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ÜBERLIEFERUNG UND AUFGABE A B H A N D L U N G E N ZUR G E S C H I C H T E UND SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN PHILOSOPHIE HERAUSGEGEBEN VON ERICH HEINTEL
XXII
R. OLDENBOURG VERLAG WIEN MÜNCHEN
DIE OBJEKTIVITÄT DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT SYSTEMATISCHE UNTERSUCHUNGEN ZUM WISSENSCHAFTLICHEN STATUS DER HISTORIE
VON
HERTA NAGL-DOCEKAL
R. OLDENBOURG VERLAG WIEN MÜNCHEN 1982
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Nagl-Docekal, Herta: Die Objektivität der Geschichtswissenschaft: systemat. Unters, zum wiss. Status d. Historie / von Herta Nagl-Docekal. — Wien ; München : Oldenbourg, 1982. (Überlieferung und Aufgabe ; 22) ISBN 3-486-51251-X (München) ISBN 3-7029-0180-9 (Wien) NE: GT
© 1982 R. Oldenbourg K. G., Wien Druck: Druckerei Herbert Hießberger, 2563 Pottenstein ISBN 3-7029-0180-9 R. Oldenbourg Wien ISBN 3-486-51251-X R. Oldenbourg München
INHALT Einleitung
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I. Objektivität als Rezeptivität der Bedeutung: Wilhelm Dilthey . .
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1. Die Fundierung der Wissenschaften im Erlebnis
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2. Die Triplizität des Begriffs Verstehen
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3. Hermeneutik als „erste Wissenschaft"
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4. Subjektivierung der Geschichte — Entsubjektivierung der Individuen
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5. Die Geisteswissenschaften als Wissenschaften vom objektiven Geist
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6. Die Ambivalenzen in der Bestimmung der Geisteswissenschaften
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7. Die These vom „heimlichen Positivismus" — Gadamer und Habermas als Kritiker Diltheys
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8. Das geisteswissenschaftliche Methodologie
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Verstehen
und die Frage der
II. Die methodologische Restriktion des Objektivitätsproblems in der Erklären-Verstehen-Debatte
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1. Hempels einheitswissenschaftliche Interpretation der Historie . .
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2. Drays Alternativkonzept der „Rational Explanation" 3. Das Dilemma Achams
94 103
4. Die Verdopplung der Deduktion bei Donagan 107 5. Das Scheitern des Versuchs einer spezifisch geisteswissenschaftlichen Methodologie bei van Wright 110 6. The Operation Called "Verstehen"
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7. Die Komplementarität von Erklären und Verstehen bei Apel . . 126 8. Die Kompatibilität von Handlung und Erklärung
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9. Die Grenzen des einheitswissenschaftlichen Konzepts und die notwendige Erweiterung der Wissenschaftstheorie 152
Inhalt
6
III. Objektivität als notwendiger falscher Schein: Hans-Georg Gadamer 162 1. Die Universalität der Hermeneutik
162
2. Die ursprüngliche Erfahrung der Wahrheit der Überlieferung . . 168 3. Die Differenz von wirkungsgeschichtlichem und historischem Bewußtsein 173 4. Das Autoritätsverhältnis als Modell der hermeneutischen Erfahrung 180 5. Die Paradoxie der Historie
189
IV. Das subjektive Fundament der Historie als Focus des Objektivitätsproblems 197 1. Dantos Konzept der narrativen Organisation
197
2. Die Kritik der historischen Vernunft bei Baumgartner
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3. Die Objektivität der Historie als Resultat eines mehrdimensionalen Kontrollprozesses 227 Anmerkungen
244
Literatur
258
Personenregister
267
EINLEITUNG Eine Studie über die Geschichtswissenschaft um das Objektivitätsproblem zu zentrieren, bedeutet einen Verstoß gegen ein verbreitetes Understatement. Vor allem unter den Historikern selbst herrscht weitgehend Ubereinstimmung darüber, die Frage nach der Objektivität ihres Unternehmens nicht mehr zu stellen, so daß eine Untersuchung, in der dies dennoch geschieht, dem Vorwurf der Inaktualität ausgesetzt ist. Dieses Understatement hat jedoch seinen Grund nicht darin, daß diese Frage längst gelöst ist, und auch nicht darin, daß sie als irrelevant erwiesen wurde, sondern in einer Resignation. Zu oft hat die Diskussion des Objektivitätsproblems der Historie mit der Verfestigung von Alternativen, deren beide Seiten gleich inadäquat waren, geendet. Bedenkt man dies aber und beachtet man ferner, daß das Objektivitätsproblem kein beiläufiges ist, sondern der Kern der Frage, ob die Historie Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann, so hat der Vorwurf der Inaktualität keine Plausibilität. Es erscheint vielmehr als legitim und geboten, dieses Problem trotz aller Erfahrungen der Ausweglosigkeit und wider das daraus hervorgegangene resignative Understatement neuerlich aufzurollen. Die vorliegende Untersuchung macht sich dies zur Aufgabe und hat demnach ihre primäre Intention darin, die Objektivitätsproblematik der Historie systematisch zu erörtern und einer Lösung näherzubringen, in der die unglücklichen Alternativen, welche die bisherige Diskussion dieser Problematik oft aussichtslos erscheinen ließen, überwunden sind. Das heißt allerdings nicht, daß diese Untersuchung gewissermaßen am Nullpunkt einsetzen und ohne Bezugnahme auf die bereits vor-
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liegenden Erörterungen erfolgen soll. Die bisherige Diskussion ist vielmehr trotz ihrer deutlichen Grenzen für die neuerliche Auseinandersetzung mit dem Objektivitätsproblem in doppelter Hinsicht relevant. Zum einen hat sie kritische Bedeutung, indem die Analyse ihrer unhaltbaren Alternativen entscheidend dazu beiträgt, daß sich die Reflexion nicht abermals in dieselben verfängt, — zum anderen bietet sie, obwohl keine Position als ganze zu akzeptieren ist, zahlreiche Theoriemomente, die für eine adäquate Bestimmung der Geschichtswissenschaft unerläßlich sind. Die vorliegende Studie setzt sich daher mit verschiedenen Konzeptionen auseinander, welche die die bisherige Diskussion bestimmenden Positionen exemplifizieren. Die systematische Erörterung erfolgt somit in Verbindung mit einem Durchgang durch die Entwicklung der Theorie der Geschichtswissenschaft. Es wird dabei aber nicht auf historische Gesichtspunkte Bedacht genommen, die etwa eine detailliertere Darstellung dieser Entwicklung erfordern würden, sondern ausschließlich auf die systematischen. Der Aufbau dieser Studie ist daher darin begründet, daß jeweils die Position auf exemplarische Weise als nächste aufgenommen wird, die Ansätze zu einer Überwindung der die zuletzt betrachtete Position kennzeichnenden bzw. ihre Grenze markierenden Probleme aufweist. Daß dieses Unternehmen mit Dilthey einsetzt, erscheint allerdings ebenso aus historischen wie aus systematischen Gründen gerechtfertigt. Die Frage der Objektivität der Geschichtsschreibung ist zwar so alt wie diese selbst, so daß sich auch die Versuche ihrer Beantwortung bis in die Zeit der Anfänge derselben zurückverfolgen lassen1), doch sie gewann erst mit dem Wissenschaftlichkeitsanspruch der Historie im Historismus die zentrale Stellung, die ihr bis jetzt zukommt. So bestand etwa für Ranke wie für Burckhardt, bei aller Unterschiedlichkeit ihrer geschichtstheoretischen Überlegungen, kein Zweifel darüber, daß sich an der Objektivitätsfrage die Einlösbarkeit dieses Anspruchs entscheidet2). Bedenkt man nun, daß Dilthey die Ansätze zu einer Theorie historischer Objektivität, die von Seiten der neuen, von wissenschaftlichem Selbstverständnis
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bestimmten Historie vorlagen, zusammenfaßte, sie ferner mittels seiner spezifischen Rezeption und Modifikation der Hermeneutik in eine allgemeine Theorie der Geisteswissenschaften bzw. der Wissenschaften insgesamt einband und damit die systematische Bilanz des Historismus zog, so scheint es im historischen wie im systematischen Interesse zu liegen, eine Studie wie die folgende mit einer Analyse seiner Konzeption zu beginnen. Freilich konnte Dilthey auch in seinen systematischen Anstrengungen an bereits Vorliegendes anschließen. Vor ihm war schon Droysen zu einer im Rückgriff auf die hermeneutische Tradition fundierten Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften gelangt. Droysen hat aber diese Theorie in seinem „Grundriß der Historik" nur sehr komprimiert präsentiert und ihre nähere Entfaltung seinen Vorlesungen vorbehalten, so daß sie erst seit der von R. Hübner 1936 besorgten Vorlesungsedition eigentlich vorliegt 3 ). Es war daher lange Zeit ausschließlich Dilthey, der als systematischer Theoretiker des Historismus rezipiert wurde, so daß ihm jedenfalls wirkungsgeschichtlicher Vorrang zukommt. Das Objektivitätsproblem, das den so mit Dilthey einsetzenden und die weitere Entwicklung bis zur Gegenwart exemplarisch verfolgenden Durchgang durch die internationale Diskussion der Theorie der Geschichtswissenschaft bestimmt, ist durch eine spezifische Komplexität gekennzeichnet. Der Begriff der die Historie als Wissenschaft ausweisenden Objektivität ist nicht nur der Leitfaden dieses Durchganges, sondern auch sein Gegenstand, insofern er seinerseits seit Dilthey eine entscheidende Differenzierung und Modifikation erfahren hat. Die Entwicklung der Geschichtstheorie präsentiert nicht nur verschiedene Stellungnahmen zu einer identischen Objektivitätsfrage, sondern auch und vor allem eine Veränderung der Frage selbst, die in einer Veränderung des Objektivitätsbegriffs begründet ist. Der Rückbezug der systematischen Erörterung auf die bisherige Diskussion hat somit den Charakter einer Auseinandersetzung mit den für die verschiedenen Positionen maßgeblichen verschiedenen Objektivitätsbegriffen.
