daher nicht nur mit der Schwierigkeit zu tun, die Abrüstung wirksam zu kontrollieren, lehnte doch die UdSSR Kontrollen ab. Ohne die Drohung einer Massive Retaliation durch Atomwaffen, selbst unter Hinnahme der eigenen Vernichtung, schien den USA eine Verteidigung nicht mehr möglich zu sein. Mit der Übernahme und Weiterentwicklung der von den Deutschen erstmals produzierten weit reichenden Raketen als Träger für atomare bzw. thermonukleare Sprengköpfe anstelle der langsamen und leichter zu bekämpfenden Langstreckenbomber seit Anfang der 1950er Jahre erhielt dann das genozidale Potential der neuen Waffen die technische Chance der Universalisierung, nämlich jeden Erdpunkt erreichen, jede Menschensiedlung auf die „Null-Ebene“ reduzieren, jede Zeit in eine menschenlose Ewigkeit verstrahlen zu können. Zugleich öffnete sich mit den immer stärker werdenden Raketen der Weltraum für die Zwecke des Krieges. Daneben wurde seit den 60er Jahren eine Kapazität für den „zweiten Schlag“ aufgebaut, d. h. zur Fähigkeit, nach einem das eigene Land verwüstenden Erstschlag des Feindes einen nun ihn verwüstenden zweiten Schlag führen zu können, aus verbunkerten Raketenstellungen heraus und durch hochmobile atomgetriebene Unterseeboote. Damit ist bereits ausgesprochen, dass es einen Schutz der eigenen Bevölkerung zumindest prinzipiell nicht mehr geben kann, dass man aber ebenso prinzipiell einen atomaren Krieg „gewinnen“ kann, wenn das eigene Land, das eigene Volk bereits vernichtet ist. In der Kuba-Krise von 1962 kam es dann zum Blickkontakt mit der atomaren Katastrophe, als der US-Präsident J.F. Kennedy sich zu einem bis zur atomaren Finalität reichenden Krieg mit der UdSSR bereit erklärte, sollte diese nicht ihre dort stationierten Atomraketen abziehen, was sie denn auch tat. Die Logik solchen Handelns wurde von dem Zukunftsforscher Herman Kahn mit dem „Chicken“-Spiel pubertierender Jugendlicher erklärt, die in Autos aufeinander losrasen und bei dem derjenige verliert, der Angst bekommt und im letzten Augenblick ausweicht.63 Kahn nannte das „war-gasm“, den „Orgasmus“ der Vernichtung. In seinen Überlegungen zur Führbarkeit eines „thermonuklearen Krieges“ von 1961 rechnete Kahn zwar mit 80 Millionen toten Amerikanern, räumte auch „menschliche Tragödien“ ein, war aber zuversichtlich, dass die amerikanische Wirtschaft in 50 Jahren wieder aufzubauen wäre. Die Gewalt war Technologie geworden, die sich in einem militärisch-industriell-intellektuellen Komplex organisierte und einen immer größeren Teil der nationalen Ausgaben für Forschung an sich zog. Die Technik, mit der sich der Mensch im langen Bogen von zwei

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Millionen Jahren in die Humanität fortgebildet hat, und die Wissenschaft, mit der er sich die Natur auch geistig anzueignen begann, waren zu Bedrohungen seines Daseins selbst geworden. In der vollständigen Anonymität einer vollständig abstrakt gewordenen, technisierten Gewalt erkannte der Mensch des späten 20. Jahrhunderts sich wieder. Er war es selbst, der das Ende aller Tage herbeiführen konnte. Die Doktrin eines gegen die UdSSR zu führenden Krieges, der von den USA und der NATO nur als Atomkrieg zu gewinnen sei, wie sie in den 1950er Jahren von den USA vertreten wurde, hatte zwei Konsequenzen: Der massenhafte Einsatz atomarer Waffen musste genozidale Auswirkungen verursachen (in Westdeutschland etwa standen Schutzräume nur für 2,9% der Bevölkerung bereit, wobei wiederum weniger als ein Viertel dieser Räume als wirklich sicher galten), es würde ein langer Krieg werden und er würde als Luftkrieg gewonnen werden. Landoperationen würden der Vergangenheit angehören, oder wie es der britische Feldmarschall R. Montgomery ausdrückte, gelte für den Atomkrieg die Maxime: „Don’t march on Moscow“: Man siegte nicht mehr durch die Eroberung des feindlichen Territoriums, sondern durch dessen Pulverisierung, Verstrahlung, Menschenvernichtung. Am Ende eines Sieges war Deutschland, war Europa zerstört, Russland und seine Verbündeten auch. Dass die USA diesen Krieg insgesamt überstehen würden, ließ diese Doktrin der Massive Retaliation, d. h. des Atomeinsatzes von Anfang an, dort als akzeptabel erscheinen. Erst die starke Aufrüstung der Sowjetunion im Bereich weit reichender, die USA unmittelbar bedrohender, strategischer Raketensysteme und die wachsenden Proteste in Westeuropa, insbesondere Westdeutschland, zum „Golgatha“ eines Atomkrieges zu werden, brachten dann eine Wende hin zur Doktrin der Flexible Response (1967/68), die abgestufte Reaktionen bei einem sowjetischen Angriff auch unterhalb des Einsatzes atomarer Waffen vorsah. Allerdings galt auch hier der Grundsatz, dass bei einem Versagen der konventionellen Abwehr bzw. einer Eindringungstiefe von 100 km Kernwaffen eingesetzt werden sollten. Das hieß aber nichts anderes, als dass spätestens dann die nukleare Eskalation einsetzte, die in einer Situation des total geführten Krieges als nicht mehr beherrschbar gelten konnte. Das globale Szenario einer Mutual Assured Destruction, einer „sicheren wechselseitigen Vernichtung“, abgekürzt „MAD“, blieb jedoch bis zum Zusammenbruch der Sowjetmacht erhalten. Im Grunde ist sie bis heute gültig, weil sie die Logik des Verhältnisses zwischen Nuklearstaaten buchstabiert, die einander feindlich gesinnt sind, nämlich sich dadurch vor einem Angriff schützen zu können, dass man sich gegenseitig mit Auslöschung bedroht. Wenn also beide Supermächte einen globalen Nuklearkrieg zu vermeiden suchten, planten sie durchaus für einen regionalen, europäischen. Während die USA in den 50er Jahren auf die sowjetische Überlegenheit im Bereich der konventionellen Kriegsführung mit „massiven Vergeltungsschlägen“ reagieren wollten, d. h. mit Nuklearwaffen, spielten diese erst seit Anfang der 60er Jahre eine zentrale Rolle in der sowjetischen Kriegsplanung. Nun war man bereit, bei vermuteten westlichen Angriffsvorbereitungen einen präventiven Nuklearkrieg in Europa zu beginnen. Ein massiver nuklearer Erstschlag durch sowjetische Raketentruppen hätte die in Westdeutschland vorhandenen konventionellen Truppen weitgehend kampfunfähig gemacht und die sowjetischen Verbände, verstärkt durch

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die Armeen des Warschauer Pakts, wären blitzartig weit nach Westen vorgestoßen. Dort wollte man dann die NATO-Truppen endgültig vernichten. Die MAD-Doktrin vorausgesetzt, glaubte man, dass die USA nach dem Verlust Europas nicht noch ihre eigene Existenz aufs Spiel setzen, d. h. zum globalen „Overkill“ übergehen würden. Dass man sich darüber letztlich nicht sicher sein konnte, hat vermutlich den Dritten Weltkrieg verhindert. Wenn der Sieg in einem atomaren bzw. thermonuklearen Krieg davon abhängt, dass nach der weitgehenden Vernichtung des eigenen Volkes noch eine Zweitschlag-Kapazität übrigbleibt, dann hat der Krieg jeden politischen Sinn verloren. Diese Einsicht mochte die damals fünf Atommächte (USA, UdSSR, China, Großbritannien, Frankreich) dazu bewogen haben, 1968 den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen, der den Besitz solcher Waffen auf diese fünf Staaten beschränkte und allen weiteren Unterzeichnern (183 Staaten) die Selbstverpflichtung auferlegte, keine Nuklearwaffen zu bauen oder zu erwerben. Zur Überwachung entstand eine eigene Behörde (IAEO in Wien). Das 1991 zwischen den USA und der UdSSR unterzeichnete Abkommen zur Begrenzung der strategischen Waffen (Start) verpflichtete beide Staaten, ihre strategischen Nuklearwaffen auf jeweils 1600 Systeme und 6000 Sprengköpfe zu begrenzen. Die Initiative des neuen US-Präsidenten Obama vom Frühjahr 2009, alle Atomwaffen abzuschaffen, fand hingegen ein geringes politisches Echo, insbesondere bei den schwächeren Nuklearstaaten, wie Frankreich, Großbritannien, die beide auf einer Modernisierung ihrer Arsenale bestehen, von nichtoffiziellen Atommächten (wie Indien, Pakistan, Israel) ganz abgesehen, die ohnehin den Sperrvertrag nie unterzeichnet haben und auf ihrem Nuklearpotential bestehen. Die Tatsache, dass zum einen seit 1991 neue Kernwaffenstaaten hinzugekommen sind, andererseits alle Staaten mit Atomwaffen (außer China und Indien) sich das Recht auf einen „Erstschlag“ vorbehalten haben und zwei von ihnen (USA, Frankreich) offen damit drohen, bereits bei einem möglichen Angriff terroristischer Gruppen mit einem Atomschlag gegen deren Basis zu reagieren, zeigt, dass die Hemmschwelle eher gesunken ist. Dass 32 Staaten, die noch nicht über solche Waffen verfügen, aber dazu das technische Potential besitzen und dass in politisch instabilen Staaten Kernwaffen in die Hände terroristischer Gruppen fallen könnten, erhöht die Gefahr noch. Und auch das Risiko eines Krieges zwischen zwei atomar bewaffneten Staaten besteht weiter, wie die entsprechenden Drohungen Indiens und Pakistans zeigten (2007). Ein solcher Konflikt würde nicht nur 21 Millionen Menschen das Leben kosten, sondern weltweit zu Hungersnöten führen, da die gewaltigen Mengen an Ruß und Staub eine nachhaltige Absenkung der Temperaturen über ein Jahrzehnt hinweg zur Folge hätten und zur weltweiten Verkürzung der Vegetationsperiode mit entsprechenden Ernteausfällen führen müssten (Nuklearer Winter). Das Ringen um die Führbarkeit von nuklearen Kriegen kennt kein Ende. Sein Ausgangspunkt ist das Versagen des „Chicken“-Kalküls, also die Bereitschaft, die Nuklearwaffen tatsächlich einzusetzen. Regierung und Militärführung gehen in den Bunker, die Bevölkerung bleibt einer mehr oder minder umfassenden Vernichtung überlassen, wie das des Öfteren am „E-Day“ (Exercise Day) geübt worden ist, nicht nur in den NATO-Staaten. Ob allerdings der Versuch, den „großen“, strategischen Atomkrieg dadurch zu ver-

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meiden, dass man ihn als „kleinen“, taktischen führt, es ermöglicht, ihn „kontrollierbar“ zu halten, blieb zweifelhaft. Ganz abgesehen von den immer noch großen Verlusten unter der Zivilbevölkerung (ein US-Kriegsspiel rechnete 1955 mit 1,7 Millionen Toten, 3,5 Millionen Verletzten als Minimum für Westdeutschland) zeigte sich außerdem, dass ein solch taktischer Atomkrieg nicht weniger, sondern mehr Soldaten als ein konventioneller erforderte, weil er nur durch das Ausbluten des Gegners zu gewinnen war.64 So kam der konventionelle Krieg wieder zu Ehren, nun allerdings auf einem hohen technologischen Niveau. Elektronische Rechner hatten bei der Entwicklung bereits der Atombombe, mehr noch der Wasserstoffbombe eine wichtige Rolle gespielt und für die Steuerung von Fernraketen wurden sie unentbehrlich. Die Militärforschung trieb die Entwicklung von Rechnern, dann des ersten Internets voran, doch als Computer und Internet zu den entscheidenden Größen im Kommunikationsgeschehen der Industriestaaten geworden waren, begann aus dem Computer eine Waffe wie ein Angriffsziel zu werden. Der Informationskrieg als „weicher“ Krieg auf der Grundlage überlegener Informations-Ressourcen, wie Überwachungssatelliten, Datenübertragungssysteme, Hochgeschwindigkeitsrechner, Software, ist zunächst noch eine zunehmend wichtige Parallele zum herkömmlichen Krieg. Die Ermöglichung einer „chirurgischen“ Kriegsführung als Präzisierung militärischer Gewalt auf bestimmte Objekte durch Flugkörper und Drohnen gehört hierher. Der Krieg wird dann zwar weiterhin vor allem im Hinterland des Feindes geführt, doch ist nicht mehr die Zivilbevölkerung das hauptsächliche Ziel. Ihre Verluste zählen nur als nicht beabsichtigte „Kollateralschäden“. Ein Surgical Warfare zielt demnach nicht mehr auf ein – physisches wie moralisches – Ausbrennen der Zivilbevölkerung im Sinne von „Dresden“. Hinzu kommt der technologisch ermöglichte Vorsprung an Wissen über Geographie und Feindlage, geliefert in Echtzeit durch Satelliten und Flugzeuge über drahtlose Verbindungen auf Bildschirme der eigenen Verbände. Wenn das 21. Jahrhundert ein Informationszeitalter sein wird, dann ist die Information, die Überlegenheit in der Verfügung über sie, aber auch die Fähigkeit, Informationsverfügung zu zerstören, von zentraler militärischer Bedeutung. Der erste Krieg, in dem gezielt die Nachrichtensysteme des Gegners durch Luftschläge ausgeschaltet wurden und erst dann der eigentliche Angriff begann, war der Krieg der USA gegen den Irak (1991). Die Raumstrategie des Luftkriegs, eben den Krieg hinter die feindlichen Linien zu tragen, verband sich mit einer neuen Vorstellung von Logistik, die nicht mehr primär mit Eisenbahnlinien und Brücken hantierte, sondern mit Kommunikationslinien und Schnittpunkten. Es war eine „indirekte“ Strategie, die nicht mehr napoleonisch die Schwerpunkte der feindlichen Macht zu zerschlagen bzw. zu okkupieren suchte: die geballten Streitkräfte, die Hauptstadt. Vielmehr nahm sie deren schwächste Stellen ins Visier. Ohne ein funktionierendes Kommunikationssystem war eine moderne Armee nicht mehr führbar, verlor sie ihren militärischen Wert. Für die daraus sich ergebende „Air Land Battle“-Doktrin, also der den Einsatz der Informationstechnologie zur Luft und Land verbindenden Kriegsführung bei gleichzeitiger Zerstörung des gegnerischen Informationssystems, wurde der Mikrochip zum Äquivalent des 21. Jahrhunderts

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für das, was im deutschen Blitzkrieg der Verbrennungsmotor gewesen sei, wie es ein USGeneral in den 1980er Jahren ausdrückte. So wie der Verbrennungsmotor es erlaubt hatte, Geschwindigkeit und Wucht zu kombinieren, im Panzer, im Flugzeug, so erlaubte es der Computer, Geschwindigkeit zur Wucht des Vernichtungsschlags werden zu lassen, indem man das gegnerische Informationssystem kollabieren ließ und selber sich mit zeitgenauen Informationen über ihn versorgte sowie die eigenen Angriffswaffen präzise ins Ziel lenkte. Der Feind wurde durch seine Informationslosigkeit eingekesselt und besiegt, ehe noch die eigenen Verbände nachrückten. Das war zumindest das Ziel dieser ALB-Doktrin, in der sich die beiden Elemente kriegerischer Gewalt in der Moderne verbanden, nämlich den Krieg tief in das Hinterland des Feindes zu tragen und ständig in einem „Krieg der Phantasie“ nach der militärischen Brauchbarkeit entstehender Technologien zu fragen. Die Militarisierung der Forschung entspricht der Überzeugung, militärische Stärke hänge am Ende des 20. Jahrhunderts entscheidend davon ab, „emerging technologies“ frühzeitig in ihrer Waffenrelevanz zu erkennen und zu nutzen, was sich in wachsenden Forschungsetats niederschlägt. So gaben die USA bereits in den 1980er Jahren über 13% ihrer gesamten Verteidigungsausgaben für Militärforschung aus, rund ein Drittel aller amerikanischen Forschungsausgaben (1990). Damit tritt der Computerkrieg (Cyber War) neben die indirekte Nutzung der Informationstechnologie zur „präzisen“ Kriegsführung. Dieser steht, und das fügt ihn so sehr in die Struktur des neuen Jahrhunderts ein, ebenso im Kontext des globalen Netzes wie des globalen Partisanen. Beide bedingen sich. Die über Information ausgeübte Herrschaft, realisiert durch das Netz, kann auch von einer kleinen Gruppe angegriffen werden, nun nicht mehr mit Kalaschnikows, sondern mit der entsprechenden Informationstechnologie. Der Cyber Space ersetzt hier das Territorium, der Angriff auf Computernetzwerke die Attacke auf Stützpunkte. Ging es beim „harten“ Krieg um die Erringung der Land- oder Seehoheit, dann der Lufthoheit, also um reale Räume, so zielt die digitalisierte Kriegsführung auf die Informationshoheit, d. h. auf die Erblindung des Gegners durch einen möglichst umfassenden Informationsverlust bei eigener umfassender Verfügung über Informationen. Es soll also eine radikale Asymmetrie hergestellt werden, die zum Kollaps des Gegners führt. Dass dies eine nicht unproblematische Vorgehensweise darstellt, zeigte sich allerdings bereits 2003, als der US-Geheimdienst einen digitalen Schlag gegen das irakische Finanzsystem plante, den man dann jedoch unterließ, weil zu befürchten stand, dessen mögliche Auswirkungen würden die globale Finanzordnung ins Wanken bringen. Zudem ist, wie bei jeder radikalen Asymmetrie, der Übergang von den Trojanern und Hackern zu den digitalen Partisanen mehr als wahrscheinlich. Die Gewalt ist dabei völlig abstrakt geworden, ohne dass sie sich in ihrer Zielsetzung geändert hätte, dem Eindringen in gegnerische Positionen, deren Übernahme (Manipulation) oder Zerstörung (Viren, elektromagnetische Impulse). Für die US-Regierung hätten solche Angriffe den möglichen Effekt von Massenvernichtungswaffen. Sie seien die Atombomben des 21. Jahrhunderts. Dass das im Juni 2009 in den USA gegründete „Cyber Command“ beim für Nuklearwaffen zuständigen Strategischen Kommando angesiedelt wurde, verweist auf die Bedeutung,

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die dem Cyber War zugewiesen worden ist, zum Schutz der eigenen militärischen und zivilen Netze vor einem „elektronischen Pearl Harbour“, wie zur Vorbereitung auf den Angriff auf mögliche gegnerische Systeme: „Hiroshima 2.0“. Auf einer speziellen „Cyber Range“ soll der digitale Krieg geübt werden. Der Rüstungswettlauf im unerklärten Datenkrieg hat längst begonnen. Im Cyber War öffnet die Hochtechnologie den virtuellen Raum für das Kriegsgeschehen, im Star War öffnet sie den Weltraum dafür. Mit dem Bau von Interkontinentalraketen, der technischen Erschließung des Weltraums (Sputnik, 1957)65 wurde ein weiterer Raum fassbar, der nichts weiter war als ein technologisches Konstrukt. Als Fortsetzung der dritten Dimension lag es nahe, ihn militärisch in jene Doktrin der „Air Power“ einzubeziehen, wie sie das Kriegsdenken der beiden angelsächsischen Mächte seit den 30er Jahren zu strukturieren begann. Distanziert vom eigentlichen Kriegsgeschehen, durch Meere getrennt und geschützt, bot die Führung eines Luftkrieges die Möglichkeit einer eher indirekten Kriegsteilnahme, die nach Lage sowohl defensiv wie offensiv gestaltet werden konnte. Die hier einsetzende Verlagerung der Gewalt vom bewaffneten Kämpfer auf technologische Systeme mit immer höherer Selbststeuerungs-Kapazität findet in den mathematischen Waffensystemen des 21. Jahrhunderts ihre logische, ständig überbietbare Konsequenz. Das Future Combat System, wie es in den US-Streitkräften ab 2015 zum Einsatz kommen soll, zielt folgerichtig auf eine möglichst weitgehende Automatisierung der Gefechtsführung durch „autonome“ Systeme bzw. Kampfroboter, mit Hochleistungsrechnern ausgestattet und gesteuert von Soldaten, die hunderte, tausende Kilometer entfernt in Büros an Computern sitzen, wie bereits die „Predators“, die in Afghanistan und im Irak Raketen auf als feindlich definierte Ziele abfeuern und aus Büros in Las Vegas gesteuert werden (2007). Flugsysteme, die aufklären und töten, Roboter, die Straßenbomben zur Detonation bringen, Trümmer wegräumen, den Feind unter Feuer nehmen, sind längst militärischer Alltag geworden und ihre Bedienung gleicht den virtuellen Kriegsspielen, mit denen etwa die US-Armee wirbt und in denen Militärtechnologen wie Offiziere den künftigen Krieg vorweg genommen sehen, in dem der Datenfluss die menschliche Muskelbewegung ersetzt hat und nur noch der Gegner stirbt. Mit der schrittweisen Verlagerung des Informationstransfers in den erdnahen Weltraum, dann der Erdbeobachtung bis hin zu Navigationssystemen (GPS), von denen aus sich nicht nur Truppenbewegungen steuern lassen, sondern auch Flugkörper und Bomben (Smart Bombs), hat bereits eine erste Militarisierung des Weltraums begonnen. 7% der im ersten Irak-Krieg (1991) eingesetzten Bomben waren „smart“, beim zweiten (2003) sollen es bereits rund 80% gewesen sein. Zwar untersagte der auch von den USA unterzeichnete Weltraumvertrag von 1967 die Stationierung von Massenvernichtungswaffen im All, nicht aber die von konventionellen Systemen. Angriffe auf Erdziele wie auf Satelliten waren damit möglich. Ein allgemeines Verbot von Waffen im Weltraum lehnten die USA ab. Zu faszinierend schien wohl die Überlegung, den Informationskrieg in das All zu verlagern und den Feind durch Zerstörung seines auf Satelliten gestützten Datennetzes „blind, taub und stumm“ zu machen. Versuche dieser Art gab es bereits in den frühen 80er Jahren. Eine zweite Variante des

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Weltraum-Krieges schloss sich daran etwa zur gleichen Zeit (1989) an, erneut initiiert vom unermüdlichen Edward Teller, der wieder einmal die Chance sah, Wissenschaft in technologisches Kriegspotential zu transformieren und damit den Frieden zu sichern. Auch diesmal sollte es etwas „Totales“ sein, nämlich eine völlig zuverlässige, eben totale Verteidigung gegen ballistische Nuklearwaffen („Total Ballistic Missile Defense“). Auf Satelliten gestützte Laserkanonen, orbitale Abfangraketen und Weltraumgranaten sollten sich zu einem im Raum stationierten Schutzschild ergänzen. Dass die vom Präsidenten R. Reagan zum Regierungsprogramm erhobene „Strategische Verteidigungsinitiative“ (SDI) scheiterte, hatte vor allem technische Gründe, zudem erschienen die zu erwartenden Kosten als untragbar. Die Regierung und ihre Unterstützer glaubten offenbar, Wissenschaft sei eine Art Produktionsvorgang, der die gewünschten Ergebnisse liefere, vorausgesetzt, man pumpte genug Geld hinein: eine Vorstellung, die nach den Erfolgen in der wissenschaftlichen Produktion der Atom-, dann der Wasserstoffbombe so unsinnig nicht scheinen mochte. Mit Ende des Kalten Krieges galt eine Militarisierung des Weltraums zwar als überholt, doch die Vorstellung, das eigene Land in einer Welt durch Fernwaffen verwundbarer Staaten als einziges unverwundbar zu machen, übte jene imperiale Faszination aus, der die Regierung des George Bush rasch erlag. Mit der im Oktober 2006 publik gemachten neuen Weltraum-Doktrin knüpfte man an die SDI an. Bei geschätzten Kosten zwischen 220 Milliarden bis 1 Billion Dollar wollte man im Erdorbit ein Waffensystem installieren, dessen wesentliche Bestandteile Laserkanonen und Killersatelliten werden sollten. Dass solche Konzepte weiter verfolgt werden, auch von China und Russland, ist kaum zweifelhaft, selbst wenn auf unverhüllt imperiale Gesten zeitweise verzichtet wird. Der Abschuss eines außer Kontrolle geratenen US-Spionage-Satelliten durch das US-Militär im Februar 2008 gehörte damit durchaus in diese Entwicklung einer Weltraum-Kriegsführung als militärischer Option. Die USA als technologisch wie ökonomisch beherrschende Weltraummacht können auf diese Weise einen militärischen Vorteil realisieren, den sie in Bezug auf die erste Hochtechnologie-Waffe, die atomare, nicht mehr besitzen. Eine wirkungsvolle AntiSatelliten-Waffe hätte fundamentale Konsequenzen für den regulären Krieg im 21. Jahrhundert, denn nicht nur hängt der gesamte militärische Datenfluss wesentlich von Satelliten ab, von der reinen Kommunikation über die Aufklärung bis zur Lenkung von Angriffs- und Abwehrraketen, auch der zivile Datenverkehr ist ohne Satelliten undenkbar geworden und ohne ihn droht rasch der gesellschaftliche wie wirtschaftliche Zusammenbruch. Die technologischen Innovationen des neuen Jahrhunderts werden auch die der Kriegsführung sein. Die Informationsverarbeitung mit ihren Bereichen der Mikroelektronik, Netzwerktechnik und künstlichen Intelligenz bildet einen dieser dynamischen Faktoren, die Technologie des Lasers einen anderen, der heute bereits als „E-Waffe“ den ABCWaffen angefügt wird. Ein dritter Faktor dürfte mit der Nanotechnik entstehen. Seit 2003 etwa gibt es in den USA eine institutionell gegründete militärische Nanoforschung. Die Entwicklung eines Kampfanzuges, der den Soldaten unverwundbar machen würde und

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Kleinstcomputer enthielte, die wiederum mit Implantaten im Körper kommunizieren und biochemische Prozesse steuern könnten, z. B. um die Kampffähigkeit zu erhalten oder zu erhöhen, ist ein eher naheliegendes Forschungsziel. Der Schritt vom nanotechnisch instrumentalisierten Menschen zum Nano-Roboter, eventuell mit der Fähigkeit zur Selbstvermehrung, wäre dann zumindest konzeptionell nicht mehr weit, die etwa als schwarmartige Insekten-Roboter den Feind auskundschaften, seine Informationssysteme zerstören könnten. Eine mit (materiellen und intellektuellen) Kapazitäten sowie Finanzmitteln großzügig ausgestattete Rüstungsforschung produziert nahezu linear neue Waffenkonzepte, von denen ein enormer, militärpolitisch kaum auszuhaltender Möglichkeitsdruck ausgeht, eben dem technisch Möglichen zu seiner konstruktiven Wirklichkeit zu verhelfen. Doch während die kriegerische Gewalt in den Staaten mit beträchtlichen technologischen Potentialen immer „intelligenter“ wird, die Ausübung der Gewalt immer abstrakter, technisch vermittelter, radikalisiert sie sich in den technisch kaum entwickelten Gesellschaften immer mehr. Und diese Gewalt ist keineswegs hilflos vor der Hochtechnologie des Gegners, im Gegenteil. Indem sie ihn zwingt, aus der Luft auf die Erde zurückzukehren, macht sie ihn erneut verwundbar. Indem sie alle Regeln regulärer Kriegsführung bricht, macht sie ihn sterblich. Der Partisan führt einen Krieg, den er technologisch nie gewinnen könnte, und den er deshalb „primitiv“ führt, mit seinem Leben als erster Waffe. Das lässt ihn so nahezu unschlagbar werden.

Der Partisanen-Krieg Wenn David, der Hirte, gegen den Berufskrieger Goliath antritt, stoßen zwei Welten der Gewalt gegeneinander und sie tun es bis zum heutigen Tag. Die Steinschleuder ist Davids Waffe. Sie ist eine Waffe gegen Raubtiere, und die Regel- wie Bedenkenlosigkeit, mit der sie gegen nichtmenschliche Feinde eingesetzt wird, gilt auch gegen menschliche. Die artefaktische Differenz zwischen einer Waffe aus Holz, Leder, Stein und den aus Metall geformten Schutz- und Angriffswaffen Panzer, Schwert, Lanze verweist auf ein beträchtliches technologisches Gefälle. Hinzu kommt die außerordentliche Bedeutung weltanschaulicher Unbedingtheit, denn David kämpft Gottes Kampf. Sein Erfolg legitimiert ihn daher ebenso politisch wie weltanschaulich. Er legitimiert ihn als neuen König, gegen den noch vorhandenen. Davids Kampf ist daher nicht nur einer gegen die äußeren Feinde, die Philister, sondern zugleich einer gegen den inneren Feind, den König Saul. David gewinnt auch diesen Kampf, indem er überlebt. Die Flucht ist für ihn ein ebenso selbstverständliches Kampfmittel wie der Angriff, die Kollaboration ist ebenso Option wie die Vernichtung des Feindes. David kennt keine „Ehre“, denn jeden „ehrenhaften“ Kampf würde er gegen einen weit überlegenen Feind verlieren. Seine Ehrlosigkeit ist Teil seiner irregulären Kampfweise. Das macht ihn seinen Gegnern so verhasst. Damit finden sich in der biblischen Davids-Legende bereits wesentliche Merkmale des Partisanen-Kampfes versammelt, nämlich die biologische Reduktion der Waffenanwendung auf die schiere Lebensver-

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nichtung, die große artefaktische Unterlegenheit in den Kampfmitteln, die Verweigerung jeder Regelbeachtung, eine alles rechtfertigende weltanschauliche Bedingungslosigkeit, die „Feigheit“ als Überlebensprinzip und eine zweifache Auffassung des Kampfes, der Krieg nach innen: Bürgerkrieg, wie Krieg nach außen: nationaler Verteidigungskrieg in einem sein soll. Der Partisanenkrieg trägt bereits Züge eines totalen Krieges. Folgerichtig ist er die äußerste Form des politischen Krieges, in dem es nicht nur um Herrschaft über Menschen in einem bestimmten Raum geht, sondern in dem zugleich diese Herrschaft einem transpragmatischen Zweck dient. Dieser Anspruch auf eine Herrschaft im Zeichen der „Wahrheit“ (was immer darunter verstanden wird) besitzt von selbst einen gewissen totalen Charakter und in der Beziehung dieser beiden Absolutheiten, einer regellosen Gewalt und einer zur Herrschaft kommenden Wahrheit, entsteht eine neue Form von Politik. In ihr löst sich, zumindest dem Begriff nach, das Paradox von Krieg und Frieden, und zwar nicht fallweise, sondern prinzipiell. Der Zustand „innerhalb der Mauern“ und „davor“ ist derselbe. Politisch wie militärisch kämpft der Partisan hinter den Linien. Seine stärkste Waffe ist jenes Ungreifbare einer Angst, die nicht mehr zwischen dem Gefahrlosen und dem Gefährlichen zu unterscheiden vermag. Der Partisan unterwandert die Normalität. Wenn ihm dies gelingt, d. h. wenn die bestehende Herrschaft in seiner Bekämpfung den Normalzustand in einen Ausnahmezustand eskalieren lässt, ist es ihm gelungen, die terroristische Schwelle zu überwinden, d. h. aus dem Terrorismus heraus den Krieg zu erzwingen. Damit wird die Gewalt von einem Polizei- zu einem Militärproblem. Der „Partisan“ als „Parteigänger“ der Wahrheit steht damit für einen Begriff von Politik, der mit „Gewalt“ gleichbedeutend ist und in dem sich der Gegenpol der „Autorität“ aufgelöst hat, weil diese als Absolutheit der Wahrheit nur in eben jener anderen Absolutheit Wirklichkeit werden kann, eben in der Absolutheit der Gewalt. Historisch gesehen handelt es sich beim Partisanenkrieg um den „ewigen“ Krieg der „Barbaren“ gegen den Versuch ihrer Unterwerfung unter ein Gefüge „zivilisierender“ Normen, um die Kampfweise des „kleinen Kriegs“ regulärer Truppen und um eine revolutionäre Erhebung gegen eine als illegitim empfundene Herrschaft. Wie sich diese drei Momente verbinden, welche Gewichtung sie jeweils besitzen, hängt von den wechselnden Umständen ab. Das revolutionäre Moment unterscheidet den Partisanenkrieg von früheren Formen „irregulärer Kriegsführung“. Die Gewalttätigkeit wird ideologisch, d. h. sie will nicht nur Missstände beseitigen, sondern den Missstand überhaupt. Der Partisan ist ein moderner Mensch, seine Gewalttätigkeit ist moderne Gewalt, weil sie an die Herstellbarkeit der Zukunft glaubt, die ihm nicht als Fatum, sondern als Konstrukt erscheint. Der Partisan ist einer, der an die Allmacht der Gegenwart glaubt, davon, dass „jetzt“ die Zeit gekommen ist, „alles“ zu ändern. Und er ist einer, der an die Allmacht der Gewalt glaubt, daran, dass die Zukunft nur dann herstellbar ist, wenn die Gegenwart, das in ihr Bestehende, in die Luft gesprengt wird. Kurzum, er ist der totale Krieger. Die Vergeltungsschläge des Feindes für die Anschläge, Überfälle, Morde der Partisanen, also das willkürliche Erschießen von Geiseln und Verdächtigen, das wahllose Bombardieren von Orten, parallelisiert das Ziel des Partisanen, die Gegenwart zu zerstören, um die Zukunft zu er-

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obern. Die Totalisierung der Gewalt ist das „Wasser“, in dem der Partisan als „Fisch“ schwimmt. In ihr ist das Gewaltmonopol der Herrschaft bzw. der Regierung zu Bruch gegangen und mit ihm ihre elementare Friedensfähigkeit, nämlich die Sicherung des Daseins der Landesbewohner, ihres Lebens wie ihres Eigentums, vor jeder Willkürgewalt, und also die Sicherheit und Durchsetzung der Rechtsordnung. Mit dem Gewaltmonopol verliert „der Staat“ bzw. die bestehende Herrschaft die eine Säule der Machtstabilität. Mit der Rechtsicherung verliert sie jene zweite, die sie mit der Autorität verbindet und die wesentlich ist für ihre praktische Legitimierung. Jetzt kann der Krieg totalisiert, d. h. in die Bevölkerung hineingetragen werden. Sie wird zum Kriegsschauplatz, statt unwirtlicher Berge und Wälder. In der Delegitimierung der staatlichen Gewalt entsteht die Möglichkeit, selbst Autorität in der Bevölkerung zu erwerben, eine Möglichkeit, die man durch die Propagierung der eigenen „Idee“ ebenso zu festigen sucht wie durch die Systematisierung der Furcht: Wer den Partisan nicht unterstützt, wer womöglich „kollaboriert“, wird liquidiert. Jeder Partisanenkampf beginnt demnach mit dem Terror, zunächst gegen die Vertreter des bekämpften Regimes und deren mögliche Unterstützer. Jeder Partisanenkrieg, als sozusagen zweite Phase, wird in und immer auch gegen die Bevölkerung geführt, die man den gegnerischen Vergeltungsschlägen aussetzt und in der man sich selbst durch Terror erhält. Jedes Partisanenregime organisiert sich staatlich durch Terror, durch Eliminierung der „Kollaborateure“ und soziale Zerstörung der gegnerischen Gruppen bzw. Klassen. Der Terrorist ist damit der Partisan der ersten Phase, d. h. einer, dem der Schritt vom vereinzelten Attentäter zum militärisch organisierten Kampfverband, der reguläre Einheiten anzugreifen vermag, nicht (oder noch nicht) gelungen ist. Im Wesen hingegen bleiben sich Terrorist wie Partisan gleich, eben in der Bedingungslosigkeit, mit welcher sie ihre „Idee“ bestimmen und sie durchzusetzen suchen, inmitten der Bevölkerung. Im totalen Krieg wird die Bevölkerung zur Kriegszone, gleich ob „regulär“ durch Flächenbombardements im Hinterland oder durch die Operationen des Partisanen und seines Gegners. Der Partisanenkrieg entstand demnach im gesellschaftlich-politischen Zusammenhang der modernen Gesellschaft, so wie er deren Eskalation zum totalen Krieg nachvollzogen hat. Die Ausformung des modernen, die Gewalt institutionell organisierenden und monopolisierenden Staates einerseits, seine Zerstörbarkeit durch revolutionäre Erhebungen andererseits bilden seine politischen Voraussetzungen. Mit der Französischen Revolution tritt der Untertan aus dem überkommenen Gehorsamsverhältnis heraus und wird zur politisch handelnden Person. Als solche begegnet er dem berufsmäßigen Soldaten, dem eindrücklichsten Vertreter des staatlichen Gewaltmonopols, der schon deshalb nur militärisch zu denken vermag, weil ihm politisch zu handeln verboten bleibt. Die revolutionäre Armee sucht diesen Gegensatz dadurch zu lösen, dass sie das neue politische Bürgersein mit der Wehrpflicht verknüpfte und damit erneut die Gewalt beim Staat monopolisierte. Gelingt dies nicht, so kann die politisierte Gewalt im Aufruhr eskalieren, entweder „auf der Straße“ oder „in den Wäldern“, d. h. entweder als städtische Massenerhebung die etablierte Herrschaft kurzfristig herausfordern oder als ländlicher Partisanenkampf diese Herrschaft längerfristig auszuhöhlen suchen. Der Partisan ist demnach jener, der zu kei-

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ner Zeit Gewalt ohne Politik zu buchstabieren weiß, aber auch zu keiner Zeit Politik ohne Gewalt. Beide sind miteinander identisch, bis zu jener millenarischen Wende als dem Eintritt in das Tausendjährige Reich, in die Klassenlose Gesellschaft, in dem alle miteinander identisch sind, in dem keine Unterschiede mehr Konflikte, Gewalt entzünden und es auch keine Politik mehr gibt. Es ist das Bewusstsein der Revolution, vor dem alles zerfällt, was ist, insbesondere die geltenden Normen, die Regeln und Verbindlichkeiten nicht nur der Gesetze des Staates, sondern auch der Moral. Wenn der Revolutionär und seine Fortsetzungen, der Terrorist, der Partisan, eine Totalität besitzen, die ihn von den „gewöhnlichen Menschen“ trennt und ihm deren Erschrecken als Anbetung oder Hass verschafft, dann ist es seine vollkommene Skrupellosigkeit, sein moralisches Unberührtsein im Namen eines Absoluten, das alles Menschliche klein werden lässt: Sekundärmoral sekundärer Menschen vor dem Ausfallstor des Absoluten, über das lediglich der Revolutionär verfügt. Formen des Krieges, in denen sich die Kampfweise des „kleinen Krieges“ mit dem Widerstand gegen eine als illegitim aufgefasste Herrschaft verband, gab es, seit es organisierte Herrschaft gegeben hat.66 Der Machtvorteil, den eine solche Herrschaft gegenüber Gesellschaften mit niedrigem Organisationsgrad besitzt, führt fast von selbst zum Expansionismus, also zum Versuch, diese Herrschaft territorial auszuweiten. Darauf reagieren die schwächeren Gesellschaften mit Formen des kleinen Krieges, d. h. sie operieren in kleinen Gruppen und sind hochmobil, greifen nur bei eigener Überlegenheit an und vermeiden jede große Schlacht, ziehen sich bei feindlicher Übermacht zurück und verteidigen nicht, nutzen das ihnen genau bekannte Gelände und versuchen, den Feind durch stete Bedrohung seiner Posten und Nachschubwege zu ermatten. Es ist der Krieg der „Barbaren“ gegen einen Feind, dessen zivilisatorische Potenz in seiner dichten Organisation wie seiner technologischen Überlegenheit besteht. Aus dieser Stärke Schwächen abzuleiten, wäre dann die Kunst des irregulären, „verdeckten“ Kampfes, der die organisatorische Kapazität des Feindes durch Bedrohung seiner Basis: die Logistik und die technologische Kapazität durch Zerstreuung der Ziele (in der Masse der Bevölkerung oder in gebrochenem Gelände) zum Leerlaufen zu zwingen sucht. Dabei zeigt sich die erste der beiden Grundformen des Partisanenkampfes als Fortsetzung des Kampfes der „Barbaren“ gegen eine ihr Land okkupierende und „zivilisierende“ Besatzungsmacht. Sie vertritt den „reaktionären“ Typ des Kampfes für die „Vergangenheit“ und für eine Lebensform der Tradition, wie sie im antikolonialen Widerstand des imperialistischen Zeitalters bedeutsam geworden ist. Wo sie – wie vor allem in den afghanischen Kriegen gegen die eindringenden Briten – verdeckt geübt worden ist, war sie meist erfolgreich, anders als dort, wo versucht wurde, den Kolonialtruppen „offen“, in einer Feldschlacht gegenüberzutreten, wie etwa die mahdistischen Kämpfer des Sudan, die bei Omdurman buchstäblich niedergemäht wurden (1898). Doch gehört der koloniale Widerstand der vormodernen Phase an, die noch nicht revolutionär gebrochen worden ist. Das moderne Partisanentum entstand mit dem durch die Französische Revolution erzwungenen Traditionsbruch. Die Revolution zerstörte bewusst die ganze Ordnung des „alten“ Lebens, die als eine Art kosmologischer Kette die Ordnungen des kleinen, alltägli-

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chen Lebens über die vermittelten Ordnungen der Gesellschaft (Aristokratie, Monarchie, Kirche) bis zur großen, absoluten Ordnung des Göttlichen sinngebend verband. Sie zwang in die Emanzipation, eroberte den „regulären“ Staat und rechnete nur mit dem zu guillotinierenden Widerstand der vormals Privilegierten. Dass sich „das Volk“ bzw. Teile von ihm gegen die Revolution erheben könnten, war undenkbar und trat dennoch ein. In der Vendée (1793–97), einer Landschaft im Nordwesten Frankreichs, und in Spanien (1808–13) wurde der kleine Krieg zur Kampfweise eines weltanschaulichen Volkskrieges, entstand das, was seitdem mit dem spanischen Wort der Guerrilla bezeichnet worden ist.67 Einer ersten Phase des individuellen Terrors gegen die „Kollaborateure“ des Regimes folgte eine zweite des Kampfes kleinerer Verbände gegen die regulären Truppen nach dem ewigen Grundsatz des „Zuschlagens und Wettlaufens“ (hit and run). Wie François de Charette, der erfolgreichste Partisanen-Führer, es ausdrückte, sollte man möglichst oft den Kampf suchen, sich aber nur manchmal auf größere Gefechte einlassen und sich nie eine wirkliche Niederlage zufügen lassen („Combattu souvent, battu parfois, abattu jamais“). Allerdings scheiterte in der Vendée der Versuch, in die dritte Phase überzugehen, d. h. vom irregulären Kampf des Partisanen in den regulären des Soldaten, indem man der feindlichen Armee eine eigene entgegen stellte, ein Territorium verteidigte und den Feind in der Schlacht zu vernichten suchte, anstatt ihn durch fortwährenden Kleinkrieg zu ermüden. Da es den Chouans, den Vendée-Kämpfern, nie gelang, die Konterrevolution als Krieg über die Grenzen ihrer Region hinauszutragen, und da es ihnen ebenso wenig gelang, Unterstützung durch das Ausland zu erhalten, wurde ihre Erhebung schließlich blutig niedergeschlagen. Drei Prinzipien waren es dabei, deren Verbindung den Erfolg der republikanischen Truppen sicherte: das Land mit Soldaten überschwemmen bzw. die Präsenz „en masse“, sodann die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Bevölkerung bzw. die Taktik der „terre brulée“, schließlich der Angriff auf die Bevölkerung selbst bzw. der Durchmarsch der „colonnes infernales“, hinter denen nur noch Leichenhaufen zurückblieben. Es war ein Krieg „inmitten der Bevölkerung“, letztlich gewonnen durch Ausbluten, und die menschlichen Reserven der Vendée waren riesenhaft geringer als die der Republik. Denn in der Vendée lebten nur rund 2% der französischen Bevölkerung, also knapp eine halbe Million Menschen. Davon sollen nach Schätzungen 250–500 000 Menschen umgekommen sein, nahezu die gesamte Bevölkerung der Aufstandsregion. Der Aufstand in der Vendée war durchaus „revolutionär“ im Sinne jener Konterrevolution, die nicht etwas Bestehendes verteidigen, vielmehr etwas Verlorenes wiederherstellen wollte. Blieb der ältere, „reaktionäre“ Aufstand im Rahmen des Bestehenden, das er lediglich „gegen Innovationen“ verteidigen wollte, so richtete sich die Vendée gegen das Bestehende, wenngleich dieses durch Innovation zustande gekommen war. Erst die totale Ablehnung des Bestehenden lässt den Aufstand total werden, verleiht ihm revolutionäre Züge, denn auch hier greift das Volk nach der Gewalt, entreißt sie der Herrschaft und fordert einen Zustand politisch-geistiger Ordnung, der das völlige Gegenteil des Bestehenden ist und nur durch seine völlige Zerstörung erreicht werden könnte. Wo es dem Partisanen gelingt, „inmitten der Bevölkerung“ zu operieren, beginnt der Konflikt genozidale Züge

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anzunehmen, weshalb etwa Gracchus Babeuf, der Urvater des Kommunismus, davon als „populicide“ gesprochen hat (1795), wohl das erste Mal, dass so etwas wie „Völkermord“ begrifflich gefasst worden ist. Jeder Landesbewohner wird zur Parteinahme gezwungen oder wechselweise als Kollaborateur bedroht. Den zivilen Rückzug auf eine nicht militarisierte Politik der juristisch-diskursiven Konfliktregelung gibt es hier nicht mehr. Jeder Partisanenkrieg ist damit zugleich Bürgerkrieg. In der Vendée war es ein Krieg zwischen Land und Stadt, Bauernschaft und Bourgeoisie, katholischer Religiosität und republikanischem Agnostizismus. In Spanien (1808–13) verhielt es sich ähnlich, auch wenn der Fremdenhass gegen die französischen Besatzer und das von ihnen gestützte Regime in Madrid die Konfrontation noch verschärfte. Die Größe des Landes und die Unwirtlichkeit vieler Landstriche machte es den Franzosen unmöglich, es mit Soldaten „zu überschwemmen“. Hinzu kam, dass Napoleon ständig an anderen Fronten Soldaten brauchte und die russische Niederlage folgerichtig den militärischen Zusammenbruch in Spanien nach sich zog. Doch die Konsequenz daraus, nämlich sich auf die Städte und dicht besiedelten Gebiete zu beschränken, ließ die logistischen Linien für Nachschub und Kommunikation größtenteils schutzlos, da sie (geografisch bedingt) über weite Strecken kaum besiedelten, oft schwierigen Geländes führten. Hier fand die, in einer Vielzahl meist kleiner, selbstständiger Banden (partidas) operierende Guerrilla ihre idealen Angriffsziele. Die Guerrilla zwang die Franzosen, ihre Streitkräfte über das Land zu zerstreuen, um wichtige Orte und Nachschublinien zu sichern. Damit aber vermochten sie den in kompakten Einheiten vorrückenden Briten unter General Wellington immer weniger entgegenzutreten, so wie andererseits die militärische Wucht der regulären Verbände Wellingtons das französische Militär daran hinderte, ihre Vernichtungskraft auf die Partisanen zu konzentrieren. Neben dem Zwang, Nachschublinien zu sichern und also Soldaten zu zerstreuen, bewirkte der „guerra de partidas“ noch die kaum weniger fatale Blendung der Besatzer durch weitgehende Zerstörung ihrer Informationsmöglichkeiten. Es war für die Franzosen nahezu unmöglich, Informationen über die Lage auf dem flachen Land zu erhalten, festzustellen, wo die Guerrilleros sich befanden oder außerhalb ihrer befestigten Posten den „Staat“ durchzusetzen, d. h. Rechtsprechung und Verwaltung aufrechtzuerhalten. Eine wichtige Weiterung davon war die Einschüchterung der potentiellen Kollaborateure. Ähnlich den Chouans blieben die spanischen Guerrilleros an ihre Lokalität gebunden und dort ihrer Ortskenntnis wegen besonders erfolgreich, allerdings auch besonders verwundbar, wenn die aus dem Hinterhalt angegriffenen Franzosen blutige Vergeltung übten: Francisco Goya hat es in seinen Bildern erschreckend nachgezeichnet. Dabei hat man die bereits in der Vendée verwandten Verfahren der Partisanen-Bekämpfung modellhaft für spätere Generationen regulärer Militärs fortentwickelt, die von Partisanen angegriffen wurden. Da der Feind nicht wie ein regulärer Gegner bekämpft, besiegt, zum Frieden gezwungen werden konnte, kämpfte man in der Bevölkerung und bald gegen sie. Geiselnahme und Geiselerschießung, Liquidierung vermuteter Gegner und Unterstützer, Zerstörung von Häusern bis zu Dörfern und ganzen Landschaften, zwangsweise Deportationen formten eine vage Methode, die rasch ins Chaotische zerfiel, mit psychisch zerbrechenden Soldaten, die

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einer ständigen, doch nicht greifbaren Bedrohung die wilde Gewalt, das Massaker, entgegensetzten. Doch wurde der spanische Krieg weitgehend „in den Wäldern“, weniger „inmitten der Bevölkerung“ ausgetragen, schon weil er auf wenig besiedelte Gebiete beschränkt blieb und eine militärische „Überschwemmung“ nicht zustande gekommen ist. Der Sieg ist dann durch die ab 1810 dauerhaft in Spanien kämpfende britische Armee und, letztlich, durch den Zusammenbruch der französischen Militärmacht ab 1812 erreicht worden. Der Kampf der spanischen Guerrilla prägte die Vorstellung vom „Volkskrieg“ für alle folgenden Zeiten. Hier erhob sich ein Volk aus eigenem Willen und unabhängig vom Entschluss der Herrschaft, die kapitulierte oder kollaborierte. Das „Volk“ repräsentierte sich durch Selbstbewaffnung und Widerstand: Es repräsentierte sich revolutionär, bildete politische Ausschüsse, eine Art Gegenregierung, und zwar für „alle“, für die ganze Nation. Die Guerrilla kämpfte verdeckt, verstreut, irregulär und asymmetrisch und sie schöpfte, wie die französische Armee auch, aus einem schier unausschöpfbaren Reservoir an Menschen. (Insgesamt verloren die Franzosen rund 180 000 Soldaten in Spanien, davon nur 45 000 im Kampf gegen die Engländer.) In der Guerrilla gilt der Mensch nichts, weder als Feind noch als Freund. Ihre Feindschaft ist so total wie ihre Forderung nach Freundschaft. In Spanien verbanden sich in ihr Volks-, Religions- und Nationalkrieg zu einem schier unüberwindbaren Ganzen. Anders als die reguläre Armee verteidigte die Guerrilla kein Territorium, vermied jede Feldschlacht, beachtete kein Kriegsrecht, griff Nachschublinien und Feldposten an, bedrohte und ermordete Kollaborateure (die sog. „Afrancesados“), d. h. sie führte einen Krieg auf den „inneren“ Linien des Feindes und mied die äußeren. Damit zeigen sich zugleich die Konsequenzen der der modernen Gewalt für die kriegerische Gewalt als totale Mobilisierung des Volkes zum Zweck des Krieges in der Wehrpflicht, dem Verbot der Kollaboration. Das bedeutet gleichzeitig die umfassende Militarisierung der Beziehung des Krieges zur Zivilbevölkerung. Der Partisanenkrieg ist der politischste aller Kriege. In ihm identifiziert die Politik die Gewalt mit sich, denn in ihm wandert die Gewalt in das Volk. Das Volk ist sowohl Schlachtfeld wie Parteigänger, es ist Täter wie Opfer. Die Gewalt in das Volk hineintragen ist ein revolutionärer Akt. Es bedeutet entweder, das bestehende politische System zerstören zu wollen, weil man seine Legitimität nicht anerkennt, wie es die Sansculottes nach 1789, die Chouans seit 1792 taten. In beiden Fällen versucht „das Volk“ die Gewalt selbst in die von ihm gewünschte Ordnung zu bringen. Die Sansculottes tun es „auf der Straße“, durch Barrikaden und Bastille-Sturm, die Chouans tun es „in den Wäldern“, durch Anschläge und Hinterhalt. Dabei ist der Gedanke bereits gegenwärtig, das Volk insgesamt in eine Armee zu verwandeln und also jedes Beiseitestehen, jede Zusammenarbeit gar mit dem Feind wie die Desertion eines Soldaten zu behandeln. Daraus entsteht dann 1811 der Gedanke, nicht nur die Armee an der Front, sondern das ganze Volk führe Krieg gegen den Feind. Neidhardt von Gneisenau, eigentlich regulärer Offizier der preußischen Armee, zieht damit die Folgerung aus der verheerenden Niederlage von 1806, die er zutreffend als nicht nur eine des Heeres, sondern des ganzen politischen Systems begriff. Die tiefere Ursache des französischen Sieges war es, dass dort der Krieg zu einer Sache des Vol-

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kes geworden war, in Preußen hingegen der Krieg als Arkanbereich des Herrschers das Volk nichts anging. Ohne eine Politisierung des Krieges zum Volkskrieg schien deshalb ein Erfolg nicht möglich. Realisieren wollte er diesen Volkskrieg durch die Schaffung einer zweiten Armee neben der regulären, dem sogenannten „Landsturm“, für den ebenfalls eine Dienstpflicht gelten und der bereits in Friedenszeiten den defensiven Kleinkrieg üben sollte. Beim Einmarsch des Feindes, d. h. beim Versagen der regulären Armee, sollte der Landsturm bewaffneten Widerstand leisten und auf diese Weise einen „tumultarischen“ Zustand herbeiführen, der jegliche Kollaborationsmentalität unterband, es dem Besatzer unmöglich machte, die Regierungsfunktionen zu übernehmen und die Ressourcen des Landes auszunutzen, ihm vielmehr durch den Zwang, sich gegen den zermürbenden Widerstand im Land zu behaupten, derartige Kosten an Soldaten, Material und Geld verursachen würde, dass er sich schließlich zurückziehen müsse.68 Dass ein derartiger Volkskrieg ideologischen Charakter besaß, dass er ohne „Herzenserhebung“ in den Massen nicht zu haben war, wusste Gneisenau sehr wohl. Dass damit ein Bruch mit der fürstlichen Alleinherrschaft einhergehen musste, wenn der Herrscher nicht mehr einsam über den innersten Kern seines Gewaltmonopols, den Krieg, verfügte, war offensichtlich. Auch der Preußenkönig verstand dies und er schreckte zurück. Gneisenau dachte bei seinem Volkskrieg an Spanien und auch dort war es bekanntlich zum Konflikt zwischen den aus der Aufstandsbewegung hervorgegangenen Juntas und dem zurückgekehrten absolutistischen König gekommen, den dieser nur mit ausländischen Interventionstruppen, wieder Franzosen, für sich entscheiden konnte. Die moderne, von der Revolution geprägte Gewalt ließ einen bloß instrumentellen Gebrauch des Volkskrieges nicht zu: Gab man ihm sozusagen den kleinen Finger, griff er nach der ganzen Hand. Vor allem in Frankreich blieb man sich dessen stets bewusst, so 1870/71, als nach der Niederlage der regulären Armee gegen die deutschen Truppen der Ruf nach einem totalen Volkskrieg laut wurde. Wie Friedrich Engels richtig erkannte, hätte allein eine solche Radikalisierung des Krieges dem auf dem Schlachtfeld besiegten Frankreich die Chance geboten, die endgültige Niederlage zu vermeiden.69 Die Fortführung des Krieges auch nach Zusammenbruch der äußeren, regulären Front durch Schaffung vieler irregulärer mit dem Ziel, den Feind zu zermürben und dabei auf eine Veränderung der internationalen Lage zu den eigenen Gunsten zu setzen, bot durchaus Chancen, barg aber auch Gefahren: Gefahren für die bürgerliche Gesellschaft, denn der Volkskrieg militarisierte insbesondere die ärmeren Klassen. Der Aufstand der Pariser Kommune vom März bis Mai 1871 zeigte, wohin der Versuch einer Volksbewaffnung führen konnte. Und diese Lehre wirkte fort in das ganze militärische Gewaltdenken des entstehenden Kommunismus. Bei Lenin, der den Pariser Kommune-Aufstand sorgfältig studiert und aus seinem Fehlschlag später Lehren für die bolschewistische Revolution abgeleitet hat, ist der „Partisanenkampf“ jene „höhere Kampfform“, die den Generalstreik als Mittel einer noch in der bürgerlichen Gesellschaft steckengebliebenen Arbeiterbewegung abgelöst hat. Der Partisanenkampf wird als Entscheidung für die Gewalt zu jener Totalität des Bruchs mit dieser Gesellschaft, die allein in den Sozialismus fortzuführen vermag. Dieser Bruch kann herbeigeführt werden,

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wenn die Gewaltfähigkeit des bestehenden Regimes diskreditiert worden ist, wie in Russland im Jahr 1905 durch die Niederlage im Krieg gegen Japan. So wurde der Arbeiterprotest fast von selbst zum Aufstand gegen das zaristische Regime. Die Dialektik der Revolution als Dualismus von Freund und Feind kam in Gang und ihre treibende Kraft war die Eskalation der Gewalt, deren Ziel darin bestand, die Friedensfähigkeit des Staates zu zerstören, von welcher der Gehorsam der Massen abhing. Mit dem Verlust seines Monopols wurde der Staat zu einem Gewalttäter unter anderen. Das war dann die Phase des „Partisanenkampfes“, auf die sich die revolutionäre Partei frühzeitig vorzubereiten hatte. In ihm ging es darum, das durch gewalttätige Proteste bereits teilweise gebrochene Gewaltmonopol des Staates gebrochen zu halten, es durch den Partisanen ständig in Frage zu stellen. Für den Marxisten, so Lenin, herrscht in einer Klassengesellschaft nie Frieden, sondern immer Klassenkampf, also Krieg, wobei dessen konkrete Kampfform „historisch“ ist, also zwischen Agitation, Streik und Bürgerkrieg wechselt, je nach „Zweckmäßigkeit“: Lenin sieht durchaus, dass der Partisanenkampf weithin zu wilder Gewalt wird und das „Lumpenproletariat“ dort eine wichtige Rekrutierungsgruppe stellt. Entscheidend ist daher, dass die Kommunisten sich als „Kriegspartei“ organisieren, um im kommenden „umfassenden Bürgerkrieg“ durch ihr überlegenes organisatorisches Potential die Führung übernehmen zu können.70 Fragen der Moral spielten dabei keine Rolle: Sie gehörten ins „Bordell“ bürgerlicher Vorstellungen und Verhaltensweisen und seien so historisch überholt wie die bürgerliche Gesellschaft selbst. Die Identität von Politik und Gewalt, wesensbestimmend für den Partisanenkrieg, findet sich auch bei Lenin. Der Marxismus war als Wissen von der Gesetzmäßigkeit der Geschichte absolutes Wissen, weil er nicht nur die Vergangenheit, sondern ebenso die Zukunft kannte. Als absolutes Wissen forderte er absolute Hingabe: Er duldete kein anderes Wissen, keinen „anderen Gott“ neben sich. Dennoch existierte ein solcher „Gott“ und er war machtvoll, viel machtvoller als das eigentlich Absolute. Die Wahrheit musste sich bewaffnen, nicht nur, weil sie die Falschheit: die Klassenherrschaft, nicht ertragen wollte, sondern noch mehr, weil sie es nicht konnte, denn der Umschlag in das nächsthöhere und letzte Stadium war eine geschichtsgesetzliche Notwendigkeit. Die Unbedingtheiten der Psyche und der Physis: absolutes Wissen und absolutes Handeln, Ideologie und Gewalt, verschmolzen zu einem. Wenn der Marxismus im 20. Jahrhundert eine derartige Rolle in den Partisanenkriegen gespielt hat, dann, weil er die Revolution als Einheit von Politik und Gewalt erneuert hat und weil sein dualistisches Klassenkampf-Schema sowohl den Bürgerkrieg wie den anti-kolonialen Aufstand ideologisch darzustellen vermochte. Und diese Ideologie war „modern“, war so gut das Produkt der modernen Zivilisation wie der Kapitalismus oder die Industrie, wie das Maschinengewehr oder die Elektrifizierung. Der leninistische Marxismus erlaubte es, den Kolonialismus zu bekämpfen und zugleich dessen zivilisatorische Formen: Technologie und Organisation, zu übernehmen, so wie er es erlaubte, in der eigenen Gesellschaft einen Bürgerkrieg zu führen und eine Diktatur zu errichten. In dieser Verknüpfung, nämlich als Sozialrevolution, ist der Partisanenoder Guerrilla-Krieg dann zum Merkmal der kriegerischen Gewalt in den Jahrzehnten

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zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Sowjetunion geworden. Die wirtschaftliche, politische und militärische Auszehrung der europäischen Kolonialmächte einerseits, die atomare Konfrontation der beiden Supermächte USA und UdSSR andererseits schuf die Voraussetzung für den Aufstieg des sozialrevolutionären Partisanen, mit dem in der „Dritten Welt“ Stellvertreterkriege der Supermächte geführt wurden, die sie regulär nicht mehr führen konnten. Dabei veränderte sich zugleich die Konzeption des Partisanenkampfes, der bei Lenin noch als Zwischenphase in den zum Bürgerkrieg führenden Aufständen gedacht worden war, ausgeführt in eher terroristischer Weise. Diesen Kampf als vollständigen „Krieg“ zu fassen, ihn ins Zentrum der Revolution zu stellen und ihn zugleich dorthin zu tragen, wo das Volk lebte, auf das flache Land, war die Leistung zweier Asiaten, Mao Tse-tungs und Ho Chi Minhs.71 Ihr Proletariat war nicht das der wenigen Städte und einer kaum vorhandenen Industrie, sondern das der zahllosen Kleinbauern und Pächter. Städtische Aufstände, wie die von der Kommunistischen Internationale für Shanghai und Kanton angeordneten (1926/27), mussten scheitern, weil zum einen die Städte wie Inseln im Meer bäuerlicher Massen waren und weil zum anderen das Operieren in der kurzen Zeit des städtischen Aufstandes gegen die Feuer- und Organisationskraft regulärer Truppen im Blutbad endete. Was man brauchte, war die lange Zeit und die Masse, war der Partisan, nicht der quasi-reguläre Barrikadenkämpfer. Die Sozialrevolution musste Agrarrevolution werden, sie musste den abhängigen Bauern die traditionelle Ordnung als Ausbeutung durch die Großgrundbesitzer verhasst werden lassen und sie musste zugleich den traditionellen Fremdenhass als anti-kolonialistisches Motiv wirksam werden lassen. Wenn, wie Mao einmal bemerkte, die (politische) Macht aus den Gewehrläufen kommt, dann wird nichts wichtiger, als die Gewehre zu haben und zu behalten. Anders als die bestehende Herrschaft muss der Partisan die Gewehre erst bekommen, daher wird ein Partisanenkrieg aus einer Position der Schwäche heraus geführt und das Wichtigste ist deshalb, zu überleben. In dieser Fähigkeit, zu überleben ist daher der Keim für die Vernichtung des Feindes bereits enthalten, weshalb Mao den Partisanenkrieg als den „lange auszuhaltenden Krieg“ definiert.72 Die Zeit ist die irreversible Größe in der Strategie des Partisanenkrieges, der Raum hingegen die reversible. Wenn Mao im Oktober 1934, als die chinesischen Regierungstruppen zu einem groß angelegten Einkreisungsfeldzug antraten, das bereits kommunistisch beherrschte Territorium aufgab und seine Armee im „Langen Marsch“ über mehr als 12 000 km vor der Vernichtung rettete, so entsprach das dem Operieren in einer „langen Zeit“, welches die Zeit vor den Raum setzte, wie Napoleon oder Gneisenau auch, aber dieser Zeit sozusagen eine Raum-Dimension verlieh, anstatt sie – wie im regulären Krieg – auf die Kurzzeit der Entscheidungsschlacht zu reduzieren. Mao nannte dies eine „strategische Defensive“, aber das, was er auf diese Weise verteidigte, war nicht die Rote Republik von Kiangsi, sondern die Rote Armee, d. h. seine Fähigkeit, weiterhin Krieg zu führen bzw. ihn „lange aushalten“ zu können. Solange der Partisan noch militärisch unterlegen war, suchte er zwar politisch stets die Offensive, blieb militärisch jedoch in der Defensive. Die Agrarreform, dann der Kampf gegen die japani-

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schen Besatzer war die politische Offensive, der Kleinkrieg bis hin zur Flucht die militärische Defensive. Erst wenn man dem Feind auch „regulär“ gegenübertreten konnte, durfte aus der Defensive die militärische Offensive werden. Sie musste es werden, denn nur auf diese Weise war es möglich, aus der „langen“ in die „kurze“ Zeit zurückzuwechseln, d. h. den Feind final zu vernichten und die eigene Herrschaft zu errichten: in ganz China und nicht nur in Kiangsi. Das Ziel des Partisanenkrieges bestand daher im schrittweisen Aufbau einer regulären Armee, die nicht nur den Übergang zur Offensive ermöglichen sollte, sondern zugleich die Gewaltbasis bot für den Aufbau der eigenen Herrschaft in einem Land, dessen Staatsapparat zuvor gezielt zerstört worden war. Mao kam dabei zugute, dass der 1937 beginnende japanische Angriff auf China nicht nur die Regierung zwang, ihre Operationen gegen die Partisanen einzustellen, sondern dass ihre Truppen auch die Hauptlast des Krieges zu tragen hatten, mussten sie doch Territorium verteidigen, die Kommunisten hingegen nicht. Ohne den japanischen Krieg wäre die kommunistische Revolution vermutlich fehlgeschlagen, so wie die Bolschewiki ohne den Ersten Weltkrieg nicht hätten die Macht an sich reißen können. Die Identität von Politik und Gewalt ist das Wesen des Partisanen, deshalb ist der Bürgerkrieg das Zentrum seines Handelns: „Politik ist Krieg ohne Blutvergießen und Krieg ist Politik mit Blutvergießen“,73 weshalb Mao auch 90% der Anstrengungen auf den Bürgerkrieg und nur 10% auf die Bekämpfung des auswärtigen Feindes richten will. Das Politische des Krieges ist der Bürgerkrieg, weil es hier um die „richtige“ Ordnung der Gesellschaft geht. Denn als Krieg „in der Zeit“ ist der Partisanenkrieg einer, in dem es um die „lange Zeit“ geht, um die Zerstörung einer in solch langer Zeit eingewurzelten Herrschaft durch den lange durchzuhaltenden Krieg. Die kurze Zeit der Besatzung wäre dann kaum mehr denn ein vorübergehender militärischer Augenblick in der langen Zeit. Als Bürgerkrieg wird der Partisanenkrieg inmitten der eigenen Bevölkerung geführt. Nicht nur die Irregularität der Kampfweise widerspricht demnach dem Muster des konventionellen Krieges, der Verzicht auf die Verteidigung des eigenen Landes und Volkes tut es ebenso. Der Partisan zerrt den Krieg in das eigene Land und er versucht, wie Mao es ausdrückt, den Feind in der Bevölkerung „ertrinken“ zu lassen, auch in ihrem Blut. In dieser Totalisierung der Gewalt entdeckte Mao das Werkzeug der Revolution, nämlich zum einen die Bevölkerung zum Schlachtfeld zu machen und sie damit zur Parteinahme zu zwingen, zum anderen in einer Gesellschaft den Sozialismus durchzusetzen, die nach der Marx’schen Klassenlehre dazu historisch noch längst nicht bereit war. Die 8–10 Millionen Toten des chinesischen Bürgerkriegs waren nicht nur der Preis für den militärischen Sieg. Sie bildeten auch jenen sozialen Schock, ohne den eine radikale Umwälzung des Bestehenden nicht durchgeführt, eine terroristische Herrschaft nicht errichtet werden kann. Der leninistische Voluntarismus, nämlich durch Gewalt eine ganze historische Entwicklungsstufe zu überspringen, wurde bei Mao zum Extrem. Gab es in Russland bereits Ansätze einer Industrialisierung und eines industriell-städtischen Proletariats wie einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, eingemauert allerdings in einer agrarisch-aristokratischen Autokratie, so herrschte in China noch eine nahezu ungebrochene agrarisch-feudale Gesell-

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schaftsordnung. War es demnach in Russland möglich, die revolutionäre Gewalt von den Städten her und in Form konventioneller Armeen zu organisieren, musste in China die Gewalt durch die „langsame“ Verdichtung des Partisanenkrieges auf dem flachen Land und von den Bauern her erfolgen. Dass das alles der intellektuellen Konstruktion des Marxismus widersprach, also dem Geschichtsgesetz von der dialektischen Abfolge der „Gesellschaftsformationen“, war offenkundig und die heftigen Angriffe gegen Mao innerhalb der chinesischen KP der 1920er Jahre haben damit zu tun. Doch im präzisen Sinn war Mao so gut Kommunist wie Marx oder Lenin selbst, denn auf sein Wesentliches bezogen ist Kommunismus nichts als utopische, d. h. voluntaristische Gewalt, die sich mit intellektuellen Konstruktionen zu decken sucht. Die Aussage Maos, einen „Krieg für den ewigen Frieden“ führen zu wollen, gehört hierher. Für Mao bezeichnet der Partisanenkrieg nicht nur eine neue Form kriegerischer Gewalt, sondern mehr noch eine weltgeschichtliche Wende. Mit ihm stürzt der Kolonialismus in sich zusammen. Mit ihm wird die soziale Revolution zu einem Weltereignis. Hatte es sich früher bei dem anti-kolonialen Widerstand, von den Bergen Afghanistans bis zu denen Marokkos, um Reaktionen eines wütenden Traditionalismus gehandelt, die isoliert blieben, ohne Verbindung und ohne ein verbindendes Bewusstsein, so hatte der mit dem Sieg des Bolschewismus einsetzende Weltbürgerkrieg den Anti-Kolonialismus zur revolutionären Bewegung, den barbarischen Kleinkrieg (savage warfare) zum politischen Partisanenkrieg werden lasen. Lin Piao, einer der fähigsten Generale des chinesischen Bürgerkrieges, versuchte dann folgerichtig, den Weltbürgerkrieg als Partisanenkrieg der „ländlichen Gebiete der Welt“, d. h. der agrarisch dominierten Länder Asiens, Afrikas, Lateinamerikas, gegen die „Städte der Welt“, die industriell hochentwickelten Staaten Europas und Nordamerikas erneut zu militarisieren, nachdem der Systemkonflikt der Supermächte im atomaren Patt erstarrt war.74 Die Arbeiterschaft der „Städte“, der urbanisierten Industriestaaten, ist für die proletarische Revolution verloren. Die Dritte Welt übernimmt ihre Aufgabe. Damit wäre der „lange Marsch“ auch für die Marx’sche Theorie vollzogen, von der Arbeiterklasse und dem Geschichtsgesetz zu den Armen der Erde und zur Gewalt als utopischem Voluntarismus. Der Partisan rettet den Krieg im Zeitalter der Atombombe, er setzt die Dialektik der Gewalt wieder in Gang und damit die Möglichkeit der Revolution – einer, die jetzt tatsächlich „Welt“-Revolution werden soll. Allein der Partisanenkrieg kann nun noch ein „politischer“ Krieg sein, denn ein Atomkrieg würde ein Land unbewohnbar werden lassen. Deshalb war es konsequent, dass die reguläre chinesische Volksarmee, die in der letzten Phase des Bürgerkriegs den Sieg erkämpft hatte und danach zur Armee des neuen Staates geworden war, am Partisanen-Charakter des Krieges festhielt. Motorisierung und schwere Bewaffnung spielten eine geringe Rolle. Die Truppe blieb eine des Fußmarsches, der Infanteriewaffen, hoher Selbstversorgung (Reparatur der Waffen, Herstellung von Gütern, Lebensmitteln, Uniformen), enger Verbindung mit der Bevölkerung und der irregulären Kriegsführung (über Volksmilizen), der flexiblen Territorialverteidigung, des Einsatzes von Menschen „en masse“ statt der Massenkonzentration von Technologie und vor allem der permanenten „politischen Erziehung“ des Soldaten. Der Partisan

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gewinnt den Krieg in der Zeit und er gewinnt ihn politisch. Das eine hat mit dem anderen zu tun. 30 Jahre, von 1945 bis 1975, hatte der Krieg in Vietnam gewährt, ehe die kommunistischen Verbände in Saigon einrückten. Die stärkste Militärmacht der Weltgeschichte, der Staat mit dem größten Technologie-Potential, hatte seine letzten Positionen fluchtartig geräumt und alle zurückgelassen, Kollaborateure wie Überzeugte, die einst mit ihm den Krieg gegen den Vietcong geführt hatten, der auch ein Bürgerkrieg gewesen war. Die Strategie der Partisanen im Vietnam-Krieg entsprach Maos Lehre von den drei Phasen des „Volkskrieges“.75 In einer ersten Phase wird um die Kader der Kommunistischen Partei auf lokaler, dann regionaler Basis der Widerstand organisiert, durch politische Agitation und gezielten Terror. Hier geht es darum, den Zugriff der Herrschaft dort zu brechen, wo er ohnehin schwächer ist, auf dem Dorf, in entlegeneren Landesteilen. Liquidiert werden die Funktionsträger des Regimes, sodann all jene, die sich einer Unterstützung der Widerstandsbewegung verweigern, von Einzelpersonen bis zu ganzen Dorfgemeinschaften. In der zweiten Phase wird dann der bewaffnete Kampf gegen Polizei und Armee direkt aufgenommen, taktisch offensiv, strategisch defensiv. Der Feind wird unentwegt angegriffen, jede große Schlacht, jede feste territoriale Verteidigung jedoch vermieden. Im dritten Stadium erfolgt dann der Übergang zur strategischen Offensive mit regulären Truppen, die nun die Entscheidungsschlacht suchen. Nach diesem Muster hatte Nguyen Giap, der Militärführer der vietnamesischen KP, den ersten Vietnam-Krieg (1946–1954) gewonnen. Zwischen 1942 und 1953 hatten die Partisanen den größten Teil des Nordens unter ihre Kontrolle gebracht und die Franzosen auf die beiden größeren Städte (Hanoi, Haiphong) beschränkt. Der Versuch, die nun drohende Offensive dadurch zu vermeiden, dass man seinerseits den Krieg in das Hinterland des Partisanen trug, scheiterte katastrophal, als am 7. Mai 1954 die Urwaldfestung Dien Bien Phu kapitulierte. Frankreich hatte auf den technischen Faktor gesetzt, darauf, mit seinen Flugzeugen die Festung versorgen und die Angreifer wegbombardieren zu können. Giap hingegen setzte auf den Menschen als Masse (60 000 Vietminh gegen 16 000 Franzosen, Verluste: 25 000 Vietminh, 5500 Franzosen) und auf den Raum (Wälder, Gebirge, die nur zu Fuß begehbar waren). Diese Konstellation wiederholte sich ab 1958, als die Kommunisten im Süden des 1954 geteilten Landes mit dem Partisanenkrieg begannen. Auch hier folgte auf die Terrorphase die Phase der taktischen Offensive gegen die von den USA gestützte Regierung, die bald ohne massive militärische Unterstützung nicht mehr auskommen konnte. Aus den 685 Militärberatern von 1961 waren bereits sechs Jahre später 180 000 Soldaten geworden. Ein Jahr später kam es zum Übergang, zur strategischen Offensive, die nur knapp scheiterte. Die USA setzten auf ihre Feuerkraft: Flächenbombardements gegen den kommunistischen Norden, der die Partisanen massiv unterstützte, Artillerie- und Bombenbeschuss gegen mutmaßliche Stellungen der Partisanen, chemischer Krieg gegen den „Raum“, die Urwälder, in denen sie sich verbargen. Am Ende standen sogar Überlegungen eines Einsatzes taktischer Atomwaffen oder eines Atomschlags gegen Nordvietnam: Reflexe militärischer Verzweiflung, die wohl nur durch die Furcht vor einer Konfrontation mit der UdSSR und Rotchina nicht Realität geworden sind. Als diese letzte technologische Option

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versagte, gaben die USA den Krieg endgültig verloren. Die Reaktion Giaps hingegen folgte der Maxime, dass der Krieg wie das Wasser sei, welches gleichfalls keine feste, beständige Form besitze. So wechselte er mehrfach zwischen den Phasen des Partisanenkrieges, etwa 1946, als er wieder in die zweite Phase zurückkehrte, oder 1967. Partisanenkampf und regulärer, von der nordvietnamesischen Armee getragener Krieg mit regelrechten Schlachten oder monatelangen Belagerungen wechselten sich dabei ab. Der Vietkong versuchte, das flache Land unter seine militärische wie zivile Kontrolle zu bringen und dort alle Regierungsfunktionen auf sich zu beziehen, Rechtssprechung oder Schulerziehung so gut wie die Verteilung von Nahrungsmitteln oder die Gesundheitsfürsorge. Er versuchte damit, die Gewalt im Zivilen abzusichern, eine Art Symmetrie des Zivilen zu entwickeln, welche nicht nur seinen asymmetrischen Krieg in der Bevölkerung abstützte, über den Terror der Einschüchterung hinaus, sondern zugleich die amerikanischen Bemühungen um einen zivilen Aufbau und also eine Gewinnung der Bevölkerung ins Leere laufen zu lassen. Diese Flexibilität zwischen irregulärer und regulärer Kriegsführung verwirrte Franzosen wie Amerikaner. Das politische Element des Partisanenkrieges wurde bewusst negiert, ging es doch darum, die eigene politische Vormachtstellung in dem betreffenden Land durch Militäreinsatz zu erhalten, d. h. ein Stück „Fremdherrschaft“, und in diesem Zusammenhang das bestehende kollaborierende Regime zu verteidigen. Man führte also einen Bürgerkrieg, ohne ihn so zu nennen. Die Partisanen selbst wurden dabei wie reguläre Verbände bekämpft, wobei man darauf setzte, dass technologischer Exzess unvermeidlich den Sieg bringe. Wenn die Franzosen den Kampf im Norden verloren hatten, so nach amerikanische Einschätzung deshalb, weil sie nicht exzessiv Vernichtungstechnik hätten einsetzen können, vor allem Bomber und Hubschrauber zur Erhöhung der infanteristischen Mobilität auch in schwierigem Gelände. Das „Schwimmen“ der Partisanen im „Ozean“ der Bevölkerung wie die Negation des politischen Elements seines Kampfes ergänzten sich hier mit dem technologischen Blick des Militärs. Der seit 1965 in Vietnam kommandierende General Westmoreland suchte diese materielle Überlegenheit in einem war of attrition gegen den Vietcong wirksam zu machen (search and destroy). Mit ihm sollte das Partisanen-Prinzip des Zermürbungskrieges gegen diese selbst gewendet werden, durch möglichst exzessive Verlustraten (von 1:12–20). Gegen eine Diktatur, die von Menschen nur einen kollektiven Begriff besaß (was die Voraussetzung einer totalen Kriegsführung ist) und die zu exzessiven Menschenopfern bereit war (Nordvietnam verlor zweimal so viele Soldaten wie Japan während des Weltkriegs, bezogen auf seine Bevölkerung), musste eine Strategie des Ausblutens jedoch vergeblich bleiben. Zweites Glied in dieser nunmehr als Strategie begriffenen Partisanenbekämpfung sollte die dauerhafte Kontrolle von Gebieten sein, aus denen man die Partisanen vertrieben hatte, eine Aufgabe, die „kollaborierenden“ einheimischen Verbänden zugewiesen wurde (clear and hold). Im dritten zielte man auf die politische Infrastruktur der Partisanen, d. h. auf die Kader der Kommunistischen Partei, durch welche die zentrale Führung des Partisanenkrieges wie die Stabilität ihres disziplinarischen Zusammenhalts auch bei Niederlagen gewährleistet werden konnte (catch and kill). Die Führungskader sollten

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durch verdeckt operierende, vom US-Geheimdienst ausgebildete Kommandos ausgespäht und entweder gefangen gesetzt und als Informationsquellen benutzt oder liquidiert werden. Das hier angewandte Prinzip der Partisanenbekämpfung durch Kaderliquidierung hatten bereits die Franzosen in Vietnam umgesetzt, wie sie es auch in Algerien umsetzten. Der Spezialist in diesen Methoden, zu denen auch Folter und das Töten von Gefangenen gehörte, der einstige Résistance-Kämpfer und spätere General Paul-Louis Aussaresses, trainierte amerikanische „Raiders“ bzw. „Special Forces“ übrigens zwischen 1960–63 in den USA. Anstatt durch Wut geblendet die Zivilbevölkerung für vermutete Unterstützung der Partisanen zu massakrieren, anstatt zu versuchen, die Partisanen in Gefechten zu stellen und zu vernichten und jedes Mal quasi ins Wasser zu schlagen, schien die Vorstellung faszinierend, den Partisanen zu zerstören, indem man ihre Führungsgruppe beseitigte, die mit ihrer Autorität, ihrem Wissen, ihrer Kontrolle die Organisation erst hervorbrachte. War of attrition und Counter Insurgency, d. h. Bekämpfung des Partisanen mit seinen Mitteln, waren tatsächlich erfolgreich, gelang es doch weitgehend, den Vietcong auf die Anfangsphase des Partisanenkampfes, den lokalen Terror, zurückzudrängen. Das bedeutete zwar einen schweren Rückschlag, vermochte jedoch den Krieg nicht mit einem US-Sieg zu beenden. Die Verluste im Süden, an Kadern wie Kampfverbänden, konnten durch das kommunistische Nordvietnam ausgeglichen werden, wie die Großoffensiven der Jahre 1969, 1972 und 1975 zeigten. Kaum minder problematisch war, dass das Partisanen-Syndrom immer mehr amerikanische Soldaten erfasste, die „inmitten der Bevölkerung“ operierten, aus der heraus unvermutet Angreifer zuschlagen konnten. Ein Fog of War setzte sich in ihrem Bewusstsein fest, ein psychischer Zustand des im Nebel Herumtappens, in dem sich alles verwischte, das unterscheidende Wahrnehmen von Feinden und Unbeteiligten, von Recht und Unrecht, ein Zustand, in dem sich die Angst in die Hemmungslosigkeit der Tat katapultierte: in dem Dorf My Lai etwa, wo am 16. März 1968 nahezu alle Bewohner, 504 insgesamt, umgebracht wurden, und in etlichen anderen (mindestens sieben sind nachgewiesen). Die Veröffentlichung des Massakers in den USA im November des folgenden Jahres war eine Niederlage, ein symbolisches Dien Bien Phu, von der sich die USA nie wieder erholten: Die schlimmste aller Niederlagen im Partisanenkrieg, eine Niederlage an der „Heimatfront“. Trotz eines riesenhaften militärischen Aufwands – die USA setzten insgesamt 3,4 Millionen Soldaten ein, davon 1968 als dem Jahr mit der größten Truppenstärke 537 377 Soldaten, von denen allerdings nur ein Zehntel Kampftruppen waren, und sie warfen mehr Bomben ab als während des Zweiten Weltkriegs über Deutschland – gelang es nicht, den Feind zu vernichten (trotz einer Million toter kommunistischer Kämpfer, vier Millionen getöteter Zivilisten, 58 200 toter Amerikaner), so wenig es diesem gelungen war, die US-Verbände militärisch zu schlagen. Gewonnen wurde der Vietnam-Krieg „in der Zeit“ und also psychologisch und politisch, an der Heimatfront des Gegners in den USA. Am 29. April 1975 verließen die letzten Amerikaner fluchtartig das Land, nach 25 Jahren Krieg. Der Partisanenkrieg realisiert sich als eigene Kriegsform dadurch, dass er nicht – wie der konventionelle Krieg – auf die militärische Vernichtung des Gegners zielt, sondern

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auf seine politisch-psychologische Zermürbung. Als politischer Krieg realisiert er den Radikalismus der Utopie, der zwischen demjenigen, der die Wahrheit weiß, und dem gegenwärtigen Zustand allein die Gewalt zu erkennen vermag. Der Krieg als die Radikalität des Denkens wird zum Voluntarismus, zum „Fokus“, der wie ein Brennglas eine latent revolutionäre Situation entzündet bzw. der die noch unvollständigen Bedingungen einer sozialen Revolution ergänzt, wie das Ché Guevara formulierte.76 Indem eine kleine Schar revolutionärer Avantgardisten das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellt, untergräbt sie seine Autorität in der Bevölkerung. Unterstellt man nun marxistisch den Klassenkampf bzw. die Ausbeutung der Mehrheit durch eine Minderheit, so addiert der Fokus genau jene Momente zum Klassenkampf hinzu, die ihn zur sozialen Revolution explodieren lassen, nämlich die Denunziation des bestehenden Staates als nichts als Gewalt und den Nachweis, dass diese Gewalt zerbrochen werden kann.77 Im Konzept des Fokus verbindet sich dann die voluntaristische Interpretation des Marxismus mit dem einst von seinen Gründern so erbittert abgelehnten anarchistischen Willen zur Tat hier und jetzt, den Überzeugungen intellektualisierter Einzelner, durch ihre Entscheidung die Welt zu verändern, allem Reden von den „Massen“, den „campesinos“ zum Trotz. Der Beweis für die Richtigkeit des foco guerrillero, wie ihn der Erfolg Fidel Castros in Kuba zu liefern schien, und die voluntaristische Suggestion, die von ihm ausging, ließ ihn in den 1960er und 70er Jahren zum Handlungsmythos für Aktivisten werden, in Westeuropa wie Lateinamerika. In zwei Jahren, zwischen Dezember 1956 und Dezember 1958, hatten Castro, ein Rechtsanwalt, und Guevara, ein Arzt, mit einer kleinen Gruppe von Kämpfern (250, zuletzt 1000 Mann) die Macht über 7,5 Millionen Kubaner errungen, gegen eine Armee von 35 000 Soldaten und eine große Polizei. Das Regime des Diktators Batista, dessen einzige Logik in der durch Gewalt gestützten Korruption seiner Funktionsträger bestand, war noch in der frühen Phase des Partisanenkampfes zusammengebrochen. Es hatte weder einen „lange auszuhaltenden Krieg“ noch eine bäuerliche Erhebung noch eine Phase der Entscheidungsschlachten gegeben und auch keine die Bewegung mit ihren Kadern stabilisierende Partei. Der Versuch, den kubanischen Sonderfall als Modell zu „vielen Kubas“ zu verallgemeinern, scheiterte jedoch. Der Ende 1966 von Guevara in den Bergen Boliviens gebildete „Fokus“, aus Kubanern und bolivianischem „Lumpenproletariat“ (Guevara) zusammengesetzt, der im März des folgenden Jahres (47 Mann stark) erste Gefechte mit der Armee hatte, wurde bereits im Oktober zerschlagen. Guevara, der nach seiner Gefangennahme erschossen wurde, operierte in nahezu menschenleeren Gebieten und war auch taktisch ständig in der Defensive, d. h. auf der Flucht. Sein neues Konzept der Guerrilla: der Fokus als Kader unter Abgrenzung von der Partei, die durch ihn verursachte revolutionäre Erhebung der bäuerlichen Massen, blieb wirkungslos. Die Landbevölkerung verhielt sich gleichgültig und er war von Anfang an isoliert, auch von der bolivianischen Linken. Etwas erfolgreicher war das Fokus-Konzept in der etwa gleichzeitig einsetzenden Stadtguerilla, die Guevara zwar lediglich als Hilfstruppe einer auf dem flachen Land operierenden Partisanentruppe anerkennen wollte,78 die aber dem intellektuellen Voluntarismus dieses Konzepts am ehesten entsprach. Die bedeutendste dieser städtischen Gruppen, die

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in Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, operierenden Tupamaros, verharrte im terroristischen Stadium der Anschläge, Entführungen, Banküberfälle, Einzelmorde. Es gelang ihnen weder, Anschluss an die Arbeiterschaft zu finden, noch einen revolutionären Prozess zu „fokussieren“, selbst dann nicht, als das Militär eingriff und sie unterdrückte. Wie später in Westeuropa waren es Angehörige der intellektualisierten Mittelschichten, die als Aktivisten oder Sympathisanten „die Totenlieder mit Maschinengewehrsalven anzustimmen“ versuchten, damit „zwei, drei, viele Vietnam auf der Welt blühen würden“, wie es Guevara gefordert hatte, dessen mythisiertes Gesicht sie vor sich hertrugen. Betrachtet man die Geschichte des Partisanen im 20. Jahrhundert, so kann man zwei Grundlinien erkennen, die zwar ineinander übergehen können, aber doch in ihren Merkmalen zu unterscheiden sind, nämlich der Partisanenkampf als eigenständige Kriegsform oder als Weiterungsform eines konventionellen Krieges. Die epochalen Partisanenkriege in China und Vietnam etwa sind ohne ihre Einbindung in den Weltkrieg gegen Japan nicht wirklich zu verstehen, obgleich sie sich als vollständig politische Kriege über diese Weiterung hinaus fortgebildet haben. Bei den anderen, im Europa des Zweiten Weltkriegs stattfindenden Partisanenkämpfen war das nicht oder nur begrenzt der Fall. Die Unterscheidung von Kombattanten und Zivilisten wurde dabei ebenfalls zugunsten eines Konzepts totaler Kriegsführung aufgegeben, bei der jeder Bürger zum Kriegsteilnehmer werden sollte. Wer sich weigerte, war zu liquidieren. Nur durch Terror gegen die eigene Bevölkerung konnte der Partisan in ihr jene Kommando-Position erringen, von der aus effektiver Terror gegen die Besatzungsmacht auszuüben war. Das Ziel dieser Variante des Partisanenkampfes bestand dann darin, Teile der feindlichen Truppen auf Nebenkriegsschauplätzen zu binden, die dort ansonsten nach der militärischen Niederwerfung der regulären Armee hätten abgezogen werden können. Damit sollte die Militärkapazität des Gegners auf den eigentlichen Kriegsschauplätzen möglichst stark vermindert werden. Entsprechende Planungen wurden auch in Großbritannien vor 1939 angestellt und danach in umfassenden Projekten der Zusammenarbeit mit Widerstandsbewegungen im deutsch besetzten Europa verwirklicht. Für die politisch-militärische Führung Britanniens schien eine Doppelstrategie aus Luftkrieg gegen deutsche Städte und Guerrillakrieg in den besetzten Gebieten nach der Niederlage Frankreichs (1940) ideal zu sein, um gegen Deutschland „aus der Entfernung“ Krieg zu führen.79 Dem Feind sollte, wie bereits in Gneisenaus Konzept des „Volksaufstandes“ von 1811, nicht nur die Nutzung des besetzten Landes als Ressource unmöglich gemacht werden. Er sollte auch nach der Eroberung des Landes zur kräftezehrenden Fortführung des Krieges gezwungen werden. Und der Partisanenkampf sollte die fortdauernde Herrschaft der dort formal beseitigten Regierung gewährleisten, indem der Partisan sie weiterhin gewaltfähig hielt und die sie gefährdende Tendenz zur Kollaboration durch Terror unterband. Eben dies war auch die Absicht von Stalins Aufruf zum Partisanenkampf kurz nach dem deutschen Angriff. Am 3. 7. 1941 befahl er, „in den besetzten Gebieten unerträgliche Bedingungen für den Feind und seine Helfershelfer“ zu schaffen. Die strikte Organisation der Kommunistischen Partei, des NKWD, die Führungskader für die Partisanen bereitstellte und die Verbindung zwischen den besetzten Gebieten und den wei-

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terhin von der Regierung kontrollierten hielt, bildete einen Faktor des sowjetischen Erfolgs. Ein weiterer war die Unfähigkeit der Besatzer, die enorme Fläche des eroberten Gebietes wirkungsvoll zu kontrollieren, eines Gebietes, das in Wäldern und Sümpfen genug Rückzugsgebiete bot. Hier den Nachschub für die Fronttruppen zu sichern, wurde zu einer immer weniger bewältigten Herausforderung für die deutschen Truppen und also zur großen Chance der Partisanen. Hinzu kam der Terror der Partisanen, die mit Zwangsrekrutierung und Liquidierung ihre Kontrolle in der Bevölkerung durchsetzten. Im Mai 1942 wurde ein zentrales Kommando für den Partisanenkampf geschaffen. Ende 1942 gab es bereits über 94 000 Partisanen, Anfang 1944 beinahe 200 000. Neben Anschlägen gegen deutsche Truppen waren tatsächliche oder vermutete Sympathisanten und Kollaborateure das Ziel des Partisanenkampfes. „Antisowjetische Elemente“ wurden liquidiert, die Bevölkerung durch Terror gezwungen, die Partisanen zu versorgen. Die deutschen Maßnahmen der Erfassung von Zwangsarbeitern für die Rüstungsindustrie und der rücksichtslosen, pauschalen „Banditenbekämpfung“ nützte den Partisanen mehr als dass sie ihnen schadeten, trugen sie doch endgültig den Partisanenkrieg „inmitten der Bevölkerung“ aus. Unfähig ihres rassistischen Wahrnehmungsschemas wegen, das enorme Kollaborationspotential unter den Bevölkerungen der Sowjetunion auszunutzen, unfähig ihres linearen Militärschemas wegen, das Wesen des irregulären Krieges und seiner Bekämpfung zutreffend einzuschätzen, gelang es den deutschen Verbänden nicht, jenseits des Terrors eine Antwort zu finden, die politisch und para-militärisch zugleich hätte sein müssen. Deutsche Verluste von 300 000 Mann, Tausenden von Lokomotiven, Fahrzeugen, Brücken verweisen auf die Wirksamkeit der sowjetischen Partisanen, von ihrer operativen Bedeutung für den regulären Krieg ganz zu schweigen. Neben der sowjetischen Partisanenbewegung ist noch die jugoslawische von besonderem Interesse. Bis Vietnam und Kuba hat sie das Bild des Partisanenkrieges geprägt, vor allem, weil von ihr angenommen wurde, sie habe eigenständig die Vertreibung der deutschen Besatzung erreichen können. Doch ist auch der jugoslawische Partisanenkrieg lediglich ein Nebenkriegsschauplatz des großen Krieges gewesen, von dessen Ausgang sein Erfolg abhängig blieb. Zudem war der Krieg in Jugoslawien in erheblichem Maße ein Bürgerkrieg, zwischen dem Staatsvolk der Serben und den kroatischen und muslimischen Bevölkerungen, aber auch zwischen bürgerlichen Schichten und Kommunisten. Dem Führer der kommunistischen Partisanen, Josip Broz, genannt Tito, gelang es rasch, sich an die Spitze der Widerstandsbewegung zu setzen, indem er von Anfang an „in der Bevölkerung“ operierte, ohne Rücksicht auf Repressalien der Besatzer, bereit zur schonungslosen Liquidierung echter und definierter Gegner. Da die monarchistisch-bürgerliche Widerstandsbewegung der Tschetnicks vor einer derartigen Totalisierung der Gewalt zurückschreckte, wurde sie bald militärisch weniger wirksam und also für die Alliierten uninteressant. Dass die britische Regierung, die im Frühjahr 1941 Jugoslawien zum Krieg gegen die Achsenmächte gedrängt hatte, es keine zwei Jahre später dem Todfeind des Königtums und der bürgerlichen Gesellschaft überließ, hatte damit zu tun, dass man es stets als entlastenden Nebenkriegsschauplatz auffasste, 1941 wie 1943. Die hehren Ziele der Atlantik-Charta waren Phrasen, die

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man nur dort ernst nahm, wo es strategisch-politischen Sinn ergab, wie in Griechenland, wo man die zuerst unterstützten kommunistischen Partisanen nach 1945 zerschlug. Gleichwohl wäre auch die Partisanenbewegung Titos erfolglos geblieben, hätte nicht der militärische Zusammenbruch Italiens (8. September 1943), das zuvor die Hauptlast der Besatzung getragen hatte, und das damit verbundene Vorrücken der Alliierten in Italien sowie deren massive militärische Unterstützung die Tito-Verbände gerettet. Zudem hatte Titos Strategie, möglichst frühzeitig große Territorien zu kontrollieren, um dort ein kommunistisches System zu errichten, den Partisanenkampf auf die Raumverteidigung konzentriert, was den gegnerischen Truppen die Bekämpfung erleichterte. Das unterscheidet Titos Kriegsführung von der Maos, mit dem er aber die Kaderorganisation und die Priorität des Bürgerkriegs (gegenüber dem Befreiungskrieg) gemeinsam hat. Letzteres zeigt sich auch an der Bedenkenlosigkeit massakrierender Gewalt gegen die eigene Bevölkerung bzw. gegen jene davon, die als Feinde definiert worden waren, etwa die bei Kriegsende massenweise liquidierten „feindlichen Elemente“: 30 000 in Maribor allein, 400 000 Kroaten, 70 000 im serbischen Sandschak getötete Muslime,80 10 000 in Belgrad usf. Der Partisanenkrieg kann nur als totaler Krieg geführt werden und als solcher kennt er keinen Unterschied zwischen Kriegsführenden und Unbeteiligten. Für den Partisanen ist jeder ein Beteiligter, ein Unterstützer oder ein Verräter. Die Gefahr, dass der ihn bekämpfende Soldat das ebenso sieht, ist groß. Hatten die Haager Landkriegsordnungen von 1899 und 1907 noch eindeutig festgelegt, dass ausschließlich die Soldaten der regulären Armeen zu Kriegshandlungen berechtigt seien, hingegen die Zivilpersonen wie ihr Eigentum vor solchen Handlungen geschützt blieben, also Zivilisten solche Handlungen auch nicht vollziehen durften, so brach mit dem Partisanenkampf des Zweiten Weltkriegs diese Einhegung zusammen. Neben ihrer äußeren Unerkennbarkeit durch zivilistische Verkleidung war es vor allem, dass Partisanen keine Gefangenen machten bzw. diese beliebig liquidierten, was die Differenz zum regulären Soldaten zum Hassgefühl vertiefte. Partisanen besaßen folgerichtig keinen Schutz durch das Kriegsvölkerrecht, dessen Regeln sie nicht beachteten, und auch die Geiselnahme wie deren Hinrichtung als Abschreckung galt als zulässig. Die Landkriegsordnung sollte, indem sie inmitten des Krieges den Frieden zu schützen suchte, zugleich die bürgerliche Gesellschaft schützen und eben sie zu vernichten war das Ziel des Partisanen, des Parteigängers der Partei. Dass durch die Partisanen mehr „Verräter und nicht willfährige Elemente rücksichtslos vernichtet“ wurden81 als durch die Besatzer Zivilpersonen des besetzten Landes, insbesondere am Ende des Krieges, aus Rache oder weil man sie für potentielle Gegner hielt, gehört in diesen Zusammenhang. Wenn der Partisanenkampf mit terroristischer Gewalt beginnt, so endet er auch in ihr. Blieb er Nebenkrieg im Großen Krieg, gebot man dieser Gewalt in den für die Westalliierten strategischen Ländern, in Griechenland, Italien, Frankreich, frühzeitig Einhalt. Der Schritt „von der Résistance zur Revolution“ misslang, weil der Partisanenkrieg selbst nur sekundärer Krieg, Nebenkriegsschauplatz, geblieben war. Seine militärische Bedeutung für den Sieg im großen Krieg war begrenzt und wurde nie entscheidend. Seine politische Bedeutung hingegen hat nachhaltig gewirkt, im Mythos der eigenständigen Befrei-

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ung, zumindest eines nationalen Widerstands des „ganzen Volkes“ gegen den fremden Besatzer, der zur Grundlage des politischen Selbstverständnisses aller im Zweiten Weltkrieg besetzten Staaten geworden ist und der erst in den letzten Jahren Risse in seiner moralischen Eindeutigkeit erhalten hat. Diese moralische Eindeutigkeit, wie sie dem Partisanen in den anti-nazistischen Aktionen des Weltkrieges, dann in den anti-kolonialistischen Aktionen des Weltbürgerkrieges zugewachsen ist, mündete dann folgerichtig in die Zuerkennung des Kombattanten-Status an Partisanen durch eine entsprechende Ergänzung der Genfer Konventionen (1977). Es wird darauf verzichtet, dass ein Kombattant Angehöriger der regulären Streitkräfte eines Staates sein muss. Jeder Zivilist besitzt nunmehr das Recht, gegen eine Besatzungsmacht zu kämpfen, wobei die einzige Bedingung darin bestehen soll, dass er unmittelbar vor Beginn seines Angriffs die Waffen offen trägt. Als Ziel galt die Zivilisierung auch asymmetrischer Kriege, bei denen der Schwächere nur dann kampffähig wird, wenn er die Regeln symmetrischer Kriegsführung missachtet. Dass diese Absicht verwirklicht worden ist, kann jedoch bezweifelt werden. So haben weder Sowjetrussen noch US-Amerikaner in ihren Afghanistan-Kriegen die islamistischen Partisanen als Kombattanten anerkannt. Die Asymmetrie in der Kampfführung, in welcher der Partisan durch ein irreguläres Kämpfen einen Vorteil erringt, soll von Seiten der regulären Truppen durch die Asymmetrie der technologischen Überlegenheit niedergekämpft werden. Das anonyme, quantitative Töten über moderne Fernwaffen, gerichtet gegen gemutmaßte Terrorkämpfer hat längst die Geiselerschießungen abgelöst und die Konstruktion der „Enemy Combatants“ hat eine Gruppe von Feindpersonen entstehen lassen, die gerade nicht vom Kriegsvölkerrecht geschützt wird. Die Errichtung eines Verhörlagers im rechtsfreien Raum des USStützpunkts Guantanamo, die Anwendung von Foltermethoden, die Weigerung, den Widerstand im Irak, in Afghanistan, in Palästina völkerrechtlich anzuerkennen, verweist darauf, dass Rechtsnormen in ihrer Realisierung vom Macht-, genauer vom Gewaltzustand abhängen, der jeweils herrscht. Vielleicht verweist er auch darauf, dass in einem asymmetrischen Krieg eine Asymmetrie der rechtlichen Normen unumgänglich ist oder dass überhaupt bei einem totalen Krieg, gleich welcher Art, jede Normativität von Recht oder Moral zur Phrase wird.

Der Neue Krieg Die Auffassung des Krieges als bewaffneter Auseinandersetzung zwischen Staaten ist Bestandteil der modernen Gewalt, wie sie sich vor allem im 17. und 18. Jahrhundert herausgebildet hat. Sie ist an die Entstehung des „Staates“ gebunden, d. h. einer politischen Ordnungsform, in der die Herrschaft sich das Monopol auf legitime Gewaltausübung gesichert hat. Die Garanten dieses Monopols sind das Rechtswesen und das stehende Heer sowie deren fiskalische Basis in Form einer geordneten Steuereinhebung. Die Garanten der Legitimität sind die Anerkennung der Autorität des bestehenden Herrschaftsgefü-

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ges durch die Mehrheit der Bevölkerung, die Respektierung der Rechtsordnung durch die politisch Herrschenden sowie ihre Fähigkeit, das Gewaltmonopol aufrechtzuerhalten. Brechen diese Garanten weg, kommt es zum Krieg „inmitten der Bevölkerung“, zu den ineinander übergehenden Formen des Bürgerkriegs, der Revolution, des Partisanenkriegs. Die Revolution bildet dabei das Drehmoment des „inneren Krieges“, realisiert sie doch einen Grundzug moderner Gewalt, dass nämlich die Gewalt „dem Volk“ gegeben worden ist. Das Volk ist selbst „Souverän“ geworden, es hat den alten (fürstlichen) Souverän ersetzt, der seine Legitimität aus der Tradition herleitete, d. h. aus der langen Dauer ihres Bestehens, die als Zeichen göttlicher Zustimmung angesehen wurde. Alle Gewalt gilt demnach in der Moderne als delegierte Gewalt, organisiert im Gehäuse des Staates. Damit änderte sich zugleich die Weise ihrer Rechtfertigung. Sie hörte auf, ein „Geheimnis“ der Herrschenden zu sein, ihr wichtigstes. Sie wurde öffentlich, diskursiv. War vordem Gott der letzte Bezugspunkt, so wurde es nun der Mensch, ein bestimmter Mensch, in den jeweiligen Mittelpunkt gesetzt durch seine Nationalität, Kulturzugehörigkeit, Klasse oder Rasse. Aus der theozentrischen Religion wurde die anthropozentrische Ideologie. Gewalt wurde von nun an ideologisch begründet. Fiel die Gewalt in die Gesellschaft zurück, in Bürgerkrieg und Revolution, so kam es stets wieder zur Auferstehung des „Leviathan“, d. h. zur Rekonstruktion des gewaltmonopolistischen Staates. Gab es Krieg, so blieb er Gewalt zwischen Staaten, immer wieder in Regularien gefasst, völkerrechtlich umschrieben, von regulären Armeen ausgeführt. Erst in und seit den 1940er Jahren begann dieses Schema brüchig zu werden. Die Totalisierung der Gewalt drohte die Regularien des Krieges auszuhöhlen, allen Kriegsverbrecher-Prozessen und völkerrechtlichen Abkommen zum Trotz. Flächenbombardement, Atombombe, Partisanenkampf ließen Szenarien einer Gewalt entstehen, die sich dem Szenarium des regulären Krieges und seinem geistigen Kern entzogen, nämlich ein Mittel der Politik zu sein. Die Frage ist nun, ob die Phase der regularisierten Gewalt an ein Ende gekommen ist und ob überhaupt der modernen Form von Gewalt ein Strukturwandel bevorstehen könnte, ob es also einen „Neuen Krieg“ geben wird, in dem die Unterscheidung von innerem und äußerem Krieg verschwindet, ebenso der moderne Staat als Hüter und Herr der Gewalt und letztlich auch die Ideologie.82 Die im letzten Jahrzehnt intensiv gewordene Debatte um den „Neuen Krieg“ als den „Krieg der Zukunft“ beschäftigt sich demgemäß zugleich mit der Frage, inwieweit Krieg noch mit Clausewitz als Fortsetzung des „politischen Verkehrs mit anderen Mitteln“ aufzufassen ist. Diese Kriege seien, so die Folgerung, weder politisch noch militärisch in den Begriffen der vergangenen drei Jahrhunderte zu fassen. Sie bestünden aus einer lange hingestreckten Abfolge von schwelbrandartigen Gewalttaten und es seien innerstaatliche Konflikte, keine Kriege zwischen Staaten, deren Stabilität sich gerade in ihrer Fähigkeit zur Kriegsführung und zur Massenmobilisierung zeige. Offenkundig findet diese Gewalt inmitten der Bevölkerung statt, unterscheidet sich allerdings vom Bürgerund Partisanenkrieg durch die Bedeutungslosigkeit des weltanschaulichen Motivs. Nicht eine Ideologie integriert, bildet Kader, nicht Klassengegensätze werden militarisiert, auch von einem nationalen Befreiungskampf gegen fremde Besatzer kann nicht die Rede sein.

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Traditional integrierte Gruppen (Clans, Warlords, Banden) kämpfen gegeneinander um die Kontrolle von Territorium und Ressourcen und sie tun das in staatlichen Gebilden ohne „Staat“ und „Nation“, d. h. ohne durchsetzbares Gewaltmonopol und ohne kollektive Identität als Volk, das zusammengehört. Daher gibt es auch keine Rücksichtnahme auf Mitbürger, die nicht dieselbe traditionale Identität teilen. Sie sind fremder als die offenkundig, formal Fremden, die Ausländer. Man liquidiert sie gleichgültig, nicht ideologisch, nicht emphatisch, einfach nur so. Die hier sich äußernde Gewalt kennt keine Regeln „nach außen“, dem Gegner gegenüber, was sie von der kriegerischen unterscheidet. Sie ist marodierende Gewalt geworden, in der sich die Stärkeren dadurch selbst selektieren, indem sie nicht nur überleben, sondern plündern, rauben, und es wichtig ist, sich ihnen möglichst anzuschließen. Im Plündern, Vergewaltigen, Massakrieren realisiert sich der stets vorläufige Sieg, was die Unabschließbarkeit dieser Gewalttätigkeit bewirkt, es sei denn, eine von außen kommende radikal überlegene, radikal entschlossene militärische Gewalt würde sie eliminieren. In den von marodierender Gewalt durchdrungenen Ländern gibt es keine staatliche Autorität und keine staatliche Gewaltkompetenz mehr. Das „reguläre“ Militär bzw. die Polizei sind selbst kriminelle Banden geworden und kämpfen um ihr Fragment Gewalt mit anderen, Söldnern, Kriegsherren, Paramilitärs, Clangruppen darum, ihr Fragment in möglichst viel Raub, Korruption, „Kriegsökonomie“ umzusetzen. „Endlos“ wird dieser marodierende Quasi-Krieg deshalb, weil er nicht dem Mao-Prinzip folgt, d. h. aus dem Partisanenkampf in den Krieg regulärer Verbände fortgebildet wird. Er kann das deshalb nicht, weil er kein politisches Prinzip besitzt. Das Mao-Prinzip ist zugleich ein politisches Prinzip, das Gewalt auf den Staat hin ausrichtet, den man erobern und revolutionär neu ordnen will. Gewalt, Raub, Zerstörung, Liquidierung, Angst sind Mittel zum Zweck und die Sorge des Partisanenführers gilt ebenso der Ausübung dieser Brutalität wie ihrer Kommandierbarkeit. Erst sie ermöglicht die Wiederherstellung von staatlicher Ordnung, wie terroristisch oder despotisch sie auch sein mag. Die marodierende Gewalt hingegen hat nicht einmal den Übergang in die Organisations- und Bewusstseinsform des Partisanenkampfes gefunden. Sie bleibt demnach unfähig, „Regularität“ auszubilden und eine disziplinierte Armee zu formen. Eine solche Armee jedoch ist im Zustand des Staatszerfalls eine Grundlage der Neugewinnung von „Recht und Ordnung“. Fällt die Gewalt in eine Art von Sozialbanditentum zurück, in dem verschiedene Banden um knappe Ressourcen kämpfen, inmitten einer Bevölkerung, die nur noch Gefechtsfeld und Ausbeutungsobjekt ist, weil es einen Staat, der dieser Bevölkerung den Frieden sichert, nicht gibt? Erhält die These Lin Piaos von der Weltrevolution als Partisanenkrieg der „ländlichen Gebiete der Welt“ gegen die „Städte der Welt“ im Zeichen der Globalisierung als „Übervölkerungskrieg“ neue Brisanz? Versucht man nun das Spektrum der vermuteten Möglichkeiten zu sichten, so ergeben sich drei Hauptlinien. Dabei wird das Argument von den „Neuen Kriegen“ insofern übernommen, als ein großer, symmetrischer Krieg zwischen technologisch hochgerüsteten Staaten, nach Art der Weltkriege, als wenig wahrscheinlich erscheinen mag. Das heißt allerdings nicht, dass es keine Kriege „alter Art“ zwischen Staaten mehr geben könnte oder

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dass der Einsatz atomarer Waffen unmöglich wäre. Hier ist nicht mehr die Rivalität zweier Supermächte das Problem, sondern die zunehmende Verbreitung solcher Waffen in Konfliktstaaten der „Dritten Welt“ (Israel/Iran, Indien/Pakistan, Nordkorea). Auch konventionelle Kriege wird es in solchen Zonen weiterhin geben, wobei allerdings der zweite Krieg der USA gegen den Irak gezeigt hat, dass solche Kriege bei derart extremer technologischer Ungleichheit nicht nur militärisch sinnlos sind, sondern auch politisch keinen Sinn ergeben – den ergäben sie nur, wenn man sie zum „lange auszuhaltenden Krieg“ dehnen könnte, und das ist lediglich unter den Bedingungen des Partisanenkampfes möglich, wie die Gewalt im Irak und in Afghanistan zeigt. Klammert man also die begrenzte Möglichkeit solch gewöhnlicher Kriege ein, so verbleiben die drei Hauptlinien gewaltsamer Auseinandersetzungen, nämlich die sozusagen staatenlosen Kriege bzw. die inneren Kriege in failed states, sodann die Religionskriege bzw. die Erneuerung „theozentrischer“ Gewalt in einem globalen Jihad, schließlich die Klimakriege bzw. das Zusammentreffen von demografischer Explosion und Klimawandel in Afrika und vielen Ländern Asiens, als Kampf um das Wasser, als Migrationsdruck auf die reicheren Staaten Europas, Nordamerikas, aber z. B. auch Südafrikas. Konflikte innerhalb kollabierender Staaten kann man gleichfalls nach drei Gesichtspunkten unterscheiden, was die Kompaktheit „Neuer Kriege“ weiter differenziert. Neben der marodierenden Gewalt des banditischen „Krieges“, in dem es keine Strukturen regulärer (Armee) oder pararegulärer (Partisan) Einheiten mehr gibt und die nur noch Gewalttätigkeit als Raub-„Ökonomie“ betreiben, daher auch nicht von selbst an ein Friedensende kommen können, gibt es noch die bekannten Formen des Kriegs zwischen regulären und pararegulären Verbänden sowie den Genozidkonflikt. Der „regularisierte“ Bürgerkrieg, in dem eine Armee gegen Partisanen kämpft, ist anders als der banditische stets zugleich ideologisch formuliert, meist marxistisch-sozialistisch, und er besitzt eine Partei mit Kadern als organisatorischem Kern. Sein Ziel ist politisch, nämlich die Erringung der Macht, die Reorganisation des Staates. Bei Genozidkonflikten unterstützt die Staatsmacht eine ethnische Säuberung, die in der entfesselten Gewalt marodierender Banden und im Massenmord an den jeweiligen „Fremden unter uns“ kulminiert. Die langfristige Voraussetzung besteht in traditionellen Gegensätzen und zunehmender Verknappung der lebenswichtigen Ressourcen (Land, Wasser). Beispiele für die banditische Variante an der Wende zum 21. Jahrhundert wären Somalia, Kongo, Sierra Leone, für die regularisierende Variante die Konflikte in Äthiopien (seit dem Sturz der Monarchie, 1974), für den Genozid Ruanda und Darfur. Im Zentrum der Überlegungen zu einem in der Gegenwart ablaufenden Strukturwandel der Gewalt, von einer regularisierten, modernen Gewalt zu einer vielfältig gebrochenen postmodernen Gewalt, steht das Staatsversagen, also die Unfähigkeit des Staates, den inneren Frieden zu wahren. Im extremen Fall hat sich das Politische aufgelöst. Der formale Staat ist zur Hülle geworden, ohne Autorität und Gewaltmonopol, und was er als Gewalt noch zu besitzen scheint, ist allein die separate Gewaltfähigkeit einer Clique, die sich seines Skeletts bemächtigt hat. In einem gemäßigten Fall ist der Staat zwar politisch noch vorhanden, aber durch Korruption und organisierte Kriminalität in seiner Friedens-

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fähigkeit nachhaltig eingeschränkt. Nun wird dabei allerdings vom westlichen Modell des Staates ausgegangen, der sich von der Gesellschaft – prinzipiell zumindest – getrennt und eigene Institutionen ausgebildet hat, als Bürokratie, Rechtspflege, Militär. Eben diese Entwicklungslinie jedoch fehlt den fragilen Staatsgebilden in jenen Ländern, denen das westliche Staatsmodell kolonialistisch aufgezwungen worden ist. Hier bringt der Staatszerfall zunächst nur den Zerfall einer Zwangsordnung mit sich, mit der die Fremdherrschaft die einheimische Gesellschaft in Unterwerfung zu halten suchte. Mit ihrer postkolonialen Rückkehr zur Herrschaft zerfallen die kolonialstaatlichen, horizontalen Trennlinien und es bilden sich erneut vertikale Bezüge aus, als patrimonialer Klientelismus, in dem sich Politiker, Militärs, Beamte nicht als Vertreter eines größeren Staates begreifen, sondern als Vertreter enger Gruppeninteressen, ihres Stammes, ihrer Region, ihrer Religion. Das den Einzelnen Übergreifende ist seine Herkunftsgruppe, sie allein trägt ihn, ihr muss er dienen, sie verschafft ihm Identität. So wenig sich der Staat von der Gesellschaft getrennt hat, so wenig hat sich die Politik in ihr organisiert, so sehr ist sie ein Bündel aus Gesellschaften geblieben. Auch Parteien und Parteiungen, sind um traditionelle Gruppen gebildete Interessenverbände, deren einziger „politischer“ Zweck in der ökonomischen Ausbeutung des Landes bzw. der staatlichen Machtmittel für die eigenen Klientelinteressen besteht. Politische Auseinandersetzungen sind in allen Ländern und zu allen Zeiten ganz wesentlich Auseinandersetzungen um ökonomische Interessen gewesen: um Pfründen für die Wortführer, wirtschaftliche Vorteile für ihre Unterstützer. Entscheidend blieb, dass sie nicht in Gewalt eskalierten. Die horizontale Scheidung von Staat und „Gesellschaften“, der Ausbau der sozialen Sicherung, die relative Entfernung der Eliten von ihren Herkunftsgruppen, nicht zuletzt die Verlagerung des ökonomischen Interesses auf die soziale Sphäre im Kapitalismus reduzierten den patrimonialen Klientelismus und setzten den Wettbewerb in einem expandierenden – ökonomischen wie politischen – Markt an seine Stelle. Dieser historisch gewachsene Unterbau der modernen Staatenbildung ist aber in den failed states nicht vorhanden. Was dort kollabierte, war die von außen aufgezwungene Staatshülle, die nur bestand, solange sie in überlegener Weise gewaltfähig blieb, und deren fetzenhafte Autorität allein die geliehene kollaborierender Häuptlinge und Fürsten war. Die koloniale Eroberung hatte sich zumeist auf Pazifierung durch erzwungene Kollaboration beschränkt, in klassisch gewordener Form in den islamischen Fürstentümern des nördlichen Nigeria (1897). Lediglich in den für eine weiße Besiedelung vorgesehenen Gebieten bestanden die Kolonialmächte auf einem quasi-staatlichen Gewaltmonopol, d. h. auf der Entwaffnung der einheimischen Völker, die ohne massive koloniale Gewalt nicht durchzusetzen war (Algerien, Südafrika, Kenia, Südrhodesien, Südwestafrika). Die meist schwache koloniale Struktur, deren Wesen in der Gewaltfähigkeit bestand, verfestigte sich folgerichtig allein im Militär, das nahezu ausschließlich aus einheimischen Männern rekrutiert wurde und als einzige staatliche Institution auch nach dem Abzug der Kolonialmacht durchsetzungsfähig blieb. Die Rolle des Militärs in den fragilen postkolonialen Staaten war daher ebenso folgerichtig wie notwendig. Das Problem dabei ist aber die damit unvermeidlich gewordene Korrumpierung der Armeen durch den Zugang zur politi-

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schen Macht und deren skrupellose Nutzung als Ressource. Wo der Staat in seinem Überleben von Gewalt abhängt, d. h. hier von der Armee, die ihm – bzw. seinen nominellen Führern – bloß so lange gehorcht, als sie ihn ausplündern kann, lösen sich beide auf. Der Staat verliert seine Friedenskraft, die Armee ihre Disziplin. Und wo der Staat nur noch durch eine unkontrollierbare Militärgewalt regiert, wird sich jede Opposition gleichfalls bewaffnen. Hinzu kommt, dass sich die Immunschwäche-Krankheit Aids in Schwarzafrika, und dort wiederum in den Armeen, rasant ausbreitet: Einer Schätzung aus dem Jahr 2003 zufolge sind zwischen 50% (Südafrika) und 80% (Zimbabwe) der Soldaten mit HIV infiziert. Sie benutzen ihre Krankheit oft als biologische Waffe gegen den Feind, etwa im Kongo, wo die Vergewaltigung von Frauen des Feindes auch dazu dienen sollte, sie und ihre Kinder zu infizieren. Zugleich lässt Aids die letzten Hemmschwellen der ohnehin nur begrenzt disziplinierten Truppen weiter sinken. Der Zerfall der Armeen durch Aids beschleunigt noch den Zerfall des Staates, dessen letzte „regulären“ Reste sie sind. Ihre militärische Effizienz ist ohnehin minimal geworden, wie die Einsätze afrikanischer Armeen gegen innere Gegner wie als UN-Friedenstruppen gezeigt haben. In den heute vom Staatszerfall bedrohten Ländern blieben die einheimischen Ethnien in der Regel gewaltfähig und nicht selten gewalttätig. Nur dort, wo eigene Traditionslinien stark genug waren, um eine moderne Staatlichkeit zu stützen, wuchs diese über koloniale bzw. proto-koloniale Hülsen hinaus, wie in der Türkei und Marokko, in Ägypten, Südafrika, in China, Japan, Vietnam, Korea, schließlich auch in Lateinamerika. Wo hingegen solche Linien gänzlich fehlten, löste sich die staatliche Hülse in kämpfende Ethnien auf, wie in den meisten Ländern Schwarzafrikas, wie in Afghanistan. In ihnen ist das Phänomen des „Neuen Krieges“ anzusiedeln, der dann nichts anderes wäre als der traditionelle Konflikt rivalisierender Stammesverbände um Ressourcen, nur dass nun, beginnend mit der Entkolonialisierung seit den 1960er Jahren, der postkoloniale Staatsapparat und die ökonomischen Effekte der Globalisierung den Ressourcenpool nachhaltig ausgeweitet haben. Hier besteht zwischen krimineller und kriegerischer Gewalt kein wesentlicher Unterschied, geht es doch in beiden Fällen um die gewaltsame Aneignung von Gütern zum partikularen Nutzen einiger weniger, deren einziger „Rechtsgrund“ in ihrer überlegenen Gewaltfähigkeit besteht. Die durch die Globalisierung eröffnete Möglichkeit, auf dem Weltmarkt gesuchte mineralische Ressourcen, wie Gold, Diamanten, Erdöl, Kupfer, an sich zu bringen und zu verkaufen, verlängern diese banditischen Kriege weit über das hinaus, was in einer Agrargesellschaft möglich gewesen wäre.83 Die Beteiligten führen einen Bürgerkrieg um der Bereicherung, der Ressourcen-Plünderung willen und sie führen ihn „inmitten der Bevölkerung“. Diente dabei der Terror im politischen Partisanenkampf noch primär der ersten Einnistung in eine von der Regierung domestizierte Bevölkerung durch demonstrative Eliminierung von „Kollaborateuren“, dann der Stabilisierung der eigenen Herrschaft „aus dem Untergrund“ gegen die auf der Oberfläche herrschende Staatsmacht mit dem Ziel einer eigenen Staatsgründung, so bleibt die banditische, plündernde Gewalt durchgehend terroristisch. Die Zustimmung der Bevölkerung ist ihr gleichgültig. Sie herrscht allein durch Angst und eigene Bereicherung, denn sie besitzt kein politisches

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Ziel, zu dessen Verwirklichung sie die Unterstützung der Bevölkerung bräuchte. Die zum Gegenstand willkürlicher Gewalt skelettierte wehrlose Bevölkerung befriedigt die Nahrungs-, Sexual- und Herrschaftsbedürfnisse derer, die ein Kalaschnikow-Schnellfeuergewehr in Händen halten, eine Waffe, die alles haben kann, was sie will – es sei denn, ihr wird eine andere entgegengehalten. Die Faszination, welche vom Bewaffneten unter Wehrlosen ausgeht, die Faszination wie ihre ökonomischen Effekte reichen für viele hin, um das Gewehr in die Hand nehmen, Kinder, Jugendliche vor allem, denen der Tod nichts bedeutet und die sich von der Gewalt faszinieren lassen.84 Zwar verbieten zahlreiche internationale Vereinbarungen den Kriegseinsatz von Kindern unter 15 Jahren, so die Genfer Konvention von 1949, die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 oder die Afrikanische Kinderrechtscharta der OAU, doch blieben diese Verbote in Ländern ohne staatliche Rechtsstrukturen wirkungslos. Schätzungen der UNICEF von 2002 zufolge gibt es weltweit rund 250 000 Kindersoldaten, die meisten davon in Afrika. Bei 40 Millionen AidsWaisen im subsaharischen Afrika und einem exzessiven Bevölkerungswachstum gerade in den ärmsten Regionen ist das Rekrutieren sozial verlorener Menschen ebenso einfach wie die Vernichtung von Menschen. Länder mit schwachen Staatsstrukturen weisen daher einen sehr hohen Anteil junger Menschen unter 15 Jahren an der Gesamtbevölkerung auf, zwischen einem Drittel und der Hälfte. Das heißt, es gibt dort sehr viele junge Männer, und da diese Gesellschaften meist aus patriarchalisch geordneten Sippenverbänden bestehen, dominiert ein maskulin bestimmtes Verhaltensmuster, in dem die Gewalt positiv besetzt ist. Diese zu domestizieren ist stets die wesentliche Funktion der patriarchalischen Autorität gewesen, die allerdings immer im Krieg ein Ventil gefunden hat, welcher jenen Teil des Gewaltappetits auf Feinde und Beute ablenkte, der in der Sippe nicht zu kontrollieren war, von den Klientelverbänden Roms über die Clanverbände der schottischen Highlands bis zu den Stammesverbänden Dahomeys oder Afghanistans. Im Westen erfolgte diese Ablenkung durch die Disziplinmechanismen der Wehrpflicht und der Industriearbeit, um sich mit der einsetzenden Überalterung weitgehend zu erledigen. Wo sich diese Mechanismen auflösen bzw. nicht durch neue ersetzt werden, entsteht ein kaum auszuschöpfendes Potential gewaltbereiter Jugendlicher, die für jede Aussicht auf Beute zu aktivieren sind. Staatszerfall und Armeezerfall ergänzen sich. Beide, Staat wie Armee, stützen sich gegenseitig durch eine verbindende Struktur der Regularität: Die Disziplin der Truppe stützt sich auf die bürokratische Regularität des Staates, diese wiederum wird durch die militärische Disziplin „im Letzten“ abgesichert. Und das Ethos des „Staatsdienstes“ wechselwirkt mit dem militärischen Ethos als Pflichterfüllung und Regelbeachtung in einem hierarchischen Gefüge. Je unsichtbarer die das Gewaltmonopol gründende Armee wird, je mehr es der Staat durch die schwache Gewalt von Polizei und Justiz auszuüben vermag, desto stabiler ist er, weil er seine Friedensfunktion weitgehend über seine Autorität verwirklichen kann. Das Extrem der Tötungsgewalt, wie es das Militär kennzeichnet, bleibt dann Extrem des Notstands. In den zerfallenen Staaten hingegen wird es zur Normalität. Es kommt dort nicht zur Durchsetzung einer höheren, alle anderen entwaffnenden Gewalt, vielmehr

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verlängert sich die Gewalttätigkeit über Jahrzehnte hinweg, wie in Angola, Kongo oder Somalia. Die massenweise Verwendung leichter Waffen (Schnellfeuergewehre, Mörser), die billig zu haben sind und keine militärische Ausbildung und Disziplinierung erforderlich machen, die Finanzierung der Gewalt durch Ausplünderung der Bevölkerung und humanitärer Hilfswerke und die Verschleuderung heimischer Ressourcen sind demnach die Elemente des Neuen Krieges85 als eines primär banditischen Unternehmens. Es rekrutiert jene, die sozial nicht mehr integriert sind. In diesem Aspekt liegt eine der Möglichkeiten, dass diese Kriege auch zu Gefahren für die gefestigten Staaten werden. Eine Parallelgesellschaft aus Migranten, dazu eine nachhaltige Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und eine sich rasch ausweitende Schere zwischen Arm und Reich könnte durchaus eine Situation ausbilden, in denen arbeitslose, nie durch Arbeit disziplinierte Jugendbanden jene für das Sozialbanditentum kennzeichnende „schwelende“ Gewalt realisieren und so bei einem Zerfall der zivilen Friedensfunktionen des regulären Staates ( Justiz, Polizei, soziale Sicherung) zur Militarisierung und zum inneren Krieg führen. In den meisten Staaten Lateinamerikas sind banditische Parallelherrschaften entstanden, die aus Drogenhandel, Raub, Erpressung, Prostitution enorme Gewinne ziehen, eigene Territorien organisieren, meist in den wuchernden Armenvierteln der Megastädte, und jedem staatlichen Zugriff mit bewaffneter Gewalt begegnen, dem nur noch durch den Einsatz der Armee halbwegs begegnet werden kann, wie in Brasilien, Kolumbien, Mexico. Über – häufig illegale – Zuwanderer greift diese banditische Gewalt auch auf andere Städte über, wie Los Angeles. Die Formen des städtischen Bandenkriegs ähneln denen der Stadtguerilla, der die Unübersichtlichkeit der Riesenstädte als Möglichkeit des Untertauchens dient und die extreme Abhängigkeit städtischen Lebens von einer funktionierenden Infrastruktur als „weiche Ziele“ nutzt, die mit großer Wirkung bei geringem Einsatz getroffen werden können. Kollabierende Großstädte könnten daher in noch stabilen Staaten durchaus das Muster von „failing states“ wiederholen und die ganze Gesellschaft in den Abgrund ziehen. Direkte Auswirkungen solch Neuer Kriege auf die modernen Staaten hingegen bestünden in Flüchtlingsströmen, im Problem des Drogenhandels und der organisierten Kriminalität sowie in den Rückzugsräumen für den internationalen Terrorismus, der auf diese Weise entsteht.86 Ende des Jahres 2008 gab es weltweit über 20 Länder, mit rund 880 Millionen Einwohnern, die der Gruppe der sich staatlich auflösenden failing states bzw. der bereits zerfallenen failed states zugerechnet wurden. Was dort noch an staatlichen Resten vorhanden bleibt, ist häufig nur das prekäre Resultat ausländischer Intervention, durch Truppen eines anderen Staates (Äthiopiens in Somalia, Amerikas in Afghanistan, Frankreichs im Tschad) oder der UN-Friedensmission (Kongo, Zentralafrika, Liberia). Die UN-Missionen sind in den letzten Jahrzehnten stetig angestiegen und fast alle gescheitert. Dem Staatszerfall ist eine Wucherung privatisierter Gewalt gefolgt, die eine Raubökonomie in Gang gesetzt hat, welche die betroffenen Länder nur noch tiefer in die Armut stürzt. Zwischen 1990 und 2001 gab es in 45 Ländern 57 schwere Konflikte, meist in Afrika, von denen 11 acht oder mehr Jahre andauerten. Von den weltweit 20 ärmsten Ländern waren 2001 16 in solche Konflikte verwickelt, in Bürgerkriege meist banditischen

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Charakters. Ihre Kosten wurden auf 128 Milliarden Dollar geschätzt. Millionen Menschen starben, 16 Millionen flohen. Einer Studie aus dem Jahr 2005 zufolge blieben acht von zehn „humanitäre Interventionen“ ohne jeden Erfolg, zum Teil verschlimmerten sie noch die Lage. Ausländische Hilfe trug erst dann zum politischen und wirtschaftlichen Aufbau bei, wenn in den betreffenden Ländern bereits ein einheimischer Stabilitätskern entstanden war, d. h. wenn sich dort der Ansatz eines „Politischen“ gebildet hatte, in dem die überlegene Gewaltfähigkeit einer Gruppe sich eine Autorität hatte erwerben können, die den Gruppenegoismus übergriff und an Werte appellierte, denen eine Mehrheit folgen konnte. Dass dabei westliche Maximen wie Demokratie und Menschenrechte nicht in der Weise durchsetzbar sind, wie das erwartet wird, ergibt sich unvermeidlich aus den unterschiedlichen Geschichtslinien unterschiedlicher Länder und ist durch interventionistische, „humanitäre“ Gewalt gerade nicht zu beseitigen. Eben daran ist der „war on terror“ des US-Präsidenten George W. Bush nach dem 11. September 2001 gescheitert, nämlich ein Staatsmodell „Made in USA“ durchsetzen zu wollen, das in diesen Ländern lediglich als neokolonialistisch aufgefasst werden konnte. Beispiele, bei denen sich aus dem Staatszerfall und dem Exzess marodierender Gewalt wieder Formen einer staatlichen Grundordnung gebildet haben, gibt es zwar wenige, doch immerhin einige. Das seit 1988 im Chaos zerfallende Somalia, welchem 1991 mit dem Sturz des Militärdiktators Said Barre und der endgültigen Auflösung der Armee die einzige stabilisierende, d. h. überlegen gewaltfähige Organisation verloren gegangen ist, gilt bis heute als extremer Fall eines „failed state“. An ihm zeigen sich zum einen die Gefahren, welche von einem solchen Zustand auf die internationale Sicherheit ausgehen können (Piraterie, islamischer Terrorismus). An ihm lässt sich aber ebenso ein Muster staatlicher Regeneration erkennen, bei dem die „modernisierende“ Aufzwingung westlicher Staats- und Weltanschauungsformen, die oft den Staatsverfall auslösten, zugunsten einer „historisierenden“ Erneuerung der politischen Ordnung durch ihren Aufbau von der langen Zeit einer Gesellschaft her ersetzt wird. Die Tradition als Basis, d. h. die erst durch sie ermöglichte Gewinnung von Autorität in der Bevölkerung, erlaubt zugleich die Überwindung der Gewalt als einziger Pseudo„Kommunikation“ zwischen rivalisierenden Gruppen. Die Gründung der – international allerdings nicht anerkannten – Republik Somaliland (im Norden Somalias) auf der Grundlage des islamischen Rechts und der institutionellen Einbindung der Clanverbände in das politische Gefüge könnte als ein Beispiel solcher „Regeneration“ gelten, auch wenn es den westlichen Demokratievorstellungen widerspricht. Im Übrigen folgte das Ordnungsgefüge der Taliban, wie sie es vor 2001 in Afghanistan durchzusetzen suchten, diesem Ansatz, der dann aber durch die Internationalisierung des „Jihad“ zerstört worden ist. Eben dies, der religiös motivierte postmoderne Terrorismus als eine Variante des Religionskrieges entwickelt jedoch eine Form der Gewalttätigkeit, die sich als eigenständig neben den banditischen Krieg stellt. Die Rückkehr der Religion ist eines der überraschendsten Ereignisse an der Wende zum 21. Jahrhundert. Es ist eine Rückkehr über die Gewalt geworden. Wie immer, wenn Religion zu einer das Individuum und sein Gewissen übergreifenden kollektiven Macht wird, tut sie dies, indem sie sich mit dem Gewaltmotiv ver-

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bindet, wie das für die monotheistischen Glaubensgemeinschaften kennzeichnend geworden ist, deren Dynamik aus ihrer eschatologischen Erwartung strömt, der Wiederkehr Christi, dem Auftreten des Messias, des Mahdi, dem Konstrukt des Glaubenskrieges, in dem sich individuelle wie kollektive Reinigung verbinden und das Tor zur Erlösung sichtbar wird. Die neue Bedeutsamkeit des „Opfers“, der eigenen Person, aber auch anderer, die gewalttätig „geopfert“ werden, ergibt sich aus dieser eschatologischen Rede von selbst. Die Religion setzt sich als aktivistisches Bewusstsein gegen die moderne Ideologie und ihren agnostischen Grundzug. Sie reagiert gegen eine Moderne, die der eigenen Gesellschaft aufgezwungen erscheint und sie zu zerstören scheint. Der Aufstieg einer politisierten Religion war damit Protest gegen eine Modernisierung, die von den einheimischen Regimen aus wirtschaftlichen und militärischen Gründen vorangetrieben wurde, die auf Gewalt basierte und die massiv gegen einheimische Traditionen vorging, deren stärkste die Religion bzw. der Islam war. Mit der Islamischen Revolution im Iran ( Januar/Februar 1979) begann der politische Islamismus machtvoll zu werden. Zielte jedoch eine westliche Revolution auf die Trennung von Staat und Gesellschaft, Religion und Politik, auf Menschenrechte und die Freiheit des Individuums, so bildete es die erklärte Absicht des Islamismus, all das zu verhindern und einen sozialen Zustand zu erreichen, in welchem zwischen Staat, Gesellschaft, Politik und Religion kein Unterschied bestand. Dass der Iran am Anfang stand, hat mit der Tradition der „Schia“, einer dort beherrschenden Form des Islam zu tun, deren Kern eine Kette des Martyriums bildet, vom ermordeten dritten Imam Husein (680 n. Chr.) bis zum „verborgenen“ Zwölften Imam, dessen eschatologische Erwartung eine immense Kraft freisetzen kann, wenn sie nur als „Jetztzeit“ gedeutet wird. Hier wird dann der Opfertod zum bewussten Tun, wobei zwischen aktivem Töten und eigenem Tod kein wesentlicher Unterschied besteht, denn auch der als Martyrium aufgefasste Tod ist eine Weise kämpferischer Aktivität.87 Damit ist das muslimische Verständnis des Märtyrers vom christlichen deutlich unterschieden, in dem der Märtyrer passiv leidet und stirbt, in der Nachfolge des passiv leidenden, nicht kämpfenden Christus. Ein solches Sterben im Jihad, im Krieg für Gott, ist kein verwerflicher Selbstmord, sondern eine Gott wohlgefällige Opfertat. Verbunden mit dem Kampf gegen ein der Gottlosigkeit geziehenes Regime, zunächst einem modernisierenden, d. h. säkularisierenden einheimischen wie dem des iranischen Schah, wurde dann der politische Widerstand zur religiös gesegneten Gewalt, ein Vorgang, der sich seit 1963 in Iran radikalisierte, als schiitische Geistliche vom Militär erschossene Demonstranten zu religiösen Märtyrern erklärten. In Ländern mit oktroyierter Modernisierung formulierte ein sich politisierender Islam den sozialen Protest in einer Begrifflichkeit, die national war, nicht „imperialistisch“ konnotiert, die jeder verstand und die beide sozial prekären Gruppierungen ansprach: die traditionsverhaftete Landbevölkerung wie die rapide anwachsenden Unterschichten der Städte. Die Städte stellten den „Mob“, der die Straße zum Handlungsraum machen konnte, das Land gründete die Solidarität in der Masse der Bevölkerung. Traten noch die „Intellektuellen“ hinzu, islamische Geistliche und Akademiker, die den traditionellen Islam mit westlichen Konzepten verknüpften, wie der iranische Soziologe Ali Schariati, so schloss sich der Kreis

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von der rhetorischen zur physischen Gewalt. Schariati verband eine sozialistisch inspirierte Klassenanalyse mit einer aktivistischen Deutung des schiitischen Märtyrer-Gedankens und der eschatologischen Erwartung einer Jetztzeit, in der die Erniedrigten erhoben werden würden. Dabei bildete der Sturz der inneren Kolonialisten, d. h. des einheimischen modernisierenden Regimes, den ersten Schritt, dem ein zweiter folgen musste, also der Kampf gegen den äußeren Kolonialismus, d. h. die Staaten und Regierungen des Westens. In den islamischen Ländern konnte die Revolution die Massen nur ergreifen, wenn sie in der Tradition blieb, deren Kernbestand die Religion als allumfassende Lebensweise bildete. Das war das Gegenteil der Revolution in Europa, aber auch in China oder Vietnam. Es war die Wurzel des politischen Islamismus. Sein Selbstverständnis drückt sich in der Ineinssetzung von „kleinem Jihad“, als bloßem Krieg, und „großem Jihad“, als spiritueller Selbstdisziplinierung aus,88 die sich im Märtyrertum vollendet. Religion ist die kompakteste Form von Gemeinschaftlichkeit, weil sie alle Bestandteile des sozialen Lebens sinnhaft durchzieht und das individuelle Dasein auf ein Absolutes, Transzendentes bezieht. Wird die religiös geordnete Gemeinschaft bedroht, sei es durch das „infizierende“ Eindringen fremder Einflüsse, sei es durch die mentale Provokation einer sie bedrängenden Außenwelt, so entsteht ein Gewaltmotiv. Wenn nun gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Religion in Gestalt des politisierten Islam zum Träger irregulärer Gewalt geworden ist, so hat das damit zu tun, dass der Weltbürgerkrieg zwischen den kapitalistischen Industriestaaten und den Ländern der vormodernen Welt nicht länger zwischen dem Westen und jenen Ländern ausgetragen wird, die kulturell bereits an der Schwelle zur Modernität stehen, die sie meist mit der expliziten Modernisierungsstrategie des Sozialismus zu überschreiten suchten. Wo Gesellschaften wie die Indiens oder Chinas die imperialistische Bedrohung als modernisierende Herausforderung annahmen, wuchs in vielen muslimischen Gesellschaften der Widerstand, der in einer traditionalistisch ausgelegten Religion jenen Bezugspunkt absoluten Wissens fand, von dem allein aus absolutes Reden und Handeln möglich wird. Die Trennung zwischen einem „Haus des Islam“ als Raum des Friedens bzw. einer ihn gründenden Ordnung des wahren Glaubens und einem davon zu unterscheidendem „Haus des Krieges“, d. h. der nichtmuslimischen Welt, sowie der Feldzug des Religionsgründers Mohammed gegen Mekka (630 n. Chr.), stellen den Islam in einen Zusammenhang der Gewalt, die nicht nur gerecht, sondern geboten bleibt, bis denn das „Haus des Krieges“ zerstört worden ist und überall der Islam herrscht. Die Wucht der islamischen Expansion über ein Jahrtausend hinweg hat wesentlich mit diesem Jihadismus zu tun, der sich im politischen Islamismus wiederfindet. Dieser verspricht die totale Identität in einer vollkommenen Gesellschaft, in welcher „der Islam für jeden Aspekt des sozialen Lebens der Gläubigen Regeln vorgibt“, wie das Osama Bin Laden exemplarisch formuliert hat. Die „Scharia“, das islamische Recht, ist damit die institutionelle Ordnungsform des Islam in der Gesellschaft, so wie der Staat seine politische ist und eigentlich seine kriegerische, weshalb es für Jahrhunderte islamischen Herrschern verboten blieb, mit nicht-islamischen Friedensverträge zu schließen. Nur ein zeitlich begrenzter Waffenstillstand galt als hinnehmbar, da dieser

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die Konfrontation der beiden „Häuser“ zumindest im Grundsatz aufrechterhielt. Mit der Provokation der westlichen Moderne, zu der islamische Gesellschaften aus ihrem eigenen Geschichtsbestand ungleich weniger aufschließen können als etwa jene Ostasiens, wird aus der religiösen Konfrontation eine ideologische, in welcher die Religion den Fluchtpunkt „letzter“ Begründungen vorgibt. Der Islamismus ist totalitär im Sinne der totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts in seinem Kollektivismus, seinem Antiliberalismus, seiner Überzeugung, die vollkommene Gesellschaft herstellen zu können und also seiner Apologie der „reinen und reinigenden“ Gewalt. Doch während Kommunismus und Nationalsozialismus weltanschaulich den Zwiespalt der Moderne ausdrückten, d. h. die eine Moderne (als Rassismus oder Ökonomismus) gegen die andere (als Menschenrechte oder Liberalismus) in Stellung brachten, rekurriert der Islamismus auf eine Weltreligion vor aller Moderne und deren Urtexte und Auslegungen. Damit spricht er potentiell bereits ein Viertel der Menschheit an, die er durch seine Methode des Terrorismus in eine Haftungs- bzw. Solidargemeinschaft hineinzuzwingen sucht. Und dieses Viertel wächst rasch: Lebten 1900 in den islamischen Ländern noch 140 Millionen Menschen, so waren es 2005 bereits 1,4 Milliarden, davon 300 Millionen junge Männer zwischen 15–29 Jahren. Zugleich nimmt die Armut zu: Die arabischen Länder, ausgenommen einige ölreiche Golfstaaten, liegen in der Armutsskala der Vereinten Nationen nur knapp über der ärmsten Weltregion überhaupt, nämlich Schwarzafrika. In dieser Verknotung „überschüssiger“ junger Männer, für die es keine den Lebensunterhalt sichernde wie sie sozial integrierende Arbeit gibt, und „gebrochener“ Halbintellektueller, die zwischen „taqlid“ und „McWorld“, zwischen Treue zur Tradition und modernem Wissen und Leben hin- und herschwanken, entsteht die Brisanz des Islamismus oder „Integrismus“, da er jene Frühzeit wiederherzustellen strebt, in der in der islamischen Gemeinschaft Staat, Gesellschaft und Religion „integriert“ gewesen seien. Sie betrifft die Staaten mit islamischer Migrationsbevölkerung ebenso wie die islamischen Gesellschaften selbst. In beiden versucht der Islamismus einen Bürgerkrieg zu entfachen, d. h. die soziale Situation durch Gewalt zu vereinfachen, den Staat auf Gewalt zu reduzieren, um ihm dann sein Gewaltmonopol streitig zu machen. Die Auseinandersetzungen im Irak und in Afghanistan, aber auch in Algerien, Ägypten, Saudi-Arabien oder Pakistan im Laufe des letzten Jahrzehnts gehören hierher. Da die islamischen Staaten den „Heiligen Krieg“ weder führen können noch wollen, gegen die mit dem Bösen identifizierten Mächte Israel und USA, fällt diese Aufgabe gleichfalls dem Islamismus zu, wie die Anschläge des 11. September 2001 zeigen sollten. Dass dieser dabei „Bewegung“ geblieben ist, nicht durch eine Partei oder einen Führer geeint, sondern durch eine vage Ideologie, die sich allein durch religiöse Praktiken festigt, macht ihn so wirkungsvoll. Dass der Islamismus keinen Kernstaat besitzt bzw. ihn mit Afghanistan binnen kurzem wieder verloren hat, passt ihn ein in das Konzept „neuer“ Kriege. Der terroristische „Krieg“ wie der War on Terror der USA haben kein Schlachtfeld, auf dem sie sich begegnen. Das HydraPrinzip des Islamismus wie die Problematik, ihn „endgültig“ zu besiegen, sind daher lediglich die beiden Seiten eines Problems. Der Krieg gegen den Terror wurde selbst ter-

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roristisch, in Guantánamo und Abu Ghraib, in den Liquidierungen tatsächlicher oder vermuteter Islamisten im Irak oder Afghanistan. Der Islamismus ist die Hassreaktion auf eine aufgezwungene Moderne, intellektualisiert von Theoretikern wie dem Ägypter Sayyid Qutb (1967 hingerichtet) oder dem Iraner Schariati (1977 ermordet), aktualisiert durch das Bündnis der USA mit radikal-islamischen Widerstandsgruppen, die in Afghanistan gegen die sowjetische Besatzungsmacht und die von ihr gestützte Regierung kämpften. In Afghanistan haben alle drei Welt-Mächte der letzten zweihundert Jahre den Krieg verloren: die Briten, als ihr Expeditionskorps von 16 500 Mann völlig vernichtet wurde (1839–42), die Sowjets (1979–89), die Amerikaner (ab 2001). In Afghanistan führten die USA einen ihrer Stellvertreterkriege gegen die UdSSR, die einzige Art von „heißem“ Krieg, den sie sich im Zeichen der Atombombe leisten konnten, indem sie die Aufständischen massiv mit Waffen unterstützten. In Afghanistan herrschte seit 1978 zwar die durch einen Militärputsch an die Macht gelangte Kommunistische Partei, die aber traf zunehmend auf den bewaffneten Widerstand der ländlichen Bevölkerung, die sich von „Feinden Gottes“ in ihren sozialen und religiösen Traditionen bedroht sah. Der sowjetische Einmarsch sollte daher die kommunistische Herrschaft festigen und zugleich innerparteiliche Gegensätze beseitigen, beides mit Gewalt. Doch obwohl die sowjetischen Truppen auf 105 000 Mann anwuchsen, Dörfer vermuteter Widerstandskämpfer bombardierten, Hubschrauber und Luftlandetruppen in dem unwegsamen Gebirgsland einsetzten, gelang es ihnen nicht, den Widerstand zu brechen. Die USA führten einen „war from the shadows“ (R. Gates) mit der CIA als verdeckten Agenten. Sie wollten der UdSSR ihr „Vietnam“ bereiten. Die muslimischen Mudschahedin hingegen führten den ersten „Heiligen Krieg“ des Islam im 20. Jahrhunderts einen internationalen Krieg, der Muslime aus vielen Ländern rekrutierte und an alle appellierte. Nach dem Verlust von 13 500 Soldaten (25 000 Kriegsversehrten) zog die Sowjetunion ab und hinterließ ein weitgehend zerstörtes Land, mit einer Million toter Afghanen und Hundertausenden verkrüppelter Männer, Frauen, Kinder, in dem allein die Gewalt regierte. Für die Sowjetunion war die Intervention in Afghanistan nicht nur geostrategisch von Bedeutung (wie vorher für die Briten), sondern sie war zugleich weltanschaulich motiviert, als sozialistisch-progressive Bekämpfung des „religiösen Mittelalters“, d. h. der islamischen Geistlichkeit, wie des „Panislamismus“ als einer reaktionären, eben religiös motivierten Bewegung, wie Lenin das bereits 1920 formulierte. Damit trat in dem xenophobischen Widerstand das religiöse Moment aus dem traditionalistischen Nexus heraus und verselbständigte sich, wie das an der wachsenden Zahl muslimischer Freiwilliger aus anderen Ländern und der zunehmenden Solidarisierung unter den Muslimen mit den Mudschahedin sichtbar wurde. Der Kampf gegen Ungläubige, die in das Gebiet des Islam eindringen, wurde zur Glaubenspflicht erklärt, und zwar aller Muslime, sofern die Verteidiger des betreffenden Gebiets zu schwach waren: „Jihad und das Gewehr, sonst nichts“, sollte zur Maxime werden.89 Der als Gotteszeichen gedeutete Sieg über die Sowjetunion und die auf ihn folgende gewaltsame Durchsetzung eines islamischen Regimes in Afghanistan durch die Taliban (d. h. „Koranschüler“) schien eine heilsgeschichtliche Wende anzudeuten, in welcher der Jihad nicht nur der Weg

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zum persönlichen Heil wurde, sondern die Befreiung aller Muslime vorbereitete. Eine kleine Gruppe der „Reinen“ ging dabei voran, heraus aus einer Gesellschaft, die durch Unglauben verrottet war, die sich opferten, damit die Reinheit wieder die ganze islamische Gemeinschaft durchströmte, sie als „umma“ wiederauferstehen lasse. Der Krieg als Kampf gegen die Ungläubigen wurde – wie bei den Kriegszügen des Propheten – als Möglichkeit des „Gottesdienstes“ aufgefasst.90 Aus dem Netzwerk früherer Afghanistan-Freiwilliger ging dann die „Basis“-Organisation Al-Qaida des Saudis Osama Bin-Laden hervor (um 1988). Ihr Ziel war der weltweite Jihad gegen „Juden und Kreuzzügler“ ebenso wie gegen die „apostatischen“ einheimischen Regime, die mit dem „Großen Satan“ USA kollaborierten. Der „Kriegserklärung“ an Amerika (1998) folgte der Anschlag vom 11. September und der Einmarsch amerikanischer Truppen in Afghanistan. Dass es so schnell gelang, die Kampfverbände der Taliban zu schlagen und die wenigen Städte zu besetzen, hätte nicht euphorisch, sondern eher nachdenklich stimmen müssen. Die Taliban versickerten in der Bevölkerung, wichen in die wenig zugänglichen Grenzgebiete Pakistans aus. Entscheidend war, dass es der von den USA installierten Regierung Karzai nicht gelang, einen „Staat“ zu errichten, zu mehr zu werden als zum „Präsidenten von Kabul und Umgebung“. In den Provinzen herrschten die einzelnen „warlords“ mit ihren bewaffneten Anhängern, die vor allem aus dem Anbau und Handel mit Opium enorme Gewinne zogen und ein Willkür-Regime durchsetzten. Ein Zustand banditischer Gewalt breitete sich aus, wie nach 1989, in dem sich die Taliban erneut als einzige Gruppierung ausbreiten konnte, die Gewalt und Moral zugleich vertrat, das Gewehr und den Jihad gleichermaßen behauptete. Eine Herrschaft, die nicht Recht setzt und durchsetzt, verliert jede Autorität an jene, die es tun. Bereits 2003, keine zwei Jahre nach dem amerikanischen Sieg im Krieg, waren die Taliban wieder zu einer drohenden Größe in einem von Gewalt besessenen Land geworden, dessen Regierung sich allein durch Korruption, ausländische Finanzhilfen und fremdes Militär zu behaupten vermochte. Und dieses Militär hängt am Faden der Luftunterstützung durch Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber, Drohnen und ihrer pauschalen Rundum-Vernichtung, die meist mehr Zivilpersonen trifft als aufständische Kämpfer. Zu Ende des Jahres 2009 wurden knapp drei Viertel des Landes von Taliban oder anderen bewaffneten Gruppen kontrolliert, trotz Verstärkung der alliierten Truppen auf rund 100 000 Mann und eines weiteren Ausbaus afghanischer Regierungsverbände von 175 000 Mann und sogenannten Dorfschützern, mittels derer der Bürgerkrieg gegen die Aufständischen intensiviert werden soll. Für das Jahr 2009 betrugen die Kriegskosten 130 Milliarden Dollar. Ein Endsieg ist nicht in Sicht, allenfalls die Erwartung eines langen Krieges mit ungewissem Ausgang. Militärisch sei der Krieg nicht zu gewinnen, wie der US-Kommandeur in Afghanistan, General Stanley McChrystal im August 2009 feststellte. In einem Partisanenkrieg bedeute nämlich die Tötung von zwei Aufständischen aus zehn nicht acht (noch zu Tötende), sondern „10 minus 2 ergibt 20“, denn jedes Töten, insbesondere bei zivilen Opfern, löse Solidarisierungseffekte aus. Je mehr und je pauschaler getötet wird, desto größer wird die Zahl derer, die man töten müsste, was sich insbesondere gegen das technisierte Töten aus der Luft richtet, ohne das wiederum eine konventionelle Bekämpfung der Partisanen kaum durchführbar erscheint.

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Demnach stehen sich hier zwei gegensätzliche Konzepte der Partisanenbekämpfung gegenüber: Zum einen die übliche counterterrorism strategy, die auf massive Schläge gegen mutmaßliche Stützpunkte der Partisanen setzt, vorzugsweise aus der Luft, für die ein „kleiner Fußabdruck“ in dem umkämpften Land genügt, d. h. eine geringe Zahl an Bodentruppen, die sich auf die Sicherung von strategisch wichtigen Punkten und Städten beschränkt. Der Vorteil dieses Konzepts besteht in den geringen Kosten, der Nachteil in der Aufgabe des flachen Landes und in der Radikalisierung der Bevölkerung, die den Luftschlägen kollektiv ausgesetzt ist. Zum anderen ist aber da jenes neue Konzept einer counterinsurgency strategy, das auf den „großen Fußabdruck“ setzt und das Land gewissermaßen mit Soldaten überschwemmen will. Der Erfolg im gleichfalls von den USA besetzten Irak scheint für diese Strategie zu sprechen. Pro 1000 Einwohner sollen 20–25 Soldaten eingesetzt werden, was für den Irak 575–770 000 Mann bedeutet. In der Tat brachte eine drastische Erhöhung der Soldatenzahlen von (2005) 321 000 (davon 138 000 Amerikaner) auf (2009) 780 000 (davon nur noch 130 000 Amerikaner) einen nachhaltigen Rückgang der Partisanen-Tätigkeit und stark verminderte Verluste. Das Ziel, den Abnützungskrieg in die Partisanen hineinzutragen, indem man ihnen das „Wasser“ zum „Schwimmen“ nimmt, scheint näher gerückt. Auf Afghanistan angewandt würde das 570–710 000 Mann bedeuten, wobei allerdings die Zahl der Soldaten von insgesamt (2005) 81 000 auf (2009) 275 000 angestiegen ist. Wird also das Ausstiegs-Szenario für den Irak realistischer, mit einer Reduktion der amerikanischen Verbände auf 50 000 Mann bis August 2010 und einem Ende der Militärpräsenz bis zum Jahreswechsel 2011, so bleibt ein afghanischer Erfolg noch unabsehbar. Eine Erhöhung der amerikanischen und alliierten Truppenstärke auf 145 000 (Mitte 2010), der afghanischen Armee auf 170 000 (2006 war man noch von 70 000 ausgegangen), die Aufstellung bezahlter Milizen und die Ausnutzung ethnisch-religiöser Konflikte (nach dem Vorbild des Irak) soll auch hier die Wende bringen. Zugleich hofft man, durch das „Herauskaufen“ von Kämpfern aus den Reihen der Aufständischen diese nachhaltig schwächen zu können: Ein Konzept, das vor allem auf den banditischen Charakter von Gewalttätigkeit zielt und diesen dem Krieg in Afghanistan unterstellt. Diese auf der Afghanistan-Konferenz in London (28. 1. 2010) als Konzept beschlossene Vorgehensweise ist in dieser Form als Teil einer Anti-Partisanen-Strategie durchaus originell (und mit 500 Millionen Dollar auch opulent ausgestattet). In beschränktem Umfang wird es allerdings seit längerem von den US-Streitkräften durchgeführt, mit eher bescheidenem Erfolg. Denn abgesehen von einer recht wohl vorhandenen weltanschaulichen Motivation sind die Taliban durchaus in der Lage, mit ihren Einkünften aus der Kontrolle des Opiumhandels eine Fiskalisierung der Gewalt auszuhalten. Für ein reiches Land wie die USA ist es stets einfacher, einen Krieg zu finanzieren, als Tote zu zählen, eigene Soldaten. An der Wende zum 21. Jahrhundert ist es nicht mehr heroisch, für das Vaterland zu sterben. Das Heldentum, das Soldatsein hat jenes Ansehen weithin eingebüßt, welches es im Zeichen der Nation, des nationalen Krieges einst gewann. Die Abschaffung der Wehrpflicht in vielen, auch heldenstolzen Staaten verweist darauf. Der Soldat kehrt zu dem zurück, was sein Name anzeigt: zum Sold, zur Geldzahlung.

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Die Entstehung wie das rasche Wachstum einer Bezahlgewalt, d. h. privater „Sicherheitsfirmen“, ist daher nur folgerichtig und ebenso, dass der Staat sie in seinen Dienste nimmt. Die Gewalt, der Kern staatlicher Existenz, wird an private military companies „ausgelagert“, die sie kostengünstiger „produzieren“ als die eigene Armee und Polizei. Ohne dieses „outsourcing“ wären die Befriedungsaktionen der USA in Irak oder Afghanistan kaum möglich gewesen. Sie stellten die Hälfte des Personals, das 2009 in diesen Ländern für Wachdienste, Logistik, das Training einheimischer Sicherheitskräfte, das Verhören Gefangener, das Bestücken von Flugkörpern eingesetzt wurde. Die Kriege der USA in diesem Ländern seien daher deren „first contractors‘ wars“ gewesen, wie Kritiker anmerkten. Von Söldnern alten Typs, die direkt am Kampfgeschehen beteiligt waren und je nach Bezahlung von einem Land zum anderen wechselten, unterscheiden sich diese PMCs dadurch, dass direkte Kampfeinsätze Ausnahmen bleiben und Sicherungsaufgaben im Zentrum stehen, auch für humanitäre Hilfsorganisationen, sofern diese bezahlen. Solche Firmen operieren weltweit, doch sind 8 von 10 in den USA angesiedelt, wo das Verteidigungsministerium ihr wichtigster Auftraggeber ist. Die Zahl der von ihnen insgesamt beschäftigten Personen wird auf 1,5 Millionen geschätzt, der jährliche Umsatz auf 200 Milliarden Dollar. Private Militärfirmen waren bisher in rund 160 Ländern im Einsatz. Im Jahr 2008 gab es im Irak neben 155 000 regulären US-Soldaten weitere 180 000 „Private Contractors“, davon 48 000 Söldner. Dieser Boom liegt im neoliberalen Trend, früher als Teil staatlicher Aufgaben betrachtete Funktionen an private Unternehmen abzugeben, von der Müllabfuhr bis zu Krankenhäusern. Dabei werden in den schrittmachenden USA seit längerem auch Aufgaben, die unmittelbar mit dem staatlichen Gewaltmonopol zusammenhängen, an Private Contractors abgegeben, so Gefängnisse sowie Polizei- und Sicherheitsfunktionen. Ein Beispiel für diese „Auslagerung“ bzw. Nutzung von „Zeitarbeit“ ist der Einsatz solchen Personals während der Hochwasserkatastrophe in New Orleans (August 2005) zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Hinzu kam, dass nach Ende des Kalten Krieges ein massiver Abbau der regulären Streitkräfte erfolgte. Weltweit wurden rund fünf Millionen Mann aus den Armeen entlassen. Die USA etwa reduzierten ihre Verbände um 30%. Die Erwartung, mit Ende der Ost-West-Konfrontation einen dauerhaften Friedenszustand zu erreichen und die Vorstellung, durch Hochtechnologie in Zukunft auf den Masseneinsatz von Infanteristen verzichten zu können, trugen gleichermaßen zu einem Kriegsbild bei, dem zufolge eine Kadermannschaft die eigentliche Kampftätigkeit auf hohem technologischen Niveau durchführt und für bestimmte Zeiten anfallende Sicherungs- und Versorgungsaufgaben an private Militärfirmen ausgelagert werden. Da diese Firmen im Auftrag von Staaten handeln, fallen sie auch nicht unter die völkerrechtliche Ächtung des Söldnertums (Internationale Konvention, 20. 10. 2001), ausgenommen eben jene Fälle, in denen Söldner sich als Kampfverbände auf Seiten nicht staatlicher Gruppierungen engagieren (Biafra, Kongo). Für „postheroische“ Gesellschaften ist aufgrund sechs Jahrzehnten Friedens und einer Konsummentalität, die dem Leben und dem materiellen Genuss höchsten Rang eingeräumt hat, der Krieg nur noch Provokation, aber kein Appell zur Verteidigung des eigenen Landes „am Hindukusch“. Der Söldner ist dann

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die konsequente Fortsetzung des Berufssoldaten. Der „body count“ toter Wehrpflichtiger dringt in eine andere Sensitivität öffentlicher Wahrnehmung als jener von Personen, die für ihre Gewaltarbeit (gut) bezahlt worden sind. Diese werden jedenfalls problemlos aus der großen Zahl ehemaliger Berufssoldaten rekrutiert. Die Methode, einen Bürgerkrieg zu instrumentalisieren, um so den eigenen militärischen Einsatz gering zu halten, hatte bei der amerikanischen Eroberung Afghanistans durchaus gewirkt, versagte jedoch als Mittel der Befriedung. Im Irak hingegen nutzten die lose mit Al-Qaida verbundenen Aufständischen die Entfesselung eines Bürgerkriegs zur Verhinderung einer Staatsbildung durch die Besatzungsmacht. Dass dabei Muslime einander liquidierten, Schiiten gegen Sunniten kämpften und umgekehrt, störte die islamistischen Eiferer wenig, denn nie ist der Weltanschauungs-Hass gewalttätiger als dort, wo es um Apostaten geht. Erleichtert wurde diese Strategie dadurch, dass die siegreichen Amerikaner nach ihrem Einmarsch in Bagdad am 9. April 2003 den Zusammenbruch der inneren Ordnung hinnahmen, mit Ausschreitungen und Plünderungen, und dass sie zu spät damit begannen, für den Aufbau einer neuen Rechtsordnung zu sorgen. In dieses Sicherheitsvakuum, in dem nur die Gewalt regierte, stießen die Aufständischen vor und sie wussten, dass sie nur überleben und auf diese Weise den Feind erschöpfen konnten, wenn dieses Vakuum erhalten blieb. Gegen das „Shock and awe“ des technologischen Krieges, das gezielte Bombardement, die Flächenbeherrschung aus der Luft, setzten sie ihre Asymmetrie der Furcht, die eher indirekt auf den militärisch übermächtigen Feind zielte, indem sie die Gewalt in der Bevölkerung epidemisch werden ließ: Eine Seuche, der weder die Besatzungsmacht, noch die von ihr eingesetzte Regierung zu wehren vermochte. Dieser von Al-Qaida inmitten der Bevölkerung geübte Terror, bei der die Bevölkerung das eigentliche „weiche“ Ziel ist und „harte“, wie Militäreinrichtungen, eher gemieden werden, diese neue Art von terroristischer Gewalt also realisiert das „Schock und Schrecken“-Prinzip als Partisanenkampf, doch unter der Verneinung seines wesentlichen Gedankens. Denn obzwar auch dieser terroristisch beginnt, zielt er doch letztlich auf die Gewinnung der Bevölkerung. Das ist sein eminent „politisches“ Wesen, weshalb er den Bürgerkrieg von der Bevölkerung aus gegen die Herrschenden führt und ein Bürgerkrieg innerhalb der Bevölkerung gerade verhindert werden soll. Das ist auch der Ansatz der Taliban, die als Partisanen „inmitten der Bevölkerung“ kämpfen und „sich den Herzen der muslimischen Zivilisten nähern“ wollen, unter ganz entschiedener Ablehnung aller Versuche, die Bevölkerung gegeneinander aufzuhetzen. So jedenfalls fordert es das Regelbuch der Taliban vom Juli 2009. Hingegen setzt die irakische Al-Qaida auf die Selbstzerstörung der Iraker, die eine „amerikanische Lösung“ unmöglich machen soll, d. h. die Stabilisierung einer der Besatzungsmacht genehmen politischen Ordnung. Die Besatzungsmacht zu zwingen, Besatzungsmacht zu bleiben, zu verhindern, dass die Kollaboration über die Korruption hinaus auf die Masse übergreift, bildet das Ziel dieser Widerstandsbewegung. Da sich die USA im Irak, der Besatzungslogik folgend, vorwiegend auf die unterdrückte Gruppe der Schiiten zu stützen suchte, lag es nahe, den sunnitischen Religionshass zu instrumentalisieren. Das Vorhandensein zweier großer, wenngleich nicht gleich großer

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Gruppen also einer stark inhomogenen Bevölkerung legte die Bürgerkriegsstrategie nahe. Mit ihr war aber zugleich eine weltanschauliche Katastrophe verbunden, denn der Islamismus vermochte es nicht, zwei Formen des Islam in einer übergreifenden politischen Sprache zu verbinden, obwohl doch der Fremde, der Westen, als „Feind“ gemeinsam war, der Hass auf seine Werte, seine Militärpräsenz, seine Überlegenheit. Zum Feind wurde der andere Muslim, den man in die Luft sprengte, erschoss, zu Tode quälte. Aus dieser Katastrophe gab es keine „exit strategy“, weder für die Terroristen noch für die Besatzer, deren „militärischer Humanismus“ die besetzten Gesellschaften in riesige Umerziehungsanstalten verwandeln wollte, durch die man sie westlichen Standards anzugleichen gedachte. Reale und symbolische Unterwerfung griffen hier ineinander: Der besiegte Feind verlor nicht nur seine staatliche, sondern auch seine kulturelle Eigenständigkeit und erhielt sie allein nach erfolgreicher Umerziehung wieder zurück. Die siegreichen USA zielten damit sowohl auf eine hegemoniale wie imperiale Dominanz: hegemonial als Durchsetzung ihres eigenen Kulturmodells, imperial als Durchsetzung ihres Militärmonopols. Dahinter steckt nicht historische Erfahrung, sondern manichäische Diktion, in der sich amerikanischer wie islamischer Fundamentalismus treffen, die beide nur die Zukunft als „an end to Evil“ denken können, wie es der Präsidentenberater Richard Perle etwa gleichzeitig formulierte, ein Ende, das nur durch Krieg gegen „die Mächte des Bösen“ als „Vierter Weltkrieg“ zu erreichen sei, wie es der Präsident (George W. Bush) selbst sah. Als sich im Januar 2007 in Doha (Qatar) schiitische und sunnitische Theologen trafen, um darüber zu befinden, ob zwischen Muslimen „Frieden“ möglich sei, mündete alles wieder in einen Streit „im Hause des Islam“. Nur wenige versuchten, einen Weg zu zeigen, der den Hass überwinden konnte und damit die Gewalt. Diese Zukunft jedoch war ohne Auseinandersetzung mit dem Westen nicht zu haben. Die „kritische“ Koran-Lektüre türkischer Theologen der sogenannten Ankara-Schule etwa versucht, die Aussagen des Koran zur Rechtfertigung von Gewalt historisch zu erklären, ohne dabei die Absolutheit Gottes in Frage zu stellen. Um von den immer historisch gebundenen Menschen verstanden zu werden, wendet sich Gott an sie, indem er ihre Sprache spricht und sie in ihren konkreten Lebensumständen anspricht. Für die Gewalt bedeutet dies, dass sich die frühe muslimische Gemeinde in einem Zustand der Bedrohung befand und sich verteidigen musste. Theologisch gesehen ist also die Gewalt für den Islam etwas historisch Relatives, doch nichts theologisch Substantielles. Das gilt ebenso für die Scharia, die mehr als ethisches Konzept, weniger als striktes Gesetz gedeutet werden soll. Das Ergebnis wäre eine reflektierende Lektüre des Koran statt einer wortwörtlichen, auf der die Traditionalisten wie die Islamisten bestehen. In dieser Wende zu einer islamischen Moderne liegt die geistige Chance, den Krieg im Haus des Islam zu beenden wie den Jihadismus selbst als Apostasie zu erkennen. So gesehen wäre dann der Exzess an Gewalt, wie er in vielen islamischen Ländern um sich greift, das Zeichen einer Krise des Übergangs. Eine zunehmende Ausweitung der Bildung, insbesondere unter den Frauen, führt längerfristig zur Abnahme der Geburten und könnte damit sowohl den wirtschaftlichen Aufschwung befördern wie den Radikalismus vermindern.

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Nun kann man die Gewalt selbst in Ländern mit starken islamistischen Strömungen nicht allein weltanschaulich verstehen. Dahinter wirkt eben auch der Schub eines rasanten Anwachsens der Bevölkerung, der in den ärmsten Ländern am stärksten ist. Unter ihrem Druck lösen sich die traditionellen sozio-ökonomischen Strukturen auf, die für ein ungefähres Gleichgewicht zwischen verfügbaren Nahrungsressourcen und zu ernährender Bevölkerung sorgten. Die Ausbeutung der Umwelt nimmt zerstörerische Züge an. Es kommt zu Konflikten, Krieg, Migrationsbewegungen, bis hin zu genozidalen Bürgerkriegen wie in Ruanda (1994) oder im Sudan (seit 2003), in denen die Gewalt die Arbeit als Mittler zwischen Leben und Nahrung ersetzt hat, weil die Arbeit das Überleben nicht mehr zu sichern vermochte. Nun hat es stets Klimaschwankungen wie ökologische Zerstörungen gegeben und eben auch demografischen Druck, der Sesshaftwerdung wie Siedlungsbewegung erst in Gang gesetzt hat. Räume, die geografisch offen waren, konnten durch Städtebildung, Gewerbe und Handel, Auswanderung ihre Umweltzerstörung ökonomisch ausgleichen, wie etwa das antike Griechenland. Isolierte Räume hingegen kollabierten, wie die Osterinsel. Europa im 19. Jahrhundert wiederholte diesen Vorgang, nun mit der Auswanderung nach Amerika und der Industrialisierung. Zugleich begannen die demografische Schere sich zu schließen und die Menschenrechte zu expandieren. Entscheidend dafür war, dass der Nexus der Arbeit funktionierte, dass die zuwachsenden Menschen durch Arbeit ihre Nahrung nicht nur sicherstellen, sondern sie in Konsum und soziale Sicherheit fortbilden konnten. Der auf lange Zeit hin unsichtbare Preis bestand in der raschen Verminderung nicht erneuerbarer Ressourcen (Erzen, Kohle, Öl) wie der raschen Vermehrung von Umweltschäden. Allmählich wurden „Grenzen des Wachstums“ erkennbar, so im Bericht des „Club of Rome“ von 1972, die zunächst vor allem im Bereich der materiellen Ressourcen gesehen wurden, später zunehmend im Klimawandel bzw. der durch wachsende Mengen an Kohlendioxid- und Methangas-Emissionen verursachten Erderwärmung (so im „Stern-Report“ vom Oktober 2006). Küstennahe Gebiete sind von Überschwemmungen bedroht, in vielen Ländern der warmen Zonen wird das Wasser knapp werden, was erhebliche Auswirkungen auf die Landwirtschaft hat, von der dort immer noch eine Mehrheit der Bevölkerung lebt. Ein schubartiges Wachstum der Menschenzahl, das bereits vor den Auswirkungen des Klimawandels eine ökologische Auszehrung der natürlichen Ressourcen in Gang gesetzt hat (Bodenerosion, Entwaldung, Ausschöpfung der Grundwasserreserven) und nun mit den Folgen dieses Wandels zusammentrifft, muss katastrophale Folgen haben. So entfallen rund 97% des Wachstums der Weltbevölkerung auf die Länder der sogenannten Dritten Welt. Die Wucht dieses Vorgangs wird deutlich, wenn man bedenkt, dass etwa im 20. Jahrhundert die Weltbevölkerung von 1,8 Milliarden (1900) auf 6 Milliarden (1999) angewachsen ist, oder dass in den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte während 99,9% dieser Zeit die Zahl von 10 Millionen Menschen weltweit nicht überschritten worden ist. Doch bis zum Jahr 2050 werden mindestens 9 Milliarden Menschen die Erde bevölkern: Der Mensch wird zur „demografischen Bombe“. Eine Studie des US-Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 2004 warnte davor, dass Klimaveränderungen anarchische Zustände zur Folge haben könnten,

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und zwar sowohl innerhalb vieler Staaten wie zwischen ihnen. Wasserverknappung und Hungersnöte könnten den Zusammenbruch der inneren Ordnung nach sich ziehen, der Streit um die Verfügung über Ressourcen (wie Wasser, Nahrung, Energie) zu Kriegen zwischen den Staaten führen, bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen. Der Kampf um das Wasser als wesentliches Motiv einer Gewaltpolitik zeigt sich etwa im Nahost-Konflikt, wo die israelische Okkupation des Westjordanlandes – jenseits aller biblischen Rechtfertigung – vor allem auf die Aneignung der Grundwasserquellen zielt. Wenn Palästinenser über höchstens 70 Liter täglich, Israelis bis zu 300 Liter verfügen und der Preis des zusätzlich gekauften Wassers sechsmal so hoch liegt als der in Israel, dann ist der Zusammenhang von Wasser und Gewalt offensichtlich. Ähnliches gilt für die militärische Verfügung über das Wasser des Jordan, das sich Israel im Krieg von 1967 aneignete. Wie Ariel Sharon, General und späterer Ministerpräsident es formulierte: „Bei der Wasserfrage ging es um Leben oder Tod“. Die „totale Kontrolle der gemeinsamen Wasserressourcen“ (Amnesty International, Bericht vom Okt. 2009) ermöglicht zugleich eine Kontrolle der unterworfenen Bevölkerung, indem man die Zuteilung von Wasser vermindert und zugleich den Überfluss an Wasser als Zeichen der Herren setzt. Die Verfügung über das Wasser ist die Verfügung über die Gewalt. Wasser, Boden und Demografie verknüpfen sich: In Israel und Palästina, wo das Bevölkerungswachstum der Araber den demografisch stagnierenden Judenstaat bedroht und die „Gebärmutter der Frauen“ zur kriegsentscheidenden Waffe werden soll ( Jassir Arafat), aber ebenso in Ruanda oder Darfur. In all diesen Konflikten geht es um „Lebensraum“, um nutzbaren Boden, wobei die überlegene Gewaltfähigkeit im letzten entscheidet, wer bleibt und wer vertrieben wird. Die industrielle Zivilisation hat es ermöglicht, „Nahrung“ von „Lebensraum“ zu trennen, indem sie „Arbeit“ mit „Technologie“ verbunden hat. Ihre sozialen Kosten wurden schrittweise durch soziale Sicherung kompensiert, ihre ökologischen Kosten auf die Umwelt abgeladen. Ihre Triebkraft war die grenzenlose Verfügung über Energie. Ihre Krise kam, als global immer mehr Gesellschaften auf ihren Wachstumspfad einschwenkten. Bieten allerdings neue Konzepte der regenerativen Energiegewinnung wie der Energieeinsparung die Aussicht, eine durch Technik ermöglichte Krisensituation technisch zu bewältigen, so erscheint die demografische Problematik zumindest mittelfristig unlösbar. Zwischen den rasch alternden, technisch hoch entwickelten Ländern und den jugendlichen Gesellschaften der meist wenig entwickelten Länder mit hohen Fertilitätsraten zwischen z. B. 4,93 (Guinea) oder 6,6 ( Jemen) (Deutschland im Vergleich: 1,39) und einem Durchschnittsalter von 19 oder 16,5 Jahren (Deutschland: 42) sind Konflikte wohl unvermeidlich. Nicht nur die illegale Migration wird zunehmen, auch der gewaltsame Versuch, einzudringen, wie Anfang Oktober 2005, als Migranten die Grenzzäune der spanischen Enklaven in Marokko zu stürmen suchten. Eine erweiterte Einwanderung wird das demografische Problem des Südens nicht lösen, da stets die Mehrzahl „draußen“ bleiben muss und zudem der drohende Fehlschlag der Integration von Migrationspopulationen bereits neue, ethnische „Bürgerkriege“ in den europäischen Ländern als möglich erscheinen lässt. Die Unruhen in den französischen „banlieues“ vom Oktober und November 2005 kön-

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nen durchaus als Menetekel gesehen werden. Europa wird über Jahrzehnte hinweg zur „Festung“ werden müssen, wenn es seinen inneren Frieden halbwegs bewahren will.