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Diese Auseinandersetzung ist allerdings dennoch in einer entscheidenden Gemeinsamkeit fundiert — und erhält nur aus dieser ihren Sinn, weil eine bloß auf das Verbale beschränkte Beziehung der einzelnen Positionen kaum der Mühe wert wäre. Es ist die gemeinsame Frage, ob die Historie der Wissenschaftlichkeit fähig ist, die auch einen gemeinsamen, allgemeinen Objektivitätsbegriff impliziert, der den jeweils verschiedenen Objektivitätsbegriffen, die in der geschichtstheoretischen Diskussion anzutreffen sind, zugrunde liegt. Objektivität bedeutet in diesem allgemeinen Sinn, der auch den Leitfaden der vorliegenden Untersuchung bildet, die durch argumentatives Ausweisen begründete Verbindlichkeit von Aussagen. Mit dieser Gemeinsamkeit wird deutlich, daß nicht die gesamte Bandbreite der mit dem Wort Objektivität verbundenen Bedeutungen für die Entwicklung der Geschichtstheorie und damit für die folgende Untersuchung relevant ist 4 ). So ist es nicht erforderlich, Objektivitätsvorstellungen, in denen Objektivität als Objekttreue — sei es im Sinne einer erkenntnistheoretischen Abbildkonzeption, sei es im Sinne des erkenntnistheoretisch neutralen Postulats der vollständigen Beschreibung von Gegenständen und Ereignissen — gefaßt wird, näher zu erörtern und ihre Insuffizienz darzulegen. Von der Situation der Wissenschaften her stellt sich die Objektivitätsfrage grundsätzlich anders. Es gilt für alle empirischen Wissenschaften, daß sie von einer jeweils spezifischen Fragestellung ihren Ausgang nehmen und somit ihren Gegenstand als eine durch diese Fragestellung bedingte Abstraktion selbst fundieren. Daher ist die auf die empirischen Wissenschaften bezogene Objektivitätsdiskussion nicht durch die Frage der getreuen Wiedergabe vorgegebener Objekte bestimmt, sondern durch die Frage der Rechtfertigung von in dem auf diese Weise abgesteckten Rahmen getroffenen Aussagen. In der im Zeichen dieser gemeinsamen Frage geführten Diskussion der Geschichtstheorie treten die für die verschiedenen Posititonen signifikanten verschiedenen Objektivitätsbegriffe an dem Punkt auseinander, an dem das Kriterium der Rechtferti-
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gung zur Debatte steht, an dem also zu bestimmen ist, wodurch sich Argumente als solche qualifizieren. Die im folgenden untersuchte Entwicklung setzt bei Dilthey mit einem äußerst restriktiven Objektivitätsbegriff ein. Dilthey erachtet historische Aussagen nur dann als verbindlich und damit als wissenschaftlich, wenn sie den Charakter von Feststellungen haben. Das Kriterium der Objektivität ist für ihn die reine Rezeptivität, d. h. die Abstinenz des Historikers von allen Urteilen, sei es praktischen, sei es Bedeutungsunterschiede des Vergangenen betreffenden. Es wird zu zeigen sein, daß Objektivität im Sinne dieses Kriteriums (und zwar nicht nur für die Historie) grundsätzlich unerreichbar, aber ebensowenig wünschbar ist. Darüber hinaus wird aber auch klarzulegen sein, daß die Überlegungen Diltheys nicht auf diesen „heimlichen Positivismus" zu reduzieren sind. Die nähere Analyse der Erörterungen Diltheys bringt eine Begriffsvielfalt zutage, die erstaunlicherweise in der Tradition der Dilthey-Rezeption bis heute unbeachtet blieb. Wird die zentrale Konzeption des Verstehens gewöhnlich unkritisch als ein einziger Begriff dargestellt, so ist dagegen aufzuzeigen, daß sie drei verschiedene, einander widersprechende Verstehensbegriffe umfaßt, wobei der dritte, das geisteswissenschaftliche Verstehen, seinerseits eine Triplizität aufweist. Die genaue Unterscheidung dieser verschiedenen Begriffe hat eine Reihe von entscheidenden Konsequenzen. So macht sie deutlich, daß Dilthey das geisteswissenschaftliche Verstehen jedenfalls nicht primär methodologisch bestimmte, und erweist damit die gängige, die weitere Diskussion durch eine verhängnisvolle Disjunktion belastende Fixierung Diltheys auf einen Methodendualismus als eine Simplifikation. Die Unterscheidung der verschiedenen Verstehensbegriffe schafft ferner erst die Möglichkeit, die eigentliche Problematik des Ansatzes Diltheys aufzuzeigen, die ein wesentliches Element darin hat, daß die Vereinigung der verschiedenen Begriffe unter einem gemeinsamen Namen argumentativ nicht eingeholt (und nicht einholbar) ist. Im Zusammenhang damit stellt
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sich auch heraus, daß die Struktur der Rezeptivität eine für Diltheys Position und ihre Problematik signifikante Figur ist, wodurch der restriktive Objektivitätsbegriff erst auf seine systematischen Voraussetzungen hin transparent wird. Diese Begriffsanalyse legt aber ebenso klar, daß sich bei Dilthey auch Theoriemomente finden, die über seinen Ansatz hinausweisen und für die notwendige Neubestimmung der Objektivität der Historie wie der Geisteswissenschaften insgesamt unerläßlich sind. Die Beurteilung der Leistungen Diltheys sowie der Vertreter der weiteren untersuchten Positionen für die Theorie der Geschichtswissenschaft hat ihre systematische Voraussetzung in einem Begriff der Historie 5 ), den es an dieser Stelle zu erläutern gilt. Es handelt sich dabei um einen Begriff, der in der Reflexion auf den Gegenstandsbereich der Historie fundiert ist. Diese Reflexion ergibt zunächst, daß sich die der Historie zugrundeliegende Ausgangsfrage auf den gesamten Bereich des menschlichen Lebens der Vergangenheit bezieht. Sie hat in der den Menschen als solchen auszeichnenden Bestimmung ihr wesentliches Konstituens und umfaßt alle Konkretisierungen des Menschseins in der Vergangenheit. Der durch sie abgesteckte Gesamtbereich möglicher Gegenstände der Historie ist so das Insgesamt der Menschen als solcher und des auf sie Bezogenen in der Vergangenheit. Die letzte Wendung präzisiert das Verhältnis zur Natur. Ist die Historie durch ihre Ausgangsfrage klar von der Naturgeschichte, auch wo diese den Menschen mitumfaßt, abgegrenzt, so heißt das nicht, daß sie die Natur völlig ausschließt. Sie kann und muß sich vielmehr auch mit der Natur auseinandersetzen, aber nur, soweit diese für die in der Vergangenheit Lebenden eine Rolle spielte. So sind die klimatischen Bedingungen und die Bodenbeschaffenheit eines bestimmten Territoriums historisch interessant, insofern sie den Lebens- und Wirtschaftsraum von Menschen definieren. Der Gegenstand der Historie ist aber nicht nur durch ihre Ausgangsfrage bestimmt. Nicht alles was über die in der Vergangenheit Lebenden und das auf sie Bezogene in Erfahrung
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zu bringen ist, ist historisch interessant. Es kommt zu einer weiteren Eingrenzung, wobei auf der Basis einer spezielleren Fragestellung über die historische Relevanz entschieden wird. Die Voraussetzung dafür ist ein Konzept vom Wesen der Geschichte. Auf diese Weise wird ζ. B. der Anfang der Geschichte bestimmt und, sei es mit der Ausbildung der Schrift, sei es mit der Staatenbildung oder dem Beginn der Geschichtsschreibung, angesetzt. Die so zustandegekommene Eingrenzung des eigentlichen Gegenstandes der Historie hat aber keinen prinzipiellen Charakter. So wird der durch die jeweilige Bestimmung des Anfangs der Geschichte zur Vorgeschichte deklarierte Bereich seinerseits im Rahmen der Historie thematisiert. Vor allem aber ist festzustellen, daß die Bestimmung des Wesens der Geschichte in (einer näher zu charakterisierenden) Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gegenwart erfolgt, so daß sie grundsätzlich nicht beanspruchen kann, ein für allemal gültig zu sein. Sie ist eine bestimmte Interpretation des Gesamtbereichs möglicher Gegenstände der Historie, die jeweils neu zu leisten ist, und macht es daher erforderlich, die Aufmerksamkeit insbesondere auf die in der Ausgangsfrage fundierte äußere Begrenzung dieses Gesamtbereichs zu richten. Diese Reflexion auf die Konkretisierung des Menschseins als das Konstituens des Gegenstandsbereichs der Historie bildet die essentielle Voraussetzung dafür, das Vorgehen der Historie im einzelnen zu analysieren. Sie führt zunächst (II. Kapitel) in eine Differenzierung des Erfahrungsbegriffs, indem sie aufzeigt, daß sich die auf Menschen als solche bezogene Empirie sowohl im Medium der Sinneswahrnehmung als auch in demjenigen des Auffassens von sinnlich nicht wahrnehmbarem sprachlichem und intentionalem Sinn bewegt, und macht damit ersichtlich, daß die Empirie der Historie zwei verschiedene Momente umfaßt. Darüber hinaus führt sie zur Feststellung, daß die Historie aber auch ein nicht-empirisches Element aufweist, das im Wissen um das spezifische Wesen des Menschen sein Zentrum hat. Diese Differenzierung des Vorgehens der Historie (in deren weiterem Fortgang die einzelnen Momente ihrerseits
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zu differenzieren sind) bietet die Kriterien, die für die Analyse der Erklären-Verstehen-Debatte erforderlich sind und auf deren Basis sich schließlich herausstellt, daß keine der diese Debatte bestimmenden Positionen der Geschichtswissenschaft voll gerecht wird, so daß auch keine deren Objektivitätsproblem aufzulösen vermag. Von der Unterscheidung der angegebenen Momente her ergibt sich zunächst, daß das für die einheitswissenschaftliche Position maßgebliche Modell der Erklärung eine Interpretationsvariante zuläßt, die in der bisherigen Rezeption dieser Position unbeachtet blieb. Es stellt sich heraus, daß das Modell der Erklärung nicht notwendig mit einer mechanistischen Konzeption verbunden ist, weil es nicht notwendig zugleich mit der Struktur der Verstandestätigkeit auch die Struktur der Realität betrifft. Das bedeutet, daß es, auf Menschen bezogen, nicht notwendig eine deterministische Reduktion derselben vollzieht, daß also Erklärung und Freiheitlichkeit des Menschen kompatibel sein können. Damit erweist sich die vorliegende Diskussion dieses Modells als weitgehend fragwürdig, da sowohl die kritischen als auch die meisten affirmativen Bezugnahmen auf den Erklärungsbegriff, bei aller Kontroversialität, von einer deterministischen Interpretation ausgehen. In diesem Zusammenhang zeigt sich auch, daß die übliche Begründung für den durch die Gegenüberstellung von Erklären und Verstehen definierten Methodendualismus nicht stichhaltig ist. Wird unter Hinweis auf die spezifischen Wesenszüge des Menschen das Modell der Erklärung für die Humanwissenschaften oder zumindest für die Geisteswissenschaften6) zurückgewiesen und eine spezifische Methode gefordert, so verliert diese Argumentation mit der Entdeckung der Kompatibilität von Erklärung und Freiheitlichkeit jedenfalls den Charakter der Notwendigkeit. Geht man von dieser grundsätzlichen Überlegung über zu einer Analyse der tatsächlichen Vorgangsweise der empirischen Auseinandersetzung mit Menschen als solchen, nicht nur in den Wissenschaften, sondern bereits im Alltag, so stellt sich heraus,
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daß Prozesse von der Struktur der Erklärung überall anzutreffen sind. Damit wird deutlich, daß der genannte Methodendualismus weder theoretisch notwendig noch praktisch relevant ist, wodurch er gänzlich hinfällig wird (was allerdings nicht bedeutet, daß die Unterscheidung von Erklären und Verstehen als ganze, d. h. auch in ihrer nicht-methodologischen Intention hinfällig geworden ist). In der Folge kommt auch die These von der Komplementarität der beiden Methoden zu Fall und ebenso die auf dieser These beruhende Bestimmung der Grenze und des Verhältnisses zwischen den Geistes- und Sozialwissenschaften. Das bedeutet aber nicht zuletzt, daß die in der Gegenwart vielbeachtete, vor allem von Habermas und Apel entwickelte Konzeption der ideologiekritischen Ergänzung der beiden Wissenschaftstypen auf eine ungerechtfertigte Reduktion derselben gegründet ist. Diese folgenreiche Interpretationsvariante des Erklärungsmodells läuft aber nicht auf eine Rechtfertigung der einheitswissenschaftlichen Position hinaus, sondern läßt vielmehr deren eigentliche Problematik hervortreten. Erst wenn nämlich diese Position nicht mehr deterministisch unterinterpretiert wird, kommt vollends zutage, inwiefern sie eine entscheidende Verkürzung der Wissenschaften bedeutet. Die These von der Identität aller Wissenschaften beruht auf einer Reduktion derselben auf Erklärungsprozesse, d. h. auf einer Ausblendung des jeweiligen Kontextes, in den die Erklärungen eingebunden sind. Da dieser Kontext aber den Leitfaden abgibt, der die Erklärungen bedingt und in ihrem Stellenwert bestimmt, bleibt mit ihm gerade das Wesentliche der Wissenschaften ausgeblendet. Das bedeutet, daß auch die Historie entscheidend verkürzt wird, woraus sich ergibt, daß der Anspruch der einheitswissenschaftlichen Position, mit der Aufdeckung erklärender Strukturen in der Historie bzw. mit der Forderung einer Transformation von Erklärungsskizzen in vollentfaltete Erklärungen das Objektivitätsproblem der Historie überwunden zu haben, illusionär ist. Es gilt demnach, dieser methodologischen Reduktion gegenüber die Historie in allen ihren Komponenten zu reflektieren.