Krieg als Diskurs Der Krieg ist die Gesellschaft in ihre letzte Form gebracht. Seit Gesellschaft sich als Herrschaft zu formieren begann, organisiert sie Gewalt, als Verteidigungs- oder Eroberungskrieg nach außen und davon abhängig als Ordnung nach innen, zum Zweck von Krieg und Frieden zugleich. Die Gesamtheit dieses Handelns nennt man „Politik“, deren Anfang und Ende das Problem des Krieges gewesen ist: der Schutz des Staates bzw. der Erhalt einer bestimmten Form von Herrschaft, seine Machtausweitung, die Nutzung der vorhandenen Ressourcen, materiell wie personell, für die Möglichkeit oder Tatsächlichkeit des Krieges. Demgemäß inszenierte sich Herrschaft über Jahrtausende hinweg vor allem in den Zeichen des Krieges. Krieg war die Selbstverständlichkeit herrschaftlichen Handelns, kein moralisches Problem für die Gesellschaft, vielmehr ihre wichtigste Lebens- und Überlebensäußerung. Daher gab es auch keinen Gegensatz von Krieg und Politik. Krieg war die herrschaftliche Seite der Gesellschaft, so gut wie die Religion ihre geistige, die Arbeit ihre materielle Seite. Erst mit der beginnenden Auflösung des kompakten Verständnisses von Gesellschaft setzte eine Änderung ein. Zuerst, zwischen Machiavelli und Hobbes, trennt sich die Politik von der Religion, dann, zwischen Adam Smith und Karl Marx, trennte sich die Gesellschaft vom Staat, trat der mit Herrschaft identifizierten Politik der Anspruch auf Selbstbestimmung und Mitbestimmung der gesellschaftlichen Gruppen entgegen. Damit geriet die Politik in den Einflusskreis von Gruppen, deren soziales Selbstverständnis nicht, wie das des bis dahin bestimmenden Adels, vom Krieg bestimmt war, sondern von der Arbeit. Der neue, „gesellschaftlich“ geformte Staat war der Nationalstaat. Auf dem Bluttisch der Guillotine erhielt das Volk den Krieg zurück, den es im Feudalismus an die Herren verloren hatte. Der Krieg wurde zu einem Massengeschehen mit Weltanschauungscharakter, der die Politik sozial zu verschlingen drohte. Den Krieg wieder mit der Politik in Verbindung zu bringen, mit einer Politik, die nicht in die Hände bestimmter gesellschaftlicher Gruppen gefallen war, sondern einem „Staat“ zugehörte, der sich in gewissem Abstand zu ihnen hielt, wurde so zu einer großen Aufgabe der nachrevolutionären Epoche. Diese Verbindung zur Politik sollte zugleich jeder Verabsolutierung des Krieges zum Tun des Militärführers wehren, der sich – in Napoleons Worten – „wenig um das Leben einer Million Menschen schert“ (zu Metternich am 26. Juni 1813). Den Krieg „relativ“ zu halten, seinen Absturz in eine Absolutheit der Gewalt zu verhindern, d. h. den Krieg „politisch“ zu halten, musste nach mehr als zwei Jahrzehnten eines europäischen Krieges zur wesentlichen Aufgabe jedes Nachdenkens über Politik werden. Ein solches Nachdenken hatte noch ein Drittes zu bedenken, nämlich die moralische Beziehung des Kämpfers bzw. des Soldaten zu der Gemeinschaft, zu der „Sache“, der er als Gewalt-Täter diente. Im absolutistischen Heer gab es dieses Dritte nicht. Der Soldat legte

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sein Gewissen in die Hände des Befehlshabers, letztlich des Fürsten, so wie er es mit seinem Leben tat. Mit der Neuformung des Gewaltverhältnisses nach 1789 jedoch erhielt nicht nur das Volk die Gewalt zurück, um sie neu zu ordnen. Auch der Einzelne erhielt sein Gewissen zurück, aller „volonté générale“, allen Loyalitätsforderungen zum Trotz. Doch eben deshalb blieb es eher verdeckt, unerwünscht, unbedacht, wenngleich stets erneut realisiert, so von jenem Offizier, der am eindringlichsten und wirkmächtigsten den neuen Zustand kriegerischer Gewalt bedacht hat: Carl von Clausewitz. Im Jahr 1812 hatte er den Dienst im preußischen Heer quittiert, weil er nicht für eine Sache kämpfen wollte, die ihm widerwärtig war, eben den napoleonischen Imperialismus. Das trug ihm die Wut des preußischen Königs ein, für den ein Soldat sozusagen gewissenlos zu bleiben hatte, weil der König alle individuellen Gewissen in sich als oberster moralischer Instanz vereinigte. So gelang dem „Verräter“ Clausewitz nur mit Mühe 1815 die Rückkehr in die preußische Armee. Allerdings ist diese „jakobinische“ Entschiedenheit durchaus nicht unproblematisch, fordert sie doch z. B. vom Staat, eine „charakterlose“ Politik aufzugeben und einem Krieg mit wahrscheinlicher Niederlage die Unterwerfung unter einen Unterwerfungsfrieden vorzuziehen. In seiner posthum veröffentlichten Untersuchung „Vom Kriege“ (1832–34) reflektiert er insbesondere den Wandel kriegerischer Gewalt in seiner Zeit als Umbruch im gesellschaftlichen Wesen des Krieges infolge der Revolution. Die im engeren Sinn militärtheoretische Untersuchung über „Strategie“ als „Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges“ und „Taktik“ als „Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht“ bleibt einbezogen in die umgreifende Fragestellung nach Wesen und Ziel der Kriegsführung an sich. Taktik zielt demnach auf Sieg, d. h. sie bleibt rein militärisch. Strategie hingegen zielt auf Frieden, d. h. sie ist in ihrem Ziel politisch. Damit unterscheidet sich Clausewitz von den zahlreichen Darstellungen seiner Zeitgenossen, in denen nach der neuen napoleonischen „Kunst des Krieges“ geforscht wurde, also von Werken, die ein Lehrwissen der richtigen, d. h. militärisch erfolgreichen Kriegsführung anzubieten suchten. Für Clausewitz hingegen blieb der Krieg stets ein unberechenbares Risiko, das „geometrisch“ nicht minimiert werden konnte und eben deshalb so sehr der „Politik“ bedurfte, einer Politik, die das Wesen des Krieges, nämlich die Absolutheit als Prinzip der Vernichtung des Feindes, gerade nicht teilte. Denn „im Kriege ist alles unbestimmt und der Kalkül muss mit lauter veränderlichen Größen gemacht werden“. Zudem ist „der ganze kriegerische Akt von geistigen Kräften und Wirkungen durchzogen“, weshalb es irreführend wäre, „die Betrachtung nur auf materielle Größen zu richten“. Und schließlich, vielleicht am wichtigsten, bleibt der Krieg nie eine „einseitige Tätigkeit, sondern eine beständige Wechselwirkung“.91 Jeder Krieg ist demnach ein Sprung in die Dunkelheit, was für Clausewitz zwei Konsequenzen nach sich zieht. Die politische lautet, dass das Kriegsziel von Anfang an klar bestimmt und mit den militärischen Möglichkeiten in Einklang gebracht werden muss.92 Die militärische hingegen setzt auf die Verteidigung als der „stärksten Form des Krieges“, welcher er den Vorzug vor dem Angriff gibt. Der Sieg stellt sich dabei durch die Abnutzung des Gegners ein, der entweder den Kampf beendet oder aber so viel an Kraft verloren hat, dass der Verteidiger schließlich seinerseits zum Angriff übergehen kann. Im Angriff nutzt

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der Angreifer zwar den Überraschungseffekt, doch muss er darauf achten, den „Hauptschwerpunkt des Krieges“ zu treffen, was Napoleon nicht gelang, weder England als Schwerpunkt des ganzen Krieges noch in Russland den Schwerpunkt des Feindes, der sich im riesigen Raum verlor, noch in Spanien, wo der Schwerpunkt der „neuen Potenz“ des Guerrilla-Krieges sich „wolkenartig“ entdichtete und unfassbar blieb. Wo es dem Angreifer nicht gelingt, den Gegner auf Schwerpunkte zu verdichten, er selbst aber notwendigerweise verdichtet, konzentriert vorrückt, droht der Fallschlag, scheitert die Absolutheitsmaxime des Angriffs, nämlich den Gegner zu vernichten. Die Gewalt im Krieg strebt immer nach Absolutheit, Totalität. Das ist ihr notwendiges Wesen, weil sie Radikalität des Tötens ist. Damit entsteht zugleich aber die Gefahr, dass der Krieg sich verselbständigt, zum Selbstzweck wird. Daher ist es so unabdingbar, den Krieg als „bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ zu behandeln und nicht wie „eine Mine, die sich entladet, keiner anderen Richtung und Leitung mehr fähig“.93 Die Politik ist die „Intelligenz“ des Krieges. Krieg ist demnach kein blindes Naturgeschehen, sondern ein politischer Akt, und er muss „Teil des politischen Verkehrs“ bleiben, um nicht in wilde Gewalt abzustürzen, d. h. aus dem Geflecht des sozialen Verkehrs, der Kommunikation zu fallen. Dabei setzt Clausewitz auf das Bestehen von Staaten und ihrer Armeen, d. h. auf eine symmetrische Struktur des Konflikts, denn nur so glaubt er, zu einer Regularisierung des Kriegsgeschehens gelangen zu können, also den neuen Krieg der Nationen und Volksheere, der das absolutistische Muster der Regularität zerbrochen hatte, politisch ordnen zu können. Gelang dies nicht, so drohte Europa ein neuer Dreißigjähriger Krieg, ein Krieg um des Krieges willen, wie ihn der napoleonische Dauerkrieg bereits hatte ahnen lassen. Hier hatte sich der Krieg bereits seiner absoluten Form genähert, hatte die „Intelligenz“ verloren, wie sie allein die Politik besitzen konnte, wie etwa der Bruch zwischen dem Soldaten Napoleon und den Diplomaten Talleyrand oder Metternich zeigte. Die Absolutheit des Krieges trug Napoleon. In der Relativität der Politik vermochte er nicht zu existieren, weshalb ihm Politik immer nur Mittel zum Zweck blieb und Frieden nur „Waffenstillstand“. Die „Intelligenz“ der Politik steht gegen Heroismus und Fanatismus, sie steht gegen den Absolutheitsanspruch des Krieges und also gegen dessen Tendenz, sich selbst als Zweck zu behaupten. Sie steht für die Fortdauer des „politischen Verkehrs“ im Krieg und damit für die Möglichkeit seiner Beendigung. Der Frieden bleibt der „Zweck“ jeder Politik auch im Krieg: der Frieden, nicht bloß die Vernichtung bzw. das schiere Aufhören des „kriegerischen“ Krieges, der Kampfhandlungen. Es ist daher „ein widersinniges Verfahren“, sei es bei Kriegsentwürfen, sei es im Krieg selbst, allein den Militärs zu folgen und Kriege oder Feldzüge „rein militärisch“ aufzufassen, d. h. den Krieg den Soldaten zu überlassen.94 Der Krieg besitzt keine „Logik“, lediglich eine „Grammatik“, seine Logik ist stets politisch oder sie ist nicht vorhanden. Demgemäß ist die Strategie nie bloß „Kriegskunst“, sondern eine politische Logik, die ihren Zweck, durch Gewalt „den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen„95, mit den vorhandenen Mitteln – d. h. taktisch – zu erreichen sucht. Die einzige Form einer Einmischung des Militärs in die Entscheidungen der Politik bleibt dann die Warnung, die militärischen Möglichkeiten

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nicht zu überschätzen. Die soziale Energie revolutionärer Gruppen passt nicht in diesen Begriff von Politik. Sie passt in den Begriff des absoluten Krieges, der die Politik zerstört und den Enthusiasmus der Gewalt an ihre Stelle setzt. Kriege, so folgert Clausewitz aus der Erfahrung des revolutionären Zeitalters, gründen auf einer sozialen „Unterlage“, doch so, wie ein Staat generell politikfähig bleibt, indem er diese integriert, statt von ihr überwältigt zu werden, so muss er auch im Krieg verhindern, dass sie ihn überwältigt. Daher ist für Clausewitz der Krieg des Partisanen als absoluter Krieg keiner mehr, der zur Politik einen Bezug besitzen könnte. In der absolut gewordenen Feindschaft ist auch die Vernichtung des Gegners zu etwas Absolutem geworden. Dass sich im Partisanentum, in der es geistig gründenden nation armée überhaupt eine neue Form von Politik vorbereitete, war Clausewitz durchaus bewusst. Vor allem in den Jahren zwischen 1806 und 1815 hatte er, ein enger Freund Gneisenaus, die Politik im Zusammenhang des Volkskriegs aufgefasst. In der revolutionären Gewalt konstituiert sich ein Volk als Handelnder, befreit es sich aus dem Gefüge von Abhängigkeit und Gnade. Der Wille zur Gewalt ist hier der Wille, einen Willen zu haben.96 Erfahrung des Krieges ist Erfahrung des bewussten, willentlichen Lebens anstatt eines passiven, angepassten Daseins. Eine solche Erfahrung ist eine andere als die einer Politik, die sich bereits als „Staat“ zu fassen vermag. In einer solchen Erfahrung begründet sich Politik erst durch Gewalt, sie geht aus Gewalt hervor und ist deshalb auch nicht Kommunikation. Politik und Konflikt gehören damit zusammen bzw. der Konflikt ist das Handlungsfeld, in dem Politik stattfindet, und der Krieg, als Staatenkrieg, wäre dann jene bestimmte Form von Konflikt, die mit organisierter Gewalt ausgetragen wird. Das Extrem dieser Gewalt bildet der „Vernichtungskrieg“, wie sie Clausewitz in der napoleonischen Kriegsführung zu erkennen glaubt, in welcher das Militärische die Politik sich unterordnet. Der Vernichtungskrieg ist dann die Gestalt des absoluten Krieges für den Staatenkrieg. In dieser Trias von begrenztem Staatenkrieg, Vernichtungskrieg und Volkskrieg bewegt sich die Bestimmung dessen, was „Politik“ ist. In ihr bewegt sich zugleich die Auseinandersetzung um das Wesen des Krieges in den folgenden Jahrzehnten. Für Helmut von Moltke, den bedeutendsten europäischen Feldherrn des 19. Jahrhunderts nach Napoleon, blieb der Krieg bewusst begrenzter Staatenkrieg, mit einer von der Politik, d. h. Bismarck, klar vorgegebenen, begrenzten Zielsetzung. Militärisch setzte er auf Angriff und die Herbeiführung des Gefechts, in dem als äußerstem Gewaltakt der Krieg kulminierte, wie das auch Clausewitz so gesehen hatte. Gerade das napoleonische Suchen nach dem „Schwerpunkt“ des Gegners, das Streben nach einem kurzen Krieg durch die Entscheidungsschlacht, aber eben zugleich die politische Begrenzung des Krieges durch die Begrenzung der Ziele ergaben „strategisch“ das Konzept des Sieges. Hinzu kamen jene stete Lernbereitschaft, wie sie der ständigen Unbestimmtheit des Kriegsgeschehens entsprach („Man beginnt und sieht weiter“), und das ständige Bedenken des technischen Faktors, Moltkes „Blick auf die Eisenbahnkarte“, seine Reflexion von Hinterladergewehren und Stahlgeschützen. Wo Clausewitz noch davon ausgegangen war, dass die Waffentechnik ihren Gipfel erreicht habe, und generell der technische Faktor ihn wenig beschäftigte, wurde Moltke zum ersten Militär,

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für den die Technik ins Zentrum des militärischen Denkens rückte, und zwar nicht als fixe Größe, sondern als von Innovationen getriebene Variable. Seine Lernfähigkeit zeigte er auch dadurch, dass er sich nach 1871 nicht von seinen Erfolgen blenden ließ, vielmehr seine Blitzkriegstrategie revidierte. Massenheere, die Möglichkeit eines Volkskrieges wie 1871 durch die französischen Franctireurs, die Drohung eines Zweifrontenkrieges gegen Deutschland schienen ihm die Chance einer raschen Vernichtung des Gegners zerstört zu haben. In der Zukunft würden Kriege als Ermattungskriege geführt, mit einem Verhandlungsfrieden als Ziel. Musste ein Krieg von Deutschland geführt werden, so sollte er defensiv im Westen, offensiv im Osten sein, doch dort als Offensive gegen strategische Punkte, nicht als Okkupation im Raum. Zwar hielt er am Vorrang des Militärs im Krieg fest, musste aber Bismarcks Primat der Politik gerade in ihrem gefährlichsten Zustand, dem Krieg, akzeptieren. Die zur selben Zeit vollzogene Hinwendung zur Vernichtungsstrategie im Plan des Generalstabschefs Graf Schlieffen, suchte den Krieg als selbstverständliches Mittel der Politik zu behaupten, gegen die Skepsis des alternden Moltke, der nur noch „Dreißigjährige Kriege“ voraussah, die zu führen weder politisch noch militärisch Sinn ergab. Für die Generäle, nicht nur Preußens, zeigten sich die Tugenden des Krieges, wie Tapferkeit, Opferbereitschaft, Wagemut, allein in der Offensive. Die Defensive als Prinzip galt ihnen als mutlos, schwächlich, geradezu feige. Die strategische Defensive als gültige Alternative zu behaupten, gar zu assoziieren, sie erfordere mehr Klugheit als ihr Gegenteil, war eine Provokation, die zum Schlag ins Gesicht wurde, als der Historiker Hans Delbrück erklärte, Friedrich der Große habe den Siebenjährigen Krieg nur überstanden, weil er schließlich von der Vernichtungsstrategie abgelassen und zur Ermattungsstrategie übergewechselt sei. Die Behauptung des Schlieffen-Plans gegen die Ermattungsstrategie bestand in der Annahme, im Zeitalter der Industrialisierung und der Massenmobilisierung sei ein langer Krieg unmöglich geworden, da er den wirtschaftlichen Zusammenbruch nach sich ziehe. Doch eben die Effekte der Industrialisierung schienen zugleich die Kriegskunst als „geometrische“ Tätigkeit mit eigener Rationalität neu zu begründen: Geometrie der Umfassung als einziger Möglichkeit der Bewegung von Massenheeren, Überwältigung der Massen durch noch größere Massen, also „die Zwei gegen die Eins“ (Schlieffen). Dazu Logistik, Transport, Mobilisierung, Erschließung der Wirtschaft für die Zwecke des Krieges, d. h. Planung bis hin zur Vernichtung des Gegners in einem Super-Cannae, einer gewaltigen Umfassungsschlacht. Das war bereits der Weg zum „totalen Krieg“ und zur Absage an die Überlegungen von Clausewitz, die deshalb „verwirrten“, weil das Verhältnis von Politik und Kriegsführung sich grundlegend geändert hätte: „Die Politik hat der Kriegsführung zu dienen“, wie es General Erich Ludendorff behauptete.97 Ludendorff, der als bedeutendster deutscher Heerführer des Ersten Weltkriegs gilt, zog damit für sich die Folgerungen aus diesem Krieg für einen zu erwartenden künftigen. Dieser Krieg würde ein totaler werden, weil in ihm alle Ressourcen eines Staates mobilisiert werden müssten, sollte er denn siegreich beendet werden, die demografischen ebenso wie die ökonomischen, technischen, psychologischen. Im Zeichen totaler Mobilisierung wurde aus der militärischen Kategorie der „Moral“ des Soldaten die propagandistische Kriegsführung im Inneren und aus dem

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Frieden als Normalzustand einer Gesellschaft eine Phase zwischen den Kriegen, die folgerichtig der Vorbereitung auf den nächsten Krieg diente. Nicht nur entstand der Staat aus dem Krieg, wie auch Clausewitz annahm, er war auch nichts als Krieg oder Vorbereitung dazu, was heißt, dass Politik nichts anderes war als ein Mittel des Krieges. Dieses Konzept des guerre totale findet sich bereits vor und während des Weltkriegs in Frankreich als Verbindung des revolutionären guerre à outrance mit der Industrialisierung des Krieges, insbesondere bei dem rechtsextremen Schriftsteller Léon Daudet (1918). Bei Ludendorff tritt noch das rassenideologische Motiv hinzu, als Überzeugung, der Krieg als ein elementar biologisches Ereignis werde zu einem „Rasseerwachen“ führen, denn der Krieg sei „die höchste Äußerung völkischen Lebenswillens“. Die Frage nach dem Frieden als zu erreichendem Zustand nach dem Krieg stellt sich hier nicht und also auch nicht die Frage nach der Souveränität einer Politik, die der Gewalt befiehlt und eben nicht mit ihr identisch ist. Am Ende steht dann letztlich der totale Staat, dessen Symbol und Mittel die organisierte Gewalt ist. Damit ist ein Endpunkt erreicht: Das Vernichtungsgeschehen ergreift die Gesellschaft selbst. Der Volkskrieg wird ein rassisches Geschehen, in dem sich das Volk als Schicksalsgemeinschaft neu begründet.98 Die Konsequenz daraus zieht der zeitweise Ludendorff-Bewunderer Hitler. Hitler hat keine „Politik“, sie langweilt ihn, wie er einmal erklärt. Er ist als „Politiker“ immer nur Krieger, d. h. eine Spannung zwischen Krieg und Frieden, Militär und Politik kann es hier nicht mehr geben. Der totale Staat der NS-Diktatur ist kein Staat mehr, sondern ein Kriegszustand. Die Begriffe von Clausewitz greifen hier in eine Leere, von der er keine Vorstellung besaß. Es war ein weiter Weg von der revolutionären Selbstbegründung des Volkes als „Nation“. Allerdings war dieser Strang einer fortschreitenden Radikalisierung keineswegs abgebrochen, sondern hatte im Kommunismus seine Fortsetzung gefunden. Bei Clausewitz ist der Kern des Krieges stets die physische Gewalt, das Ziel stets die Vernichtung, doch über die jeweilige Ausgestaltung entscheidet die Politik, die für ihn Gewalt begrenzendes Handeln bleibt. Selbst im Falle eines Vernichtungskrieges ist nur die Armee des Gegners das Ziel der Vernichtung und das politische Ziel, der Frieden, besitzt weiterhin Gültigkeit. Die Totalität des Vernichtungsgedankens, wie sie im 20. Jahrhundert im Kontext von Ideologie und Technologie machtvoll geworden ist, fehlt hier. Die Politik soll mit „kühlem Kopf“ betrieben werden. Die soziale Energie revolutionärer Massen passt nicht in diesen Begriff von Politik, sie passt in den Begriff des absoluten Krieges, der die Politik zerstört und den Enthusiasmus der Gewalt an seine Stelle setzt. Daher ist für Clausewitz der Krieg des Partisanen als absoluter Krieg keiner mehr, der zu einer „kühlen“, begrenzenden Politik einen Bezug besitzt, weil es diese im Kontext einer absolut gewordenen Feindschaft nicht mehr geben kann. Gelang es im 19. Jahrhundert noch, die Revolution in Institutionen politisch zu binden, die zwischen alter, ständischer und neuer Klassengesellschaft vermittelten, in den Verfassungsstaat, die Wehrpflichtarmee, so zerbrach im 20. Jahrhundert die bolschewistische Revolution dieses begrenzende Gefüge der Politik. Lenin, ein eifriger Clausewitz-Leser wie schon Friedrich Engels, identifizierte die revolutionäre Politik mit dem absoluten Krieg. Krieg wäre damit nur eine Form revolutionärer Gewalt, deren We-

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sen vom „Partisanen“ als einer Handlungsstruktur der absoluten Feindschaft verkörpert wird, unabhängig davon, wie dieser konkret die Gewalt ausübt. Diese Gewalt dauert an, solange der Klassenkampf, der Kampf mit dem Kapitalismus andauert. Folgerichtig leitet Lenin aus der These von Clausewitz, der soziale Unterbau einer Gesellschaft bestimme die Art von Politik und Krieg, seine Deutung des Klassencharakters von Gewalt und Krieg ab. „Kapitalistische“ Kriege lehnt er ab, so den Ersten Weltkrieg, da hier die Arbeiterklasse einen Krieg führen solle, der lediglich den Interessen der Ausbeuterklasse diene. Der neue Krieg hingegen wird völlig politisch sein, weil er völlig revolutionär, d. h. proletarisch sein wird, denn hier zerstört der soziale Unterbau den „Überbau“ der herrschenden Klasse. Damit wird die Gewalt notwendig total. Anders als Engels, der als Erster die Problematik von Gewalt und Krieg im Weg zum Sozialismus bedacht hatte, glaubt Lenin nicht an eine gewaltlose Alternative. Engels hatte die kriegerische Gewalt insbesondere von der technologischen Revolution der Feuerkraft her reflektiert und sah daher kaum Chancen für einen Erfolg proletarischer Gewalt gegen reguläre Truppen. Er setzte auf den Kollaps des Militarismus als Folge einer durch Technik getriebenen Eskalation kriegerischer Gewalt zwischen den Staaten. Dabei entsteht eine doppelte Abhängigkeit der „herrschenden Klasse“ vom Proletariat, das sowohl in den Fabriken wie in den durch Wehrpflicht rekrutierten Massenheeren die kriegerische Gewaltfähigkeit von sich abhängig hat werden lassen. Entweder ruiniert sich die „Bourgeoisie“ in verheerenden Staatskriegen wirtschaftlich und zerbricht, oder die Arbeiterschaft verschafft sich auf parlamentarischem Weg die Macht, ohne dass die herrschende Klasse noch gewaltfähig wäre, weil sie mit den Wehrpflichtheeren die Gewaltverfügung verloren hat.99 Zwischen diese Alternativen gestellt, hoffte Engels jedoch, dass die Arbeiterbewegung über kurz oder lang über das allgemeine Wahlrecht die Macht ergreifen werde. Diese englische Vorstellung und deutsche Hoffnung von Engels ist für den Russen Lenin nicht nachvollziehbar. Aus seiner russischen Erfahrung, dass der Weg zur „Befreiung des Proletariats“ nur einer der Gewalt sein kann und dass der Gegensatz von „Herr und Knecht“ nur durch Gewalt aufrechterhalten werde, ergibt sich die einzige Konsequenz, dass nur die Gewalt übrig bleibt. Absoluter Krieg und absolute Feindschaft greifen ineinander. Sie zerstören jede Regularität des Kampfes wie jede Hegung des Krieges insgesamt.100 Sie führen zu jener Form absoluter Politik, die in ihrem Kern Gewalt ist und deshalb ihr alles zutraut. Es ist eine „partisanische“ Politik, die keinen Staat hat und daher institutionell schwer fassbar bleibt, eine Politik der Irregularität, welche sich immer nur provisorisch in Regularien, Verträge, Normen einfügt. Der Voluntarismus des leninschen Sozialismus ist das Vertrauen in die Allmacht der Gewalt. Damit stellt sich die Frage nach der Relevanz der Clausewitz’schen Kriegslehre für jene 100 Jahre zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen 1950 und 2050, die durch die Atombombe, den Partisanenkrieg und die banditische Gewalt in neuer Weise geformt werden. Die Formel vom „Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ setzt nicht nur den regulären Krieg zwischen Staaten voraus, sondern auch, dass ein solcher Krieg nicht zur Vernichtung des eigenen Volkes oder gar eines Teils der Menschheit führt. Politik würde sinnlos da, wo sie das eigene Volk der physischen Auslöschung aussetzt. Die

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Konzepte eines „taktischen“ Einsatzes von Atomwaffen oder eines raketengestützten, u. U. im Weltraum stationierten Abwehrsystems versuchten, den Krieg auch mit Massenvernichtungswaffen wieder führbar und also zu einem Mittel der Politik zu machen. Technologisch erreichte damit der Krieg seine absolute Form, denn insofern sein Wesen Vernichtung ist, vollendet er sich in der finalen Vernichtung der Menschheit und ihrer Lebensgrundlagen. Nach Ende des Kalten Krieges und der Ausbreitung des Nuklearbesitzes ist allerdings ein begrenzter „Krieg unter Einsatz von Atomwaffen“ denkbar geworden, so wie es weiterhin reguläre Kriege gegeben hat. Die Frage nach dem Verhältnis von Krieg und Politik ist dabei erneut eine Frage nach der Art von Politik, die sich des Kriegs bedient und nicht die Frage nach den Militärs, welche die Politik zur Seite drängen wollen. Dass der Krieg immer unberechenbarer wird, je kriegerischer er wird, und dass die Militärs sich dabei immer weiter von der Politik entfernen, ist nichts Neues. Es hat mit der Eskalation der Gewalt zu tun, die auf Gewalt nur mit noch größerer Gewalt zu antworten vermag und dabei immer größere Ressourcen verbraucht, materielle, menschliche, psychologische. Eine das „Böse“ bekämpfende, absolute Politik wird sich in Krieg und Gewalt verrennen, weil sie nach einer reinen, finalen Lösung sucht, bei der einer kapitulieren muss. Wo sich solche Absolutismen begegnen, droht stets der totale Krieg, und es ist allein die Furcht, die eine solche Politik „zur Raison“ bringt, die Furcht vor „Amaggedon“ oder auch bloß vor einem „zweiten Vietnam“. Das leitet über zum Problem des Partisanenkrieges, der all diesen Jahren sein Brandmal aufgedrückt hat. Der Partisanenkrieg bildete neben den Versuchen, den Nuklearkrieg führbar zu machen, die andere – und tatsächlich genutzte – Möglichkeit, den Konflikt der Supermächte als kriegerische Gewalt zu realisieren. Mit dem Ende dieses Konflikts und der ihn begleitenden ideologischen Feindschaft hat auch der Partisanenkrieg seine Struktur verloren und hat sich zunehmend dem Terrorismus angenähert. Dies, ein weder organisatorisch noch ideologisch fixierter Terrorismus, und eine banditische Gewalt in Ländern mit zerfallenden politischen Ordnungen scheinen die Gewaltszenarien der kommenden Jahrzehnte zu bestimmen. Der Zusammenhang beider ist offensichtlich. Nach dem auch hier gültigen Broken-Windows-Paradigma kann einer Eskalation wilder Gewalt nur durch die entschiedene Herstellung von Ordnung an ihrem Ausgangspunkt begegnet werden, von ganzen Fensterscheiben bis zu funktionierender Durchsetzung des Rechts. Das ist zunächst nur durch Gewalt möglich, doch droht hier auch der Beginn einer Gewaltspirale, wenn der Übergang zu zivilen Strukturen, d. h. zu Politik, nicht gelingt. Beispiele sind der Krieg der USA im Irak und in Afghanistan. Denn wenn der Konflikt asymmetrisch ist und man ihn militärisch definiert, dann kann ihm nur durch einen Exzess der Überlegenheit begegnet werden, entweder durch Überflutung mit Bomben und Soldaten oder durch den Einsatz von Atombomben. US-Planungen vom Januar 2002 setzten die überkommenen Nuklearmaximen außer Kraft, nämlich Kernwaffen als Abschreckung, d. h. defensiv aufzufassen und sie nicht gegen Feinde einzusetzen, die keine besaßen. Damit war die Basis terroristischer Aktivitäten selbst ins Planziel gesetzt, auch vor dem Hintergrund, dass die seit 2002 stillgelegte Kernwaffenproduktion ab 2012

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mit neuen Gefechtsköpfen wieder in Betrieb gesetzt werden soll. Im Zeichen des 11. September war eine neue Definition des Feindes ohne den Terrorismus unmöglich geworden. „Chirurgische“ Atomschläge mit „sauberen“ Atomwaffen, die nicht zugleich mit den Terroristen oder terroristischen Staatsführern Millionen von Menschen töten oder verstrahlen (sog. „mini-nukes“), sollen den Kernwaffen eine neue Zukunft eröffnen. Dieser „Miniaturisierung“ der kriegerischen Gewalt im Kontext des Terrorismus entspricht auch das Konzept des „Netzwerk-Krieges“ in seinen beiden Aspekten, dem Cyber War und dem Network Centric Warfare. In Ersterem wird der Gegner als „System von Systemen“ bekämpft, wobei die Niederlage durch Störung oder Zerstörung eines wichtigen Teilsystems erreicht werden soll, etwa des Stromnetzes. In Letzterem geht es um die Operation kleiner, vernetzter Kommandoeinheiten, die rasch auf Lageveränderungen reagieren und sich zusammenschließen können. Miniaturisierung und Dezentralisierung sind Momente der Informationstechnologie, die ihrerseits die Gewalt verändern, sie virtualisieren, aber auch sie in Netzwerken operieren lassen. Im Bild des Virus, der Infektion und der Seuchenbekämpfung werden solche Formen einer „postheroischen“ Gewalt visualisiert und in Möglichkeitskriegen gespielt. Das Auffinden von „Viren“, in virtuellen wie menschlichen Netzwerken, ihre Unschädlichmachung, ersetzt die Bekämpfung eines organisierten Feindes mit schweren Waffen. Bei der Frage, inwieweit nun diese Art der Kriegsführung mit dem Paradigma der Kriegslehre von Clausewitz zu erfassen sei, überwiegt jedoch die negative Antwort. Zum einen wird der Primat der Politik und damit die Vorstellung eines Handelns, das den Krieg nutzt, um politische Ziele durchzusetzen, in Frage gestellt. Die Politisierung des Krieges habe seine Ideologisierung befördert, heißt es mit Blick vor allem auf das 20. Jahrhundert, während es im Blick auf das 21. Jahrhundert heißt, die dort beherrschenden „Neuen Kriege“ besäßen überhaupt keinen politischen Charakter, seien Raubunternehmungen ohne einen als eigenständige Größe vorhandenen Staat. Daran knüpft der zweite Einwand an, der das Fehlen von „Politik“ voraussetzt und das Argument auf das Militärische selbst verschiebt. Der Gegner im 21. Jahrhundert sei im „Gefecht“ nicht mehr zu greifen, er sei verstreut, operiere wie ein „Schwarm“, dezentral, mit flacher Hierarchie. Er sei kein „Partisan“ mehr, mit politischem Ziel und in quasimilitärischen Einheiten fassbar, vielmehr ein „Netzwerkkrieger“, der nur als solcher bekämpft werden könne. Damit tritt das Konzept des „indirekten Vorgehens“ nach vorne. Diese Kunst, den Feind durch Täuschung zu besiegen, ist als Lehre älter als jede andere Theorie des Krieges. Sie wurde im 4. Jahrhundert v. Chr. von dem Chinesen Sun Tsu formuliert und nach dem Zweiten Weltkrieg von dem Engländer Liddell Hart fortentwickelt. Wesentlich bei Sun Tsu ist die Vermeidung einer Entscheidungsschlacht, die Verwirrung des Gegners durch Vortäuschung des Gegenteils (etwa von Unordnung, wenn man zum Angriff antritt, von Unkenntnis, wenn man genau informiert ist), die ständige Bereitschaft zum Rückzug, der Angriff da, wo der Feind schwach ist. Sun Tsu vergleicht die Kriegsführung mit dem Wasser, dem ewig Beweglichen, das sich der Umgebung anpasst wie der Krieger der Situation des Feindes.101 Es folgt dem Gegner überallhin nach, weicht seinem Schlag aus, ist fähig, seine Stellung zu unterspülen, aber auch ihn zu ersäufen.

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Doch bleibt das „direkte Vorgehen“ (als „Feuer“) eine Option im dominanten indirekten Vorgehen (als „Wasser“), dessen eine Wesensart die Täuschung, dessen andere die ihr eng verwandte Information(sbeschaffung) ist.102 Informationsüberlegenheit ist die Voraussetzung der Täuschung. Mao Tse-tungs Strategiebild von den Partisanen als Fischen im Wasser der Bevölkerung knüpft an Sun Tsu an. Die Fische bilden das Potential der direkten Methode im Wasser der Bevölkerung, das sie beweglich hält. Dabei denkt Mao allerdings das politische Motiv hinzu, das bei Sun Tsu fehlt, der im Feldherrn einen sieht, welcher unabhängig vom Fürsten, allein der militärischen Logik folgend, dessen Herrschaftsziele zu erreichen sucht. Sun Tsu denkt an einen kurzen Krieg und warnt vor einem erschöpfend langen. Seine Rezeption durch die US-Kriegsführung im Irak und danach hat nachhaltig zu seiner Wiederentdeckung beigetragen. Ohne „Politik“ im Krieg ist der Friede nicht zu sichern. Wenn die siegreichen US-Militärs im Bagdader Präsidentenpalast alleine am Tisch saßen, weil niemand erschien, um zu kapitulieren, und sie auch niemanden erwarteten, dann hatten sie den Frieden bereits verloren.

Gesichter Mit der Französischen Revolution begann der Glaube an eine Geschichte, die ganz dem Menschen gehört. Die Geschichte galt nicht länger als Schicksal, als Handeln weniger Mächtiger, denen die Untertanen nur Objekt waren, oder als Handeln eines Gottes in einem unfasslichen Plan. Die Geschichte sollte nun Handeln der Menschen selber sein, und da dieses Handeln ein bewusstes werden musste, so würde es zugleich ein bedachtes, reflektiertes werden. Der Übergang aus der Bewusstlosigkeit eines Zustands der Abhängigkeit in die klare Bewusstheit zielgerichteten Handelns verstand sich als „Fortschritt“, d. h. als eine Form von Geschichte, in der die Menschen nichts zum Ziel hatten als sich selbst. Die große Aufgabe war dann, einen „Sinn“ zu finden, was bedeutete, ihn von einem Sinnkollektiv neuer Art abzuleiten, der Nation, der Menschheit, dem Proletariat. Über diese Kollektive schien ein absoluter Sinn gewährleistet zu sein, den man durch Geschichte zu fixieren suchte, eine Geschichte, in der die Zukunft gewiss blieb. Diese Zukunft zerbrach im Ersten Weltkrieg. Im Jahrhundert zwischen Waterloo und Verdun hatte die Arbeit den Fortschritt buchstabiert. Im Jahrhundert danach übernahm die Gewalt ihren Platz und der Fortschritt kollabierte mit einer Vorstellung von Geschichte, von der man behauptet hatte, die Menschen hielten sie in ihren Händen: Das „Schicksal“ kehrte zurück in das Leben der unzähligen Einzelnen als radikale Abhängigkeit von der Gesellschaft, von etwas, dem man zugehörte und das doch über einen wie unbeschränkt verfügen konnte. Das Schicksal, das waren die Anderen, kein Gott, kein König, nicht einmal ein Politiker, ein Führer, denn wo die Schicksalsgeber „vor der Revolution“ gottgegeben waren, wie das Brot und die Pest, waren die Schicksalsgeber danach von der Gesellschaft gemacht, erzeugt. Dass „republikanische“ Bürger massenhaft in den Kriegen jener sterben würden, die sie zu Regierenden gemacht hatten, war „vernünftig“ nicht anzunehmen und es geschah doch, was dem Schick-

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sal im 20. Jahrhundert seine tragische Eigentümlichkeit aufprägte, oder jene Unfähigkeit zur Tragik, weil es keine Katharsis gab, kein Zittern auch der Sieger vor den Ruinen Trojas. Das Schrecknis des Krieges war nicht, wie es ein Kant erhofft hatte, zum Schrecknis des Menschen geworden, sondern Schrecknis des Feindes geblieben. Die erschütternde Vorstellung, dass die Geschichte nur aus Zufällen besteht, die sich durch blindes Handeln zu Tatsachen verhärten, deren radikalste Gewalt und Krieg sind, ist eine Absage an Gott wie Marx, ist eine Wendung zum Menschen als einem Klumpen Materie, von der Sonne gewärmt, von elektrischen Impulsen durchzogen, als den ihn bereits Napoleon sah, wie er auf den Schlachtfeldern von Austerlitz oder Borodino zuckt und verwest. Die Gewalt ist da, sobald sich Menschen als Gesellschaft zusammenfinden, sie entsteht „politisch“ durch Organisation, als Verteidigung, als Kampf für die Zwecke der eigenen Gruppe, erhält instrumentellen Charakter. Die Vorstellung von der Gewalt als rational steuerbarem Mittel entsteht, „technisch“ einsetzbar, wie ein Werkzeug. Es ist die Vorstellung jener, die an die „Geschichte“ als Regelwerk glauben, erkennbar, einstellbar, und ihr Chaotisches, Zufälliges, Tragisches leugnen. Alles moderne Reden von der Gewalt als der „Geburtshelferin“ des Guten, vom Krieg, der „den Krieg beendet“, gehört hierher. Dies Reden verhallt im Schmutz und Schmerz der Schützengräben, Bombentrichter, Lazarette, Gräber. „Ein schmaler Eisensplitter stak in der linken Schläfe . . . Kristl fertigte . . . ein Kreuz und schrieb Namen und Datum darauf . . ., hierauf begruben wir ihn. Der Boden ist bis tief hinab gefroren, wir brauchten über zwei Stunden. Schnee und Sterne gaben schwaches Licht. Um zehn Uhr, als der Mond aufging, erreichten wir Sostelek.“103 Dezember 1916, eine Woche vor Weihnachten an der rumänischen Front, in den Worten des Militärarztes Hans Carossa, der in „Furcht und Vertrauen auf den Menschen“ das Leben zu verstehen sucht und es immer wieder da findet, wo Achill und Priamos „laut, in unsagbarer Erschütterung, schluchzen“, sich wie Ertrinkende aneinanderklammern, ohne sich retten zu können, Sieger und Besiegter und doch durch Gewalt gleichermaßen Verdammte. „An einer Granitplatte, nahe der Kommandostelle, lehnte der Befehlträger Glowina, noch atmend, aber schon ganz mit der einsichtigen Miene des Todes. Man sah kein Blut.“104 Im Blick auf die einsichtige Miene des Todes klammert sich der Überlebende an den Verdammten. „Unter aufgesprengten Rippen lagen die Brustorgane frei, das Herz zuckte schlaff.“ Der Sterbende, ein rumänischer Soldat, blickt den Arzt an. Dieser spritzt Morphium, um ihm den Schmerz zu nehmen, der ihn so „brennend am Leben festhält“, und der Soldat schließt die Augen, „in deren tiefe Höhlen sogleich große Schneeflocken fielen“.105 In diesen Augenblicken aus dem Alltag des Krieges ist das „Geheimnis des reifen Lebens“, in dem Achill und Priamos sich umarmen und ohne das die Menschheit vielleicht nicht ausgestorben, gewiss aber vertiert wäre. So Carossas Beobachtung eines Burschen, der überzählige Katzen erschlägt, wie jenes Offiziers, der überzählige Feinde durch Granatbeschuss beseitigt, unbeteiligt, im Nebenher des Trinkens und Essens, so wie der Bursche, der erst zu zittern beginnt, als das letzte, halbtote Kätzchen sich wie Hilfe suchend an ihn schmiegt.106 Das Ungeheure des Lebens ist im Kleinen, „Zufälligen“, in dem sich etwas zeigt, das alles übergreift, „Transzendenz“ inmitten von Gewalt.

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Der Erste Weltkrieg ist deshalb zur Katastrophe der bürgerlichen Gesellschaft geworden, weil er ihre Voraussetzung negiert hat: das frei handelnde, selbst verantwortliche Individuum, der Mensch, der sich zuerst und zuletzt selber gehört und nur vermittelt der Gesellschaft. Im Dauerfeuer der Maschinengewehre, unter Giftgas und dem Dauerbeschuss durch Sprenggranaten, in den endlosen Reihen von Soldatengräbern wird dieses Individuum serialisiert, seriell eliminiert. Die Vernichtung des Menschen als eines Individuums erzwingt den Blick auf den Menschen als Masse. Es ist der totalitäre Augenblick. Lenin erkennt ihn, Mussolini, Hitler, andere. Sie erkennen den Krieg als riesenhafte Fatalität, als alles fortreißende, unkontrollierbare Sturzflut, als totalen Zwang, der im Nihilismus endet. Er führt das Werk der Zerstörung durch, das sie erstreben. Sie glauben, nach der Sintflut Herren werden zu können, und werden doch ebenso fortgeschwemmt wie jene Zahllosen, die namenlos zugrunde gingen. Denn nichts ist mehr vom Zufall zerfressen als der Krieg und die „Herren“ unterliegen ihm genauso wie die „Knechte“. Der Zufall kann sie zum Sieg hin werfen oder zur Niederlage, doch er stellt all ihre Planungen, Absichten in Frage. Was für den Krieg gilt, gilt für die Schlacht. In ihr verhält es sich wie im Chaos, wo zwar jeder „Zufall“ einzeln erklärt werden kann, aber sein Ineinandergreifen in andere Zufälligkeiten, die dadurch ausgelösten Abfolgen, rätselhaft bleibt und erst im Nachhinein zu einer Ordnung zusammengefügt werden kann, wie nicht nur die Lektüre von Tolstois Romas „Krieg und Frieden“ zeigt, sondern auch die Analyse realer Schlachten. Wellingtons Bemerkung nach Waterloo, die Geschichte dieser Schlacht gleiche der „Geschichte eines Balls“,107 benennt das Geschehen als eine Art blutigen Spiels, dessen einzelne Züge unplanbar bleiben und also auch das große Ganze, chaotische Bewegungen eines Balls, der dann zur Ruhe kommt, wenn er keine Energie mehr besitzt. Die Bewegungen des Balls bilden die Männer, getrieben äußerlich von den Befehlen einer sich im Unsichtbaren der Feldherren verlierenden Hierarchie, innerlich getrieben in einer Mischung aus Angst und Gruppenzugehörigkeit als dem Bewusstsein, nur durch sozialen Zusammenhalt überleben zu können. Nicht der Einzelne kämpfte, sondern die Gruppe tat es, und das umso mehr, je anonymer das Kämpfen wurde. Fliehen war gefährlich, denn gefasste Deserteure wurden hingerichtet. Kapitulieren bedeutete ein beträchtliches Risiko eingehen, denn man konnte nie sicher sein, ob der Gegner den sich Ergebenden nicht dennoch niedermachte, in der schieren Spontaneität der Tötungsabläufe, oder ob Gefangene nicht bewusst umgebracht wurden, wenn man sie nicht aus dem Kampfgeschehen herausbringen konnte. Im Fliehen wie im Kapitulieren verlor der Soldat die einzige Sicherheit, die er im Krieg besaß, nämlich die Fähigkeit zur Gewaltanwendung sowie die Solidarität der Kameraden. Und er verlor mit seiner „Ehre“ die Zugehörigkeit zu einem ihn übergreifenden Ganzen, das „Sinn“ machte und Identität verlieh. Das für den Einzelnen nahezu Fiktive einer Schlacht als eines Gesamtgeschehens zeigt sich etwa in den Erinnerungen englischer Soldaten an Waterloo als ein Ungeheures aus Rauch und Lärm.108 Der Qualm aus Hunderten von Kanonen und Tausenden von Gewehren hüllte das Schlachtfeld ein wie dichter Nebel, in dem kaum etwas zu erkennen war. Man feuerte meist ins Ungefähre, erstickte fast am Gestank des Pulverdampfes, stürmte

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ins Dunkle oder erwartete den Feind, der aus der Dunkelheit auftauchte. Erst am Ende des Tages und der Schlacht, als die Franzosen zu fliehen begannen und man ihnen nachrückte, „brachen wir ins helle Sonnenlicht vor“. Der Lärm der rasenden Schüsse begann zu verebben, ihr hohes Pfeifen oder dumpfes Sausen über den Köpfen, ihre Einschläge, ein ohrenbetäubender Lärm, der jedes Reden unmöglich werden ließ und die Soldaten „fast taub“ machte. Dazwischen Befehle, das Geschrei anrennender Infanteristen, das „unheimliche“ Schwingen von Metall, wenn es von Kugeln getroffen wurde, die Schmerzensschreie von Soldaten, die schwer verletzt worden waren oder – fast noch beklemmender – die Stille der vielen Verwundeten, die zusammengesackt herumlagen. Die meisten starben an den Folgen ihrer Verletzung, die wenigsten unmittelbar im Kampf. Die Gleichgültigkeit Verwundeten, auch den eigenen, gegenüber korrespondiert mit jener zweifachen Apathie, von der immer wieder zu hören ist: der Apathie in der Schlacht als einer der extremen Anstrengung, der Apathie danach als einer der völligen Nervenerschöpfung. Die Überlebenden wenden sich ab und dem Schlaf zu. Ihre einzige Sorge ist, von Plünderern nicht ausgeraubt und womöglich umgebracht zu werden. Seelische Erstarrung, Schock, Trauma waren wohl neben der rein körperlichen Erschlaffung die Ursache dieser Abwendung, doch 1815 kümmerte man sich um solch pathologische Phänomene noch weniger als um die physischen Verletzungen. Das änderte sich erst ein Jahrhundert später, als auch der Krieg – wie die Industrie – durch seine technologisch riesenhaft gesteigerte Intensität noch mehr zu einer Nerventätigkeit geworden war als je zuvor. Wie in der Fabrik verrichtete der Soldat seine „Arbeit“ unter massivem Zeitdruck, vorgegeben durch eine Maschine, die arbeitsteilig Handgriffe vorgab und diese immer mehr beschleunigte. Das Ergebnis war die Materialschlacht des 20. Jahrhunderts. Verdun und die Schlacht am Fluss Somme sind zu Synonymen einer solchen Schlacht geworden. Bereits ein Vergleich zeigt den Unterschied der Dimensionen in der Technologie der Vernichtung seit Waterloo. Wurden dort von der Artillerie Napoleons rund 20 000 Granaten mit einem Gewicht von 100 Tonnen verschossen, so wurden für den Angriff britischer Truppen an der Somme 2,96 Millionen Geschosse mit einem Gewicht von 21 000 Tonnen bereitgestellt, die sieben Tage und Nächte auf die deutschen Unterstände „trommelten“. Durch den Einsatz von Chlorgas, das schwerer als Luft war und so von selbst in die Unterstände kroch, sollten womöglich Überlebende vergast werden. Wer unter solchen Umständen dennoch weiterlebte, würde nervlich zermürbt zum Kampf unfähig und von den eindringenden britischen Soldaten leicht zu eliminieren sein. Doch der Angriff (am 1. 7. 1916) wurde zur Katastrophe, zu einem an Auschwitz erinnernden Vernichtungsgeschehen, mit „jenen langen, gefügigen Reihen uniformiert-zerlumpter . . . und ihre Nummer um den Hals tragender junger Männer, die sich über zerstörtes Land ihrem Ende im Stacheldraht entgegenschleppen“.109 60 000 tote Briten, von denen 21 000 in der ersten Stunde, wenn nicht in den ersten Minuten des Angriffs umkamen (bei 6000 toten und verwundeten Deutschen), waren das Ergebnis einer verlorenen Schlacht, die von ihren Planern und In-Gang-Setzern gewissermaßen ausgezirkelt, geometrisch vermessen worden war und in der jedes Kalkül zuschanden wurde. Dennoch ging die Schlacht weiter, bis

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man am 18. November 1916 den Versuch aufgab, mit dem Durchbruch den Bewegungskrieg wieder möglich zu machen. Fast 420 000 britische, 200 000 französische Soldaten waren verwundet oder gefallen und eine nicht genauer feststellbare Zahl deutscher. „And the blind fight the blind“, wie der junge Dichter Charles Sorley schrieb, ehe er sich selbst in die „pale battalions“ jener einreihen musste, die mit ihrem Leben auch ihren „Mund“ verloren hatten, um über die „Wirklichkeit“ zu reden, ihre Wirklichkeit, die nichts mit dem gemein hatte, was in den Erklärungen der Generäle und Regierungen als solche bezeichnet wurde. Die Kriegsdichtung, wie sie während des Weltkriegs entstand, wollte diese Wirklichkeit aussprechen, im Stakkato des MG-Feuers, im Bersten der Granaten, in der Verlassenheit des Lazaretts, wo der Verstümmelte nimmt „whatever pity they may dole“ (Wilfried Owen, „Disabled“). In einer Welt, die nur noch Gewalt ist, legen sie den erkaltenden Gefallenen in eine Sonne, die ihn nicht mehr zu wärmen vermag („Futility“). Wie Owen wusste, kurz bevor er fiel, gründete die „Poesie im Mitleid“ und die Hoffnung allein in „the eternal reciprocity of tears“ („Insensibility“). Der Gedanke, der größere Furcht macht als alle Gewalt, treibt sie um, die im Krieg still werden, ihre Stille dem Lärm der Waffen, der Predigten entgegenhalten, seit Homer dieser Stille Worte gegeben hat. Es ist der Gedanke, dies alles sei überhaupt nicht vorhanden, sei eine Einbildung, sei ohne Bedeutung bzw. gehöre einer Realität an, die ohne Bedeutung bleibe, hinter welcher aber eine andere Realität zur Erscheinung komme, in der alle Bedeutung enthalten sei. Im Extremzustand des Krieges wird alles einfach, im Lärm wie in der Stille, im Abdrücken auf den Feind wie im Hinschauen auf das, was nach dem Abdrücken bleibt. Zwischen beiden liegt das, was ein anderer „stiller Soldat“ einmal die „Abstraktion“ genannt hat.110 Die Distanz im Vernichtungsablauf schafft eine Abstraktion sowohl hinsichtlich des Vollzugs wie der moralischen Wahrnehmung. Je entfernter etwas ist, desto leichter ist es in bereitliegende Worte, Wortfolgen zu packen. Die Distanzwaffe, die ideologische Feindbenennung, die Funktion bzw. die von ihr ausgehende Macht schaffen Abstraktionen, in die Menschen wie in Kleider schlüpfen, die sie auch wieder ablegen können und für die sie keine Verantwortung übernehmen. Hierher gehört auch die umfassendste aller Abstraktionen, der kollektive Hass, der dem Feind die Humanität abspricht, ihn mit dem Bösen an sich gleichsetzt. Es ist das Feindbild des „totalitären Soldaten“.111 Dem totalitären Feindbild entspricht die Vorstellung vom Krieg, von der Schlacht, von jedem einzelnen Vorfall als geordneter, bedeutungsvoller Gesamtheit. Bevor man nach Hiroshima flog, um dort die „größte Errungenschaft der Wissenschaft“ abzuladen, rief man Gott an und empfahl die Transporteure seinem Schutz. „Plötzlich erfasste bläuliches Licht den ganzen Himmel und meine Augen. Im gleichen Moment stürzte unser Haus in sich zusammen . . . Um mich wirbelten Sand und Asche . . . Das Haus fing zu brennen an . . . Rauskommen!. . . Außer sich vor Furcht bewegten sich Verletzte vorbei, weg vom Feuer . . . Wir flohen zu den Bergen . . . im Fluss trieben Menschen, viele einzeln, manche hielten sich auch umarmt . . . Am Flussdeich . . . lagen grausam Verletzte . . . Menschen mit herausgedrückten Augen . . . Menschen, in deren Körper zahllose Glassplitter steckten. ‚Mutter!‘, riefen sie . . .“112 „Zuerst kam der grelle Blitz der Explosion. Dann eine blendende Helligkeit . . ., dann die

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pilzförmige Wolke. Über der Stadt sah es aus wie ein brodelndes Meer von kochendem Pech . . . Die armen Schweine da unten, wir haben sie sicher alle umgebracht“.113 Hiroshima, am frühen Morgen des 6. August 1945, gesehen von einer 20-jährigen Japanerin und dem Bordschützen des Bombenflugzeugs. Der Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki bildete für die Militärs den Höhepunkt ihrer Luftkriegsführung, die mit der Vernichtung Tokyos (9. März 1945, mit 86 000 Toten) durch 334 Bomber bereits das Stadium „strategischer“ Vernichtung erreicht hatte. Nach dem Vorbild der britischen Luftkriegsführung ging es nicht um ein taktisches „Eisenbahngeschäft“, d. h. um möglichst begrenzte Angriffe auf militärisch relevante Ziele, sondern um das buchstäbliche Ausbrennen der „Moral“ der Zivilbevölkerung. Hier kam die A-Bombe wie gelegen, denn um allein ihre Sprengkraft in Form konventioneller Bomben zu transportieren, hätte man 2000 Flugzeuge benötigt. Amerikanische Offiziere sprachen damals vom „Holocaust“, der dort stattgefunden habe, und vom „Ground Zero“ als Bezeichnung einer dem Erdboden gleichgemachten Stadt. In Hiroshima starben rund 140 000 sofort oder bis Ende 1945, in Nagasaki 70 000, ehe die USA ein längst vorliegendes japanisches Angebot zur Kapitulation annahmen. Doch nicht die Zahl der im Feuersturm Umgekommenen war das Neue, sondern die merkwürdigen, von den Ärzten wie den Betroffenen nicht erklärbaren Folgewirkungen der Bombe. Eine „besondere Krankheit“ lasse Menschen sterben, die keine äußeren Verletzungen aufwiesen, scheinbar Gesunde, die Blut erbrachen und bei denen „rote und bläuliche Flecken am ganzen Körper entstanden“. Die Amerikaner blieben gleichgültig und unterdrückten Berichte aus den verstrahlten Städten ebenso wie sie sich zunächst weigerten, Hilfe zu senden oder über die Ursachen der „besonderen Krankheit“ zu informieren. „Die ersten Hütten entstanden. Auf der radioaktiv verseuchten Erde wurde Essbares angepflanzt . . . Um zu überleben, aßen die Menschen sogar Gras, das an den Bahndämmen wuchs . . . Auch Tiere waren verletzt worden und starben . . . Die Vögel verloren ihre Federn . . . Von Pferden ist berichtet worden, dass sie Fieber und Blutungen bekamen.“114 Aber die Würmer und Schlangen überlebten und die Fliegen vermehrten sich rasend schnell. Bis ein Taifun kam und die Erde rein wusch, eine Zerstörung, welche die Menschen seit Jahrtausenden kannten und nun wie eine Erlösung begrüßten, einen Zyklus der Natur, der alles wieder zu richten schien, nach der Zerstörung ins Leben fortleitete. Die Natur zerstörte und erhielt zugleich, doch die verstrahlte Natur in den Körpern der Hibakusha, die meist als Kinder die Bombe überlebt hatten (um 1970 noch 400 000), ist nicht zu versöhnen, weder in den Leibern noch in den Genen. „Die Schatten von laufenden Menschen waren auf der Mandai-Brücke eingebrannt . . . es gab auch einen Schatten von einem Menschen, der einen Karren zog.“115 Vielleicht sind die schrecklichsten Bilder jene der Schatten, welche die Menschen im grellen Blitz der explodierenden Bombe gegen weiße Wände warfen, ehe sie verdampften. „Mitten in die Dunkelheit gepflanzt war eine lodernde Kuppel aus hellrotem Feuer, entzündet und entflammt wie das glühendste Innere eines riesigen Hochofens. Flammen sah ich keine, auch keine Gebäudeumrisse, nur hellere Feuer, die gegen einen Hintergrund hellroter Asche . . . flackerten.“ Es herrschten Temperaturen von 800 Grad C. Vierstöckige Wohn-

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blöcke waren bis hinab in die Keller wie glühende Grabhügel aus Stein. Einfach alles schien geschmolzen zu sein . . . Frauen und Kinder waren so verkohlt, dass sie nicht mehr zu erkennen waren . . . Das Hirn war ihnen an den geborstenen Schläfen herunter- und die Gedärme . . . unter den Rippen hervorgequollen.“116 „Gomorrha“ (Hamburg) am 28. Juli 1943 von oben betrachtet, aus dem Flugzeug, das seine Bombenlast abgeworfen hat, von unten betrachtet, von einer 15-jährigen Überlebenden. Es war „moderne Kriegsführung im Stile der Nazis“, wie es der US-Präsident Franklin Roosevelt bezeichnete. Oder wie Thomas Mann die Zerstörung seiner Heimatstadt Lübeck kommentierte, habe er „nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss“, mit denselben Mitteln. Als Dresden bombardiert werden sollte, erhob niemand Einwände. Als man am 30. Mai 1945 dem amerikanischen Kriegsminister Henry Stimson die Liste mit Zielen für den Atombomben-Abwurf vorlegte, „entgegnete dieser sofort: ‚Ich will nicht, dass Kyoto bombardiert wird‘. Und er erzählte mir ausführlich über Kyotos alte Geschichte als Kulturzentrum Japans, als ehemalige Hauptstadt“.117 So sehr General Groves, der militärische Leiter des Atombomben-Projekts, auch die Vorzüge Kyotos für eine atomare Zerstörung betonen mag: vor allem, dass sie als eine der wenigen noch unzerstörten Städte eine experimentelle Einschätzung der Vernichtungswirkung der neuen Bombe ermögliche, der Minister lehnt ab. Nicht nur, dass Stimson den „totalen Krieg verabscheut“, Flächenbombardements als Krieg gegen die Zivilbevölkerung ablehnt und auf „Grenzen“ besteht, welche die Kriegsführung einzuhalten habe, zumindest die seines Staates: Er glaubt zugleich, dass auch „Kultur“, der Bauwerke und ihrer geschichtlichen Bedeutung für ein Volk, Grenzen setzt und dass man ein feindliches Volk nicht auf eine kulturelle Nullebene reduzieren dürfe. Stimson kennt das Paradox seines Amtes, seine relative Ohnmacht gegenüber der Phalanx von hohen Militärs, klugen Physikern und einem überforderten Präsidenten. Er zieht eine Grenze, die er nicht überschreiten will. Es ist quasi eine Frage seiner Ehre, aber auch eine nach dem „Frieden in den kommenden Jahrzehnten“, nach dem Zusammenleben mit jenen, die man heute als Feinde ausbrennt. Dass der Schutz von „Gebäuden, die der Menschheit zur Ehre gereichen“, zu den Grundsätzen des „Völkerrechts“ zu zählen sei, hatte bereits einer seiner Gründer, Emer de Vattel (1758) erklärt. Schon damals hatte es den Kriegsführenden Kopfzerbrechen bereitet, doch zwei Jahrhunderte später waren selbst diese Gebrechlichkeiten verschwunden, bei den meisten, nicht bei allen, nicht bei Stimson. Grenzen auszumachen ist das Schwierigste von allem, besonders in Situationen von Gewalt. Am 8. September 1944 verweigert der Hauptmann William Douglas Home den Gehorsam, als er hört, dass sein Befehlshaber es abgelehnt hat, das Angebot des deutschen Kommandanten von Le Havre anzunehmen und vor Beginn der Schlacht die Zivilbevölkerung abziehen zu lassen. Man reisst ihm die Rangabzeichen von der Uniform, stellt ihn vor ein Kriegsgericht, verurteilt ihn. „In Le Havre sind bei der Eroberung durch die Alliierten mehr als 2000 französische Zivilisten zu Tode gekommen“.118 Am 11. Juli 1995 übergibt der Befehlshaber der niederländischen UN-Einheit, Oberst Karremans, die mit 40 000 muslimischen Bewohnern und Flüchtlingen überfüllte Stadt Sebrenica dem serbischen General Mladic. Dessen Soldaten beginnen die Menschen aus der Stadt zu treiben,

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trennen dabei die Männer von Frauen und Kindern, transportieren sie ab, liquidieren sie durch die Partisanen-Methode mit Genickschuss, 8000 von ihnen. Verzweifelte, die sich in das niederländische Lager zu flüchten suchen, treibt man weg, andere werden ausgeliefert. Die Niederländer bleiben unversehrt. Einen Tag später prosten sich Karremans und Mladic zu.119 Aus militärischer Hinsicht war der Auftrag, die Bevölkerung zu schützen, undurchführbar. Der Oberst beachtete die Grenzen seiner Möglichkeiten. Hat er je „Grenzen“ erreicht?

Exkurs: Eine Welt ohne Krieg? Das Rätsel des Friedens ist der Krieg, ist seine schiere Ewigkeit in aller Geschichte. In Gesellschaften, denen der Krieg nahezu stete Gegenwart bedeutete, differenzierten Gesellschaften mit Landbau und Städten, wies die Frage nach dem Krieg fort auf die Frage nach der Gewalt an sich. Sesshafter Landbau, Städte waren nicht nur den Beutezügen anderer, insbesondere nomadisierender Völker ausgesetzt, sie waren auch durch die innere Gewalt, die Gewalttätigkeit zwischen ihren Bewohnern, besonders gefährdet. So bildete sich die Friedensidee zuerst um die notwendige Gewaltlosigkeit „in der Stadt“ aus. Die Tätigkeiten der materiellen Sicherung des Lebens sind hier allesamt Friedenstätigkeiten. Zudem muss eine Stadt, will sie äußere Angriffe abwehren, im Inneren zusammenstehen. Einen Frieden, der dauert, kann es daher nur innerhalb einer politisch geordneten Gruppe geben, wobei die Gründung dieser Ordnung eben in der Unterdrückung wilder Gewalt ihren Ursprung und in der Wahrung des Friedens ihr Ziel besitzt. Den äußeren Krieg beseitigen zu wollen setzt dann voraus, von einem Achtungsbegriff des Menschen auszugehen, der die Mitbürger zum Mitmenschen hin ausweitet. Dies ist zum ersten Mal bei dem chinesischen Philosophen Mo Ti geschehen (ca. 479–381 v. Chr.), von dem die erste Schrift gegen den Krieg stammt. Er befindet sich damit im Einklang mit den anderen Philosophen der Klassischen Periode wie Konfuzius und Menzius. Doch rückt bei ihm die Gewalt in das Zentrum seines Fragens nach der gerechten Gesellschaft. Da er den Krieg lediglich als einen, wenngleich krassen Fall von Gewalt betrachtet, ordnet er ihn in die Kategorie der einen Gewalt ein, der die ebenfalls ungeteilte Kategorie der Moral entgegengestellt wird. Diebstahl bleibt Diebstahl, Mord bleibt Mord, denn es sei nicht einzusehen, warum jemand, der einen Pfirsich stiehlt, bestraft wird, jemand, der einen ganzen Staat stiehlt, erobert, dafür aber noch gepriesen werden soll.120 Zudem nutzt der Krieg niemandem, denn der Sieger verliert stets mehr, als er gewinnt, weil er an Menschen und Gütern verliert und in seinem Streben, sich durch Beute an den Besiegten zu entschädigen, diese nur noch in ihrem Hass bestärkt und zur Rebellion treibt. Überdies fördern Angriffskriege Neid und Furcht anderer Staaten, die ihrerseits dann kriegerisch gegen den zu stark werdenden Sieger vorgehen. Der gute Fürst ist also jener, der zwar sein Land verteidigt, aber niemanden angreift. Sein Gesicht spiegelt sich nicht im gleichgültigen Wasser, sondern in den Gesichtern der Menschen, wie Mo Ti sagt, in denen Geschick und Missgeschick, Frie-

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den oder Krieg eingegraben sind.121 Hinzu kommt, dass der Krieg ein Handeln wider den Willen des Himmels ist, und das Töten von Menschen den Geistern jene fortnimmt, die sie verehren. Dem Willen des Himmels zu folgen bedeutet, sich um das Wohlergehen aller zu sorgen. Wo dies getan wird, herrscht Friede, wo aber Parteilichkeit herrscht, da ist Gewalt notwendig, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Universalismus innerhalb des Staates, d. h. Anerkennung aller als wichtiger Träger der Gemeinschaft, und Universalismus jenseits seiner Grenzen, als Anerkennung aller Menschen unter dem einen „Himmel“, ergänzen sich zum Universalismus der Friedensidee. Die Vorstellung eines dauerhaften Friedens „außerhalb der Mauern“, der mehr war als bloß ein befristeter Ausnahmezustand des kurzen Friedens in der Normalität des Krieges, konnte demnach nur entstehen, wo die Idee des Menschen selbst universalistisch gedacht werden konnte. Im Westen begann diese Idee mit der Vorstellung eines Weltreiches erste Gestalt anzunehmen, das alle Völker der Welt in einem Reich vereint, sie in der Gemeinsamkeit von Kultur und Recht befriedet. Von Alexander und im Hellenismus begonnen, erhielt diese Vorstellung im Römischen Reich und seiner Pax Romana dann eine Jahrhunderte überdauernde Form.122 Doch war auch dieser große Friede das Ergebnis vieler großer und kleiner Kriege, mit denen Rom „den Erdkreis“ eroberte, mit Hektakomben von Toten, verbrannten Städten, endlosen Scharen in die Sklaverei verkaufter Menschen. So bietet die Geschichte die – wenngleich begrenzte – Verwirklichung eines universalen Friedens in einer kulturell homogenisierten universellen civitas, ins Bewusstsein gehoben durch die Friedensphilosophie der Stoiker. Wie bei den Mohisten gilt auch bei den Stoikern der himmlische Wille, hier des Zeus, dem Frieden, erscheint der Krieg als Auflehnung gewisser Menschen gegen das Göttliche: gewisser Menschen, die parteiische Interessen verfolgen und von Habgier und Stolz getrieben worden sind. Der Menschenzustand ist der Krieg, der Götterzustand der Friede und weil die Götter nur selten den Menschen nahe sind, ist auch der Friede so selten. Und wie bei den Mohisten gilt das Streben nach Luxus, damit nach Ausbeutung, als Kern dieses Übels. Es gibt nur eine Moral, im Kleinen wie im Großen. Zwar scheint die Stoa den Verteidigungskrieg nicht grundsätzlich abgelehnt zu haben, doch blieb es Cicero als römischem Staatsmann vorbehalten, stoisches Gedankengut mit dem Erfordernis praktischer Politik zu verbinden. Die Frage danach, wann ein Krieg „gerecht“ sei, soll das leisten. Dabei fasst Cicero diese Frage moralisch auf und nicht nur in jenem formalistischen Sinn, in welchem die Römer früher einen bellum iustum zu bestimmen gesucht hatten, nämlich als Androhung und Erklärung eines Krieges, ehe man ihn begann.123 Ein Krieg braucht einen Grund, um als gerecht gelten zu können (iusta causa), und diesen Grund sieht Cicero in der Verteidigung des Eigenen (suum cuique), d. h. von Land, Leuten und „Ehre“, sowie der Bundesgenossen. Doch nimmt dieser Gedanke dann eine imperiale Wendung, wenn angenommen wird, dass Krieg auch dann gerechtfertigt sei, wenn die „Tüchtigen“, d. h. jene, die es vermochten, ihre Gemeinschaft nach Gerechtigkeitskriterien zu ordnen, die dazu Unfähigen, Untüchtigen unterwerfen und in die Bundesgenossenschaft zwingen. Damit wäre auch der Eroberungskrieg rechtens und das Imperium Romanum in seinem kriegerischen Zustandekommen gerecht-

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fertigt. Zugleich ist jedoch gesagt, dass Krieg nie Selbstzweck sein darf, d. h. dass sich in ihm keine sittliche Tüchtigkeit verwirklicht, weil die Gewalt dem Tierischen angehört, die Sprache hingegen dem Menschlichen, und Sprache bedeutet Reden, Verhandeln. Deshalb soll die Gewalt, wenn sie denn ausbricht, begrenzt bleiben, darf nicht auf die Vernichtung zielen, es sei denn, der Feind verhielt sich selbst grausam und es gäbe keine Möglichkeit, ihn als Bundesgenossen in eine friedenswahrende Rechtsordnung zu zwingen.124 Dass bei den Römern Pax zugleich den Frieden und das Nichtangriffsabkommen bezeichnete, aber auch, dass Augustus nach Ende der Bürgerkriege eine ara pacis errichten ließ (9 v. Chr.), verweist auf den Frieden als Rechtszustand, in dem die Gesetze gelten und Konflikte ohne Gewalt gelöst werden. Friede ist damit die ausgedehnte Bürgergemeinde. Es ist eine Kategorie des Politischen, aber nicht des Menschlichen, wie bei Mo Ti. Diese Verbindung von „Krieg“ und „Recht“ beherrscht auch das Kriegsverständnis des Mittelalters. Krieg ist zugleich der Ausdruck einer Störung der Rechtsordnung wie das Bestreben, sie wiederherzustellen. Krieg war Fehde, d. h. gewaltsame Einforderung des eigenen Rechts, oder was man dafür erklärte, von dem, der es verletzt hatte. Da es noch keinen absolutistisch gegründeten „Staat“ gab, in dem einer allein: der Fürst, das Recht und die Fähigkeit zur Gewaltanwendung besaß, existierten lediglich quantitativ verschiedene Arten von Fehden, kleine zwischen kleinen Feudalherren, große zwischen großen Feudalherren.125 Recht als Gegensatz zu Gewalt setzte demnach den als civitas geordneten Raum voraus, in dem die Gesetze galten. Das Imperium Romanum war ein solch politischer Raum. Im Mittelalter hingegen existierte ein solcher Raum außerhalb der Stadt nicht. Daher war die als Fehde praktizierte Gewalt eine legitime Form der Rechtsdurchsetzung, sofern bestimmte Regeln beachtet wurden, insbesondere die formelle Erklärung der Fehde an den Betroffenen. Religiös eingebunden wird die Fehde durch die Vorstellung des „Gottesgerichts“, d. h. die Anrufung eines in allem Geschehen anwesenden Gottes, durch die Zuteilung von Sieg und Niederlage über die Rechtlichkeit einer Sache zu entscheiden. Die Frage allerdings, ob das Christentum nicht ein generelles Gewaltverbot enthielte, war damit theologisch nicht beantwortet. Im Neuen Testament wird der Friede aus der Gesellschaft in das Herz des Einzelnen zurückgenommen. Friede ist Friedfertigkeit des Einzelnen, der Christus nachfolgt. Um in einer von Gewalt durchzogenen Welt zu einer normativen Kraft aufzusteigen, musste sich das Christentum mit dieser Welt kompromittieren, indem es den „gerechten Krieg“ vom ungerechten unterschied. Es war die Antwort Ciceros. Es ist die Antwort des Augustinus, der das römische Argument zu einem christlichen macht. Gerecht ist ein Krieg, der zur Verteidigung dient bzw. der verletztes Recht sühnt und den Übeltäter bestraft. Auch der Gedanke, dass ihm durch seine Niederlage eigentlich Gutes widerfährt, weil ihm die Möglichkeit, Unrecht zu tun, genommen wird, findet sich hier. Letztlich soll der Besiegte in die Friedens-, also Rechtsordnung des „gerechten“ Siegers einbezogen werden. Daher ist es ratsam, unnötige Grausamkeit zu vermeiden, auch, weil auf diese Weise der Besiegte vollständiger von seinem Unrechtshandeln überzeugt werden kann. Wo dann bei Cicero die imperiale Deutung jenes sozusagen „erzieherischen“ Krieges folgt, steht bei Augustinus (354–430) der heilige Krieg, der bellum Deo auctore. Aller-

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dings sollen sich die Kleriker nicht unmittelbar am Krieg beteiligen, denn ihnen sei das Vergießen von Blut verboten. Doch dürfen sie für die Gewalt gegen das Böse predigen und die Kirche kann diese den Fürsten befehlen. Zudem versprach Papst Urban II., als er zum ersten Kreuzzug aufrief (1095), den christlichen Kriegern einen Erlass ihrer Sünden: Im Kampf Gefallene entgingen auf diese Weise dem göttlichen Strafgericht und wurden den Märtyrern gleichgestellt, obgleich ihnen diese Bezeichnung versagt blieb. Der vom Neuen Testament her ungeheuerliche Gedanke, Gott könne Urheber eines Krieges sein, findet hier seine Rechtfertigung. Es ist ein Gedanke, der gewissermaßen den Weltanschauungskrieg begründete, offen erklärte „Kreuzzüge“, von denen gegen den Islam über die koloniale Eroberung der Amerikas, die millenarischen Anläufe des 17. Jahrhunderts bis zu den „crusades“ der USA im 20. Jahrhundert und darüber hinaus. Weitreichende Folgen hatte diese Verbindung von Kirche bzw. rechtmäßigem Glauben und Gewalt auch, weil sie zuerst im Kampf gegen die Ketzer, d. h. innerkirchliche Gegner, entstanden ist. Wer den rechten Glauben gekannt und ihn dann verleugnet hat, ist noch schlimmer als jeder Heide, der die Wahrheit nie kannte, wie bereits Thomas sagt. Der Ketzerkampf ist noch erbitterter als jeder Heidenkrieg und er wird seine Nachfolger überall finden, wo eine herrscherliche Institution den Besitz der Wahrheit behauptet, von der Inquisition der katholischen Kirche bis zur Verfolgung ideologischer Abweichler in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Die mittelalterlichen Vorstellungen zum Krieg entfalten sich demnach aus dem Ineinander kirchlicher und feudaler Rechtsideen. Feudal ist die Fehde die Form der Durchsetzung des Rechts durch die gewaltfähigen Herren in einer Gesellschaft, in der es keine wirksame allgemeine Rechtsprechung gibt. Fehde ist bewaffnete Rechtsdurchsetzung, deren innere Rechtlichkeit durch den gerechten Grund, deren äußere Rechtlichkeit durch die formale Ankündigung der Gewalt hergestellt werden muss. Damit ist der Krieg auch nur eine Fehde im großen bzw. die Fehde ein Krieg im kleinen. Die kirchliche Lehre verknüpft diese zweifache Rechtlichkeit mit der entsprechenden römisch-rechtlichen Argumentation. Krieg ist gerecht, wenn er das Recht gewaltfrei macht, es wiederherstellt und damit den Frieden als Zustand des Rechts. In der von Sünde durchzogenen Menschenwelt bleibt der Krieg eine dira necessitas und die Teilnahme an ihm erlaubt, vorausgesetzt nur, dass der Kämpfer von der Rechtlichkeit seiner Sache überzeugt ist (selbst wenn er irrt) und nicht aus Rache oder der Beute willen Blut vergießt. Mit dem „Heiligen Krieg“ kommt allerdings etwas vollkommen Neues in die Geschichte der Kriegsrechtfertigung. Kriege um des Glaubens willen hatte es vorher nicht gegeben, Kriege also, in denen es nicht nur um die Eroberung von Territorium und Arbeitskraft ging, sondern um die Eroberung des Bewusstseins. Die Vorstellung, dass Gott in der Gewalt richtend vorhanden sei, dass Kampf, Schlacht, Krieg ein iudicium belli sei, ein Gottesgericht, ließ sich im Kontext des Monotheismus und eines Gottes, der den Anspruch erhob, der einzige Gott zu sein neben lauter hölzernen oder steinernen Götzen, wie einer herrschaftlich gewordenen Kirche dann mühelos zum Heiligen Krieg fortbilden. Dieser konnte Missions- wie Ketzerkrieg sein. Zuerst musste sich die Kirche als absolutes Gehorsamsgebilde nach innen festi-

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gen, ehe sie nach außen Gewalt ausüben konnte, wobei sie sich im ersten Stadium der Konsolidierung noch auf die Exekution durch die Herren, die Fürsten beziehen musste, im zweiten Stadium der Expansion hingegen selbst versuchte, gewaltfähig zu werden, also die weltanschauliche Herrschaft durch die der Gewalt zu vollenden. Daraus ergab sich dann der päpstliche Anspruch, Ländereien von Ketzern sowie jene Länder, die von Heiden bewohnt wurden, an die rechtgläubigen Eroberer zu übertragen, mit der Verpflichtung, diese zum rechten Glauben zu bekehren. Damit wurde das Verbot des bloßen Eroberungskrieges umgangen. Im Kontext des ausufernden Fehdewesens und der Bemühungen um einen Gottesfrieden kommt es dann bei Thomas von Aquin, dem größten Kirchenlehrer des Mittelalters, zur Verlagerung der Frage nach dem gerechten Krieg als Frage nach der gerechten Ursache zur Frage, wer überhaupt ein Recht zum Kriege (ein ius ad bellum) besitze. Damit wird zumindest prinzipiell die Kriegsberechtigung von den vielen auf wenige eingeschränkt, auf jene, die „keinen Herren über sich haben“, etwas, das später mit dem Begriff der „Souveränität“ bezeichnet worden ist. Zugleich wurde damit ein politischer Raum geschaffen, in dem der oberste Herr seine Herrschaft ausübte, d. h. den Frieden sicherte.126 Einreden etwa des Kardinals Petrus Damiani, der an die Absolutheit des christlichen Gewaltverzichts erinnerte und daran, dass Christus und die Apostel sich lieber der Gewalt auslieferten, als selbst verteidigende Gewalt auszuüben, blieben wirkungslos. Immerhin stellte sich etwa bei Dante (1310) die Frage, wie unter den Bedingungen „Kains“ dennoch der Frieden zu wahren sei, mit der Antwort, dies sei unter einer zur Weltmonarchie fortgedachten Kaiserherrschaft möglich: der ersten Vorstellung eines Weltstaates, welcher alle anderen zum Frieden verpflichtet. Um Macht auszuüben, musste sich die Kirche der Gewalt öffnen und sie tat es ohne große Bedenken. Der Krieg galt als gerecht, wenn er einen gerechten Kriegsgrund, eine iusta causa besaß, und er besaß sie, wenn er der Verteidigung oder Ausbreitung des wahren Glaubens diente, womit etwa Francisco de Vitora die spanische Eroberung Amerikas rechtfertigte. Doch als die Einheit der Kirche in der Reformation zerbrach, drang die Gewalt selbstzerstörend in die Kirche ein. Im Mittelalter hatte man die Ketzer vernichtet. Doch nun waren die Ketzer zu zahlreich geworden, hatten sich Fürsten mit ihnen verbündet. Sie vernichten zu wollen, führte in den konfessionellen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts. Dabei veränderte die Prädenstinationslehre Calvins die Vorstellung vom „gerechten Krieg“. Da alles menschliche Handeln von Gott vorbestimmt war, konnte nur der Sieger, nicht aber der Besiegte zum gerechten Streiter werden. Die aus dem „gerechten Grund“ her mögliche Beurteilung eines Kampfes war damit unmöglich geworden. Der Kriegsgrund trat in den Hintergrund und die Rechtfertigung verlagerte sich auf den Ehrenkodex der Beachtung von Regeln. War man im Mittelalter wie in der Antike davon ausgegangen, das angeborene Bedürfnis der Menschen, sozial zu leben, zwinge den Krieg immer wieder in den Frieden zurück, so gewann nun der Gedanke Geltung, erst der Krieg zwinge den Menschen überhaupt zur Vergesellschaftung. Die Gewalt wird hier zur Voraussetzung von Frieden und Gesellschaft: Die Gewalt und die Furcht vor ihr, die zur Zähmung der

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Gewalt als politischer Herrschaft führt. Damit ist die Frage nach dem gerechten Krieg zur Auffassung geworden, wer den Frieden sichern bzw. die Gewalt monopolisieren könne, sei zu Recht Fürst. Folglich sollte im Inneren der entstehenden Staaten Frieden herrschen und eben dies: die Fähigkeit der herrschaftlichen Durchsetzung des Friedens, ließ die mittelalterlichen Herrschaftsverbände zu „Staaten“ werden. Zwischen den Staaten jedoch herrschte ein „Naturzustand“ potentieller Gewalt, in dem Krieg oder Frieden von den Machtinteressen der Staaten bzw. der Fürsten abhing. Zwar gab man weiterhin „gerechte“ Gründe an, die den eigenen Krieg als Bestrafung erlittenen Unrechts behaupteten, doch blieben diese deklamatorisch und die Zeitgenossen wussten das. Aus dem „gerechten Krieg“ wurde das „Recht im Krieg“, das ius in bello, wurde die Regulierung des Krieges jenseits aller Moral.127 Geistig begründet wurde diese durch die ganz neue Annahme der Möglichkeit, dass beide Seiten im Recht sein könnten (bellum iustum ex utraque parte), etwa wenn zwar die Tatsache einer Rechtsverletzung vorliege, diese aber dem Handelnden nicht als Schuld zugeschrieben werden könne, z. B. weil er in einem Irrtum hinsichtlich der Rechtslage befangen war. Aus dem bellum iustum, dem gerechten Krieg, sollte der bellum legale werden, der rechtmäßige Krieg, rechtmäßig im Sinne der Beachtung der Regeln legitimer Kriegsführung und ohne die moralische Rechtfertigung eines Kriegsgrundes. Denn ob ein gerechter Krieg, der stets um eines Absoluten wegen gefochten wurde, auch ein geregelter werden konnte, daran konnte man zweifeln. Mit einem absoluten Feind durfte nicht verhandelt werden, für ihn galten weder Verträge noch Gnade. Mit einem Gegner hingegen, den man um pragmatischer Ziele wegen bekämpfte, nicht um Gottes, sondern einer Stadt, eines Landstrichs wegen, konnte man Absprachen treffen. Wenn im Mittelalter, bei aller Gewalttätigkeit, doch stets das christliche Gebot der Gewaltlosigkeit als letzter, das Gewissen immer wieder verstörender moralischer Imperativ wirksam geblieben war, so erscheint es mit dem Beginn der modernen Gewalt, als ob das Christentum selbst kriegerisch zerbrochen sei, das Kalkül der Macht alles imperativ Moralische beiseitegeschoben hätte. Die Gewalt wurde selbst zum Imperativ, im Inneren der entstehenden Staaten, in denen eine letzte, höchste Obrigkeit die allein gewaltfähige zu sein suchte, wie zwischen diesen Staaten, die sich dadurch als souverän zu behaupten suchten, dass sie ihre Gewaltfähigkeit unter Beweis stellten. Und dieser Beweis hing vom Umfang der Verfügung über Territorium und Menschen ab, weshalb jeder Beweis der Kriegsfähigkeit als Sieg in ihrer Stärkung durch Okkupation bestand. Die Befriedung im Inneren durch das Niederwerfen feudaler Zwischengewalten erhöhte die Gewaltfähigkeit nach außen. Die Legitimität der Gewalt verlagerte sich in das, was mit Entstehung der modernen Staatenwelt zur „Außenpolitik“ wurde, in der ein Krieg zu einem selbstverständlichen Mittel wurde, zwischen rivalisierenden Ansprüchen zu entscheiden. Es waren meist Ansprüche, die mit einer nicht völlig eindeutigen Erbfolge verbunden waren, Ansprüche also zwischen eng verwandten fürstlichen Familien, die ihre Länder wie ein Eigentum behandelten. Dass viele Zeitgenossen die Ursache des Krieges im Stolz und der Herrschsucht der Fürsten erblickten und der Gedanke entstand, die Monarchie sei der Krieg, die Republik hingegen der Frieden, hat hier seine Wurzel: Krieg als Familienstreit auf Kosten der

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Untertanen. Der Krieg hatte demnach in bestimmten Herrschaftsverhältnissen seinen Ursprung, die beseitigt werden konnten, und nicht in der unabänderlichen Natur des Menschen. Hier entstand ein Gedanke, der im Kontext der Aufklärung zur Herrscherkritik und zur Idee des ewigen Friedens fortführte.128 Parallel dazu erfolgte seit Ende des Dreißigjährigen Krieges die Regelung der Kriegsführung, die in der Anerkennung des feindlichen Soldaten als berechtigtem Kombattanten (iustus hostis) ihren Ausdruck fand und ihn sowohl vom zivilen Nichtkombattanten unterschied, der zu schützen war, wie vom gemeinen Räuber, der sich die Gewalt willkürlich anmaßte, anstatt sie vom Staat stellvertretend übertragen zu bekommen. Das Recht auf Kriegserklärung und Friedensschluss zeigte an, wo die Souveränität lag, was etwa der Griff der Revolutionäre in der Englischen und Französischen Revolution nach diesem Recht deutlich gemacht hat: Den Fürsten dieses Recht zu entwinden, sichere nicht nur die Freiheit der Bürger, sondern ermögliche zugleich den Frieden zwischen den Völkern. Dem aufklärerischen Arbeitsverständnis entsprechend, das als bürgerliches Pathos gegen das aristokratische Pathos der Gewalt gestellt wird, leugnet man zugleich die Vorstellung, durch den gewaltsamen Erwerb von mehr Territorium und Menschen werde die Macht eines Staates gesteigert. Eher sei der Krieg eine Verschleuderung von Reichtum und dessen sicherste Vermehrung bestehe im Frieden und in der Förderung der produktiven Arbeit der Bürger in Gewerbe, Landwirtschaft und Handel. Die aufklärerische Idee des Friedens hatte damit drei verschiedene Wurzeln, nämlich die Vernunft, die Arbeit und die Freiheit. Zu der ihnen angeborenen Vernunft befreit, würden die Menschen im Frieden den Zustand der Vernunft erkennen und ihre Konflikte friedlich beilegen. Als Arbeiter würden sie wissen, dass nur Arbeit dauerhafte Werte erzeuge, Krieg hingegen sie vermindere und zerstöre. In der Verwirklichung der Freiheit schließlich würde man erkennen, dass Gewalt stets eine Herrschaft weniger sei, die Aristokratie und Monarchie hervorbringe und die Freiheit niedertrete. Die mit dem Gewaltmonopol bewaffnete Monarchie erschien zunehmend wie eine Räuberbande inmitten einer wehrlosen Gesellschaft.129 Kritik der Gewalt, Kritik des Krieges und Kritik der bestehenden politischen Ordnung verbanden sich zur radikalen Kritik der absolutistischen Monarchie. Kritik des Krieges ist Opposition gegen die jeweilige Herrschaft, wenn denn das Wesen von Herrschaft die Verfügung über Gewalt ist und die Entscheidung über den Krieg ihr höchster Ausdruck. Die „republikanische“ Frage, ob die davon Betroffenen, die Untertanen, dabei gehört werden, ob man sie als „Bürger“ anerkennt, ist bis 1789 eine rhetorische Frage, die aber mit der Herausbildung des modernen Staates immer häufiger gestellt wird. Warum soll es nicht möglich sein, den im Inneren erreichten Frieden, gegen feudale Kriegsherren wie religiöse Fanatiker, auch zwischen den Staaten geltend zu machen? Und ist es nicht dieselbe Art von Personen, die vorher Krieg im Inneren eines Landes machte, welche für den äußeren Krieg verantwortlich ist? Mit dieser Frage, gestellt in die mit dem Buchdruck und einem neuen, an der Antike geschulten kritischen Denken entstehende bürgerliche Öffentlichkeit, entsteht eine neue Gattung von Texten, die Friedensschriften. Aus dem Versagen des christlichen Friedensgebotes vor den Verlockungen und Zwängen der Macht flüchten sie an das Ufer der Vernunft, von der sie sich Rettung erwarten. 1517,