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Dabei ist der Frage weiter nachzugehen, welche Konsequenzen sich für die Historie daraus ergeben, daß das Verhältnis des Historikers zu seinem Gegenstand den Charakter der Relation von Menschen zu Menschen hat. In diesem Zusammenhang werden die Überlegungen der hermeneutischen Theorie, insofern sie nicht methodologische Intentionen im engeren Sinn verfolgen, wieder aktuell. Vor allem ist (im III. Kapitel) die Konzeption Gadamers zu berücksichtigen, die mit einer Kritik an Diltheys Wissenschaftsbegriff einsetzt und daher eine alternative, die Problematik desselben vermeidende hermeneutische Theorie der Historie wie der Geisteswissenschaften insgesamt erwarten läßt. Die nähere Untersuchung ergibt aber, daß diese Erwartung nur sehr begrenzt berechtigt ist. Gadamer rückt zwar im Gegenzug gegen die historistische Forderung der Selbstauslöschung respektive Zeitlosigkeit die Geschichtlichkeit des Historikers ins Zentrum der Aufmerksamkeit, aber er zieht daraus keine wissenschaftstheoretischen Konsequenzen. Wie sich herausstellt, ist dies bereits in der Fundierung seines Systems der Hermeneutik vorbereitet. Es wird auszuführen sein, daß das ursprüngliche Weltverhältnis des Menschen, als die allgemeinste Form der Hermeneutik bezeichnet, für Gadamer die Struktur des Erleidens hat, so daß in der Folge auch die speziellere Form der Hermeneutik, das den Geisteswissenschaften vorausgehende, als Erfahrung der Wahrheit der Tradition bestimmte wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, durch diese Struktur charakterisiert ist. Die Geschichtlichkeit hat demnach den Charakter des Eingebundenseins in ein als entsubjektivierend gedachtes Überlieferungsgeschehen. Daran ändert auch das vielzitierte Modell des Gesprächs nichts. Wie gezeigt werden soll, wird es, von dem durch ein deutliches Gefalle gekennzeichneten Autoritätsmodell Gadamers überlagert, ebenfalls im Sinne eines Ausgeliefertseins interpretiert, was häufig übersehen wurde. Auf der Basis einer solchen Entsubjektivierung läßt sich aber Wissenschaft nicht begründen. Ist das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein gerade dadurch bestimmt, daß es gewissermaßen hinter dem Rücken des Erkennens zustande
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kommt, so kann es auch an der Historie nur indirekt zum Ausdruck gelangen. Deshalb münden Gadamers Überlegungen nicht in eine adäquatere, bei der Geschichtlichkeit des Historikers ansetzende Theorie der Geschichtswissenschaft. Was die Historie (bzw. die Geisteswissenschaften insgesamt) für sich genommen betrifft, schließt sich Gadamer der Theorie Diltheys und damit dem für sie maßgeblichen Objektivitätsbegriff an. Dadurch ergibt sich aber die Paradoxie, daß die Historie einem Anspruch verpflichtet bleibt, der als grundsätzlich uneinlösbar durchschaut ist. Sieht Gadamer demnach die Objektivität der Historie als einen notwendigen falschen Schein, so heißt dies nichts anderes, als daß seine Position in eine Aporie führt und daß es gilt, für die Theorie der Historie einen anderen Ausgangspunkt zu wählen. Dennoch kommt, wie sich herausstellen wird, den zentralen Motiven Gadamers, allerdings in veränderter Interpretation, eine nicht geringe Bedeutung zu — dem vom Autoritätsgefälle befreiten Modell des Gesprächs ebenso wie der der Reflexion nicht mehr entgegengesetzten Geschichtlichkeit. Die Auseinandersetzung mit Gadamer ergibt, daß die mit dem Hinweis auf die Geschichtlichkeit des Historikers angegebene, von Gadamer selbst aber nicht eingeschlagene Richtung konsequent weiterzuverfolgen ist. Die vorliegende Untersuchung wendet sich daher (im IV. Kapitel) jener Position zu, die vom Subjekt der Geschichtsschreibung ausgeht. Das heißt, sie analysiert die narrative Theorie der Historie, die den Historiker als Konstrukteur von Geschichte(n) auszuweisen und auf die Voraussetzungen der Konstruktion hin transparent zu machen sucht. Dabei ergeben sich sowohl in der Auseinandersetzung mit der sprachanalytischen (Danto) als auch mit der transzendentalphilosophischen (Baumgartner) Version dieser Theorie legitime Motive. Vor allem wird deutlich, daß die Geschichtsschreibung fundiert ist in den Fragestellungen und Konzepten des Historikers und daß dieselben in der Auseinandersetzung des Historikers und seiner Zeitgenossen über ihre Gegenwart und das in ihr Gesollte ihren Ursprung haben. Es stellt sich aber 2 Nagl-Docekal
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auch heraus, daß die narrative Position dieses subjektive Fundament für die ganze Bestimmung der Historie nimmt. Sie erweist sich dem Historismus gegenüber als das andere Extrem, indem sie nicht den Historiker, sondern die Zusammenhänge der Vergangenheit ausblendet, und kann somit dem Forschungscharakter der Historie nicht gerecht werden. Es wird darzulegen sein, daß diese Problematik bei Baumgartner darauf zurückzuführen ist, daß er sein Konzept der historischen Vernunft, das die transzendentalen Voraussetzungen der Historie erfassen soll, in Anlehnung an Kants Bestimmung der theoretischen Vernunft, zudem in einer wesentliche Momente überspringenden Interpretation, entwickelt. In der Folge der Isolierung des subjektiven Fundaments ergibt sich eine spezifische Form des Objektivitätsproblems. Ist die Historie narrative Konstruktion, aus der die Geschichte erst als ihr Produkt hervorgeht, so kann sich die Frage der Rechtfertigung nur mit Bezug auf die Prinzipien der Konstruktion stellen. Allerdings zeigt sich, daß die damit erforderliche Erörterung der Möglichkeit bzw. der Kriterien der Legitimation von Konstruktionsprinzipien nur in Ansätzen, und überdies solchen, die neuerlich in Probleme führen, erfolgte. Entscheidend ist jedoch, daß hier eine neue, von der für den Historismus und seine Tradition besimmenden grundsätzlich verschiedene Fassung des Objektivitätsproblems vorliegt. Es ist zwar festzustellen, daß diese Fassung, weil sie auf einer die Historie verkürzenden Geschichtstheorie beruht, nicht die gesamte Problematik historischer Objektivität umfaßt, ihre Bedeutung liegt aber darin, daß sie deutlich werden läßt, daß sich diese Problematik nicht in der Frage der Ausweisbarkeit von Tatsachenaussagen im weitesten Sinn erschöpft. Von hier aus ergibt sich, daß eine über die diskutierten Positionen hinausgehende differenziertere Exposition des Objektivitätsproblems erforderlich ist und daß sie nur auf der Basis einer Reduktionen vermeidenden Analyse der Historie geleistet werden kann. Daher wird der Versuch gemacht, einen Aufriß des Vorgehens der Historie in einer weiteren Entfaltung seiner
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empirischen und nicht-empirischen Momente zu geben — unter Berücksichtigung der in der bisherigen Diskussion bereits erreichten Differenzierungen. In der Folge stellt sich heraus, daß sich, den unterschiedenen Momenten entsprechend, das Problem der Rechtfertigung historischer Aussagen auf vier verschiedenen Ebenen ergibt. Damit vervierfacht sich auch die Frage nach dem Kriterium der Legimitation. Ist im weiteren darzulegen, daß sich für jede Ebene ein spezifisches Kriterium ausmachen läßt, so bedeutet dies, daß die Historie in allen Komponenten ihres Vorgehens der verbindlichen Argumentation fähig ist. Es erweist sich demnach, daß der Historie eine spezifische Objektivität, die als das Resultat eines mehrdimensionalen Kontrollprozesses zu bestimmen ist, zukommt, mit anderen Worten, daß die Wissenschaftlichkeit der Historie durch einen besonderen, komplexen Objektivitätsbegriff definiert ist. Danken möchte ich den Professoren Friedrich Engel-Janosi f , Erich Heintel und Heinrich Lutz für die vielfache Förderung sowie für das mir entgegengebrachte Interesse, das zum Zustandekommen der vorliegenden Arbeit wesentlich beigetragen hat, und dem Kollegen Georg Krainer für die sorgfältige Betreuung des Manuskripts.
I. O B J E K T I V I T Ä T ALS R E Z E P T I V I T Ä T D E R BEDEUTUNG: WILHELM D I L T H E Y 1. D I E FUNDIERUNG
DER WISSENSCHAFTEN
IM
ERLEBNIS
Die Überlegungen Diltheys werden häufig in verschiedene Phasen gegliedert, und zwar je nach dem gewählten Kriterium in zwei oder drei. Solche Gliederungsvorschläge sind allerdings stets durch den Hinweis auf nicht unwesentliche Überschneidungen der einzelnen unterschiedenen Phasen zu ergänzen. Überdies ist festzustellen, daß auch die einzelnen Schriften Diltheys, wie sich noch zeigen wird, keineswegs homogen sind. Diese immanenten Schwierigkeiten sind es aber nicht allein, die die Überlegung rechtfertigen, daß es hier nicht darauf ankommt, entwicklungsgeschichtliche Reflexionen aufzugreifen und weiterzuführen. Es ist vor allem die hier verfolgte Fragestellung, die eine andere Vorgangsweise erfordert. Sie läßt es als geboten erscheinen, die bei Dilthey anzutreffenden Theoriemomente jeweils in ihrer differenziertesten Form aufzugreifen und auf ihre Bedeutung für die systematische Entfaltung der Geschichtstheorie hin zu untersuchen. Dilthey geht davon aus, daß den Naturwissenschaften nicht nur verschiedene nicht-naturwissenschaftliche Disziplinen gegenüberstehen, sondern daß diese infolge gemeinsamer Kriterien ihrerseits zu einer Gruppe zusammenzufassen sind. „Neben den Naturwissenschaften hat sich eine Gruppe von Erkenntnissen entwickelt, naturwüchsig, aus den Aufgaben des Lebens selbst, welche durch die Gemeinsamkeit des Gegenstandes miteinander verbunden sind. Solche Wissenschaften sind Geschichte, Nationalökonomie, Rechts- und Staatswissenschaften, Religionswissenschaft, das Studium von Literatur und
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Dichtung, von Raumkunst und Musik, von philosophischen Weltanschauungen und Systemen, endlich die Psychologie. Alle diese Wissenschaften beziehen sich auf dieselbe große Tatsache: das Menschengeschlecht. Sie beschreiben und erzählen, urteilen und bilden Begriffe und Theorien in Beziehung auf diese Tatsache." 1 ) (Hier zeigt sich, daß Dilthey all jene Wissenschaften, die sich mit dem Menschen als solchem befassen, in eine Gruppe zusammennimmt. Das bedeutet, daß er die Bezeichnung Geisteswissenschaften in einem viel umfassenderen Sinn verwendet, als dies im gegenwärtigen Sprachgebrauch gewöhnlich geschieht 2 ).) Entscheidend für die weiteren Überlegungen Diltheys ist, daß er die eben zitierte Kennzeichnung der Gruppe der Geisteswissenschaften nicht für zureichend hält. Daß es auch Naturwissenschaften vom Menschen gibt, ist für ihn ein Indiz, daß die Unterscheidung der beiden Wissenschaftsgruppen nicht nur von den „Tatsachenkreisen" her erfolgen kann. „Behandelt doch auch die Physiologie eine Seite des Menschen, und sie ist eine Naturwissenschaft. In den Tatbeständen an und für sich kann also nicht der Einteilungsgrund für die Sonderung der beiden Klassen liegen." 3 ) Dilthey sieht sich daher genötigt, ein weiteres Kriterium zur Unterscheidung der beiden Wissenschaftsgruppen anzugeben. Dabei läßt er sich von dem Gedanken leiten, daß es auf die „Art der Beziehung" 4 ) ankommt, die der Mensch zu den Tatbeständen aufnimmt, und gelangt so zur Unterscheidung zweier "Tendenzen": „Man könnte sagen, daß in allen wissenschaftlichen Arbeiten zwei große Tendenzen zur Geltung gelangen." 5 ) Für die nähere Ausführung dieses Arguments sind zwei Überlegungen maßgeblich: erstens, daß Mensch und Natur dem Menschen zunächst auf dieselbe Weise präsent sind, nämlich im Erlebnis (dessen genaue Bestimmung noch im einzelnen zu untersuchen sein wird); und zweitens, daß der Reflexion ursprünglich und grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Bezugnahme offenstehen. So ergeben sich die beiden Tendenzen, deren eine dadurch bestimmt ist, daß die Natur aus dem Er-
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lebniszusammenhang herausgelöst und nur nach der physischen Seite betrachtet wird: „Wir bemächtigen uns dieser physischen Welt durch das Studium ihrer Gesetze. Diese Gesetze können nur gefunden werden, indem der Erlebnischarakter unserer Eindrücke von der Natur, der Zusammenhang, in dem wir, sofern wir selber Natur sind, mit ihm stehen, das lebendige Gefühl, in dem wir sie genießen, immer mehr zurücktritt hinter das abstrakte Auffassen derselben nach den Relationen von Raum, Zeit, Masse, Bewegung. Alle diese Momente wirken dahin zusammen, daß der Mensch sich selbst ausschaltet, um aus seinen Eindrücken diesen großen Gegenstand Natur als eine Ordnung nach Gesetzen zu konstruieren." 6 ) Die zweite der beiden Tendenzen ist dagegen auf das Erlebnis selbst gerichtet: „Aber derselbe Mensch wendet sich dann . . . rückwärts zum Leben, zu sich selbst. Dieser Rückgang des Menschen in das Erlebnis, durch welches für ihn die Natur da ist, in das Leben, in dem allein Bedeutung, Wert und Zweck auftritt, ist die andere große Tendenz, welche die wissenschaftliche Arbeit bestimmt. Ein zweites Zentrum entsteht. Alles, was der Menschheit begegnet, was sie erschafft und was sie behandelt, die Zwecksysteme, in denen sie sich auslebt, die äußeren Organisationen der Gesellschaft, zu denen die Einzelmenschen in ihr sich zusammenfassen — all das erhält nun hier eine Einheit. Von dem sinnlich in der Menschengeschichte Gegebenen geht hier das Verstehen in das zurück, was nie in die Sinne fällt und dennoch in diesem Äußeren sich auswirkt und ausdrückt." 7 ) Dilthey argumentiert also, daß die Gegenstandsbereiche der beiden Wissenschaftsgruppen nicht als solche gegeben sind, sondern erst durch eine jeweils besondere Zugangsweise zur ursprünglichen Einheit des Erlebnisses konstituiert werden. Demnach resultiert der „Gegenstand Natur" aus der Suche nach Gesetzen, während die „Einheit" des Gegenstandes der Geisteswissenschaften auf das „Verstehen" zurückzuführen ist. So betont Dilthey kurz nach der eben zitierten Stelle noch einmal, der „Tatbestand Mensch, Menschheit" dürfe nicht ein-
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fach als der gemeinsame Gegenstand dieser Wissenschaften bezeichnet werden. „Vielmehr entsteht ihr Gegenstand erst durch ein besonderes Verhalten zur Menschheit, das aber nicht von außen an sie herangebracht wird, sondern in ihrem Wesen fundiert ist." 8 ) Insbesondere an der letzten Wendung dieses Zitats wird deutlich, daß der Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften für Dilthey auf zwei Momenten beruht, die nicht voneinander zu trennen sind, nämlich auf dem Wesen der Menschheit ebensowohl wie auf der spezifischen Verhaltensweise zu demselben. Dies ist deshalb hervorzuheben, weil man nicht selten auf die Auffassung stößt, Dilthey habe den Objektbereich der Geisteswissenschaften ausschließlich von der Verhaltensweise her bestimmt. Dieses Mißverständnis wird im folgenden noch näher zu erörtern sein 9 ). Für eine adäquate Rezeption des Diltheyschen Ansatzes ist zu beachten, daß Dilthey die wissenschaftstheoretische Problematik nicht isoliert erörtert, sondern im Kontext und auf der Basis einer allgemeinen Erkenntnistheorie. Dilthey ist primär an der Entwicklung eines neuen erkenntnisphilosophischen Ansatzes orientiert. Daß er für dieses zentrale Anliegen die Bezeichnung „Kritik der historischen Vernunft" wählt, hat allerdings mitunter dazu verführt, seine Absicht im Sinne einer bloßen Ergänzung von Kants „Kritik der reinen Vernunft" durch eine Fundierung der historischen Wissenschaften zu interpretieren. Dagegen ist aber mit Recht immer wieder, vor allem in der neueren Diskussion seit den sechziger Jahren 1 0 ), betont worden, daß es Dilthey vielmehr um eine neue, die Überlegungen Kants grundsätzlich überholende Theorie des Menschen geht. Dilthey sucht das Konzept der reinen Vernunft zu ersetzen durch eine von der Individualität, d. h. konkreten Realität des Menschen ausgehende Konzeption der Vernunft. Die genannte Selbst-Bezeichnung soll den Kern seines Neuansatzes zum Ausdruck bringen, den Riedel folgendermaßen umreißt: „Die Vernunft ist keine reine, sondern immer nur historische, d. h. endliche, von Zeit und Umständen abhängige
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menschliche Vernunft." 11 ) Mit dieser neuen Vernunftkritik soll nicht nur das Spezifische der Geisteswissenschaften thematisierbar werden, sondern „damit verändert sich auch das transzendentale Begründungsproblem der Naturwissenschaften", wie Schnädelbach mit Recht betont 12 ). Dilthey beurteilt die von Motiven Descartes' ausgehende Erkenntnistheorie als einen „Intellektualismus" 13 ), der an der Realität des Menschen vorbeigeht: „In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruieren, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit." 14 ) Die Unhaltbarkeit dieser traditionellen Erkenntnistheorie wird für ihn vor allem daran sichtbar, daß sie in eine Reihe von unaufhebbaren Dualismen geführt hat, wie Subjekt und Objekt, Psychisches und Physisches, Theorie und Praxis. Dilthey wählt dagegen als Ansatzpunkt den „ganzen Menschen", in dem die in diesen Disjunktionen genannten Momente noch nicht auseinandergetreten sind, und sucht die Vernunft selbst als abkünftig zu erweisen. „Mich führte historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend, fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen."15) Die reine Vernunft wird also noch einmal hinterfragt und als in der Mannigfaltigkeit des ganzen Menschen fundiert gedacht. Es ist diese Argumentation, die den Begriff des Erlebnisses zu einer zentralen Kategorie Diltheys werden läßt. Das Erlebnis ist für ihn der Ort, an dem die ursprüngliche Totalität wirklich ist. D. h., Dilthey faßt Erlebnisse nicht als bestimmte Vorkommnisse des menschlichen Lebens unter anderen auf, sondern als die primäre und eigentliche Realität. So urteilt auch Riedel: „Das Erlebnis ist nicht ein beliebiger psychischer oder gar ästhetischer, sondern von Anbeginn ein transzendentaler, die ganze Breite der Erfahrung konstituierender Begriff."16)