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im Jahr der Reformation, veröffentlicht Erasmus von Rotterdam seine „Querela Pacis“, etwa gleichzeitig mit der „Utopia“ des Thomas Morus. Haben sich die Utopier aus der von Krieg erfüllten Welt, d. h. der Geschichte, auf ihre Insel zurückgezogen, so will Erasmus in dieser Welt selbst den Frieden verwirklicht sehen. Das sei möglich, entspringe doch der Krieg dem Ehrgeiz Einzelner und dem Nutzen eines Kriegerstandes. Krieg erschien hier als ein ausschließlich moralisches Problem, das seine Ursache in der Schuld bestimmter Menschen habe. Mit Erasmus beginnt eine Linie der Friedensschriften, die von Morus und Sebastian Franck im sechzehnten, über Sully und Emeric Crucé im siebzehnten, bis zu Saint-Pierre, William Penn, Rousseau und Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert reicht und in Immanuel Kant ihren Höhepunkt findet. Kant anerkennt den Krieg als etwas, das in der Vergangenheit beherrschend war, um danach zu forschen, wie er in der Zukunft vermieden werden könnte. Wenn er früher so beherrschend gewesen ist und wenn man zugleich davon ausgeht, dass die Geschichte ein Fortschreiten zu immer umfassenderer Vernunfttätigkeit der Menschen sei, kann man den Kampf, den Krieg als „Triebfeder“ zur Ausbildung von Vernunft und Tätigsein des Menschen für eine frühere Phase der Entwicklung anerkennen. Mit der Französischen Revolution glaubt Kant nun die Vernunft selbst als bestimmende Kraft der Politik erkennen zu können, allen Verwirrungen zum Trotz, wie sie aller Gewalttätigkeit anhaften, auch einer im Namen der Vernunft geübten. Der Krieg wird hier nicht mehr aus dem äußeren Konflikt zwischen „Staaten“ abgeleitet, sondern aus dem inneren Konflikt zwischen Gruppen und Individuen. Frieden ist also durch Frieden in der Gesellschaft bzw. als universelle Partizipation an den politischen Entscheidungen und an den Gütern herstellbar. Beide Formen der Teilhabe wirken pazifierend, weil sie sich mit Angst verbinden: der Angst um das eigene Leben, der Angst um den Erhalt und Genuss der Güter. Mit der Französischen Revolution entsteht die Vorstellung, man könne mit Gewalt die Gewalt beseitigen, d. h. die als Despotie identifizierte monarchische Herrschaft, um danach in das Reich einer gewaltlosen Freiheit einzutreten. Rousseaus Erklärung, man müsse jetzt „keine Bücher mehr schreiben, sondern Truppen ausheben“, zielt in dieselbe Richtung und weist dem Denker die neue Rolle des revolutionären Intellektuellen zu, der das Denken „vom Kopf auf die Füße“ zu stellen habe: Eine Vorstellung, die in der Folge mehr Gewalt, wenn nicht erzeugt, so doch gerechtfertigt hat, als aller religiöse Fanatismus oder fürstliche Ehrgeiz zuvor. Der Bürgerkrieg, im 17. Jahrhundert eine Schreckensidee, wird nun zur revolutionären Notwendigkeit und der Krieg, als Fürstenkrieg verdammt, wird als Befreiungskrieg zum Krieg, der allen Krieg beenden soll. Der Revolutionskrieg wendet sich in seiner Rechtfertigung gegen die nicht-diskriminierende Konzeption des Fürstenkrieges, indem er den „gerechten Grund“ als Berechtigung zum Krieg erneuert und gegen die bloße Souveränität des Staates bzw. des Fürsten stellt. Wenn Frankreich aber nicht nur den nicht-diskriminierenden Krieg der fürstlichen Souveräne durch den diskriminierenden Krieg der frei, souverän gewordenen Nation ersetzt, sondern zur volonté générale auch noch die droits de l’homme hinzufügt, dann kann es mit den Souveränen nicht mehr in Frieden leben, dann muss zwischen ihnen und Frankreich ein Krieg ausbrechen, der

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ebenso endgültig ist wie heilig. Zum anderen ergibt sich aus dem Grundsatz der Volkssouveränität der Ansatz eines Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die Revolution lehnt das fürstliche „Schachern“ mit Menschen bzw. den Gebieten, auf denen sie leben, ab und anerkennt das Recht eines Volkes, nicht nur über seinen Staat revolutionär zu entscheiden, sondern ebenso darüber, zu welchem Staat es gehören wolle. Gewalt ist gerecht, wenn sie um der Freiheit willen geführt wird, gleich ob als Revolution im Inneren oder als Krieg nach außen. Folgerichtig kann der Feind im Krieg nicht mehr als „iustus hostis“ anerkannt werden, er wird „l’ennemi du genre humain“ (Deklaration des Konvents vom 7. 8. 1793). Die folgenden zwei Jahrhunderte europäischer Geschichte standen in der Nachfolge dieses Krieges, eben der Behauptung, einen „menschheitlichen“ Krieg zu führen bzw. der Behauptung, die Rechte der eigenen Nation wahren zu wollen. Die Nationalisierung des Staates durch seine schrittweise Parlamentarisierung, die Ausweitung einer diskutierenden Öffentlichkeit, die Entstehung von Parteien, schließlich die allgemeine Wehrpflicht verwandelte die Staatenkriege des 18. Jahrhunderts, die die Untertanen nichts angehen sollten, in Nationalkriege, die publizistisch und ökonomisch an der Heimatfront zu gewinnen waren so gut wie in den eigentlichen Schlachten. Der Krieg, in der Aufklärung zunehmend in Verruf geraten, in der Großen Revolution als Endkrieg rehabilitiert, erhielt im Kontext der Nation im 19. Jahrhundert eine apologetische Bedeutung. In ihr verband sich die Erhebung der Nation mit dem alten Gedanken, dem Krieg hafte etwas Reinigendes, Kräftigendes an, er sei also eine Art Gericht, das jungen, aufstrebenden Völkern und Staaten Raum schaffe, indem es ältere, schwache zerstöre. Eine derart „kräftigende“ Wirkung wurde ihm auch für den jeweiligen Staat selbst zugeschrieben. Denn da er die Einzelnen zwinge, sich in ein riesenhaftes Kollektiv einzufügen, stärke er den Gemeinsinn, die Opferbereitschaft, und wirke einem auflösenden, egoistischen Individualismus entgegen.130 Vorstellungen wie diese fanden dann im Sozialdarwinismus des späten 19. Jahrhunderts eine wirksame, weil scheinbar wissenschaftliche Begründung, während der gleichfalls machtvoll werdende Sozialismus das menschheitliche Argument wieder aufnahm. Der mit der Herausbildung bereits des absolutistischen Staates entstandene geteilte Gewaltbegriff wurde vom Sozialismus wieder totalisiert und mit ihm die Legitimität des Gewaltgebrauchs. Der staatliche Gewaltbegriff trennte den legitimen, zwischenstaatlichen Krieg streng vom innerstaatlichen Frieden ab, in dem allein sein friedenswahrendes Gewaltmonopol als legitim galt. Das konnte der Sozialismus nicht hinnehmen, ging es ihm doch um den Umsturz der gesamten politisch-sozialen Ordnung. Wenn „die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte von Klassenkämpfen“ gewesen ist, wie Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ (1848) schreiben, dann ist der Krieg als Zustand der Gewalt in seinen verschiedenen Formen die Normalität von Gesellschaft und Geschichte. Der Staatenkrieg bildet dann nur eine, eher zweitrangige Variante aus fürstlicher Ruhmsucht und – im 19. Jahrhundert – dem Versuch, den innergesellschaftlichen Klassenhass zu einem zwischenstaatlichen Nationalhass umzulenken. Die Gewalt wurde da legitim, wo sie einer aufsteigenden Klasse zum Sieg verhalf. Diese Klasse war nun das Proletariat, ihr Werkzeug die Revolution, der Bürgerkrieg. Da mit dem Sieg des Proletariats auch das Ei-

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gentum verschwinden musste und sich aus dem Gegensatz von Eigentümern und Besitzlosen, Ausbeutern und Ausgebeuteten die Klassengesellschaft begründe, so wäre mit der so entstandenen klassenlosen Gesellschaft zugleich der ewige Friede gesichert. Sozialismus wie Nationalismus treffen sich in der Bejahung des Krieges, wenngleich von ganz verschiedenen Ausgangspunkten her und mit ganz verschiedenen Zielen. Doch es gibt auch die Gegenrede. Ein bürgerlicher Pazifismus bildet sich aus, der neben das moralische Argument der Achtung vor dem menschlichen Leben, ein ökonomisches setzt, dem zufolge durch Arbeit und Handel mehr zu gewinnen ist als durch Zerstörung und Krieg, und ein sozialphilosophisches Argument, wonach jeder Bürger ein Eigentümer sei, seines Körpers zu allererst. Hier, im umfassenden Blick auf die free agency eines jeden Bürgers, die sich durch die freie Verfügung über seinen Körper konstituiert, gründet die liberale Ablehnung des Krieges, der eben diese freie Verfügung mit Vernichtung bedroht. Wo Nationalisten für den Krieg eintraten, weil er eine Ethik des Opfers gegen den Materialismus des individuellen Interesses realisiere, erklärten die bekennenden Materialisten aus eben diesem Grunde seine Sinnlosigkeit. In Großbritannien, wo 1816 die erste Friedensgesellschaft gegründet wurde, also in dem Land, in dem die moderne Industrie wie der liberale Individualismus gleichermaßen entstanden sind, entstand auch der moderne Pazifismus. Die Unverletzlichkeit des Eigentums vorausgesetzt, konnte der freie Mensch als Eigentümer seines Körpers nicht zu Krieg und Kriegsdienst gezwungen werden. Die Arbeit als Wesensmerkmal des Menschen vorausgesetzt, konnte der Krieg nur als etwas jeder Arbeit, d. h. dem Menschenwesen selbst Entgegengesetztes aufgefasst werden. Diese soziale Beziehung – gedacht als Ergebnis vielfältigen Tauschhandelns zwischen Menschen – vorausgesetzt, konnte der Krieg nur als asozial, als die soziale Beziehung zerstörend verworfen werden. Von Adam Smith und Jeremy Bentham, von John Cobden und John Bright vorbereitet, allesamt radikale Liberale, fanden diese Gedanken ihre für das 19. Jahrhundert klassische Formulierung bei Herbert Spencer, der zwischen einer „militant“ und einer „industrial society“ als Stufen in der Entwicklung der Menschheit unterschied (1876). Militante Gesellschaften sind durch Statushierarchien gegliedert und orientieren sich an kriegerischen Werten. Industrielle Gesellschaften hingegen gründen auf Verträgen und auf kommerziellen Werthaltungen. In kriegerischen Gesellschaften erfolgt die zur sozialen Entwicklung wesentliche Auslese der Tüchtigsten durch die Tüchtigkeit in der Gewalt. In industriellen Gesellschaften hingegen ersetzt die soziale Konkurrenz die Gewalt. Sie verliert ihre einstige Funktion, wird dysfunktional. Spencer übernimmt also die Vorstellungen von der früheren Nützlichkeit des Krieges für die Entwicklung der Zivilisation und er rezipiert den Sozialdarwinismus. Da er aber die industrielle Gesellschaft als gegeben ansieht, lehnt er den Krieg ab.131 Dieser bürgerliche Pazifismus ist etwas Neues, gleichermaßen unabhängig von Kirche und Religion wie von Staat und Parteipolitik. Er agiert in der Öffentlichkeit und organisiert sich in internationalen Gesellschaften, den Friedensgesellschaften, deren erster Kongress 1843 wiederum in London stattfand und die bald auch außerhalb Europas gegründet wurden (1889 erster Weltfriedenskongress in Paris). Vermittlungsklauseln in allen zwi-

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schenstaatlichen Verträgen, ein internationaler Gerichtshof, ein Völkerbund waren die Forderungen. Mit Bertha von Suttners Welterfolg „Die Waffen nieder!“ (1891) und der Gründung einer österreichischen (1891) und einer deutschen Friedensgesellschaft (1892) erreichte dann der Pazifismus den Höhepunkt seiner öffentlichen Wirksamkeit. Hinzu kam der von Alfred Nobel nach seinem Tod (1896) regelmäßig verliehene Friedenspreis und die Friedensstiftung des amerikanischen Großindustriellen A. Carnegie (1910). Hier wurde „Frieden“ als bürgerliches Vernunftprinzip gedacht und verteidigt, als Gedanke, dass zwischenstaatliche Konflikte durch Verhandlungen, Verträge gelöst werden könnten, mit Resultaten, die allen nutzten, wo ein Krieg allen schadete. Sieg im Krieg galt hier als jene Verblendung, die sich daraus ergab, dass der eigene Schaden an Menschen und Gütern kleiner erschien als jener des Gegners. Ein neues Denken setzte die Bereitschaft zum Kompromiss gegen die Forderung zum absoluten Sieg, zur vollständigen Durchsetzung der eigenen Wünsche. Ein solches Denken blieb „in der Gesellschaft“, die es zwar kritisierte, aber eben von einer „halben“ Position aus. Das ließ es einem radikalen Pazifismus verdächtig erscheinen, der ohne die grundlegende Veränderung der Gesellschaft eine Friedenspolitik für unmöglich hielt: ein Gegensatz, der etwa in Deutschland nach 1918 im Konflikt zwischen der moderaten Position Gustav Stresemanns und Ludwig Quiddes auf der einen, dem sozialistischen Ansatz Carl von Ossietzkys und Fritz Küsters andererseits seinen Ausdruck fand. Konnte man jedoch dem eher publizistischen Pazifismus vorhalten, er bleibe ohne politische Wirkung, so traf das für die zweite Großtat bei der Erfindung des Friedens in keiner Weise zu: der Gründung des Roten Kreuzes aus dem Schrecken einer „Schlächterei, einem Kampf wilder Tiere, die rasen und trunken sind von Blut“. Es ist der Schrecken des Genfer Kaufmanns Henri Dunant, der auf einer Geschäftsreise zu dem Ort Solferino in Norditalien kam, wo ein französisches Heer das österreichische besiegt hatte. 40 000 Tote und unzählige Verwundete, von denen noch einmal dieselbe Zahl zugrunde ging, blieben an diesem 24. Juni 1859 auf dem Schlachtfeld zurück, „übersät mit menschlichen Überresten“, wie Dunant schreibt. Die Sieger suchen nach ihren verwundeten Kameraden. Die anderen bleiben liegen, sterben zwischen den verwesenden Leichen. Dunant versucht zu helfen, unterstützt von den Frauen der umliegenden Orte, zunehmend von den siegreichen Soldaten selbst. „Alle sind Brüder!“, war seine Devise, und wenn sich nicht der Krieg verhindern ließ, so sollte er zumindest nicht die Menschlichkeit töten, die selbst im Zustand der „Schlächterei“ ihre letzten Grenzen aufrechtzuerhalten hatte. Bereits im Jahr der Veröffentlichung seines Berichts über Solferino versammelte sich in Genf eine Konferenz, die über Dunants Vorschläge beriet und ein Jahr darauf mit der Genfer Konvention dafür einen Rahmen schuf, dem innerhalb von vier Jahren alle Staaten Europas beitraten. Es war die erste Übereinkunft des Völkerrechts, in der es um den Schutz des Menschen als solchem ging, sieht man vom Verbot des Sklavenhandels (1815) einmal ab. Wie immer, wenn der kriegerischen Gewalt Beschränkungen auferlegt wurden, dienten diese nicht nur ihrer humanen Einschränkung im Sinne einer übergreifenden Gemeinschaftlichkeit, sondern ebenso der Steigerung ihrer Wirksamkeit. Dem Soldaten bei Verwundung Pflege, bei Kapitulation Sicherheit zu versprechen, erhöht die Kampfkraft der

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Verbände. Den Soldaten zur Regelbeachtung zu erziehen, vermeidet nicht nur Brutalität und kontraproduktive Gewalt, sondern erhöht auch die Führbarkeit der Truppe. Eben deshalb, weil Funktionalität und Humanität zusammentrafen, wurde die Konvention zum Erfolg. Der Schutz Verwundeter gleich welcher Staatsangehörigkeit wurde festgeschrieben, ebenso des Sanitätspersonals und der Lazarette, und das Rote Kreuz als Schutzsymbol eingeführt. Nationale Rot-Kreuz-Organisationen entstanden und die Vorbereitung für den Schutz und die Versorgung Verwundeter wurde in den Armeen zu einer Selbstverständlichkeit. Die erste Armee, die sich selbst „zivilisierenden“ Regelungen im Umgang mit dem Feind unterwarf, war übrigens die US-amerikanische. Vor dem Hintergrund der im Bürgerkrieg ausbrechenden radikalen Hassgefühle zwischen Menschen und der drohenden Verwilderung der militärischen Gewalt hatte Präsident Abraham Lincoln von Franz Lieber, einem deutschen Emigranten, Richtlinien ausarbeiten lassen, die auf dem Grundsatz basierten, auch der Feind bleibe ein mit gewissen Rechten ausgestatteter Mensch. Folter, Erniedrigung, willkürliche Tötung waren zu verbieten (1863). Der Krieg als politische Angelegenheit und der Hass als persönliche Angelegenheit sollten getrennt bleiben. Der hier wichtige Grundsatz der militärischen Notwendigkeit soll demzufolge die kriegerische Tötungsgewalt auf die unmittelbare Kampfsituation beschränken: Ist es möglich, den Feind gefangen zu nehmen, so ist die Notwendigkeit des Tötens entfallen. Instrumentalisierung der kriegerischen Gewalt durch Disziplinierung und Verrechtlichung lassen eine Truppe erst führbar werden, unterwerfen sie dem politischen Zweck. Zentral für die Einwirkung auf die Psyche des Soldaten ist dabei die Definition des Kombattanten samt der Ausgrenzung derer, die „heimtückisch“ kämpfen, sowie der Schutz der Kriegsgefangenen. Das Kriegsrecht, insbesondere das Recht der Kriegsgefangenen, bildet die letzte Solidarität der Kombattanten, in der sie sich noch als gemeinsame Menschen wahrnehmen, selbst im Akt des Tötens. Mit den Konventionen von 1907 zur Seekriegsführung, 1928 zur Behandlung von Kriegsgefangenen und 1949 insbesondere zum Schutz der Zivilbevölkerung wurden neue Grenzen gezogen, gegen eine Kriegsführung, die ideologisch wie technologisch immer totaler zu werden begann. Dunants seelische Inspiration war die Nachfolge des nackten Christus. Er war sich im Klaren darüber, dass die praktische Humanität nicht genügte, um das Übel des Krieges zu beseitigen, dass sie eines Ethos und einer Propaganda des Friedens bedurfte, um politisch werden zu können. 1870 initiierte er in Paris eine internationale Friedensunion und er engagierte sich für den Schutz von Kriegsgefangenen, beide Male vergebens. Dennoch bleiben die Bemühungen der Friedensbewegung auf Dauer nicht ohne Wirkung. Bertha von Suttners Vorschlag zur Errichtung eines internationalen Schiedsgerichts fand sich 1899 im Vorschlag Russlands wieder, ein solches in Den Haag einzurichten, der auch verwirklicht wurde. Bei Streitigkeiten zwischen zwei der insgesamt 26 Unterzeichner-Staaten sollte eine unparteiliche Schiedskommission angerufen werden, die dann auch das Recht besaß, einen verbindlichen Schiedsspruch zu fällen, sofern die Schlichtung scheitern sollte. Die Teilnahme am Schlichtungsverfahren blieb freiwillig, doch wer sich zur Teilnahme entschloss, unterwarf sich auch dem Schiedsspruch. Damit allerdings hätten die

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Staaten auf ihr zentrales Kriterium der Souveränität: das unbegrenzte Recht zum Krieg, praktisch verzichtet, und dazu waren sie nicht bereit. Großbritannien führte kurz darauf seinen Krieg gegen die Burenstaaten ohne Schlichtung und die USA zeigten keine Bereitschaft, ihre kontinentale Hegemonie in Lateinamerika einschränken zu lassen. Und auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. beabsichtigte, auf derartige Beschlüsse „zu scheißen“. Blieb demnach die pazifistische Idee einer vollständigen Politisierung auch äußerer Konflikte wirkungslos, also der Ablösung des Kriegs als Mittel der Politik durch die Diplomatie und das Schiedsgericht, so legte die Haager Konferenz doch durch die gleichzeitig verabschiedete „Landkriegsordnung“ die Grundlagen eines neuen Rechts im Krieg. Verboten wurde der Gebrauch von „Waffen, Geschossen und Stoffen, die unnötig Leiden verursachen“, wobei zerfetzende Geschosse und Gas ausdrücklich genannt wurden. Mit der strikten Unterscheidung von „Kombattanten“ und „Nichtkombattanten“ einher ging das Verbot für Zivilisten, nach Besetzung des Landes bewaffneten Widerstand zu leisten. Dem Schutz des Zivilisten und seines Eigentums entsprach seine Pflicht, der Besatzungsmacht zu gehorchen. Ausgenommen waren Freischärler, die wie Kombattanten kämpfen, also äußerlich als solche erkennbar sind, die Waffen offen tragen, das Kriegsrecht beachten. Hierzu gehört der Schutz sich ergebender Soldaten und deren menschliche Behandlung. Rotes Kreuz und Haager Landkriegsordnung schienen für den Krieg im 20. Jahrhundert ein „zähmendes“ Regelwerk errichtet zu haben, das den Frieden sicherer, den Krieg begrenzter werden ließ. Zudem schien die dramatisch ansteigende Feuergeschwindigkeit der Waffen wie die immer größere Reichweite der Geschütze die Vernichtungswirkung des Krieges derart zu steigern, dass er sich selbst unmöglich machte. Allenfalls eine defensive Kriegsführung schien noch möglich, nicht aber ein Angriffskrieg, da die durch die moderne Waffentechnik geschaffene „Todeszone“ von einem Angreifer nicht mehr zu durchqueren sei. Auf diesem Gedankengang basierte ein sozusagen technologischer Pazifismus, wie er erstmals von dem polnischen Bankier Jan Bloch 1897 formuliert wurde. Der Krieg war ihm zufolge nicht nur militärisch sinnlos geworden, weil die neuen Magazinwaffen den Tötungsvorgang zu einem der kollektiven und wechselseitigen Auslöschung gemacht hätten. Er habe auch jeden politischen Zweck verloren, weil keine Eroberung feindlicher Ressourcen, keine Ausplünderung des Besiegten die riesenhaften Kosten würden ersetzen können, die man dafür aufbringen müsste. Die Militärs konterten, eine Todeszone gebe es, doch wenn man bereit sei, den Menschenpreis dafür zu entrichten, könne man sie überwinden. Der französische General Foch etwa, der die Armee seines Landes im kommenden Weltkrieg führen sollte, gab sich bereits davor überzeugt, dass die neue Technik nichts Entscheidendes verändert habe. Das gegnerische Feuer musste durch eine überlegene eigene Feuerkraft so weit abgeschwächt werden, dass die eigenen Truppen im raschen Angriff vorrücken konnten. Fochs „offensive à outrance“ realisierte bewusst Napoleons Strategie für das 20. Jahrhundert und sie war bereit, dafür den Preis zu zahlen: „Truppen, immer mehr Truppen“, „Welle auf Welle“, bis zur letzten Reserve, mit welcher der Durchbruch gelingen muss. Der Erste Weltkrieg bot reichlich Gelegenheit dazu. Nur wenige hatten erkannt, dass im Krieg des anbrechenden Jahrhunderts die Kate-

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gorien der Vergangenheit untauglich werden müssten. Helmut von Moltke etwa, einer der erfolgreichsten, weil lernfähigsten Feldherrn des 19. Jahrhunderts, warnte am Ende seines Lebens vor einem europäischen Krieg, der den Kontinent verbrennen würde (14. Mai 1890). Moltke, der wie kein zweiter Strategie und Technik zusammengedacht hatte, glaubte im Zeitalter der Hochtechnisierung nicht mehr an die Möglichkeit, begrenzte, politisch kontrollierbare Kriege zwischen Industriestaaten führen zu können. Clausewitz’ These vom Krieg als Fortsetzung des „politischen Verkehrs mit anderen Mitteln“ hatte vorausgesetzt, dass die Waffentechnik im Wesentlichen ihre Vollendung erreicht habe. Ihr Umbruch, beginnend in den 1860er Jahren, hingegen stellte die politische Führbarkeit des Krieges in Frage. Sie drohte mit ihrer zunehmenden Eigendynamik und den systemischen Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft den Krieg zum Selbstzweck werden zu lassen, zur Blendung durch Gewalt, in der auch die Politik erblindete. Wenn dann auch der Versailler Vertrag nicht den umfassenden Vernichtungsfrieden enthielt, den Frankreich gewünscht hatte, so blieb er doch ein Diktat der Sieger, zu dem die Verlierer nichts beitragen durften. Das erzwungene Bekenntnis Deutschlands, allein für den Kriegsausbruch schuldig zu sein (Art. 231), brachte zugleich einen grundlegenden Wandel im Kriegsrecht zum Ausdruck: Nicht mehr wurde – wie bisher – von einer Schuld „im Krieg“ gesprochen, sondern von einer Schuld „am Krieg“. Gab es jedoch für einen Vorwurf der Schuld „im Krieg“ eine völkerrechtliche Grundlage in den international vereinbarten Verträgen, so war für die Anklage einer Schuld „am Krieg“ eine solche Grundlage nicht vorhanden, denn das Recht zum Krieg galt als Bestandteil der staatlichen Souveränität. Die letztlich überlegene Gewaltfähigkeit der Sieger diktierte nicht nur die Bedingungen des Friedensschlusses. Sie definierte zugleich die Überlegenheit der Gewalt als eine der Moral. Von den Besiegten wurde nicht allein die materielle Unterwerfung gefordert, sondern auch die moralische. Das war zu viel. Und auch der auf Drängen des USPräsidenten Wilson schließlich beschlossene „Völkerbund“ (28. 4. 1919) scheiterte daran, dem Krieg, der allen Krieg beenden sollte, einen dauerhaften Frieden folgen zu lassen. Deutschland und Sowjetrussland blieben ausgeschlossen, die USA verweigerten den Beitritt. Vor allem die in Artikel 8 der Satzung vorgesehene Abrüstung erfolgte nicht, obwohl der „deutsche Militarismus“ doch besiegt worden war, den man vorher als Ursache der eigenen Aufrüstung gebrandmarkt hatte. Daran änderte auch das 1928 auf Anregung des französischen Außenministers Aristide Briand zwischen Frankreich und den USA unterzeichnete Abkommen zur Ächtung des Krieges als Mittel nationaler Politik nichts, dem sich bis 1932 fast alle Staaten der Welt anschlossen. Immerhin war es das erstemal, dass souveräne Mächte den Krieg als gegen die Wohlfahrt der Menschheit gerichtet verwarfen und sich bereit erklärten, ihre Konflikte ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu lösen. Als Grundsatz war dieses Abkommen revolutionär, wurde damit doch der Entschluss zum Krieg, bis dahin die Essenz staatlicher Souveränität und des klassischen Völkerrechts, unmöglich gemacht. Allein der Verteidigungskrieg blieb erlaubt. Doch gab es keine Institution, die der Einhaltung des Kriegsverbots hätte Nachdruck verschaffen können. Praktisch blieb das Abkommen wirkungslos. Der Beginn des japanischen Angriffs auf China

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(1932) und der Angriff Italiens auf Äthiopien (1935), der UdSSR auf Finnland (1939) bereiteten den Zweiten Weltkrieg vor. Nach 1945 wurden zwar mit der Gründung der Vereinten Nationen (26. 6. 1945) und der Einsetzung eines Kriegsverbrecher-Tribunals in Nürnberg (20. 11. 1945) zwei wichtige neue Ansätze gelegt, um dem Frieden Geltung zu verschaffen und die Zerstörer des Friedens zu strafen, doch blieb auch hier die Strafe auf die Kriegsverlierer beschränkt und die Sieger selbst ließen sich nicht davon abbringen, den Krieg weiterhin als legitime Option zur Wahrung ihrer Interessen aufzufassen. Im Nürnberg sollte ein neues Völkerrecht geschaffen werden und wie jedes neue Recht gründete es auf Gewalt. Die Gewalt ging von den Siegern aus, die ihre eigenen Verstöße gegen das Kriegsrecht nicht denselben Rechtsgrundsätzen unterwerfen wollten wie jene der Besiegten, was Sieger nie getan haben. Die sowjetische Liquidierung von Angehörigen der polnischen Intelligenz bei Katyn, alliiertes Ausbrennen ganzer Städte, sowjetische Angriffskriege gegen Finnland, Polen, das Baltikum, die fortdauernde Vertreibung der deutschen Bevölkerung, die Behandlung der Kriegsgefangenen in der UdSSR waren kein Thema Nürnberger Gerechtigkeit, trotz der Versprechungen, etwa des US-Chefanklägers R. H. Jackson, ein Völkerrecht schaffen zu wollen, das für alle gelte: „nicht ausgenommen die, die hier zu Gericht sitzen“. Dass der Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki (6. und 9. 8. 1945) gegen jenes eben neu im Londoner Abkommen (8. 8. 1945) definierte Völkerstrafrecht verstieß, das die Alliierten als Grundlage zur Errichtung des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg geschaffen hatten, störte nur wenige. Leo Sziland, einer der „Väter“ der Atombombe, erklärte, dass der Abwurf einer Atombombe durch Deutschland vom Nürnberger Gericht als Kriegsverbrechen abgeurteilt und die Verantwortlichen hingerichtet worden wären (vorausgesetzt natürlich, es hätte den Krieg trotzdem verloren). Jacksons Nachfolger als Nürnberger Hauptankläger, Telford Taylor, sah ebenfalls die nukleare Zerstörung als Kriegsverbrechen an. Um solche Verwunderungen nicht aufkommen zu lassen, hatten sich die Ankläger von vornherein exkulpiert und die Verbrechen auf die Besiegten beschränkt. Deshalb blieb es auch bedeutungslos, dass nicht nur der Vorwurf des Angriffskrieges, die Grund-Anschuldigung in Nürnberg, problematisch wurde, wenn man an den Mitankläger Sowjetunion dachte. Auch der Vorwurf, die Neutralität missachtet zu haben, war problematisch, denn was man dem Dritten Reich im Hinblick auf die Benelux-Staaten, Dänemark, Norwegen vorwarf, das traf für Großbritannien für Iran, Irak, Ägypten, Island zu, und auch in Norwegen war man nur zu spät gekommen. Der „Buchstabe des Gesetzes“ freilich durfte nach Churchill nicht jene hindern, die für die Humanität kämpften. Dass das Londoner Protokoll am Tag des Abwurfs der Hiroshima-Bombe in Kraft gesetzt worden ist, symbolisiert den Nürnberger Zustand und auch, dass die sowjetischen Prozessvertreter bereits eifrig an Stalins Schauprozessen mitgewirkt hatten. Die Sieger erließen für sich eine allgemeine Amnestie und auch die Kriegsverbrechen, die nach 1945 begangen wurden, sind durch Amnestien rechtlich getilgt worden, von Vertreibungen in Polen oder der Tschechoslowakei bis zu den kolonialen Befriedungstaten etwa Frankreichs oder der Niederlande. Erst 1998 wurde dann in Rom von 120 Mitgliedsstaaten der UNO ein „Statut für einen Internationalen Gerichtshof“ unterzeichnet,

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allerdings nicht von zwei Staaten, die den humanitären Impuls von Nürnberg besonders hätten vertreten müssen, da er damals sie besonders gemeint hatte, nämlich die USA und Israel. Beide sahen sich in einem potentiellen Zustand des Krieges, der rasch wieder ein tatsächlicher werden konnte. Eine Anerkennung der Nürnberger Prinzipien schien daher nicht ratsam. Denn wenn man am Krieg als Option aktiven Handelns festhielt, wurde es schwierig, nicht „Kriegsverbrechen“ im Sinne Nürnbergs bzw. des Römischen Statuts zu begehen. Bereits in Versailles hatten sich die USA geweigert, durch die Verfolgung der von den Siegermächten als Kriegsverursacher genannten Personen wie des Kaisers Wilhelm II., einen Präzedenzfall zu schaffen, der eines Tages auch die USA treffen konnte. Die Militäroperation Britanniens, Frankreichs und Israels gegen Ägypten im Zusammenhang der Suez-Krise oder der Vietnamkrieg der USA waren ebenso Angriffskriege, in Vietnam nach Auffassung der amerikanischen Anwaltsvereinigung zugleich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit im Sinne der „Nürnberger Prinzipien“. Auch die von Israel im Januar 2009 eingeleiteten Maßnahmen gegen die Identifizierung von Soldaten, die an möglicherweise völkerrechtswidrigen Handlungen während des Kampfes im Gaza-Streifen beteiligt waren, gehören hierher. Im neuen Kriegsvölkerrecht bleibt die Rechtspraxis an die Gewalt gebunden, die Sieger besitzen, Unterlegene aber nicht mehr. Dass der Rechtsgrundsatz nulla poena sine lege gebrochen worden ist, um überhaupt ein neues Recht setzen und buchstäblich exekutieren zu können, war wohl unvermeidlich, wollte man die Verbrechen des NS-Regimes strafen. Es wurde gerichtet, indem man „einfach erklärt, was Recht ist“, wie es der britische Ankläger Maxwell Fyfe ausdrückte. Dass jedoch der zweite Grundsatz des tu quoque gebrochen wurde, wonach Recht für alle gelten muss, blieb unverzeihlich und war doch folgerichtig. Kern des neuen Völkerrechts, wie man es in Nürnberg setzte, war das „Verbrechen gegen den Frieden“ bzw. die Verschwörung zum Angriffskrieg, von dem dann die „Kriegsverbrechen“ und die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ abgeleitet wurden. Die crimes against humanity waren damit Bestandteil des unter Strafdrohung gestellten Angriffskrieges und also ein war crime, aber kein eigenständiger Straftatbestand. Das änderte sich erst mit der Unterzeichnung des „Rome Statute of the International Criminal Court“, das vier „Kernverbrechen“ definierte: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Aggressionsverbrechen bzw. Angriffskrieg. Zwar sollen zuerst staatliche Gerichte solche Verbrechen ahnden, doch wenn sie es nicht tun, ist die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes gegeben. Bereits 1977 waren Angriffe auf die Zivilbevölkerung nach dem Dresden-Muster sowie Angriffe auf Staudämme und Atomkraftwerke als Kriegsverbrechen in einem Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention von 1949 geächtet worden. Mit dem nach einem Beschluss des UN-Sicherheitsrats in Den Haag eingerichteten Tribunal zur Verfolgung von Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien (Februar 1993) wurden die Nürnberger Prinzipien erstmals wieder strafrechtlich geltend gemacht, erneut gegen ein besiegtes Land und dessen Führer, doch nun mit einem zusätzlichen Strafgrundsatz, nämlich der Einbeziehung „ethnischer Säuberungen“ in die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der 2002 durch einen völkerrechtlichen Vertrag von

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83 Staaten gegründete Internationale Strafgerichtshof, gleichfalls in Den Haag, soll die Arbeit des Jugoslawien-Tribunals institutionalisieren, und zwar ohne Beschränkung auf einen bestimmten Einzelfall. Die USA traten nicht bei und drohten, Amerikaner notfalls gewaltsam aus den Händen des Gerichts zu befreien. Das Kriegsvölkerrecht bleibt „eine Einbahnstraße“. Das zeigte sich auch daran, dass das in der Charta der UNO verankerte Kriegsverhütungsrecht deklamatorisch geblieben ist, wenn es – wie fast immer – im entscheidenden Sicherheitsrat gegensätzliche Interessen gab. Jede Art kriegerischer Gewalt, selbst die Drohung damit, ist hier untersagt (Art. 2, Ziff. 4), und der Sicherheitsrat, zusammengesetzt aus den Weltkriegssiegern, besitzt das Recht, sowohl das Vorliegen einer entsprechenden Gewalthandlung zu entscheiden wie Zwangsmaßnahmen zu ergreifen. Immerhin ist die damit erfolgte Fortbildung vom ius ad bellum über das ius in bellum zum ius contra bellum zumindest in rechtlicher Hinsicht als Fortschritt aufzufassen. Krieg ist damit an der Wende zum 21. Jahrhundert, als das Ende des Kalten Krieges neue KonsensZusammenhänge hat entstehen lassen, zu etwas geworden, das nicht mehr in der Souveränität von Staaten liegt, sondern eines internationalen Mandats bedarf, um rechtens zu werden, selbst wenn die Selbstverteidigungs-Klausel (Art. 51) ein beliebiges Schlupfloch bieten mag. Mit dem Mandats-Krieg wird dann ein Bruch des Völkerrechts bestraft, was etwas anderes ist als ein Krieg, der gegen „das Böse“ geführt wird, ein „just war“, wie ihn die USA immer geführt haben. Generell kehrt in beiden der diskriminierende Krieg in die Gewaltpolitik zurück. Diese Tendenz hat sich vor allem im Aufstieg des „gerechten“ Krieges verstärkt, der um einer Weltanschauung willen erklärt wird, der also das Momentum des „heiligen Krieges“ in sich aufnimmt. Bereits die Partisanenkriege behaupteten die „gerechte Sache“ als die ausschließlich ihre. Der Islamismus versteht sich selbst als in einem solch heiligen Krieg befindlich, weil der Islam seinem Wesen nach mit dem Guten identisch sei, so wie vorher die UdSSR, die USA davon überzeugt waren bzw. sind, ausschließlich gerechte Kriege führen zu können, weil sie zur Führung ungerechter ihrem „Wesen“ nach schlichtweg unfähig seien. Jeder ins Absolute gerückte Krieg jedoch bedroht die relativen Beschränkungen, wie Abkommen und Konventionen sie auferlegen. Die Weigerung der USA, dem Verbot von Landminen (1997), von Streubomben (2008) durch internationale Abkommen von rund 120 Staaten beizutreten, wie die Kündigung des ABM-Vertrags mit (Sowjet-)Russland von 1972 zur Verhinderung einer Militarisierung des Weltraums (2003) waren Zeichen einer hegemonialen Hybris, die in den Gefängnissen von Guantanamo und Abu Graibh einen zynischen Höhepunkt gefunden hat. Mit der Errichtung eines Gefangenenlagers auf dem US-Militärstützpunkt Guantanamo (2002) entstand eine rechtsfreie Sphäre, in der weder internationales noch amerikanisches Recht galt. Hundert Jahre der Ausbildung eines Kriegsgefangenen-Status waren hier fortgewischt, die Folter als Verhörmethode legitimiert. Guantanamo war kein Gericht, auch kaum eine pauschal geübte Rache, sondern eine bewusst in Szene gesetzte psychologische Kriegsführung, mit den gefesselten und vermummten Gefangenen, auf Krankenbahren transportiert, als symbolische Invaliden: Symbol zur Demoralisierung gewaltbereiter Täter, symbolische Kastration ihrer Gewaltfähigkeit durch einen Herrn.

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Landminen, Streubomben, Phosphorbomben sind Waffen, die in den Einsätzen der letzten Jahrzehnte, etwa durch die Sowjetunion in Afghanistan, Israel im Libanon und Palästina, also in asymmetrischen Kriegen, sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung gerichtet haben. Viele Tote, aber mehr noch schreckliche Verstümmelungen waren die Folge. Das völkerrechtliche Grundgebot der Verhältnismäßigkeit, bereits in der zweiten Haager Landkriegsordnung von 1907 festgelegt, wird in kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten mit regulären Armeen und Widerstandsbewegungen, die irregulär kämpfen, zur großen Provokation jeder regulären Kriegsführung, die in solchen Situationen stets ihr ohnehin prekäres Maß verliert und Züge eines Massakers annimmt. Zudem erhält der Gedanke des Präventivkrieges sowie einer vorbeugenden gezielten Tötung oder „Neutralisierung“ mutmaßlicher Terroristen, die „Kollateralschäden“ an ganz unbeteiligten Menschen eingerechnet, eine völlig neue Bedeutung. Das zeigt sich auch an den bewaffneten „Humanitären Interventionen“ in einem Staat, in dem schwere Menschenrechts-Verletzungen erfolgten. In diesem Fall, so der Beschluss eines UN-Reformgipfels aus dem Jahr 2005, verlor der betreffende Staat seine Souveränität bzw. waren andere Staaten berechtigt, militärisch zu intervenieren. Allerdings hängt diese „Responsibility to Protect“ an der Bereitschaft militärisch effektiver Staaten, einzugreifen, und diese folgt keineswegs einem humanitären, sondern einem machtpolitischen Kalkül: Geschützt werden eigene Interessen, sofern sie vorhanden sind. Das Völkerrecht wird ausgehebelt, wenn nur ein Staat hinreichend gewaltfähig ist. Es regiert dann nur noch die Gewalt, die Vermutungen definiert und exekutiert. Dass der Terrorismus, der Partisanenkampf einen solchen Zustand zu schaffen sucht, gehört zu seiner Logik, die völkerrechtlich nicht zu zähmen ist. Ob ein Staat jedoch einen solchen Kampf gewinnen kann, wenn er diese Logik nachvollzieht, ist mehr als nur eine Frage.

3. Terror Sprache und Gewalt Das Eigentümliche terroristischer Gewalt ist, dass sie in den Worten beginnt, dass ihr Wesen die Sprache ist und ihr Ziel die Zerstörung der Kommunikation, d. h. jenes hermeneutischen Ungefährs, in dem die Sprechenden versuchen, einander zu verstehen. Die große Utopie der Sprache, nämlich die völlige Eindeutigkeit aller Begriffe und jeder Rede durch das Eindeutigmachen qua herrschaftlicher Definition bzw. das Aussondern all dessen, was sich derart nicht festlegen lässt, findet ihre Wirklichkeit in der totalitären Sprache. In ihr ist alles hermetisch, abgeriegelt nach außen, so wie die Gruppe, die sie spricht, sich in der Unbedingtheit ihrer Zusammengehörigkeit bestärkt durch das Austauschen von Begriffen, in denen man sich als „Freund“ erkennt. Eine totalitäre Sprache ist eine dualistische, die nur Wahrheit (d. h. die eigene Überzeugung) und Falschheit (d. h. die Überzeugung der Anderen) kennt. Ein „Politisches“ als Zone kritischer Kommunikation, in der die

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„Synthese“ mehr ist als die gegensätzlichen Thesen, existiert hier nicht. Die Maxime des Radikalismus: „Es gibt kein richtiges Leben in der falschen Gesellschaft“, fordert von allen Anderen ein, sich nach dem zu richten, was eine ideologische Gruppierung für „richtig“, „ethisch“ hält. Dazwischen ist nur noch „Aktion“, Aktivismus der Phrase, der Tat. Somit spaltet sich das Phänomen der totalitären Sprache in drei Bereiche auf: in den der Gläubigen, die ihr Bewusstsein an die Beschränktheit der Sprache angepasst haben und eine andere Wirklichkeit nicht mehr wahrnehmen, sodann in jenen der Ungläubigen, die im sprachlichen Mimikri leben, also der physischen Gewalt durch die verdeckte Satire der sprachlichen Gewalt zu entkommen suchen, und schließlich in jene, denen die totalitäre Sprache nur die mentalen Begrenzungen wegräumt, denen sie früher in ihren Handlungen folgten. Und dann gibt es noch die Gruppe der offenen Widersprecher, die man ausgrenzt, solange man seiner totalitären Sprache nicht durch überlegene Gewalt das gesellschaftliche Deutungsmonopol zu verschaffen vermag, und die man beseitigt (verurteilt, inhaftiert, eliminiert), sobald man über diese Gewalt verfügt. Was bleibt, ist dann das Aufspüren der ewigen Ketzer, die sich in der totalitären Sprache bloß ducken. Neben die Geheimpolizei treten damit die Intellektuellen, die vom Staat bezahlt, mit Posten versehen, die totalitäre Sprache als Kultur zu behaupten haben, als Literatur, Theater, Theorie, und die als Funktionäre der Sprache ihre Eindeutigkeit überwachen, indem sie entsprechende Texte produzieren wie abweichende verhindern. Im totalitären System kommen die Intellektuellen an die Macht, zwar nicht als Philosophenkönige an die Spitze, aber doch als Helfer der Polizei an eine ihrer Stufen. Das ist faszinierend für Personen, die immer nur Worte produzieren, für die sie dann auf dem Markt Abnehmer suchen müssen. Dass dabei der Kommunismus eine so besondere Anziehungskraft auf sie ausgeübt hat, liegt an seiner Herkunft aus der theoretischen Spekulation. Trotz seiner Behauptung, die materielle „Basis“ erzeuge den weltanschaulichen „Überbau“, mit der er sich im Zeichen des epochalen Materialismus seiner Wissenschaftlichkeit versichern wollte, blieb der Marxismus voluntaristisch. Es ging um die ideologische Eroberung des Bewusstseins, die dadurch glücken sollte, dass bestimmte gesellschaftliche Zustände isoliert und in ein absolutes Deutungsgefüge eingesetzt wurden, das man „dialektisch“ nannte. Das Bewusstsein bestimmte das Sein und die Sprache bestimmte das Bewusstsein, weshalb der Versuch, in einer Wahrheit zu leben, die nicht von der Partei definiert worden war, stets zum Versuch werden musste, in einer Sprache zu leben, die viele Ausgänge besaß und viele Eingänge, in der vieles zweifelhaft blieb wie in der Geschichte auch. George Orwell hat in seinem Roman „1984“ (1948) die Funktionsweise der totalitären Sprache offengelegt. Das Prinzip totalitärer Herrschaft, die ständige Überwachung jedes Einzelnen, durch den Staat („Big Brother is watching you“), soll von der materiellen Seite (Überwachung durch Polizei, Kameras) auf die unmaterielle Seite ausgeweitet werden, denn erst auf diese Weise vermag sie total zu werden. Der Mensch muss die Gewalt verinnerlicht haben, und das geschieht, indem man die Kommunikation zerstört, d. h. die Begriffe umstürzt („Newspeak“). Weder die Tradition noch die Öffentlichkeit noch das Individuum vermag die Bedeutungen zu beeinflussen. Sie sind in die Verfügung der Partei

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gestellt, sie werden letztlich willkürlich und mit der Willkür der Begriffe stürzt zugleich die Gesellschaft in die Willkür. Seine Kulmination findet dies in der Zerstörung des Bewusstseins, in seiner Fortbildung zur „Schizophrenie“ des Denkens, in dem ein und dasselbe Phänomen zugleich richtig und falsch sein kann („Doublethink“). Auch hier ist es die Partei, die über das (jeweils) für richtig oder falsch zu Haltende entscheidet. Die Gedankenpolizei wird zur Struktur des Neuen Staates. Sie wacht über die Identität der Bürger, ihre totale Gleichförmigkeit und weitet nur dort ihre terroristische Gewalt vom Symbolischen ins Physische aus, wo der Pawlow’sche Reflex des bedingten Gehorsams wiederhergestellt werden muss, wo Menschen es wagten, aus der Bewusstseinsstarre der totalitären Sprache herauszutreten. Im „Ministerium der Liebe“, dem Ort der Geheimpolizei, der Folter mit dem Rattenkäfig, wo der Gefangene nicht weiß, ob ihm zuerst die Augen, oder die Zunge zerfressen wird, und er seine Liebste ausliefert: „Nicht ich! Macht das mit Julia!“ – im Liebes-Ministerium wird der Mensch zu einem Materieklumpen, „to a bag of filth“ minimiert, den man dann auf Sprachreflexe reduziert, ihn „heilt“ von alldem, was individuell, human an ihm war. Alles, was Menschen verbindet, spontan, muss zerstört werden: die Liebe zwischen den Geschlechtern, denn Liebe ist gefährlich, erwünscht ist nur die Sexualität der Fortpflanzung; die Sprache zwischen den Individuen als Suche nach Verständigung, denn alles individuelle Sprechen ist gefährlich, erwünscht ist nur der formelhafte Austausch im Neusprech und die Einübung in das Doppeldenk. Mit „Oldspeak“ stirbt auch der Alte Mensch und der Neue entsteht und doch findet der Terror kein Ende, weil das große Geheimnis der „Natalität“ (H. Arendt) der Despotie den Boden unter den Füßen wegzieht, der ständigen Neugeburt von Menschen. Totale Herrschaft will den Körper so gut wie den Geist. Sie will die totale Gewalt. Sie bemächtigt sich des Körpers, indem sie ihn auf ein „grey-coloured, skeleton-like thing“ minimiert, das nur noch leben will. Sie bemächtigt sich des Geistes, indem sie ihn auf „Duckspeak“ minimiert, in der lediglich die von der Partei festgelegte Bedeutung vorhanden ist und jeder, der anders denkt und bei einem „thoughtcrime“ ertappt wird, auf sein Skelett reduziert wird. War die „Entensprache“ als minimalistische Linearsprache durchgesetzt, dann schien auch das Ziel erreicht, nämlich die Geschichte zu eliminieren, denn die bestand aus Bewusstseinsinhalten, die ein anders Denken ermöglichten. Verstanden die Menschen einmal nur noch „Duckspeak“, waren sie unfähig, Texte mit „Geschichte“, d. h. „Oldspeak“ zu verstehen, abgesehen von jener „Inneren Partei“, die im Zustand des Doppelsprech fortbestand, in der Gleichzeitigkeit von Phrase und Fanatismus, der vor dem Absturz in die Zeit graute, der Sterblichkeit als letztem, metaphysischem Schrecken. Die Ideologie ist die totalitäre Sprache als System gefasst. Die Sprache expliziert die Ideologie und endet mit ihr. So wie die einzelnen Begriffe nur eindeutig werden, wenn sie an das ideologische System angeschlossen sind und also jede „eklektische“ Weiterung verboten ist, so verlangt auch das ganze System die bedingungslose Annahme, denn „dem, der ihm nur den kleinen Finger reichen will, zerquetscht er gleich die ganze Hand“, wie Franz Mehring, der sozialistische Theorie-Agitator, vergnügt vom Historischen Materialismus feststellte (1895). Und Houston Stewart Chamberlain, der rassistische Theorie-Agitator,

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setzte den zweiten Ideologie-Satz hinzu: Mag auch vieles in den Aussagen falsch sein, „ganz unwahr ist nichts“ (1906), woraus er die Wahrheit seines ganzen Systems ableitet. Der dritte Ideologie-Satz lautet, dass „das Interesse der Menschheit über das des Menschen“ gestellt werden muss, und er stammt von Arthur Koestler (1938), einem gefallenen Engel und also einem, der die „Wahrheit“ bekannte und dann doch von ihr abgefallen war. Man kann die „Menschheit“ auch durch die „Rasse“ oder etwas anderes ersetzen, es muss nur ein „Totales“ sein, in dem alles Individuelle verschwindet. Vor allem derjenige verschwindet, der sich zu ihm bekennt. Bedeutung besitzt er nur noch als Teil eines Ganzen, doch nicht mehr als individuelle Person, die nicht nur geopfert wird, von der man auch das Selbstopfer verlangt, die Selbstbezichtigung, als „Selbstkritik“ bis hin zu den „Geständnissen“ im Schauprozess. All das ist formelhaftes Reden, ein Abspulen der totalitären Sprache, das der Herrschaft Recht gibt. Die physische Gewalt braucht einen Rückhalt im Bewusstsein, weil jene, die sie ausüben, mit ihrem Bewusstsein in eine Welt der Begriffe, der Sprache hineinreichen, in der auch die Gewalt ihren geistigen Ort hat. Diese Gesellschaft im Kopf entscheidet über die Art der Gewalttätigkeit: Billigt sie diese, handelt der „Gläubige“, beseitigt sie nur Einschränkungen, Skrupel, so handelt der Opportunist, der „ganz normale Mensch“. Gibt es Widerstände, so entstehen Gefahr und Möglichkeit eines anderen Handelns. Die totalitäre Sprache verankert die Gewalt im Kopf. Sie schafft keine Spannung, sondern Identität. Das lässt sie so anziehend werden. Der nicht mehr zweifelnde Mensch ist der „Neue Mensch“. Der Neue Mensch ist die Utopie des Totalitarismus. Er wird möglich, weil er nur noch eine Sprache besitzt, weil es keine Alternative mehr gibt. Sprache als „Spiel“ und als Entdeckung von Individualität und Zukunft ist dann nicht länger möglich. Wo jedoch die Sprache eindeutig ist, muss die Herrschaft ewig dauern, denn nur sie kann diese Eindeutigkeit aufrechterhalten. Die Bedrohung der totalitären Sprache durch die Imagination, die Literatur, ist das größte Problem totaler Herrschaft neben der Organisation der schieren Gewalt. Im Kommunismus war es besonders bewusst, war dieser doch selbst aus dem Wort hervorgegangen und zielte auf eine Endgesellschaft, die Wortgesellschaft sein sollte. Schriftsteller spielten hier eine wichtige Rolle, als Bildner der Begriffe, die das Tor zur Mehrdeutigkeit des Literarischen umso entschiedener geschlossen zu halten hatten. Doch die Erwartung, die Herrschaft über die Sprache „hegemonial“ ins Bewusstsein transportieren zu können, um dann die Gewalt in der Gesellschaft abzubauen, funktionierte nicht, weil das Pawlow’sche Prinzip, angewandt auf die Begriffe, nicht funktionierte. Menschen ließen sich über die bedingten Begriff-Reflexe nicht dauerhaft kommandieren, wenn die Gewalt nicht stetig assistierte. Damit aber fällt der totalitäre Staat wieder in die Geschichte zurück, die er doch überwinden wollte. Sein Beharren auf Überwindung jedoch lässt seine Gewalttätigkeit eskalieren. Der totalitäre Staat ist einer, der unmittelbar auf den einzelnen Menschen zugreift, der nicht nur einen Besitzanspruch auf den Körper, auf das soziale Dasein, sondern auch auf das Bewusstsein erhebt. Der Einzelne „gehört“ dem Ganzen, dem Sozialismus, dem Führer, bis hin zur willkürlichen Verhaftung, zur Eliminierung. Die bindende Phrase der totalitären Sprache ist das „Engagement“, ursprünglich ein Begriff der militärischen

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Sprache. Zwei feindliche Abteilungen treffen aufeinander, kämpfen miteinander. Im Engagement verbindet sich eine Gruppe von Wortproduzenten, „Intellektuellen“, um für ein intellektuelles Abstraktum bzw. für Prinzipien zu streiten, denen eine universelle Gültigkeit zugeschrieben wird. Bereits beim ersten bedeutsamen „Engagement“, der Auseinandersetzung um den zu Unrecht verurteilten Hauptmann Alfred Dreyfus (1894–1908), ging es nicht um „ein bestimmtes menschliches Wesen“, sondern, wie G. Clemenceau betonte, um ein Prinzip bzw. darum, wer in Frankreich die kulturelle und damit politische Hegemonie ausüben sollte. Es ging um „die Sache“, d. h. um Einfluss, Macht, Herrschaft in der öffentlichen Sprache und deren Korrektheitsregeln, nicht um Menschen. Die Intellektuellen als Hersteller der öffentlichen Begriffe ersetzten die Priester. Wie diese waren sie Verkünder von Universalien, wie diese benannten sie Gut und Böse. Als solche benötigten sie ein öffentliches Podium. Das waren die Medien, das war immer mehr die politische Partei. In die Partei einzutreten bedeutete, sich des Absoluten auch institutionell zu vergewissern. Und wo diese Partei, die kommunistische, die Macht übernommen hatte, war es zugleich der einzige Weg, auf das Podium zu gelangen. Die „Totalität“ des Intellektuellen entsteht da, wo er seinen Absolutheitsanspruch mit dem der Partei verbindet und sich dadurch in die Marschkolonne der Weltgeschichte einreiht. Totalität und Kollektivität verbinden sich. In der Abstraktion des „Prinzips“ werden die Menschen vor der „Menschheit“ zu Schatten, etikettiert nach Freund und Feind, die man wie Fliegen totschlägt, wenn es die Abstraktion erfordert. Es ist, sozialpsychologisch, der Ort des bürgerlichen Intellektuellen, der sein Bürgertum verloren hat, als soziale Zugehörigkeit, ohne seine kulturelle loswerden zu können. Der Leugner seiner Herkunft sucht nach einer neuen Ankunft und findet sie in der totalen Ideologie, deren Totalität sich dadurch vollendet, dass sie Partei geworden ist, Glaubensund Handlungsgemeinschaft derer, die sich mit ihren Phrasen betasten und für zugehörig erkennen. Der bürgerliche Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, anders als seine Vorfahren im Jahrhundert zuvor, schämt sich seiner Vernunft und erklärt sie zur Militanz, zur Wortform der Gewalt der „Befreiung“. Für den Intellektuellen selbst wird die Zerstörung des Bestehenden zum Versprechen seiner Erlösung. Der Hass auf die „Bourgeoisie“ wird zum Modus eines Denkens, das mit der eigenen Geschichte die ganze „bisherige“ Geschichte vernichten will. Leben, Handeln, Denken werden eins. Es kennt keine andere Zeit als die Gegenwart, in dem „das Ganze“ als Jetztzeit bereits enthalten ist, in welcher der Neue Mensch bereits seinen Auftritt als Kämpfer „für die Unterdrückten und Beleidigten“ hat, von einem Endzustand her, der als total gedacht wird. Von diesem her sind nur totale Deduktionen möglich, die auf eine Gegenwart und eine bürgerliche Gesellschaft treffen, die aus Halbheiten besteht und auf die solche Deduktionen wie Granaten wirken müssen. In diesem Denkschema existieren nur noch Fliegen und sie haben keinen Existenzgrund mehr, denn sie existieren nur so lange, bis man sie zerdrückt. Der Existenzgrund des Neuen Menschen aber ist die totalitäre Sprache, d. h. es gibt ihn nicht. Jean Paul Sartre (1895–1980), der exemplarische Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, lebte diese existentielle Leere eines von Ideologie und totaler Sprache gefüllten Lebens. Gehetzt vom untergründigen Wissen um diese Leere und ohne Hoffnung auf ein Übergrei-

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fendes, wurde das Handeln zu etwas, das allein noch Leben zu vermitteln schien, und die Ideologie zum Opium, das das Bewusstsein zum Handeln trieb. Ein Drittes durfte es nicht geben. Die Wegscheide zeigte sich 1952, als Albert Camus von sowjetischen Lagern sprach und Sartre ideologisch geblendet erklärte, auch im Westen würden Arbeiter vom Kapitalismus ausgebeutet. Sartres „Humanismus“, wie der radikaler Intellektueller, kennt im Konkreten nur „Fliegen“ oder „Hunde“, im Abstrakten aber „Ausgebeutete“ und den „Neuen Menschen“. Camus Bemerkung, „Ich glaube an die Gerechtigkeit, aber vor der Gerechtigkeit werde ich meine Mutter verteidigen“ (1957), die während des Algerien-Krieges in Algier lebte, ist für den intellektuellen Humanismus seit Clemenceau eine Provokation. Es ist die Hinwendung zum Konkreten, diesseits der Fliegen. Der Moralist Camus hatte Probleme mit der Moral, weil er wusste, dass die Tugend, als Ganzes genommen, ohne die Guillotine nicht handlungsfähig wird. Tugend, Terror und Tod bilden eine kausale Fatalität. Der in Gesellschaft Tugendhafte, der von ihr seine Tugend einfordert, wird immer gewalttätig. Bei Camus wird das nur um den Preis des Selbstopfers zu gerechtfertigtem Widerstand: Wer einem Menschen das Leben nimmt um einer Sache, um der Gerechtigkeit willen, muss mit seinem eigenen Leben dafür bezahlen. Das Paradox der „gerechten“ Gewalt, „gleichzeitig notwendig und unentschuldbar“ zu sein, gleichzeitig um der Menschen willen zu töten und Menschen zu töten, löst sich höchstens im Preis des eigenen Lebens. Camus‘ „Die Gerechten“ (1949) versuchen, die Gewalt „in Grenzen“ zu halten, indem sie zum Selbstopfer bereit sind und „Unschuldige“ schonen. Der Revolutionär hält das für widersinnig, denn „die Revolution, die alle Übel heilen will . . . kennt keine Grenzen“. Er hat Recht. Vor dem Absoluten wird alles relativ, vor allem das menschliche Leben. Eben dies leugnet Camus. Allein das als absoluter Wert aufgefasste menschliche Leben vermag für ihn einer Gewalt Grenzen zu setzen, die sonst selbst absolut wird, wenn sie sich mit einem Absoluten verbindet, mit „der“ Menschheit, „der“ Gerechtigkeit, „der“ Freiheit usf. Der Widerstand gegen eine Unrechtsherrschaft blieb ohne Gewalt ohnmächtig, blieb aber um der „Ehre“ des Menschen wegen geboten. Camus führt hier die Vorstellung des „Absurden“ ein, als „Grenze“ hin zum Absoluten, als Menschengrenze hin zur Gewalt. Das Absurde sollte die Moral von ihrer Absolutheit, ihrem Anspruch auf Letztbegründung befreien, sollte der ihr innewohnenden totalitären Tendenz „Grenzen“ setzen. Das Absurde steht zugleich gegen die „Geschichte“ bzw. die Vorstellung historischer Gesetze und eines durch sie erzeugten und gesicherten historischen Fortschritts. Kein Wunder, dass die Verfechter der Totalität: der Revolution, des Neuen Menschen, der Nachgeschichte, Camus zu hassen begannen, vollzogen in Sartres polemischer Vernichtung (1951), mit der Camus in Frankreich „in das Schweigen“ fiel. Die Geschichte ist nicht alles. Es gibt auch die Sonne. Eine Sonne, die auf einen Menschen scheint, der mehr ist als der Materieklumpen Napoleons. Ein Mensch, den die Sonne nicht nur materiell erwärmt, sondern als gewaltiges Licht in die Augen dringt, ihm Farben, Formen schenkt und eine Sinnlichkeit, die im Eros des Sehens mündet. Ohne „Sonne“ ist die Geschichte nicht menschlich zu fassen und ohne einen tiefen Begriff des Todes ist ihr nicht zu widerstehen.

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Alles, was keine Grenze kennt, verfällt der Raserei: Diese Erkenntnis durchzieht die ganze Widerstandsliteratur gegen den Totalitarismus, von Koestler, Orwell, Camus bis Solschenizyn. Im Kommunismus, mit dem eine auf „Vernunft“ gegründete Bewegung an die Macht kam, zeigt sich ihr Sturz in den Wahnsinn in der Selbstbezichtigung des Angeklagten, in der ein Schuldloser die Schuld auf sich nimmt, um „das Ganze“ zu retten, wie einst Jesus die schuldbeladene Welt. Sie zeigt sich im Verhör, bereitet sich vor in der „Selbstkritik“, einer Art Beichte vor der Partei als Schuld bekennender Unterwerfung unter das Absurde, als atheistische Wiederholung des „credo, quia absurdum est“. Der Kontrollchor spricht: „Umarme den Schlächter, aber ändere die Welt, sie braucht es!“ Der Junge Genosse kennt nur das Mitleid. Die Partei kennt kein Mitleid, „sondern die Tat, die das Mitleid abschafft“. „Die Partei kann nicht vernichtet werden, denn sie beruht auf der Lehre der Klassiker“, welche die Wirklichkeit verändert, „indem sie die Massen ergreift“. Der Junge Genosse, der Partei hinderlich geworden, wird liquidiert und in die Kalkgrube geworfen, sie „warfen ihn hinab, mit offenen Augen, und warfen Kalkklumpen und flache Steine hinterher“. Der Junge Genosse stimmte seiner Liquidierung zu, „ja sagend zur Revolutionierung der Welt“. In Bert Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“ (1930) wird beschrieben, wie der „Einmarsch der Vernunft in die Gesellschaft“ sich vollziehen wird, wie H. Eisler es nannte, der dazu Musik komponierte. Die Klugheit des Bert Brecht, die sich bereits im Text zeigt, der 1938 mit einer Preisung der UdSSR endet, zeigt sich auch daran, dass zwar der politisch in die neueste Korrektheit gewandelte Text dorthin wanderte, nicht aber sein Verfasser, der es für klüger hielt, statt im verherrlichten Staat der Werktätigen in dem der kapitalistischen Ausbeuter Sicherheit zu suchen. Brecht wusste, wie „zärtlich“ die Richter der Partei den schädlichen Genossen zum „Abgrund“ führen, nachdem er seine Schuld eingestanden hatte. Seine tiefe Einsicht in den Abgrund des Kommunismus zeigte er auch darin, dass er es als Einübung in „die praktische Kenntnis von dem, was Dialektik ist“ auffasste: Die Spieler nehmen nacheinander alle Rollen ein. Jeder ist irgendwann einmal Richter, einmal Angeklagter.2 Brecht wollte am liebsten, dass dieses Lehrstück ohne Publikum aufgeführt werden sollte, als „Seminar“ zur Einübung eben jener kommunistischen Zärtlichkeit der Liquidierung. Lenin nannte das „kommunistische Sittlichkeit“. Sie sei „vollkommen den Interessen des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet“.3 Sittlichkeit ist eine Funktion der kommunistischen Gewalt. Es gibt daher keine „ewigen“ Maximen des richtigen Handelns. Die Partei bestimmt jeweils, was richtig ist. Sie „denkt vor den Gewehrläufen“. „Mitleid“, „Ehre“, die Kategorien also des Jungen Genossen, sind so belanglos wie das Einzelschicksal. Was Brecht 1930 als die Logik der kommunistischen Menschheitsliebe vorführte, wurde wenige Jahre später in den Moskauer Schauprozessen Wirklichkeit und nur für jene zum Problem, die das Doppeldenk nicht hinnehmen wollten, wie Orwell oder Arthur Koestler, der in seinem Roman „Sonnenfinsternis“ gleichfalls von der Zärtlichkeit des kommunistischen Menschenopfers handelt. Die Realität entspricht der Fiktion: Am Ende weinen die verdammten Helden des Sowjetstaates, zusammen mit dem sie verhörenden GPU-Agenten, und unterzeichnen das ihnen vorgelegte Schuldgeständnis: „Es muss sein.“ Die Partei will es und die Partei hat

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immer recht. Das Mitleid ist keine Eigenschaft individueller Zuwendung. Es gilt dem Ganzen, dem Kollektiv, der Menschheit. Daher ist es eine Kategorie der Gewalt, es ist ein Akt des Doppelsprech, der sich dadurch rechtfertigt, dass „die Welt“ zu schlecht ist, um mitleidig zu sein. Man muss sie erst zerschlagen, um mitleidig werden zu können, weshalb das Zerschlagen selbst ein Ausdruck des kollektiven Mitleids ist. Es ist die Ordnung der totalitären Sprache, die es unter „der Menschheit“ nicht tut und nicht hinnimmt, das diese aus nichts als einzelnen, sterblichen Menschen besteht, und der es deshalb so leicht fällt, zu urteilen, denn wer vermöchte in der Welt, „so wie sie ist“, vor den Absolutheiten bestehen? Die Partei hingegen sieht sich bereits auf dem anderen Ufer, in der Welt, „so wie sie sein muss“. Über diesen Abgrund führt nichts. Man muss den Schlächter umarmen und stürzt nur noch tiefer. Wer der Guillotine erst einmal „die blutige Hand geschüttelt“ hat, ist für immer an die terroristische Gewalt verloren. Der provokative Gedanke, dass Humanismus und Terror eins seien, gilt im Kommunismus als Selbstverständlichkeit. Terror, ausgeübt von Menschen, „die am reinsten Menschen sind“, wird zur Menschenliebe, wie der feinsinnige Philosoph Maurice Merleau-Ponty in seiner Auseinandersetzung mit Koestler es formulierte (1947). Man hat Menschen verbrannt, um ihre Seele zu retten. Nun liquidiert man sie, um sie in Kalkgruben zu werfen. Der Unterschied ist wie ein Riss, der durch die Welt geht. Es ist der Absturz in eine Leere, die ins Bodenlose reicht, und das Bewusstsein davon ist jener Nihilismus, den nichts mehr hält als eine eschatologische Gewalt. Dieses Bewusstsein besitzt zwei Etagen, die des Gläubigen und jene des Zynikers. Zu den Gläubigen zählen zunächst nicht nur die Aktivisten der Tat und des Wortes, sondern auch die Mächtigen, also nicht nur Brechts vier Agitatoren und er selbst, sondern auch Lenin, Trotzki, Koestlers Rubaschow und der echte Mratschkowski. Die Zyniker kommen hinterher, Stalin oder Orwells O’Brien, also jene, die die Hohlheit der humanistischen Phrase durchschaut haben und bewusst das tun, was immer getan worden ist, nämlich die Gewalt um der Macht willen auszuüben, die eben nur so lange Bestand hat, als sie Gewalt ist. Man kann auch H. S. Chamberlain, Hitler, Himmler sagen und dann Heydrich oder Q. Tarantinos Hans Landa anfügen. Der Kommunismus bietet die Version eines Absoluten als Ende der Geschichte, in der es das menschliche Individuum nicht mehr gibt, eine Totalität der Gleichheit mit Menschen, die im Zustand glücklicher Tiere existieren. Es ist ein Zustand, in dem die Menschen „wie die Vögel ihre Nester bauen oder wie die Spinnen ihre Netze weben oder . . . Konzerte geben wie die Frösche und die Grillen“, wie es der bekennende Stalinist Alexandre Kojève (1902–68) beschrieben hat. Es ist der Zustand, in dem die bedingten, durch äußeren Terror und durch erzieherisches Training einzuübenden Reflexe in den nachhistorischen der unbedingten Reflexe übergegangen ist und die Menschen nur noch glücklich sind. Damit ist der „Sinn“ der Geschichte vollendet, nämlich zu Ende zu gehen, im „État universel et homogène“ stillzustehen, also im Zustand der Identität aller, bevölkert von „lebenden Körpern, welche eine menschliche Form haben“, einem Zustand ohne Gewalt, ohne Krieg und Revolution. Es ist der Zustand des Sozialismus als „retour à l’animalité“, als Rückkehr zu nichts als zu den Körperbedürfnissen, Glück der „Automatenmenschen“, behütet vom

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großen Stalin. Der Mensch befreit sich von der Geschichte, indem er sich auf den Automatismus seiner Tierheit reduziert, aber auf der letzten und höchsten Stufe seiner Zivilisation, eben jener der vollendeten Technologie. Im 20. Jahrhundert wird das verwirklicht, was im achtzehnten noch Erwartung gewesen war: Erwartung einer Wissenschaft und Technik, die den Menschen zum Herren seiner selbst werden ließ. Es war ein Mythos der umfassenden Herstellbarkeit, der sie antrieb, der Revolution, nicht nur von Gütern, sondern auch der Gesellschaft, der Menschen selbst. So wie Produktionsabläufe organisiert und instrumentalisiert werden sollten, um neue Güter herzustellen, und das immer besser, so sollten auch die Gesellschaftsabläufe organisiert und instrumentalisiert werden. Wesentlich ist dabei die Überzeugung, es sei möglich, sicheres Wissen zu gewinnen, absolutes Wissen, das ein absolutes Handeln ermögliche. Für die Menschenwissenschaft bildete dabei die Geschichte den Ort, an dem solches Wissen gewonnen werden konnte, weil es in ihr so sichere Gesetze gebe wie in der Natur. Wer diese Gesetze kannte, konnte in der Politik so planerisch handeln wie der Ingenieur in der Technik. Das Problem der Moral löste sich damit in neuer Weise. Moralisch handeln und rational handeln im Sinne dieser Geschichtsgesetze wurde dasselbe. Nicht nur rechtfertigt der ideale Endzustand jedes Handeln, das auf seine Erreichung abzielt. Ein anderes Handeln wäre auch zwecklos, absurd. Die Anziehungskraft des Kommunismus auf viele Intellektuelle besteht dann darin, dass das behauptete Geschichtsgesetz zugleich die urchristliche Moral der Armen und Erniedrigten mit sich nimmt: Der Klassenkampf in seiner letzten Phase, als Kampf zwischen Kapitalisten und Proletariern, wird die Erniedrigten erheben. Es wird nur noch sie geben und also keine Erniedrigten mehr. Das Geschichtsgesetz verwirklicht mit der klassenlosen Gesellschaft zugleich das elementare Christentum. Die sprachliche Ausdrucksform dieses Bewusstseinszustandes ist die Doppelbödigkeit eines Redens, die nur dem widersprüchlich erscheint, der die Prämisse nicht akzeptiert, dass es eben ein solches Gesetz gibt. Das Bestehen auf der Offenheit der Geschichte, ihrer Unabsehbarkeit, im Künftigen, aber auch im Vergangenen, ist der Ausgang aller antitotalitären Rede. Sie bleibt bedingt, weil sie zum einen den Menschen als ein auf Werterfassung hin angelegtes Wesen versteht, zum anderen keine absoluten Werte kennt. Der Mensch ist ein Werte suchendes Wesen, dem ihre Absolutheit hinter einem Schleier verborgen bleibt, den man Transzendenz nennt. Das Einzige, das der Mensch sicher erkennt, ist die Vergänglichkeit. Daher treibt es ihn so sehr zu den Reden und Rednern, die ihm Absolutheiten versprechen, in denen das Vergängliche verschwindet, zu Religion und Ideologie. Die Auferstehung des Religiösen im Politischen, d. h. in der Ideologie als „politischer Religion“ im Zeitalter des Atheismus, gehört daher hierher. Mit ihr realisiert sich erneut das Böse als sozialer Feind, der in der Geschichte handelt und in ihr wie mit ihr überwunden werden muss. Die Apokalypse verbindet sich mit der Wissenschaft.4 Die Wissenschaft liefert ihr eine neue Sprache, eine, in der die alten Gehalte einer nun verachteten Religion in das neue Ansehen der Wissenschaft gehoben werden. Aus eben dieser materialistischen Radikalität ergibt sich der totalitäre Charakter der Ideologie. Alles wird aus dem „Erkennbaren“ abgeleitet, aus materiellen, empirischen Größen, aus

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Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte, Biologie etc., und auf ein Materielles bezogen, die Neue Gesellschaft, den Neuen Menschen. Alles ist wie eine Physik vor den Rätseln Einsteins, Plancks, Heisenbergs: erkennbar, technisch umsetzbar. Die in ihrem Wesen, dem unfassbaren, unerkennbaren Gott, zerfallene Religion wird dabei in ihren kultischen Äußerungen in die Ideologie einbezogen, ohne welche eine Massenemotion schwer zu erzeugen scheint: Personenkult, Kult der Märtyrer bzw. Helden bis hin zur Reliquienverehrung, Festkalender, Prozessionen, Rituale bei Versammlungen, heiligmäßige Texte und die Kontrolle von deren richtiger Auslegung, Heiden und Mission bzw. Kreuzzug, Apostaten und Ketzerverfolgung, Beichte als Selbstkritik und Eingang in die Unmündigkeit als Opfer des Intellekts für das Große Wissen der Kirche, der Partei. Nur die Transzendenz zu einem Unsagbaren, Göttlichen fehlt. Sie würde alles wieder in Frage stellen. Für das auf diese Weise entstehende totalitäre Bewusstsein hingegen ergibt sich so die Chance, die Wucht apokalyptischer Gewalt mit der Rationalität wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten in eins zu setzen, d. h. Bedingungslosigkeit herzustellen. Das soziale Wesen der Bedingungslosigkeit aber ist die Identität von Einzelnem und Kollektiv, die sich als Gewalt gegen den Feind realisiert. Der Wille dieses Kollektivs, die „Volontà obiettiva“, wie Mussolini ihn nennt, wird durch einen Einzelnen als Handlung bewusst gemacht, der mit dem Absoluten in Verbindung steht, hier dem, was geschichtlich „an der Zeit“ ist. Am Ende steht die Tat, und sie „war gut, wenn du sie rot geblutet“, wie ein nationalsozialistischer Schriftsteller schreibt. Das „Blutgericht“ ist der „Gral“,5 das Töten eine Erlösungstat. Die politischen Religionen bieten den Menschen in einer Epoche der tiefen kulturellen Krise die Schließung ihres Bewusstseins wie die Einschließung in eine Gemeinschaft an. Die Transzendenz ist in die Geschichte verlagert und mit Gesetzmäßigkeiten verbunden worden, d. h. sie ist zu kollektivem Handeln transformiert worden. In den Politischen Religionen löst sich der Antagonismus von Politik und Religion, wie er sich spätestens seit den religiösen Bürgerkriegen des 17. Jahrhunderts herausgebildet hat und zur Voraussetzung der modernen Gesellschaft geworden ist. Staat und Religion sollen eins werden und also der Mensch ein Besitztum des Staates „in Körper wie Bewusstsein“. Diese Inbeschlagnahme des ganzen Menschen ist kennzeichnend für den Totalitarismus. Setzt der Kommunismus jedoch mehr auf das Bewusstsein, von dem er zur Tat vorstoßen will, so setzt der Nationalsozialismus auf den Körper, auf ein „instinktmäßiges“ Drängen zur Tat. Die Gewalt ist in ihm keine Deduktion mehr, vielmehr die allbeherrschende Prämisse. Über die Tat reichte die Gewalt vom Körper in das Bewusstsein, wo sie nichts als Wille war. Mit der Tat versicherte sich der Wille der Wirklichkeit. Im Tat-Vollzug der Herstellung von Wirklichkeit realisierte der Wille seine Existenz, erwarb er zugleich Verfügung über die Wirklichkeit, die stets auch die Wirklichkeit Anderer war, erwarb er Macht. Die Tat ist das Opium für die Sinnleere des Bewusstseins. In diesem Nihilismus der Tat existieren jene Vordenker des Nationalsozialismus, die zwar mit diesen „Proletariern“ nicht eins werden konnten, weil sie mit beidem nicht eins werden wollten: dem Prolethaften und dem gläubigen Rassismus, die ihm aber mit ihren Texten zum Anschein von Intellektualität verhalfen. Ernst Jünger, Oswald Spengler, Gottfried Benn, Ernst Niekisch,

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Carl Schmitt suchen nach einem „Preußischen Sozialismus“, in dem im Zeichen der entfesselten Technik die Arbeit zum technischen Stoßtruppunternehmen wird, dem Arbeiter „eiserne Glieder“ wachsen, er zur „organischen Konstruktion“ wird, wie Jünger es nennt (Der Arbeiter, 1932). Für ihn ist der Frontsoldat der Materialschlacht dem gleichen Typus des Neuen Menschen zugehörig wie der Arbeiter im überwältigenden, anonymen Mechanismus der Maschine. Beide stehen im unentrinnbaren Zusammenhang einer „totalen Mobilmachung“, einer „rasenden Mechanisierung des Menschen“, in welcher der Mensch „siegt“, indem er sich dem Unabwendbaren unterwirft, aus dem ihm ein neues Leben zuwächst, nämlich Glied zu sein eines riesigen, mechanischen Ablaufs in einer erkalteten Welt. Die moderne Technik war kalt, gleichgültig, ob sie nun in gewaltiger Monotonie Schlachtfelder zerpflügte oder in der Monotonie von Fabriken und Fabrikstädten Güter erzeugte. Der moderne Mensch vermochte ihr lediglich standzuhalten, wenn er so wurde wie sie, was auch heißt, wenn er zwischen Frieden und Krieg keinen Wesensunterschied mehr erkannte, wenn Politik nur permanente Mobilisierung war. Jünger bewundert den Totalitarismus im Kommunismus, hält dessen Rede von der „Menschheit“ aber für hohl, da diese keine soziale Konkretheit besitze. Konkret ist die Nation, die als innere Totalität geformt werden soll, mit dem „Arbeiter-Soldaten“ als Massengestalt, die deshalb in riesenhafter Monotonie so überlebensstark wird, weil sie im Überpersönlichen der Masse, des Kollektivs aufgeht. Es ist das Bild der Materialschlacht als Synonym für das alltägliche Leben in der Maschinengesellschaft, deren Struktur „die Heeresgliederung ist, nicht der Gesellschaftsvertrag“. Der „Arbeiter“ als einer, welcher die blinde Pflicht auf sich nimmt, ist der Mensch nach der Aufklärung, der Todfeind von Liberalismus und bürgerlicher Gesellschaft, er ist der totale Mensch des totalen Staates. Es ist diese Zustimmung zur Technik als planetarischem Schicksal, das zum einen die „totalitaristische“ Verwandtschaft von „Konservativer Revolution“ und Nationalsozialismus ausmacht und zugleich die Abgrenzung vollzieht. So sehr auch ein Jünger oder Spengler die antisemitischen Vorurteile der politisch eher rechts stehenden Teile der deutschen Gesellschaft teilen mochten, so wenig teilten sie die ideologische Grundüberzeugung des Nationalsozialismus, dass „die Juden“ das wahre Problem für eine Politik sei, die Deutschland zur Größe führen könne. Die Radikalität dieser Position ergab sich aus der Radikalität einer Kritik, die die ganze bisherige Kultur in den Blick nahm und verwarf und von dort aus auf das „pompejanische“ Schicksal der modernen technischen „Zivilisation“ blickte und es annahm. In der Radikalität eines illusionslosen Technizismus, in dem sich der Nihilismus an die kalte Unbeirrbarkeit der Maschinenwelt klammerte, entstand eine Gegenposition zum Nationalsozialismus wie zum Konservativismus, die beide von weltanschaulichen „Substanzen“ ausgingen, die den „konservativen Revolutionären“ als abgetan erschienen. Das Problem eines technizistischen Nihilismus ist, dass er über die „heroische“ Hinnahme eines unpersönlichen, kalten Funktionierens hinaus kein Ziel besitzt. Eine rationale, selbstbezogene Technik folgt allen Zielen, die ihr gesetzt werden. Sie ist im Zusammenschluss ihrer Elemente dem Totalitarismus potentiell vergleichbar. Sie ist Organisation und Funktion und ideologisch beliebig einsetzbar. Der Versuch, die Technik

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zum sprachlosen Diskurs der „Zivilisation“, der Moderne zu machen,6 gewissermaßen die Weltanschauungen mit der „Kultur“, der Vormoderne verschwinden zu lassen, scheiterte.

Kommunismus Das 20. Jahrhundert ist zu einem Zeitalter totaler Gewalt geworden, weil sich in ihm zwei Potentiale solcher Gewalt verbanden: Utopie und Technologie. Der Kommunismus begründet sich geradezu von dieser Verbindung her. Sie formt seine doppelte Teleologie, denn die Technologie als Kern der „Produktivkräfte“ treibt die Geschichte voran und wird sie schließlich überwinden, eben dann, wenn sie sich mit der Utopie einer klassenlosen Gesellschaft verbindet. Die „Klassiker“ des Kommunismus, Marx und Engels, nennen das „Wissenschaft“, weil sie aus dem Offenkundigen technologischer Dynamik auf die Herstellbarkeit des Utopischen zu schließen versuchen. Die Praktiker des Kommunismus, Lenin, Stalin, Mao, produzieren daraus die Wirklichkeit als Kausalität von „Sowjetmacht plus Elektrifizierung“. Marx untersuchte die kapitalistische Industrialisierung als historische Periode, indem er ihr zwei absolute Konzepte entgegenstellte, das idealistische der „Entfremdung“, ökonomisch gegründet in „Ausbeutung“ und „Verelendung“, und das technologische der „Produktivkräfte“ gegründet in der „Dialektik“ als dem Bewegungsprozess der Geschichte. Die Dialektik, materialistisch gefasst, ist die prozesshafte Entfaltung der Technik, die sich bestimmte soziale Strukturen schafft bzw. diese überwindet. Der außerordentliche Bewusstseinssog bis hin zur ideologischen Lähmung, wie er vom marxistischen Kommunismus ausgegangen ist, ergab sich dann aus der Absolutheit des Wissens und der Absolutheit des Handelns als totalitärer Einheit. Das absolute Wissen ergab sich aus der Behauptung eines gesetzmäßigen Ablaufs der Geschichte, der zugleich die Zukunft enthüllte. Das absolute Handeln ergab sich aus dieser als Notwendigkeit enthüllten Zukunft. Der zeitgenössische Bezug auf die industriell revolutionäre Technologie beglaubigte dann den Materialismus der Lehre, der überzeitliche Bezug auf den nicht entfremdeten, wahren Menschen ihren Idealismus. Die dem Proletariat zugewiesene kollektive Entfremdung zu beseitigen, wurde damit zu einem geradezu zwanghaften Handeln von der Zukunft her. Mit ihm wurde auch die Technologie gewissermaßen befreit, in eine neue Phase ihrer Entfaltung forttransportiert. Die Transzendenz wurde als realisierbare Utopie gefasst und ihres Verweisungscharakters auf ein für den Menschen unerreichbares Absolutes entkleidet. Diese praktizierte Transzendenz ist der „Sprung“ in die eine Zukunft, die „uns erwartet“. Dieses Handeln „im Sprung“ ist folgerichtig schranken- und bedenkenlos, weil es seine Rechtfertigung aus der proklamierten Zukunft bezieht. Die Gegenwart der Zukunft herbeizuführen ist millenarische Ungeduld und also Apotheose der Gewalt, die forträumt, was stört, auf den „Kehrrichthaufen der Geschichte“ (L. Trotzki).7 Die Verbindung von Gewalt und Heilsgeschichte ist die Essenz der Revolution. Möglich wird sie durch die Spaltung der „herrschenden Klasse“, den Zerfall der Eindeutigkeit suggerierenden verbindlichen Weltanschauung, eine wirtschaftliche Krise und die Gewalt-

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erfahrung des Krieges. Diese Situation herrschte 1917 auch in Russland. Die „herrschende Klasse“, Adel und wohlhabendes Bürgertum, standen in zunehmendem Gegensatz zur zaristischen Autokratie, die jede politische Mitbestimmung selbst der Wohlhabenden abzublocken suchte. Die noch kleine, in den großen Städten aber bereits zahlreiche industrielle Arbeiterschaft samt den sub-proletarischen Massen von Hilfsarbeitern war dem Regime völlig entfremdet und die breite bäuerliche Mehrheit der Bevölkerung stand in bitterem Gegensatz zum grundbesitzenden Adel. Als das 20. Jahrhundert begann, war Russland nur mehr vom scharfen Gegensatz zwischen einer kleinen Schicht reicher, privilegierter Personen und einer riesigen Masse armer, oft an der Subsistenzgrenze lebender Menschen geprägt, zwischen denen kaum mehr als Fremdheit, Furcht, Hass war. Die russische Gesellschaft zerriss auch der Gegensatz von Stadt und Land. Die Masse der Bevölkerung, rund vier von fünf, lebte als Bauern auf dem Land, meist als Analphabeten. Von den 130 Millionen zählten lediglich 2,5 Millionen zur städtischen Arbeiterschaft und auch diese bestand zum großen Teil aus ländlichen Zuwanderern und war mental dem Bauerntum näher als dem industriellen Proletariat. Der soziale Protest artikulierte sich in dieser Situation vor allem als Anarchismus, getragen von frustrierten Angehörigen des mittleren Bürgertums, die „geistigen“ Berufen nachgingen, Studenten, Anwälten, und die sich weniger theoretisch, eher romantisch vom „guten, armen Volk“ her zu legitimieren suchten. Eine Arbeiterbewegung war kaum vorhanden und bestand vor allem aus sektiererischen Debattierklubs. Die noch marginale Industrialisierung, aber auch die staatliche Repression wirkten gleichermaßen gegen die Ausbildung einer politisch wahrnehmbaren Arbeiterorganisation. Mit der orthodoxen Kirche und einem ultranationalistischen Panslawismus suchte das Regime das Volk an sich zu binden, gegen die verschiedenen radikalen Strömungen, die das Heil jenseits der bestehenden Ordnung suchten, ein utopisches „Heil“, das ohne totale Zerstörung nicht zu haben war. In einer von Hunger, Armut, Gewalt und Unterdrückung geprägten Gesellschaft krasser Unterschiede verschaffte sich das Regime seine Überlegenheit durch die überlegene Organisation der Gewalt in Militär und Polizei, in der Schaffung einer den geheimen Feind infiltrierenden und kontrollierenden Geheimpolizei, der „Ochrana“ (1881), in Gefängnissen, in „Sibirien“ als Ort und Symbol von Gefangenschaft und Verbannung. Für die entstehende bolschewistische Partei wurden die zaristischen Gefängnisse zu darwinistischen Stätten einer „natürlichen Auslese“, bei der die Genossen „mit schwachem Kampfgeist“ entweder umkamen oder die Sache der Revolution aufgaben, die „Starken“ aber nur noch stärker, bedingungsloser wurden.8 Die Intelligenz, eigentlich eine bürgerliche Aufstiegsschicht und wichtig als eine den öffentlichen Diskurs formende Gruppierung von Begriffs- und Schlagwort-Produzenten, wandte sich gegen das Regime und verfiel jenem „Kult der Bombe und der Schusswaffe“, der den russischen anarchistischen Terrorismus der 70er bis 90er Jahre so wirkungsvoll werden ließ. Doch zeigte sich, dass der Anarchismus die Gewalttätigkeit des Zarismus noch verstärkte, statt sie zu zerstören. Mit dem Marxismus hingegen kam die Idee der sozialen Revolution, getragen von einer doppelten Avantgarde: dem Proletariat und der kommunistischen Partei. Avantgarde aber konnten sie sein, weil sie auf dem Boden der

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dialektisch interpretierten Technologie standen, gegen die romantischen Mythen von den bäuerlichen Massen als der Inkarnation des geradezu christomorphen Menschen. Der Bauer war zwar gewaltbereit, doch nur wenn es um sein Dorf oder die Vertreibung des Gutsbesitzers ging. Ein revolutionäres Bewusstsein besaß er nicht. Mit der Gründung der Bolschewistischen Partei hingegen entstand eine zentralisierte Kaderorganisation von Berufsrevolutionären (1903), die im Untergrund operierte und auf den gewaltsamen Umsturz hinarbeitete. Der von Russland verlorene Krieg gegen Japan führte das Land dann an den Rand einer Revolution, die nur durch massiven Militäreinsatz abgewandt werden konnte. Noch war der Gewaltapparat des Regimes nicht gebrochen, denn wenn auch die Niederlage als Schande, als Versagen der Regierung aufgefasst wurde, so war doch die Armee davon nicht zerstört worden. Zerstört aber war die Autorität der Herrschaft, ihre Identifikation von Tradition, Religion und Russentum, wie sie jahrhundertelang den Gehorsam der Bauern verursacht hatte. In Russland herrschte nur noch die Furcht: der Regierung vor den Bauern und Arbeitern, und bei diesen vor der Regierung, an die sich ein schwaches Bürgertum klammerte in der Überzeugung, dass sie allein es „mit ihren Bajonetten und Gefängnissen vor der Wut der Massen schützt“.9 Die Bolschewiki, obwohl durch die Repression des noch einmal siegreichen zaristischen Regimes personell geschwächt, waren dennoch gestärkt aus der fehlgeschlagenen Revolution hervorgegangen. Sie hatten stets Kompromisse für sinnlos gehalten und die Revolution als Totalität der Gewalt definiert. Ihre Zeit würde kommen, bald. Davon blieb Lenin überzeugt. Im Frühjahr 1917 war es so weit. Das zaristische Regime, das sich auf den Weltkrieg vor allem aus innenpolitischen Gründen eingelassen hatte, um die chauvinistische Ernte eines nationalen Krieges zur Wiedergewinnung der politischen Autorität zu nutzen, hatte den Krieg verloren. Sein Gewaltapparat, die Armee, begann zu zerfallen. Am 27. Februar meuterte die Garnison der Hauptstadt Petrograd, geführt meist von Unteroffizieren. Die Offiziere wurden verjagt, Polizisten vertrieben, Gefängnisse gestürmt, die Symbole des Regimes zerstört. Damit war das Regime herrschaftsunfähig geworden und die Furcht der Massen, der Bauern, der Arbeiter, explodierte zu hasserfüllter Gewalt. Mit Lenins Rückkehr nach Russland aus dem Exil wurde diese Gewalt total, ganz im Sinn von M. Gorkis Prophezeiung von 1905, dass die Geschichte mit der Farbe des Blutes geschrieben werde. Die Revolution setzt sich durch, wenn sie „die Straße“ ergreift. Sie wurde zum Chaos, das nur noch durch ein Blutbad hätte beendet werden können. Doch weder das zaristische Regime noch die darauf folgende provisorische Regierung der Republik (proklamiert am 3. März 1917) waren dazu in der Lage. Keiner wollte „den Bluthund machen“, wie G. Noske dann im Januar 1919 in Deutschland, um die gebrechlich entstehende pluralistische Demokratie zu retten. Jede Autorität war zerfallen. Allenthalben bildeten sich Sowjets, Räte in Betrieben, Kasernen, Einheiten, Städten, Bezirken, über die auch der hauptstädtische Arbeiter- und Soldatenrat nur sehr begrenzt Einfluss ausüben konnte. Eine in sich zerrissene Doppelherrschaft entstand, in der sich mit den Rote Garden genannten Arbeitermilizen eine neue Gewaltorganisation bildete, in der die Bolschewiki rasch an Einfluss gewannen. Lenins Forderung, nun den Sprung in die sozialistische Revolution zu un-

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ternehmen (3. April 1917), zog die Konsequenz aus dem Chaos, das nicht durch Festigung einer konstitutionellen Republik beseitigt, sondern zum gewaltsamen Umsturz genutzt werden sollte. In der Gewalt verwirklichte eine Gruppe, das Proletariat, seine kollektive Identität in jener äußersten Form, die alle „Brücken“ hinter sich zerstörte und alle zwang, „Freund“ oder „Feind“ zu werden. Für Lenin, der nur in diesem Dualismus die soziale Welt zu deuten vermochte, war die Gewalt daher lediglich die instrumentelle Konsequenz einer totalen Theorie, die es auch erlaubte, das marxistische Problem einer sozialistischen Revolution in einem Bauernland mit nur geringer Industrialisierung und einer kaum vorhandenen kapitalistischen Bourgeoisie durchzusetzen. Die gewaltgetriebene Industrialisierung sollte es ermöglichen. Ideologisch war das ein Bruch mit dem orthodoxen Marxismus, der die „Gesetzmäßigkeit“ der Geschichte behauptet hatte.10 In eben dieser Verbindung von „wissenschaftlichem“ Marxismus und voluntaristischem Anarchismus jedoch bestand die weltanschauliche Wucht der Lenin’schen Lehre. Technologie und Voluntarismus ergänzten sich, denn wenn der Voluntarismus die sozialistische Revolution ermöglichte, so sollte die Technologie die Industrialisierung und Proletarisierung ermöglichen, also das, was bei Marx die Voraussetzung dieser Revolution bildete. Dass bei Marx und Engels die Gewalt immer eine Option der Revolution gewesen war und ihr Einsatz stets nach Überlegungen der Zweckmäßigkeit beurteilt wurde, nicht nach solchen einer bloß eingebildeten „ewigen Moral“ (Lenin), erleichterte den voluntaristischen Übergang ebenso wie die Tatsache, dass die Marx’sche Kritik des Anarchismus vor allem mit dessen Vernachlässigung der Technik als Fortschritt zu tun hatte, die es bei Lenin gerade nicht gab. Die Identifizierung von Technologie und Ideologie zeigte sich etwa an Lenins Erwartung, „wenn der Bauer erst einmal die Elektrizität anbetet, tritt die Sowjetmacht bald an die Stelle der Himmelsmacht“.11 Lenin wie einst Robespierre deduzierten Gewalt, psychisch aus ihrer persönlichen Askese, intellektuell aus der Utopie der vollkommenen Gesellschaft. Persönlich scheuten sie vor Gewalttätigkeit zurück. Ihren Aufstieg verdankten sie ihrer Bedingungslosigkeit, einem fast autistischen Glauben an die „Sache“ und daran, dass sie diese inkarnierten. E. Blochs „Hic Lenin, hic Jerusalem“ bezeichnet diese geradezu religiöse Inkarnation des Vollkommenen in einer Person, die auf ein Kommendes verweist, das alle umschließen wird. Zweifel, ein Bewusstsein von Grenzen, durfte es hier nicht geben. Das einzig Absolute, die sozialistische Gesellschaft als Ende der Geschichte, war herstellbar: durch Gewalt. Anderes war zu liquidieren, Vorstellungen wie Personen. Lenins Bemerkung über Beethovens „Appassionata“ realisiert die Schließung des Bewusstseins als Bedingung der Bedingungslosigkeit: „Ich kann diese Musik nicht oft hören, denn sie versetzt mich in eine Stimmung, in der ich den Menschen den Kopf streicheln möchte,. . . jedoch heutzutage . . . müssen wir zuschlagen, erbarmungslos zuschlagen.“12 Der Utopie-Kern seiner Politik verband sich bei Lenin mit der Fähigkeit, das zu tun, was die Massen erwarteten, nämlich den Bauern das Land der Aristokraten zu geben, dem ganzen Volk und insbesondere den Soldaten den Frieden, den Arbeitern die Fabriken, den Räten „alle Macht“. Der Erfolg der Bolschewiki unter den „Massen“ hatte nicht nur mit ihrer Fähigkeit zu tun, den Klassen-

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kampf zu bewaffnen, d. h. die Militanz von Fabrikarbeitern und proletarischen Soldaten für sich zu gewinnen. Er hatte mindestens ebenso damit zu tun, dass sie das soziale Ressentiment gegen alle, die besser gekleidet waren, sich besser ernährten, die Bücher lasen und sich mit Taschentüchern die Nase putzten, als „Klassenkampf“ gegen die „burschui“, die „Bourgeoisie“ rechtfertigten. Das „Volk“, zum „Mob“ geworden, entsetzte viele seiner Freunde, Maxim Gorki etwa, der in der zerstörerischen Gewalt der Masse die Zivilisation zugrunde gehen sah. Lenin teilte solche Bedenken nicht. Russland war nur durch Gewalt „in Ordnung“ zu bringen, so sahen es auch Lenins Gegner, die noch die Reste der Staatsmacht kontrollierten, Regierung, Armee. Gerade durch die Fortsetzung des Krieges glaubten sie, ihre Kontrolle festigen zu können, indem sie die am Rande der Meuterei stehenden Soldaten in eine Großoffensive gegen die deutschen Truppen hetzten und hofften, die deutsche Kriegsgewalt werde die Soldaten zurück in die Disziplin zwingen, und indem sie hofften, in einem kriegerisch erhitzten Nationalismus eine Ideologie zu finden, die dem revolutionären Chaos wie der bolschewistischen Drohung entgegengesetzt werden konnte.13 Mit dem Scheitern der Offensive vom Juli 1917 hatte die Provisorische Regierung um A. Kerenski ihren letzten Rückhalt unter den Soldaten verloren. 400 000 Mann waren gefallen, die gleiche Zahl desertiert. Als sich Lenin entschied, die Macht an sich zu reißen (am 24. Oktober russischer bzw. 6. November westeuropäischer Zeitrechnung), verfügte die Provisorische Regierung über keine Gewaltmittel mehr, um seinen Putsch zu zerschlagen. Der Putsch gelang inmitten eines wachsenden Chaos, das nun aber die Putschisten selbst zu verschlingen drohte. Die mit Gewalt errungene Herrschaft ließ sich nur durch eine Gewalt konsolidieren, die Organisation wurde: Mit Gründung der Geheimpolizei, der Tscheka (als Abkürzung für „Allrussische Außerordentliche Kommission gegen Konterrevolution und Sabotage“), im Dezember 1917 wurde die erste Säule für die Dauer der Parteimacht geschaffen, die den Terror von der Straße in die Struktur des entstehenden Staates trug. Der Terror des Mobs als Folge des Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung von Justiz und Polizei wurde über „Volksgerichte“ und Rote Garden in den „Roten Terror“ der Tscheka fortgeleitet, wobei Denunziation und Feststellung einer falschen Klassenherkunft als „burschui“, „Kulak“ oder „Konterrevolutionär“ genügte, um eingekerkert und liquidiert zu werden. Doch nicht nur die Organisation des Terrors zum Herrschaftssystem war erforderlich, um die bolschewistische Diktatur zu festigen, auch die militärische Gewalt musste organisiert werden, als zweite Säule der Diktatur. Für Lenin, wie für Trotzki oder Stalin, war der nun ausbrechende Bürgerkrieg eine Konsequenz des Klassenkampfes,14 nicht nur, weil die Bolschewiki ihre mit Gewalt gewonnene Macht ohne die Vernichtung ihrer noch gewaltfähigen Gegner nicht hätten behaupten können, nicht nur, weil die damit bedingungslos gewordene Konfrontation von Freund und Feind die Mehrheit der noch schwankenden, oft feindseligen Arbeiter und auch Bauern auf ihre Seite zwang. Die im Bürgerkrieg total gewordene Gewalt gründete den Kommunismus endgültig als Gewaltregime, dessen einzige Wirklichkeit der permanente Krieg war, die Theorie und Praxis der Vernichtung, mit dem Frieden nur als taktischem Manöver, im Inneren z. B. mit Lenins Neuer Ökonomischer Politik, im Äußeren z. B. mit internationalen Verträgen. Wich-

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tig blieb allein, selbst überlegene Gewaltfähigkeit ausüben zu können, und überlegen wurde sie vor allem durch Organisation. Aus den Roten Garden, eher einer bewaffneten Truppe des Mobs, musste die Rote Armee werden, diszipliniert und hierarchisiert, um den entstehenden Bürgerkrieg siegreich beenden zu können. Leo Trotzki, ein enger Mitarbeiter Lenins, vollzog das Ungeheuerliche als das Notwendige, indem er seit Beginn des Jahres 1918 die Soldatenräte beseitigte und ein neues Offizierskorps aus den Offizieren der alten Armee aufbaute sowie die Wehrpflicht wieder einführte. Beigegebene „Politische Kommissare“ sollten dabei die Kontrolle durch die Partei sichern. Im Januar 1919 zählte die Rote Armee bereits 800 000 Mann, am Ende dieses Jahres war sie auf 3 Millionen, ein Jahr später auf 5 Millionen angewachsen, trotz massiver Fahnenflucht gepresster Bauern, die auch durch rücksichtslose Bestrafungsaktionen nicht wirklich eingedämmt werden konnte. Dennoch: Die Rote Armee kämpfte, siegte, nicht zuletzt durch ihre Masse, mit der sie die konterrevolutionären „weißen“ Verbände schier erdrückte, mit einer vier- bis zehnfachen Übermacht in den meisten Gefechten.15 Um diese Armee zu ernähren und zu versorgen, musste das wirtschaftliche Chaos beseitigt, durch Organisation überwunden werden, den sogenannten „Kriegskommunismus“. Für die Bolschewiki war er das kurzfristig einzige Mittel, die Versorgung der großen Städte sicherzustellen. Dort hatten sie ihre Basis, dort standen die Fabriken, aus denen die Rote Armee mit Waffen und Munition versorgt wurde. Kurzfristigkeit jedoch hieß Gewalttätigkeit, denn ohne Gewalt war den Bauern ihr Getreide nicht zu nehmen, ihr Widerstand nicht zu brechen. Neben der brutalen Gewalt spezieller Beschaffungstrupps setzten die Bolschewiki auch hier auf ihre Losung, Klassenkampf sei Bürgerkrieg, indem sie die traditionelle Bauerngemeinde in Freund und Feind, arme Bauern und reichere Kulaken zu spalten suchten. Der Kampf gegen die Kulaken, d. h. gegen die widerstandsfähige Schicht der Bauernschaft, wurde von Stalin bis in die 1930er Jahre weitergeführt, nachdem die große Hungersnot von 1921/22 bereits die ländliche Bevölkerung demoralisiert und gefügig gemacht hatte. Vernichtung der Kulaken durch Liquidierung und Deportation, Ausplünderung des flachen Landes bis hin zur Beschlagnahme der letzten Nahrungsreserven, militärisch rücksichtslose Bekämpfung des bäuerlichen Widerstandes, eingeplante Hungersnot bildeten das Gefüge der Durchsetzung der bolschewistischen Herrschaft auf dem flachen Land, ohne welche in einem agrarischen Riesenland wie Russland die Macht einer städtischen Minderheit nicht ausgeübt hätte werden können. Der Menschenpreis dieser „Entkulakisierung“ allerdings: 8,5–9 Millionen Menschen, war enorm.16 „Kulak“ war dabei vor allem ein politischer Eliminierungsbegriff, wie „burschui“ auch. Der absolute Feind war für alle politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten verantwortlich und musste dafür bekämpft, vernichtet werden. Der absolute Feind exkulpierte die Partei, die immer recht hatte und die soziale Gerechtigkeit buchstäblich „exekutierte“. Doch die Nutzung des sozialen Ressentiments unter dem Schlagwort des Klassenkampfes funktionierte unter den Bauerngemeinden kaum, in denen die Unterschiede zwischen Arm und Reich wenig ausgeprägt waren und in denen ein traditionelles Geflecht von Autorität und Solidarität den Einzelnen wirksamer half als aufgezwungene örtliche Sowjets. Die kurzfristige Gewalt des Kommunismus

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brach sich an der Langfristigkeit der Dorfgemeinschaft, die sich gleichfalls mit Gewalt zu verteidigen begann. Doch hinter der Kurzfristigkeit zeigte sich bereits ein anderes Konzept der Dauer, eben der Kommunismus als Permanenz der Kriegswirtschaft, als Kommandowirtschaft der Partei, als Organisation des Terrors. Eine Revolution, so Lenin bereits im Oktober 1917, „kann nicht ohne Exekutionskommando funktionieren“.17 Alles war Materie geworden, nach Art des Ingenieurs formbar, der Mensch in seinem Bewusstsein so gut wie das Material für Brücken und Maschinen. Was sich als unbrauchbar erwies, wurde ausgesondert. Der materialistische Blick auf den Menschen, für den Sozialismus das wichtigste Erbe der Aufklärung, wurde mit Weltkrieg und Bürgerkrieg, Massenvernichtung von einer intellektuellen Haltung zur politischen Praxis. Gewalt, Ideologie und Arbeit dienten dabei als die Kräfte, um den Neuen Menschen zu formen, wie eine mechanische Presse. Sie dienten als Exekutionskommando, Schauprozess und Arbeitslager zugleich der Vernichtung derer, die sich der Formung zu entziehen schienen. Die Logik des Terrors ist seine Permanenz. Richtet er sich zuerst auf die äußeren Feinde, den Adel, das Bürgertum, die feindliche Linke, die „Kulaken“, so werden in einem zweiten Schritt die Verbündeten vernichtet, bis sich schließlich die Gewalt gegen die Terroristen selbst richtet. Werden in den beiden ersten Schritten jene beseitigt, die der Macht der terroristischen Partei entgegenstehen, so kämpfen in der dritten Phase die Terroristen um den Besitz der Macht und in einer vierten Phase nutzt der Sieger den Terror, um seinen Machtbesitz zu festigen. Die Gewalt ist dann zur Struktur geworden, in den Institutionen wie in der kollektiven Psyche. Die „Säuberung russischer Erde von allen schädlichen Insekten . . . Flöhen,. . . Wanzen und so weiter“ war, wie Lenin wusste, eine Tätigkeit, die „lange Zeit“ in Anspruch nehmen würde.18 Erforderlich dazu war die „wahre Diktatur“, also „die grenzenlose, keinem Gesetz untergeordnete absolute Macht“, die in ihrer Ausübung neues, „revolutionäres Recht“ schaffe, d. h. „gesetzlich verankerten Terror“.19 Dieser „rote Terror“ wurde von der Geheimpolizei ausgeübt, die weder der Überwachung durch die Gerichte, so parteilich diese auch sein mochten, noch der Partei selbst unterstand. Bereits bei Lenin war es der Parteiführer, der die Geheimpolizei befehligte und sie zur Überwachung der Bürokratie, der Armee, der Partei selbst nutzte. Die Geheimpolizei wurde zur eigentlichen Herrschaftsorganisation im Sowjetstaat, die diesen in den kritischen Jahren des Bürgerkriegs bis 1921 durch massenhafte Erschießungen von innen her stabilisierte, um danach mit den Konzentrationslagern eine neue Methode der „sozialen Säuberung“ zu entwickeln. Die direkte Liquidierung wurde seltener und erhielt eine stärker symbolische Bedeutung als Vernichtung ausgewählter Feinde. Auf die erste Phase des Terrors durch Pogrome, in der die wilde Gewalt der städtischen Massen wie der Bauern planend und totschlagend alle niedermachte, die „fremd“ waren, folgte eine zweite Phase des „roten“, organisierten Terrors, der nun gegen Arbeiter und Bauern, und nicht länger nur gegen die „Bourgeoisie“ angewandt wurde und werden konnte. Geheimpolizei und Kommunistische Partei waren seit den frühen 20er Jahren zu immer strikter durchorganisierten und zentralisierten Gebilden geworden. Stalin, als Generalsekretär, kontrollierte die Partei und gewann eben dadurch die Macht im Ringen mit Trotzki nach Lenins Tod. Nikolai Jeschow organisierte die

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jetzt „NKWD“ genannte Geheimpolizei und ermöglichte damit nicht nur den Zugriff der Partei auf die Bevölkerung, sondern zugleich Stalins Zugriff auf die totale Herrschaft in der Partei. Um diese Totalität zu behaupten, das wusste Stalin, musste er jedoch die Geheimpolizei von Zeit zu Zeit köpfen, d. h. ihre Führung eliminieren, um zu verhindern, dass er von ihr abhängig, womöglich von ihr selbst beseitigt wurde. Wer die Geheimpolizei beherrschte, beherrschte den Staat. Nachdem die Bolschewiki den bestehenden Staat zerstört hatten, bis in die Grundfesten von Rechtsordnung, Eigentum, Moral, indem sie sich – anfangs eine kleine Gruppe von 10 000 Aktivisten, die bis Oktober 1917 auf über 100 000 angewachsen waren –, der wilden Gewalt der Massen angeschlossen hatten, holten sie sich die Gewalt von der Straße zurück in ihren neuen Staat, eben durch die Organisierung der Gewalt als Terror. „Das Wesen des roten Terrors“, wie es ein führender Tscheka-Funktionär erklärte, war „nicht Krieg gegen einzelne. Wir vernichten die Bourgeoisie als Klasse“.20 Der rote Terror kannte keine Individuen und keine individuelle Schuld. Er verrechnete alles auf Kollektive und kollektive Schuld, vom Bürgertum über Kulaken, Kosaken bis zu politischen Feinden, Sozialrevolutionären, Trotzkisten, Konterrevolutionären. „Volksfeinde“ wurden als Kollektive definiert und eliminiert. Die Ungeheuerlichkeit der Gewalt: das Abschlachten Zehntausender in wenigen Tagen, das Verstümmeln Gefangener, ist kaum fassbar. Rote Matrosen schnitten Anfang 1918 ihren Opfern „Ohren, Nasen und Geschlechtsorgane ab, bevor sie sie töteten. An manchen Orten spielten Musikorchester“ dabei auf.21 Dass die Geheimpolizei sich vornehmlich aus den Unterschichten rekrutierte, so wie die Partei nach Lenin auch, aus Schichten, in denen die Gewalt Gewohnheit geworden war, spielte dabei eine entscheidende Rolle. Von Jeschow etwa wird berichtet, dass er zu Sitzungen des Politbüros blutbespritzt aus den Verhörkellern kam, und von Stalin weiß man, dass er sich Folteropfer vorführen ließ und selbst gewalttätig wurde. Die sadistische Gewalt blieb ein Merkmal des roten Terrors neben der sozialen Ausrottung, dem System der Straflager und der Permanenz der Bedrohung, denn niemand konnte sicher sein, als „Volksfeind“ verhaftet, deportiert, liquidiert zu werden. Im Kreis der totalen Organisation, die wie eine Sekte einem Führer folgte, der absolute Herrschaft und absolutes Wissen in sich vereinte, entstand ein geschlossenes Bewusstsein der Pawlow’schen Art, mit antrainierten, abrufbaren Reflexen und also ein Mensch, der in dieser Organisation und ihrer zirkulären Kommunikation gefangen war und den ein Ausschluss aus ihr physisch und auch psychisch mit Vernichtung bedrohte. Es war der „harmonisierte“ Mensch, der nichts anderes mehr geistig zu fassen vermochte, als „mit der Partei und durch die Partei recht zu haben“, wie Trotzki es ausdrückte (1924), „denn andere Wege zur Verwirklichung dessen, was recht ist, hat die Geschichte nicht geschaffen“.22 In der Partei sollte der Neue Mensch zuerst entstehen, um dann nach der sozialen „Insektenvernichtung“ der Gesellschaft universell zu werden. Solange aber „harmonisierte“, identische Menschen in der Gesellschaft noch nicht allgemein geworden waren, solange es also in ihr noch „schädliche Insekten“ gab, Saboteure, Volksfeinde, musste der Terror „desinfizierend“ fortwirken, denn jede Störung der Produktion, jedes Ausbleiben großer Ernteerträge, jede Nichterfüllung kommandierter Normen wurde als Sabotage definiert

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und mit Terror bedroht. Die Partei „hat immer recht“, und weil man doch nur tun muss, was die Partei verlangt, bleibt selbst ein Irrtum ausgeschlossen. Auf diese Weise wurde die Unfehlbarkeit der Herrschenden ideologisch ebenso begründet wie die Fortdauer des Terrors. Der Terror legitimierte die Unfehlbarkeit der Partei, wie sie sich in den 30er Jahren zunehmend in der Person Stalins inkarnierte. Wenn nur „Volksfeinde“ an den riesenhaften Übeln des Sowjetstaates, gemessen an seinen Verheißungen, schuld waren, dann legitimierte ihre Beseitigung das „Gute“ des Regimes. Doch als die „Klassenfeinde“ vernichtet waren und die Übel fortdauerten: die Ernten weiterhin nicht ausreichten, die Produktionsausfälle fortdauerten, Maschinen versagten, Staudämme brachen, mussten neue Feinde ausgemacht werden. Der Terror hielt die Gesellschaft in einem permanenten Kriegszustand: Er erhielt die Eindeutigkeit von Freund und Feind, er erhielt die Bedingungslosigkeit von Befehl und Gehorsam, er erhielt die Präsenz von Gewalt und Tod, er erhielt die Fragilität des Bewusstseins, die große Furcht als Mentalität, die jede Moral biegsam macht. Die Fortdauer der Feinde rechtfertigte den Terror, dessen Wirklichkeit die Verteidigung der totalen Herrschaft einer Minderheit war, die ohne Gewalt nicht bestehen konnte. Dass der Bogen der Definition der „Feinde“ dann über die fremden Minderheiten (Polen, Armenier, Letten u. a.) auf das Zentrum der Sowjetunion übergriff, auf Armee, Partei, die Geheimpolizei selbst, war nur folgerichtig. Um die Partei, die längst von einer Kaderorganisation der wenigen Tausend zu einer Massenorganisation der Millionen (1933: 3,5 Millionen Mitglieder) angewachsen war, von der Zentrale her kommandierbar und kontrollierbar zu halten, musste der psychische Mechanismus der Furcht durch wiederkehrende „Säuberungen“ von „Spionen, Saboteuren, Trotzkisten“ in sie hineingetragen werden. Da die Partei die politische Sprache zu ideologischen Phrasen ausgehöhlt hatte, mit denen sich jeder „maskieren“ konnte, wie Stalin erkannte (1937), und da die „Feinde“ selbst der Partei angehörten und nicht mehr nach ihrer Klassenzugehörigkeit selektiert werden konnten, musste der Terror in seiner nunmehr dritten Phase neu organisiert werden. Er wurde in die Kader, die Lenkungsgruppen der Sowjetmacht selbst hineingetragen. Mit Stalins Rede vor dem Zentralkomitee der Partei Ende Februar 1937 begann die große Säuberung, die bis November des folgenden Jahres andauerte. Führende Funktionäre der Partei, hohe Militärs, Wirtschaftsführer und Ingenieure, die Angehörigen der Geheimpolizei wurden verhaftet, gefoltert, erschossen oder in Straflager transportiert. Dass im Vernichtungskrieg gegen die „Maskierten“ auch „Unschuldige“ umgebracht werden mussten, war Stalin bewusst, der an vielen Tagen Tausende von Todesurteilen abzeichnete: Das Ziel der Bekämpfung verborgener „Volksfeinde“ sei erreicht, wenn auch nur fünf Prozent der Liquidierten wirkliche Feinde gewesen wären.23 Für jeden Bezirk wurden Quoten der zu Erschießenden bzw. in Straflager Einzuweisenden festgelegt. Besonders verdient machte sich, wer seine Quoten übererfüllte: Stachanow-Aktivisten einer Mordmaschine, die zwischen Oktober 1937 und November 1938 über 1,56 Millionen Menschen verhafteten, davon 668 305 erschossen und den Rest in Lager deportierten.24 Niemand war sicher. Die Verwandten Verurteilter wurden ebenfalls verhaftet, deportiert, umgebracht, und selbst Angehörige seiner engsten Mitarbeiter konnten verfolgt werden. Die Frau des Staatsober-

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haupts Kalinin etwa kam in ein Straflager.25 Und auch die Chefs der Geheimpolizei, zuerst Jagoda, dann Jeschow, wurden samt ihren engen Mitarbeitern liquidiert. Keine Herrschaft vermag ohne „herrschende Klasse“ zu bestehen. Dadurch, dass einige, die Herrschaft realisierende Kader, „gleicher als die Gleichen“ werden konnten, wurde die Kommando-Struktur des Regimes sozio-ökonomisch stabilisiert. Ohne Privilegierung einer Nomenklatura durch Datschen, spezielle medizinische Versorgung, Zugang zu hochwertigen Konsumgütern usw. war es unmöglich, die mit der Machtausübung beauftragten Personen in dauerhafter Abhängigkeit von der Zentrale, der Parteiführung, zu halten. Sozio-ökonomische Privilegierung, Terror und Ideologie stützten sich im System des „realexistierenden Sozialismus“, wie es in der Stalin-Ära entstand, gegenseitig. Sowjetmacht war Kommandomacht. Sie beruhte auf einer „Militarisierung“ der Wirtschaft wie der Gesellschaft. Das Mittel dazu bestand in der Systematisierung der Gewalt und in der Schaffung einer Herrschenden Klasse, die diese Gewalt trug und rechtfertigte. Beherrscht wurde diese Herrschende Klasse durch die Furcht, mit ihren Privilegien zugleich Freiheit, Leben zu verlieren, denn beides war kausal aneinander gekoppelt. Dass das „Haus am Ufer“, der riesige, komfortable Wohnkomplex der Nomenklatura in Moskau (1931 eröffnet, mit Raum für 3500 Personen), der Verwaltung des NKWD unterstand, war von ebenso praktischer wie zeichenhafter Bedeutung. Wenn Nachts in einer der 505 Wohnungen plötzlich grelles Licht anging, wussten alle, dass „sie da sind“. Am nächsten Tag waren die Türen verplombt und die Bewohner verschwunden.26 Die Geheimpolizei operierte im Untergrund, wie eine verbotene Terrororganisation. Das Geheime verstärkte das Willkürliche, verallgemeinerte die Unsicherheit als Ungewissheit und Unfähigkeit, sich zu wehren. Es erzeugte Schock und Trauma, bei denen, die verhaftet wurden, wie bei jenen, die es hinter den Vorhängen verborgen beobachteten. Und ermöglichte es der staatsfeindliche Terrorismus noch, sich Schutz suchend an den Staat zu wenden, so stieß der staatstragende Terrorismus den Einzelnen in die völlige Schutzlosigkeit. Die Liebe zu Stalin, dem „Vater des Volkes“ war nicht mehr zu trennen von der Liebe zum eigenen Leben, sie war so bedingungslos wie die Furcht und der Tod. Das Verhältnis aller zu Stalin war das der Unterwerfung, demonstriert durch ständige Liebesbezeugungen. Seiner „inneren“ Ideologie nach war der stalinistische Kommunismus ein Kult der Liebe, welcher der Liquidierung der „Feinde“ in der „äußeren“ Ideologie entsprach. Alle Sowjetmenschen liebten die Partei, das sozialistische Vaterland, die Arbeiterklasse und vor allem den Genossen Stalin. Natürlich liebte auch Stalin und seine Liebe zeigte sich nicht zuletzt darin, dass er die Geliebten durch die Gewalt gegen die Feinde schützte. Auch die Terrorgewalt war damit nichts anderes als ein Akt der Liebe für die Gerechten. Stalins Hass auf die „Literaten“ glich dem Hass auf die „Brillenträger“ beim Mob, aus dem er seine politischen Kreaturen rekrutierte. Das Bewusstsein des Mobs, nämlich sein Ressentiment auf alle, denen es besser zu gehen schien, die Brillen trugen und Braten aßen, in Gewalt umsetzen zu dürfen, wurde im Stalinismus zur Ideologie erhoben, von der Straße in die Organisation des Terrors fortgebildet. Auch die Dichtung musste sich diesem Bewusstsein fügen, sie durfte den eisernen Käfig der totalitären Sprache nicht zerreißen. Es gab tatsächlich Menschen, die

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„für die Spuren von Unglück und Rauch“ auf „Austern“ verzichteten, weil sie wussten, dass von der Wahrheit des dichterischen Sprechens die Möglichkeit einer „ewigen“ Moral abhing, in der totalitären Gesellschaft zu überdauern: „Nur zu hören vom Bergmenschen im Kreml, dem Knechter, /Vom Verderber der Seelen und Bauernschlächter./Seine Finger wie Maden, so fett und so grau,/ seine Worte wie Zentnergewichte genau . . .“ So war zu Stalin noch nie geredet worden (1933), dem „geliebten Führer“, „Meister der russischen Sprache“, dieser „Fackel der Weltwissenschaft“. „Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr“, 27 hatte Ossip Mandelstam in seinem Stalin-Epigramm geschrieben, für das er, trotz Widerrufs, 1938 in einem Gulag zugrunde ging. Seine Frau Nadeschda lernte seine Gedichte auswendig, um sie vor der Vernichtung zu bewahren. Dichter sammeln Worte wie Verhungernde Brotkrumen, um zu überleben. Der Hunger, und Stalin wusste das, ist die stärkste von allen Waffen der Furcht. Er tötet den Willen, bevor er den Leib tötet, und er tut es langsam, eher gelangweilt. Der Hunger regiert das konz’lager, das sowjetische KZ. In ihm verbanden sich die jahrhundertelange russische Gewohnheit, Menschen in Lagern einzuschließen oder nach Sibirien zu verbannen, um sie als Arbeitskräfte-Material auszunutzen und zu vernutzen, mit dem „concentration camp“, das die Engländer im Burenkrieg erfunden hatten. Das riesenhafte „Hungersterben“, Holodomor, von 1932–33, entsprach der stalinistischen Methode, politische Zwecke durch Vernichtung zu erreichen. Die „Liquidierung der Kulaken als Klasse“ sollte die „direktive“ Ökonomie durch Zwangskollektivierung der Bauern universalisieren und die nach der ersten großen Hungersnot von 1920–21 mit 2 Millionen Toten eingeführte „Neue Ökonomische Politik“ mit ihren „kapitalistischen“ Anreizen für die bäuerliche Produktion beseitigen. Der zum Landarbeiter proletarisierte Bauer wurde erneut Normen unterworfen, die mit Gewalt durchgesetzt wurden. Dadurch erwartete man sich eine ähnliche Steuerbarkeit der landwirtschaftlichen Erträge wie in Industrie und Bergbau. Doch führte die Normerhöhung dazu, dass die Bauern nicht mehr Getreide genug behalten durften, um sich selbst und ihr Zugvieh ernähren zu können sowie noch Saatgut aufzubewahren. Bei Beginn der „Entkulakisierung“ bzw. Zwangskollektivierung (1928) verkauften die Bauern dem Staat 11 Millionen Tonnen Getreide bei einem Gesamtertrag von 73 Millionen. Vier Jahre später nahm der Staat 22 Millionen Tonnen an sich, von insgesamt 70 Millionen. Nun war nicht nur die Versorgung der Städte gesichert, es konnte auch Getreide exportiert werden, um Devisen für den industriellen Aufbau zu erhalten. Brotraub wurde als Diebstahl am Volkseigentum mit Erschießen oder 10 Jahren Straflager bestraft. Millionen Menschen flüchteten, trotz Verbots, in die Städte, vegetierten in den wachsenden Elendsvierteln, bettelten, hungerten, verhungerten: „Die Frauen hielten ihre kleinen Kinder zum Zugfenster hoch: Arme und Beine wie Stecken, aufgedunsene Bäuche, große Köpfe, an dürren Hälsen hängend“, schreibt der kommunistische Schriftsteller Arthur Koestler, der im selbstdeklarierten Land „des einundzwanzigsten Jahrhunderts“ unterwegs war, um ein Propaganda-Buch zu schreiben. Aber diese elenden Menschen waren „Kulaken“ und der „innere Zensor“ funktionierte sofort.28 Mitleid für Volksfeinde wäre konterrevolutionär gewesen. Zugleich traf man damit die nationale Resistenz im

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wichtigsten Agrargebiet des Sowjetstaates, der Ukraine, wo es zum Massensterben kam. Vergleicht man die Bevölkerungszahlen der Ukraine zwischen 1926 und 1937, so „fehlen“ 1937 rund 11 Millionen Menschen, von denen ein Großteil verhungert sein dürfte. Dörfer, die nicht die vorgegebene Menge an Getreide ablieferten, wurden ihrer Lebensmittel beraubt und von der Außenwelt abgeschnitten, d. h. praktisch dem Verhungern ausgeliefert. Ein Gebiet mit 40 Millionen Menschen wurde in ein riesiges Straflager verwandelt, in dem jeder Vierte zugrunde ging: Ein Völkermord, an dem sich allerdings ukrainische Kommunisten so eifrig beteiligten wie russische und der mit einer Russifizierungskampagne einherging. Der Klassenmord war durchaus beabsichtigt, der Völkermord ein erwünschtes Nebenergebnis. Im kommunistischen Terror griffen demnach drei Momente ineinander und ergänzten sich zum System: die massenweise Vernichtung, die gezielte Säuberung sowie das Straflager. Im Straflager konnten nicht nur große Mengen an „Volksfeinden“ isoliert werden. Es eignete sich zugleich als Arbeitsreservoir für jene Großprojekte, mit denen der sozialistische Staat sich im „Sprung“ industrialisieren wollte. Bereits nach dem Abschluss des Friedensvertrags von 1917 hatte das Sowjetregime die nun leeren Kriegsgefangenenlager als Straflager genutzt, um die überfüllten Gefängnisse zu entlasten. Dabei spielte die Geheimpolizei eine immer wichtigere Rolle, versuchte sie doch, die Lager vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen und zugleich die Arbeitsausbeutung der Häftlinge zu organisieren. Dazu wurde 1930/31 eine eigene Einheit der Geheimpolizei geschaffen, die „Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager“, abgekürzt Gulag (1956 aufgelöst, die letzten Lager wurden aber erst 1992 geschlossen). Diese Verknüpfung von Terror und Arbeitsausbeutung führte zur weiteren Beschleunigung der massenhaften Definition deportierter „Volksfeinde“, denn zum einen benötigten die Großbauprojekte riesige Mengen an Arbeitskräften, zum anderen verbrauchten sie auch riesige Mengen. So starben etwa beim Bau des Weißmeer-Kanals (1931–33) etwa die Hälfte der eingesetzten 100 000 Zwangsarbeiter. Demgemäß wuchs die Zahl der Lager-Häftlinge von 180 000 (1930) auf 1,3 Millionen (1936), stieg bis 1940 auf 2,3 Millionen Gefangener im Lager bzw. weiteren 470 600 in Gefängnissen des Geheimdienstes, ging während des Weltkriegs leicht zurück, da viel Häftlinge in Arbeits- und Strafbattaillonen an die Front gesandt worden waren, um dann bei Stalins Tod auf 2,5 Millionen anzuwachsen. Zudem lagen die Zahlen der Verhafteten vermutlich doppelt so hoch wie die der Lagerinsassen. Insgesamt waren zwischen 1929 und 1953 18 Millionen sowjetische „Staatsbürger“ in Straf- und Arbeitslagern inhaftiert. Schließt man Kriegsgefangene, „Kulaken“, deportierte Minderheiten mit ein, so steigt die Zahl der Zwangsarbeiter auf 28,7 Millionen.29 Umgekommen sind davon vermutlich über 4,5 Millionen. Gab es 1919 erst 21, 1921 bereits 122 Zwangslager, so waren es bei Stalins Tod (1953) insgesamt 476 Lager, zu denen wiederum Tausende von Einzellagern zählten. Schätzungen zufolge wurde jeder achte Sowjetbürger einmal Opfer der Repression, d. h. durchschnittlich jede zweite Familie hatte ein Familienmitglied, das in die Netze des staatlichen Gewaltapparates geriet. Der Bergbau, Kanal- und Eisenbahnbau und die Verwendung in der Holzgewinnung bildeten die Haupteinsatzplätze, die Ökonomie durch schie-

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ren Menschenverbrauch ersetzten. „Schaufel, Schubkarren und Handbohrung“ sollten statt „Baggern und Dampfloks“ die Arbeit verrichten. Als ideologisch erklärtes Ziel galt „die Besserung durch Arbeit“, was die Zwangsarbeit als „kulturelle und erzieherische Institution“ deklarierte.30 Das tatsächliche Ziel war Ausbeutung, Vernichtung, Einschüchterung. Viele wurden willkürlich deportiert, andere nach kurzen Gerichtsverhandlungen pauschal zur Zwangsarbeit verurteilt. Die Grundlage für diese Maßnahmen bildeten meist nicht Gesetze, sondern geheime Anweisungen staatlicher Behörden, wie des Innen- oder Sicherheitsministeriums, oder des Zentralkomitees bzw. Stalins. Das heißt, die staatliche Repression operierte außerhalb der Gesetze des Sowjetstaates und war rein juristisch illegal. Das erste Lager neuen Typs wurde in einem ehemaligen Kloster auf den SolowezkiInseln im Weißen Meer (1923) errichtet, so genannt, weil es nur vier Monate im Jahr eisfrei war. Es unterstand unmittelbar der Geheimpolizei und diente der Isolation politischer Gefangener. Um die Repression zu intensivieren und die Bildung einer Häftlingsgemeinschaft zu verhindern, die zumindest durch passiven Widerstand den totalen Machtanspruch der die Partei vertretenden Wachmannschaft hätte bedrohen können, nutzte auch die Sowjetmacht verurteilte Kriminelle zur Binnen-Terrorisierung innerhalb des Lagers.31 Chancen zu überleben hatten nur die „Starken“ und stark wurde man, wenn man sich der Herrschaft nähern konnte, durch Kollaboration, Spitzeldienste, wenn es gelang, der Vernichtung durch Arbeit zu entgehen, wenn man jede Mitmenschlichkeit hinter sich ließ und nur auf das eigene Überleben bedacht blieb, tagtäglich, wenn man über einen übergroßen Willen zum Leben und eine übergroße Gesundheit verfügte. Und wenn man Glück hatte, nicht durch Zufall, Willkür erschossen wurde, wie in den Jahren der „Großen Säuberung“, als Nacht für Nacht Häftlinge aus den Baracken geholt wurden und man zur Feier von Stalins Geburtstag eine Sonderquote liquidierte. Drei Monate betrug in Arbeitslagern wie Workuta die durchschnittliche Lebensfrist, ehe die meisten zugrunde gingen. Unter den Gefangenen befanden sich auch zwischen 3 und 4 Millionen Frauen, häufig die Ehefrauen oder Angehörigen verhafteter „Volksfeinde“, die für die „Verbrechen“ ihrer Männer in Sippenhaft genommen worden waren. Das Zentrum der Straflager bildeten die „Strafisolatoren“, in denen Häftlinge in Einzelzellen, ohne Bettstellen und Verpflegung alle drei Tage gefangen gehalten wurden und oft dabei starben. Auf den Solowezki-Inseln hatte die Geheimpolizei ein Versuchslabor für Folter und psychische Zerstörung eingerichtet, dessen Ergebnisse an die anderen Lager weitergereicht wurden. Im Lager entsteht jener „neue Mensch“, wie ihn die totale Herrschaft erstrebt, ein Mensch, über den sie völlig verfügen kann, weil sie über seinen Tod zu verfügen vermag, ein Mensch, der nicht mehr flüchten kann vor der Totalität der Kontrolle,weil er kein Privates mehr besitzt, in das er sich zurückziehen könnte, ein Mensch, der kein Eigentum mehr hat, weil ihm selbst sein Leben nicht länger gehört. Doch wenngleich der Gulag den Terroreffekt erreichte und die Sowjetgesellschaft durch Angst und „Flüstern“ gekennzeichnet war, wirtschaftlich erfüllte es die Erwartungen nicht, obwohl es sich zu einem „riesigen Kombinat“ mit beträchtlicher Leistung auswuchs.32 Trotz rücksichtsloser Ausbeutung der Gefangenenarbeit konnten die Planziele nur selten erreicht werden, wurden die Selbstkosten

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meist nicht gedeckt, gab es allenthalben Klagen über „Schädlingsarbeit“. Hunger, die schlechte Organisation der Arbeitsprozesse, die für erzwungene Arbeit wesentliche Apathie von Menschen, die nur der Furcht gehorchten, ließen die Lagerwirtschaft zur Misswirtschaft werden. Dennoch erhöhte sich in den Jahren des Weltkrieges der Arbeitsdruck weiter, bei immer schlechterer Nahrungsversorgung. Rund zwei Millionen Sowjetbürger starben in diesen Jahren in den Straf- und Sonderlagern des Staates.33 Die Gulag-Industrie blieb ein Zuschussbetrieb, der den Staatshaushalt massiv belastete. 1952 etwa flossen über 16% der staatlichen Gesamtausgaben in die Bezuschussung der Lager.34 Die UdSSR wurde industrielle Großmacht, indem sie Kapital durch Gewalt ersetzte, um den Preis physischer wie moralischer Verelendung und um den Preis enormer Ineffizienz der eingesetzten technischen wie menschlichen Ressourcen. Zwangsarbeit bzw. Gulag, Zwangskollektivierung der Landwirtschaft bzw. Entkulakisierung, kommandierte Industrialisierung bzw. Arbeitsausbeutung durch „stachanowsche“ Normerhöhung fügten sich zusammen zur „ursprünglichen sozialistischen Akkumulation“, wie sie der verfemte Trotzki einst gefordert hatte,35 d. h. zur rücksichtslosen Erzeugung eines Mehrprodukts durch Systematisierung der Gewalt. Die Neuordnung des Terrors, nach Stalins Tod, d. h. seine Überleitung in die vierte Phase einer indirekten Bedrohung, die nicht mehr auf das Leben zielte, nicht mehr massenhaft war, sondern selektiv, zog dann zugleich die Konsequenz aus der Dysökonomie der Lager. Mit der Unterzeichnung der Konvention zum Verbot der Zwangsarbeit von 1930 und des Verbots der Sklaverei durch die UdSSR im Jahr 1956 verschwand die Zwangsarbeit dann zumindest formell. Die Phrase: „Wenn Stalin das wüsste! Jemand muss es ihm sagen“, ist die Exkulpationsformel jeder Führer-Herrschaft. In einem totalitären System kann die Herrschaft nicht irren. Dennoch kommt es auch hier zu Versagen, Fehlern, die aller Zensur zum Trotz nicht unbemerkt bleiben. Es kommt zum Fehlerstau, weil Fehler, Irrtümer nicht pluralistischdiskursiv abgebaut werden können, weil die kommandierten Normen in der Praxis nicht zu erfüllen sind. Dass es so weit gekommen ist, hat dann nicht mit dem System zu tun, sondern mit der Wirksamkeit von Schädlingen, Spionen, Verrätern. Über den Schauprozess exkulpiert sich das Regime vor „dem Volk“, über die Bestrafung der Schuldigen vollzieht es die Rache des Volkes und identifiziert sich mit ihm. Wo die Angst regierte, regierte sie auch die Herren. Stalin hatte ebenso Angst wie alle anderen. Um ihr nicht zu unterliegen, musste er die anderen immer wieder der Angst aussetzen. Ohne sie wären weder der kommunistische Heilsanspruch noch die tatsächliche Machtausübung in einer wirtschaftlich wie moralisch zerrütteten Gesellschaft möglich gewesen. Stalin tat das Werk der Partei, indem er das Werk des Terrors tat. Indem er es zum Exzess trieb. Die Ideologie der sozialen „Schädlingsbekämpfung“ deklamierte den Tschekisten als einen, der die Säuberung wie eine revolutionäre Tugend der Schonungslosigkeit vollzog, selbstlos, ein ethischer Mörder. Wiederholte Säuberungen im Geheimdienst sollten das „blanke Schwert der Diktatur des Proletariats“ rein halten, d. h. verhindern, dass diese bei der Zerstörung bzw. Säuberung der anderen Herrschaftsapparate: Partei, Armee, zu sehr gestärkt wurde. Zwischen der Geheimpolizei und dem Wachpersonal der Lager herrschte

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eine ausgeprägte Differenz. Vom NKWD in den Gulag-Dienst abgeschoben zu werden, bedeutete eine Degradierung. Bei den Gulag-Wächtern gab es nicht einmal die Prätention von „Sauberkeit und Ehre“. Das enge Nebeneinander von Wärtern und Gefangenen, die alltägliche Gewalt, die Isolierung vieler entfernt liegender Lager von einer „normalen“ sozialen Umwelt, die Rekrutierung von Personen, denen selbst die Partei „moralische Verkommenheit“ attestierte,36 hatten eine massive Brutalisierung in der Behandlung der Häftlinge zur Folge. Trunksucht, willkürliche Gewalt, Beraubung der Gefangenen, Vergewaltigung, Diebstahl von Staatseigentum waren in den Lagern üblich. Die Ideologie blieb Phrase, blieb Vokabular der Unterwerfung, das auswendig zu lernen war, ein sprachliches Ritual, mit dem man das Bewusstsein vor Skrupeln säuberte. Verantwortlich war niemand, weil Verantwortung mit der Bereitschaft zum „Nein“ verbunden gewesen wäre. Mit dem Prozess gegen die Altbolschewiken Sinowjew und Kamenew im August 1936 richtete sich der Terror gegen die Gewalthaber selbst. Das Tabu, dass Bolschewiki nicht von ihresgleichen umgebracht werden dürften, war gebrochen. Lenin selbst hatte noch in seinem politischen „Testament“ davor gewarnt, „Blut unter Bolschewiki fließen zu lassen“. Doch nun war die Kainstat in der Vorhut der Menschheit selbst vollzogen worden, von jenem „Freund der Menschheit“, Stalin, der erst damit, im Genossenmord, die Totalität der Macht für sich realisierte. In den folgenden Schauprozessen, ohne Verteidigung, ohne Beweismaterial, ohne Zeugen, dafür mit bereitwilligen Geständnissen der Angeklagten, erschien Trotzki als Satan, als gefallener Engel des Bolschewismus, erschienen die Angeklagten als Trotzkisten, verwickelt in eine riesenhafte Verschwörung zur Vernichtung des Kommunismus, der Sowjetunion, zur Wiederherstellung des Kapitalismus.37 Trotzkis Frage enthüllte das Absurde der Beschuldigungen: „Wenn meine Söldlinge alle Schlüsselpositionen im Apparat eingenommen haben, warum sitzt dann Stalin im Kreml und ich in der Verbannung?“38 Die Geständnisse, so sehr ihnen Bedrohung, Folter, Isolationshaft, Sippenhaft den Weg gebahnt hatten, zeigten bei der nun angeklagten Elite der Partei zugleich jene längst eingetretene geistige Zerstörung durch eine totale Ideologie, deren Identifizierung der Partei mit der Wahrheit und aller „Feinde“ mit dem Verbrechen bei ihnen in die psychische Katastrophe führen musste. Das Selbstopfer war der Versuch, die „dunkle Leere“ zu überwinden, wie Bucharin es nannte, den Verlust der eigenen Identität durch den Verlust der Partei, ein Akt der Buße für eine Schuld, derer man sich subjektiv nie bewusst gewesen war, die aber objektiv durch die Partei festgestellt wurde. Es war der Mechanismus der kirchlichen Inquisition gegen Ketzer und Hexer, vollzogen von einer neuen „Kirche“, die den Menschen als Kommunisten rettete, indem sie seinen Körper vernichtete.39 Die „Große Säuberung“ der Jahre 1937–38 führte zur Verhaftung von vermutlich 8 Millionen Menschen. Bei rund 5 Millionen Häftlingen, die 1936 bereits in den Lagern saßen, ergab das eine Gesamtzahl von 13 Millionen Gefangenen, von denen mindestens eine Million erschossen wurden und zwei Millionen in den Lagern umgekommen sein dürften. „Kaderpogrom“ und Massenverfolgung ergänzten dabei einander. Von den Mitgliedern der Partei wurden 18,5% ausgeschlossen, 15 000 verhaftet, 70% der Angehörigen des

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Zentralkomitees, fünf Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, ein Drittel der Minister, die Hälfte der Abteilungsleiter sowie der Richter und Staatsanwälte wurden verhaftet, viele davon erschossen. Nahezu das ganze Führungskorps der Roten Armee wurde vernichtet. Zwischen 35–40 000 Offiziere wurden liquidiert, drei von fünf Marschällen (darunter der Generalstabschef M. Tuchatschewski), 13 von 15 Armeegenerälen, 110 von 195 Divisionskommandeuren, 220 von 406 Brigadekommandanten. Bis zu 45% der Kommandeure und Politkommissare der Streitkräfte wurden liquidiert. Marschall W. Blücher, der gefeierte, hochdekorierteste Militär der Sowjetarmee, der im „Prozess“ gegen Tuchatschewski einer der Richter war, wurde wie die meisten anderen Militärrichter kurz darauf selbst beseitigt. Vorher hatte man ihn gefoltert. Sein Gesicht sei, so ein Augenzeuge, „eine einzige blutige Masse, ein Auge herausgeschlagen“ gewesen.40 Die Sippenhaft verschlang auch hier die ganze Familie, Bruder, Ehefrau, Kinder, die in spezielle Kinder-Lager deportiert wurden. Mit der Hinrichtung seines „treuesten Schülers“ Jeschow, des Chefs des Geheimdienstes, und seiner Ersetzung durch Berija brachte Stalin auch den Geheimdienst wieder unter seine Kontrolle, die einzige Organisation, die allpräsent und funktionsfähig geblieben war. Doch über 21 000 Mitglieder des NKWD wurden liquidiert, um die Terroristen selbst dem Terror zu unterwerfen. Neben die „Reinigung“ der Kader trat die der Massen. Alle Regionen erhielten Planzahlen zur Vernichtung „antisowjetischer Elemente“ zugewiesen, und da man bereits früher massenhaft „Schädlinge“ eliminiert hatte (Priester und Gläubige, ehemalige Angehörige des Bürgertums, Kulaken), versuchte man die „Kontingente“ in ihren beiden Kategorien (Liquidieren, Deportieren) dadurch zu erfüllen, dass man auf andere „schädliche“ Gruppen zurückgriff: Arbeitsscheue, Wohnungslose, Prostituierte, Altersrentner, dass man Personen umdefinierte: Kleinbauern zu Kulaken, polnische Arbeiter zu „konterrevolutionären Nationalisten“, und dass man Familienangehörige miteinbezog. Der Terror verschonte auch die politische Emigration nicht. Etwa 70% der nach Sowjetrussland geflüchteten deutschen und österreichischen Kommunisten erfasste die Säuberungsmaschine des Geheimdienstes, deportierte sie in den Gulag, liquidierte sie. Die polnische Exil-KP verschwand zeitweise ganz. „Als Brotwagen getarnte Transportfahrzeuge brachten die Leichen nachts ins Krematorium. Die Öfen brannten Tag und Nacht . . . Die Asche der verbrannten Kommunisten . . . wurde auf die Felder der Sowchosen im Gebiet Moskau verstreut.“41 Das Sowjetregime konnte ohne Terror nicht bestehen. Der Terror erzeugte Furcht, aber er integrierte auch. Denunziation, das Reden in korrekten Phrasen, die Herstellung einer moralischen Nullstelle im Bewusstsein boten sich als Mittel an, um ihn zu überleben oder gar um aufzusteigen. Er schafft Bedingungslosigkeit als Erhalt des Lebens bzw. des sozialen Daseins, er schafft Eindeutigkeit als Benennung des totalen Feindes. Im Nexus beider wird jeder zu einem potentiellen Gewalttäter. Diesen Nexus herzustellen und zu erhalten ist der Sinn des Terrors als System. Ihn hergestellt zu haben war die wesentliche Ursache für den Erfolg der Bolschewiki beim Kampf um die Macht. Lenins Bemerkung, Revolutionäre seien nur „Tote auf Urlaub“ ist der rhetorische Ausdruck für diesen Nexus.

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Der Bolschewismus konnte die soziale Welt nur als Gewalt begreifen, weil er sie von ihrer utopischen Zurichtbarkeit her definierte und sich also in totaler Negation zu allem Bestehenden sah. Das ist der Zustand der Sekte. Die Identität des Bolschewiks war das Gegenbild zum absolut definierten Feind. Er besaß keine andere. Seine Lebensäußerung konnte daher nur die Totalität der Gewalt sein. Sein „eschatologisches“, jeden Hass, jede Gewalt legitimierendes Ziel war der totale Mensch, identisch mit allen anderen. Es war der Mensch Rousseaus, der Pawlow’sche Mensch, abrufbar in seinen antrainierten Reflexen, von dem Lenin, Stalin, Mao träumten, kommandierbar ohne Gewalt. Die Lächerlichkeit Trotzkis, der solcherart „harmonisierte“ Mensch werde mühelos das Niveau eines Aristoteles oder Goethe erreichen (1924), reflektiert die kollektivistische Unfähigkeit, menschliche Kreativität als Ergebnis des Strebens zu begreifen, sich in der Gesellschaft als nicht-identisch zu behaupten, also „Individuum“ zu sein. In der ständigen Definition von „Feinden“ erhielt sich das Kampfkollektiv der Bolschewiki, auch wenn es sich dabei selbst dezimierte. In der Mentalität der Feindschaft sollte der Neue Mensch geschaffen werden, d. h. der vom Kader zur Gesellschaft gewordene Bolschewik. Realisiert werden sollte diese Mentalität durch den Klassengenozid. In der Sprache der Tscheka, die ihn durchführte: „Wir führen nicht Krieg gegen bestimmte Personen. Wir löschen die Bourgeoisie als Klasse aus.“42 Der Preis von 20 Millionen Toten sei als „sinnvolles“ Leiden nicht zu hoch, wenn dadurch die wahren marxistischen Ideale hätten durchgesetzt werden können, wie der Historiker E. Hobsbawm (1994) meinte. Immerhin sterben viele Menschen ganz sinnlos, in ihren Betten, ihren Autos, in Sturmfluten oder durch eine Gewalt mit den falschen Idealen. Warum also sollte man sie nicht in Massen, zu Hunderttausenden, Millionen, für jene historische Versuchsanordnung sterben lassen, die im Falle des Gelingens Erlösung von allen Übeln der Geschichte versprach (den Tod nur ausgenommen, der dabei unentbehrlich blieb). Es ist der jakobinische Ansatz, unter den Bedingungen der Industrialisierung fortgedacht. Der „Feind“ bleibt eine Barriere vor den Pforten des Paradieses: Die revolutionäre Ungeduld hat keine Zeit, ihn umzuerziehen. Der Sturm vom Paradies her bläst zu stark. Es bleibt nur die Gewalt und das Versprechen des Endgültigen.

Nationalsozialismus Totalitäre Herrschaft ist Wut vor Grenzen. Wer nur noch die Gewalt zum Maß nimmt, hat keines mehr. Es ist die Logik des Schlägers, dessen einzige Grenze die Gegengewalt ist. Es ist immer eine feige Gewalt, denn um den Anderen zu schlagen, aber nicht selbst geschlagen zu werden, ist es gut, als Gruppe anzutreten. Totalitäre Gewalt als Gewalt gegen Wehrlose ist das Gegenteil einer soldatischen Gewalt, die immer noch im Kreis des eigenen Todes steht und deshalb mit Ehrbegriffen hantiert, so gebrochen diese auch geworden sein mögen. Totalitäre Gewalt hat keine Ehre: Würde man sie ihr zumuten, wäre sie handlungsunfähig. Sie ist vielmehr terroristisch. Ihr Ziel ist die Erzeugung von Furcht und Furcht hat mit Willkür zu tun. Die totalitäre Gewalt besteht in der Latenz der alltäglichen Drohung,

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mit dem Exzess als ständiger Möglichkeit. Totalitäre Gewalt ist das Wesen des Nationalsozialismus wie des Kommunismus. Während jedoch der Kommunismus die bestehende Gesellschaft vollkommen zerstören muss, um sich selbst an die Macht bringen zu können, gelangt der Nationalsozialismus – wie sein Vorläufer, der Faschismus – durch die Behauptung an die Macht, die bestehende Gesellschaft zu verteidigen, und zwar gegen ihren Zerstörer, den Kommunismus. Die Faschisten sind Teil der Verteidigungsreaktion der bürgerlichen Gesellschaft gegen den Kommunismus und sie werden dort machtvoll, wo diese Gesellschaft instabil, furchtsam geworden ist. Wo die Faschismen ihre Macht zunächst legal erwerben und sie diese erhalten und ausweiten, indem sie die Legalität aushöhlen und immer mehr das Gesetz durch die Gewalt ersetzen, kommt der bolschewistische Kommunismus durch Zerstörung jeglicher Legalität zu Herrschaft. Der bolschewistische Bürgerkrieg ist offen, der nationalsozialistische verdeckt. Doch geht es stets um die Gründung von Herrschaft durch Gewalt. Der Aufbau der nationalsozialistischen Herrschaft entspricht demnach einem lange hingestreckten Vorgang der Aushöhlung bestehender Institutionen, des Aufbaus paralleler Strukturen, der Verdrängung überkommener Wertorientierungen durch neue Ideologismen. Die institutionelle „Gleichschaltung“ soll durch Verbot oder „freiwillige“ Selbstauflösung jede organisierte Opposition beseitigen und die „Säuberung“ der staatlichen Institutionen von tatsächlichen und potentiellen Gegnern ihre Instrumentalisierung durch die Partei erlauben. Ging im Bolschewismus der offene Bürgerkrieg nach dem Sieg in einen verdeckten über, dessen Methode der Terror war, so gelangte der Nationalsozialismus durch die Drohung eines möglichen Bürgerkriegs an die Macht, baute durch Terror ein Paralleluniversum der Gewalt auf und suchte durch den offenen Krieg nach außen die Totalisierung der Gesellschaft zu vollenden. So wenig Bolschewismus wie Nationalsozialismus ohne den Ersten Weltkrieg hätten machtvoll werden können, so wenig hätte der Nationalsozialismus ohne den ihm vorangehenden und ihn begleitenden Bolschewismus die Macht zu erobern vermocht. Beide Male waren es Gewalterfahrungen. Der Weltkrieg hatte alles auf Gewalt reduziert, auf das Überleben durch rechtzeitiges Sich-Ducken, rechtzeitiges Abdrücken. Überstehen konnten nur Kollektive, als Organisationen geführt. Das Überstehen misslang, wenn die Organisation zerfiel. Die Organisation des deutschen Kaiserstaates, des deutschen Heeres zerfiel und es zeigte sich, dass „im Letzten“ alles auf Gewaltfähigkeit beruhte. Die gegen den Körper gerichtete Vernichtungsgewalt des Krieges drang bis tief in die Seele, ließ die einen zittern, die anderen stumpfte sie ab, die Dritten verhärtete sie in „Stahlgewittern“. Die Körpererfahrung der Gewalt an der Front und die Sozialerfahrung der Gewalt als das, was Herrschaft, Institutionen erhält oder zerstört, verbinden sich zu einem Bewusstseinszustand, in dem die Gewalt als Totalität erscheint, die allein Totalität hervorzubringen vermag, weil sie den Tod regiert. Es war auch die Erfahrung, die es dem Bolschewismus ermöglicht hat, im Zustand der zerbrochenen Institutionen die Macht an sich zu reißen und im offenen Bürgerkrieg zu behaupten. Lenins Wille zur Revolution war Wille zur Gewalt, ohne die vor 1917 die Revolution in Russland nicht zu haben war und ohne die nach 1917 der Kommunismus nicht durchgesetzt werden konnte.

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Die Gewalt als dynamische Kraft des Umsturzes, als totalisierende Potenz, ist für Kommunismus wie Nationalsozialismus die grundlegende Erfahrung. Im „Oktoberexperiment“ machen die Bolschewiki diese Erfahrung. Das gelungene Experiment zeigt den Nationalsozialisten den Weg und zugleich den Feind. Der Nationalsozialismus gewinnt seine politische Dynamik aus der bürgerlichen Furcht vor dem Bolschewismus und er kann seine Diktatur festigen, weil die Furcht weit verbreitet ist, ein Scheitern würde eine kommunistische Revolution zur Folge haben, eine Furcht, welche die deutschen Kommunisten wie ihre russischen Herren als Erwartung buchstabieren. Eine Gewalt, die total werden kann, muss institutionelle wie mentale Vorbehalte beseitigen. Lenin zog hier die Konsequenzen aus Marx. Die Nationalsozialisten hingegen hatten größere Schwierigkeiten zu überwinden, die „Geschichte“ zu zerstören. Was Hitler an der deutschen Geschichte störte, war ihre Kleinräumigkeit, Vielfältigkeit, das Fehlen einer Dominanz des Kriegerisch-Heroischen über ein Jahrtausend hin, dem erst einige Jahrzehnte preußischer Hegemonie zu widersprechen schienen. Das Feindbild eines „Deutschland der Hunnen“, wie es die angelsächsische Kriegspropaganda gezeichnet hatte, war für ihn gewissermaßen das erträumte Freundbild. Begriffe wie „Raum“, „Blut“, „Rasse“ sollten im Nationalsozialismus die historische Relativität der deutschen Geschichte zerstören, eben jene „Autobahnen“ in das kollektive Bewusstsein bauen, die ein „Raumgefühl“ schufen, Begriffe, die man durcheilte, mit dem Automobil wie mit dem Panzer. Raum und Rasse als totale Kategorien ersetzten die Geschichte mit ihren relativen Begriffen bzw. zerstörten sie durch ihre Transformierung in den germanischen Mythos. Totale Kategorien aber sind solche der Utopie. Sie werden solche der Gewalt, wenn die Utopie Wirklichkeit werden soll. Raum und Rasse, Lebensraum und Ariertum konstituieren die nationalsozialistische Utopie. Die Lebenskraft einer Rasse zeigt sich ihr zufolge in der Raumbesetzung. Je mehr Raum besiedelt werden kann, desto mehr Menschen können ernährt werden, desto zahlreicher ist die Rasse. Lebenskraft ist Siedlungskraft, Siedlungsraum. Es ist die Vorstellungswelt einer Agrargesellschaft, die im Ackerboden ihren Daseinsbezug findet. Es ist zugleich eine Gewaltvorstellung, denn ohne Krieg ist dieser Boden nicht zu gewinnen. Damit schließen sich Raum, Rasse und Gewalt zu einer Totalität zusammen, die nur als Ideologie formulierbar ist. Das Wesen der Ideologie besteht in der Absolutheit der Festlegung des Feindes und des Freundes. Der Feind wird im Letzten im Begriff der Vernichtung gedacht, der Freund im Letzten als einer, der sich an dieser Vernichtung beteiligt. Immer aber geht es um eine kollektive Identität, um die Verweigerung des Individuellen. Freunde und Feinde sind stets identisch in ihrem kollektiven Freund- oder Feind-Sein. Was die totalitäre Ideologie behauptet, ist die Unentrinnbarkeit des Identischen, daher muss der nur halbe Freund ebenso ausgestoßen werden wie der ganze Feind: Ein Drittes gibt es nicht. Dieses Bewusstsein hat nichts mit Wissenschaft zu tun, die ein Denken im Zweifel bleibt. Dennoch behauptet es sich als „wissenschaftlich“, weil die (Natur-)Wissenschaft jene Autorität des Wissens geworden war, als welche vor dem Aufstieg des technizistischen Materialismus im Kontext der Industrialisierung die christliche Religion gedient hatte. Das gilt nicht allein für den marxistischen, „wissenschaftlichen“ Sozialismus, sondern ebenso für den

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Nationalsozialismus. Sein wichtigster Theoretiker war der Engländer Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), dessen „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ (1899) zum „Kampfbuch“ der NS-Bewegung geworden sind.43 Angesprochen werden sollte die aufsteigende Klasse des 19. Jahrhunderts, also das Bürgertum, das nun, an der Wende zum zwanzigsten, zu einer absteigenden Klasse zu werden drohe, von einer neuen aufsteigenden Klasse abgedrängt, wenn nicht mit Vernichtung bedroht, dem Proletariat. Diese Furcht vor dem Absturz gründete die ganze, um diese Zeit einflussreich werdende Kulturkritik und verdrängte in den bürgerlichen Schichten den Liberalismus, vor allem in Deutschland und Österreich, wo der Liberalismus und das Bürgertum nie den Staat erobert hatten und sich durch eine machtvolle, sozialistische Arbeiterbewegung und – in Österreich – einen sich verschärfenden Volkstumskampf herausgefordert sahen. Erblickte der Sozialismus in der Zukunft die Verheißung der vollkommenen Gesellschaft, so sah die Kulturkritik in ihr die Drohung von Verfall und Zerstörung. Verfallsanalytiker wie Spengler sahen darin ein unabwendbares „zivilisatorisches“ Schicksal, indem sie die Krise des Bürgertums als historisches Gesetz formulierten. Dagegen nun bezog Chamberlain Stellung, indem er die Geschichte „tiefer“ zu begründen suchte, nämlich in einer diese durchziehenden Kollektivität, die er in der „Rasse“ und im Rassenkampf zu erkennen glaubte. Er knüpfte dabei an die bereits vorhandene Rassenlehre an, wie sie vor allem in Frankreich entwickelt worden war, als „Rassenkampf“ zwischen „Galliern“ und „Franken“, mündend in der Großen Revolution und danach als Verfallsgeschichte im Kontext jakobinischer „Massen“. Mit Charles Darwins Theorie von der Herkunft des Menschen aus dem Tierreich (1871) und seiner Auffassung der Entwicklung als eines Vorgangs der „Selektion“ durch das „Überleben der Tauglichsten“ entstand dann neben einer aus der Geschichte abgeleiteten Rassenlehre eine biologisch-naturwissenschaftliche. Um gewaltfähig zu werden, musste noch eine kollektivistische Freund-Feind-Bestimmung hinzutreten. Der „Rassenkampf“ als Kampf um einen möglichst großen „Lebensraum“ wirkte sozusagen als Zuchtprinzip in der Geschichte. Rassenkampf war Gewalt und Demografie zugleich, bei dem „die Tüchtigsten“ als Kollektiv überlebten. Es gab hier nur Sieger und Besiegte, wobei der Sieg zugleich die biologische Höherwertigkeit, den höheren „Rassenwert“ anzeigte. Der „Feind“, als totale Kategorie, tritt erst da auf, wo dieser „Rassenwert“ bedroht wird, und zwar biologisch, durch „Bastardisierung“. In der rassischen Hierarchie Chamberlains – wie seines Bewunderers Hitler – standen die Juden an unterster Stelle. Eine Vermischung mit ihnen ließ – folgte man dieser Behauptung – den Rassenwert abstürzen. Zugleich erschien es als unerträglich, dass Juden inmitten „höherrassischer“ Menschen einflussreich waren, womöglich Macht ausübten. Damit: mit diesem Kurzschluss vom Rassenkampf um Lebensraum zum Rassenkampf gegen die „Bastardisierung“ wird „der Jude“ zum totalen Feind. Aus der Dualität von „Arier“ und „Jude“ wurden dann Kollektividentitäten konstruiert, die an den vorhandenen Antisemitismus anknüpften. Der „Arier“ war zudem ein Vereinigungsbegriff, der Bürgern und Arbeitern „rassische“ Einheit suggerierte, während der „Jude“ an die ein Jahrtausend währende soziale Fremdheit einer Minderheit anknüpfte, die in den wenigen Jahrzehnten der Akkulturation gemindert wurde, aber doch nicht ver-

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schwunden war. In diesem rassischen Dualismus und seiner Bestimmung als Konflikt ergibt sich zugleich die Möglichkeit, den Verfall zu überwinden, die Zukunft neu zu gewinnen. Die „Regeneration“ wird zum zentralen Begriff einer „Erlösung“ der eigenen Rasse aus Degeneration und Verfall, die mit Vermischung und Vergessen der eigenen „Stammes“-Zugehörigkeit einhergehen. Bei Chamberlain ist es das Bewusstsein der „Rassenzugehörigkeit“, das Identität schafft, weil es kollektive Identität hervorruft, als das Identischsein mit dem Kollektiv. Wer die „reine Rasse“ in sich spürt, ist gleichsam wiedergeboren. Es ist ein geradezu mystischer Akt, der sich in Chamberlain beim Hören von Wagners „Parsival“ vollzog, in dem es gleichfalls um „Erlösung“ und um die Entstehung eines „zukünftigen, höheren“, eines neuen Menschen ging.44 Vor ihm ist dann die ganze bisherige Geschichte bloße Einleitung zur „wahren Geschichte“.45 Damit ist dem Geschichtsverlauf eine „messianische“ Gerichtetheit zugewiesen, die auf einer Rassenhierarchie basierte, an deren Spitze die „Arier“, an deren Ende die „Juden“ stehen.46 „Sinn“ der Geschichte ist es dann, diese messianische Gerichtetheit zu verwirklichen und dies ist der Auftrag für die „Männer der That“. Chamberlain verstand seine Schrift als Bemühen, den antisemitischen Rassismus aus dem „Radau-Antisemitismus“ des Schreiens, Plünderns und Schlagens herauszunehmen, um so seine sozusagen intellektuelle oder wissenschaftliche Berechtigung zu erweisen, durch die Konstruktion einer Art historischen Gesetzes mit dem Rassenkampf als Grundprinzip der Geschichte, sowie durch den Bezug auf den Sozialdarwinismus und sein Evolutionsgesetz der Selektion der Arten durch ein „Überleben der Stärkeren“. Damit wurden solche Überzeugungen „diskursiv“, erzeugten Bedeutungen und Argumentationsketten, die in die Sprache der Gebildeten eingefügt werden konnten und damit öffentliche Präsenz erhielten, einen Anschein von Respektabilität, Legitimität. Der Erfolg des Buches zeigt das. Kaiser Wilhelm II. wie Adolf Hitler waren davon beeindruckt und im Jahr 1915 hatte die Auflage die 100 000 bereits überschritten. Und der Erfolg hielt an. In den Jahren sozialer wie psychischer Chaotik in Deutschland nach 1918 wurden die „Grundlagen“ zum Bezugstext für jene, die nach einfachen Erklärungen suchten, d. h. nach einem absoluten Feind, dem alles zuzuschreiben war. Wenn die Angst auf Seiten der „Rechten“ ein bestimmtes Motiv war, die Furcht vor Vernichtung, Niedergang, dann half die Benennung des Feindes, sie zu bewältigen. Denn diese Benennung zeigte zugleich, wie man doch noch siegen, den Niedergang in einen Aufstieg verwandeln konnte. Für das 20. Jahrhundert, in dem radikales politisches Handeln nach den psychischen und sozialen Erschütterungen des Weltkriegs bestimmend werden sollte, in dem aber ohne ideologisches Argument kein radikaler politischer Kampf zu führen war, wurde Chamberlain zum Wegbereiter des Nationalsozialismus als einer Erlösungs- und Vernichtungsideologie. Der drohende Untergang rechtfertigte jede Gewalt und unterzugehen drohte das Kollektiv, was jeden Bezug auf das Individuum nebensächlich werden ließ: Mit diesen beiden Annahmen war das 19. Jahrhundert, war der Liberalismus abgetan, das Tor zum Terror aufgestoßen. Diese Struktur der totalitären Diktatur, die Gesellschaft durch Universalisierung des Misstrauens aufzuspalten, um sie dann von einer Kadergruppe Gewalttätiger her neu zu

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formieren, findet ihre Konsequenz im Konzentrationslager. So wie der Sklave in den amerikanischen Südstaaten allein insofern noch als Mensch anerkannt wurde, als er potentiell gewaltfähig blieb, es also darum ging, seine „volle“ Menschwerdung als Aktualisierung seiner Gewaltfähigkeit zu verhindern, so zielte auch die vollständige Reduzierung des KZHäftlings auf seine schiere Physis auf die totale Entmenschlichung. Wert kam dieser Physis dann nur in jenem Maße zu, in welchem sie dem Herren von Nutzen schien, d. h. insofern er sie als Arbeitskraft benötigte. Tat er das nicht, war sie wertlos. Hatte der klassische Sklavenhalter jedoch ein Interesse am Erhalt seiner Sklaven, weil er sie nur als Arbeit auffasste, so blieb für den KZ-Herren der Häftling ein fortwährender Feind, der sich im „Juden“ inkarnierte. Damit tritt die gezielte Vernichtung neben die mehr oder minder willkürliche, deren Hauptzweck der Terror ist, die Zersetzung des vorhandenen sozialen Zusammenhalts durch die Totalität des Misstrauens, d. h. durch Furcht. In der totalitär beherrschten Gesellschaft wirkt das KZ als Symbol und Instrument der Willkür. „Jeder“ konnte gemeint sein, aber dadurch, dass das Regime „Bestimmte“ als Feinde benannte, wurde der Angst die Möglichkeit der Kollaboration, Denunziation geöffnet, ohne die auch eine Herrschaft der Gewalt nicht auf längere Zeit hin hätte funktionieren können. Die Gewaltherren suchten durch die Vergabe von Privilegien und Befugnissen eine kollaborierende Oberschicht von Kapos und Schreibern zu schaffen,47 die völlig von ihnen abhängig war und die dadurch neben die äußere Furcht vor den Wachmannschaften eine innere Furcht vor der Denunziation setzte, mit der sich der Terror erst universalisieren ließ. Der auf seine schiere Physis, auf das schiere Überleben bis zum nächsten Tag minimierte Mensch verliert mit seiner Sozialität auch die Fähigkeit zur Empathie. Er wird so fühllos wie die Täter selbst.48 Wesentlich für die Fortbildung der zunächst eher willkürlichen Sammellager für politische Gegner, insbesondere Kommunisten, in der kritischen Konsolidierungsphase des NS-Regimes zwischen „Machtübernahme“ ( Januar 1933) und „Röhm-Putsch“ ( Juli 1934), zum Strukturelement der nationalsozialistischen Herrschaft wurde ihre Verselbständigung im Kontext eines SS-Parallelstaates, der neben den überkommenen Staatsorganen entstand. Der bürgerliche Rechtsstaat, über den das neue Regime einen wichtigen Teil seiner Legitimation in den konservativen Bevölkerungsschichten bezog und ohne den es sich zunächst auch administrativ nicht hätte behaupten können, blieb scheinbar erhalten und wurde zugleich durch den SS-Parallelstaat ausgehöhlt, in dem keine der Rechtsnormen mehr Geltung besaß. Dienten die Lager zunächst der Zerschlagung der politischen Opposition, dann der Systematisierung der Furcht im eigenen Land, so wandelte sich ihre Zielsetzung radikal mit dem Beginn des Weltkrieges. Hatte es zuvor starke Schwankungen in den Häftlingszahlen gegeben und war die Mehrzahl wieder entlassen worden, so stieg nun die Zahl der Gefangenen massiv und stetig an. Die deutschen Häftlinge wurden zur Minderheit und durch Menschen aus den besetzten Gebieten ersetzt, vor allem Polen und Russen. Mit dem Arbeitskräftemangel als Folge des Kriegseinsatzes zahlloser Männer wurden die Lagerinsassen als Arbeitskräfte wichtig. Mangelhaft ernährt und exzessiv ausgebeutet, starben Hunderttausende. Seit dem Winter 1941/42 begann

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dann die planmäßige Vernichtung der Juden, der bis 1945 über drei Millionen Menschen in den „Todesfabriken“ von Auschwitz-Birkenau und Chelmo zum Opfer gefallen sein dürften, neben rund 1,1 Millionen, die in den eigentlichen KZs umgekommen sind.49 Das terroristische Geheimnis des Konzentrationslagers war, dass es ein offenes gewesen ist. Das KZ schuf den Raum des Tabus, von dem jeder wusste, ohne es genau zu kennen oder kennen zu wollen. Gesellschaften integrieren sich durch Normen und das Tabu, d. h. einen Bereich, der sich den Normen und damit dem öffentlichen, kommunikativen Wissen entzieht. Primitive Gesellschaften werden vom Tabu geradezu reguliert. Es sind Bereiche des Unaussprechlichen, doch Gewussten, Bereiche, in denen der Schrecken des Lebens wohnt, der Schmerz, der Tod, die Vernichtung. Wenn es das Wesen der Moderne ist, das Tabu kommunikativ zu minimieren, dann ist es das Wesen der totalitären Gesellschaft, es zu universalisieren und zugleich die Kommunikation auf Phrasen zu minimieren. Das KZ versucht, die Gesellschaft in einen geschlossenen Raum zu verwandeln, indem es eine Art schwarzes Loch entstehen lässt, in dem Menschen plötzlich verschwinden. Dieses wird zur geschichtslosen Zone zwischen schierer Gewalt und bloßem Tod, zu einer Zone vollkommener Ohnmacht, in der es um nichts als um das Überleben geht, symbolisiert im Einritzen einer Nummer, zu welcher der Einzelne jetzt wird.50 Auf Seiten der Bewacher war wichtig, dass sie sich nicht als Gefängniswärter, sondern als „politische Soldaten“ verstehen sollten, die gegen den Feind Krieg führten. In der radikalen Differenz zwischen einer Gewalt der SS, die das willkürliche Töten mit einschloss, und einer nur auf das Überleben bezogenen Ohnmacht der Häftlinge entstand eine Disposition, in der die Ausübung von Gewalt identitätsbestimmend wurde. Die SS-Männer, die meist aus den prekären Randbezirken zwischen Mittel- und Unterschicht kamen, ungesichert in ihrem sozialen und ökonomischen Dasein und nicht nachhaltig integriert durch stabile sozial-mentale Ordnungen der Gesellschaft, einer Gesellschaft der Krise seit 1918, fanden im Lager soziale, ökonomische und mentale Sicherheit durch Gewalt. Gewalt aber, wo sie herrschaftlich ausgeübt wird gegen wehrlose Personen, wird rasch schrankenlos, weil der Täter seine Identität vor sich und anderen nur durch Gewalt behaupten kann und es immer wieder tun muss, denn Gewalt ist nur als Tat, Tätigkeit existent. Herrschaft realisiert sich immer als hierarchische Teilung, die Posten vergibt oder versagt. Das gilt für die Gewaltherrschaft noch mehr als für jede andere, weil sie auf keine politische „Autorität“ zurückgreifen kann. Dass im KZ Berufskriminelle und Kommunisten im System der Lagermacht „hinter dem Stacheldraht“ am höchsten standen, war folgerichtig.51 Zugehörigkeit definierte sich über Gewaltfähigkeit, von den Wachmannschaften bis zu ihren Kollaborateuren unter den Häftlingen, den „Aristokraten“, „Funktionären“, „Kapos“, deren Machtzeichen der Prügel war, mit dem die SS sie ausgestattet hatte. Da das Herrschaftsgefüge selbst nur aus Gewalt bestand, gab es keine institutionellen Hemmungen und also auch keine emotionalen. Es gab auch keine Verantwortung, weil diese im Zusammenhang von Gewalt nur da entsteht, wo die Gewalt gehemmt, in Regeln des Erlaubten wie Verbotenen gepresst wird. Wer in das KZ kam, als Wächter

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oder Häftling, verlor seine Verantwortlichkeit, weil er aufhören musste, Person zu sein. Das kaum Fassliche der Gleichgültigkeit, das maschinenhafte Teilchensein in allen Abläufen, das Häftlingsdasein, das Mitmachen der Kapos bis hin zu den Sonderkommandos in den Gaskammern, die Fühllosigkeit der SS-Männer vom Fußtritt bis zur Mordtat: das alles kulminiert geradezu kausal in der fabrikmäßigen Menschenvernichtung. In ihr enthüllte die totale Gewaltherrschaft ihr Wesen. Sie zeigte sich als Organisation, von der Plananlage des Lagers über den Transport zu den Vernichtungsstätten bis zur Vernichtung selbst. Sie vollendet sich in der Minimierung des Menschen auf seine schiere Körperlichkeit, auf den bloßen Willen, zu überleben. Das Lager ist die Utopie der totalen Herrschaft. Im Lager wird das Hierarchie-Gefälle total, weil die Herrschaft über Leib und Leben der Beherrschten verfügt, weil es kein verbindendes, einklagbares Recht gibt. Die Gründung der Konzentrationslager bildete daher einen entscheidenden Schritt hin zur Zerstörung dieses Staates und seiner „bürgerlichen“ Rechtsidee, für die Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit entscheidend waren, das Recht auf einen unparteiischen Richter, das Appellationsrecht. Das KZ war der erste Schritt, nämlich die Schaffung eines rechtsfreien Raums. Der zweite Schritt bestand dann in der Ausweitung dieses Raumes auf die Gesellschaft insgesamt, zuerst noch durch die scheinbare Legalität von Notverordnungen und Gesetzen, deren Voraussetzung, die demokratische Verfassung, längst zerstört worden war. Mit dem Entschluss zur planmäßigen Vernichtung der Juden (Wannsee-Konferenz, 20. 1. 1942) bedarf es auch dieses Scheins nicht mehr. Die Permanenz des Ausnahmezustands ist die Voraussetzung des rechtsfreien Raums. Um diesen Raum herrschaftlich zu kontrollieren, war die Organisation der Gewalt erforderlich, vor allem durch die Schaffung „rechtsfreier“ Organe, die jenseits der staatlichen Gewaltorgane neu geschaffen werden mussten: die Gestapo als politische Geheimpolizei und eben die SS, die mit ihren Lagern und deren Wirtschaftsunternehmen, einer eigenen Geheimpolizei (SD), ihren Einsatzgruppen und ihrer eigenen Armee (Waffen-SS) einen Parallelstaat zu errichten begann. Zwar wurde die SS nie allmächtig, standen ihr Partei und Wehrmacht als unabhängige Machtgrößen entgegen. Doch sah sich die SS von ihrer Entstehung im April 1925 an als die eigentliche Kraft der „völkischen“ Bewegung. Führerprinzip, Rassenideologie und organisierte Gewalt bildeten die Momente, aus denen sie sich gründete. Die SS verstand sich als Elite, als Avantgarde des kommenden neuen „Reiches“, auch wenn sie bis 1934 der SA als der Massenorganisation der Gewalt untergeordnet blieb, ohne die der zu erwartende Bürgerkrieg mit den Kommunisten nicht ausgefochten werden konnte. Nach der faktischen Zerschlagung der SA, deren Prügeleinheiten nicht länger gebraucht wurden, stieg die SS zur eigentlichen NS-Gewaltorganisation auf. Der Straßenkampf war beendet und für den Terror als System benötigte man andere Formen der Gewalt, eine strikt disziplinierte Gewaltorganisation als „Machtinstrument“ der Führung, wie sie „der Brei der NSDAP“, die Massen- und Mitläuferpartei, nicht bieten könne. Nicht nur musste aus diesem Breiartigen der Partei ein kompakter Kampfverband geformt werden, auch die Partei selbst bedurfte fortwährender Konsolidierung. Hitlers Führungsanspruch war auch in der NSDAP nur durch Überwachung, Bespitzelung, Säu-

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berung durchsetzbar. Die seit Mitte der 1920er Jahre erfolgende Sammlung von geheimen Informationen innerhalb der Partei wurde demzufolge 1931 im späteren Sicherheitsdienst (SD) institutionalisiert, dem sowohl die Überwachung der „Freunde“ innerhalb der Parteiorganisationen wie der „Feinde“, der feindlichen Parteien und Organisationen, oblag. Es war das Konzept Heinrich Himmlers, der seit 1929 „Reichsführer-SS“ geworden war. Diese Truppe, deren Zeichen der Totenkopf bildete und in deren Kampflied der „Tod als Kampfgenoss“ gefeiert wurde, sollte nach der nationalsozialistischen Blut-Bewusstseins-Lehre, die von Himmler zum Fanatismus-Kern dieser „Schutzstaffel“ radikalisiert wurde, durch rassische Selektion formiert werden: Wer das „richtige Blut“ besaß, konnte „nicht untreu werden“. „Menschen abzusieben“, um wie „der Saatzüchter . . . eine gute, alte Sorte, die vermischt und abgebaut ist, wieder rein zu züchten“, so Himmler am 18. 1. 1933,52 sollte zur Selektionsmethode des SS-Mannes als des zu schaffenden Neuen Menschen werden und also die SS zu einem neuen pseudo-religiösen „Orden“, der die Ideologie nicht bloß im „Brei“ der Partei, des Volkes durchsetzungsfähig, gewaltfähig werden ließ, sondern sie zugleich biologisch zu realisieren begann. Nicht nur das demokratische System, die domestizierende bürgerliche Gesellschaft wurde abgelehnt. Man hatte das „richtige Leben“ erkannt und konnte in der falschen Gesellschaft nur noch wie in einem Feldlager existieren, provozierend, agitierend, draufschlagend, wartend auf die Explosion. Die „Machtergreifung“ Hitlers (30. 1. 1933) verwandelt Deutschland in ein Feldlager, in dem die Gewalt regiert. Mit der Liquidierung der SA-Führung als der potentiellen innerparteilichen Opposition ( Juni/Juli 1934) und anderer politischen Gegner war der Rechtsstaat durch das Standrecht ersetzt worden. Hitlers Erklärung, im Notstand sei er „des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr“, deklarierte die Willkür als Regel, denn ohne die Permanenz des Ausnahmezustandes vermochte die Diktatur nicht zu bestehen. Die Gewährleistung dieser Permanenz jedoch erfolgte durch die Organisation des Terrors, durch die SS vor allem, die nach dem 30. 6. 1934 zum Zentrum der Gewaltherrschaft geworden war. Dass die Ideologie, allen Bestrebungen Himmlers zum Trotz, eine abnehmende Bedeutung besaß, je mehr die SS nach 1933 sich in die Gesellschaft hin ausweitete und statt Personen aus dem Milieu der kleinen Leute solche aus den mittleren und höheren Sozialschichten rekrutierte, war dieser Systematisierung der terroristischen Gewalt sogar förderlich. Die Geschichte, als Ewigkeit der Gewalt gedeutet, lasse, so Himmler, nur eine Form der „Ethik“ zu, eben die aktive Teilhabe an ihr.53 Das „Sittliche“ daran sei, dass diese Gewalttätigkeit kollektiv, organisiert, diszipliniert erfolge. Die Gewalt selbst wird hier zum Fokus des Bewusstseins, das ein „Unmöglich“ so wenig kannte wie ein „Unerlaubt“. „Recht“ war nur der Ausdruck von Herrschafts- und Gewaltverhältnissen. Verteidigungsversuche des zerfallenden bürgerlichen Rechtsstaates wurden abgewehrt, so die Forderung, Todesfälle in Konzentrationslagern richterlich zu untersuchen.54 Vielmehr wurde der Willkürraum ausgeweitet und mit jenen Flüsterbegriffen inszeniert, die Furcht ins Bewusstsein transportieren und Gehorsam einprägen, Begriffe wie „KZ“ und „Gestapo“. Der SD überzog das Reich mit Informanten, „V-Männern“, um mögliche Widerstandsnester frühzeitig ausspionieren zu können. Die „Front“ war weiterhin vorhanden. Sie verlief mitten durch die

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Bevölkerung, zwischen NS-Anhängern und sich verbergenden, z. T. gegen das Regime arbeitenden Gegnern. Mit dem Kriegsbeginn (1. 9. 1939) entstanden neue Fronten, viele. Der Krieg, in dem geschossen wurde, ließ die ideologische wie die terroristische Gewalt eskalieren. Und er dehnte den rechtsfreien Raum in die eroberten Gebiete aus, in denen die (deutsche) Herrschaft ohnehin nur durch Gewalt vorhanden war. Für die Volkstumsfanatiker in Partei wie SS schien sich in den weiten „Räumen“ des Ostens die Möglichkeit zu bieten, das Rassenprogramm durchzuführen. Wenn „Blut und Boden“, Volkstum und Bauerntum kausal miteinander verbunden waren, weil Städte, Stadtleben die Menschen physisch und psychisch verdarb, dann bot ein großes Programm raumbesetzender Siedlung die Basis für eine „Regeneration“ der arischen Rasse neben einer selektierenden „Erbzuchtlehre“. Die Konsequenz dieser Zuchtlehre war die Unterdrückung oder schlichtweg Vernichtung der rassisch „Minderwertigen“, von der Euthanasie bis zum Massenmord an den Juden. Der Gewaltapparat dazu stand längst bereit. Die Enthemmung der Gewalt erfolgte umso leichter, als die deutsche Minderheit in Polen nach Kriegsbeginn massenweise verhaftet, deportiert und liquidiert worden war. Die polnische Bevölkerung sollte im Kernraum Polens zusammengedrängt werden und dort, ihrer Intelligenz und Industrie dauerhaft beraubt und auf Landwirtschaft beschränkt, in Unterwerfung gehalten werden. Dafür wollte man eine halbe Million Volksdeutscher, meist aus Russland und dem Baltikum, in den besetzten Gebieten ansiedeln, meist Territorien, die vor 1919 zum Deutschen Reich gehört hatten. „Absiedlung“, d. h. Vertreibung, und Umsiedlung aus dem Osten gingen ineinander über. Nach dem Angriff auf die UdSSR weitete sich die Siedlungsideologie zur Konzeption der „Wehrbauernsiedlungen“ aus. Selbst Himmler war klar, dass die riesigen Räume im eroberten Osten mit ihrer Millionenbevölkerung von Deutschen schon rein zahlenmäßig nicht zu besiedeln waren. Wehrdörfer aus deutschen Siedlern sollten die eroberten Gebiete kontrollierbar machen, zusammen mit der Armee. Von der ansässigen Bevölkerung wollte man den größeren Teil vertreiben, den kleineren „umvolken“, d. h. eindeutschen,55 und so ethnisch „homogene“ Räume schaffen. Es war ein Gewaltprogramm, dessen Kern die Bereitschaft zur physischen Vernichtung war. Das wurde zur Aufgabe der von der SS rekrutierten „Einsatzgruppen“, die hinter der Kriegsfront an inneren „Fronten“ liquidierten, „kommunistische Funktionäre, Zigeuner, Saboteure“ und vor allem: Juden. „3000 Männer jagten Russlands 5 Millionen Juden“,56 eifrig unterstützt von einheimischen „Hilfswilligen“. Als ab Ende 1941 der Partisanenkampf gegen deutsche Verbände begann, wurde den Einsatzgruppen auch die Partisanen- bzw. „Banden“-Bekämpfung zugewiesen. Die Identifizierung von Juden und Partisanen wie die pauschale Vernichtung ganzer Dörfer als Strafe für Partisanenaktionen radikalisierte noch die Gewalt der SS und erlaubte ihr, Judenvernichtung und Partisanenbekämpfung aufeinander zu beziehen. Zu den nun „Bandenkampfverbände“ genannten Sondereinheiten zählten Ende 1942 rund 15 000 Deutsche und 238 000 „Hilfswillige“ aus den besetzten Gebieten. Totalität der Feindbenennung und Totalität der Gewalterfahrung hatten eine Fühllosigkeit des seriellen Tötens von Menschen entstehen lassen. Alle Barrieren, des Bewusstseins, der sozialen

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Umgebung, die Gewalt und Mord blockieren, waren verschwunden. Was die Tötungsgruppe organisierte, waren Befehl und Gehorsam, war die Kollektivität des Handelns. Das Töten wurde gemeinsam vollzogen. Es stärkte sozusagen das Gemeinschaftsgefühl und entlastete den Einzelnen von Verantwortung. Aber es war Mord, ein Töten von Wehrlosen, Zivilisten, Frauen, Kindern, Alten. Es war kein soldatisches Töten. Es besaß kein Ethos. Es war erbärmlich. Jedem war das bewusst, auch Himmler, der bei einer Massenerschießung von Juden beinahe zusammenbrach. Dem Mord musste ein Ethos zugemutet werden, sonst drohte selbst bei den Exekutoren der nervliche Kollaps. Der Mörder verrichtete eine „Pflicht“, er tat ein Werk der „Reinigung“, dessen Sinn sich aus „der Geschichte“ ergab. Und er verrichtete seine „Arbeit“ „anständig“, d. h. er tötete gefühllos, er plünderte nicht, er handelte „selbstlos“. In seiner Posener Rede (4. 10. 1943) suchte Himmler ein solches „Ethos“ des Massenmordes zu formulieren: „Von euch werden die meisten wissen was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht.“57 „Und“, so fügte er hinzu, „wir haben keinen Schaden . . . in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen“. Dass einige SS-Männer wegen Mord, Grausamkeit, Bereicherung angeklagt, verurteilt, ein KZ-Kommandant sogar hingerichtet worden ist, gehört in diese Phraseologie eines Ethos des Mordes, der „sauber“ bleiben muss. Dennoch ist eine Logik wirksam, die des anonymen, kollektiven Tötens, in der keine individuelle Verantwortung entsteht, weil keiner individuell tötet bzw. töten soll und aus dem Töten keinen individuellen Vorteil ziehen darf. Die Verantwortung verflüchtigt sich, wandert als Ausführung von Befehlen „nach oben“, verliert sich im Historizismus einer Weltgeschichte als Rassenkampf. Die Zerstörung der Begriffe, ihre Auslieferung an die Beliebigkeit der herrschaftlichen Festlegung, ist hier vollständig geworden. Zerbrochene Begriffe, eine durch Gewalt zerbrochene physische und soziale Umgebung, das Gewaltkollektiv als einzige Gemeinschaft und jene der Gewalt widerstandslos Unterworfenen: dieser Mechanismus eliminierender Gewalt beherrschte auch die zweite Form der Vernichtung, die fabrikartig organisierte massenhafte Tötung in der Gaskammer, wie sie seit dem Frühjahr 1942 in den besetzten Gebieten Polens durchgeführt wurde.