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Im Erlebnis sind für Dilthey zum einen „gegenständliches Auffassen, Wertgeben, Zwecksetzen als Typen des Verhaltens" noch nicht voneinander geschieden. „Es gibt gar keinen Menschen und keine Sache, die nur Gegenstand für mich wären und nicht Druck und Förderung, Ziel eines Strebens oder Bindung des Willens, Wichtigkeit, Forderung der Rücksichtnahme und innere Nähe oder Widerstand, Distanz und Fremdheit enthielten."17) — Zum anderen sind im Erlebnis auch Subjekt und Objekt noch eine Einheit. „Das Bewußtsein von einem Erlebnis und seine Beschaffenheit, sein Fürmichdasein und was in ihm für mich da ist, sind eins: Das Erlebnis steht nicht als ein Objekt dem Auffassenden gegenüber, sondern sein Dasein für mich ist ununterschieden von dem, was in ihm für mich da ist. . . . Und verschiedene Gesichtspunkte, unter denen es aufgefaßt würde, können nur nachträglich durch die Reflexion entstehen und berühren es selber in seinem Erlebnischarakter nicht." 18 ) Dazu meint Schnädelbach: „Der Ausdruck ,Erlebnis' ist außerordentlich glücklich gewählt. Umgangssprachlich umfaßt er in der Tat subjektive und gegenständliche Aspekte in gleicher Weise. Wenn man berichtet ,Der Ausblick vom Berge X war ein großes Erlebnis', so spricht man ungetrennt vom Erlebten ebenso wie vom subjektiven Erlebnisvorgang; es bedarf nachträglicher Präzisierungen, wenn man das Subjektive vom Gegenständlichen im Erlebnis sondern will. Dasselbe Beispiel macht deutlich, daß wir mit ,Erlebnis' nicht nur kognitive, sondern auch emotionale, wertbezogene Erfahrungen bezeichnen: nur durch den Anteil von emotional und werthaft nicht neutralen Momenten wird die Vorstellung einer Landschaft zu einem ,Erlebnis'." 19 ) Es ist allerdings hinzuzufügen, daß sich diese Bestätigung nur auf die Wortwahl Diltheys erstreckt. Im übrigen äußert Schnädelbach, auch in bezug auf andere Beispiele aus Diltheys Sprachgebrauch, den Verdacht, daß Dilthey eine Vorgangsweise antizipiert, die „bei Heidegger zur Methode wurde", nämlich ein Philosophieren, das sich aus der Etymologie „zusätzliche, über die sachliche Analyse
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hinausgehende Überzeugungskraft" 20 ) zu verschaffen sucht. Vorwegnehmend sei angemerkt, daß sich dieser Verdacht im folgenden, wenn die Widersprüchlichkeit in Diltheys Bestimmung des Erlebnisbegriffs zu zeigen sein wird, jedenfalls nicht als unbegründet erweisen wird. Schon 1880 hatte Dilthey das Erlebnis als die ursprüngliche Einheit, die der Trennung von Subjekt und Objekt vorausliegt, bestimmt: „Dieser hier entwickelte Tatbestand, welchem gemäß Gegenstände so gut als Willensakte, ja die ganze unermeßliche Außenwelt so gut als mein Selbst, welches sich von ihr unterscheidet, Erlebnis in meinem Bewußtsein (ich nenne das Tatsache des Bewußtseins) sind, enthält die allgemeinste Aussage, welche über Dinge wie Gedanken oder Gefühle ausgesprochen werden kann." 21 ) An Äußerungen wie dieser wird deutlich, daß Dilthey mit seinem Erlebnisbegriff auf die „Kritik an der falschen Problematisierung der Realität der (natürlichen) Außen- und (menschlichen) Mitwelt" abzielt und damit am Beginn einer philosophischen Orientierung steht, die „in der modernen Philosophie von Scheler und Heidegger bis zu Wittgenstein und Gilbert Ryle" weiterverfolgt wurde, wie Riedel bemerkt 22 ). Der entscheidende Schritt, um dieser Intention gerecht zu werden, ist Diltheys Argument, daß das Denken selbst ein Moment des Erlebens oder zumindest auf ein solches zurückzuführen ist. Die Bestimmungen der Vernunft gehen wie gesagt bei ihm aus der ursprünglichen Einheit von Denken, Fühlen und Wollen hervor. „Das Erleben schließt in sich die elementaren Denkleistungen. Ich habe dies als seine Intellektualität bezeichnet. Mit der Steigerung der Bewußtheit treten sie auf. Die Veränderung eines inneren Sachverhalts wird so zum Bewußtsein des Unterschiedes. An dem, was sich ändert, wird ein Tatbestand isoliert aufgefaßt. An das Erleben schließen sich die Urteile über das Erlebte, in welchen dieses gegenständlich wird." 23 ) Bei näherer Durchsicht der Ausführungen Diltheys zeigt sich aber, daß diese Argumentation an manchen Stellen durch-
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brochen ist. Wenn Dilthey ζ. B. „die Art, wie das Erlebnis für mich da ist" untersuchen will 24 ), so bedeutet die Wendung „für mich" darin einen Widerspruch. Das Erlebnis als ursprüngliche Einheit von Subjekt und Objekt soll ja gerade nicht das Ich außer sich haben. Dilthey müßte hier von seinen Voraussetzungen her seiner eigenen Ausführung gegenüber den bekannten Einwand erheben, daß das Ich, als „bloße Denktätigkeit" bestimmt, blutleer bleibt. Es scheint daher nicht unberechtigt, wenn Gadamer zu dem Schluß kommt, daß sich bei Dilthey Cartesianische Motive finden, die mit den lebensphilosophischen nicht kompatibel sind 25 ). Dabei ist allerdings zu bedenken, daß diese Kritik Gadamers aus dessen eigenem erkenntnisphilosophischen Ansatz hervorgeht, der die konsequente Ausschließung des Cartesianismus für sich beansprucht. Auf die spezifische Problematik dieses Ansatzes wird in dem Gadamer gewidmeten Kapitel genauer einzugehen sein — hier stellt sich zunächst die Frage, ob die eben aufgezeigte Inkonsequenz in Diltheys Argumentation vielleicht eine grundsätzliche Schwierigkeit seiner Position indiziert. Ist das Erlebnis bei Dilthey stets als der Reflexion vorausliegend und durch diese negiert bestimmt, so heißt das, daß das Erlebnis als Unmittelbarkeit aufzufassen ist. Damit stellt sich aber das Problem, wie Unmittelbarkeit im nachhinein der Reflexion zugänglich sein kann, und dieses führt in die Überlegung, daß eine Unmittelbarkeit des Menschen als solche nicht zu denken ist, sondern nur als eine von Bewußtsein begleitete. Dem trägt schon die Umgangssprache Rechnung, die in Wendungen wie „ich hatte ein Erlebnis" bereits die Differenz von Erlebendem und sich als erlebend Wissendem voraussetzt. Und diese umgangssprachliche Differenzierung fällt, wie sich gezeigt hat, auch Dilthey in den Rücken. Hier kann allerdings eingewendet werden, daß Dilthey ja die Reflexion nicht nur als Negation des Erlebnisses bestimmt, sondern als aus demselben hervorgehend. Das Erlebnis als unmittelbare Einheit des ganzen Menschen enthält ja auch das Denken als Moment. Betrachtet man jedoch die Bestimmung
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dieser Einheit näher, so ergibt sich dieselbe Ambivalenz. Die ursprüngliche Einheit wird prozeßhaft gedacht, sie erscheint als durch die „Steigerung der Bewußtheit" zeitlich strukturiert. So wird die sich unmittelbar vollziehende „Veränderung eines inneren Sachverhalts" gefolgt vom „Bewußtsein des Unterschiedes". Dilthey läßt also innerhalb des Erlebnisses auf eine erste Unmittelbarkeit die „elementaren Denkleistungen" folgen, die er als „die logischen Verhaltensweisen von Unterscheiden, Gleichfinden, Auffassen von Graden des Unterschiedes, Verbinden, Trennen" charakterisiert und als die Vorformen der „formalen Kategorien" betrachtet 26 ). So ergibt sich hier neuerlich das Problem, wie Unmittelbarkeit durch darauffolgendes Denken erfaßbar sein soll. An dieser sich wiederholenden Problematik zeigt sich, daß Dilthey seine Intention nicht zu realisieren, d. h. die Entzweiung von Subjekt und Objekt nicht als sekundäres Phänomen gegenüber der ursprünglichen Einheit des Erlebnisses zu erweisen vermag, sondern daß er vielmehr das Problem dieser Entzweiung in die Konzeption des Erlebnisses hineinverschiebt — allerdings ohne selbst davon Kenntnis zu nehmen. So erhebt sich die Frage, wie es ihm gelingt, diese seinem Erlebnisbegriff implizite Spannung von Subjekt und Objekt zumindest vor sich selbst zu verbergen. In diesem Zusammenhang ist aufschlußreich, wie Dilthey die Genese der Kategorien bestimmt: „Die formalen Kategorien sind abstrakte Ausdrücke für die logischen Verhaltensweisen von Unterscheiden, Gleichfinden, Auffassen von Graden des Unterschiedes, Verbinden, Trennen. Sie sind gleichsam ein Gewahrwerden höheren Grades, das nur feststellt, nicht aber a priori konstruiert. Sie treten schon in unserem primären Denken auf und machen sich dann als dieselbigen in unserem diskursiven, an Zeichen gebundenen Denken, nur auf einer höheren Stufe, geltend."27) Aus dieser Argumentation geht hervor, daß Dilthey das Denken dem Gedachten gegenüber nur rezeptiv bestimmt und es damit scheinbar aus diesem ableitet. Die „Steigerung des Bewußtseins" erweist sich so als der Schleichweg, auf dem die
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eigentliche Spannung umgangen wird — jedoch um den Preis, daß auf die Frage, durch welche Voraussetzungen das „Gewahrwerden" bzw. „Feststellen" ermöglicht wird, verzichtet werden muß. Mit anderen Worten: Daß die Perpetuierung der Subjekt-Objekt-Entzweiung ungemerkt, d. h. unter dem Deckmantel eines entgegengesetzten Anspruchs erfolgt, hat zur Folge, daß selbst die in der Transzendentalphilosophie vor allem Kants bereits erreichte Differenzierung dieses Problems zum Teil wieder verlorengeht. Es ist kein Zufall, daß sich Dilthey mitunter dem Sprachgebrauch des englischen Empirismus anschließt. Wenn es an einer (in anderem Zusammenhang noch ausführlicher zu zitierenden) Stelle über die unmittelbare Einheit des Naturerlebens heißt: „Im Erlebnis treten Eindrücke, Impressionen, Bilder auf" 2 8 ), so ist das nicht nur eine verbale Übereinstimmung. Wie die Empiristen setzt sich auch Dilthey darüber hinweg, daß der Begriff des Eindrucks das Verhältnis von Beeindruckendem und Beeindrucktem impliziert, das näher zu bestimmen wäre 29 ). Angesichts dieses, auch philosophiegeschichtlichen Rückfalls hinter die transzendentale Problematik überrascht es übrigens, daß Riedel Diltheys Erlebnisbegriff schlicht einen „transzendentalen Begriff" nennt, ohne die Differenz zwischen dem Anspruch und seiner Einlösung als Problem sichtbar zu machen 30 ). An dieser Stelle ist anzumerken, daß Diltheys Rückgriff auf eine bloß rezeptive Bestimmung des denkenden Subjekts nicht ohne Konsequenzen blieb. Sie werden sich in der vorliegenden Arbeit sowohl innerhalb der Diltheyschen Theorie, in spezifischen Verengungen der wissenschaftstheoretischen Erörterungen, als auch, gewissermaßen am vorläufig anderen Ende der Entwicklung, an der Position Gadamers zeigen. Für die hier verfolgte Fragestellung ist wie gesagt maßgeblich, daß sich für Dilthey das aus dem Erlebnis hervorgehende und auf dieses zurückgewendete Denken in zwei grundsätzlich verschiedene Formen spaltet: das auf Gesetze abzielende Verhalten einerseits und das Verstehen andererseits. Die