Ethnische Säuberung und Völkermord Der Krieg lässt die Elimination erst möglich werden. Dahinter wirkt die Ideologie des Endgültigen, die Finalität durch Homogenität erzwingen will, als „Säuberung“ von dem, was diese Homogenität stört, zu stören scheint. Die „ethnische Säuberung“ gehört in diesen Zusammenhang. Sie steht am Anfang wie am Ende des Jahrhunderts. Ein Volk soll aus seiner Heimat entfernt werden. „Das Ziel besteht darin, . . . die „fremde“ Nationalität, ethnische oder religiöse Gruppe loszuwerden“, sich ihr Land, ihren Besitz anzueignen und möglichst auch die Erinnerung an ihr früheres Dasein zu beseitigen.58 Da diese „Entfer-

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nung“ nur gewaltsam durchzuführen ist, wird die ethnische Säuberung dann zum Völkermord, wenn kein Abschiebeland vorhanden ist, wenn es kein „Madagaskar“ gibt. Die Extremform der eliminatorischen Gewalt ist daher die genozidale Gewalt, d. h. die physische Vernichtung der „Feindgruppe“, wenn die jeweilige Herrengruppe sie nicht anderweitig „loswerden“ kann. Der eliminatorische Bruch entstand mit der revolutionären Transformation von der „Ungleichheit“ zur „Gleichheit“. Im Zustand der Ungleichheit lebte jede Gruppe in ihrem „Stand“, ihrer gesellschaftlichen „Etage“ in der strikt abgegrenzten Rangordnung einer Gesellschaft, deren Selbstverständnis die Unterordnung war. Im Zustand der Gleichheit hingegen forderten nicht nur alle diese für sich ein, sie wurde auch von ihnen eingefordert. Aus der „Bevölkerung“ war die „Nation“ geworden, aus dem Fürstenstaat der Nationalstaat: Nicht mehr der Fürst bzw. die Dynastie garantierte die Einheit des Staates, sondern die Nation. Eine Nation jedoch schien selbst nur als Einheit denkbar, sollte sie den Staat als Einheit garantieren. Wer in diese Nation nicht passte, musste verschwinden, denn „Etagen“ für Heterogenes sollte es nicht mehr geben, keine osmanischen „millets“ für Nichtmuslime etwa, keine Judenreglements, überhaupt keine Geburtsstände. Dieser Forderung nach einer „identischen“ Gesellschaft stellte die betroffenen Gruppen vor die Frage, ob sie ihre eigene, abweichende Identität aufgeben wollten. Taten sie es nicht oder kamen sie in Verdacht, es nicht tun zu wollen, gerieten sie in Gefahr. Es war daher folgerichtig, dass die erste Forderung nach kollektiver Identifizierung mit der identischen Nation im Frankreich der Revolution erhoben wurde und sie sich an die essentielle Gruppe von Fremden in der Gesellschaft Europas richtete: an die Juden. Das Verlangen nach einer Gleichstellung der Juden mit den anderen Bewohnern Frankreichs verband die Gleichheit mit der Aufgabe der „ethnischen“ Identität: „Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen aber ist alles zu gewähren. Sie sollen Bürger werden. Nun behauptet man, sie selbst wollten keine Bürger werden. Mögen sie es nur ausdrücklich erklären, dann sollen sie des Landes verwiesen werden, denn es darf keine Nation in der Nation geben.“59 Das „libre ou mourir“ der Revolution war erst gemeint: Wer nicht „frei“ sein wollte, wie die Revolutionäre es befehlen, musste mit dem Schlimmsten rechnen. Nicht von ungefähr findet sich in diesem Kontext der Forderung nach kollektiver Identität denn auch der Begriff des „Holocauste“ (1793): So weit die Tricolore wehte, durfte es nur noch die eine, einheitliche Nation geben, in der alles Nichtfranzösische zu zerstören war, etwa die deutsche Sprache und Tradition im Elsass, symbolisiert durch die Opferung der traditionellen Tracht. Noch war es möglich, die eigene Ethnizität durch völlige Assimilation zu beseitigen, ehe der Rassismus einflussreich wurde und die „Verifikation“ über die Feststellung der „völkischen“ Abstammung entscheidend werden sollte. Allerdings gibt es zwei bemerkenswerte Versuche, eine „Nation“ revolutionär zu gründen und dennoch Vielfalt zuzulassen: in Irland 1796 und in Deutschland 1849. Der Versuch der „United Irishmen“ eine Republik jenseits des Konfessionshasses zu gründen, der letztlich zugleich eine „ethnische“ Grenze zwischen gälisch-stämmigen Iren und Nachkommen britischer Siedler benannte, will die eine Nation in einer Vielheit gründen, die nicht den assimilierenden „Schmelztiegel“ zum Ziel hat. Und die Einfügung eines eige-

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nen Artikels in die Revolutionsverfassung von 1849, der den Schutz der „nicht deutsch redenden Volksstämme Deutschlands, . . . namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen“ zu einem Verfassungsauftrag erhebt (Art. 13), anerkennt die ethnisch-sprachliche Vielfalt als selbstverständlichen Bestandteil eines auf dem Grundsatz der Volkssouveränität beruhenden Staates. Es war ein Angebot, das scheiterte, schon bevor die Revolution gescheitert war, weil die Angesprochenen, hier insbesondere die Tschechen, sich offenkundig eine Nation nur nach dem französischen Identitätsmodell vorstellen konnten. Die dem Angebot von 1849 zugrunde liegende Vorstellung von einer „Nation“ entsprach dem Denken J. G. Herders, für den der Reichtum der Kultur in der Vielfalt der zu ihr beitragenden Völker bestand, ihren „Stimmen“ im vielfältigen Chor der Menschheit. Jedes Volk besaß ihm zufolge ein durch Geschichte erworbenes Recht auf seine Existenz in seinem Land. Es war dies ein historisch-kulturelles Recht, kein revolutionär-politisches. Herder hoffte allerdingsauf die Entstehung von „Volksstaaten“, die er als Gegensatz zu den absolutistischen „Staatsmaschinen“ verstand, mit denen er Gewalt, Krieg, „Menschenjagden und Eroberungen“ verband. Völker, in ihren Kulturen und Territorien gesichert, würden friedlich zusammenleben, der Gedanke der Nation in seiner Verwirklichung eine Ära des Friedens beginnen lassen. Es war ein Irrtum und ein Fehlschlag, in Irland, in Deutschland und anderswo.60 Die Geschichte der eliminatorischen Gewalt im 20. Jahrhundert beginnt im April 1915 mit der Deportation der Armenier aus ihrer Heimat in die Wüsten Syriens. Der Krieg zwischen dem Osmanischen Reich und Russland – als Teil des Ersten Weltkriegs – und die Befürchtung, die christlichen Armenier würden die vorrückenden Russen an der kaukasischen Front unterstützen, bereiteten den Boden für einen Gewaltausbruch, der im Umbruch des Osmanischen Reiches von einem Vielvölkerstaat der „Etagen“ zum nationalen Einheitsstaat der Türken angelegt war. Eine ethnische Säuberung, in der militärische und nationalistische Momente sich verstärkten, führte fort in die genozidale Gewalt, in der vermutlich 800 000 Armenier umkamen.61 Das Interesse, das die Alliierten an den Armeniern als möglichen Verbündeten im Kampf gegen die Türken gezeigt hatten, verschwand rasch, sobald die Türken selbst als mögliche Verbündete gegen das nun bolschewistische Russland entdeckt worden waren (1923). Als Griechenland ab 1921 versuchte, einen Teil der Türkei zu besetzen, in dem es eine große griechisch sprechende Minderheit gab, es der türkischen Armee jedoch gelang, diese Gebiete zurückzuerobern, folgte den wechselnden Massakern an Griechen und Türken die ethnische Stabilisierung durch die Vertreibung der Griechen und einen anschließenden Bevölkerungsaustausch. Hätten Armenier oder Griechen sich durchgesetzt, so wäre nicht nur die neu entstehende Türkei auf das anatolische Hochland zurückgedrängt worden, auch das türkische Volk hätte man dorthin vertrieben. Es gab nur noch ethnisch eindeutige Räume und dass es am Ende die Türken waren, die den Raum besetzten, hatte mit nichts anderem zu tun, als dass sie sich militärisch überlegen zeigten. Der türkische Sieg bestand in der Verbindung von kriegerischer und eliminatorischer Gewalt: Ein griechischer oder armenischer Sieg, nach 1918 durchaus möglich, hätte in nichts anderem bestanden. Das war die eine Lehre, welche die Natio-

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nalsozialisten in Deutschland daraus zogen. Die zweite bestand in der Beobachtung, dass die Alliierten letztlich allein am Kollaborationspotential der Armenier und Griechen interessiert waren und ihre sonstigen humanistischen Äußerungen zu Phrasen wurden, sobald dieses Potential irrelevant geworden war. Die Versprechungen von Sèvres (1919) waren in Lausanne (1923) vergessen worden und auch von einer Verfolgung der verantwortlichen türkischen Politiker war keine Rede mehr. Moral in der Politik, so schien es, war ein Effekt des politischen Kalküls und nicht die Konsequenz aus ethischen Prinzipien. Es ist erwähnenswert, dass 1898 das Wort „holocauste“ erneut auftauchte, in Verbindung mit den Armeniern im Osmanischen Reich und blutigen Pogromen an ihnen. Die Erinnerung an die russischen Judenpogrome (1881) legte zumindest bei einigen Juden den Gedanken nahe, Solidarität zu zeigen, so bei Bernard Lazare, der gegen Theodor Herzl eine Verbundenheit der Verfolgten einforderte, die jener verweigerte, aus politischen Gründen, wollte er doch wegen seiner Palästina-Ambitionen die osmanische Regierung nicht verärgern. Die kriegerische Gewalt öffnete die Bahn für die eliminatorische, indem sie den Frieden als Zentrum der sozialpsychischen Orientierung durch die Gewalt ersetzt. Sie tut es nur dann, wenn sie ihre Ausrichtung durch eine Ideologie der Identität erhält, die bereits vor dem militärischen Kriegszustand einen öffentlichen hat entstehen lassen, in dem der Feind benannt und mit Eliminierung bedroht worden ist. Der Nationalsozialismus benennt seinen totalen Feind im „Juden“ und sucht ihn in einem ersten Stadium durch Bedrohung zur Flucht zu treiben. Das Zusammenwirken von Zionisten und SS gehört hierher. Beide fassten das Judentum als „Nation und Rasse“ auf, beide lehnten die Assimilation entschieden ab, beide traten für ethnisch gegründete Nationalstaaten ein.62 Die „Nürnberger Gesetze“ (1935) schränkten die staatsbürgerlichen Rechte von Juden bzw. durch Definition dafür erklärten Personen (bei 25% jüdischem „Blutsanteil“) drastisch ein und untersagten „artfremde“ Eheschließungen. Dann kam mit den pogromartigen Ausschreitungen des 8. November 1938 ein masssiver Ausbruch der Gewalt hinzu. Die Ermordung eines deutschen Diplomaten in Paris durch einen jungen, aus Polen stammenden Zionisten diente als Auslöser der von der NSDAP in Gang gesetzten Angriffe auf Juden, jüdische Geschäfte, Synagogen und der Verhaftung von 26 000 jüdischen Männern. Die polnische Regierung, in ihrem Ultranationalismus, Antisemitismus und ihrer Sehnsucht nach einem identischen Nationalstaat dem NS-Regime durchaus vergleichbar, war gleichfalls bemüht, ihre Juden „loszuwerden“, erörterte eine Auswanderung nach „Madagaskar“ und versuchte, den im Ausland lebenden Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit diese zu entziehen, um ihnen jede Rückkehr unmöglich zu machen. Wer nicht innerhalb einer kurz bemessenen Frist nach Polen einreiste, um dort einen Verlängerungsstempel zu erhalten, sollte seine polnische Staatsangehörigkeit verlieren. Das NS-Regime reagierte scharf und zwang polnische Juden zur Ausreise, die aber nicht länger möglich war, da Polen seine Grenzen für derlei ungeliebte Noch-Staatsbürger geschlossen hatte. Tausende der deportierten Juden fanden sich daher im Niemandsland zwischen den gesperrten deutschen und polnischen Grenzen wieder, ehe sich Polen schließlich nach Verhandlungen zur Aufnahme be-

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reit erklärte.63 An Polen zeigte sich die Problematik jeder homogenisierenden „Säuberungs“-Politik: Kein Staat war bereit, größere Zahlen von Fremden aufzunehmen. Hitlers Zynismus über die „Judenfreunde“,64 welche die Juden sozusagen aus der Entfernung liebten, sie aber möglichst nicht in ihrer Nähe haben wollten, traf durchaus etwas von der Zwiespältigkeit des rhetorischen Humanismus, wie er für demokratische Gesellschaften kennzeichnend geblieben ist und den bloßzustellen ihm gefiel, der ohnehin Demokratie wie Humanismus verachtete. Die im Ostkrieg eskalierende Gewalt wurde zunächst noch mit der „Bandenbekämpfung“ gerechtfertigt, ehe über das Verbindungsglied der „Euthanasie“ die systematische Vernichtung der bereits in Ghettos zusammengefassten Juden einsetzte. Die Überführung der Juden in Konzentrationslager bildet einen weiteren Schritt hin zur „Endlösung“ als physischer Vernichtung. „Vernichtung durch Arbeit“, als Struktur des KZs, und Vernichtung durch Vernichtung, als Resultat der Anwendung der Tötungsmethode der Euthanasie durch Vergasen, verbinden sich dann zur Realität der Vernichtungslager, zu deren Synonym „Auschwitz“ geworden ist und deren formales Bindeglied die geheime „Wannsee-Konferenz“ (20. 1. 1942) darstellt. Die Schritte der Ausgrenzung, Verdrängung, Deportation, Liquidation entsprachen zwar dem ideologischen Ziel der „Säuberung“ des eigenen Volkes von zerstörerischen „Fremden“. Ihre Realisierung jedoch ergab sich aus den jeweiligen und wechselnden äußeren Umständen, die bis 1940 die Vertreibung zum Ziel hatte, um danach auf die Vernichtung umzulenken. Aus der „Improvisation“ des Mordens zwischen 1940 und 1942 wurde die „Planung“ der systematischen Tötung.65 Das Geheimnis, mit dem man das alles umgab, das Vermeiden einer „direkten Rede“ vom Genozid bei Hitler und unter den hohen Funktionären des Regimes, als etwas, wovon selbst Himmler als Exekutor vor subalternen Exekutoren der Vernichtung nur „in aller Offenheit unter uns“ sprechen wollte, reflektiert nicht nur das Ungeheuerliche dieses Tuns, das den Tätern sehr wohl bewusst war. Es hat zugleich damit zu tun, dass man wohl wusste, wie wenig tragfähig der weit verbreitete phraseologische Antisemitismus für eine tatsächliche Vernichtungstätigkeit letzthin war: „Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber der ist ein prima Jude“.66 Bereits der Boykott jüdischer Geschäfte Anfang April 1933 sowie das Pogrom vom November 1939 hatten in der Bevölkerung keine Unterstützung gefunden und waren Aktivisten-Aktionen (organisiert von der Partei) geblieben. Den Genozid konnte man nicht öffentlich werden lassen, auch nicht im Gewaltzustand des Krieges. Man konnte ihn in diesem allerdings durchführen. Das Vermutungswissen um das, was im Osten geschah, blieb „Flüstern“, wie alles Geheimwissen der Diktatur, an dessen „Durchsickern“ sie jedoch ein Interesse hatte: Halbwissen, das umso mehr erschreckte und zum Flüstern anhielt. Eliminatorische Gewalt ist das Massaker im Schatten der Herrschaft. Der Staat ruft sie erst hervor, organisiert sie, rechtfertigt sie ideologisch – und wirft seinen Schatten über den Exzess an Gewalt, den er billigt, aber nicht öffentlich gemacht sehen will. Das Neue an der Vernichtungsgewalt des Holocaust bildet dabei die Bürokratisierung des massenhaften Mordens und ihre Realisierung durch die fabrikmäßige Organisation der Vernich-

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tung. Im Töten durch Giftgas erreicht die eliminatorische Gewalt ihr Extrem, weil ihre Ausübung völlig anonym geworden ist, und weil sie zugleich ihre zeichenhafte Struktur offenlegt, nämlich die Verwendung eines chemischen Stoffes (Zyklon B), der zur Vertilgung von Ungeziefer verwendet worden ist. Um den bürokratischen Ablauf der Vernichtung nicht zu stören, versuchte die SS sowohl in den Lagern wie in den Ghettos kollaborierende Strukturen aufzubauen und die Mordaktion zu verbergen, durch die Bezeichnung der Gaskammern als Duschräume in den Lagern, durch die Behauptung in den Ghettos, Juden würden zu Arbeitseinsätzen abtransportiert. Das Forträumen der Leichen, das Verbrennen war Aufgabe jüdischer Häftlinge, das Benennen von zu deportierenden Personen die Aufgabe der Judenräte in den Ghettos. Doch Kollaboration ist nur dann zu haben, wenn die Kollaborierenden mit ihrem Überleben rechnen können. Bedrohte man sie selbst mit Liquidation, so brach der Kollaboration die Basis weg. Wo es Aufstände gab, hatten die Liquidatoren sie selbst provoziert. Der Aufstand im Ghetto von Warschau war die größte jüdische Selbstverteidigung, „der erste nationale militärische Aufstand der Juden seit dem Aufstand von Bar Kochba“ gegen die römischen Besatzer Israels.67 33 Tage lang wurde im April und Mai 1943 im Warschauer Ghetto gekämpft, ehe der Widerstand gebrochen und die Überlebenden in das Vernichtungslager abtransportiert worden waren. Zwischen 1942 und 1944 wurden jüdische Menschen aus allen Teilen Europas in die sechs Todeslager in Polen transportiert. Die einmal in Gang gesetzte Bürokratie der Vernichtung arbeitete mit steigender Intensität, selbst als die deutschen Fronten zusammenzubrechen begannen. Im ideologisch leer geräumten Bewusstsein der Liquidatoren an den Schreibtischen wie in den Lagern verselbständigten sich die Abläufe einer funktional-separierten Gewalt in unvorstellbarer Weise. Am Ende, als Russen und Amerikaner die KZ-Lager befreit hatten, waren Millionen tot, verhungert, an Seuchen gestorben, erschossen, erschlagen, vergast, vermutlich rund 5,1 Millionen. Für die Alliierten „war die Rettung der Juden nicht dringlich . . . Als Währung des Zweiten Weltkrieges zählten nur Kugeln, Granaten oder Bomben: wer über diese Mittel nicht verfügte, gehörte zu den vergessenen Armen des Krieges“.68 Die Juden im NS-Machtbereich waren die Armen des Krieges, weil sie nicht wirklich gewaltfähig waren. Der Warschauer Ghetto-Aufstand war ein Verzweiflungskampf und militärisch völlig bedeutungslos. Wer nicht zu den „Reichen des Krieges“ zählte, zu den Gewaltfähigen, dem versuchten die kriegführenden Mächte auch nicht zu helfen. Sie wollten den Krieg gewinnen und allein für das, was militärisch dazu beizutragen schien, waren sie bereit, ihre Mittel einzusetzen. Dass alliierte Aufklärer ab April 1944 Auschwitz fotografierten, aber nur an den dortigen Industriebetrieben Interesse zeigten, dass man allenthalben Eisenbahnlinien und Bahnhöfe bombardierte, um die deutsche Kriegswirtschaft zu stören, gleiches für die deutsche Vernichtungsmaschinerie aber nie ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, dass die Möglichkeit, zur Ermordung bestimmte Juden gegen Lastwagen „zu tauschen“, abgelehnt worden ist (1944), hat mit dieser „Kriegsarmut“ der Juden zu tun. „Zivilisten“ zählten nicht, nur „Krieger“: eine Logik, die den totalen Krieg auf beiden Seiten geprägt hat. Es ist eine prägende Logik geworden.

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Im totalen Staat verwirklicht sich die vollständige Verfügung über die Menschen im unbeschränkten und willkürlichen Zugriff auf Leib und Leben. Im Nationalsozialismus wurde dies im Holocaust erreicht. Im Bolschewismus beginnt es in der Deportation der Kulaken und der politisch instrumentalisierten Hungersnot (Holodomor), in der bereits der zu vernichtende „Klassenfeind“ mit einem nationalen Feind verschmolzen ist. Ab 1937 wurden ganz gezielt ethnische Gruppen als „Volksfeinde“ bestimmt, zunächst Volksgruppen, die als politisch unzuverlässig galten und meist in Grenznähe wohnten, so Polen, Finnen, Koreaner, Deutsche. 1944 wurden dann die widerspenstigen Bergvölker des Kaukasus (Tschetschenen, Inguschen) in Blitzaktionen festgenommen und abtransportiert. Man gab ihnen eine halbe Stunde Zeit, ihre Häuser zu verlassen – aus einem Land, das 6000 Jahre lang ihre Heimat gewesen war. Ausnahmen gab es nicht. Jeder musste gehen, mochte er der Partei noch so ergeben gedient, sich als Sowjetsoldat noch so ausgezeichnet haben. Wer Widerstand leistete, den liquidierte man. Über eine halbe Million, d. h. das gesamte Volk, wurde in das Innere der UdSSR transportiert, in versiegelten Eisenbahnwagons. Etwa 10 000 verhungerten, starben während des Transports, Zehntausende danach.69 Ein ähnliches Schicksal widerfuhr den auf der Krim lebenden Tataren. Immer wurde ethnisch selektiert, bei den schon stärker assimilierten Tataren blieben nichttatarische Personen verschont, wenn sie sich von ihren Ehepartnern trennten. Klassenunterschiede spielten ebenso wenig eine Rolle wie die Einstellung zum Sowjetsystem. Mit der in der Verfassung von 1936 erweiterten Form des „Volksfeindes“ wurden auch Nationalitäten in das bolschewistische Kampfbild einbezogen, das nicht nur offene Feinde zu vernichten suchte, d. h. solche, die mit Gewalt dem Bolschewismus entgegentraten. Auch mögliche Feinde mussten erkannt, ausgesondert werden und je nach gegebener Lage behandelt. Der Kampf gegen solch mögliche Feinde war von Beginn der Sowjetherrschaft an die Aufgabe der Politischen Polizei, des NKWD, der denn auch – unter Leitung Berijas – die Aktionen gegen Tschetschenen und Tataren geleitet hat. Den Staat wie die Gesellschaft zu homogenisieren war das Endziel des Bolschewismus. Die Homogenisierung des Staates erstrebte die Totalität der Herrschaft der Partei und die Beseitigung jeder Art von Gewaltenteilung, jeder Widerrede von Seiten der Bevölkerung. Sie erfolgte durch Gewalt, erhielt sich durch Gewalt, drohte jedem mit Gewalt, der sich widersetzte oder auch nur zu widersetzen schien. Die Homogenisierung der Gesellschaft parallelisierte die des Staates. Der „Sowjetmensch“ als Prototyp des Neuen Menschen konnte nur in einer Gesellschaft entstehen, die selbst homogen war. Nach der Beseitigung der Klassen geriet deshalb die Verschiedenheit der Völker im Sowjetstaat zunehmend in den homogenisierenden Blick, wobei die Kosaken eine Art Bindeglied gebildet haben zwischen „kulakischen“ und „ethnischen“ Volksfeinden. Wie die Tschetschenen hatten sie die frühe Sowjetmacht bekämpft: Als sie ihre Gewaltfähigkeit verloren hatten, verloren sie auch jenes elementare Recht, ohne welches alle anderen Rechte Phrasen bleiben mussten, nenne man sie Menschenrechte, Bürgerrechte, Eigentumsrechte oder was immer. Wer ein Volk aus seiner historischen Heimat vertreibt, kann kein anderes Recht anerkennen und kein Recht in Anspruch nehmen. Er braucht es auch nicht, denn er verfügt über die über-

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legene Gewalt, der gegenüber jede Rechtsforderung rhetorisch bleibt und die nun selbst Recht wird. Dieses „Gesetz“ ist das der Revolution und zugleich das Gesetz der totalen Herrschaft, deren Wesen darin besteht, unbeschränkt über bestimmte Menschen, Menschengruppen verfügen zu können, die demnach Objekte der Gnade oder Ungnade geworden sind, und zwar vollständig. Menschen aus ihrer Heimat zu vertreiben heißt, ihnen den „Lebensgrund“ zu entziehen, kulturell wie materiell. Verneint man das Erste: das Heimatrecht, so öffnet sich die Konsequenz des Letzten: die Vernichtung. Die Vertreibung der deutschen Juden etwa vor 1940, ihre Heimatlosigkeit auf Schiffen, für die sich kein Hafen öffnen wollte, wurde so zu einer Etappe auf dem Weg zur Vernichtung. „Life, liberty and the pursuit of happiness“, als „Menschenrechte“ revolutionär von den ihre Unabhängigkeit fordernden Amerikanern den britischen Kolonialherren entgegengehalten (1776), machen nur Sinn, wenn man auch mit nackten Füßen auf einem Stück Land stehen kann und nicht nur mit Soldatenstiefeln. 1776 war das noch so selbstverständlich, dass man dieses erste Recht nicht erwähnte, weil man daran nicht dachte. Zwar gab es da noch den sozusagen „zivilisatorischen“ Vorbehalt den Indianern gegenüber, deren Recht auf das Land man insofern einschränken wollte, soweit sie es in einer primitiven Weise nutzten, als Jäger und Sammler statt als Ackerbauern. Doch wurde prinzipiell das indianische Recht anerkannt, praktisch jedoch in dem Maße zerstört, in dem ihre Gewaltfähigkeit vor jener der Weißen zerfiel. Die „nackten Füße“ erhielten ihr Recht nur, wenn sie auch in Soldatenstiefel zu schlüpfen vermochten, was aber in keiner Pathosformel stehen kann, die vom „Menschen“ her argumentiert. Daran haben auch die zahlreichen Menschenrechtserklärungen seit der ersten „Bill of Rights“ nichts geändert. Zwar enthielt die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 Artikel, die dem Einzelnen das Recht zusprachen, nicht aus seiner Heimat ausgewiesen zu werden (Art. 9), jederzeit dorthin zurückkehren zu können (Art. 13) mitsamt dem Verbot eines willkürlichen Entzugs der Staatsangehörigkeit (Art. 15). Die Vertreibung der Bevölkerung aus einem eroberten Gebiet durch den Okkupanten widersprach auch der Haager Landkriegsordnung, die ausdrücklich den Schutz der Bevölkerung festschreibt (Art. 42–56). Dem gemäß verurteilte das Internationale Militär-Tribunal in Nürnberg Vertreibungen durch NS-Deutschland als Kriegsverbrechen. Dass Polen und Tschechien ein AusnahmeStatus im Zusammenhang der EU-Grundrechte-Charta zugestanden werden musste (2009), weil Vertreibung und kollektive Enteignung damit nicht vereinbar waren, gehört in den Nexus von Grundrechten, die „manchmal“ unantastbar sind (B. Dolezal). Das hat jedoch weder die Vertreibung der Deutschen noch die der Palästinenser noch die einer anderen Volksgruppe gehindert, die zwar nicht als solche geschützt ist, wohl aber alle Einzelnen, aus denen sie besteht. Der Soldatenstiefel machte den Unterschied. Die Gewaltfähigkeit definiert Rechte und die einzige Einschränkung ist, dass sie lange genug anhält, um die geschaffenen Tatsachen als Selbstverständlichkeiten erscheinen zu lassen. Das ist die ganze Logik ethnischer Säuberungen und die Erwartung derer, die sie durchführen. Es war die Logik Hitlers und Himmlers, der 1,5 Millionen Polen aus den 1939 an das Deutsche Reich angegliederten polnischen Provinzen in das besetzte zentral-

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polnische „Generalgouvernement“ vertreiben ließ, um 440 000 Volksdeutsche aus Osteuropa dort anzusiedeln. Es war die Logik der Alliierten, deren Moralist, Roosevelt, klug vorausschauend die Besiegten von der menschenrechtlichen Ethik seiner Atlantik-Charta ausgeschlossen hatte, deren Zyniker, Churchill, ohnehin der Meinung war, man würde genug Deutsche töten, um Raum zu schaffen für die zu Vertreibenden, und der dafür eintrat, dass endlich „reiner Tisch gemacht wird“.70 So viel Einigkeit wollte Stalin gewiss nicht stören. Für Polen und Tschechen jedoch war es eine einmalige Gelegenheit, nicht nur Rache zu üben, sondern endlich ihren Nationalstaat zu vollenden, die ethnische Homogenität zu erreichen. Vertrieben wurden nicht „Faschisten“, sondern Deutsche, Antifaschisten, Kommunisten, Sozialdemokraten so gut wie Nationalsozialisten und eben jene Zahllosen, die „dazwischen“ lebten, wie die meisten überall. Zurückbleiben mussten Zwangsarbeiter, zurückbleiben durften Personen, die als assimilierbar galten, weil sie früher für die tschechische oder polnische Nationalität optiert hatten oder entsprechende Ehepartner besaßen. In Polen benutzte man die während der NS-Zeit entstandene „Volksliste“ zur „Verifizierung“ von Personen, die man „re-polonisieren“ wollte. Alle Zeugnisse einer acht Jahrhunderte währenden historischen Anwesenheit sollten „entgermanisiert“ werden, zerstört, zumindest kulturell enteignet. Doch noch wichtiger als Triebkraft der Volksbewegung gegen die Deutschen war die materielle Enteignung, das Beutemachen. Viele Deutsche wurden in Lager gebracht, oft frühere KZs, wie Auschwitz, in denen zwischen einem Fünftel und drei Vierteln der Gefangenen starben. Misshandlungen, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit, Hunger und Verhungern waren alltäglich. Recht gab es für die Gewaltunfähigen keines. Sie lebten in einem rechtsfreien Willkürraum, in dem jene bestimmten, die nun gewaltfähig waren. 15 Millionen Menschen waren vertrieben worden, 2 Millionen tot. Eine Million hatte man in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit verschleppt, von denen mehr als die Hälfte zugrunde gingen. Deutschland war, wie Stalin in Potsdam bemerkte (18. 7. 1945), nur noch „ein geografischer Begriff“, aber eben kein politischer mehr, denn ihm fehlte das Entscheidende, es „hat keine Truppen“.71 Alles andere blieb Phrase. Das 20. Jahrhundert ist zur Epoche der eliminatorischen Gewalt geworden, der Gewalt der Bewaffneten gegen die Wehrlosen. Es ist daher zugleich das Jahrhundert der Vertreibungen geworden. Was 1915 begann, endete 1991 in dem, was nun als „ethnische Säuberung“ zum öffentlichen Begriff zu werden begann. Ausgelöst durch den Zerfall Jugoslawiens versuchte Serbien als wichtigster Teilstaat auch die serbischen Minderheiten in den anderen, nach Unabhängigkeit strebenden Teilstaaten an den eigenen Staat anzuschließen und im überwiegend von Albanern bewohnten Kosovo die serbische Machtstellung auszubauen. Ein Bürgerkrieg begann, der rasch zu Vertreibung und Massaker fortführte. Vor allem in Bosnien mit seiner großen serbischen Minderheit eskalierte die eliminatorische Gewalt neben Vertreibung und Massaker zu ihren typischen Exzessen, der Errichtung von Lagern, der Vergewaltigung,75 der Plünderung, der Zwangsarbeit, dem Terror des völligen Ausgeliefertseins an das Belieben der Gewaltfähigen. Mit dem Massenmord in Sebrenica ( Juli 1995), wo serbische Einheiten die gewaltfähigen Männer zwischen 16 bis 65 liquidierten, erreichte diese Gewalt einen ersten Höhepunkt.76 Eine zweite Welle der Eska-

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lation erfolgte mit dem Versuch, den Kosovo serbisch neu zu besiedeln, d. h. die auf rund 8% der Bevölkerung geschrumpfte serbische Volksgruppe zur Mehrheit zu machen. Das misslang nur deshalb, weil die eliminatorische Gewalt vor einer nun intervenierenden kriegerischen kollabierte. Die USA griffen ein (März bis Juni 1999) und Serbien musste das Gebiet aufgeben. Die Vertriebenen kehrten zurück. Die eliminatorische Gewalt will eine Gesellschaft, aus der „die Anderen“ verschwunden sind. Es ist die Utopie der Identität, die hier machtvoll wird, eine revolutionäre Utopie, die den Traum der „einen, unteilbaren“ Nation träumt. Die Fremdheit lauert unter dem Mantel der Normalität. Solange die Gewalt in Regeln gefasst wird, die für alle gelten und deren Einhaltung durch Sanktionen stabilisiert wird, dauert die Normalität an, leben die einen und die anderen nebeneinander her. Entsteht jedoch ein Zustand, in dem die Gewalt selbst „normal“ wird, droht sie eliminatorisch zu werden. Der Staat gibt seine „raison d’être“ auf, nämlich die Rechtlichkeit für alle zu garantieren, die seinem Zugriff unterliegen. Er verzichtet bewusst auf die Blindheit der Justitia, fordert ihr Einäugigkeit ab. Und er mobilisiert einen Teil seiner Bevölkerung als Mob, erlaubt ihm, an den „Fremden“ zu tun, was sonst verboten ist. Der Mob wird da stark, wo der andere schwach ist. Jemanden einen Fußtritt zu versetzen, der ohnehin am Boden liegt, jemanden totzuschlagen, der wehrlos ist – das ist sein Prinzip, das Prinzip eliminatorischer Gewalt, die nur dann erschrickt, wenn man ihr mit Gewalt droht.

Terrorismus Der Terrorismus ist ein Phänomen der Modernität, nicht eigentlich der modernen Gesellschaft. Das Wesen der Modernität besteht in der Auflösung von Statusgruppen, denen die Menschen nach ihrer sozialen Geburt dauerhaft zugeordnet werden, zu konkurrierenden Individuen. Die „große Kette des Seins“ löst sich auf, die bislang den inneren Zusammenhang und Zusammenhalt der Welt wie der in sie eingefügten Gesellschaft gewährleistet hatte. Die Gesellschaft stürzt aus ihrer Eingebundenheit in eine göttliche Ordnung. Sie reduziert sich auf sich selbst, so wie sie den Menschen auf sich selbst reduziert, auf Materie, die leben will. Wenn es aber das Kriterium des Menschseins ist, das eigene Leben zu denken, ergibt sich damit eine neue Situation, denn nun muss der Mensch die Begründung seines Seins aus sich selbst heraus ableiten. Das ist der Ursprung der modernen Freiheit wie es zugleich zum Ursprung aller modernen Ideologien geworden ist. Die Ideologien bieten Ersatz für die Zerstörung des Ganzen, doch sie tragen die Spuren dieser Zerstörung immer in sich. Der geheime Kern der Ideologie ist das Wissen um ihre letzte Vergeblichkeit, ist ihr Nihilismus. Um diesen Kern wird eine hohe Mauer errichtet: die Utopie, d. h. die Behauptung einer Unendlichkeit diesseits der Transzendenz, aber jenseits der Geschichte. Wirft die Leugnung der Transzendenz den Menschen auf seine Geschichte zurück, so öffnet die Behauptung einer Gesellschaft jenseits der Geschichte die Möglichkeit, den absoluten Sinn in anderer Weise zu rekonstruieren. Diese Gesellschaft ist nicht die

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moderne Gesellschaft, deren Eigenheit die Vielfalt, Konkurrenz, der Zweifel ist. Die Modernität entstand aus der absoluten Abwendung von der Alten Gesellschaft der Jahrtausende, ihrer kosmologisch gerechtfertigten Hierarchie der Herrschaft, der agrarischen Zyklen, der Fatalität unter König und Gott. Die Modernität war immer radikal, dualistisch, aktivistisch. Sie spannte die Natur so gut auf die Folterbank wie den Menschen, wenn es darum ging, die „Wahrheit“ zu erkennen. Die Modernität treibt die moderne Gesellschaft aus der alten hervor, aber sie wird in ihr nicht vollkommen, weil diese Gesellschaft dann kollabieren müsste, zum Stillstand käme. Eben dies aber ist der Gedanke der Utopie, nämlich die stillgestellte, absolute Gesellschaft. Sie soll erreicht werden durch die Zerstörung der modernen Gesellschaft, die nichts Absolutes kennt, sondern nur Relatives zulässt. Der Terrorist ist dann einer, der Absolutheit fordert, der mit der Gesellschaft identisch werden will und es nicht kann, weil er das „Absolute“ in ihr nicht erkennen kann. Folgerichtig waren die ersten „Terroristen“ (auch dem Namen nach) die Exekutoren des revolutionären Terrors der Jahre zwischen 1793 und 1794. In der totalen Negation des Überkommenen suchten sie Traum und Verwirklichung der Modernität als Traum und Wirklichkeit der Gewalt. Der Terrorist wird Teil der Gesellschaft durch den Schrecken, den er in ihr verursacht, durch den er sich in ihr konstituiert. In der Radikalität seiner Ablehnung der bestehenden Gesellschaft „inmitten der Gesellschaft“ gewinnt er ein „Menschsein“ zurück, das „ideal“ ist, völlig abstrakt, nicht individuell. Er wird so zum wahren, nicht entfremdeten Menschen, und er verwirklicht damit das Menschsein für alle durch sein Tun, d. h. durch Gewalt. Humanität und Gewalt werden eins, denn ein „richtiges Leben im falschen“ kann es nicht geben, was heißt, dass das falsche weggesprengt werden muss, damit die Gesellschaft richtiggestellt werden kann, identisch gemacht mit dem Leben derer, die das richtige Leben leben. Gelingt die Eroberung der Macht, wird der Terror zur bürokratischen Apparatur, zum Gewaltkern der neuen Staatsorganisation durch Geheimpolizei, Straflager, Volksgerichte, willkürliche Liquidierung. Der Terrorismus wandert von der Straße in das Amtsgebäude und wo er sich dagegen neu zu formieren sucht, hat er nicht lange Bestand. Das Geheimnis des Erfolgs im asymmetrischen Kampf für den Überlegenen besteht seit jeher darin, auf die Symmetrie-Ebene herabzusteigen, also den Partisanen wie ein Partisan zu bekämpfen, den Terroristen wie ein Terrorist. Der Terrorist ist am wirkungsvollsten in einer zergliederten Gesellschaft, in der er seinen Terror primär als Agitation durch die Aufsehen erregende Tat vollzieht. Seine schwere Fassbarkeit hat damit zu tun, dass er in Kleinstgruppen organisiert ist, in Kadern ohne Masse. Sie bedienen sich zwar gelegentlich der Masse (in Demonstrationen etwa) und appellieren unentwegt an sie (durch Propaganda wie durch Einschüchterung), aber es gelingt ihnen nie, sei es (begrenzte) Masse zu werden (als Partei, als Partisanenarmee), sei es, die Massen zu ergreifen (als Volksbewegung, Aufstand). Denn zwar hoffen alle Terroristen, mit ihren Taten von der Einschüchterung im Einzelnen zur Massengewalt des Bürgerkrieges überleiten zu können, doch ist dieser Terror als erste Phase in einer eskalierenden Gewaltabfolge lediglich in bäuerlichen Gesellschaften erfolgversprechend gewesen. Der klassische Terrorist des exemplarischen Schreckens, des fallweisen Terrors,

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blieb bisher in jenem terroristischen Zirkel gefangen, in dem propagandistische Morde die Terroristen nur noch weiter isolierten und am Ende zu ihrer Zerstörung führten. Dieser Terrorist „der Methode“ lebt in den Städten, anders als ein Terrorist „der ersten Phase“, der auf eine Guerrilla vorausblickt, die nur auf dem Land entwicklungsfähig ist. Die Verletzlichkeit wie die Stärke des Terroristen hat hier ihren Grund: Er kann besiegt werden, wenn man seine zahlenmäßig geringen Kader fasst, inhaftiert, liquidiert. Er ist zugleich schwer zu fassen, weil er in einer zerstreuten Gesellschaft zerstreut operiert, in ihr lange Zeit als „Schläfer“ untertauchen kann, in eher losen Netzwerken existiert und von eher losen Netzwerken aus Sympathisanten gestützt wird. Sie sind es dann auch, die seine „Aura“ ausbilden, sein Heldenbild als Kämpfer für eine „gerechte Sache“, die in den Medien und mit medialen Auftritten für ihn werben. Hierbei wird die für den Terrorismus kennzeichnende ideologische Kriegsführung in seinen Trägergruppen deutlich. Es sind die Wortproduzenten, die ihn ausmachen, personell wie rhetorisch, und die sich dabei des Utopie-Besens bedienen, der das Bewusstsein von moralischen Einwänden auskehrt. Da diese Moral Teil des „falschen Lebens“ ist, dem man in totaler Negation das „richtige“ entgegensetzt, wird sie gleichgültig. Sie markiert keine Grenze der Tat, für die es keine Grenzen mehr gibt. Auf diese Weise radikalisiert sich der Terrorismus über die totalitäre Ideologie hinaus zu einer „Philosophie“ der Tat, die in der Gewalt eine existentielle Grunderfahrung sucht, die versucht, in Bedrohung und Bedrohtwerden sich selbst noch als sinnhaft vorhanden festzustellen. Das fasziniert nicht wenige Intellektuelle, die an der bruchstückhaften Modernität der Gesellschaft leiden, die sie nicht in eine kollektive Identität zu integrieren, in ihrer leidenden Individualität auszulöschen vermag. Sie und ihresgleichen bilden die sozialagitatorische „Aura“ um jene Halbintellektualisierten, die aus der „falschen“ Gesellschaft herausgefallen sind, und die „Bomben ins Bewusstsein werfen“, weil sie unfähig sind, es mit Begriffen zu tun. Der Terrorismus ist die große Gewalt im kleinen Leben und in dieser Hinsicht ist er vom Stoßtruppenführer „in Stahlgewittern“ kaum zu unterscheiden. In der riesenhaften, mit Anonymität überwältigenden Gewalt des Krieges ist für jene existentielle Tat kaum Raum, mit welcher ein Mensch entdeckt, dass er noch am Leben ist. Derlei „Entdeckungen“ gehören zu gebrochenen sozialen Zuständen, in denen gebrochene individuelle Leben nicht mehr durch sozialen Druck kontrolliert werden können. Krise und Terrorismus gehören demnach zusammen, was besagt, dass es Formen terroristischer Gewalt schon vor dem Durchbruch der Modernität gegeben hat, so gut wie Kriege und Aufstände. Geheimbünde, die mit gezielten Morden Schrecken zu verbreiten suchten, kennt man seit den jüdischen „Sicarii“ des 7. Jahrhunderts und den islamischen „Assassaniden“, rund fünf Jahrhunderte später.74 In einigen Ländern Europas wurde der Terrorismus später geradezu endemisch, so in Spanien, wo sich der Bogen von der Guerrilla des frühen 19. Jahrhunderts bis zum Bürgerkrieg (1936–39) und bis in die Gegenwart des baskischen Terrorismus spannt, in Irland mit dem langen Bogen von der Cromwell’schen Eroberung bis in die nordirische Gegenwart. Und gegen Ende des 19. Jahrhunderts sah sich die westliche Welt von Russland über Westeuropa bis zu den USA von terroristischen

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Anschlägen heimgesucht, die hochgestellten Personen galten. Das 20. Jahrhundert ist schließlich in seiner explosiven Gewalttätigkeit auch zu einem Zeitalter des Terrorismus geworden, in den zwanziger Jahren wie nach 1945, zuerst im Kontext des antikolonialen Widerstands (wie in Palästina, Vietnam, Algerien), dann – seit den sechziger Jahren – im Kontext einer anti-imperialistischen Emphase, schließlich – symbolisiert durch den 11. September 2001 – im Kontext eines islamischen „Jihad“. Für all diese Formen terroristischer Gewalt ist die Auseinandersetzung mit der Modernität grundlegend. Damit bezeichnet auch hier die Französische Revolution die Grenzzone zu älteren Erscheinungen sektiererischer Schreckensgewalt. Nicht nur wird in ihr der Terror zum bürokratisierten Mittel staatlicher Herrschaft in einer zerrissenen Gesellschaft, in der eine kleine Minderheit die Macht an sich gerissen hat. Mit ihr verbindet sich zugleich der Schrecken mit der Tugend, denn da die „neuen Männer“ an der Macht über keine Legitimität verfügen, deren Zerstörung erst ihre totale Macht ermöglicht hat, benötigen sie eine neue Form der Rechtfertigung für ihre Gewalt: eine, die keine Grenzen setzen darf, weil die Gewalt selbst nur als eine grenzenlose ihre Machtstellung zu sichern vermag. Der moderne „terrorisme“, wie das jakobinische Regime bezeichnet wurde, benötigt das Theater der Tugend, die Inszenierung der Öffentlichkeit durch Gewalt, gleich, ob er sich im Staat verfestigt oder „auf der Straße“ zuschlägt. Gewalt und Kommunikation verflechten sich zu einer eindimensionalen Strategie, denn so wenig die terroristische Gewalt ein Gefecht will, bei dem der Gegner zurückschießt, so wenig will die terroristische Rede eine sprachliche Auseinandersetzung, in welcher der Gegner antworten kann. Terrorismus ist totalitär, weil er keine Achtung vor dem lebendigen Menschen hat, den er mit jenem Ideal des Menschen vergleicht, welchem nur er entspricht: „Kein Mittel ist verbrecherisch, wenn es einem heiligen Zweck dient“, der Herstellung der „Gleichheit“ in einer Gesellschaft der Identischen, wie das F. Buonarroti (1761–1837) behauptete, der als Begründer des „Kommunismus“ gilt. Hier hat bereits der Wandel von der älteren Vorstellung des Tyrannenmordes zur modernen Konzeption systematischen Liquidierens stattgefunden. Inkarnierte sich das Böse vordem im tyrannischen Herrscher, so war nun die ganze Gesellschaftsordnung vom Bösen geprägt. Sie musste man „ermorden“ und nicht nur einen Einzelnen, der zu ersetzen war, nicht er trug die Herrschaft, sie trug ihn und überdauerte ihn. An dieser Überlegung setzte die ganze, mit Buonarroti entstehende Theorie des Terrorismus an, als „Philosophie“ des politischen Mordes, die vom Bürgerkrieg träumte und vom hunderttausendfachen Tod, mit dem man die Gesellschaft zu „reinigen“ gedachte.75 Der Terrorismus war da am stärksten, wo der Gegensatz von Modernität und Alter Gesellschaft am ausgeprägtesten war: in Russland gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wo die Intelligenzija an den Terror „wie an Gott“ geglaubt habe, wie ein Zeitgenosse bemerkte.76 Diese pseudoreligiöse Anbetung des Terrors reflektierte die Lage der schmalen, doch für die Entwicklung des Landes entscheidenden Intelligenzschicht zwischen einem westlichen Modernitätsmodell, das sie selbst vertrat, einer despotischen Herrschaftsordnung und religiös geprägten bäuerlichen Massen, denen jede Modernität fremd, wenn nicht verhasst blieb und die nichts wollte als die Selbstherrschaft in der autarken Landgemeinde. Das Ge-

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waltpotential der Bauern war gewaltig, aber seine Explosion drohte die Stadt und die allein dort existenzfähige Intelligenzija in die Luft zu sprengen. Die russischen Terroristen versuchten deshalb, das zaristische System zu zerstören, indem sie seine menschlichen Stützen in Furcht versetzen, um so die Modernisierung zu totalisieren und sich zugleich an die Macht zu bringen. Auf diese Weise sollte eine Explosion von unten verhindert werden. Es war dann Lenin, der seit 1905 den Terrorismus in seine Version des Kommunismus einbezog und sie nach 1917 umsetzte, als Umsturz, als Machtsicherung durch Bürokratisierung des Terrorismus zum System, als Entkulakisierung. Die „Ermordung der Mörder“, die Gewinnung der „Humanität durch Barbarei“, die Verachtung der „bourgeoisen“ Moral, die Kennzeichnung der Feinde als „Schweine, Parasiten, Abschaum“, die Überzeugung, eine kleine, verdeckt operierende Kadertruppe von Aktivisten könne als Katalysator für den revolutionären Umsturz wirken: Das ist die Essenz des Terrorismus, wie sie in den Schriften der Theoretiker der „Aktion“ ausbuchstabiert wird, von Michael Bakunins „Revolutionärem Katechismus“ (1871) an. Die Methoden bleiben dabei gleich, nur die Mittel ändern sich. Sprengstoffanschlag, Attentat, Raubüberfall, Entführung sind die Methoden geblieben, modernisiert durch neue Techniken, wie die Brief- und Autobombe, Maschinenwaffen statt Dolch und Pfeil, Flugzeugentführung, Nutzung von Panzerabwehrraketen und Lastwägen – oder Flugzeugen – als Waffen oder Sprengstoffträger. In gewisser Weise praktizieren die Terroristen eine Strategie der „Entscheidungsschläge“ und der kurzen Zeit, im Unterschied zum Partisanen, mit dem sie aber die Konzeption von den zwei Kampffeldern teilen, wenngleich mit unterschiedlicher Gewichtung, und auch die Art der Kampfführung aus dem Verdeckten, im Modus des Irregulären, doch auch hier mit anderer Zielsetzung. Die Entscheidungsstrategie hat damit zu tun, dass der Terrorist zwar rhetorisch für das „gemeine Volk“ kämpft, aber dort keinen nennenswerten Rückhalt findet.77 Zudem unterschätzt er auf dramatische Weise die militärische Widerstandsfähigkeit der Regierung, die er beseitigen bzw. der er seinen Willen aufzwingen will, da er selbst nicht militärisch oder paramilitärisch kämpft, wie es der Partisan tut. Der Partisan stößt stets auf den harten Kern des Staates, eben die Armee, die er besiegen muss, um siegen zu können. Seine Gewalt richtet sich vor allem gegen Bewaffnete, Soldaten und Polizisten, und nur sekundär gegen Zivilisten. Daher bleibt ihm nichts anderes übrig, als schließlich selbst zur Armee zu werden. Eben dazu ist der Terrorist unfähig, aller pseudo-militärischen Floskeln zum Trotz, der Roten „Armee“-Fraktion, der Roten „Brigaden“. Diese Unfähigkeit zum Militärischen bildet gleichermaßen die Bedingung der „anarchischen“ Kampfweise, getragen von quasi-feudalen Personenbeziehungen mit nur phraseologischer Ideologisierung. Aus diesem Grund spielt die Präsenz auf dem zweiten Kampffeld noch eine ungleich größere Rolle als im Partisanenkrieg: die Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung, vermittelt durch die Medien, denen man eine dramatische Berichterstattung bietet, vermittelt durch verständnisvolle Intellektuelle, die rhetorischen – und zuweilen räumlichen – Unterschlupf bieten. Als Propaganda durch Tat inszeniert sich der Terrorismus in den Medien, insbesondere im Fernsehen, als Teil einer Unterhaltungsindustrie, die im kollektiven Bewusstsein die Sugges-

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tion von Wirklichkeit erzeugt, eine Suggestion, der die Terroristen bereits längst erlegen sind. Die Suggestion des allgegenwärtigen Terrorismus, damit der Allmacht des Terroristen und der Ohnmacht des Staates, soll sozusagen den Staat im ideologischen „Überbau“ zum Einsturz bringen. Wenn die Träger der Staatsgewalt Angst haben, die Massen aber keine Angst mehr vor ihnen empfinden, hätte der Terrorismus sein Endziel erreicht. Er hat es – bisher zumindest – nirgendwo erreicht. Der Terrorist zielt auf den spektakulären Feind, von dem er sich einen medialen Mehrwert verspricht. Nicht die Zivilisten, sondern Soldaten und Polizisten sind seine „Kollateralschäden“. Das legt das zentrale Kampffeld der Öffentlichkeit ebenso nahe, wie es die Unmöglichkeit bedingt, territorial zu kämpfen, Territorium zu gewinnen, auszuweiten, gesicherte Rückzugsräume zu schaffen. Die hohe Mobilität des Terrorismus hat mit dieser urbanisierten Gewaltform zu tun. Der Terrorist ist ortlos, physisch wie psychisch heimatlos. Er hat sich, häufig in einer radikalisierten Form pubertierenden Protests gegen sein soziales Milieu, aus den integrierenden Formen der Gesellschaft (Arbeit, Familie, Schule, Hochschule) gelöst und erfährt in der wachsenden Anonymität der verdichteten Stadtwelt die Randgruppe der Verweigerung und Gewalt als neue integrierende Intimität. Solche Randgruppen gibt es immer. Ob sie militant werden, hängt vom gesellschaftlichen Zustand ab, von den „zerbrochenen Fenstern“ im kollektiven Ordnungsbewusstsein, kaum von solchen in der physischen Umgebung, wie sie für das Wuchern wilder Gewalt wesentlich sind. Radikale Intellektuelle, also solche, die nach einer einfachen Weise suchen, sich geistig zu profilieren und durch solchen Nonkonformismus öffentlich bemerkt zu werden, sind als Fensterbrecher tätig und (re)produzieren Schlagwörter, die fast alles entschuldigen – und was sie nicht entschuldigen, das verharmlosen sie. Die „Hauptschuld“ trifft stets „die Gesellschaft“, „das System“ ist unmenschlich und muss zerstört werden, der „eindimensionale Mensch“ ist natürlich nicht der Terrorist, sondern sein Gegner, der wahre Terror ist der „Konsumterror“ und nicht jener, der liquidiert, Ho Chi-Minh ist ein freundlicher „Onkel“ usw. Die verständnisvollen Intellektuellen helfen beim Zerbrechen der symbolischen Fenster: Wenn ihre eigenen Scheiben klirren, in ihren Häusern, Instituten, holen sie die Polizei. Terrorismus ist kein „Krieg“ und ihn durch Krieg zu bekämpfen, besiegen zu wollen (war on terror) ist daher zwecklos. Terroristische Gewalt kennzeichnet einen eigenen Typus in der Matrix von Gewaltformen und wie jede dieser Formen ist auch er historischen Veränderungen unterworfen. Der moderne Terrorismus „der Straße“ trennt sich von der terroristischen Methode, durch Angst Gehorsam zu erzeugen, sei es des Partisanen, sei es des totalitären Regimes. Er reflektiert die revolutionäre Doktrin, dass die bestehende Gesellschaft und Moral verderbt, ihre Bequemlichkeit Feigheit sei und dass es gelte, sie nach der Utopie der identischen Gesellschaft richtigzustellen, mit Gewalt, die damit zugleich die Quelle wahrer Tugend, echter Humanität werde. Damit trennt sich der Terrorismus vom Partisanen, der einen richtigen „Krieg“ führt. Der Partisan braucht „Territorium“, dem Terroristen genügt die ganze Welt. Sein „Raum“ ist die globale Stadt, die sich sowohl im Inneren multikulturell zergliedert wie nach außen immer größere Teile der Weltbevölkerung erfasst. Dieser Raum dehnt sich fort ins Internet als das erweiterte Kampffeld zeitge-

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nössischer Öffentlichkeit. Die hier praktizierte „symbolisierende“ Kampfführung ist die Kausalität des Spektakulären hin zum ersten Kampffeld der realen Gewalt in Angriffen auf spektakuläre Ziele, auf Personen (Politiker, Manager, Touristen) wie Objekte (Hotels, U-Bahn, Flugzeuge, Infrastruktur wie Strom- und Wasserversorgung). Die immer intensivere Nutzung der Infrastruktur, die Minimierung der individuellen Eigenständigkeit durch exzessive Arbeitsteilung, das daraus sich ergebende Bewusstsein extremer Abhängigkeit, das in ein unbedingtes Sicherungsbedürfnis umschlägt, schließlich die Erfahrung eines langen Friedens in den westlichen Gesellschaften: Hier öffnete sich dem Terrorismus ein idealer Zugang zu den „Kampffelder“: dem materiellen, auf dem fokussierte Anschläge Schneeballeffekte auslösen können, sowie dem sozialpsychischen, auf dem Nadelstiche wie Keulenschläge wirken. Der Terrorist übernimmt dann die in der konventionellen Kriegsführung mit dem Zweiten Weltkrieg realisierte totale Kriegsführung, in der sich die Kriegsentscheidung zunehmend auf Infrastruktur und Sozialpsychologie verlagert, auf die „weichen“ Ziele von Ökonomie und Kollektivbewusstsein, fort von den „harten“ Zielen des Militärs. Diese Einfügung des Terrorismus in die Globalisierung mit ihren vielfachen Netzwerken: durch Migration, elektronische Vernetzung, Transportsysteme usw. wurde durch seinen Kleingruppencharakter begünstigt. Die damit einhergehende Relativierung des territorialen Bezugs hat folgerichtig den „ethnischen“ Terrorismus (Nordirland, Baskenland) marginalisiert, den Islamismus aber gestärkt. Der Terrorismus ist somit von einer innerstaatlichen zu einer internationalen Herausforderung geworden.78 Damit verliert auch die „zu befreiende“ Bevölkerung an Bedeutung, weil sie sich selbst symbolisch nicht mehr genau festlegen lässt. Die Gewaltanwendung wird pauschaler, der Griff nach Massenvernichtungsmitteln wahrscheinlicher. Allerdings besaß auch der europäische Terrorismus der 60er Jahre internationale Bezüge, mit der sogenannten Stadtguerrilla Lateinamerikas als Vorbild, der Verbindung mit dem palästinensischen Terrorismus. Und die Bedeutung der Bevölkerung war bereits mit der Rezeption des „Foquismo“ minimiert worden, der von Che Guevara formulierten Vorstellung eines revolutionären „Fokus“, d. h. der sich militärisch organisierenden Kadertruppe, die ohne die – lethargischen – Massen und – kompromisslerischen – Parteien eine Avantgarde-Revolution durchführen sollte. Dass Guevara an einen Guerrilla-Kampf auf dem Land dachte und er am maoistischen Schema der Entfaltung des Partisanenkrieges festhielt, wurde von seinen Bewunderern ebenso vergessen wie die Tatsache, dass der alle blendende Erfolg der kubanischen Revolution von 1958 mit der Fokus-Theorie nur sehr bedingt zu erklären war. Die irreale Vorstellung, eine kleine Gruppe von Terroristen könne eine „revolutionäre Situation“ herbeiführen und schließlich die Macht übernehmen, erhielt durch die Fokus-Vorstellung konzeptionelle Plausibilität. Bei der bundesdeutschen „RAF“ hieß das dann „Primat der Praxis“, schon weil sie über keine Theorie verfügte bzw. den schieren Dualismus von Freund und Feind dafür hielt. Damit verbindet sich die zweite terroristische StrategieIdee, nämlich durch gewissermaßen „fokussierten“ Terror auf Repräsentanten des „Systems“ eine Gewaltspirale in Gang zu setzen, in welcher der Staat zu immer umfassenderer Repression gezwungen werde. Das würde ihn dann letztlich als etwas zeigen, das nichts als

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Gewalt sei und nur durch Gewalt beseitigt werden könne. Denn die Stärke des modernen Staates, sein Monopol der Gewalt, kann auch seine Schwäche werden, weil er es unverzüglich verteidigen muss, wenn es ihm streitig gemacht wird. Gelingt ihm das nicht, droht eine Erosion, die in eine ähnliche Spirale einmünden kann wie eine eskalierende Reaktion. Sich dieser Gewaltspirale zu verweigern und die Terroristen damit in ihrer sozialen Isolation zu fixieren und auszuhebeln, hat sich folglich als die wirksamste Methode ihrer Bekämpfung erwiesen. Beim Terrorismus handelt es sich demnach um eine eigenständige Form von politischer Gewalttätigkeit, die sich seit ihrer Entstehung gegen Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend zu einer Struktur verdichtet hat. Der Zweck des Terrors besteht stets in der kollektiven Erregung von Angst durch selektive Tötung und Bedrohung, die vom Terroristen „der Straße“ als einem Schwachen gegen einen Starken, den Staat, gerichtet wird. Dabei kam der „rote Terrorismus“ der 1970er Jahre, vor allem in Westdeutschland und Italien, nie über bloßen Aktionismus hinaus. Die Ideologie beschränkte sich auf wenige formelhafte Schlagwörter aus Marx und Lenin, vor allem aus Guevara, Fanon, Benjamin und Brechts „Maßnahme“, die zur Bezugslektüre der „Stammheim“-Häftlinge geworden ist. Der Hohn auf die „Marx-Bibelforscher“,79 die Exegeten der „Klassiker“, neomarxistisch oder orthodox, gehört in diesen Zusammenhang eines ideologischen Analphabetismus, der sich nur noch auf der Ebene der Fäkalausdrücke bewegen konnte, der „Schweine, Votzen, Arschlöcher“, denen mit einigen Phrasen eine politische Bedeutung unterschoben werden sollte, mit „Antifaschismus, Antiimperialismus“ und „Auschwitz“. Wo man sich selbst mit „Auschwitz“ identifizierte,80 hielt man sich für unangreifbar und konnte alle anderen angreifen, jüdische NS-Verfolgte eingeschlossen, den „realexistierenden Sozialismus“ ausgeschlossen, der das Terror-Habitat Berlin so sorglich eingemauert hatte und dem bundesdeutschen Terrorismus als „nützlichem Idioten“ nach der Klugheitsregel Lenins Zuschlupf bot, so sehr er ihn auch sonst verachten mochte. Die Täter der RAF radikalisierten sich schon früh gegen eine Gesellschaft, der sie ein moralisch Absolutes abforderten, wie sie es für sich selbst in Anspruch nahmen. Die anti-autoritäre Emotion der Jugendphase, ideologisiert in der Studentenbewegung der 60er Jahre, definierte nicht nur das eigene Gutsein als Negation des Schlechten bzw. des dafür Gehaltenen. Sie definierte zugleich das derart „erkannte“ Gutsein als das Absolute und damit alle anderen als entweder zu Errettende oder zu Liquidierende. Das eigene gesellschaftliche Versagen wird als Befreiung von „autoritären“ Normen ausgegeben, die zu einer neuen „Haut“ führt, so wie sie der Kolonialisierte erwirbt, wenn er den Kolonialisten erschlägt und mit ihm das koloniale „System“. Das ist die Sympathie für F. Fanons Anti-Imperialismus als Rhetorik, so wie Guevaras Fokus die Rhetorik für den „Krieg von 6 gegen 60 000 000“ (H. Böll) liefert und Brechts „Maßnahme“ die Rhetorik für die Zärtlichkeit der Gewalt. Was diese „entlaufenen Kinder der Bourgeoisie“ verbindet, ist das Ressentiment, das durch Ideologie bzw. deren Phraseologie das Bewusstsein von ansozialisierten Normen freiräumt und über phraseologische Gewalt („Macht kaputt, was euch kaputt macht“) bei einigen die symbolische Gewalt von Demonstrationen und Besetzungen in den „bewaffneten Kampf“ mün-

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den lässt: „Die Bullen sind Schweine,. . . der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch . . . es ist falsch, überhaupt mit solchen Menschen zu reden, und natürlich kann geschossen werden.“81 Diese erste „offizielle“ Verlautbarung einer terroristischen Kleingruppe um die Journalistin Ulrike Meinhof und den berufslosen „Aktivisten“ Andreas Baader zeigt das Niveau dessen, was sich nun erstmals „Rote Armee“ nannte, ehe sie in gewisser Anerkennung ihrer Größe die „Fraktion“ hinzusetzte. Der Bodensatz einer Ideologie „des Klos“ zeigte sich in allen Verlautbarungen der RAF und der mit ihr sympathisierenden Szene, exemplarisch im „Mescalero-Nachruf“ in der Zeitung des Göttinger Studentenverbandes nach der Ermordung des Generalbundesanwalts (1977) und der Reaktion einer studentischen Vollversammlung, einschließlich „verständnisvoller“ Professoren.82 Die dadurch unter den Sympathisanten erzeugte „klammheimliche Freude“ sollte den Rückhalt der Terroristen unter der radikalen Linken festigen und sozusagen ein Wellen-Modell in Gang halten, bei dem der ins Wasser der Bevölkerung fallende Stein (die terroristische Tat des „Kaders“) eine erste Welle erzeugte (die „Legalen“ der unterstützenden „Komitees“, die „Autonomen“), eine zweite Welle (die potentiellen Sympathisanten der außerparlamentarischen Linken), eine dritte Welle (die schwächste und weiteste, mit den Medien und der von ihnen erzeugten Öffentlichkeit). Was im April 1969 mit der Brandstiftung in zwei Kaufhäusern begann, endete 1992 mit der „offiziellen“ Selbstauflösung der Gruppierung, nun bereits der „dritten Generation“, nachdem die beiden vorhergehenden aufgedeckt, verhaftet, z. T. erschossen worden waren oder sich selbst getötet hatten. Der zunehmende Fahndungsdruck der Polizei, die erbitterte Ablehnung der großen Mehrheit in der Bevölkerung sowie das Abrücken sympathisierender Schichten, die selbst „Establishment“ wurden und in Atomprotest und ökologischem Imperativ eine systemkonforme politische Linke etablierten, ließen die Isolierung des Terrorismus vollständig werden. Der erhoffte „Welt-Bürgerkrieg“, die Schaffung „vieler Vietnams“, auch in Westdeutschland (der Kaufhausbrand als das brennende Hanoi symbolisiert und realisiert), war ausgeblieben. Im Gegenteil: China, Vietnam begannen selber den Kapitalismus anzulocken und im ostdeutschen „Arbeiter- und Bauernstaat“ optierten die Werktätigen für Kaufhäuser und für jene Vielzahl von Waren und Auffassungen, die dem „absoluten Menschen“ so verhasst ist. Die Zerstörung der Sprache führt folgerichtig zur Zerstörung durch Gewalt. Dem hermeneutischen Charakter des Verstehens durch Verständigung wird die Behauptung des Absoluten entgegengesetzt. Wer sich dem Absoluten unterwirft, fühlt sich frei, fühlt sich als dessen Werkzeug, fühlt sich als unverantwortlich allem und allen gegenüber, die sich nicht mit ihm identifiziert haben. Das ist die Essenz des totalitären Bewusstseins, wie es all seinen Ausdrucksweisen gemeinsam ist, mag es nun religiös oder ideologisch, faschistisch, jakobinisch, bolschewistisch maskiert gehen. Das führt zum permanenten Krieg als Konsequenz. Terrorismus ist die Besinnungslosigkeit der Begriffe, die in die ideologische Rede passen wie Patronen in das Schnellfeuergewehr, mit dem auch nur „kommunizieren“ kann, wer selbst über eines verfügt. Der Terrorist ist einer, der keine Identität besitzt, weil er die ihm durch Erziehung zugewachsene verworfen hat, aber unfähig bleibt, sich

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zur Individualität fortzubilden. „Erlösung“ aus diesem Zustand erhofft er sich durch das Aufgehen in einer identischen Gesellschaft, in der er mit allen und alle mit ihm identisch sind. Der Hass auf die Nichtidentität, d. h. die Verschiedenheit der anderen, treibt zur Zerstörung der anderen mit der Vorstellung, dass dann nur jene übrigbleiben, die „identisch“ mit dem eigenen Ich sind. In diesem Hass und dem Willen zum Terror als Mittel zur Herstellung von kollektiver Identität sind sich die Terroristen an der Macht wie die auf der Straße einig. Terrorismus ist Permanenz eines Krieges, der im Symbolischen im kollektiven Bewusstsein geführt und entschieden wird, und dessen tatsächliche Gewalttätigkeit zeichenhaften Charakter besitzt und eben keine militärische. Totalitäres Bewusstsein, aktivistische Kleingruppe und „symbolische“ Kampfführung sind kennzeichnend für jede Art von Terrorismus. Die internationale Dimensionierung und das Streben nach „Märtyrern“ kommt hinzu, selbst bei den eigentlich nationalistischen Gruppierungen wie der nordirischen IRA oder der baskischen ETA, die über einen vagen Sozialismus Anschluss an den Internationalismus zu finden suchen. Bei den linksterroristischen Gruppierungen der 1970er Jahre (wie der westdeutschen RAF, den italienischen Roten Brigaden, der französischen Action directe) war dieser Internationalismus noch stärker ausgeprägt, auch durch Kontakte zum palästinensischen Terrorismus. Doch besaßen all diese Gruppen noch einen territorialen Bezug, rechtfertigten sie sich doch mit der „Befreiung“ eines territorial gefassten „Volkes“, sei es von einheimischen oder fremden „Imperialisten“. Auch die Figur des religiös assoziierten „Märtyrers“ ist bereits vorhanden, von den Hungerstreiks der IRA-Häftlinge und der RAF bis zu den „Selbstmord-Attentätern“ des radikalen Islamismus. Der Märtyrer ist eine appellative Figur, doch hier nicht länger einer, der durch sein bewusstes Selbstopfer die Gewalt auf sich nimmt, sondern einer, der im Selbstopfer die Gewalt ausübt. Er opfert sich, weil anders er nicht töten kann. Die Rückkehr der Religion als eines zentralen Motivs sozialen Handelns seit Ende des 20. Jahrhunderts ist eine der großen Überraschungen der gegenwärtigen Epoche, zumindest für das europäische Bewusstsein, das seine Fortschrittsgeschichte als eine zunehmender antireligiöser Aufklärung begriffen hat. Das religiös Absolute war in der Emphase des linksradikalen Terrorismus zum Absoluten terroristischer Gewalt geworden, jenseits von Gott und Kirche, ganz auf das Diesseits der Gesellschaftsvernichtung gerichtet. Doch mit dem Kollaps des Staatskommunismus verlor der linksterroristische Impuls seinen zirkulären Mittelpunkt. Der Kommunismus fiel in die Sekte zurück, wurde Aberglauben, wo zuvor das gewaltstarrende Vorhandensein des kommunistischen Staates die Ideologie zu verifizieren schien. Dieser Gewaltverfall führte auch in den Ländern der „Dritten Welt“ zum ideologischen Niedergang des Sozialismus und zu ideologischer Leere, in welche eine neue Form der Ideologisierung hineinstieß, die in den Traditionen wurzelte und den modernisierenden Sozialismus der einheimischen Regime und der sie kontrollierenden Clique heftig anzugreifen begann. Der Islamismus präsentierte sich hier als soziale Bewegung gegen eine diktatorisch regierende Oligarchie, die den Staat als Pfründe ausbeutete und sich als modernisierende Elite zu rechtfertigen suchte. Am exemplarischsten ist dieser Vorgang am Wandel des palästinensischen Terrorismus von sozialistischen Organisatio-

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nen, wie der PLO, zum Islamismus der Hamas (d. h. „Hingabe“ an Gott). Die islamische Revolution im Iran (1979), die sowjetische Invasion in Afghanistan (1979) mit dem Aufstieg der Mudjahedin, der Bürgerkrieg in Algerien zwischen der modernisierenden Militärdiktatur und islamistischen Widerstandsgruppen (ab 1992) bezeichnen eine Wandlungszone, deren globale Effekte mit dem Anschlag von 11. September 2001 eindeutig geworden sind. In dieser Form ist der Terrorismus zu einer Größe der Weltpolitik geworden, wie er es nie zuvor gewesen war. Auffällig am religiösen Terrorismus ist das Pauschale des Tötens, das Massenhafte gegenüber dem selektiven, gezielten Töten des säkular-politischen Terrorismus. Dabei ist es nicht einmal wichtig, ob dabei Muslime oder „Ungläubige“ getötet werden. Dieses Massenhafte gilt auch für die terroristische Selbsttötung, die im islamischen Radikalismus etwas Gewöhnliches wird, wo sie im politischen Terrorismus außergewöhnlich war. Für das europäische Empfinden ist der Tod etwas Ungeheures, die Selbsttötung als freiwillige Vernichtung des „einmaligen“ Individuums eine riesenhafte Provokation. Selbst der christliche Märtyrer tötet sich nicht, er wird getötet. Im islamistischen Terrorismus hingegen besitzt das „Selbstmord-Attentat“ eine derart moralische Provokation nicht. Es ist eine Methode, um die Vernichtung dorthin zu bringen, wo man sie anders nicht hinbringen kann. Der menschliche Körper selber wird zur Waffe, aber nun aktiv, wie ein bewegtes Projektil, das in feindliche Körper eindringt, in möglichst viele. Zwar bleibt der Freitod auch im Islam religiös verboten, weil das Leben ein Besitztum Gottes ist. Doch wo es für diesen Gott hingegeben wird, ist es ihm wohlgefällig. Der islamistische Terrorismus versteht sich als Tun für Gott, weil es ein Tun gegen seine Widersacher ist, gegen Heiden und Renegaten (d. h. die einheimischen Regierungen, die Modernisierer). Im Abwehrkampf dagegen entsteht zugleich das Kriegsszenario des 21. Jahrhunderts, eingeübt bereits in Somalia und Jemen, Irak und Afghanistan. Man führt den Krieg gegen die Terroristen durch die Instrumentalisierung des in diesen Ländern latenten Bürgerkriegs, d. h. durch das Einkaufen von Kriegsherren und ihrer Milizen, die man durch Luftwaffe und eigene spezialisierte Elitetruppen unterstützt. Auf diese Weise will man den Gegner sowohl symmetrisch (mit seiner Kampfweise) wie asymmetrisch (durch Einsatz von Hochtechnologie) bekämpfen. Auf der nicht territorialen Ebene des internationalen Terrorismus ist das schwieriger, denn hier sind die terroristischen Gruppen kaum fassbar. Anschläge in nicht-islamischen Ländern können militärisch jedoch nicht bekämpft werden. Die Terroristen operieren dort ähnlich wie die RAF der „dritten Generation“ als „Feierabend“-Täter und nicht als „Berufsrevolutionäre“. Sie sind unauffällig, bleiben „in der Legalität“ und stehen in allenfalls loser Einbindung zu einem umfassenderen Netzwerk. „Kommandoebenen“ wie im Partisanenkampf oder im politischen Terrorismus der 70er Jahre gibt es keine. Ist dann noch die Bereitschaft zur Selbsttötung vorhanden, greift auch die staatliche Gewaltdrohung (Gefängnis, Tötung) nicht länger. In den Szenarien des Terrorismus im 21. Jahrhundert gibt es zwei Perspektiven, die beide mit Massenhaftigkeit zu tun haben, entweder mit der Massenhaftigkeit von Menschen oder der von Vernichtungsmitteln. Terroristen sind meist junge Menschen zwi-

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schen 18 und 30 Jahren, die ihre individuellen Schwierigkeiten bei der sozialen Integration als Gewaltbereitschaft ausdrücken und weltanschaulich rechtfertigen. Das massive Ansteigen der Bevölkerung in den meisten Ländern Asiens, Afrikas, aber auch Lateinamerikas, mit ihren hohen Quoten von Kindern (zwischen 30%–50% der Gesamtbevölkerung ist unter 15 Jahren)83 bei gleichzeitiger Überalterung und Schrumpfung der einheimischen Bevölkerungen Europas, erhöht das Potential des Terrorismus erheblich, sowohl in diesen Ländern selbst wie in jenen Staaten des Westens, die eine wachsende Bevölkerung von Migranten aufweisen. Dem pauschalen Töten, wie es für den sich islamisch rechtfertigenden Terrorismus kennzeichnend geworden ist, würde die Verwendung atomarer und chemischer, insbesondere biologischer Stoffe entsprechen. Biowaffen wären für terroristische Aktivitäten besonders geeignet, weil sie relativ leicht hergestellt werden können, verdeckt wirken und erst nach und nach ihre verheerenden Wirkungen zeigen und lediglich geringe Kosten verursachen. Einer UNO-Studie zufolge verursacht ein Geländegewinn von einem Quadratkilometer bei einem konventionellen Angriff Kosten von 2000 Dollar, bei einem atomaren von 800 Dollar, bei einem biologischen aber lediglich von einem Dollar.84 Anschläge etwa mit Anthrax-Briefen hatten eine enorme psychologische Wirksamkeit und gelänge es, ansteckende Keime (Pockenviren u. a.) in Umlauf zu bringen, so könnten damit reale epidemische Effekte ausgelöst werden. Dass die Verwendung von Massenvernichtungswaffen im „Krieg gegen Juden und Kreuzfahrer“ ins Kalkül genommen worden sind, zeigen entsprechende Aussagen Osama Bin Ladens, des Führers von Al-Qaida, von Anfang 1999.85 In der Anbetung der Vernichtung wird Gott zur Blasphemie.

Terror als Diskurs Der Begriff der „Revolution“ ist seit 1789 zum geistigen Zentrum zweier Jahrhunderte geworden, in deren Verlauf er die ganze Welt ergriffen hat. Seine Wucht ergab sich aus dem Zusammenschluss zweier Impulse, nämlich der Forderung nach Gleichheit und der Überzeugung ihrer vollständigen Herstellbarkeit. Damit verbunden ist die Vorstellung vom Ende der Geschichte bzw. ihrer Überführung in ein neues Stadium, das herstellbar wird durch die Kenntnis der die Geschichte bewegenden Gesetzmäßigkeit. Dabei wird die Frage nach der Gewalt wesentlich, schon weil alle Geschichte von Gewalt geprägt war und auch die noch zu ihr gehörende Gegenwart unter der Herrschaft der Gewalt steht. Die Antwort der Revolution ist es dann, die repressive Gewalt der bestehenden „schlechten“ Herrschaftsverhältnisse durch eine befreiende, emanzipatorische Gewalt zu zerstören. Wenn alle bisherige Geschichte eine Gewaltgeschichte war, in der nur verschiedene Formen repressiver Gewalt miteinander kämpften, so entsteht durch das Auftreten einer neuen Form von Gewalt auch eine neue Situation. Die neue Gewalt ist „menschheitlich“ und damit überhistorisch, d. h. sie revolutioniert nicht nur die Gesellschaft, sondern den Menschen selbst: Kain ist sterblich und er wird sterben.