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beiden Formen stimmen zwar in den formalen Kategorien, von deren Genese eben die Rede war, überein, aber jede weist darüber hinaus spezifische „reale Kategorien" bzw. eine spezifische Verwendung gemeinsamer realer Kategorien auf 31 ). Dies führt bei der ersten Form dazu, daß sie aus der ursprünglichen Einheit des Erlebnisses gewisse Momente ausfällt und isoliert. Auf diese Weise entsteht nach Dilthey die Differenz von Physischem und Psychischem. Deshalb schreibt er: „Beide Begriffe können nur angewandt werden, wenn wir uns dabei bewußt bleiben, daß sie nur aus der Tatsache Mensch abstrahiert sind — sie bezeichnen nicht volle Wirklichkeiten, sondern sind nur legitim gebildete Abstraktionen." 32 ) Man muß sich also „bewußt bleiben", daß durch diese Form der Reflexion die ursprüngliche Einheit des Erlebnisses auseinandergebrochen wird. „Die Beobachtung aber zerstört das Erleben."33) Dilthey charakterisiert diesen Prozeß des Auseinanderbrechens mit Bezug auf das Physische folgendermaßen: „Im Erlebnis treten Eindrücke, Impressionen, Bilder auf. Physische Gegenstände sind nun das zu praktischen Zwecken ihnen Unterlegte, durch dessen Setzung die Impressionen konstruierbar werden." 34 ) Die „praktischen Zwecke", die Dilthey hier im Auge hat, sind die das Physische (und ebenso das Psychische) betreffenden Wissenschaften. Wie sich bereits gezeigt hat, formiert sich bei Dilthey in der Vergegenständlichung der Erlebnisinhalte der Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften. So bedeutet auch in der eben zitierten Passage der Ausdruck „konstruierbar werden" die Möglichkeit der Naturwissenschaften. Und eben weil diese Abstraktionen die genannten Wissenschaften fundieren, stellen sie sich als „legitim gebildete Abstraktionen" dar. Daher heißt es über das Psychische: „Die Bildung dieses Begriffs rechtfertigt sich daraus, daß das in ihm Ausgesonderte als logisches Subjekt Urteile und Theorien möglich macht, die in den Geisteswissenschaften notwendig sind." 35 ) Hier wird deutlich, daß die Psychologie bei Dilthey eine Zwischenstellung einnimmt. Wird sie zunächst, als Wissenschaft
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vom Menschen, den Geisteswissenschaften zugezählt, so ergibt die Feststellung des Abstraktionscharakters der Konstitution ihres Gegenstandes eine entscheidende Abgrenzung. Die Psychologie bleibt in der Folge auf die Funktion einer Hilfsdisziplin der Geisteswissenschaften eingeschränkt, worauf im vorliegenden Zusammenhang aber nicht näher einzugehen ist36). Die Geisteswissenschaften im eigentlichen Sinn sind für Dilthey, wie sich gezeigt hat, in der anderen Form der Reflexion fundiert. Diese, das Verstehen, ist auf das Erlebnis als solches ausgerichtet. An dieser Bestimmung ist vor allem zu beachten, daß sie das Verstehen nicht als komplementär zur Ausbildung des Physischen und Psychischen faßt. Das Verstehen ist nicht so charakterisiert, daß es ebenfalls abstrahierend vorgeht, daß es ebenso, wenn auch andere, Momente des Erlebnisses isoliert. Das Verstehen wird vielmehr als Bezug auf das Ganze des Erlebnisses dargestellt, so daß es auch, wie Dilthey ausdrücklich betont, das unmittelbare Verhältnis von Mensch und Natur, das dem Begriff des Physischen vorangeht, thematisiert. Dementsprechend werden auch die dem Verstehen spezifischen „realen Kategorien" auf den Gesamtkomplex des Erlebnisses zurückgeführt 37 ). Der Ausdruck Verstehen bezeichnet also zunächst das Wissen um das Wesen des Menschen, d. h. um die Eigenart des Menschen als solchen, die als die Identität aller Menschen den unterschiedlichen Besonderheiten der einzelnen Individuen vorausliegt. Die Art, wie Dilthey diese Eigenart charakterisiert, ist allerdings nicht unproblematisch. Vor allem ist zu bedenken, was es heißt, daß der Mensch wesentlich als ursprüngliche Einheit von Denken, Fühlen und Wollen bestimmt wird. Gewiß, es ist hinzuzufügen, daß Dilthey diese Einheit lediglich als „Untergrund" auffaßt. „Auf diesem Untergrund des Lebens treten dann gegenständliches Auffassen, Wertgeben, Zwecksetzen als Typen des Verhaltens in unzähligen Nuancen, die ineinander übergehen, hervor." 38 ) Doch wie schon an der letzten Wendung dieses Zitats ersichtlich ist, und wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, behalten die drei genannten
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Verhaltensweisen wegen ihrer Abkünftigkeit aus der ihnen vorausliegenden Einheit den Charakter der Momenthaftigkeit. Das heißt, Dilthey kann vom Erlebnis her zu keiner adäquaten Entfaltung der Spannung von Theorie und Praxis gelangen und damit auch zu keinem adäquaten Begriff des Handelns. Es soll hier keineswegs geleugnet werden, daß es die Aufgabe der Philosophie ist, auch dem Zusammenhang von Theorie und Praxis nachzugehen. Vielmehr ist darauf hinzuweisen, daß Dilthey dieser Aufgabe nicht gerecht werden kann, weil er die Differenz von Theorie und Praxis erst gar nicht als solche und in ihrer konstitutiven Bedeutung für das Wesen des Menschen zur Kenntnis nimmt. Im Hinblick auf die hier verfolgte Fragestellung ist aber vor allem darauf aufmerksam zu machen, daß Diltheys Uberspielen dieser Differenz und die damit verbundene Verunmöglichung einer Theorie des Handelns eine nicht gering zu achtende Hypothek für seine Konzeption von Geschichte bedeutet. Damit zeigt sich neuerlich, daß bereits in der Basis des Ansatzes Diltheys die Problematik seiner weiteren Ausführungen angelegt ist. (Eine andere Schwierigkeit liegt darin, daß Dilthey das Werten dem Gefühl zuordnet und das Wollen auf Zweckrationalität beschränkt, aber darauf kann hier nicht näher eingegangen werden.) Diese Schwierigkeiten, die die nähere Bestimmung des Verstehens als der zweiten der beiden „großen Tendenzen" kennzeichnen, dürfen aber nicht den Blick darauf verstellen, daß Dilthey mit diesem Begriff Überlegungen verbindet, die nicht zu umgehen sind. Hier ist noch einmal daran zu erinnern, daß das Verstehen in diesem Zusammenhang das Wissen um das Wesen des Menschen bedeutet. Wenn Dilthey nun feststellt, daß der Gegenstand der Geisteswissenschaften im Verstehen ein konstitutives Moment hat, so ist dies im Sinne folgender Argumentationsschritte zu interpretieren; erstens: Das Umsichselbstwissen des Menschen impliziert, daß der einzelne die jeweils anderen nicht bzw. nicht nur in der Weise von Gegenständlichem auffaßt, sondern als dem Wesen nach mit ihm
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identisch, und daß er damit in einer besonderen „Art der Beziehung" zu ihnen steht; zweitens: Die Geisteswissenschaften reichen so weit, wie Menschen als solche, d. h. von bloßen Gegenständen unterschiedene, identifiziert und thematisiert werden. Der Begriff Verstehen hat hier also die Funktion, die Bedingung der Möglichkeit der Geisteswissenschaften zu bezeichnen. In dieser Funktion — und losgelöst von der Konzeption des Erlebnisses — ist er keineswegs nur für die besondere Position Diltheys relevant. Auch die gegenwärtige Reflexion der Geisteswissenschaften wird auf die eben angegebenen Überlegungen zurückgreifen müssen. Es ist allerdings hinzuzufügen, daß dabei Diltheys Wortwahl nicht mitübernommen werden kann. Wie noch zu zeigen sein wird, ist mit der Bezeichnung Verstehen eine ganz bestimmte Konzeption des Verhältnisses von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie verbunden, die nicht unproblematisch ist. Geht man nun davon aus, daß die Geisteswissenschaften einen besonderen Status haben, weil sie auf der spezifischen Relation des Menschen zu anderen Menschen beruhen, so fallen einem aber manche Formulierungen Diltheys als fragwürdig ins Auge. So ist es ζ. B. auffällig, daß Dilthey in den eingangs zitierten Passagen die Menschheit als „Tatsache" respektive als „Tatbestand" bezeichnet. Beide Ausdrücke werden gewöhnlich als Bezeichnung für Fakten verwendet, d. h. sie beziehen sich nicht auf einen gesamten Sinnzusammenhang, sondern nur auf die gegenständlichen Momente eines solchen. Sie finden sich deshalb häufig in juridischen Kontexten, wo es nicht um Handlungen in ihrem Gesamtsinn, sondern um ihre beobachtbare und klassifizierbare Seite geht. Wie ist es also aufzufassen, daß Dilthey mit diesen Ausdrücken den Gegenstand der Geisteswisenschaften bezeichnet, während er doch gleichzeitig betont, daß das Verstehen, in dem dieser formiert wird, nicht als Vergegenständlichung zu denken ist? Hier kündigt sich eine Problematik an, die sich im weiteren als eine zentrale herausstellen wird, nämlich daß bei Dilthey die Geisteswissenschaften trotz der behaupteten Sonderstel3
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lung in Analogie zu den auf Vergegenständlichung basierenden Wissenschaften, wenn nicht bestimmt, so doch jedenfalls vorgestellt werden.
2 . DIE TRIPLIZITÄT DES BEGRIFFS VERSTEHEN
In dem eben referierten Argumentationszusammenhang Diltheys fällt aber auch noch eine andere teminologische Entscheidung, die nicht überlesen werden sollte. Der Ausdruck „Verstehen" hat darin keine methodologische Bedeutung, sondern bezeichnet die dem methodischen Vorgehen der Geisteswissenschaften vorgelagerte und es allererst ermöglichende „Art der Beziehung". Das heißt, Dilthey verwendet das Wort Verstehen in verschiedenen Bedeutungen, und dies ist die erste davon. Das ist nicht zuletzt deshalb gleich deutlich zu markieren, weil, wie sich zeigen wird, ein Gutteil der die weitere, vor allem die kritisch auf Dilthey bezugnehmende Diskussion kennzeichnenden Probleme darauf zurückzuführen ist, daß die nicht-methodologische Bedeutung des Verstehens bei Dilthey übersehen wurde. Dilthey ist jedoch an dieser mangelhaften Rezeption seiner Theorie nicht unschuldig, denn er hält selbst die verschiedenen Bedeutungen nicht klar auseinander. Genauer gesagt: Das Wort Verstehen wechselt bei Dilthey ganz unvermittelt und ohne Kennzeichnung seine Bedeutung. (Da die verschiedenen Verstehensbegriffe in der Analyse notwendig voneinander getrennt werden müssen, ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß sie im Werk Diltheys einander ständig überkreuzen.) Es legt sich daher der Verdacht nahe, daß er sich über die Unterschiede des jeweils Bezeichneten nicht Rechenschaft ablegte, und daß dies der Grund ist, warum er jeweils das gleiche Wort verwendete. Eine solche Verschleifung der Bedeutungen zeigt sich ζ. B. in folgender Passage: „Es ist die Richtung auf die Selbstbesinnung, es ist der Gang des Verstehens von außen nach innen. Diese Tendenz verwertet je-
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de Lebensäußerung für die Erfassung des Innern, aus der sie hervorgeht. Wir lesen in der Geschichte von wirtschaftlicher Arbeit, Ansiedlungen, Kriegen, Staatengründungen. Sie erfüllen unsere Seele mit großen Bildern, sie belehren uns über die historische Welt, die uns umgibt; aber vornehmlich bewegt uns doch in diesen Berichten das den Sinnen Unzugängliche, nur Erlebbare, aus dem die äußeren Vorgänge entstanden, das ihnen immanent ist und auf das sie zurückwirken." 39 ) In dieser Ausführung bezeichnet das Wort Verstehen mit einem Male nicht mehr das bloß formale Wissen des Menschen um sich selbst, sondern einen auf der Basis desselben sich vollziehenden Prozeß. Was hier verstanden wird, sind nicht mehr die Wesenszüge des Menschen als solchen, sondern die verschiedenen konkreten, im Lauf der Geschichte aufeinander folgenden Realisierungen dieses Wesens. Auch diese zweite Variante des Verstehensbegriffs ist nicht auf die Methode der Geisteswissenschaften im engeren Sinn bezogen. Sie entspricht vielmehr dem allgemeinen Prozeß der inhaltlichen Orientierung des Menschen in der Welt der Menschen, einer Orientierung, die sich auch auf die historische Genese dieser Welt erstreckt und die ebenso das Erkennen der eigenen Individualität in ihrem Entwicklungsgang umfaßt. Das Verstehen bedeutet in diesem Falle die Entdeckung dessen, „was wir einmal waren, wie wir uns entwickelten und zu dem wurden, was wir sind" 4 0 ). Der Form nach ist das Verstehen in dieser zweiten Bedeutung wesentlich dadurch bestimmt, daß es von „Lebensäußerungen" seinen Ausgang nimmt, um über diese an das ihnen zugrunde liegende Innere heranzukommen 41 ). Die Bezeichnung „Lebensäußerung" bezieht sich dabei auf alles, was auf menschliche Sinngebung zurückzuführen ist. Dilthey kann daher eine ganze Reihe verschiedener Formen von Lebensäußerungen angeben. Diese umfaßt sowohl „Gebärden, Mienen und Worte" wie „die dauernden geistigen Schöpfungen, in denen die Tiefe des Schaffenden sich dem Auffassenden öffnet", wie „die beständigen Objektivierungen des Geistes in gesellschaft3*
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lichen Gebilden, durch welche die Gemeinsamkeit menschlichen Wesens hindurchscheint", und auch die „Handlungen" der Individuen 42 ). Die letztgenannte Form der Lebensäußerungen ist insbesondere für das Zustandekommen des Selbstverständnisses des Individuums relevant: „nur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben auf andere belehren den Menschen über sich selbst"43). Entscheidend ist dabei, daß alle Lebensäußerungen sinnlicher Ausdruck von etwas selbst nicht den Sinnen Zugänglichem sind. „Von dem sinnlich in der Menschengeschichte Gegebenen geht hier das Verstehen in das zurück, was nie in die Sinne fällt und doch in diesem Äußeren sich auswirkt und ausdrückt." 44 ) Wie sich an einer der eben zitierten Stellen zeigt, ist dieses Unsinnliche für Dilthey vergangenes Erlebnis, das sich dem Verstehenden wieder als „das Erlebbare" darbietet. Mit dieser Wendung verkompliziert sich nun das Bild zusehends. Es wird nämlich deutlich, daß der zweite Verstehensbegriff mit dem ersten nicht in einer konsistenten Theorie zu vereinbaren ist, sondern im Widerspruch zu diesem steht. Das heißt, der zweite Verstehensbegriff beruht auf einem neuen Gebrauch des Wortes Erlebnis, der dem den eingangs zitierten Passagen gemeinsamen Gebrauch widerspricht. Liest man die hier wiedergegebenen Stellen genau, so zeigt sich, daß es nicht mehr der „Untergrund", aus dem die verschiedenen „Typen des Verhaltens" des Menschen erst als besondere hervorgehen, ist, der als Erlebnis bezeichnet wird, sondern alle über die bereits besonderten Fähigkeiten vermittelten menschlichen Sinngebungen. So stehen einander nicht mehr die ursprüngliche Einheit der Verhaltenstypen einerseits und deren entwickelte Form, die die Unmittelbarkeit des Erlebnisses verlassen hat, andererseits gegenüber, sondern das Erlebnis und seine Äußerung. Das heißt, daß alles das, was sich zuerst als Zerfall bzw. als Zerstörung des Erlebnisses dargestellt hat, nun selbst dem Erlebnis zugezählt wird. Dilthey umreißt das „Erlebbare", das mittels der Lebensäußerungen erfaßt werden soll, ausdrücklich als „das
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Schaffende, Wertende, Handelnde, Sichausdrückende, Sichobjektivierende" 45 ). Wenn so die entwickelten Verhaltensweisen ihrerseits mit dem Terminus Erlebnis bezeichnet werden, so ist dies nicht als die Frage einer zufälligen, beliebig auswechselbaren Terminologie aufzufassen. Die Wahl der Bezeichnung ist vielmehr auf konzeptuelle Gründe zurückzuführen. Es ist zu beachten, daß die Wendung vom „ganzen Menschen", die den ersten Erlebnisbegriff kennzeichnete, auch hier relevant ist. Indem nämlich Dilthey die drei Verhaltensweisen dem Erlebnis subsumiert, denkt er sie abermals als zu einer Einheit verschmolzen. Wie bereits gezeigt wurde, sind sie für ihn „in unzähligen Nuancen, die ineinander übergehen" anzutreffen. „Sie sind im Lebensverlauf zu inneren Zusammenhängen verbunden, welche alle Betätigung und Entwicklung umfassen und bestimmen." 46 ) An dieser Stelle ist neuerlich festzustellen, daß Dilthey von seiner ersten Bestimmung des Menschen her zu keinem adäquaten Begriff von Theorie und Praxis gelangen kann. Weil er das Wesen des Menschen als die ursprüngliche Einheit seiner Verhaltenstypen definiert, muß er auch die entfaltete Realität des Menschen im Sinne dieser Einheit auffassen. So erscheinen etwa die Handlungen als Momente von Erlebnissen, d. h. als in einen übergeordneten Zusammenhang eingebunden 47 ). Nicht weniger schwerwiegend ist, daß auch dem Denken dieselbe Eingebundenheit zugesprochen wird. Dabei ist zu dem eben Ausgeführten hinzuzufügen, daß Dilthey diese Verschmelzung nicht nur auf der Ebene des Erkennens und Handelns konstatiert, sondern ebenso auf der Metaebene des Verstehens dieses konkreten Erlebten. D. h., das Verstehen im Sinne der zweiten Bedeutung wird nun seinerseits in den Bereich des Erlebnisses einbezogen. So betont Dilthey ζ. B., daß sich der Prozeß des Selbsterkennens, also der Auslegung der eigenen vergangenen Lebensäußerungen, nicht bloß im Denken, sondern im Gesamtgefüge der Verhaltenstypen vollzieht: „Dabei kann auch ein aus der Gefühlsmacht des Erlebens hinzu-
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tretendes Interesse mitwirken. Es ist ein Fortgezogenwerden, keine Volition, am wenigsten das abstrakte Wissenwollen." 48 ) Dem Selbsterkennen wird auf diese Weise Erlebnischarakter imputiert. Hier erhebt sich die Frage, welche Bestimmung des „Selbst", also des Subjekts des Verstehens, Dilthey in Überlegungen wie dieser voraussetzt. Das heißt, man stößt auf eine Ambivalenz, die der im Rahmen des ersten Erlebniskonzepts auftretenden analog ist. Zum einen spridit Dilthey von dem mit den Realkategorien Bedeutung, Wert und Zweck ausgestatteten Subjekt, für das die bestimmten vergangenen Erlebnisse da sind und das vor allem auf der Basis der Kategorie der Bedeutung den Zusammenhang des Lebens als individuelle Identität herstellt. Zum anderen betont er aber, daß die Bedeutsamkeit bereits den Erlebnissen selbst zukommt, daß sie „ein Lebensbezug und kein intellektuelles Verhältnis, kein Hineinlegen von Vernunft, von Gedanke in den Teil des Geschehnisses" ist 49 ). Das heißt, daß auch die bestimmte Identität sich bereits im Leben selbst herstellt. Die Selbstbesinnung wird damit zur bloßen Funktion des Erlebniszusammenhangs, eben zu einem „Fortgezogenwerden". So wie im Rahmen der ersten Erlebniskonzeption die Kategorien, so werden nun die besonderen Einsichten als aus dem Erlebnis ableitbar vorgestellt. Das hat zur Folge, daß auch das — bereits mit Bezug auf das „primäre Denken" konstatierte — Charakteristikum der Rezeptivität für die Selbstbesinnung aufrecht bleibt. Diese Problematik ist für die vorliegende Untersuchung deshalb schwerwiegend, weil für Dilthey die zur Autobiographie gestaltete Selbstbesinnung das Paradigma der Geschichtsschreibung ist. Somit setzt sich die eben festgestellte Ambivalenz in seiner Theorie der Geschichtswissenschaft fort. Das heißt, schon das Paradigma ist dadurch gekennzeichnet, daß Historie einmal als Gestaltung und einmal als bloß rezeptives Auffassen von Zusammenhängen vorgestellt wird. Letzteres wird ζ. B. dort deutlich, wo Dilthey schreibt: „Derselbe Mensch, der den Zusammenhang in der Geschichte seines