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Das ist der Horizont, in dem Karl Marx (1818–83) und Friedrich Engels (1820–95) die Lehre vom „wissenschaftlichen Sozialismus“ entwickeln. Im gründenden Text, dem „Kommunistischen Manifest“ von 1848 wird die proletarische Revolution als Gewaltereignis gerechtfertigt. Die Niederlage der revolutionären Erhebungen von 1848/49 verschärfte diese Position. Die Revolution wird zu einem langgestreckten Gewaltprozess, was durch die Konzepte einer „Permanenz“ der Revolution und einer „Diktatur des Proletariats“ ausgedrückt werden sollte (1850).86 Und auch die Herausbildung der Gesellschaft wird mit der kriegerischen Gewalt in Verbindung gesetzt: als Ringen um Territorium, als herrschaftsbildende Eroberung ausbeutbarer Menschen.87 Stets geht es dabei um „Eigentum“. Hier besitzt der Krieg durchaus eine positive Kraft, weil er zivilisatorische Übergänge fördert. Marx und Engels sehen sich selbst in einer solchen Übergangsphase und sie hoffen, dass der Krieg zwischen den Staaten deren innere Herrschaftsordnung so sehr schwächt, dass der Klassenkampf endlich in die Revolution umschlagen kann. Der Krieg ist immer ein Krisenzeichen, und zwar das sich verschärfender gesellschaftlicher Spannungen, besonders in Zeiten des Wechsels von einer „Gesellschaftsformation“ in eine andere. Da die Marx’sche Theorie Geschichte lediglich zitierte, um ihre universelle Gültigkeit zu behaupten, lieferte sie auch keine Erklärung der Gewalt in der Geschichte, sondern eine Deutung der Gewalt in der Gegenwart im Hinblick auf die zu erreichende proletarische Totalrevolution. Gewalt im Zustand der Geschichte wurde rein instrumentell aufgefasst. Pazifismus, die Ablehnung von Krieg und Militär an sich, erschien daher nicht nur als realitätsfern, sondern noch mehr als eine falsche Annäherung an die „Bourgeoisie“ und deren Interesse am Erhalt des bestehenden gesellschaftlichen Zustands.88 „Die Gewalt“, so Marx im „Kapital“ (1867), „ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz“.89 Sie ist es deshalb, weil die Ausbeutung der arbeitenden Menschen bzw. ihre Enteignung von den Produktionsmitteln nur durch Gewalt aufrechtzuerhalten ist. Daher ist „der Krieg der Geknechteten gegen ihre Unterdrücker“ auch der „gerechte“ Krieg, der einzige, den es gibt. Zwar empfand Marx zeitweise gewisse Sympathien für die russischen Terroristen, trotz seiner grundsätzlichen Kritik Bakunins und des individuellen Terrors. Aber vielleicht war unter den besonderen Verhältnissen Russlands die „blanquistische“ Verschwörung tatsächlich die einzige Methode, um eine Revolution herbeizuführen: Überlegungen, die bei Lenin zum Programm des Handelns geworden sind. Doch in den 1880er Jahren war dann die endgültige Abkehr vom terroristischen Attentismus vollzogen. Das Eintreten von Engels für die Wehrpflicht, das von W. Liebknecht und A. Bebel für die Volksmiliz hatte mit diesem Gedanken zu tun, dass eben die Gewalt dem herrschenden System entwunden und in das Proletariat hineinverlagert werden solle. Der Kommune-Aufstand in Paris (März/Mai 1871) realisierte dann, wenngleich für nur kurze Zeit, den Wechsel „der materiellen Macht“ von den „Werkzeugen“ der alten Herrschaft: Heer und Polizei, zu denen der proletarischen: dem bewaffneten Volk, der Volksmiliz, als dem Gewaltkern der Revolution.90 Dabei rückten Marx und Engels zunehmend von der Erwartung ab, ein großer Krieg werde den Ausbruch der finalen Revolution begünstigen. Die Vorstellung von der notwendigen inneren

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Dialektik des Klassenkampfes mit der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus und seinen Verelendungs-Konsequenzen setzte sich durch. Die kommende Revolution kann daher auch friedlich sein, und zwar da, wo das Proletariat über den Stimmzettel die Macht erobern wird. Den anarchistischen Attentismus, also den Versuch, durch Terrorismus die bestehende Herrschaftsordnung zu Fall zu bringen, lehnt man ab. Der Sozialismus hat Zeit, er hat die ganze Geschichte hinter sich. Ein großer europäischer Krieg, so Engels seit den späten 1880er Jahren, würde riesige Opfer fordern und das Proletariat nachhaltig schwächen. Sozialismus musste daher Friedenspolitik werden, nur dann konnte die sozialistische Revolution als eine friedliche Erfolg haben. Für Engels, den Militärtheoretiker des Sozialismus, bildete die Technik das materielle Bindeglied zwischen sozioökonomischer „Gesellschaftsformation“ und Krieg. Auch die Gesellschaft wurde materiell von der Technik bestimmt bzw. von deren Entwicklungsgrad, so wie dieser Entwicklungsgrad sich in den Produktionsverhältnissen geltend machte. So wenig Marx und Engels allerdings eine historische Theorie der Technik entwickelten, so wenig entwickelten sie eine solche für Gewalt und Krieg. Sie setzten zwar beides als wesentlich voraus, beschränkten sich aber auf die Analyse der Produktions- und Klassenverhältnisse im Kapitalismus. Ermöglicht wird das durch ihre thesenartige Geschichtslehre, ausgedrückt im Geschichtsgesetz von der notwendigen, „dialektischen“ Abfolge der drei Gesellschaftsformationen (nach einer vagen Urgesellschaft, in der es aber auch schon Gewalt gab) mit dem unvermeidlichen Ende in der kommunistischen Gesellschaft (in der die Gewalt mit der Herrschaft „absterben“ soll). Das ist ein theologisches Konzept, materialistisch expliziert. Denn „auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist“, wie Marx beansprucht es gezeigt zu haben, „kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren.“ Sie kann allenfalls „die Geburtswehen abkürzen und mildern“.91 Marx und Engels warten auf die Revolution, die alles ändern wird. Sie erwarten sie beinahe täglich. Mit ihnen warten viele, immer mehr, Millionen. Sie warten wie die frühen Christen auf Christi Wiederkehr. Viele wollen sich einrichten in der Welt, wie sie ist. Sekten reagieren dagegen. Sie wollen die Zeit beschleunigen hin zur Endzeit, deren Modus das Rasen der Zeit ist, die tumultuarische Zeit, in der das Bestehende zerbricht, „Jetztzeit“, in der das Handeln der Wissenden das Neue gebiert. Und die Gewalt ist die Kraft, die das vermag, sie allein. Damit sie das vermag, muss sie Mythos werden und Organisation. In den unterschiedlichen Betonungen dieser beiden Momente, die aber stets zusammengehören, entwickelt sich die politische Gewalt im 20. Jahrhundert. Ihre wichtigsten Protagonisten sind Lenin und Hitler, ihr intellektueller Anfang liegt bei Georges Sorel (1847– 1922). Für Sorel ist die Demokratie die Wurzel des Übels, weil sie in ihrem Ineinander von Halbheiten und Kompromissen den Willen zum entschiedenen Handeln schwächt, wenn nicht zerstört, und mit ihm die Kraft abtötet, mit der sich eine Kultur am Leben erhält. Demokratie ist die Untergangsform einer Kultur und Rationalität, Wissenschaftlichkeit sind Ausdrucksformen dieses Untergangs. Handeln erneuert sich aus dem Mythos, nicht aus der Vernunft, weshalb Sorel den Wissenschaftsanspruch des Marxismus für

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falsch und störend hielt. Die proletarische Revolution zog ihre Kraft aus dem Mythos, der nicht wie die Utopie rational konstruiert werden konnte, sondern sich irrational aus „den Wallungen der Massen“,92 ihren Urteilen, Vorurteilen, ihren Sympathien, Ängsten, ihrem Hass ergab. Das Proletariat als eine noch nicht durch Demokratie dekadent gewordene Klasse vermag allein noch „heroisch“ zu handeln, durch den Klassenkampf bis hin zum Generalstreik als höchster Form proletarischer Sittlichkeit. Gewalt, wie sie hier geübt wird, ist lediglich eine andere Form proletarischer Arbeit. Daher Sorels erbitterte Wendung gegen die „demokratische“ Einordnung in das System der bürgerlichen Gesellschaft, mit der das Proletariat seine rettende Energie, seine „katastrophische“ Gewalt verliert, mit der es nicht nur sich, sondern die Kultur an sich rettet. Gewalt reagiert nicht einfach gegen eine Klasse, sie reagiert gegen die „Dekadenz“. Sie erneuert das Moralische, indem sie die Zivilisation „vor der Barbarei errettet“,93 denn die Zivilisation ist in ihrem Kern eine Art asketischer heroischer Gewalt. Aus deren Bejahung entsteht alle Moral als das, was das Eigeninteresse übergreift und allen „Humanismus“, der lediglich ein Ausdruck von Schwäche ist. So zumindest sieht es Sorel und er gibt auf diese Weise dem zivilisatorischen Überdruss brutalen Ausdruck, wie er um die Wende zum 20. Jahrhundert zur Mentalität eines gesättigten, „nervös“ gewordenen Bürgertums geworden war. Der Weltkrieg vollzog dann eine Zerstörung, auf welche diese Gesellschaft insgeheim gewartet hatte und deren Folgen sie nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Wenn der Bezugspunkt des Liberalismus das Individuum ist, dann ist der Bezugspunkt des Sozialismus das Kollektiv. Diesen Bezugspunkt teilt der radikale Nationalismus und ebenso die Bedingung der Radikalität, den Bezug zur Gewalt. Im Hass gegen Liberalismus und Demokratie, in der Überzeugung, dass die bestehende bürgerliche Gesellschaft dem Untergang geweiht sei, in der Behauptung eine Erneuerung der Moral sei allein durch eine reinigende Gewalt zu erreichen: In diesen Überzeugungen konnte Sorel so gut Lenin wie Mussolini rühmen, in ihnen konnte sich der Radikalismus von rechts wie von links wiederfinden. Die revolutionäre Gewalt, die für die bestehende politisch-soziale Ordnung zur „Katastrophe“ wird, kann nicht rational sein. Wäre sie es, würde sie vom rationalen Konstrukt, das diese Ordnung ist, aufgefangen und aufgesaugt. Der Irrationalität der revolutionären Gewalt entspricht die Irrationalität des revolutionären Mythos. Das eine, als Handeln, ist ohne das andere, als Bewusstsein, nicht zu haben. Allein die Gewalt erzeugt und erhält im Menschen das Gefühl der Klasse94, d. h. des sozialen Ortes, zu dem er gehört. Die Gewalt muss also in „Bewegung“ bleiben, denn wenn sie in staatlichen Formen erstarrt, stirbt der Mythos, erstarrt das Handeln, erstarrt der Mensch. Ein sozialistischer Staat als Endzustand ist für Sorel daher nicht das Ziel revolutionären Handelns. Im Grunde ist dieses Handeln das Ziel selbst, weshalb er auch die Utopie der klassenlosen Endgesellschaft verwirft, die für den Sozialismus so entscheidend ist und in der Sorel zu Recht ein diktatorisches Stillstellen des revolutionären Handelns, des revolutionären Menschen vermutet. Alle großen Ideen, Gefühle, Normen kommen aus jener Absolutheit, welche für Sorel allein die Gewalt zu erzeugen vermag: aus dem Zusammenprall von Leben und Tod. Dieser Zusammenprall heißt „Krieg“. Der Krieg und der „Generalstreik“ bilden

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die beiden Positionen im Spannungsgefüge der Gewalt. Im Krieg ist die Gewalt physische Aggressivität, im Generalstreik physische Passivität. Der Krieg verwandelt den Körper in eine Waffe, der Generalstreik verwandelt ihn in eine Barrikade. „Gewalt“ bedeutet daher mehr als bloß Gewalttätigkeit. Sie ist vor allem ein Bewusstseinsvorgang (Mythos) und erst dann eine Handlung. Für Sorel erneuert sich das Leben aus der Gewalt, sie ist sein Elan. Die Gewalt, als Totalität von Bewusstsein und Handeln aufgefasst, ist die „Transzendenz“ des Lebens, seine Selbstüberhöhung in das Absolute kollektiven Handelns. Lenin wie Mussolini sind gewalttätige Erzieher ihrer Völker. Beide wollen „die Geschichte forcieren“, den Heroismus erneuern, durch Gewalt und Arbeit zugleich. In der Verteidigung der Gewalt ist Sorel ihnen vorausgegangen. Lenin hat sich später gegen Sorel gewandt, weil ihm die Verwandlung der Utopie zum Mythos, d. h. die Leugnung der „Wissenschaftlichkeit“ des Marxismus, unakzeptabel blieb. Er nennt ihn zu Recht einen „Wirrkopf“, weil in Sorels Aussagen alles nur Ausrufe sind, die keiner Logik folgen und die bloß vom Begriff der Gewalt zusammengehalten werden. In genau diesem Vagen, Unbestimmten des Bewusstseins liegt für Sorel jedoch das Wesen der revolutionären Gewalt und er weiß genau, dass diese Gewalt versagt, wenn sie gesiegt hat, wenn sie Organisation wird. Seine Zustimmung zu Faschismus und Bolschewismus gilt deren frühen Phasen, gilt dem Bürgerkrieg. Sie hätte nicht deren Verstaatlichung gelten können. Für Lenin war eben dies aber das Ziel aller revolutionären Gewalt, wie die Entmachtung und „Verstaatlichung“ der von Sorel so gepriesenen Sowjets zeigt. Lenin begriff die Gewalt stets vom Staat her, in dem die Partei die Kader stellte, die Herrschaftselite, und in dem die „Wissenschaft“ des Sozialismus die deduktive Konstruktion der Begriffe erzeugte. Staat, Partei, Ideologie waren alles Organisationen und nur durch sie konnte Gewalt instrumentalisiert werden. Doch der Ausgangspunkt proletarisch-revolutionärer Gewalt blieb bei Sorel wie Lenin derselbe: Die Gewalt definierte die Klasse. Nur wer bereit war, bedingungslos den Klassenkampf als eine Gewalttätigkeit anzunehmen und auszuüben, konnte als Sozialist anerkannt werden, zeigte wirkliches Klassenbewusstsein. Die Zustimmung zu politischen Lösungen genügte nicht. Daher sind „Feinde und Freunde nach diesem Merkmal voneinander zu scheiden“ und alle, die diesem Merkmal nicht genügen, zu den „Gegnern, zu den Verrätern oder Feiglingen zu rechnen“.95 Der niedergeschlagene Moskauer Aufstand von 1905, dessen „Lehren“ Lenin hier zu ziehen versucht, hatte gezeigt, dass selbst in einem autokratischen Militärstaat wie dem zaristischen Russland eine Revolution möglich schien, wenn nur die Frage von Feind und Freund durch rücksichtslose Gewalt eindeutig wurde. Den Klassenkampf akzeptieren, so Lenin im September 1916, hieß den Bürgerkrieg akzeptieren. Der Bürgerkrieg realisierte nicht nur den Gegensatz von „Bourgeois und Proletarier“ als jene Radikalität von Freund und Feind, die nur durch Gewalt und Vernichtung gelöst werden konnte. Er ließ zugleich über die Zerstörung aller staatlichen Institutionen und überkommenen Normen jenes vollständige Chaos entstehen, in dem die bolschewistische Partei als Kaderorganisation aus Berufsrevolutionären die einzig disziplinierte und also handlungsfähige Organisation bleiben würde. Das war die Konsequenz, wie Lenin sie zog. Sie konnte man herstellen,

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nicht jedoch die Voraussetzung, nämlich die Selbstschwächung des staatlichen Gewaltapparats durch die militärische Niederlage, hier gegen Japan. 1905 war diese Erschütterung noch nicht tiefgreifend genug. Das Regime vermochte noch zurückzuschlagen. 1917 sollte es dazu nicht mehr in der Lage sein. Lenins Bedeutung liegt in der Positionierung der Gewalt im Zentrum der kommunistischen Handlungslehre und in der kausalen Verbindung von Gewalt und Organisation. Auf diese Weise setzte er sich klar von jener Mehrheit der Sozialdemokratie ab, die auf eine „friedliche Revolution“ durch Demokratisierung und parlamentarische Veränderung hin zu einer sozialistischen Gesellschaft setzten. „Partisanenkrieg“, „Massenterror“ sowie das „Ausmerzen lumpenproletarischer Verzerrungen“ zeichneten sich dabei als die Prinzipien der neuen „bolschewistischen“ Gewalt aus.96 Der Partisanenkrieg besteht im bewaffneten Kampf kleinerer Gruppen, die „Expropriationen“ (Erpressen oder Rauben von Geld) vornehmen, Überfälle machen, Terror durch Anschläge gegen alle Arten von „Feinden“ durchführen, bis hin zur Teilnahme am offenen Aufstand in Form einer „neuen Barrikadentaktik“. Hatte Engels angesichts der Feuerkraft modern ausgerüsteter regulärer Truppen den bewaffneten Aufstand als Methode des Klassenkampfes abgeschrieben, so sollte diese neue Taktik ihn erneut möglich machen, indem Barrikaden nicht mehr „bis zum Letzten“ verteidigt wurden, sondern beweglich operierende „Partisanen“ den geballten vorrückenden Feind immer wieder aus dem Hinterhalt attackierten. Der Massenterror diente dann der Ausbreitung proletarischer Gewalt auf die ganze Gesellschaft bzw. das ganze Land, gestützt auf spontane wie partisanische Aktivisten. Doch musste dabei stets die Führung durch die Partei erhalten bleiben: Die Ausmerzung der „lumpenproletarischen“ Elemente diente der Härtung der organisatorischen Strukturen und zielte damit gegen die Sorel’sche Gewalt, deren Wucht in der Frühphase unvermeidlich und unentbehrlich blieb. Das „Volk“, die „Masse“ hat keine Sprache, diese ist bei den Intellektuellen und der Herrschaft. Es hat nur die Gewalt. Sein „Geistiges“ ist der Mythos, nicht Utopie oder Theologie. Erfährt die Masse sich bei Sorel in ebendieser Verbindung von Mythos und Gewalt als frei, so ist das bei Lenin nur Illusion. Der Partisanenkampf führt die revolutionäre Gewalt aus dem Chaos in die Organisation, weil er Partei und Ideologie verbindet und den Klassenkampf in jenes Extrem treibt, in welchem „demokratische“ Kompromisse unmöglich geworden sind. Die Gewalt wirkt damit bewusstseinsbildend. Sie formt das Klassenbewusstsein als Unerbittlichkeit, im Proletariat wie in den Kadern, die es durch ihre Untergrund-Tätigkeit „erziehen“. Die beiden Seiten des Partisanenkampfes, die militärische des direkten bewaffneten Kampfes und die indirekte der terroristischen Eliminierung und Einschüchterung von Gegnern und Gleichgültigen, führen fort in den „großen“ Bürgerkrieg und fort in den kommunistischen Staat. Deshalb ist „jede moralische Verurteilung des Bürgerkriegs vom Standpunkt des Marxismus völlig unzulässig“.97 Wie Lenin richtig voraussieht, wird die Revolution in Russland die „Form eines langwierigen, das ganze Land erfassenden Bürgerkriegs“ annehmen98, sich grundlegend vom klassischen Pariser Modell des hauptstädtischen Aufstandes unterscheiden. Der Partisanenkampf bereitet darauf vor, doch der Bürgerkrieg wird neue Formen organisierter Gewalt

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erforderlich machen, eben die Aufstellung einer regulären Armee, der „Roten Armee“, die den Feind stellt und schlägt. Lenin weiß, dass die Rote Gewalt nur siegreich sein wird, wenn es gelingt, die bestehende Herrschaft in ihrer Fähigkeit, Gewalt zu organisieren, vernichtend zu treffen. Setzt er 1906 noch auf die Zersetzung des zaristischen Heeres durch Agitation, so unterstützt er 1918 den Aufbau einer eigenen Gewaltorganisation, denn die Formen der Gewalt bleiben „historisch“, den Umständen angepasst. Die Formen kann und muss man wechseln, doch die Gewalt an sich muss im Fokus bleiben, denn sie entscheidet über Herrschaft und über die Möglichkeit des Kommunismus. War bei Marx und Engels die Gewalt eine pragmatische Möglichkeit gewesen, über die nach Einschätzung der Lage zu entscheiden war, so wurde sie bei Lenin zur bedingungslosen Notwendigkeit. Damit ersetzte er die historische Gesetzeslehre des Klassenkampfes durch den voluntaristischen Aktivismus „avantgardistischer“ Gewalt. „Gebt uns organisierte Berufsrevolutionäre und wir werden Russland auf den Kopf stellen„99, und zwar dann, wenn die „Zeit der Explosion“ gekommen ist. Lenin lehnte zwar den wilden „alltäglichen“ Terror der Anarchisten ab, aber nur, weil er die revolutionäre Kraft zersplittert und in einer nicht explosiven Situation lediglich dem bestehenden Staat nutzt. Das Ziel ist die Organisation zu Kadern, erst dann kann bei einer sozialen Explosion der Angriff mit „Sturmkolonnen“ durchgeführt werden.100 Zudem ist ein „erbitterter Kampf gegen die Spontaneität“ erforderlich: gegen den revisionistischen Begriff von Spontaneität, der nach Lenin in der sozialen Reform die Möglichkeit sieht, die Lage der Arbeiter schrittweise zu verbessern, also Revolution und Gewalt als unnötig ablehnt, wie gegen den anarchistischen Spontaneitätsbegriff, den moralisch erregte bürgerliche Anarchisten vertreten, die nur an die Gewalt glauben und keinen Begriff der proletarischen Revolution besitzen.101 Für Lenin liegt der revolutionäre Sieg in der Verbindung von Organisation und Massenaktivität, mit berufsmäßigen Führungskadern, die das richtige Bewusstsein in die Massen „von außen“ hineintragen und stabilisieren, die gegen die „spontane“ Tendenz der Arbeiterschaft zu „trade-unionistischen“ Verbesserungen und für den totalen Umsturz „agitieren“. Die Konsequenz dieses Ansatzes, dass die „Diktatur des Proletariats“ eine Diktatur der Parteikader sein muss, ist für Lenin durchaus „demokratisch“, weil die Kader zum einen ein höheres, eben wirklich revolutionäres Bewusstsein besitzen, und weil sie sich zunehmend aus der Arbeiterschaft rekrutieren sollen. Dass Lenin sich mit seinen Auffassungen von der europäischen Sozialdemokratie entfernte, die auf eine reformerische Politik eingeschwenkt war, wurde bereits vor 1914 bemerkt. Dass er sich aber vom Marxismus selbst entfernt habe, ist erst nach seiner Machteroberung zu einem Vorwurf geworden. Karl Kautsky, nach dem Tod der „Klassiker“ ihr maßgeblicher Ausleger, wandte sich schon im Sommer 1918 gegen die „didaktische Methode“ im Sozialismus.102 Obwohl er zunächst die Oktober-Revolution begrüßt hatte, wuchsen ihm bald die Vorbehalte, wurde die Skepsis zur grundsätzlichen Widerrede. Der „diktatorische Weg“ zum Sozialismus ist für Kautsky nur als Diktatur einer Minderheit zu erreichen, nicht als Diktatur der Mehrheit, des Proletariats, und sie ist der Weg der Gewalt, des Bürgerkriegs, der permanent werden muss, weil sonst die diktatorische Minderheit Gefahr läuft, gestürzt zu

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werden.103 Kautsky hält ihn für den falschen Weg, da nicht der Sozialismus als Produktionsweise das Ziel sei, sondern die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung insgesamt. Demokratie als Zustand umfassender Freiheit aber könne allein auf demokratische Weise erreichbar sein. Demokratie gilt also nicht als Mittel zum Zweck, das man auch durch Gewalt ersetzen könnte, sie gehört zum Zweck selbst.104 Kautsky wirft Lenin vor, die Marx’sche Bemerkung über die „Diktatur des Proletariats“, eine Briefstelle, zum Zentrum des Sozialismus gemacht zu haben, was nicht nur falsch sei. Lenin habe diese Bemerkung zudem unzutreffend interpretiert. Damit traf er den Kern des ganzen Leninismus, wie Lenins erbitterte Reaktion gegen „den Renegaten Kautsky“ zeigte, in der er „die proletarische Revolution eine Maschine zur Vernichtung der Bourgeoisie“ nannte und die „Diktatur des Proletariats“ als „eine Macht, die an keine Gesetze gebunden ist.“105 Der Kommunismus, wie Lenin ihn an die Macht gebracht habe, könne nur als „Regierungsterrorismus“ existieren, als „militaristischer Kretinismus“, der Russland und das russische Proletariat ruinieren werde. Die Revolution sei lediglich der Staatsstreich einer bewaffneten Sekte, ein Putsch des „Jetzt oder Nie!“, wie Kautsky es nennt. Aber der Sieg des Proletariats als Ergebnis eines langen historischen Prozesses „kann nicht davon abhängen, ob irgendein einzelner Mann den richtigen Moment erhascht oder nicht“.106 Für Kautsky bleibt Lenin ein Zerstörer des Marxismus, der den Sozialismus auf den Irrweg der Gewalt geführt hat. Die Faszination dieses Gewaltwegs ahnte er bereits, seinen eine Epoche gründenden Erfolg fürchtete er. Sorel hat einen Grundgedanken ausgedrückt, der das ganze 20. Jahrhundert durchzieht: Dass eine Gruppe sich ihrer Identität durch Gewalt versichert und dass dieses kollektive Selbstbewusstwerden Permanenz gewinnt allein durch die Permanenz der Gewalt. Die Gewalt wird zur radikalen Trennung von Freund und Feind. Dieser Gedanke der kollektiven Selbstherstellung durch Gewalt wurde nach 1945 von Frantz Fanon (1924–61) als Prinzip der anti-kolonialen Befreiungsbewegungen Afrikas, aber auch der amerikanischen „BlackPower“-Bewegung der 1960er Jahre neu formuliert. Der totalitäre Dualismus von Freund und Feind beherrscht als Gegensatz von „Schwarzen“ und „Weißen“, „Kolonialisierten“ und „Kolonialherren“ sein agitatorisches Denken. In diesem Dualismus wirkt nur Gewalt: repressive oder eben jene befreiende, von der Fanon glaubt, sie sei unabdingbar für jene zweifache Gewinnung von Identität, ohne welche der Kolonisierte nicht vollständiger Mensch werden könne.107 Der Schwarze muss ein „neuer Mensch“ werden, er muss sich „eine neue Haut schaffen“,108 was nur als äußerste Gewalttätigkeit möglich ist, eine Gewalt, die das Denken ebenso umstürzt wie die „Staaten, Institutionen, Gesellschaften“, die vom Kolonialismus geschaffen wurden. Fanons ganzes Denken kreiste um die Vorstellung von der „reinigenden“ Kraft der Gewalt. Sie befreit den Kolonisierten nicht nur von der physischen Macht der Herren, sondern zugleich von deren psychischen Macht über sein Bewusstsein, befreit ihn von seinem Minderwertigkeitskomplex, der Vorstellung zivilisatorischer Unterlegenheit.109 Die Gewalt, die den Herren besiegt, zeigt den Sieger als Herren seiner selbst, weil – so Fanon – der koloniale Herr selber nichts anderes ist als Gewalt, institutionalisiert in „Schulen und Kasernen“, fixiert in „Gewehrkolbenschlägen“ und in den

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„Gehirnen der Kolonisierten“110. Da der Kontakt zwischen Kolonialherren und Kolonisiertem lediglich einer der Gewalt sei, könne auch die Befreiung lediglich als Negation dieser Gewalt durch Gegengewalt erfolgen. Weil der koloniale Befreiungskrieg ein kollektives Geschehen war, gab es auch keine das individuelle Handeln bindende Moral, nur eine kollektive der Vernichtung des Feindes: eine Auffassung, die Fanon mit seinen Feinden, den französischen Offizieren in Algerien teilte. Fanons Revolution muss daher eine totale werden. Alles muss zerstört werden, damit alles neu beginnen kann. Bei Fanon, einem schwarzen Franzosen aus Martinique, der als Nervenarzt an einem staatlichen Hospital in Algerien arbeitete, erfolgte die Hinwendung zur Verteidigung der „befreienden Gewalt“ als Essenz eines rassisch interpretierten Klassenkampfes mit der Verschärfung des algerischen Unabhängigkeitskrieges seit 1957. Massenweise Deportationen, gezielte Liquidierungen, Folter, die Errichtung von Konzentrationslagern sollten die französische Herrschaft gegen den Partisanenkampf der Befreiungsbewegung (FLN) stabilisieren. Fanon schloss sich der FLN an. Damit war die Hinwendung zur totalen Gewalt vollzogen, deren konkrete Gestalt als Rassenkrieg auch durch den Bruch mit der Kommunistischen Partei verdeutlicht wurde, die eine Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung verweigerte. „Kollaborateure“ wurden nicht mehr zugelassen, denn jeder Weiße, jeder Franzose war ein Feind. Jeder verschwand in seinem Kollektiv, es gab keine Individuen mehr, kein Mitleid, keine moralischen Grenzen. Der Bruch mit dem Kommunismus realisierte zugleich die Identität von Gewalt und Mythos, denn Fanons zentraler Text, „Die Verdammten dieser Erde“ (1961) bietet keine Analyse, sondern eine Rhetorik der Gewalttätigkeit, die in der Bewunderung der „Massen“, „Massenaktion“ gipfelt und in der Verachtung von „Bourgeoisie“ wie „Proletariat“, der einheimischen der unabhängig gewordenen Kolonien wie jener der sie beherrschenden Staaten. Die „Verdammten“ waren die unterste, massenhafte Schicht der ganz Armen Afrikas, ein Idealbild der Armut, das an die christliche Armenrede erinnert, doch nun mit Gewalt verbunden, einer Gewalt, mit der nun „die Letzten die Ersten“ sein werden. Wenn Fanon von den menschlichen „Ratten“ spricht, die man nicht loswird, die unermüdlich den „Baum“ der Gesellschaft an seinen Wurzeln zernagen,111 bezieht er sich ausdrücklich auch auf die unterste soziale Schicht der deklassierten Außenseiter, auf das „Lumpenproletariat“ als jene Gruppe, die „nichts zu verlieren hat“. Vom kommunistischen Organisationsprinzip, das Proletariat wie Partei eben deshalb als gewaltfähig versteht, weil es strukturiert ist und also auch ideologisiert werden kann, bleibt hier nichts. Zwar ist keine kommunistische Machtübernahme ohne Unterstützung der Bauern möglich gewesen, weil sie – entgegen der klassischen Lehre von Marx und Engels – in industriell kaum entwickelten Ländern stattfand, doch befanden sich diese bäuerlichen Gruppen bereits in einem ungleich dichteren, national integrierteren Zusammenhang als irgendwo in Afrika. Der Zusammenhalt der kolonial geschaffenen neuen Staaten Afrikas konnte nur durch überlegene Gewalt erfolgen und wo das kolonial ererbte Potential dazu nicht ausreichte, zerfielen diese Staaten, herrschte Bürgerkrieg und kriminelle Violenz. Fanon hat das durchaus gesehen,112 ohne daraus jene Schlüsse zu ziehen, die doch nur sein Konzept totaler, verändernder Gewalt hätten bedrohen, relativieren müssen. Er hätte dann verste-

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hen müssen, dass Gewalt tatsächlich verändert, aber dass sie es nicht vermag, den neuen Menschen zu schaffen. Fanon blieb zeitlebens ein französischer Intellektueller, ein Bewunderer Sartres und Merleau-Pontys, gewiss auch ein verhohlener Nachfolger Sorels, die ihm alle in jenem Anti-Humanismus verbunden waren, der sich durch die Abstraktheit der Begriffe das menschliche Individuum vom Leibe hielt. Täter, wie Lenin, wurden sie nie. Sie blieben an ihren Schreibtischen. Michail Bakunin (1814–1876) hingegen wollte – wie Lenin – Täter und Schreiber zugleich sein, wollte das Bewusstsein wie das Handeln gleichermaßen regieren, seines wie das der anderen, all derer, die taten, was an der Zeit sei. Bakunin, ein Mann von Adel und früherer Offiziersschüler, der mit seiner Herkunft gebrochen hatte, weil er in ihr nur Verfall, Niedergang erblickte, verstand den Zustand seines Heimatlandes Russland als einen Zustand der Gewalt: Der Gewalt des modernisierenden Zentralstaates gegen das leidende Volk und einer Gegengewalt, die sich im Räubertum inkarnierte als jenem Rest des einfachen Volkes, das sich die Gewaltfähigkeit erhalten hatte. Der Räuber bewahrt gewissermaßen die Gewalt für das Volk auf, den Widerstand gegen einen Staat, der alle Gewalt an sich zu ziehen versucht. Am Tag des Heils wird die Gewalt der Räuber dann die Gewalt der Bauern entzünden, den Hass bündeln zur „Volksrevolution“. Daher ist „der Räuber der einzige und echte Revolutionär in Russland“ und er „kämpft so lange, bis die russischen Dörfer aufwachen“.113 Bakunin erhofft sich das „Fest“ der Gewalt in der „schonungslosen Revolution“, die „keine andre Tätigkeit als die Sache der Zerstörung anerkennen“ kann und in der alle Mittel „in gleicher Weise geheiligt“ sind. Mögen die „sozialen Blutegel“ jammern, die „lumpigen Literaten lyrische Töne“ von sich geben, d. h. von Moral reden: Die „Erneuerung des Lebens“ wird ohne die „Ausrottung des Bösen“ nicht zu haben sein. Daraus ergibt sich eine neue Religion mit einem „revolutionären Katechismus“, der unter dem Namen des Anarchisten Nechaev wohl von Bakunin verfasst worden ist. „Der Revolutionär ist ein Verdammter“, der alle Verbindungen zur bestehenden Gesellschaft abgebrochen hat und in ihr nur noch lebt, um sie „gnadenlos zu zerstören“.114 Er ist ein Mensch des Absoluten und dieses Absolute ist die Gewalt, der Tod, den er anderen zuteilt, den auf sich zu nehmen er aber bereit ist. Er übt das Töten in völlig gefühlloser Weise, so wie auch seine Solidarität gefühllos bleibt. Was zählt ist allein der Nutzen für den Sieg der Revolution und so wird man einen kämpfenden Genossen ebenso bedenkenlos preisgeben, wenn er entbehrlich scheint, wie man beim Liquidieren „eine Menge hochstehenden Viehs“ zunächst verschonen wird, um die „klügsten und energischsten Mitglieder“ der Regimes zu beseitigen, um Unruhe hervorzurufen und die Handlungsfähigkeit der Herrschaft zu untergraben. Bei Bakunin wird der Terror zum System einer Gegenherrschaft aus dem Dunkeln, den Schattenbereichen der Gesellschaft, mit welcher dem Staat Gewalt entgegengesetzt, sein Monopol auf Gewalt gebrochen, seine Fähigkeit zur Gewaltausübung durch die Fortdauer terroristischer Aktivitäten aufgezehrt werden soll. Wie später für Fanon war auch für Bakunin die Gewalt eine Kraft der Reinigung von einem aufgezwungenen Fremden, Kolonialen, eine Rückkehr zum Eigentlichen, zur „Natur“ des eigenen volkshaften Daseins, zur identischen Gesellschaft, hier eines vor-

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modernen Bauerntums, frei auf freiem Boden. Die Zerstörung des Staates bildete dazu die unabdingbare Voraussetzung. Dass diese Zerstörung zugleich die Grenzen niederreißen müsste, welche die Moral der Gewalt setzt, wurde dabei für gut befunden. Wenn die Gewalt „von der Straße her“ und gegen den Staat gedacht wird, d. h. terroristisch, setzt sie den Bruch zwischen Legalität und Legitimität voraus: Der Staat bzw. die gewaltfähige Herrschaft setzt Gesetze und setzt sie durch, aber sie besitzt dazu keine Autorität, keine Legitimität, sondern nur Gewalt. Dieser Staat ist – wie man es später genannt hat (H. Marcuse) – „strukturelle Gewalt“, und das vollständig, weil er sonst nichts mehr ist. Die Beziehung zu ihm kann demnach ebenfalls nur eine gewaltgeprägte sein, als Unterwerfung oder eben als Auflehnung. Aber auch wenn man die Gewalt „von oben her“, vom Staat her denkt, kann man zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen. Der Staat erscheint dann als einer, der seine Gewalt in die Form des Rechts bringt und auf diese Weise die „Gesellschaft“ als Vielfalt konfligierender Gruppen in Ordnung hält. Eine Gesellschaft als Ordnung jenseits des Staates gibt es hier nicht. Die Gesellschaft bleibt unentwegt die Vielfalt des Nicht-Identischen, damit zugleich des Gegensätzlichen und der Gegensätze. Das Recht ordnet die Gesellschaft nach Normen und schafft so dem Staat ein Regelungs- und Durchgriffsgefüge, das letztlich von der Gewaltfähigkeit des Staates abhängt. Für das revolutionäre Bewusstsein, das in der identischen Gesellschaft ihr Ziel findet, bedeutet dies, dass der Staat bloß Repression ist und das Recht lediglich eine Fassade der Gewalt. Legalität und Legitimität fallen auseinander, denn eine wirkliche Legitimität jenseits des engen Interesses einer herrschenden Klasse gibt es in dieser Sichtweise nicht. Eine Lösung dieses Gegensatzes gibt es folgerichtig nur da, wo keine herrschende Klasse mehr besteht, wo alle identisch geworden sind. Das Verschwinden der Herrschenden wäre dann gleichbedeutend mit dem Verschwinden der Gewalt. Daher muss ihnen die Gewalt, aufgrund der sie ja herrschen, durch Gewalt genommen werden. Diesem revolutionären Diskurs nun steht ein konservativer gegenüber, der gleichfalls die Gewalt als Zentrum hat und von ihm aus ebenfalls das Problem von Legalität und Legitimität reflektiert. Behauptet der Diskurs der Revolution, dass die Legalität keine Legitimität besäße, weil sie diese von ihrem Identitätspostulat ableitet, so behauptet der Diskurs des Staates das Gegenteil, nämlich dass sich die Legitimität schlichtweg aus der Legalität ergebe, vorausgesetzt nur, dass diese wirksam ist. Es ist das Argument des Thomas Hobbes, formuliert in einer Epoche, in welcher das Politische als Friedensgefüge zwischen Autorität und Gewalt in den Kriegszustand von Freund und Feind zerfallen war. Es ist das Argument des Carl Schmitt (1888–1985) in einer analogen Epoche, knapp drei Jahrhunderte später. Mit seinen drei Kernbegriffen: der Dezision, der Souveränität, dem Politischen, reflektiert er die Gewalt als das Wesen der Politik, vergleichbar durchaus seinen Antipoden von der anderen Seite, die lediglich – und dann entschieden – in einem Vierten seine Feinde sind. Denn wenn Schmitt am „nicht-diskriminierenden“ Blick auf die Politik festhalten will, also die Unterscheidung von „Gut und Böse“ vermeidet, ist sie für seine „diskriminierenden“ Kontrahenten wesentlich, da sie sonst nicht die Erlösung als Ziel der Geschichte denken könnten.

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Wenn „die rechtliche Kraft der Dezision etwas anderes als das Resultat der Begründung“ ist, weil zwischen der richterlichen Entscheidung und den Normen, auf die sie sich bezieht, keine unbedingte Kausalität besteht, sondern „etwas Neues und Fremdes“ zum Tragen kommt,115 eben die Entscheidung des Richters selbst, dann ist damit zugleich ein Moment der Willkür in die Rechtsfindung gekommen. Der Richter entscheidet. Er ist im Kleinen bereits ein Herrscher, der über Gewalt verfügt, so wie im Großen der staatlichen Macht sich Herrschaft da realisiert, wo sie entscheidungsfähig ist. Wenn „souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“,116 dann ist jener Herr, welcher in einem solchen Zustand gewaltfähig geblieben ist. Diese Entscheidungsmacht gipfelt in der Kompetenz, den Feind zu bestimmen, denn „die eigentliche politische Unterscheidung ist die Unterscheidung von Freund und Feind“.117 Dabei spielt die „Wahrheit“ keine Rolle, denn – wie Schmitt mit Hobbes sagt – „Autoritas, non veritas“: Befehl, nicht Wahrheit.118 Das Weltanschauliche, „Religiöse“ im engeren wie weiteren Sinn soll aus der Politik entfernt werden, denn wenn die Gesellschaft gegen den Staat antritt, rechtfertigt sie dies weltanschaulich. Bürgerkrieg im Inneren wie Weltanschauungskrieg nach Außen sind die Folgen einer solchen „diskriminierenden“ Überwältigung des Staates, in welcher die „leviathanische“ Errungenschaft, nämlich die Privatisierung der Gewissen, verlorengegangen ist.119 Diese Privatisierung als Stillstellung der Weltanschauung in der Gesellschaft hatte keinen Bestand. Der „Leviathan“ wurde zur „legalistischen“ Maschine, die vor den weltanschaulichen Forderungen und Anforderungen zerfiel. So sehr Schmitts Gewaltbezug dem Nationalsozialismus entsprechen mochte, so wenig vermochte sich dieser mit dessen ideologischen Kälte einverstanden erklären. Als weltanschauliche Radikale konnten sie den neutralisierenden Etatismus, der Schmitt wie Hobbes gemeinsam war, nicht hinnehmen. Er erregte vielmehr ihren Hass, denn es war die Partei als ideologische Kampforganisation, die den Staat als Mittel zum Zweck einer diskriminierenden Kriegsführung einzusetzen hatte, ohne von ihm in irgendeiner Weise „gezähmt“, zur Beachtung von Normen gezwungen zu werden.120 Die „rousseauistische“ Dynamik ist jeder ideologischen „Bewegung“ gleich. Das ist wesentlich, denn die für Schmitt das „Politische“ gründende Unterscheidung von „Freund und Feind“ wird auf diese Weise zu einer essentialistischen, in welcher der Feind nur noch im Begriff der Vernichtung aufgefasst werden kann. Die ideologische Leere der Schmitt’schen Lehre, diese Entschiedenheit zur Entscheidung als heroischer Gestik, die Verwerfung der Diskussion, des Kompromisses dritter Wege im Sinne liberaler Konfliktbewältigung, zugunsten von Entscheidung und Diktatur im Kontext des „Ausnahmezustands“ wird selbst zur Ideologie „der Tat“. Schmitt denkt sie allerdings vom Staat her, nicht von der Straße, und das ist es, worauf sein Reden vom „totalen Staat“ hinauslief. Daran zeigte sich, dass ein politisches Denken, das die Gewalt als Zentrum hatte und den bestehenden sozialen Zustand vom Blickwinkel des Bürgerkriegs aus betrachtete, nur dezisionistisch verfahren konnte, denn anders war eine Entscheidung nicht zu haben. Die Möglichkeit, sie von Normen abzuleiten, schien es im Zustand einer sich auflösenden Rechtssicherheit und Gesetzesbeachtung kaum mehr zu

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geben, so wenig wie die Möglichkeit, sie kommunikativ durch Konsens zu erreichen. Für den von der „Ausnahme“ her operierenden Schmitt wäre dies ohnehin bedeutungslos geblieben, denn die Fähigkeit, im Ausnahmezustand zu entscheiden, zeigt an, wo die überlegene Gewaltfähigkeit ist. Hierzu gehört auch die Fähigkeit, zwischen Freund und Feind zu entscheiden, ohne die ein Entscheiden im Ausnahmezustand unmöglich bliebe. Am Ende gipfelt dieser Entscheidungsprozess in der Entscheidung über den Ausnahmezustand selbst, bei dem vom Staat her gesehen der tatsächliche Ort der Gewalt festgestellt wird. Von der Straße her gesehen würde hingegen derjenige zum revolutionären Subjekt, der durch seine dezisionistische Provokation diesen Ausnahmezustand erzwingt, indem er den Staat in die Falle einer eskalierenden Gewalt und ideologischer Radikalisierung treibt. Dabei ist stets schon „die reale Möglichkeit der physischen Tötung“121 inkludiert. Ein Umschlagen der Tötungsgewalt in einen eschatologischen Akt der „Rettung“ und „Reinigung“ muss allerdings vermieden werden, denn dies müsste den „Staat“ zerstören. So bleibt der Freund-Feind-Gegensatz erhalten, solange es Politik gibt und Politik wird es nur dann nicht mehr geben, wenn der Feind endgültig vernichtet ist, was letztlich eben nur eschatologisch vorstellbar wäre. Gewalt erscheint damit als „ewiger“ Akt jenseits von Vernunft, Moral, Ideal. In ihr behauptet sich eine „Existenzform“ gegen eine andere, sie verneinende. Nun ist die moderne Gewalt immer zweigesichtig geblieben, denn wenn sie einerseits es unternimmt, das Absolute der Religion relativistisch zu brechen, indem sie es gewaltunfähig macht, in die Privatheit der individuellen Gewissen abdrängt, so explodiert andererseits in ihr die revolutionäre Forderung nach dem Neuen Menschen als Erneuerung des Absoluten. Im Partisanen entsteht der „Mensch des Absoluten“ in neuer Weise, einer, der die „gezähmte“ Feindschaft durch die „wirkliche“, totale ersetzt und dessen Wesen der Terror ist.122 Im „Bündnis der Philosophie mit dem Partisanen“,123 wie Lenin es geschlossen hat, kehrt die „absolute Feindschaft“ in die Freund-Feind-Konstellation, d. h. in das „Politische“, zurück. Eben dieser Absolutheit der Feindschaft tritt Schmitt entgegen, denn „der Kern des Politischen ist nicht Feindschaft schlechthin, sondern die Unterscheidung von Freund und Feind.“124 Das Problem Schmitts ist die Leere seines Politik-Begriffs. Es ist das Problem von Hobbes, das er an ihm erkannte, ohne es für sich beheben zu können. Jenseits von Angst und zähmender Staatsgewalt ist nichts, allenfalls „Staatskirchen“ verschiedener Art, mit denen der Staat das kollektive Bewusstsein äußerlich zu ordnen sucht. In diese Leere hinter Fassaden dringt die Ideologie ein, das Versprechen des Absoluten, der Hass auf den Feind, der deshalb ein totaler werden muss, weil dieser das Absolute blockiert. In der absoluten Gesellschaft identischer Menschen würde der Schmerz der Entfremdung so gut verschwinden wie Hunger, Unterdrückung, Gewalt. In dieser Neuen Gesellschaft gäbe es den leidenden Menschen nicht mehr, weil es kein Bewusstsein des Leids mehr geben könnte. Dass die Abschaffung dieses Bewusstseins der erste Schritt zum Neuen Menschen sei, war dann ein folgerichtiger Gedanke, den die selbsternannte „Vorhut“ der Menschheit für sich realisierte, an jenem Ort, an dem sie zuerst die totale Macht erlangte: dem Lager.

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Gesichter Als sich nach der Geheimrede N. Chruschtschows (25. 2. 1956) und seiner Abrechnung mit dem Terrorregime Stalins die Lager zu öffnen begannen, bemerkte die Dichterin Anna Achmatowa, dass sich von nun an zwei Russlands ins Gesicht blicken würden: das Russland, das in den Lagern gesessen, und jenes, das es dorthin gebracht habe. Dazu ist es nicht gekommen: In das Gesicht der Opfer blickt nur, wer selbst Opfer geworden ist. Nicht nur die Macht kommt aus den Gewehrläufen, auch die Erinnerung an Opfer und Täter. Die Erinnerung folgt der Macht, sie ist ihr Abdruck in dem, was öffentlich zu erinnern ist, als Ritual der Worte und Gesten. Die Geschichte der kollektiven Erinnerung ist der Index der Macht in ihren Konjunkturen. Die Opfer von heute können die Sieger von morgen sein und umgekehrt. Der Index zeichnet Konjunkturen auf. Eine Katharsis gibt es nicht. Die Logik des Terrors besteht in der Reduktion des Menschen auf sein Minimum: den bloßen Körper, seine Nacktheit, sein Zittern, seinen Hunger und den schieren Willen, zu überleben, um jeden Preis. „Die Gefangene, die unserer Baracke vorstand, empfing mich mit dem Ruf: ‚Lauf und schau unter dein Kissen!‘ Mir blieb fast das Herz stehen: Hatte ich endlich meine Brotration erhalten? Ich stürzte zu meinem Bett und riss das Kissen fort. Darunter lagen drei Briefe von zu Hause . . . Es war sechs Monate her, seit ich zum letzten Mal etwas erhalten hatte. Spontan empfand ich maßlose Enttäuschung. Dann packte mich der Schrecken. Was war aus mir geworden, wenn mir ein Stück Brot wichtiger war als Briefe von meiner Mutter, meinem Vater, meinen Kindern . . . ich brach in Tränen aus“.125 Sie erhielt noch Briefe, war sozial noch nicht gestorben, in das Vergessen des Lagers eingeschlossen, wie viele, die vergessen wurden, zuweilen auch vergessen werden wollten, weil sie den Zurückgebliebenen die Ausgrenzung, Diskriminierung, Gefährdung zu ersparen suchten, wie sie jenen drohte, die mit „Volksfeinden“ verwandt waren. Der Hunger zerstört alles. Er ist der wahre Herr des Lagers, nicht der Tod, nicht die Wachen, der Kapo oder Brigadier, deren Prügel da versagen, wo sie auf Leiber schlagen, die nur noch Skelette sind, mit den Augen von Sterbenden und der Gier nach jedem Tag des Weiterlebens. Beim abendlichen Zählappell bricht ein Häftling zusammen: „Sofort war er von Mitgefangenen umringt. ‚Ich bekomme die Mütze‘, sagt einer. Andere rissen ihrem Opfer Schuhe, Fußlappen, Mantel und Hose vom Leib . . . Als der am Boden Liegende völlig nackt war, blickte er auf . . . und klagte leise . . . ‚Mir ist so kalt‘. Dann sank sein Kopf in den Schnee“ und er starb, ohne dass sich jemand noch um ihn gekümmert hätte.126 Oft ritzten Gefangene ihre Namen und Geburtsdaten in die Barackenwände und baten ihre Freunde, nach ihrem Tod den Todestag und ein Kreuz hinzuzufügen“,127 ein verzweifelter, verzweifelnder Versuch, zumindest im Tod noch einmal zur Person zu werden. Wer die „Darwin’sche Auswahl“ nicht bestand, kam um. „Nach kaum drei Wochen waren die meisten Gefangenen gebrochene Menschen, die nur noch ans Essen dachten. Sie verhielten sich wie Tiere . . . und sahen in dem Freund von gestern ein Konkurrenten im Kampf ums Überleben“,128 wie ein Gefangener aus dem berüchtigten Workuta es sagt. Der Hunger war das Herrschaftsinstru-

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ment des Lagers, das Ziel „aus Menschen Sklaven mit einer Sklavenseele“ zu machen.129 Die Wärter nutzten Kriminelle für die Errichtung einer Herrschaft innerhalb der Häftlinge und sie suchten nach „Vertrauensleuten“, Spitzeln, denen sie für ihre Dienste das Überleben in Aussicht stellten – eine Aussicht, die man sich im Lager tagtäglich verdienen musste. Im Lager gibt es keine „Grenzen“ mehr, und das ist sein tiefster Schrecken. Die Verneinung von Grenzen ist das letzte Prinzip des totalitären Denkens, hinter dem nur noch die utopische Behauptung und jene Grenzenlosigkeit der Gewalt kommt, die im Nichts endet. Die Gewalt kennt keine Grenzen, die in ihr liegen. Ihr Ziel ist die Zerstörung aller Grenzen, d. h. die Minimierung von Personen auf ihr physisches Sein, das dann so wenig eine Grenze darstellt wie eine Fliege, die man zerdrückt – oder auch nicht. Die menschliche Person konstituiert sich durch „Grenzen“. Wer keine Grenzen mehr kennt, ist als Person nicht länger vorhanden. Er wird „identisch“ mit erwählten Anderen, die sich für auserwählt halten, oder er wird Fleisch, das überleben will. Grenzen können klein sein und doch groß in dem, was sie ausdrücken. „Seit den letzten Wochen tragen wir den Judenstern . . . Eine Mutter sah, dass ihr kleines Mädchen (in der Stadtbahn) neben einem Juden saß: ‚Ließchen, setz dich auf eine andere Bank, du brauchst nicht neben einem Juden sitzen.‘ Da stand ein arischer Arbeiter auf: ‚Und ich brauch nicht neben Ließchen sitzen!‘“130 Angst, Gleichgültigkeit, Opportunismus erklären vieles, doch am stärksten ist wohl der Umsturz der Verbote, tun zu dürfen, was vorher strikt untersagt war. „Ich gehe auf das Postamt, um dort in einer Telefonzelle zu telefonieren. Kaum bin ich in einer Zelle drin, als eine Frau die Tür aufreisst und mich kreischend herauszerrt: ‚Wir Arier müssen hier warten, immer sind die Juden in den Zellen! Raus mit den Juden! Raus!‘ . . . Es ist eine so schreckliche Szene, dass ich nicht weiß, wie ich wieder auf die dunkle Straße gekommen bin“.131 In der „Reichskristallnacht“ (9./10. November 1938) zerbrechen nicht nur Fenster: Das zerbrochene Fenster realisiert und symbolisiert die Willkür jener, die Gewalt haben, über die anderen. Es ist dass ewige Zeichen des Mobs, der da, wo er Fenster zerschlägt, es bald auch mit Menschen tut, die so wehrlos sind wie die Fensterscheiben. „Schon am Mittag des kommenden Tages, einem Sonntag, kam ein Bote von der Gemeinde mit dem Deportationsbefehl . . . Abels Name stand obenan, bald darauf folgte der von Gertrud Lind . . . Abel war der Erste, der sich aufraffte. Fast heiter und völlig ruhig sagte er. ‚Meine Ahnung war richtig, ich bin froh, dass ich es nun weiß und dass man Gertrud und mich zusammen gehen lässt.‘“132 Nachdem die Deportierten im Lager angekommen waren, „hielt der Lagerkommandant . . . eine kurze Ansprache, in der den Neuangekommenen erklärt wurde, sie kämen nun zum Arbeitseinsatz, müssten vorher aber noch entlaust, gebadet und körperlich untersucht werden.“ Im Vergasungsgebäude „führte man sie in die einzelnen Kammern, wobei man jeweils 200–300 Menschen in einer Kammer . . . zusammenpferchte. Dann wurden die Türen der Gaskammern geschlossen und das Licht ausgeschaltet . . . Endlich wurde der Dieselmotor angeworfen, dessen Abgase den jämmerlichen Erstickungstod der eingeschlossenen Menschen herbeiführte. Anschließend öffnete man die äußeren Türen der Kammern, in denen die meist mit Speichel, Kot und Urin beschmutzten Opfer . . . noch in verkrampften Stellungen stan-

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den oder übereinanderlagen. Die hierzu eingeteilten jüdischen Arbeiter . . . schleiften sie zu . . . vorbereiteten Gruben. Auf dem Weg dorthin wurden ihnen durch jüdische Zahnärzte . . . die Goldzähne herausgebrochen.“133 Es gibt keine Grenzen in der Gewalt. Sie ist stets grenzenlos. Was sie hemmt, sind Verbote und Gebote und die Drohung mit Strafe. Wo man Menschen, als Einzelne, als Kollektive, der Gewalt aussetzt, wird man sie ausplündern, niederschlagen, verjagen, umbringen, vorausgesetzt nur, dass sie wehrlos sind. „Ein Wächter ging auf meinen Vater zu . . . Der Wächter wollte von meinem Vater ein Taschenmesser haben . . . Mein Vater sagte: ‚Ich habe alles verloren und habe auch kein Taschenmesser mehr‘. Der Wächter untersuchte meinen Vater, und da er kein Taschenmesser fand, nahm er die Maschinenpistole vom Rücken und schoss meinem Vater in die Brust. Mein Vater fiel mit dem Gesicht auf die Straße . . . Ich schrie. Mein Vater wurde mit Füßen an den Straßengraben gestoßen. Der Wächter schoss noch einmal. Wir mussten sofort weiter.“136 Endlose Kolonnen Vertriebener sind auf dem Weg nach Westen, zu Fuß, mit Leiterwägen, Pferdewägen, in Güterwaggons. Menschen, die nicht mehr gewaltfähig sind, werden auf das Fleisch minimiert, das überleben will. Oder auch nicht: „Ein Schrei: ‚Haben Sie nicht mein Kind gesehen?‘ Ein kleiner Junge – rote Kappe, grüner Schal, brauner Mantel – ist abhanden gekommen. Die Mutter trägt ein Paar in Papier gewickelte Pantoffeln im Arm . . . Ich schüttle den Kopf, ich habe nichts gesehen. Da wankt sie weiter, immer weiter zurück. Die Pantoffeln hält sie fest unter den Arm geklemmt, und überall fragt sie: ‚Haben Sie nicht meinen Jungen gesehen? Als wir über das Haff fuhren, habe ich ihn verloren.‘“137 Würde man die Geschichten der Menschen erzählen, man käme an kein Ende. Sie sind endlos, oft gnadenlos und zuweilen voller Gnade.

Exkurs: Gewalt als Widerstand Die Frage nach einem Recht auf gewaltsamen Widerstand ist von allen Fragen der Politik die schwierigste, sofern man anerkennt, dass Frieden in der Gesellschaft nur dann zu sichern ist, wenn man „dem Staat“ alle physische Gewalt zuerkennt. Diese Frage beschäftigt das politische Denken Europas seit seiner Entstehung: Wann wird Herrschaft zur Tyrannis und wann darf, wann muss gar die äußerste Gewalt gegen sie angewendet werden, wann ist der Tyrannenmord erlaubt? Tyrannei ist Willkür, in die Form der Legalität gehüllt. Sie zitiert das Recht, ohne sich ihm zu unterwerfen. Das Problem des Widerstands aus dem Ehrgeiz, aus einer Besessenheit des Ich, ist etwa bei Friedrich Schiller vielfach abgehandelt worden, mit dem kalkulierenden Zyniker so gut wie dem maßlosen Enthusiasten als Handelnden. Es bleibt fast immer ein tragisches Geschehen, weil die Handelnden vor ihren Proklamationen versagen, von ihren Phrasen erschlagen werden, wie Fiesko, aus ihnen heraustaumeln, wie Demetrius. Nur Wilhelm Tell widersteht in jenem doppelten Sinn, der rettet, weil er der Tyrannis widersteht, ohne der Macht zu verfallen. Er wird für den Widerstand zu dem, was Cincinnatus für die Diktatur ist: einer, der „zum Pflug“ zurück-

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kehrt, weil er die politische Verderbnis situativ auffasst, nicht systemisch, d. h. in gewissen Personen das Unheil verkörpert sieht und sie nicht als Masken eines vom Grund her verdorbenen politischen Systems begreift. Tells Widerstand ist daher nicht im modernen Sinn „revolutionär“. Hier ist „die Geschichte“ noch nicht eschatologisch in das Bewusstsein eingebrochen, hier gibt es noch keinen Neuen Menschen, keine Neue Gesellschaft, nur die Vorstellung einer dem Menschen gemäßen gerechten Ordnung, die immer wieder aufs Neue hergestellt werden muss, ohne je ein „ganz Anderes“ zu werden. Es ist ein Denken im Zyklus, im ständig wiederkehrenden Erfordernis einer Erneuerung des Lebens, der Menschen wie ihrer Gemeinschaft, aber kein Denken in der Erwartung des kollektiven Heils als Ziel der Geschichte. Im Zyklus des Lebens, der immer wieder in Verfall mündet, macht der Widerstand den Neuanfang möglich. In der Heilsgeschichte, die auf das ganz Andere zuführt, wird der Widerstand zur Heilstat, zu einem dualistischen Geschehen, das nur als Erlösung durch Vernichtung vorgestellt werden kann. Dieser eschatologische Widerstand formiert sich um den Begriff der Totalität: Das revolutionär zu erreichende Neue ist so total wie das zu zerstörende Bestehende. Deshalb muss auch die Gewalt total sein. Diese Problematik ist in der Dreieckskonstruktion von Schillers „Don Carlos“ (1787) bereits erkennbar, mit dem träumerischen Rebellen Don Carlos und den dualistischen Antagonisten Marquis Posa und König Philipp. Wo Posa das „geheiligt Recht“ der Freiheit, die Menschenrechte einfordert, sieht der König die Ordnung im Staat, den Frieden bedroht. Die leviathanische Raison des Hobbes, dass der Bürgerkrieg das größte Unheil von allen bleibe und dass das Reden vom Widerstand nur die Phrase Ehrgeiziger sei, die selber Macht besitzen wollen, hat hier seinen Platz. Es ist bereits ein Argument im Umkreis der Revolution, denn der Tyrannenmord genügt jetzt nicht mehr. Es geht um die politische Ordnung an sich und die ist nur umzustürzen, wenn man zum Bürgerkrieg bereit ist. Dass die Tyrannis eine Form der Herrschaft sei, in der die Willkür einer ordnungslosen Seele die Ordnung der Gesellschaft selbst bedroht, ist die Gemeinsamkeit mit der klassischen Vorstellung, die das Übel der Tyrannei darin erblickt, dass diese Willkür das „politische“ Wesen der Gemeinschaft zerstört, eben die Herrschaft der Gesetze. In der Unterscheidung von nomos und anomos kommt dieser Gegensatz zum Ausdruck, was Plato fortdenkt zu dem Gedanken, dass der wahre Herrscher „Philosoph“ sein müsse, einer also, der ein Wissen vom „guten“ Staat besitzt und es in den Gesetzen verwirklicht. Dieses Wissen ordnet die Seele des Herrschers und durch sein Handeln zugleich die der Untertanen, deren Zustimmung prinzipiell entbehrlich bleibt. Bei Aristoteles (384–322 v. Chr.) ändert sich das. Die Zustimmung der Regierten zur Herrschaft ist hier der Index einer gerechten, zu Recht ausgeübten Herrschaft, in der die Bürger freiwillig gehorchen, weil der Herrscher die Gesetze achtet und das Gemeinwohl vor seinen eigenen Nutzen stellt. „Freundschaft“ und „Recht“ ergänzen sich.136 In einer solch gerechten Gesellschaft ist das Vertrauen das höchste Gut, zwischen den Bürgern wie zwischen Bürgern und Herrscher, so wie in einer ungerechten Gesellschaft das Misstrauen allgemein geworden ist. Der Weg in die Tyrannis ist folgerichtig einer des eskalierenden Misstrauens, d. h. einer zerfallen-

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den Gesellschaft, in der eine soziale Gruppe ihr eigenes Interesse ohne Rücksicht auf andere durchzusetzen sucht und sich dabei der Herrschaft bzw. des „Staates“ bedient: die Oligarchie als Nutzenherrschaft der Reichen und die Demokratie als solche der Armen. Da beide ohne Gewalt nicht zu bestehen vermögen, immer mehr davon benötigen, steht am Ende die Errichtung einer Despotie. Der Tyrannenmörder tut daher ein ehrenvolles Werk und eine politische Gemeinschaft wird ein kluges Werk tun, wenn sie jeden mit harten Strafen bedroht, der versucht, eine Tyrannei zu errichten, mit Verbannung, Vermögensverlust, Tod. Die Tyrannis ist mit der Herrschaft über Sklaven vergleichbar, die ebenfalls außerhalb des Rechts stehen und der Willkür ausgesetzt sind. Aber Bürger sind keine Sklaven und wenn man sie dazu machen will, sucht man sie zu zerstören. Eben deshalb ist der Tyrannenmord ein Rettungshandeln.137 Der Widerstand gegen die Tyrannei ist daher die Radikalität des Misstrauenshandelns und also folgerichtig das Ergebnis des tyrannischen Sozialzustandes. Die gerechte Gesellschaft aber ist eine von Freundschaft gekennzeichnete, weil philia dasjenige ist, was den Menschen zur Gesellschaft hin öffnet, ihn für sie befähigt. Die philia politike wäre dann die Weitung des Menschenwesens auf die Polis, auf die politische Gemeinschaft hin. Die Tyrannei trifft damit das Wesen des Menschen selbst.138 Sie verunstaltet ihn. Sie verunstaltet auch den Tyrannen. Wie in einem Dialog Xenophon den Tyrannen Hieron von Syrakus sagen lässt, sei kein Sterblicher unglücklicher als der Tyrann, weil er keine Freundschaft und kein Vertrauen kennen könne und hinter allem nur Schmeichelei und Verrat wittere. Überall sei Feindesland, selbst im Palast, selbst unter Familie und Verwandten. Der Tyrannenmord ist ein blutiges Paradox, denn wenn es kein größeres Verbrechen gibt, als einen Mitbürger zu ermorden, wie Cicero sagt,139 inmitten des Friedensraums der „Stadt“, so gibt es keine edlere Tugend, als den Tyrannen zu töten. Der Tyrann hebt gewissermaßen den Friedensraum der civitas auf, indem er ihre symbolische Voraussetzung zerstört, die „Freundschaft“ unter den Bürgern. Dieser Gedanke findet sich wieder in der mittelalterlichen Widerstandslehre mit den für die Rechtfertigung von Herrschaft grundlegenden Begriffen des „Rates“ und der „Treue“, die den Herren personal mit seinen Gefolgsleuten in einem pactum verbinden.140 Lehensherr und Lehensträger waren einander wechselseitig verpflichtet und die Struktur dieser Wechselseitigkeit bildete die Gewalt. Denn was der Lehensherr von seinem Lehensmann erwartete, war der Kriegsdienst. Der Lehensmann war der gewaltfähige Mann, der die Gewalt folgerichtig auch als Widerstand gegen den Lehensherrn richten konnte und dabei sein Gewaltrecht, d. h. Fehderecht in Anwendung brachte. Widerstand war daher gewalttätige Rechtssuche, mit der man ein Gottesurteil herbeiführen wollte. Allerdings steht das christliche Tötungsverbot dem antiken Tötungsgebot entgegen. Aus der Lektüre der Hebräischen Bibel schließen christliche Theologen des Hochmittelalters auf die Tyrannei als Strafe Gottes, die beseitigt wird, wenn Gott es will. Dabei unterscheidet Thomas von Aquin den rechtmäßigen Herrscher, der zum Tyrannen geworden ist, vom Usurpator, der stets Tyrann war. Während der Letztere von Anfang an ein von Gott Verworfener bleibt und beseitigt, getötet werden kann, hat Ersterer zunächst die Gnade Gottes gefunden, was es schwieriger macht, seine Tyran-

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nei festzustellen, d. h. festzustellen, ob er durch seine Handlungen diese Gnade verwirkt hat. Kann der Usurpator von jedermann getötet werden, so bedarf die Beseitigung eines tyrannisch gewordenen Fürsten einer rechtlichen Form, einer publica auctoritas (der Magistrate, Stände, der Kirche), um sozusagen die Gewalt in den Gehäusen der Ordnung festzuhalten. In der englischen Magna Charta libertatum (1215) ist diese Festlegung eines Rechts auf Widerstand als Kehrseite feudaler Gehorsamspflicht fixiert worden. Es ist ein Privileg der privilegierten, aus eigenem Vermögen gewalt- bzw. herrschaftsfähigen Gruppen und kein Recht des Jedermann. Thomas sieht im Papst als dem Stellvertreter Gottes einen, der einen Tyrannen absetzen und sogar zum Tod verurteilen kann, vor allem, wenn dieser ein Häretiker ist und sich nicht demütig unterwirft. Die Gewalttat selbst bleibt jedoch in den Blut-Händen der weltlichen Fürsten. Dieses Häresie-Prinzip wird folgenreich mit dem Zerfall der mittelalterlichen Glaubenseinheit, denn nun ist es nicht mehr eindeutig bestimmbar, wer denn ein „Häretiker“ sei. In der jesuitischen wie der calvinistischen Widerstandslehre des 16. Jahrhunderts verliert ein Fürst den Anspruch auf Herrschaft und – bei Widersetzlichkeit – Leben, wenn er von der „wahren“ Religion abfällt. Denn Herrschaft ist immer ein „Pakt“, ein „Covenant“ unter Gott und sie verliert ihren Anspruch auf Gehorsam, wenn sie das „gute alte Recht“ bricht, wenn sie sittenlos wird, wenn sie sich von Gott abwendet. Hier gründet dann die Lehre vom zweifachen Bund, wie er von den französischen „Monarchomachen“ des späten 16. Jahrhunderts ausgearbeitet worden ist. Neben den Bund mit Gott, zuerst vom Volk Israel am Sinai-Berg geschlossen, tritt der zweite Bund mit dem Fürsten. Den ersten Vertrag hat Gott mit denen geschlossen, die an ihn glauben. Er ist nur individuell zu brechen, durch den Glaubensabfall eines Menschen. Den zweiten kann „das Volk“ durch seine Repräsentanten kollektiv aufkündigen, wenn der Fürst dagegen verstoßen hat. Explosiv wird diese Lehre durch das Hinzutreten des eschatologischen Furors, nämlich der Vorstellung, der häretische Tyrann sei der Antichrist oder sein Helfershelfer. Hier öffnet sich sogar bei Luther, mit seiner strikten Trennung eines Gottesreiches des Glaubens und eines Menschenreiches der Herrschaft und Gewalt, die schmale Pforte des Widerstandes. Ein Leibeigener gehört einem Herren mit seinem Leib, doch die „christliche Freiheit“ gehört seiner Seele und steht nicht in der Verfügung des Herren: Das ist die Grenze zu Tyrannei und Widerstand. Wer aber nur für die Sache „des Leibes“ Widerstand leistet, wie die aufständischen Bauern (1525), verfällt zu Recht dem Schwert. Für die Sache des Gewissens jedoch wird der Krieg hingenommen, wird dieser sogar zu einem „über alle Maßen gerechten Krieg“, wie ihn der schottische Calvinist George Buchanan (1574) nennt.141 Doch bleibt das moralische Problem eines Gebots zum Tyrannenmord erhalten, denn wer garantiert, dass man auf diese Weise nicht „dem Bösen Maßlosigkeit gewährt“? Für die Römische Kirche löst sich das Problem im Prinzip durch den Spruch des Papstes, doch für den Protestantismus bleibt allein die Radikalität der individuell gewonnenen Überzeugung. „Im Letzten“ ist der Protestant, der Calvinist zumal, nur „Gott“ verantwortlich. Alle soziale, begrenzende Einbindung wird dann hinfällig vor der Bedingungslosigkeit Gottes, von dem man in seinem individuellen Gewissen „ergriffen“ wird. Dieser ergriffene Mensch wird zum bescheidenen

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„Werkzeug Gottes“, das Gottes Willen tut und auf die Zeichen der „Vorsehung“ achtet, eine zweite Sprache der Offenbarung, die von den Köpfen und Taten der „poor instruments“ selbst buchstabiert wird.142 In der Englischen Revolution spricht Gott dann in seinen „providences“ das Urteil über den König, das seine Werkzeuge nur noch vollziehen (1649). Allerdings sucht auch Calvin nach einer institutionellen Eingrenzung des Widerstandsrechts und er findet es in der Zuerkennung eines solchen Rechts an die „Magistrate“, d. h. die Amtsträger, nicht jedoch an die Untertanen selbst. Das entspricht dem Machtzustand der ständischen Gesellschaft, in welcher der Fürst seine Autorität von den privilegierten Ständen erhält, ohne deren Gehorsam er – der noch über kein stehendes Heer verfügt – verloren wäre. Zwischen den das „Volk“ vertretenden Ständen und dem Fürsten herrscht demnach ein Vertrauen begründendes Abkommen, ein trust, der zeitlich, pro tempore gegründet ist und auch wieder zerfallen kann. Dann wechselt der Gehorsam in das Recht zum Widerstand über. Eine ewige Dauer, iure divino, wird daher für jede weltliche Herrschaft zurückgewiesen, denn dann könnte es kein Widerstandsrecht geben, da Widerstand in diesem Falle gegen Gott selbst gerichtet wäre. Allein die Kirche gilt daher als göttlich gegründet, die wahre Kirche selbstverständlich, weshalb es in ihr weder Widerstand noch Gewissensfreiheit – als dessen geistliche Entsprechung – geben darf. Diese Lehre blieb nicht unwidersprochen. Dem Satz, dass das größte Übel die Tyrannei sei, setzten Machiavelli und Hobbes den Satz entgegen, das größte aller Übel sei der Bürgerkrieg, sei der Tod. Alle Herrschaft gründet auf Gewalt und ohne Herrschaft kann es keine Gesellschaft geben. Um dies klarzustellen, muss die Unterscheidung von Tyrannis und gerechter Herrschaft aufgegeben werden. Was bei Buchanan zur Schwierigkeit in einer gerechten Sache wird, dass auch Bösewichte sich mit der Phrase des Tyrannenmordes schmücken können, das wird bei Hobbes zum „Biss eines tollwütigen Hundes“, der eine psychische Erkrankung auslöst, die „Tyrannophobie“.143 Jede Herrschaft ist gerecht, die das Leben der Untertanen schützt. Vermag sie das nicht mehr, zerfällt sie. Doch hat dieser Zerfall nichts mit Widerstand oder einem Recht dazu zu tun, er tritt ein wie ein Naturgesetz. Das summum malum ist an die Stelle des summum bonum getreten, der Wunsch, zu überleben hat das Streben nach dem „guten Leben“ abgelöst. Diese Minimierung des Menschen als eines „Wolfs unter Wölfen“ erregte jedoch vielfachen Protest. John Locke, der wie Hobbes die Englische Revolution bedenkt, zieht daraus andere Schlüsse, die an die überkommene Widerstandslehre anknüpfen: Wer den „trust“ bricht, d. h. den Pakt zwischen Fürst und Volk auf der Basis der überkommenen Rechte und Gesetze, der verliert das Vertrauen und damit die Möglichkeit, friedlich, also mit dem Gehorsam und nicht der Gewalt, zu regieren. Widerstand ist hier rechtens, und zwar bereits vorbeugend. Die Bürger überwachen König und Regierung auf die Respektierung der „ancient constitution“ hin und sie tun es durch ihre „Beratung“ im Parlament. Die Formel vom „King in Parliament“ soll dies zum Ausdruck bringen. Der Widerstand artikuliert sich im Parlament als „His Majesty’s loyal opposition“: Damit ist die Tyrannophobie ebenso überflüssig geworden wie die leviathanische Unterwerfung. Ging es nun in England darum, den „trust“ zwischen Herrscher und Volk zu erneuern, so zielte die amerikanische Unabhän-

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gigkeitserklärung auf den Bruch zwischen beiden und auf eine Begründung der Herrschaft allein vom Volk her. Mit der Erklärung des englischen Königs zum „Tyrannen“ gewann man den weltanschaulichen Punkt, um die ganze englische Herrschaft aus den Angeln zu heben. Der Hebel dazu war die Proklamation des Rechts, „to alter or to abolish . . . any form of government . . . and to institute new government“, wann immer die unveräußerten Rechte auf „life, liberty and the pursuit of happiness“ gefährdet seien (Declaration of Independence, 4. 7. 1776). Dieses Revolutionsprinzip gründet nicht nur die amerikanische Republik, es gründet sie zugleich auf dem Recht auf Widerstand und formalisiert es später in der Verfassung im System der „checks and balances“. Ein Widerstandsrecht nicht nur als Voraussetzung, sondern als wesentlicher Bestandteil einer revolutionär ermöglichten Verfassung findet sich dann in der französischen Verfassung von 1793. Widerstand wird hier als Verteidigung dieser Verfassung zu einem Recht, ja zur Pflicht jedes „citoyen“. Wer allerdings die Verfassung durch das jakobinische Terror-Regime verletzt sah und daraus sein Recht auf Widerstand ableitete, wurde unverzüglich aufs Schaffott geschickt. In einem Staat, der die Identität von Volk und Herrschaft behauptete, konnte es keinen Widerstand gegen die Herrschaft geben. Widerstand leisteten hier lediglich Volksfeinde und die mussten beseitigt werden. Die Revolutionäre wissen um das Potential des politischen Mordes als stärkstes Symbol des Widerstands. Robespierre betont, dass „Louis Capet“ (d. h. Ludwig XVI.) nicht durch den Dolch des Tyrannenmörders, sondern durch das Schwert des Gesetzes falle. Er, der nun selbst dieses Schwert regiert, glaubt, auf diese Weise vor dem Dolch sicher zu sein. Tatsächlich traf der „Dolch des Brutus“ einen anderen, den Agitator Marat, von der Hand einer Frau, der Charlotte Corday. Vom Kult der Corday an, die in Marat einen in seiner Seele verrotteten Menschen erblickte, der die Gesellschaft verdarb, begann sich der Terrorismus des 19. Jahrhunderts zu entwickeln: Ein ethischer Rigorismus des zweifachen Opfers, der den Feind und sich selbst tötete, vor aller Augen. Davor erschraken nicht nur die Revolutionäre, sondern auch die Höfe Europas. Jede Revolution proklamiert das Recht auf Widerstand als Recht auf Gewalt „von unten“. Die Revolution, der Bürgerkrieg als Methode, löst den Tyrannenmord ab, weil die Beseitigung des ersetzbaren Einen nicht die Herrschaft an sich beseitigt. Der Umsturz der ganzen Gesellschaft kommt in den Blick. Die in England und den USA sich durchsetzende Trennung von Staat und Gesellschaft als zweier relativ eigenständiger Handlungsbereiche, die über Recht und Repräsentation ineinander verzahnt waren, wurde im revolutionären Diskurs verworfen. J. J. Rousseaus Ideal einer Gesellschaft identischer Willen setzte Herrschaft und Gesellschaft in eins, was bedeutete, dass alle zu seiner Zeit bestehenden Staaten Tyranneien seien und also zu beseitigen. Sieht Rousseau demnach die Gesellschaft als etwas, das nach Totalität strebt, so besteht sie für Kant aus einer Vielzahl von Individuen. Es geht daher nicht um eine Durchdringung des Staates von der Gesellschaft her, also um die Durchsetzung einer repräsentativen Staatsform oder gar die einer identischen Gesellschaft, sondern um eine solche staatliche Verfassung der Gesellschaft, in der die sittliche Autonomie des Einzelnen möglich ist.144 Es geht um rechtliche Freiheit und Gleichheit, um das Verschwinden staatlicher Bevormundung im Namen des „Glücks“ der Untertanen. Es

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geht aber auch um die Vermeidung der Willkür durch politische Repräsentation und Öffentlichkeit. Bricht die Herrschaft das Recht, wird sie despotisch, „darf und soll“ der Bürger den Gehorsam verweigern, aus seiner ihn als Person konstituierenden sittlichen Kraft heraus. Widerstand mit Gewalt, Revolution lehnt Kant ab. Ohne feste herrschaftliche Ordnung, welche Recht setzt und durchsetzt, ist kein Friede unter den Menschen möglich. Herrschaft, nicht Freundschaft begründet das gewaltlose Zusammenleben der Menschen und deshalb darf niemand die Gewalt in die Gesellschaft hineintragen. Widerstand ist erlaubt, doch er muss passiv bleiben und die Folgen hinnehmen.145 Widerstand ist ein individueller Akt, eine Verteidigung des sittlichen Ichs. Wo Widerstand kollektiv wird, Massenhandeln, sieht Kant offenbar die im „Tierischen“ des Menschen angelegte „Bösartigkeit“ wuchern. Sittlichkeit ist nur im Einzelnen und nur durch ihn kann sie im Handeln verwirklicht werden. Wenn dann der Gehorsam verweigert wird, zerfällt die Autorität der Herrschaft, wird sie Gewalt, Tyrannei, und Kant glaubt nicht, dass sie dann noch Bestand haben kann. Kants Begriff des sittlichen Widerstands sucht einen dritten Weg zwischen einer Unterwerfungslehre und einer Gewaltlehre. In Deutschland etwa, mit seiner Tradition des aufgeklärten Fürstenstaates, der sich als Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat rechtfertigte und mit Preußens Erfolg bei der Herstellung der deutschen Einheit zugleich nationalstaatliche Rechtfertigung auf sich gezogen hatte, dominierte die Unterwerfungslehre, wirkungsvoll vorgetragen in den 1870er und 80er Jahren durch den Historiker Heinrich von Treitschke. Treitschke schließt aus dem subjektiven Vorbehalt auf die Unmöglichkeit eines Widerstandsrechtes, denn wenn die subjektive Einschätzung staatlichen Handelns als Unrecht bereits zum Widerstand berechtigte, sei ein „Krieg aller gegen alle“, der Bürgerkrieg als stete Gefahr, die Folge.146 Treitschke anerkennt die Tatsache von politischen Umstürzen, akzeptiert sogar ihren „sittlichen Gehalt“ da, wo es sich um Glaubensfragen handelt, was für ihn als Protestanten mit nachdrücklicher Verachtung des Katholizismus persönlich unvermeidlich ist. Und ebenso persönlich unvermeidlich war sein politischer Widerstand gegen die verachteten deutschen „Zaunkönige“, den eigenen sächsischen König, sein Eintreten für Preußens „deutsche Aufgabe“. Seinen persönlichen Entschluss zum Widerstand „der Feder“ begrifflich in seine Lehre von der Politik einzubringen, war er allerdings nicht in der Lage. Diese Schwierigkeit ist nahezu unvermeidlich, wo ein positiver Staatsbegriff vorausgesetzt wird. Folgerichtig findet sich die Ausrufung des Widerstandsrechts da, wo der Staatsbegriff negativ ist – in Bezug auf den vorhandenen Staat wie auf jede Form staatlicher Herrschaft überhaupt. Anarchismus wie Kommunismus formulieren den Widerstand als Totalität. Widerstand ist im Kommunismus ein kollektiver Vorgang, der sich in der Revolution Ausdruck verschafft. Diese ist ein historisch notwendiges Geschehen. Sie erfordert keine Gewissenserforschung, keine individuelle Entscheidung und auch die Frage, wann Widerstand zulässig sei, ist unnötig, da „die Geschichte“ auf die bürgerlichkapitalistische Gesellschaft und den sie sichernden Klassenstaat zeigt. Im Anarchismus hingegen wird die individuelle Entscheidung zentral, die Bereitschaft, das „Privileg des Mordens“, „im Interesse der Humanität“.147 Das Bestehen des Staates ist Unrecht. Aus sei-

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ner schieren Tatsächlichkeit ergibt sich das Recht auf Widerstand, weil er mit denen, die ihn ablehnen, nicht identisch ist. Identität und Gewalt bedürfen einander. Der dritte Weg schließt beides aus. Kants Hinweis auf den passiven Widerstand hat durchaus Nachfolger gefunden. Die Verweigerung des Gehorsams ohne Gewalttätigkeit findet sich bereits im frühen Christentum, aber auch den Lehren Buddhas. Es ist hier eine Verweigerung vor der Welt, der Welt Kains, im Angesicht Gottes. Wichtig für den Gedanken des gewaltlosen Widerstands in der Moderne ist dann die Verbindung dieses weltabgewandten spirituellen Moments mit dem der Welt zugewandten politischen geworden. Das Politische als das „Zivile“ aufgefasst, als Teil einer „civil society“, die keine wesenhaft militärische ist, führt zur Einforderung von Rechten, die der Mensch als Bürger einer politisch organisierten Gemeinschaft geltend zu machen hat. Vorausgesetzt wird dabei ein Rechtsstaat, dem Bürgerrechte abverlangt werden, die er formal allen bereits zugebilligt hat, die jedoch nicht oder nur unvollständig verwirklicht worden sind. Das hier entstandene Konzept der civil disobedience bildet die liberale Version eines Rechts auf Widerstand und sie stammt nicht zufällig aus den USA. Formuliert von Henry David Thoreau (1849) betont sie das Öffentliche, Gewaltlose einer Verweigerung bei grundsätzlicher Anerkennung der vorhandenen politischen Ordnung. Es ist ein politisches Handeln „für mich und für andere“, das aber im doppelten Sinne „zivil“ bleibt, eben unmilitärisch und „zivilisiert“. Bei Thoreau war es die Weigerung, eine Steuer zu zahlen, da diese einem Staat zugute kam, der die Sklaverei aufrechterhielt und einen Angriffskrieg (gegen Mexiko) führte.148 Ziviler Ungehorsam, durch Steuer-Verweigerung, durch Amts-Niederlegung, erzwingt vom Staat eine Politik, zu der er eigentlich verpflichtetet ist. Bei Thoreau sind es die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung und der Menschenrechte, die allerdings durch Gesetze teilweise außer Kraft gesetzt worden waren, insbesondere durch die Legalisierung der Sklaverei. Eine „wise minority“, die den Gehorsam verweigert und bereit ist, die Konsequenzen auf sich zu nehmen, kann zum Kollaps der Autorität des Staates führen.149 Spätestens dann stellt sich allerdings die Frage nach der Gewalt. Dass für die staatliche Herrschaft eine „friedliche Rebellion“ gefährlicher wird als eine bewaffnete, war die Überzeugung des bedeutendsten Vertreters eines gewaltlosen Widerstands, des Inders Mahatma Gandhi. War aber Thoreau am Ende bereit, auch die Gewalt zu billigen und den Bürgerkrieg als Methode, die Sklaverei zu beseitigen, so hielt Gandhi am gewaltlosen Widerstand unbeirrbar fest. Thoreaus Behauptung von 1859, nicht die Waffe sei die entscheidende Frage im Widerstand, sondern der Geist, in den man sie nutze, ist das Argument des Terroristen, mit dem er alles entschuldigt. Wie Thoreau ist Gandhi ein religiös getriebener Wahrheitssucher, der mit seinem Handeln nicht nur ein für gerecht gehaltenes Ziel erreichen will, sondern in dieser Gerechtigkeit etwas Ewiges, Transzendentes angelegt sieht. Dieser Widerstand, Satyagraha („Macht der Wahrheit“),150 wurde zur Methode des indischen Unabhängigkeitskampfes. Da Gandhi die „Wahrheit“ als etwas nie „ganz“ zu Ergreifendes auffasste und da er sich stets in einer kommunikativen Gemeinschaft befindlich sah, der seine Anhänger wie seine Widersacher zugehörten,

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gab es auch keine terroristische Versuchung für ihn. Aus dieser Unfähigkeit, die absolute Wahrheit zu erkennen, leitete Gandhi denn auch die Pflicht zur Gewaltlosigkeit ab.151 „Non-Cooperation“, Boykott britischer Waren, die Verweigerung der Steuer auf Salz als symbolische Zurückweisung der Autorität der kolonialen Herrschaft mündeten schließlich nach drei Jahrzehnten des Widerstands in die Unabhängigkeit Indiens (1947). In dem schwarzen Pfarrer Martin Luther King fand die Idee des gewaltlosen Widerstands später ihren zweiten wirkmächtigen Vertreter, der als Sprecher der Bürgerrechtsbewegung (1955–68) in den USA entscheidend daran mitgewirkt hat, dass die Prinzipien der amerikanischen Freiheitsdokumente gegen eine sie verletzende „Legalität“ ein weiteres Mal durchgesetzt worden sind, wie bereits Thoreau das gefordert hatte. Der Sprach-Widerstand in der UdSSR, also der Versuch, der toten, die Denkfähigkeit des Einzelnen tötenden Staatssprache eine Bürgersprache entgegenzustellen, mit einer Untergrundliteratur (Samisdat) und A. Solschenytzin als wichtigstem Repräsentanten, bildet ein weiteres Beispiel eines zivilen Widerstands, der sich nur schrittweise von einer Rückführung des Systems zu seinen behaupteten Prinzipien („Sozialismus mit menschlichem Antlitz“) zu dessen grundsätzlicher Ablehnung fortentwickelt hat. Die Bürgerrechts-Bewegungen in der Tschechoslowakei, Polen, der DDR, die nach 1989 im Zusammenbruch der kommunistischen Systeme gipfelten, gehören gleichfalls in diesen Zusammenhang. Thoreau, Gandhi, King haben gegen Ende ihres Lebens daran zu zweifeln begonnen, ob Widerstand tatsächlich ohne Gewalt erfolgreich sein kann. Der Weg des gewaltlosen Widerstandes ist ein langer, der den Gegner eher zermürbt als „besiegt“, d. h. gewaltunfähig macht. Und er ist ein Weg, der „öffentlich“ zurückgelegt werden muss, weil die Zermürbung mehr seine moralischen als seine materiellen Ressourcen erschöpft. Wo es die Möglichkeit von Öffentlichkeit nicht gibt, wo keine „lange Zeit“ vorhanden ist, vielmehr diese irreversibel geworden ist, dezisionistisch, hat auch die Gewaltlosigkeit keine Chance mehr. Der gewaltlose Widerstand benützt die Öffentlichkeit nicht propagandistisch, wie der Partisan oder Terrorist, sondern er ist selbst Öffentlichkeit und nichts als das. Seine Strategie ist die Kommunikation und diese ist das Gegenteil von Gewalt. Er versucht, die vorhandene politische Ordnung von ihren Idealen her zu kritisieren und glaubt nicht, eine Wahrheit zu besitzen, die absolut ist, noch eine, die der gegenwärtigen Ordnung absolut entgegengesetzt ist. Auch Gandhi will zwar die Beseitigung der britischen Kolonialherrschaft, aber einen Staat, der durchaus dem britischen Modell eines demokratischen Rechtsstaates folgt. Im totalitären Staat hingegen fehlt dem Widerstand das Medium der Öffentlichkeit, ist die Überwachung allgegenwärtig und die Bestrafung radikal. Aber auch gewaltsamer Widerstand scheint kaum möglich, schon weil das Regime alle Gegenmittel an sich gezogen hat. Was bleibt, ist vor allem der kleine Widerstand, die alltägliche Verweigerung, etwa eines hartnäckigen „Grüß Gott“ statt des „Heil Hitler“, der Weigerung zum Hochziehen der Hakenkreuzfahne, zum Parteibeitritt, zur Provokation des Ausschlusses durch Verweigerung weiterer Mitarbeit. Im Protest der Mitglieder der „Weißen Rose“ (Februar 1943) gipfelt dieser kleine Protest in einem spektakulären, großen, als Versuch, die zerstörte Öffentlichkeit wiederherzustellen. Der Widerstand gegen die NS-Herrschaft

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II. Gewalt in der modernen Welt

ist breit und vielgestaltig. Kennzeichnend ist zunächst, dass alle Gruppierungen des Widerstands zu gewissen Zeiten zum Kompromiss mit dem Nationalsozialismus bereit waren, von den Kirchen, den Offizieren bis zu den Kommunisten, so wie das Regime zeitweise die Zusammenarbeit suchte. Der Krieg brachte dann die Wende, stückhaft vor allem beim Militär, der einzig gewaltfähig gebliebenen Institution des totalitären Staates, die noch nicht vollständig „gleichgeschaltet“ worden war. Nach 1943, als mit Stalingrad das Menetekel der totalen Niederlage unverkennbar geworden war, und für die Offiziere noch deutlicher als für andere, begann sich die Militäropposition zu formieren, wurde der Entschluss zum „Tyrannenmord“ eindeutig. Von drei Fronten sozusagen eingekesselt: dem Terror des Regimes, dem Krieg der Alliierten, der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation, reduzierte sich die Pragmatik eines „rechtzeitigen“ Regimewechsels auf einen moralischen Kern, der Rettung von Menschenleben in Städten, Lagern, an den Fronten, der Abrechnung mit der Despotie aus eigenem Entschluss. Es war für Offiziere ein ungeheurer Entschluss, ihren Oberbefehlshaber zu töten, dem sie einen Eid geschworen hatten, und das inmitten eines Krieges und im vollen Bewusstsein, dass sie von vielen als Verräter verachtet werden würden. Die Verschwörer des 20. Juli 1944 hatten mitgemacht, fasziniert oder aus Gewohnheit und erschraken nun vor sich. Für einen anderen Anfang war es bereits zu spät, nicht für ein Ende jetzt, nicht für ein Zeichen, für das sie auch ihr Leben einzusetzen bereit waren. Das antike Motiv des Tyrannenmords kehrt zurück. Der Tyrann ist nicht einfach einer, der die absolute Gewalt an sich gerissen hat und sie willkürlich gebraucht. Er ist der, welcher mit seiner Despotie die Polis zerstört, die Seele der in ihr lebenden Menschen korrumpiert hat. In der Tyrannis erkennen sich die Menschen nicht mehr an ihren Pflichten, sondern an ihrer Feigheit. Ihre „Seele“ wird zur instrumentierbaren „Psyche“, ihr Weltvertrauen zur lauernden Furcht. Die Tyrannei zerstört die lebendige Rede, ersetzt sie durch die tote der Phrasen. Das Recht oder Unrecht des Widerstands zeigt sich demnach zuerst und zuletzt in der Sprache. Wer im Namen „der Menschheit“ „Ungeziefer“ vernichten will, stellt sein Recht selbst in Frage. Der politische Mord muss das letzte Mittel bleiben, wenn er „gerecht“ sein will. Wer im Vorletzten dazu greift, solange noch Rede und Gegenrede möglich sind, wird zum einfachen Mörder. Deshalb ist der Begriff des „Widerstands“ der schwierigste und wichtigste jeder Philosophie der Politik. Antigone hat eine Antwort gefunden, die schwerste von allen, sie, „die Liebende/Die frommen Frevel übte, muss ich länger doch/Den Toten gefallen als den Lebenden./Denn dort ja ruh ich ewig“.

III. Ausblicke 1. Gewalt in der Geschichte Das erste Lebewesen, das der Mensch tötete, war das Tier. Im Töten von Tieren erlernt der Mensch das Töten. Er erfährt es als etwas Ungeheueres: Als den Schrecken des Todes, der ihm Angst macht, und den er nun selbst vollzieht. Der Tod, ein Ereignis des Numinosen, wird zur Tätigkeit des Menschen. Der Mensch reißt den Tod aus der Hand des Gottes, doch er wird nicht sein Herr, er bleibt ihm unterworfen. Im Opfer versucht er den Gott zu versöhnen, sucht er das Töten symbolisch dem Gott zurückzugeben. Mit dem Töten von Menschen durch Menschen erreicht der Tod als Tätigkeit eine neue Dimension. So wie die Jagd den Übergang in die erste Struktur des Tötens bedeutet, so wird der Krieg zu einer zweiten Tötungs-Struktur. Diese bildet sich aus mit der Sesshaftwerdung, der Entstehung des Territoriums aus der Notwendigkeit, einen durch Ackerbau, Hausbau, Bewässerung, Vorratshaltung immobil gewordenen Lebensraum zu verteidigen bzw. aus der Verlockung nomadisch gebliebener Gruppen, ihn zu plündern, zuerst durch sporadische Überfälle, dann durch Eroberung und Ausbeutung. Durch erobernde Überlagerung wie durch Verteidigung entsteht Herrschaft als soziale Organisation zum Krieg, die aber nur wirksam sein kann, wenn auch im Inneren des herrschaftlich organisierten Sozialverbandes Friede gegeben ist. Der Friede bildet dann die Innenseite des Krieges. Aus dieser Spannung von Friede und Krieg entsteht eine zweite Symbolisierung der Gewalt des Tötens in den Riten des Auszugs zum Krieg aus dem Friedensraum der Gemeinschaft und der Rückkehr in ihn, beispielhaft bei den Römern als dem exemplarischen Gewaltvolk der Antike. Während die Römer die kriegerische Gewalt ritualisieren und damit symbolisch abgelten, bleibt sie bei den Griechen unversühnt. „Troja“ wird zerstört, doch in der Zerstörung des Feindes zerstören die Sieger sich selbst. Der Krieg ist ein Fatum, dem keiner entkommt, von den Göttern über die Menschen geworfen, ein Netz, in dem sie sich auf ewig verstricken. Territorium, Herrschaft, Krieg und Frieden bedingen sich. Herrschaft muss sich rechtfertigen – vor den Göttern wie vor den Menschen. Indem sie sich vor den Göttern rechtfertigt, rechtfertigt sie sich vor den Menschen. Sie rechtfertigt sich vor Göttern wie Menschen durch dasselbe: den Frieden. Friede in der politischen Gemeinschaft aber heißt Abwesenheit von Gewalt. Politische Herrschaft gewinnt Autorität, d. h. Gehorsam ohne die Androhung von Gewalt, indem sie die Gewalt in die Ordnung zwingt, indem sie Recht setzt und durchsetzt, die private Rache durch die öffentliche Strafe verdrängt. Sie gewinnt weiterhin Autorität, indem sie auf ein Übergreifendes verweist, auf etwas, das riesenhaft

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III. Ausblicke

größer ist als der Einzelne, d. h. auf das Göttliche, das mit der eigenen politischen Gemeinschaft kultisch korrespondiert und von der Herrschaft repräsentiert wird. Sie gewinnt schließlich Autorität, indem sie die Gewalt besitzt. Dieser Besitz der Gewalt, im Inneren wie im Äußeren, verbindet die Autorität zugleich mit der Tatsächlichkeit der Gewaltverfügung und -anwendung: Wo Herrschaft über Gewalt nicht mehr verfügt, verliert sie ihre Autorität bzw. schrumpft sie auf das Kultische. Als solches kann sie dauern, ohne aber noch Herrschaft zu sein. Herrschaft ist die Spannung von Gewalt und Autorität. Sie kann als bloße Gewalt nicht bestehen, aber als bloße Autorität auch nicht. Religion hat immer mit Entsühnung von Gewalt zu tun. Damit erfüllt sie ihre Funktion als sozial-psychische Entlastung – sie wehrt das Übel ab und nimmt es zugleich auf. Neben dieser Mittlerfunktion zwischen einer Gewalt- wie Todeswelt und einem Jenseits davon besitzt Religion noch eine Funktion der Legitimierung von Herrschaft, die dieser einen sakralen Gehalt verleiht, so wie sie selbst eine Funktion von Herrschaft wird. Das Christentum, sobald es Kirche wird, verleiht Herrschaft eine sakrale Dimension, es wird unmittelbare Herrschaft in den geistlichen Fürsten bis hin zum Papst, es vermittelt zwischen Gewalt- und Friedenswelt. Gerade weil das Christentum massiver als andere Religionen die radikale Negation der Gewalt mit einer kaum minder radikalen Rechtfertigung von Gewalt verbunden hat, bemühte es sich in besonderer Weise um die Vermittlung von Krieg und Frieden, gefasst in Begriffen und Regeln. Die Trennung und Vermittlung von Menschen- und Gottesreich mit dem Mittlungsglied der Kirche soll das Paradox fortdauernder Gewalt im Zustand der begonnenen Heilsgeschichte geistig explizieren und der Gottesfriede soll das im Ansatz bereits vorhandene göttliche Friedensreich möglichst weit in die Gesellschaft ausdehnen. Mit ihm entsteht zugleich die erste Kategorie etwas gänzlich Neuen, nämlich des Kriegsvölkerrechts, als Scheidung von „Kombattanten“ und „Nichtkombattanten“, auch wenn es zum Schutz jener Kombattanten, die gleichfalls „schwach“ geworden waren, kampfunfähig, weil sie sich ergeben oder verletzt waren, noch fast ein Jahrtausend brauchte. Neben der christlichen Friedensidee steht die christliche Kriegsidee. Sie inkarniert sich im „Kreuzzug“ als dem „Heiligen Krieg“, der gegen Heiden wie Ketzer geführt wird. Der heilige Krieg ist ein unbedingter, totaler, ein metaphysischer Krieg, weil in ihm nicht um pragmatische Dinge gekämpft wird, zumindest nicht dem Selbstverständnis nach, sondern um „die Wahrheit“. Es geht um das Schicksal der Menschheit, weil es ein Krieg ist, den „Gott will“, den man um seinetwillen ausfechten muss. Daher ist der Heilige Krieg ein Krieg der monotheistischen Religionen, in denen Gott selbst mit dem Bösen, Satan im Krieg liegt, der in den Menschen, inmitten der Menschen und durch die Menschen ausgekämpft wird. Der Heilige Krieg ist die zweite Hinterlassenschaft des Mittelalters an die nachkommenden Zeitalter: Entfesselung einer bedingungslosen Gewalt neben ihrer Eingrenzung durch Bedingungen, den Schutz der „Schwachen“, „Nicht-Kämpfenden“, die Ethisierung von Kämpfen und Töten in den Initiationsriten des Ritters. Die moderne Gewalt beginnt dann, wenn aus dem Plural der Gewaltberechtigung in einem Land das Singular wird,

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wenn die Vielfalt feudalen Gewaltrechts und Gewalttuns durch vielerlei Herren, Grafen, Ritter, durch den Fürsten gebrochen wird, der das Gewaltmonopol beansprucht und durchsetzt, seit dem 15. Jahrhundert. Er setzt es durch, indem er die persönliche Dienstund Treuepflicht der gewaltberechtigten Herren durch die unpersönliche, in Geldzahlungen, Sold abgegoltene Dienstverpflichtung des Söldners ersetzt. Die Gewalt wird fiskalisiert, vergeldlicht. Man schlägt für Geld tot, was zugleich heißt, man kämpft keinen metaphysischen Krieg, sondern einen völlig pragmatischen. Söldner und Pulverwaffen blasen fort, was am Feudalismus essentiell, d. h. kriegerisch gewesen war, und lassen nur noch seine leere Hülle zurück, die feudale Ausbeutung untertäniger Bauern. Die Gewalt ist nun ganz bei sich selbst. Sie bedarf keiner Rechtfertigung mehr, sie ist sich selbst genug. Sie folgt pragmatischen Zwecken und ist ein Mittel dazu. Die pragmatischen Zwecke kreisen um die Herrschaft, ihre Erringung, Verteidigung, Ausweitung. Diese Souveränitätserklärung der Gewalt, wie Machiavelli sie in die Gesellschaft hinausposaunt, ist etwas Ungeheures, weil sie mit jener Urgeschichte der Gewalt bricht, die stets darauf bedacht blieb, die Gewalttätigkeit „ins Recht“ zu setzen, Gründe zu suchen, sie zu entschuldigen, wenn nicht gar zu heiligen, Formen suchte, sie zu verrechtlichen. All dies ist nunmehr nicht länger von Belang. Die große Linie des anonymisierten Tötens, wie sie für den Krieg kennzeichnend ist, prägt auch die Rechtsgewalt. Vom schuldhaften, „opfernden“ Töten über das zerstückelnde, grausam verletzende Töten bis zum seriellen Töten, verrichtet durch eine Maschine, spannt sich der erste Bogen, der in einen zweiten übergeht: die Psychologisierung der Gewalt, den Angriff auf die Psyche und deren Instrumentalisierung. Die brutale Rechtsgewalt reflektierte dabei den Gewaltzustand des Zeitalters, in dem Verhungern, Raub, Totschlag, Seuche, kurzes Leben die Mentalität prägten. Die psychische Rechtsgewalt reflektiert einen satten Zustand, in dem der Mensch als Produkt der Erziehung gesehen wurde und die Gesellschaft reich genug geworden war, um straffällig gewordene Menschen im Gefängnis zu unterhalten und umzuerziehen. Im mageren Zeitalter des Hungers galt der Verbrecher als Feind der Gesellschaft, das Recht als deren Verteidigung. Mit dem Verbrecher lebte die Gesellschaft in Krieg, im Verhältnis der Gewalt. Mit der allgemeinen Tendenz, Gewalt in der Gesellschaft abzubauen, wurde die Psyche zum Angriffspunkt der Strafe. Der Körper trat zurück. Diese Zivilisierung der Gewalt widerspricht scheinbar der Gewaltentwicklung seit Ende des 18. Jahrhunderts, in der mit den Napoleonischen Kriegen, dann den Weltkriegen und den totalitären Diktaturen die Vernichtungswirkung der Gewalt explodierte. Ein Bindeglied zwischen Zivilisierung und Expansion der Gewalt besteht in der Anonymisierung der Gewalttätigkeit durch deren Mechanisierung. Der direkte Zugriff auf den Körper tritt zurück, wird indirekt durch seine Übertragung auf die Maschine, von der Hinrichtungsmaschine (Guillotine, elektrischer Stuhl, Gaskammer) bis zur militärischen Tötungsmaschine (Fernwaffen, Gas, Luftkrieg). Die Parallele zur Industrialisierung der Produktion ist unübersehbar: Auch hier wird das Werkzeug (Waffe) aus der Unmittelbarkeit einer menschlichen Hand, die es gegen das Material (Körper) führt, herausgenommen. Der Knopfdruck bzw. die Bewegung eines Hebels setzt den Ma-

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III. Ausblicke

schinenablauf in Bewegung, eine Fräsmaschine so gut wie ein MG oder ein Bombenabwurfgerät. An der Wende zur modernen Gewalt brennt die religiöse Gewalt in Europa allmählich aus. Die „puritanische“ Revolution in Großbritannien ist der letzte Ausbruch „metaphysischer“ Gewalt in Europa. Dem wiederkehrenden Christus soll „die Stadt“ bereitet, sein zweites Kommen durch reinigende Gewalt vorbereitet, geradezu erzwungen werden. Wenn die Welt bzw. Gesellschaft bereit ist für Gott, wird sich in ihr die Zeit erfüllen, d. h. sie wird aufhören. Im Kampf gegen die metaphysische Gewalt der „Heiligen“ setzt sich die Politik durch, die Realität. Auf der Basis zweier Elemente stabilisiert sich der politische Friede als Ergebnis der Institutionalisierung der Gewalt als Gewaltbegrenzung und -regelung im modernen bürokratischen Staat. Diese Elemente sind das Leben und das Eigentum. Das Leben wird als das erste Eigentum geschützt, ohne welches es kein weiteres Eigentum gibt. Das Leben, über den Nexus der Arbeit, ist Ausgang des Eigentumserwerbs. Gewalt zerstört beides, daher kann Gewalt auch kein rechtmäßiges Eigentum bilden. In der entstehenden modernen Gewalt wird somit alles materiell. Der Mensch ist nichts als ein Leib, er ist eine Art Maschine, mechanisch in seinen Gliedern und Organen, elektrisch in seinem Bewusstsein. Die Sterblichkeit ist der Kreis, den der Mensch nun nicht mehr „mit einer unsterblichen Seele“ zu überschreiten vermag. Dafür wird die Geschichte zu einem zweiten Kreis, den der rein materielle Mensch durch sein Handeln überschreiten kann, im Akt der totalen Revolution, in dem er sich selbst zum „neuen Menschen“ macht. Folgt man der Erzählung von Kain und Abel, dann ist der Krieg die erste Form der Gewalt unter den Menschen. Nachdem mit dem Sündenfall der Tod unter sie gekrochen ist, kommt mit dem Erschlagen des Abel der Krieg zu ihnen. Und bei den Griechen kriecht aus der Büchse der Pandora neben Tod und Hunger auch der Krieg. Beide Male handelt es sich dabei um göttliche Strafen. Der Mensch lehnt sich gegen die Gottheit auf und er zeigt dabei solche Stärke, dass diese um ihre Macht zu fürchten beginnt und jene Übel unter den Menschen entstehen lässt, die sie auf immer niederhalten werden: Tod, Krieg, Hunger. Mit ihnen bleiben die Götter machtvoll, mit ihnen wird verhindert, dass die Menschen „so werden wie wir“. Von nun an herrscht die Gottheit absolut über die Menschheit, die den Krieg so unabwendbar hinnimmt wie den Tod und den Hunger. Die Vorstellung, diese Übel seien überwindbar, taucht erst spät auf. Das Christentum transformiert die Todesgeschichte der Menschheit in eine Heilsgeschichte. Christus nimmt die Gewalt der Menschen auf seinen Leib. Er stirbt an ihr als Mensch und kehrt zurück als Gott, der den Tod besiegt hat und diesen Sieg mit allen, die sich ihm zuwenden, teilen will. Die Heilsgeschichte ist zunächst und für lange Zeit eine Erwartungsgeschichte, in der allenfalls der jeweils Einzelne sich tätig dem Absoluten anzunähern vermochte. Mit dem Kreuzzügen entstand dann die Vorstellung eines aktiven, kollektiven Heilshandelns. In ihm verbanden sich die Idee eines Erwartungshandelns, das Christi Wiederkehr vorbereitete, mit der Segnung der Gewalt im „Heiligen Krieg“. Die Gewalt, der Krieg als göttliche Strafe für den in der Auflehnung gegen Gott lebenden Menschen, wird hier zu einer von ihm gewollten Tat. In der gesegneten Gewalt finden Gott und Mensch wieder zueinander. Diese Segnung der

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Gewalt ließ eine Heilslatenz entstehen, die in den millenarischen Anläufen des 16. und 17. Jahrhunderts das „Neue Jerusalem“ im Umsturz der Gesellschaft suchte. Die Gewalt sollte der „Herrschaft des Lammes“ den Weg bereiten, einem Zustand jenseits der Wölfe. Mit dem Ansturm der Aufklärer gegen die „Infamie“ der Kirche, gegen das Christentum, die Religion an sich, setzt dann die zweite Transformation der Gewalt in Europa ein. Wenn die Präsenz der Übel mit der Herrschaft der Gottheit zusammenhängt, dann müssten die Übel abschaffbar sein, würde man die Herrschaft der Gottheit abschaffen. Eine Revolution gegen Gott müsste die Revolution gegen den König zu jener vollständigen, totalen Revolution ausweiten, die jede Gnade beseitigt und den Menschen auf nichts bezieht als auf ihn selbst. Die Frage nach dem Krieg ist die Frage nach dem Menschen. Denn der Krieg ist ein Zweifaches in einem: Er ist kollektives Handeln Lebender, dessen Zweck darin besteht, Lebende zu Toten zu machen. Es ist die intensivste Form solchen Handelns unter Menschen, weil es im Zeichen des Todes steht, dem man allenfalls durch unbedingtes Zusammenstehen wehren kann. Kriegerische Gewalt ist sozial ausgeübte, sozial legitimierte Gewalt. Gewalt macht Angst, doch in der Gruppe minimiert sich diese Angst. Keine Gesellschaft kann funktionieren, wenn es ihr nicht gelingt, jede Gewalttätigkeit zwischen ihren Mitgliedern zu minimieren, d. h. unter Gebot und Zwang der Vermeidung zu stellen und jede Ausnahme zu sanktionieren. Die Gesellschaft erzeugt einen öffentlichen Raum sozialer Zeichen, die jedem bedeuten, dass ihm Gewalt verboten ist und er mit Strafen zu rechnen hat, wenn er es trotzdem tut. Der mit „Zeichen“ umstellte soziale Raum sichert den „Frieden“ und er grenzt ihn ab zu einem quasi „asozialen“ Raum hin, dem Raum des Krieges. Jahrtausendelang bildete diese Grenze die Mauer der Stadt, symbolisiert durch das römische pomerium als Linie zwischen dem Friedensgebot innerhalb der Mauern, das immer gelten sollte, und einem Kriegsgebot, das fallweise zu gelten hatte. Beide Gebote waren „politisch“, mehr noch, die Möglichkeit von Politik ging erst aus ihnen hervor. Blieb „vor den Mauern“ die Gewalt als Krieg eine stete Möglichkeit, die in die Legitimität von Politik fiel und von ihr legitimiert werden konnte, so wurde sie „innerhalb der Mauern“ zur Katastrophe, mit der die Legitimität von Politik zerbrach und die nicht zu legitimieren war. Expandierte die „Stadt“ territorial, so dehnte sich diese Grenze aus, doch als eine von Frieden und Krieg blieb sie bestehen. Krieg und Frieden sind die gründenden Probleme der Politik. Zwischen ihnen eine Verbindung herzustellen wurde zur radikalen Herausforderung. Diese Verbindung musste sowohl symbolisch wie praktisch sein, sie musste das kollektive Bewusstsein ebenso berühren wie das kollektive Handeln. In der Ilias wird die Rückkehr aus dem Krieg in den Frieden zum katastrophischen Vorgang. Die Römer versuchen, Auszug und Rückkehr zu ritualisieren, um die kriegerische Gewalt in der Ordnung der Gesellschaft wie des Kosmos auszubalancieren. Das Christentum versucht, diese Ordnung in die kriegerische Gewalt selbst hineinzutragen, sie zu begrenzen, zumindest soweit es den „Brudermord“ zwischen Mitchristen betrifft. Die absolutistischen Fürsten nehmen diesen Impuls auf, wenden ihn gegen ihre Soldaten, die sie mit Disziplinarregeln in Unterwürfigkeit halten. Sie wenden

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III. Ausblicke

ihn zugleich gegeneinander, prinzipiell zumindest, um den Krieg als kalkulierbares Mittel einsetzen zu können. Die Abdankung des „Heiligen Krieges“ und seine Ersetzung durch das Streben nach Macht und Machterweiterung, auch „Staatsraison“ genannt, macht den Krieg zum Instrument, das sorgsam geführt werden muss, um die eigenen Ressourcen zu schonen und den Gegner zwar zu besiegen, nicht aber ihn zu vernichten. Mit der Französischen Revolution kommt die Wende. Der „Heilige Krieg“ wird erneuert, die absolutistische Zähmung der kriegerischen Gewalt löst sich mit der absolutistischen Herrschaft auf. Der revolutionäre Krieg ist ein Krieg „zum Äußersten“, der alles fordert, was ein Volk besitzt, sein Bewusstsein wie seine Körper, und der nicht den Frieden will, sondern den Sieg, und sich am Ende durch endloses Siegen selbst besiegt. Er befreit den „Untertanen“ zum „Staatsbürger“ und verbraucht ihn massenhaft als „Menschenmaterial“. Der Soldat verliert seinen Kapitalwert, den er einst in den Söldner- und Soldheeren besaß. Er wird zu einer Nummer im Konzept der großen Zahl, zu einer statistischen Verrechnungseinheit. Zwar beschränkt noch einmal die Rückkehr des begrenzten Staatenkrieges für das Jahrhundert zwischen 1814 und 1914 den militärischen Menschenverbrauch. Zudem führt diese militärische Begrenzung zur Entstehung neuer Bemühungen um die Regularisierung der kriegerischen Gewalt, in der Entstehung des Roten Kreuzes, der Verabschiedung einer Landkriegsordnung. Dem totalen Krieg mit seiner Ideologie und Technologie der Massenvernichtung jedoch halten diese Begrenzungen nicht stand. Das 20. Jahrhundert wird zum Zeitalter der Gewalt, das nur noch Grenzen anerkennt, die aus Bunkern und Stacheldrahtverhauen bestehen. Eine große Zahl junger Menschen bedeutet für die Gewalt, den demografischen Faktor als Kampfmittel einzusetzen. Die napoleonischen Kriege parallelisierten einen Bevölkerungsschub, so wie die begrenzten Kriege des Absolutismus im Zeichen einer Bevölkerungsknappheit standen, in der die „Peuplierung“ der eigenen Provinzen eine zentrale Aufgabe des entstehenden Fürstenstaates darstellte. Menschen waren knapp in einer Gesellschaft, in der die physische Arbeitskraft die entscheidende Wirtschaftsressource bildete. Menschen wurden bewirtschaftet, in Ökonomie wie Militär. Die Betonung des demografischen Faktors seit dem späten 18. Jahrhundert kehrt diese Schwerpunktsetzung um. Selbst als im 20. Jahrhundert sich die Schere zwischen Geburts- und Sterberaten zu schließen beginnt, bleibt der demografische Krieg der Massenheere und massenhaften Verluste erhalten. An seinem Ende jedoch hat sich die Perspektive gewandelt. Die Gesellschaften der hochindustrialisierten Staaten sind alternde Gesellschaften, die langfristig Bevölkerung verlieren und allenfalls durch starke Zuwanderung stagnieren oder eventuell noch wachsen können. Eine „demografische“ Kriegsführung dürfen sie sich nicht länger erlauben, weil sie diese weder demografisch noch psychologisch aushielten: Der Verlust an jungen Männern wäre in einer Bevölkerung, in der die Ein-Kind-Familie immer repräsentativer wird, kaum hinzunehmen, auch weil die wenigen Kinder eine ganz andere emotionale Bedeutung besitzen als die vielen. Der moderne Staat versucht deshalb, Menschen durch Technologie zu ersetzen. Da dieser Vorgang einer Technologisierung der kriegerischen Gewalt für alle hochentwickelten Staaten zutrifft, kommt es zum einen zur Ten-

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denz der Verständigung unter dem Vorzeichen einer potentiellen Totalvernichtung: Überlegungen, etwa in Indien, mit seiner schubhaft wachsenden Bevölkerung und einer Jugendquote von 33% (345 Millionen unter 15 Jahren), bei einem Atomkrieg mit Pakistan 50 Millionen Tote zu haben, lassen eine atomare Auseinandersetzung demografisch „kalkulierbar“ erscheinen. Für Russland (144 Millionen, 16%) oder die USA (285 Millionen, 21%) könnten solche Kalkulationen hingegen verderblich werden, von Europa ganz zu schweigen. Die Geschichte der kriegerischen Gewalt im Abendland ist wie bei einem Wellenschlag von Phasen einer Ordnung des Tötens und solchen gekennzeichnet, in denen diese Ordnung zusammenbricht. Dabei ging es nicht nur darum, die Erklärung und die Beendigung eines Krieges zu formalisieren, sondern die Ausübung der Gewalt selbst zu regulieren, ihr Grenzen zu setzen. Solche Phasen „geordneten“ Tötens zerfallen, wenn die Tötungsorganisation selber in eine Krise gerät, d. h. ihr ein Gegner entgegentritt, der nicht in derselben Weise organisiert ist und also den ihr entsprechenden Kodex geordneten Kämpfens nicht anerkennt. Das Aufkommen der Söldnerheere gegen die Ritter, der Revolutionsheere gegen die Linientruppen, der Partisanen gegen das reguläre Militär gehört hierher. Immer handelt es sich dabei um Brüche in der herrschaftlichen Verfügung über die kriegerische Gewalt. Die Gewalt fällt aus den Händen der „Herren“ an die „Massen“ zurück und sie verliert dabei ihre Organisiertheit, d. h. ihre disziplinierende Beschränkung durch das Training bestimmter Verhaltensweisen, die dem Soldaten bei seinem Tötungstun ein Bewusstsein von Grenzen einzuüben suchen. Ordnungsphasen sind demnach solche einer stabilen Gewaltorganisation, in denen die potentiellen Kontrahenten einander in bedingter Gegnerschaft, nicht in bedingungsloser Feindschaft gegenüberstehen. Die Gewalt erneuert sich sozial gewissermaßen durch den wiederkehrenden Rückfall in die „Wildheit“, um dann wieder der Organisiertheit zu unterliegen, mit der sich die Gesellschaft vor der Zerstörung rettet. Generell steigt dabei der Anteil des „Volkes“, des „gemeinen Mannes“ an der Gewalttätigkeit an, wenn die Ordnungsphasen zerfallen. Damit wird auch die Bedeutung des Ideologischen wichtiger, das dem Volk sagt, dass erlaubt, wenn nicht geradezu geboten ist zu tun, was vorher verboten war. Mit den Revolutionskriegen erhält die Ideologie ihre grundlegende Gewaltbedeutung. Der Krieg wird zum Krieg, der den Krieg beendet. Deshalb muss er ein totaler sein. Er kann es noch nicht werden, weil es dazu an den technischen Mitteln mangelt. Fußsoldaten mit Vorderladern verfügen zwar über ein beträchtliches, doch noch keineswegs absolutes Vernichtungspotential. Erst mit dem Hinzutreten der modernen Technologie fügen sich die Faktoren Ideologie und Masse zur Möglichkeit einer totalen Kriegsführung. Die Technologie resümiert die Moderne in Artefakten. Wenn das Wesen der Moderne der materialistische Rekurs ist, der Bezug auf den materiellen Menschen und die materielle Welt, und wenn das Verhältnis beider als ein technisches aufgefasst wird, dann verwirklicht der Krieg die Moderne als Totalität der Vernichtung. Der Erste Weltkrieg, als Staatenkrieg begonnen, wird rasch zum Vernichtungskrieg. Ausschlaggebend ist dabei die Kriegstechnologie bzw. die Fähigkeit eines kriegsführenden Staates, seine Wirtschafts-

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III. Ausblicke

kraft möglichst umfassend für den Kriegszweck zu mobilisieren. Damit verschwindet der Unterschied von Front und Hinterland, von Kombattant und Zivilist, um den das Kriegsrecht fast ein Jahrtausend lang gerungen hatte. Die Technologie realisiert die Teleologie der Waffen, nämlich aus der Distanz zu vernichten, in radikaler Weise. Aus Fernwaffen: Pfeil und Bogen, Armbrust, Gewehr, werden Trägerwaffen: Bombenflugzeug, Rakete, Drohne. Nun erst kann der Feind völlig anonym werden, kann die unmittelbare Emotion des Tötens (und der Gefahr des Getötetwerdens): Wut, Angst, Blutrausch, kaltgestellt und in Ideologie und Bürokratie überführt werden. Das Töten durch Knopfdruck verwirklicht die Modernität im Krieg. Im Ausbrennen ganzer Städte, im Abwurf der finalen Bombe in den Kriegsspielen aus Atombunkern heraus formt dieses Töten zunehmend die Struktur der kriegerischen Gewalt im 20. Jahrhundert und seitdem. Das 20. Jahrhundert ist zur Epoche massenhaften Tötens geworden, vor allem in seiner ersten Hälfte. Im Zweiten Weltkrieg trafen zwei ideologische Machtsysteme aufeinander, die sich durch Gewalt definierten und erhielten und für die der äußere Krieg kaum mehr denn die Eskalationsstufe eines permanenten Bürgerkrieges bildete, den sie gegen „Volksfeinde“ führten. Regime, die bereits gegen Teile ihrer eigenen Bevölkerung Vernichtungsabsichten hegten und die ohne die Organisation der Gewalt als Terror nie jene totale Herrschaft hätten ausüben können, die sie für sich forderten, solche Regime können und wollen auch nicht die kriegerische Gewalt „in Grenzen“ halten. Sie operieren bereits jenseits einer „gebrechlichen“ Politik, der die Geschichte unentwegt Trümmer vor die Füße wirft und die keinen Sturm fühlt, der sie über Leichenberge in eine eschatologische Zukunft treibt. Sie kennen keine Grenzen, keine „ewige“ Moral und also keine Schuld. Sie siegen oder unterliegen total, das ist alles. Doch dieses Denken in den Kategorien von „Gomorrha“ ist in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts allgemein geworden, wenngleich in Abstufungen der Hassintensität. Man wollte „endgültige Lösungen“, im Krieg wie in einem Frieden, der sich vom Krieg nur dadurch unterscheidet, dass nicht geschossen wurde. Die Utopie des technologischen Krieges scheitert, wenn der Feind sich ihm verweigert. Der Partisan weiß, dass er nur als Barbar siegen kann. Er siegt, indem er alles negiert, was seinen Gegner ausmacht, seine Technologie ebenso wie seine Organisation oder seine moralischen Normen. Während der technologische Krieg das „Volk“ zum Objekt macht, bleibt es im Partisanenkrieg Subjekt und Objekt zugleich. Und strebt der technologische Krieg zunehmend nach einer Selektivität der Gewaltanwendung, nach einer Art Zielvernichtung weniger statt der „gomorrhanischen“ Pauschalvernichtung vieler, so hält der Partisanenkrieg an der Pauschalität fest. Im Verfall seiner politisch-ideologischen Form zur Raubunternehmung, wie es für die Konflikte am Übergang zum 21. Jahrhundert weithin kennzeichnend ist, zeichnet sich dann erneut eine Krise der Ordnung kriegerischer Gewalt ab. Asymmetrie und Staatsversagen bringen Ausprägungen wilder Gewalt hervor, bei denen die Mittel und Normen technologischer Gewalt weitgehend versagen. Bevölkerungsexplosion in den Gesellschaften mit geringem Technisierungsgrad und Migrationsdruck, Klimawandel und Islamismus lassen neue Gewaltszenarien entstehen.

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Das 20. Jahrhundert ist das Ausbrennen der Französischen Revolution bis zu ihrem Verlöschen. Die Widerstände, die das 19. Jahrhundert noch prägten, als die fortdauernden Ordnungen der agrarisch-aristokratischen Gesellschaft die aufsteigende neue Dynamik einer industriell-kapitalistischen abbremsten, waren im 20. Jahrhundert zerfallen. Der Erste Weltkrieg radikalisierte diesen Wandel hin zu einem Zustand, in dem alles möglich schien. Der Zusammenbruch der Alten Gesellschaft hatte mit ihren Lebensformen zugleich ihre Bewusstseinsformen aufgelöst, nicht zuletzt die Religion als Absolutheit verbürgenden Wertbezug. In der Sprache als Bauform des Bewusstseins suchte man nach der Möglichkeit, zu neuen Ordnungen zu gelangen, die den „Diskurs“ regelten. Da jedoch keine „Absolutheiten“ zu erkennen waren, auf die man sich gemeinsam hätte beziehen wollen, kam es zum Sprachkampf, zum Konflikt unterschiedlicher sprachlicher Deutungsmuster, und zum Bestreben, für das jeweils eigene die Absolutheit zu beanspruchen. Wo dies durchgesetzt wurde, entstand ein geschlossenes, totalitäres Bewusstsein, in dem alle, die sich dieser Wahrheitssprache nicht bedingungslos anschließen wollten, als „Feinde“ markiert wurden. Diese Wahrnehmung der Gesellschaft unter dem ideologischen Schema von Freund und Feind zerstörte das Politische in seiner Spannung von Autorität und Gewalt und reduzierte es auf die Gewalt allein, wobei die Sprache zu einem Mittel der Gewalt wurde. Herrschaft war Sprachgewalt, Bewusstseinskontrolle durch Sprachkontrolle. Diesen Aufstieg der Ideologie aus einer totalitären Sprachkonstruktion parallelisierte der Aufstieg der Technologie als Verifikation menschlicher Planungsallmacht. Der riesenhafte Einfluss des Kommunismus zog aus ihr seine Überzeugungskraft. Er behauptet sich als „wissenschaftlich“, weil er so die „Utopie“ der erträumten Gesellschaft mit der Möglichkeit einer planend hergestellten verbinden kann. Aus der ideologischen Absolutheit schießt dann die Absolutheit revolutionärer Gewalt, die völlige Skrupellosigkeit ihres Gebrauchs, die in der dezisionistischen Situation explodiert. Vorausgesetzt, sie wird richtig erkannt, gewinnt in ihr jener, der keine Bedenken mehr hat, der vor dem Bürgerkrieg nicht zurückschreckt. Die Systematisierung des Bürgerkriegs erfolgt dann durch die Institutionalisierung des Terrors, durch politische Polizei, Überwachung, Straflager. Der Terror soll, nach der Erringung des Gewaltmonopols durch die Partei, sowohl die Kommunikation wie die Organisationen zu „Transmissionsriemen“ des Parteiwillens machen. Sein Ziel ist die identische Gesellschaft, in der „Herz, Hand und Hirn“ mit dem Willen der Partei identisch sind und alles Nichtidentische durch Umerziehung oder Eliminierung verschwunden ist. In der Französischen Revolution hing die Herstellbarkeit des Utopischen an einer die Vernunft realisierenden Geschichte und am Handeln tugendhafter Täter. In der Russischen Revolution hing seine Herstellbarkeit an der Universalisierung der Technologie. Das Vernünftige wird wirklich, wenn es Technologie geworden ist. Im Kontext der totalitären Revolution wird dann die Gewalt zur Produktivkraft. Der Terror wäre dann eine Vorrichtung zur Erzeugung dieser Kraft. Er akkumuliert Ressourcen, Arbeitskraft wie Stoffe, und leitet sie dem Technisierungsprozess zu. Er ermöglicht es zugleich einer kleinen Gruppe von Personen, absolute Herrschaft auszuüben, verantwortungslos vor allem, was früher zumindest die Phrase der Herrschaftsrechtfertigung ausgemacht hatte: Gott,

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III. Ausblicke

Volk, Gewissen. Die Anonymität und Massenhaftigkeit der Vernichtung, zusammen mit ihrer ideologischen Rechtfertigung in einem geschichtsbezogenen „Heil“ ein Merkmal moderner Gewalt, verwirklicht sich in den „totalen“ Staaten wie den „totalen“ Kriegen. Sie bleibt aber keineswegs auf solche Staaten beschränkt, sondern prägt die Politik des 20. Jahrhunderts insgesamt, und zwar immer dort, wo Krieg geführt wird. Der als total erkannte Feind wird total bekämpft und wo dann noch die technologischen Mittel Totalisierung im Kriegsgeschehen möglich werden lassen, macht man bedenkenlos davon Gebrauch, bis zum Kalkül der Selbst- und Weltvernichtung. Totalitarismus ist Wut auf Grenzen. Sein Ziel ist die grenzenlose Vergesellschaftung identischer Wesen. Er besitzt weder ein Bewusstsein der Geschichte noch eines der Moral. Die Ideologie ist in ihm eine mentale Vorrichtung zur Beseitigung von Grenzen. Sie kehrt das Bewusstsein mit eisernem Besen und lässt im Grunde nichts zurück, eben Nihilismus, der sich als „Tat“ artikuliert und in Phrasen, redundantem Reden deklamiert. Den Mitläufern dient die Ideologie als Lautsprecher, hinter dem man die eigene Korruptheit verbirgt, das Ausplündern nach dem Draufschlagen, das eigene Interesse an Beute und Privilegien, die Freude, die man empfindet, wenn man andere einschüchtern kann, schlagen, demütigen, zertreten. Den Gläubigen hingegen eignet meist eine Neigung zur Askese, sie imaginieren sich als Werkzeug eines Größeren, und da es kein Gott mehr sein kann, ist es die Geschichte als „Gesetz“ und „Vorsehung“. Ihnen allen ist die moralische Leere zu eigen und also die Vorstellung von der Gewalt als Essenz der Geschichte. Sie argumentieren „mit Maschinengewehren“, weil sie sprachlich unfähig sind, zu argumentieren. Das Einzige, das sie verstehen, ist die Gewalt. Gewalt im 20. Jahrhundert ist technologisch terroristisch, eliminatorisch. Die Eskalation der anonymen Waffen von Gas und Bomber bis zu Atombombe und Rakete, die Eskalation des Terrors in seiner Parallelität von Staatsterror und Terrorismus, die Eskalation der „Säuberung“ von Volksfremden bzw. dazu Erklärten bilden eine Struktur. Es ist die Struktur finaler Ziele, endgültiger Lösungen. Der Klassenmord soll die klassenlose Gesellschaft schaffen, der Judenmord die reine arische, die „ethnische Säuberung“ soll Polen, Tschechen und anderen es ermöglichen, endlich und endgültig unter sich zu sein. Das Exempel hat bekanntlich Schule gemacht und wird es weiter tun. Die Gewalt erweist sich hier als Wundermittel, um Menschenballast abzuwerfen. Eliminiert wird mit den Menschen auch die Geschichte. Man muss nur tief genug graben, um etwas zu finden, mit dem man sich identifizieren kann, tief genug, doch nicht zu tief. Gewalt, so sehr sie ein Teil der Geschichte ist, zerstört Geschichte. Jedes Ausbrennen von Städten verbrennt nicht nur Menschen. Jedes Säubern von Menschen aus ihrer Heimat vertreibt nicht nur Menschen. Damit ist die Gewalt im 20. Jahrhundert zugleich zu einer zutiefst antihistorischen Gewalt geworden, eine Tendenz, die bereits in der Französischen Revolution sichtbar wurde. Vielleicht ist die tiefste Verantwortung jene für die Sprache. Die schrecklichste Drohung des Konfuzius vor dem Despoten war, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen. Gewalt ist eine Möglichkeit des Menschen, die durch Gesellschaft gebunden oder entbunden wird. Mit der Tötung des Tieres entdeckt der Mensch das Töten, die Vernichtung

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eines Lebendigen, dem er selber angehört. Mit dem Schrecken darüber entdeckt er zugleich die Macht, eine Macht, die über das Physische hinausreicht, so wie es der Schrecken tut. Mit dem Töten entdeckt er das Göttliche und rebelliert zugleich dagegen. Er vernichtet das Leben als das von der Gottheit Geschaffene und versucht voll Schrecken, sich zu entsühnen, und er verliert sich zugleich im Ungeheuerlichen dessen, was er nun vermag, eben zu zerstören, was der Gott geschaffen hat. Dieses Ungeheuerliche vermag er sich nur als List der Gottheit vorzustellen, dass nämlich diese die Gewalt des Tötens unter die Menschen wirft, um diese mit dem in Unterwerfung zu halten, was sie nie besitzen werden, die Gottheit aber doch: die Unsterblichkeit. Dieses zweifache Gesicht der Gewalt, nämlich der Schrecken und die Macht, der Totenschädel und das Gesicht des Helden, bleibt ihr bis in die Gegenwart, für immer wohl, erhalten. Die aus Gewalt, als Fähigkeit des Letzten, des Tötens hervorgehende Macht erweitert sich zum anderen Menschen hin als Schrecken, als Drohung, die Herrschaft gründet. Das Göttliche ist das Ungreifbare, Unsichere, so unsicher wie das Tier, das zu jagen, die Früchte, die zu sammeln sind. Die Unsicherheit der Nahrung, die Drohung des Hungers sucht sich Sicherheit durch die Anbetung des Gottes, der Götter. Mit der Sesshaftwerdung versucht der Mensch, diese Unsicherheit zu verringern, sich eine Zukunft zu schaffen, in der er selbst vorhanden ist. Das „Territorium“ entsteht als Raum erster Sicherung, so wie das feste Haus, das auf ihm steht. Mit Ackerbau, Bewässerung, Vorratshaltung soll die unberechenbare Natur, d. h. die in ihr willkürlich vorhandene Gottheit, zu Verlässlichkeit veranlasst werden. Doch mit dem Territorium bildet sich die Entdeckung der Gewalt zur Institution, der Verteidigung vor dem räuberischen Angriff wie des räuberischen Angriffs selbst. Autorität und Gewalt verbinden sich: Die Autorität der „Alten“, die Erfahrung als Überlebenswissen gespeichert haben, die Gewalt der Starken, die drohen und töten können. Damit kommen die Jungen ins Spiel, die Kräftigen, die Mutigen, also jene, die den Tod als Aktivität der eigenen Kraft begreifen und nicht als Anonymes, das sie selbst ergreifen kann. Das Territorium ist mehr noch als ein räumliches ein demografisches Gebilde, es lebt von Menschenzahlen, dehnt sich mit ihnen, schrumpft mit ihnen. Mit dem Territorium kommt die demografische Expansion und nach dieser die imperiale. Demografische Expansion jedoch meint Jugend, meint viele junge Menschen und Jugend meint Konflikt, weil Junge, männliche Junge, Gewalt als Möglichkeit in ihren Körpern tragen. Damit tritt also neben die Entdeckung des Tötens, des Göttlichen, des Territoriums noch die Entdeckung der Demografie, des Verhältnisses in den Zahlen von Jungen und Alten. Die Alten fühlen Furcht vor der Gewalt, weil sie in ihren Körpern schwach geworden sind. Ihre Weisheit ist das Wissen um ihre physische Schwäche zuerst und sie werden gewalttätig nur, wenn andere ihnen dazu dienstbar sind. Gewalt ist eine Ressource der Macht. Wer sie ausübt, kann machtvoll sein und sich anderer bemächtigen, sich anderes aneignen. Die Psychologie der Gewalt kann Herrschaft erzeugen, als Gehorsam aus Furcht. Die Gewalttätigkeit selbst kann Besitz aneignen, durch Totschlagen, Vertreiben, durch Beutemachen, auch von menschlicher Beute. Gewalt bedarf der Gewalttäter und da Gewalttätigkeit zunächst eine körperliche Tätigkeit ist, sind Gewalttäter in der Regel

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III. Ausblicke

junge Menschen, die Gewalt als Teil ihrer Lebenskraft realisieren. Als physische Kraft hat sie viel mit Männlichkeit zu tun, mit dem Zeigen von Potenz, Rivalität und „Ehre“. „Junge“ Gesellschaften neigen mehr zu Gewalt als „alte“, weil Jugendliche noch wenig in den sozialen Normen und Institutionen der Gewaltbegrenzung, der Selbstkontrolle eingeübt worden sind. Die „zähmende“ Normeinübung in die Gewaltunterdrückung als Teil einer umfassenderen Einübung in die Unterdrückung der Spontaneität bildet daher einen Wesensbestandteil der sozialen Integration der Heranwachsenden, die Gesellschaft fortwährend neu konstituiert, sie dabei aber auch verändert. Die Ritualisierung der Gewalt gehört hierher, von den Stierkämpfen über Wirtshausprügeleien bis zu Boxkämpfen und Fußballspielen und ebenso ihre Disziplinierung in Schule und Armee. Jede Gesellschaft erzeugt sich solche Formen innerer Gewaltbewältigung neben der reinen Strafe. Ihre Wirkung ist mehr oder minder effektiv, doch nie vollständig. Diese vier „Entdeckungen“ formen das Grundgefüge der Herrschaft, deren Eigenschaft die Organisation, deren Ziel die Schaffung von Ordnung, Sicherheit ist. Die Entdeckung des Tötens konstituiert den Menschen in ähnlicher Weise als Kulturwesen wie die Entdeckung des Werkzeugs. Sie erzwingen sein Bewusstsein, zwingen ihn, mehr zu sein als ein Tier. Tod und Technik sind als Handlungsweisen solche der Transzendenz. Der Mensch begreift sich als einer, der in der Natur gegen die Natur handelt. Technisch erschafft er Dinge, die außerhalb seines Körpers liegen und dort bleiben und die so nie in der Natur vorhanden waren. Er ist Schöpfer seiner Welt, einer anderen neben jener der Natur. Er baut am Turm von Babel. Mit der Gewalt wird er zum Zerstörer, und zwar in dieser „zweiten“ Welt. Die menschliche Gewalt ist demnach „zivilisatorische“ Gewalt. Sie erfolgt unter Artgenossen und ist nicht, wie im Tierreich, durch angeborene Mechanismen im Tötungsverhalten gehemmt. Sie erfolgt im Bewusstseinsraum, ist kein triebhafter Ablauf, vielmehr ein Akt des Bewusstseins, welcher der Rechtfertigung bedarf, vor den Göttern wie vor den Menschen. Sie erfolgt im sozialen Raum, d. h. sie bedroht das Wesen des Sozialen, die Sicherheit, das Vertrauen. Sie erfolgt mit Mitteln der Technik, mit Tötungswerkzeugen und eben dadurch vervielfacht sie ihre Vernichtungswirkung. Sie erfolgt meist in organisierter Form als Planung und gemeinsame Ausführung von Gewalthandlungen. Das „Zivilisatorische“ der Gewalt gipfelt in der Herrschaft. Sie nimmt die Gewalt in sich auf und ordnet sie ihrem Zweck unter, der Sicherung der Menschen vor den Menschen. Der „Mehrwert“ durch Herrschaft, die Effekte der Macht für die Wenigen, die sie ausüben, also Prestige, Wohlergehen, Verfügung über die Vielen, lässt die „herrschende Klasse“ entstehen. Er tilgt die Kosten der Ordnung durch Herrschaft, den Preis für die unentrinnbare Ambivalenz „zivilisatorischer“ Gewalt. Die Gewalt des Menschen gegen den Menschen ist der Preis, den er für jene Kulturfähigkeit zu entrichten hat. Der Mensch, von seinem Verstand gesteuert, in dem die Instinkte wie ein Partisan lauern, ein Wesen ohne Tötungshemmungen den Artgenossen gegenüber, wird durch die angegebene Furcht und das soziale Training zu zivilisatorisch wirksamen Hemmungen geführt. Ihr Umfang, ihre Wirksamkeit hängen von der Art und Effizienz der jeweils vorhandenen sozialen Ordnung ab, in der die Furcht vor den anderen,

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die Furcht vor Strafe, die Furcht vor Verachtung, die Furcht vor Gott ineinanderwirken. Herrschaft ist der Abbau von Furcht, an deren Stelle Sicherheit treten soll, Vertrauen. Herrschaft, die Furcht nicht minimiert, vielmehr maximiert, ist Tyrannis. Sie verfehlt ihren Zweck, ist daher zwecklos. Sie ersetzt nicht Gewalt weitgehend durch Autorität, sondern bleibt Gewalt. Damit verliert sie ihr Recht, alle Gewalt an sich zu ziehen. Ein Frieden, der nur noch Unterwerfung ist, in dem auch die Sicherheit zerbrochen, das Vertrauen verschwunden ist, kann kein Recht der Herrschaft auf die Gewalt mehr gründen. Als Faktum mag die Gewalt bei der Herrschaft bleiben. Im Recht auf Widerstand fällt sie an jeden Einzelnen zurück, als Recht wie als Risiko, das anzunehmen er selbst entscheiden muss. Gesellschaft bindet Gewalt, indem sie das anthropologische Paradox des Menschen in Normen, Geboten und Verboten aufzulösen sucht. Das Paradox besteht in der Gewaltfähigkeit bei ausgeprägter Instinktschwäche und den daraus sich ergebenden Paradoxien des Zivilisatorischen, etwa dem Widerspruch von Arbeit und Zerstörung, Frieden und Krieg, Tötungsverbot und Tötungsgebot, Technik bzw. Werkzeug und Gewalt bzw. Kriegszeug. Gesellschaft ist eine Veranstaltung gegen Gewalt. Ihre Eigentümlichkeit ist ein kollektives Bewusstsein des Verbindlichen und also Gemeinsamen, als Übernahme von Tradition, Integration des Neuen, Ritualisierung der Fundamentalakte (Sexualität bzw. Initiation und Ehe, Tod bzw. Sterben und Totenkult, Deutung des Kosmos bzw. Transzendenz und Religion, Gewalt bzw. Verbot und Gebot des Tötens). Eine Gesellschaft, welche die Fundamentalakte des Menschendaseins nicht „in Ordnung“ zu bringen vermag, kann keine Dauer besitzen. Sie erzeugt keinen inneren Zusammenhalt und ermöglicht nicht jene Autorität, die zwischen Herrschaft und Gesellschaft friedlich vermittelt. Eine solcherart ordnungslose Gesellschaft bedarf der Herrschaft nahezu bedingungslos. Sie liefert ihr keine Autorität, was heißt, dass die Ressource der Herrschaft kaum mehr sein kann als Gewalt. Der Mensch hat kein angeborenes Böses, so wenig wie ein angeborenes Gutes. Es ist ein Wesen der Ambivalenz. Die Gewalttat ist ebenso eine Möglichkeit wie die Liebe, der Hass ebenso wie die Freundschaft. Sein Verhalten bleibt im Ungefähren. Soziale Umgebungen stabilisieren oder fragilisieren es. Wesentlich für die Art dieser Abhängigkeit von Umgebungen ist die „Haltung“ als individuelle, Individualität prägende Eigenschaft. Menschen ohne Haltung, ohne selbstverpflichtende Ordnung des Bewusstseins, werden in ihrem sozialen Verhalten nahezu ausschließlich durch das Außen reguliert. Die Phänomene des Mob-Verhaltens gehören hierher, der offensive Schläger, die Straßenkämpfer, aber auch die Tiefendimension dieses Verhaltens, der bürokratische Mittäter, der bloße Befehlsempfänger. Sie alle agieren wie bewusstlos in der Kompaktheit einer Sekte, die wie eine geschlossene Mauer um ihr Gewissen steht. Wie ist überhaupt der Zusammenhang von Psyche und Physis in der Gewalt aufzufassen? Es scheint, dass das Bewusstsein – auch gesellschaftlich – zuerst freigeschaltet werden muss, bevor es zur physischen Gewalttätigkeit kommt. Dabei spielt die mentale Gewaltvorbereitung eine große Rolle. Das kann passiv geschehen, von den zerbrochenen Fenstern der materiellen Umgebung bis zu den zerbrochenen Normen der sozialen. Es kann

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III. Ausblicke

ebenso aktiv geschehen, als Ermutigung zur Gewalt durch die soziale Umgebung, die Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, von der politischen, religiösen Sekte bis zum totalitären Staat. Alle diese totalen Gruppierungen definieren sich über den totalen Feind, und das heißt über die Gewalt. Die Ideologie liefert dabei jene wenigen Identitäts- und also Identifizierungsbegriffe, an denen man sich erkennt und mit denen man den eigenen, zirkulären Diskurs führt. Was sonst sprachlich nicht passt, wird aus dem Bewusstsein fortgeräumt. Gesellschaft bindet und entbindet Gewalt. Die entscheidendste Form der Entbindung von Gewalt ist der Krieg. Krieg ist die Verteidigung oder Eroberung von Territorium durch den Einsatz bewaffneter Gewalt. Krieg kann eine Angelegenheit zwischen Staaten sein, aber auch zwischen einem Staat und Partisanen. Krieg ist organisierte Gewalt. In ihm wird das Tötungsverbot zum Tötungsgebot. Da im Krieg einander Kämpfer gegenübertreten, die unter dem Tötungsgebot stehen, strebt die kriegerische Gewalt nach ihrer Regularisierung. Sie will ihre Normalisierung durch Normierung, um aus dem Schatten des Mordens herauszutreten. Die Symmetrie des Tötungsrisikos erfordert eine Symmetrie des Tötungstuns. Das unterscheidet den symmetrischen Krieg von den Asymmetrien der Gewalt. Gehört der Partisanenkampf noch in die kriegerische Gewalt, wenngleich in ihrem Randbereich, weil er eine militärische Struktur besitzt, so fallen die terroristische und eliminierende Gewalt nicht mehr darunter. In ihnen gibt es keine Äquivalenz des Tötungsrisikos, so wenig wie sie Grenzen des Tötens anerkennen oder einen Frieden mit dem Feind, weil hier der Feind ein totaler ist, nur mit seiner Vernichtung aufhört, einer zu sein. Die Organisation ist die Intensität der Gewalt, daher ist jede organisierte Gewalt der nicht-organisierten auf Dauer überlegen, weil sie Dauer hat. Herrschaft ist Organisation und sie muss Gewalt organisieren, um Bestand zu haben. Die Organisation richtet die Gewalt auf Ziele aus, intensiviert sie als Krieg, minimiert sie als Frieden. Sie verschafft der Gewalt „Rationalität“, macht sie steuerbar nach Zielen, deren erstes der Erhalt der Gewalt, ihre Monopolisierung ist. Diese Rationalisierung der Gewalt gründet den modernen Staat, dessen weltanschauliche wie organisatorische Grundlage die Überführung der Gewaltfähigkeit von den Vielen auf das Eine darstellt, auf das bürokratische Gebilde des Staates. Zur Organisation der Gewalt in Institutionen (Heer, Polizei, Justiz, Gefängnis) treten als weitere Kategorie der Gewalt die Gewaltmittel, d. h. technische Artefakte der Zerstörung. Im Krieg als radikalster Form organisierter Gewalttätigkeit sind sie entscheidend. Ihre Logik, als historische Linie realisiert, ist die zunehmende Expansion der Anonymitätsweite, also der Distanzierung des Tötens, Zerstörens vom Körper, der sinnlichen Wahrnehmung dessen, der es durchführt. Damit in Verbindung steht die dritte Kategorie, das Gewaltbewusstsein. Dazu passt, dass das Bewusstsein gleichermaßen gewaltsensibel und gewaltakzeptierend wird. Die Sensibilität als Wissen um die Verletzlichkeit, insbesondere der modernen Netzwerk-Existenz, und die Akzeptanz instrumenteller Eingriffe gegen Gefährder dieser Existenz ergänzen sich. Gewaltorganisation, Gewaltmittel, Gewaltbewusstsein bilden die Bausteine der Gewaltfähigkeit. Ihre historischen Formen sind nach Ort und Zeit verschieden, doch ihr Zusam-

2. Gewalt als Zukunft?

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menhang bleibt grundlegend. In der Geschichte ist immer Gewalt gewesen – und stets das Streben nach Frieden. Dennoch war dieses Streben nie stark genug, die Gewalt zu beseitigen. Sie ist heute da wie je. Wir werden damit leben müssen, ohne sie hinzunehmen.

2. Gewalt als Zukunft? Die Zukunft kann nur als Vermutung wahrgenommen werden. Doch man kann in Thesen davon sprechen. 1. Die Gefahr „der großen Kriege“ ist gering geworden, die „des großen Krieges“ als des weltbedrohenden thermonuklearen Weltkrieges zweier Supermächte ist geschwunden. Dennoch bleiben Staatenkriege weiterhin möglich, als Interventionskriege wie als Konflikte benachbarter Staaten. Solche Kriege können durchaus weltweite Auswirkungen verursachen, sei es, weil Rohstoff- und Handelswege gestört, sei es, weil durch sie terroristische Aktivitäten andernorts gefördert werden. 2. Die Auflösung der regulären kriegerischen Gewalt in verschiedenste Formen des Irregulären wird sich fortsetzen. Hierher gehört der Staatszerfall in afrikanischen und asiatischen Ländern ebenso wie der Terrorismus in den Ländern des Westens. Ob eine militärische Intervention und das Festhalten an kolonialen Grenzziehungen unbedingt die beste Methode sind, um zerfallende Staaten zu stabilisieren, kann gefragt werden. Für die terroristische Bedrohung in den Staaten des Westens gilt, dass die Integration der eingewanderten Bevölkerung bei gleichzeitiger Begrenzung weiterer starker Zuwanderung die Chance erhöht, den Frieden in der Gesellschaft zu wahren und den Terrorismus verächtlich werden zu lassen. 3. Das Militär wird sich neu erfinden müssen. Die Zeit der Massenheere ist ebenso vorbei wie der demografische Krieg, der einzige Krieg, den die demografisch expandierenden Länder Afrikas und Asiens gegen die schrumpfenden des Westens führen könnten. Der technische Faktor hebt allerdings potentiell den demografischen auf. Die Armee der Zukunft wird eine Truppe gut ausgebildeter, gut ausgerüsteter Berufssoldaten sein, die hohe Mobilität mit hoher technischer Kompetenz verbindet. Interventionskriege des „missionarischen“ Typs wird sie klugerweise nicht führen, sondern über – direkte wie indirekte – Unterstützung von Bürgerkriegsparteien gegebenenfalls durch Stellvertreter Ermattungskriege führen lassen. 4. Die vermutlich größte Bedrohung dürfte von der Ausweitung des Atomwaffenbesitzes auf instabile Staaten bzw. Regime ausgehen, die sich nur auf Gewalt stützen und bereits aus innenpolitischen Zielen bereit sein könnten, diese einzusetzen. Solche Regime entziehen sich auch einer „politischen Vernunft“ der Begrenzung von Konflikten, mit ihrer Priorität friedlicher, „kommunikativer“ Verständigung, weil sie mit ihren eigenen Gesellschaften in keiner kommunikativen Beziehung stehen. Hier könnte allein eine Übereinkunft der großen Atommächte helfen, nämlich atomar abzurüsten und diese Abrüstung auch bei ihren Klientelstaaten (bei allen) durchzusetzen.

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III. Ausblicke

5. Die Klima-Problematik bietet die Chance eines globalen Denkens. Sie enthält aber ebenso die Gefahr von Katastrophen und eskalierender Gewalt. Der erforderliche Wandel scheint technologisch lösbar zu sein und es sind die hochtechnisierten Gesellschaften des Westens, die hier Angebote machen und verwirklichen können. Bei allen Vorwürfen muss aber festgehalten werden, dass es die Technik des Westens gewesen ist, mit welcher die sogenannten Schwellenländer ihre Entwicklung möglich gemacht haben. Sie ernten hier durchaus den Mehrwert westlicher Technikgeschichte, allerdings auch deren Schadenseffekte. Die Vereinnahmung des Mehrwerts bei Abweisung der Schadenseffekte hilft nicht weiter. Bleibt es bei dieser Blindheit (in der die reichste, auch ausstoßreichste Gesellschaft, die der USA, unrühmlich vorangeht), so wird das Militär erneut das wichtigste Investitionsgut. 6. Das Nachdenken über den Frieden als menschliche Notwendigkeit begleitet die Menschheit, seitdem sie sich in differenzierten Kulturen zusammengefunden hat. Dieses Nachdenken ist selber ein Denken der Differenz, weil die Gewalt etwas derart Selbstverständliches zu sein scheint, dass man ihr Gegenteil kaum recht zu fassen vermag. Wer im Frieden lebt und nur an den Frieden denkt, wird ihn wahrscheinlich verlieren, so gut wie jener, der im Krieg nur an den Krieg denkt. Man sollte im Frieden nicht für den Krieg rüsten, doch völlig vergessen sollte man ihn, sollte man die Bedrohung durch Gewalt und Gewalttäter, ebenso wenig. Als Möglichkeit bleibt sie stets vorhanden, gespeichert in Bewusstsein und Körpern. Der Gewalt entgegenzutreten, wenn es denn sein muss, um das eigene Leben, die demokratische Lebensform zu sichern, bleibt eine unumgängliche Zumutung. Ein Satz zum Schluss: Die Umarmung des Schlächters ist immer falsch. Sie ist nicht nur falsch, sie ist verbrecherisch. Wer glaubt – oder in der Erwartung fanatisierter Mittäter behauptet –, dass man mit Gewalt die Gewalt beenden könne, man müsse sie nur total werden lassen, der redet und handelt nicht nur wider die Erfahrung von Jahrtausenden, er redet und handelt auch gegen die Unvollkommenheit und Unvollendbarkeit der Menschen selbst. Es gibt keine endgültigen Lösungen und nichts, was den Versuch rechtfertigen könnte. Sie sind nur zerstörerisch. Es gibt nur das Verbrechen davon und den Widerstand dagegen.

Anmerkungen I. Vormoderne 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.

Girard, S. 29f. Ebd., S. 74 Ebd., S. 116f., 129f. Werner Dahlheim, Die Antike, Paderborn 41995, S. 56f. Ebd. S. 81 Ebd., S. 238 Ebd., S. 319 Ebd., S. 380 A.W. Lintott, Violence in Republican Rome, Oxford 1968, S. 30 Ebd. S. 66 Steven Runciman, Geschichte der Kreuzzüge, München 1968, S. 83f. Ch. Auffarth, Heilsame Gewalt?, in: Braun, Herberichs, S. 265 Th. Scharff, Reden über den Krieg, in: Ebd., S. 67 Barring, S. 17f. Ebd., S. 83 Ebd. S. 148f.

9. 10. 11. 12. 13. 14.

15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25.

II. Gewalt in der modernen Welt 1. Revolution 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

8.

Richard van Dülmen, Reformation als Revolution, München 1977, S. 35f. Ebd., S. 65 Ebd., S. 76f. Ebd. S. 298 Ebd., S. 369 Metz (1993), S. 7 Vgl. K. H. Metz, „Providence“ und politisches Handeln in der Englischen Revolution, in: Zs. f. histor. Forschung 12 (1985), S. 45f. K. H. Metz, Geschichtserfahrung und die Anfänge der Nationwerdung in Irland 164 – 52, in: Gesch. in Wiss. u. Unterricht 8 (1987), S. 466, 473

26. 27.

28.

29.

30. 31.

32.

Metz (1993), S. 45f. Ebd., S. 102f. Hirsch, S. 11f. Thomas Hobbes, Leviathan (1651), hg. v. J. Plamenatz, Glasgow 1978, S. 141 Ebd., S. 163f. Ebd. S. 181; Th. Hobbes, Behemoth (1668), in: Julius Lips (Hg.), Die Stellung des Th. Hobbes zu den politischen Parteien der Großen Englischen Revolution, Leipzig 1927, S. 201, 171 Hirsch, S. 100 Ebd., S. 107 J. E. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln 1961, Bd. I, S. 39 Ebd., S. 75 François Furet, Denis Richet, Die Französische Revolution, München 1968, S. 96 Metz (1992), S. 149 Ebd., S. 153f. Ebd., S. 158f. K. H. Metz, Der Aufstand gegen die Nation, in: Saeculum 40 (1989), S. 98ff. Ebd., S. 93 J. Godechot, La Contre-Révolution, Paris 1961, S. 239 Metz, Wahrheit, S. 165 K. H. Metz, Ein Versuch über das Antlitz des Menschen in der Geschichte, in: Saeculum 39 (1988), S. 360–368 H. Medick, Massaker in der Frühen Neuzeit, in: Ulbrich, Jarzebowski, Hohkamp, S. 16 Vgl. Ch. Büschges, Gewaltsame Kulturkontakte. Massaker in der spanischen Eroberung Mexikos, in: Ebd. S. 58ff. Metz, Geschichtserfahrung, S. 473f. Vgl. Helke Sander, Barbara Jahr (Hg.), Befreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder, München 1992 Vgl. Anonyma, Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juli 1945, (1959) Frankfurt 2003

312 33.

Anmerkungen

Vgl. Alain Corbin (Hg.). Die sexuelle Gewalt in der Geschichte, Berlin 1992

2. Krieg 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.

21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28.

29.

Rüpke, S. 21 Ebd., S. 32, 35f. Ebd., S. 88 Howard, S. 36 Münkler (2006), S. 44f. Gerhard Ritter, Friedrich der Große, Heidelberg 31954, S. 69 Ebd., S. 164f. Ebd., S. 177 Howard, S. 100f. Kant, S. 113 Ebd., S. 118f. Howard, S. 110 Vgl. Jean Tulard, Napoleon oder der Mythos des Retters, Tübingen 1978, S. 450 Ebd., S. 228 Howard, S. 134 Metz (2006), S. 395, 406f. Kant, S. 108 M. Howard, Men against Fire: The Doctrine of the Offensive in 1914, in: Paret, S. 511 Ebd., S. 521 Zum Konzept: Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst, Bd. IV, Berlin 1920, S. 487ff. M. Geyer, German Strategy in the Age of Machine Warfare, 1914–45, in: Paret, S. 540 Ebd., S. 547 Arthur Marwick, The Deluge. British Society and the First World War, London 1965, S. 41 Karl H. Metz, Die Geschichte der sozialen Sicherheit, Stuttgart 2008, S. 98ff. Marwick, S. 259ff. Ebd., S. 118 James M. Read, Atrocity Propaganda 1914– 1918, New York 1972, S. 39 Don H. Tolzman (ed.), German-Americans in the World Wars, vol. I, The Anti-German Hysteria of World War One, München 1995, S. 175–208 Jeffrey Verhey, The Spirit of 1914. Militarism, Myth and Mobilization in Germany, Cambridge 2000, S. 126f.

30. 31.

32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40.

41.

42. 43. 44. 45.

46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64.

65. 66. 67.

Ebd., S. 131 Klaus Böhme (Hg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1975, S. 47–50 Weinberg, S. 333ff. David McIsaak, The Air Power Theorists, in: Paret: S. 633 Friedrich (1996), S. 354ff. Ebd., S. 421ff., 434ff., 662 Ebd., S. 295 Ebd., S. 386ff. Ebd., S. 366ff. Vgl. Catherine Merridale, Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939–1945, Frankfurt 2006 Vgl. Bogdan Musial, Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegsplätze gegen den Westen, Berlin 2008 Vgl. K.H. Metz, Technik als Wissen. Thesen zu einer historischen Theorie der Technik, in: Saeculum 58 (2007), S. 317–326 Metz (2006), S. 405 Friedrich (2002), S. 64f. Ebd., S. 85 Ludwig F. Haber, The Poisonous Cloud. Chemical Warfare in the First World War, Oxford 1986, S. 20 Ebd., S. 27 Ebd., S. 34; Harris/Paxton, S. 14f. Ebd., S. 90ff., 180ff. Harris/Paxton, S. 47 Ebd., S. 62 Ebd., S. 78ff. Ebd., S. 119 Ebd., S. 142 Ebd., S. 168 Zit. n. ebd., S. 118, 205 Rhodes, S. 201ff., 246ff., 293 Ebd., S. 408f. Ebd., S. 348ff. Ebd., S. 674ff. Ebd., S. 715ff. Ebd., S. 657 Metz (2006), S. 437ff. Ebd., S. 441 Lawrence Freedman, The First Two Generations of Nuclear Strategists, in: Paret, S. 747f. Metz (2006), S. 473ff. Ellis, Kp. 1,2 Ebd., S. 55–61; Metz (1983), S. 9–12

313

Anmerkungen

68. Neidhardt von Gneisenau, Plan zur Vorbereitung eines Volksaufstandes (1811), in: Schickel, S. 41–64 69. Metz (1983), S. 14f. 70. W.J. Lenin. Der Partisanenkampf (1906), in: Schickel, S. 134, 137f. 71. Ho Chi Minh, Das revolutionäre Partisanenwesen (1928), in: Der Bewaffnete Aufstand (Handbuch der Komintern), hg. v. Erich Wollenberg, Frankfurt 1971, S. 280f., 287–93 72. Mao Tse-tung, Über den verlängerten Krieg (1938), in: Mao Tse-tung, S. 141–45, 152ff., 184ff., vgl. Metz (1983), S. 20ff. 73. Ebd., S. 169 74. Lin Piao, Es lebe der Sieg im Volkskrieg! (1965), in: Schickel, S. 199f. 75. Vo Nguyen Giap, Volkskrieg – Volksarmee, in: Ebd., S. 168f. 76. Ché Guevara, Guerilla-Theorie und Praxis, Berlin 1968, S. 23 77. Ebd., S. 132 78. Ebd., S. 50 79. G. Schulz, Zur englischen Planung des Partisanenkrieges am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, in: Vierteljahreshefte f. Zeitgesch. 30 (1982), S. 337f. 80. Beaufre, S. 167 81. Schulz, Planung, S. 333 82. Vgl. Münkler (2002), S. 7ff. 83. Ebd., S. 21 84. Ebd., S. 36f. 85. Ebd., S. 135 86. Ebd., S. 226ff. 87. Kippenberg, S. 65, 73 88. Ebd., S. 79 89. Ebd., S. 162 90. Ebd., S. 182 91. Clausewitz, S. 94 92. Ebd., S. 642 93. Ebd., S. 33f., 674 94. Ebd., S. 678 95. Ebd., S. 17 96. Münkler (1992), s. 106 97. General Ludendorff, Der totale Krieg, München 1935, S. 10 98. Ebd., S. 20f. 99. Münkler (1992), S. 68f. 100. Schmitt (1963), S. 56 101. Sun Tsu, S. 49 102. Ebd., S. 91ff.

103. Hans Carossa, Rumänisches Tagebuch (1924), Wiesbaden 1952, S. 162f. 104. Ebd., S. 88 105. Ebd., S. 89f. 106. Ebd., S. 103ff. 107. Keegan, S. 137 108. Ebd., S. 162ff. 109. Ebd., S. 304 110. Gray, S. XVII f. 111. Ebd., S. 146f., 152f. 112. Tashiro, S. 20 113. Herlin, S. 103 114. Tashiro, S. 55 115. Ebd., S. 66 116. Rhodes, S. 481f. 117. Ebd., S. 648 118. Süddt. Ztg., 16. 3. 1991 119. FAZ, 11. 7. 2000 120. Mo Ti, S. 26 121. Ebd., S. 34 122. Maximilian Forschner, Stoa und Cicero über Krieg und Frieden, Barsbüttel 1988, S. 1 123. Ebd., S. 9 124. Ebd., S. 15 125. Art. „Krieg“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 569 126. Ebd., S. 573 127. Ebd., S. 58 128. L. Schilling, Gewalt als Mittel staatlicher Expansion im Urteil der Aufklärung, in: Ulbrich, Jarzebowski, Hohkamp, S. 229ff. 129. Art. „Krieg“, S. 587 130. Ebd., S. 602f. 131. Herbert Spencer, Structure, Function and Evolution, ed. S. Andreski, London 1972, S. 154ff.

3. Terror 1. 2.

3.

4.

Vgl. den „Appendix: The Principles of Newspeak“, in Orwells „Nineteen Eighty-Four.“ Bertolt Brecht, Die Maßnahme, hg. Von Reiner Steinweg, Frankfurt 1982, S. 258, 261 Lenin, Rede auf dem 3. allrussischen Kongreß des kommunistisschen Jugendverbandes Russlands (2. 10. 1920), in: Ebd., S. 302 Eric Voegelin, Die politischen Religionen (1938), München 1993, S. 52f.

314 5. 6.

7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30.

31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40.

41. 42.

Anmerkungen

Ebd., S. 61 K. H. Metz, Das Problem der Technik in der Zivilisationstheorie O. Spenglers, in: Saeculum 75 (1993), S. 153–70 Figes, S. 519 Ebd., S. 141 Ebd., S. 227 Dimitri Wolkogonow, Lenin. Utopie und Terror, Düsseldorf 1996, S. 42f., 90 Ebd., S. 391 Ebd., S. 420 Figes, S. 432ff., 446f. Wolkogonow, Lenin, S. 190ff., 207 Figes, S. 632 Wolkogonow, Lenin, S. 371 Figes, S. 666 Wolkogonow, Lenin, S. 208f. Ebd., S. 254, 256 Barberowski, S. 38f. Ebd., S. 43 Ebd., S. 92 Ebd., S. 175 Ebd., S. 200 Ebd., S. 180f. SZ, 19/20. 2. 2000 Dimitri Wolkogonow, Stalin. Triumph und Tragödie, Düsseldorf 31986, S. 254 Arthur Koestler, Als Zeuge der Zeit, Bern 1985, S. 156 Applebaum, S. 614, 617 Galina M. Ivanova, Der Gulag im totalitären System der Sowjetunion, Berlin 2001, S. 14 Ebd., S. 69 Ebd., S. 91ff. Ebd., S. 102 Ebd., S. 131 Carmichael, S. 33f. Ivanova, S. 154 Carmichael, S. 54ff.; Wolkogonow, Stalin, S. 377ff. Wolkogonow, Stalin, S. 396 Carmichael, s. 82f. Wolkogonow, Stalin, S. 431; A. AntonowOwsejenko, Karriere eines Henkers, in: Vladimir F. Nekrassow (Hg.), Berija, Augsburg 1996, S. 86 Antonow-Owsejenko, S. 103 S. Courtois, Die Verbrechen des Kommunismus, in: Courtois, S. 20

43.

44. 45.

46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60.

61. 62. 63. 64. 65.

66.

67. 68.

69. 70. 71. 72. 73. 74.

Geoffrey F. Field, Evangelist of Race: The Germanic Vision of H. St. Chamberlain, New York 1981, S. 225 Ebd., S. 51f. H. S. Chamberlain, Die Grundlagen des XX. Jahrhunderts (1899), München 61906, S. 260 Ebd., S. 721 Sofsky, S. 152ff. Ebd., S. 229ff. Ebd., S. 57 Ebd., S. 101 Höhne, S. 52 Ebd., S. 53 Ebd., S. 149 Ebd., S. 220 Ebd., S. 290 Ebd., S. 330 Ebd., S. 335, 355 Naimark, S. 10 Freidrich Battenberg, Das Europäische Zeitalter der Juden, Darmstadt 1990, Bd. II, S. 99 Vgl. K. H. Metz, Die Nation als Versöhnung, in: Hans A. Steger (Hg.), Die Auswirkungen der Französischen Revolution außerhalb Frankreichs, Neustadt/Aisch 1991, S. 101– 116; ders., J. G. Herder und die Genesis der Nationalidee, in: Saeculum 37 (1986), S. 366–378 Naimark, S. 56 Höhne, S 302ff. Reitlinger, S. 10f. Naimark, S. 92 Hans Mommsen, Die „Endlösung der Judenfrage“ im „Dritten Reich“, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 416f. Internationaler Militärgerichtshof, Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd., 29, S. 145 Reitlinger, S. 310 Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt 31992, S. 273 Naimark, S. 124f. Ebd., S. 141 Charles L. Mee, Die Teilung der Beute. Die Potsdamer Konferenz, Wien 1975, S. 140 Naimark, S. 208ff. Ebd., S. 204f. Laqueur (1987), S. 20f.

Anmerkungen

75. 76. 77. 78. 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93. 94. 95.

96. 97. 98. 99. 100. 101. 102.

103. 104. 105. 106. 107. 108. 109. 110. 111. 112.

Ebd., S. 40 Ebd., S. 49 Ebd., S. 150ff. Münkler (2006), S. 234 Butz Peters, RAF. Terrorismus in Deutschland, Stuttgart 1991, S. 137 Ebd., 150 Ebd., S. 83 Ebd., S. 224ff. Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, Zürich 72006, S. 60ff. Langbein, Skalnik, Smolek, S. 40 Ebd., S. 51 Suvanto, S. 39 Ebd., S. 67 Ebd., S. 107ff. K. Marx, Das Kapital (MEW 23), S. 779 Suvanto, S. 150 Marx, Kapital, S. 15f. Georges Sorel, Über die Gewalt (1908), Frankfurt 1981, S. 41 Ebd., S. 107 Ebd., S. 96 W. J. Lenin, Die Lehren des Moskauer Aufstandes (1906), in: Ders., Ausgewählte Werke, Berlin 1970, Bd. II, S. 216 Ebd., S. 217 Lenin, Der Partisanenkrieg (1906), in: Ebd., S. 228 Ebd. S. 231 Lenin, Was tun? (1902), in: Ausgewählte Werke, Bd. I, S. 469 Lenin, Womit beginnen? (1902), in: Ebd., S. 324 Lenin, Was tun?, S. 377, 413 Karl Kautsky, Die Diktatur des Proletariats (1918), in: Peter Lübbe (Hg.), Kautsky gegen Lenin, Bonn 1981, S. 28f. Ebd., S. 53 Ebd., S. 32 S. Courtois, Warum?, in: Courtois, S. 809 Kautsky, Die Lehren des Oktoberexperiments (1925), in: Lübbe (Hg.), S. 102 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde (1961), Frankfurt 1966, S. 72 Ebd., S. 239, 242 Ebd., S. 72 Ebd., S. 29 Ebd., S. 98 Ebd., S. 135, 140

315

113. Michail Bakunin, Die Aufstellung der Revolutionsfrage (1869), in: Laqueur (1978), S. 54 114. Nechaev, Katechismus eines Revolutionärs (1869), in: Ebd., S. 56 115 Carl Schmitt, Politische Theologie (1922), Berlin 1979, S. 41f. 116. Ebd., S. 11 117. Carl Schmitt (1963), S. 26 118. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (1938), Köln 1982, S. 82 119. Ebd., S. 79f. 120. Günther Maschke, Zum „Leviathan“ von Carl Schmitt, in: Ebd., S. 186ff., 195ff. 121. Schmitt (1963), S. 33 122. Schmitt (1963), S. 17, 21 123. Ebd., S. 56 124. Ebd., S. 93 125. Applebaum, S. 332 126. Ebd., S. 365 127. Ebd., S. 369 128. Ebd., S. 375 129. Ebd., S. 383 130. September 1941, in: Monika Richarz (Hg.), Lebenszeugnisse deutscher Juden, München 1989, S. 520 131. Ebd., S. 523 132. November 1941, in: Günther Stemberger (Hg.), Die Juden, Ein historisches Lesebuch, München 1990, S. 295f. 133. Vernichtungslager Belzec, Juli/November 1942, in: Ebd., S. 306f. 134. März 1945, in: Klaus Granzow (Hg.), Letzte Tage in Pommern, München 1984, S. 174 135. Ebd., S. 25 136. Mandt, S. 32f. 137. Aristoteles, Politik, in: Laqueur (1978), S. 7ff. 138. Mandt, S. 62 139. Laqueur (1978), S. 13 140. Mandt, S. 68 141. Laqueur (1978), S. 29f. 142. K. H. Metz, „Providence“ und politisches Handeln in der Englischen Revolution, in: Zs. f. Histor. Forschung 12 (1985), bes. S. 52ff. 143. Mandt, S. 64, 76f. 144. Ebd., S. 113 145. Ebd., S. 120

316

Bibliographie

146. Ebd., 219 147. Karl Heinzen. Der Mord (1849), in: Laqueur (1978), S. 45 148. Henry D. Thoreau, Civil Disobedience, in: Walter Harding (Hg.) The Variorum Civil Disobedience, New York 1967, S. 63, 67f.

149. Ebd., S. 73 150. Michael Blume, Satyagraha. Wahrheit und Gewaltfreiheit, Gladenbach 1987, S. 183 151. Ebd., S. 175–79

Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet die benutzten Werke, die in den Anmerkungen durch Verfassername und Seitenangabe zitiert werden. Dort vollständig zitierte Werke, d. h. solche, die nur für einen entsprechenden Abschnitt bedeutsam sind, werden hier nicht erneut aufgeführt. Applebaum, Anne: Der Gulag, Berlin 2003 Baker, Nicholson: Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete, Reinbek 2009 Baberowski, Jörg: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 22004 Barring, Ludwig: Götterspruch und Henkerhand. Die Todesstrafe in der Geschichte der Menschheit, Essen 1980 Beaufre, André: Die Revolutionierung des Kriegsbildes, Stuttgart 21975 Braun, Manuel, Herberichs, Cornelia (Hg.): Gewalt im Mittelalter. Realitäten, Imaginationen, München 2005 Carmichael, Joel: Säuberung. Die Konsolidierung des Sowjetregimes, Frankfurt 1972 Clausewitz, Carl von: Vom Kriege (1832–34), Frankfurt 1980 Courtois, Stephane (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus, München 31999 Ellis, John: A Short History of Guerilla Warfare, London 1975 Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891–1924, München 2001 Friedrich, Jörg: Das Gesetz des Krieges. Das deutsche Heer in Russland 1941–45, München 2 1996 Ders.: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–45, München 2002 Girard, René: Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987

Gray, J. Glenn: The Warriors. Reflections on Men in Battle, New York (1959) 1970 Harris, Robert, Paxmann, Jeremy: Der lautlose Krieg. Die Geschichte der biologischen und chemischen Waffen, München 2002 Herlin, Hans: „Achtung Welt. Hier ist Kreuzweg“. Die Flieger von Hiroshima, Hamburg 1983 Hirsch, Alfred: Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes, München 2004 Höhne, Heinz: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, Augsburg 1996 Howard, Michael: Der Krieg in der europäischen Geschichte, München 1981 Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden (1795), in: Politische Schriften, hg. von Otto von der Gablentz, Köln 1965 Keegan, John: Das Antlitz des Krieges, Düsseldorf 1978 Kippenberg, Hans: Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, München 2008 Langbein, Kurt, Skalnik, Christian, Smolek, Inge: Bioterror. Die gefährlichsten Waffen der Welt, Stuttgart 2002 Laqueur, Walter (Hg.): Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg 1978 Ders.: Terrorismus. Die globale Herausforderung, Frankfurt 1987 Mandt, Hella: Tyrannislehre und Widerstandsrecht, Darmstadt 1974

Personenregister

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Rhodes, Richard: Die Atombombe oder die Geschichte des 8. Schöpfungstages, Nördlingen, 1988 Rüpke, Jörg: Domi Militiae. Die religiöse Konstruktion des Krieges in Rom, Stuttgart 1990 Schickel, Joachim (Hg.): Guerilleros, Partisanen. Theorie und Praxis, München 1970 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen (1932), Berlin 1963 Ders.: Theorie des Partisanen, Berlin 1963 Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt 52004 Sun Tsu: Über die Kriegskunst, hg. von Klaus Leibnitz, Karlsruhe 1989 Suvanto, Pekka: Marx und Engels zum Problem des gewaltsamen Widerstands, Helsinki 1985 Tashiro, Elke, Tashiro James K. (Hg.): Hiroshima. Menschen nach dem Atomtod, München 1982 Ulbrich, Claudia, Jarzebowski, Claudia, Hohkamp, Michaela (Hg.): Gewalt in der Frühen Neuzeit, Berlin 2005 Weinberg, Gerhard L.: Eine Welt in Waffen. Die globale Geschichte des Zweiten Weltkriegs, Stuttgart 1995

Personenregister Achmatowa, Anna 283 Aquin, Thomas von 288 Aristoteles 10, 240, 286f Augustus 14, 198 Augustinus 17, 36f, 198 Bakunin, Michail 263, 271, 279 Bentham, Jeremy 32, 203, 205 Berija, Lawrenti 238 Bin Laden, Osama 173, 270 Bismarck, Otto von 88, 110, 183 Brecht, Bert 219f, 266 Briand, Aristide 102, 209 Buchanan, George 288f Bush, Georg W. 140, 168, 177

317

Caesar 73 Calvin, Jean 200, 289 Camus, Albert 218f Carnot, Lazare 84, 89 Chamberlain, Houston St. 215, 220, 243f Charette, Francois de 145 Chruschtschow, Nikita 283 Churchill, Winston 109, 122, 127, 210, 258 Cicero 73, 197f, 287 Clausewitz, Carl von 89, 161, 181–186, 188, 209 Clemenceau, Georges 96, 101f, 217f Colt, Samuel 117 Condorcet, Antoine de 48ff, 59 Cromwell, Oliver 42ff, 65

318

Personenregister

Douglas Home, William 195 Douhet, Giulio 121 Dreyse, Nikolaus 119 Dunant, Henri 206f Engels, Friedrich 148, 185f, 204, 224, 227, 271, 276, 279 Falkenhayn, General 93, 124 Fanon, Frantz 59, 266, 277ff Fiore, Joachim von 60f Foch, Marschall 116, 208 Friedrich II. von Preußen 79, 184 Gandhi, Mahatma 292f Gatling, Richard 119f, 129 Giap, Nguyen 153f Gneisenau, Neidhard von 147f, 157 Gorki, Maxim 227f Grotius, Hugo 77f Guevara, Ché 156f Guillotin, Joseph 30, 48 Haber, Fritz 123ff Herder, Johann Gottfried 252 Himmler, Heinrich 220, 248ff, 254, 258 Hitler, Adolf 105ff, 111f, 114f, 119, 185, 220, 242f, 244, 248, 254, 258, 273 Hobbes, Thomas 24, 40, 44f, 47, 49, 57, 77, 280ff, 289 Ho Chi Minh 150, 264 Jackson, R. H. 210 Jünger, Ernst 223 Kahn, Herman 134 Kain 9, 20, 22, 35, 38f, 41, 43f, 46, 57, 200, 238, 292, 298 Kant, Immanuel 61, 81f, 87, 203, 291f Kautsky, Karl 277 King, Martin Luther 293 Koestler, Arthur 216ff, 235 Kojève, Alexandre 220 Konfuzius 62, 196, 304 Lenin, Wladimir Uljanow 59, 81, 114, 148f, 185f, 220, 224, 226–231, 240, 242, 266, 271, 273–279 Lieber, Franz 207 Lin Piao 152, 162

Locke, John 289f Ludendorff, General 95, 184f Luther, Martin 36ff, 41, 288 Machiavelli, Niccolò 24–27, 40, 289, 297 Maistre, Joseph de 55, 57f Mandelstam, Ossip 234 Mao Tse-tung 59, 151ff, 162, 189, 189, 224, 240 Marx, Karl 59, 152, 204, 224, 227, 242, 266, 271f, 276f, 279 Maxim, Hiram 88 Meinhof, Ulrike 267 Metternich, Clemens Fürst 180, 182 Mo Ti 196f Moltke, Helmut von 91, 183, 209 Morus, Thomas 203 Müntzer, Thomas 37ff, 40 Napoleon 83, 85–89, 180, 182, 190, 208, 218, 297 Oppenheimer, Robert 132f Orwell, George 62, 214f, 219f Pawlow, Iwan 68, 216, 240 Plato 11, 282 Robespierre, Maximilien 30, 48f, 52ff, 59, 63, 227, 290 Rolland, Romain 104 Roosevelt, Franklin D. 119, 258 Rousseau, Jean Jacques 45–50, 57, 68, 81, 203, 240, 281, 290f Sade, Donatien de 69 Sartre, Jean Paul 218, 279 Schariati, Ali 169f, 172 Schiller, Friedrich 86, 286 Schmitt, Carl 280ff Sharon, Ariel 179 Sherman, William T. 90 Smith, Adam 67, 205 Sorel, George 273f, 277 Spencer, Herbert 87, 205 Spengler, Oswald 223, 243 Stalin, Jossif Dschugaschwilij 68, 112f, 114f, 157, 210, 220, 224, 231–234, 236–240, 258, 283 Stimson, Henry 119, 195 Sulla 14

Sachregister

Sun Tsu 188f Suttner, Bertha von 206f

Trotzki, Leo Bronstein 59, 224, 229, 238, 240 Tuchatschewski, Michail 239

Teller, Edward 132f Thukydides 12f Tito, Josip Broz 158f Treitschke, Heinrich von 219

Vattel, Emer de 78

319

Wilson, Woodrow 81, 96, 100f, 209

Sachregister Anarchismus 225, 263, 272, 276, 279, 291f Bürgerkrieg 11–14, 25, 38, 40, 56f, 64, 74, 158, 203, 228ff, 241f, 259, 262, 269, 274ff, 279, 286, 302f, 309 Christentum 8, 17–24, 32, 35–43, 46, 48–52, 55–59, 64, 67, 72, 76, 146, 198ff, 207, 269, 288f, 295–299 Frieden 10, 14, 17–19, 21, 24f, 35, 38f, 41, 43–47, 71, 74–78, 80ff, 136, 189, 196–213, 287, 295, 299, 309f Geheimpolizei 8, 113f, 157, 220, 225, 228, 230–240, 247f, 256, 260, 303 Genozid 8, 16, 66, 110, 113, 115, 145, 163, 186, 211, 235, 240, 246, 249f, 251–256, 284f, 304 Gewaltlosigkeit 17f, 23, 200, 205ff, 288, 291ff, 296 Gulag 235ff, 283f, 303 Hellas 11ff, 16, 66f, 71f, 74, 298 Hiroshima 122, 129, 132, 139, 193f Islam 24, 37ff, 144, 160, 168–177, 212, 269, 302 Kindersoldaten 166, 270 Konterrevolution 38, 55–58, 228 Konzentrationslager 120, 230, 234–237, 245–250, 254ff, 258, 266, 278, 303 Kommunismus 108, 112–114, 145, 148–159, 171f, 185f, 204, 216, 219–222, 224–242, 256, 266, 268, 270–278, 291f, 294, 302f Kreuzzug 18, 20f, 24, 27, 64, 199f, 270, 296, 298

Krieg 8, 10–27, 37–43, 45, 48, 52, 57, 59, 71–213, 223, 226ff, 242, 249f, 252–258, 261, 264, 269–273, 278, 291f, 295–305, 309f – Atomkrieg 108, 118, 122, 129–137, 153, 162, 172, 186ff, 301, 309 – Biologischer Krieg 118, 126ff, 270 – Chemischer Krieg 118, 121f, 123–126, 153, 192, 208, 270, 297 – Computerkrieg 137–141, 188 – Gerechter Krieg, 14, 18, 71, 200f, 203, 271, 278 – Heiliger Krieg, 20, 24, 37f, 40, 52, 82, 95, 171ff, 204, 270, 296, 298ff – Klimakrieg, 163, 178f, 302, 309 – Luftkrieg 99, 105f, 108ff, 121ff, 137, 153f, 161, 173, 193ff, 211, 297 – Neuer Krieg 160–168, 186 – Totaler Krieg 59, 104, 106, 108, 121, 159, 184f, 193 – Weltraumkrieg 140, 186, 212 Kriegsrecht 15, 19, 20, 24, 70, 74, 76, 109, 121, 123, 136, 159f, 166, 199ff, 206–213, 257, 296, 298 Massaker 64ff, 146, 162, 213, 230, 253, 255, 259 Messianismus 17f, 25, 36, 38, 40ff, 60, 159, 199, 282, 288, 298f, 302 Nationalsozialismus 108, 110, 114, 171, 211, 22f, 241–250, 253–258, 294, 302, 304 Opfer 9f, 15, 28, 63f, 69, 219, 268f, 295 Partisan 38, 113, 116, 141–176, 183, 186ff, 208, 212f, 249, 260–264, 269f, 275f, 293, 301, 308 Pazifismus 205ff, 271, 292ff

320

Sachregister

Psyche 75f, 85f, 92f, 97, 99, 109, 121, 124, 129, 140, 155, 191ff, 214–222, 241, 250, 261, 283ff, 302, 307f RAF 263, 266ff, 269 Religion 8ff, 12, 14f, 17f, 21, 23–28, 32, 35–43, 46, 50, 52, 55–59, 64f, 67, 77f, 113, 144, 146, 169–177, 198, 212, 222, 226, 269, 288f, 295, 298, 303, 305, 307 Revolution, Amerikanische 54f, 67, 290 Revolution, Englische 40ff, 49, 55, 289, 298 Revolution, Französische 8, 16, 48–55, 68f, 80–84, 89, 143ff, 180f, 189, 203f, 243, 251f, 260, 262, 270, 290, 300, 303f Revolution, Russische 226–230, 276f Ritter 21f, 24, 74, 76, 116, 287, 296, 301 Rom 9, 13–16, 66f, 71–76, 197f, 286f, 295, 299 Sexualität 9, 26, 65, 69–71, 307 Sklaverei 11f, 15f, 65f, 108, 245, 292 Söldner 14, 24, 75–78, 147ff, 297, 301 Sozialismus 59, 68f, 97f, 102, 105, 148, 204, 243, 272ff, 276f

Sprache, 10, 28, 101, 213–224, 233f, 250, 264–267, 293f, 303 SS 245–250, 253, 255 Stalingrad 111ff, 294 Taliban 172–176 Technik 8, 22, 76, 88, 98, 105, 109, 115–141, 186ff, 208, 223f, 226f, 246, 269, 272, 301ff Terror 8, 44, 48, 51, 54, 61, 65, 108, 143f, 151, 157ff, 213, 220, 228–240, 246, 260–270, 303 Terrorismus 51, 70, 143f, 173, 176, 187f, 213, 225, 259–270, 272f, 290, 293, 309 Tyrannei 11f, 15, 262, 285–292, 294 Utopie 25, 43, 54f, 58–62, 64, 69, 227, 242, 247, 259, 272, 274f, 302 Verdun 93f, 112, 189, 192 Vertreibung 229, 243, 249, 251ff, 256ff, 285, 304 Wehrpflicht 11, 13ff, 82ff, 98, 174, 180, 189, 229, 271, 300, 309