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Lebens sucht, hat . . . schon einen Zusammenhang seines Lebens unter verschiedenen Gesichtspunkten gebildet, der nun jetzt ausgesprochen werden soll. Er hat in der Erinnerung die Momente seines Lebens, die er als bedeutsam erfuhr, herausgehoben und akzentuiert und die anderen in Vergessenheit versinken lassen. . . . So sind die nächsten Aufgaben für die Auffassung und Darstellung geschichtlichen Zusammenhangs hier schon durch das Leben selber halb gelöst." 50 ) Und wenig später heißt es: „ein Zusammenhang ist am Leben selber gebildet worden . . . Da ist also das Geschäft historischer Darstellung schon durch das Leben selber halb getan. . . . aus der endlosen, zahllosen Vielheit ist eine Auswahl dessen vorbereitet, was darstellungswürdig ist." 51 ) In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die Ambivalenz des „Selbst" und damit auch diejenige im Paradigma der Autobiographie häufig unbemerkt blieb. Dies gilt ζ. B. für Η. M. Baumgartner, wenn er den Kern der Diltheyschen Geschichtstheorie auf folgende Weise zusammenfaßt: „Das erlebende, sich erinnernde, wertende, zweckrealisierende, mit sich identische Individuum, das seinen Lebensverlauf unter der Kategorie der Bedeutung zur Einheit einer Lebensgeschichte zusammennimmt, ist das Modell, nach dem Dilthey den Aufbau der Geschichte in Wirkungszusammenhängen denkt." 52 ) Baumgartner übergeht dabei, daß in Diltheys Überlegungen die lebensphilosophische Argumentation, wenn nicht allein, so zumindest als wesentliches Moment maßgeblich ist, derzufolge das „mit sich identische Individuum" als aus der vorgängigen Einheit des Erlebnisses abkünftig gesehen wird. Das Ubergehen dieses lebensphilosophischen Moments hat übrigens zur Folge, daß auch Diltheys Auseinandersetzung mit der Frage der historischen Objektivität nur verkürzt rezipiert werden kann. Diese Auseinandersetzung erfolgt nämlich, wie noch zu zeigen sein wird, auf der Basis der eben skizzierten ambivalenten Argumentation. Über der inneren Analyse des zweiten Verstehensbegriffs und der durch sie aufgedeckten Ambivalenz soll aber nicht
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übergegangen werden, welche Funktion und Bedeutung diesem Begriff zukommt. Vor allem ist zu berücksichtigen, daß Dilthey auch das Verstehen im Sinn dieser Variante des Begriffs als fundierend für die Geisteswissenschaften bezeichnet. Demnach können diese Wissenschaften nur entstehen, „sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden" 53 ). Und Dilthey fährt fort: „Die Geisteswissenschaften sind so fundiert in diesem Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen. Hier erst erreichen wir ein ganz klares Merkmal, durch welches die Abgrenzung der Geisteswissenschaften definitiv vollzogen werden kann. Eine Wissenschaft gehört nur dann den Geisteswissenschaften an, wenn ihr Gegenstand uns durch das Verhalten zugänglich wird, das im Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen fundiert ist."54) Daraus wird klar: Der zweite Verstehensbegriff hat die Funktion, den Gesamtumfang des Gegenstandsbereichs der Geisteswissenschaften abzustecken. Alles das, was Erlebnis im weiteren Sinn des Wortes ist, also konkrete Entfaltung des menschlichen Verhaltens, ist möglicher Gegenstand der Geisteswissenschaften — alles das, aber auch nur das. So wie der erste gibt also auch der zweite Verstehensbegriff ein wesentliches Konstituens von Geisteswissenschaft an. Bezeichnet der erste die Bedingung der Möglichkeit dieses Wissenschaftstyps, so bezeichnet der zweite seinen Gesamtbereich. Allerdings ist diese Argumentation, wie sich gezeigt hat, dadurch belastet, daß beide Begriffe durch die ihnen jeweils immanente fragwürdige Konzeption von Erlebnis problematisch sind. Sieht man aber von dieser Belastung einmal ab, so zeigt sich, daß auch diese Argumentation Diltheys über sein Werk hinaus Gültigkeit beanspruchen kann. Sie läßt sich dann etwa in folgende These zusammenfassen: Die Geisteswissenschaften sind darin fundiert, daß grundsätzlich gewußt wird, was Menschsein heißt, und daß konkretes Menschsein als solches identifiziert wird. So wird deutlich, daß mit den beiden Ver-
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stehensbegriffen Argumentationsmomente gegeben sind, die auch in der gegenwärtigen Erörterung der Theorie der Geisteswissenschaften nicht zu umgehen sind. Dies ist nicht zuletzt deshalb zu betonen, weil die auf Dilthey bezugnehmende Diskussion die im zweiten Verstehensbegriff angelegte Argumentation meist ebensowenig wahrgenommen hat wie die im ersten vorliegende. Freilich ist hinzuzufügen, daß Dilthey aus Gründen, auf die noch näher einzugehen sein wird, dafür selbst Anlaß bot. In der bisherigen Analyse der Verstehensbegriffe hat sich gezeigt, daß bei Dilthey das denkende bzw. sich wissende Ich jeweils wieder vom Erlebnis als einer übergeordneten Einheit eingeholt wird. Es ist nun aber darauf aufmerksam zu machen, daß auch die entgegengesetzte Bewegung zu beobachten ist: Die in der jeweils prätendierten Vereinigung unterdrückte Differenz macht sich immer wieder geltend. Aus jeder Stufe der unmittelbaren Einheit muß Dilthey das Denken als besondere Leistung hervorgehen lassen. Die Struktur dieses Prozesses ist bereits bekannt: So erhebt sich das primäre Denken über die erste Unmittelbarkeit, und so tritt das Denken zusammen mit dem Fühlen und Wollen aus dem Erlebnis im Sinn des ersten Erlebnisbegriffs hervor. Und diese Bewegung findet sich mit Bezug auf das Erlebnis im Sinn des zweiten Erlebnisbegriffs wieder auf zweifache Weise. Wird das Verstehen in der Form der Orientierung und Selbstbesinnung noch einmal in die Einheit des Erlebnisses eingebunden, so geht aus dieser schließlich das Denken als Geisteswissenschaft hervor. Dilthey skizziert diesen Prozeß folgendermaßen: „Jede dauernde Beziehung von Individuen enthält so in sich eine Entwicklung, in welcher Werte, Regeln, Zwecke erzeugt, zum Bewußtsein gebracht und in einem Verlauf von Denkvorgängen gefestigt werden. Dieses Schaffen, wie es in Individuen, Gemeinschaften, Kultursystemen, Nationen sich vollzieht, unter den Bedingungen der Natur, welche beständig Stoff und Anregung zu ihm bieten, gelangt in den Geisteswissenschaften zur Besinnung über sich selbst." 55 )
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Es bedarf kaum mehr der Erläuterung, daß der Begriff Verstehen damit eine dritte Bedeutung gewinnt, in der er sich ausschließlich auf die Geisteswissenschaften bezieht. Der Ausdruck Verstehen bezeichnet nun eine neue Metaebene, auf der alle erlebten „menschlichen Zustände", denen jetzt auch die Orientierung und Selbstbesinnung zugezählt werden, „zur Besinnung über sich selbst" gelangen. Das bedeutet, daß er nicht nur ein bestimmtes Charakteristikum der Geisteswissenschaften bezeichnet, sondern deren eigentliches Wesen. „Aus diesem gemeinsamen Wesen der angegebenen Wissenschaften folgen erst alle die Eigenschaften, welche als dies Wesen konstituierend in den Erörterungen über Geisteswissenschaften oder Kulturwissenschaften oder Geschichte herausgehoben worden sind." (Im Anschluß an diese Stelle rekapituliert Dilthey einige zentrale Thesen seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften", ζ. B. jene über „das besondere Verhältnis, in welchem hier das Einmalige, Singulare, Individuelle zu allgemeinen Gleichförmigkeiten steht" 56 ).) Entscheidend ist, daß auf dieser letzten Stufe der Bewegung das Denken nicht noch einmal in eine übergeordnete Einheit eingebunden wird. Das Verstehen in seiner dritten Form bleibt zwar nicht ohne Wirkung auf die Praxis, wird aber dennoch als ein besonderes Vorgehen von derselben deutlich abgesetzt. „Niemand hat, im Gegensatz zu den an die Historiker oft gestellten Anforderungen, direkt auf das Leben zu wirken durch Stellungnahme in dessen Kämpfen, so erfolgreich als Ranke den Charakter der Geschichte als einer objektiven Wissenschaft vertreten. Wir können nur dann eine wahre Wirkung auf die Gegenwart ausüben, wenn wir von derselben zunächst absehen und uns zu freier objektiver Wissenschaft erheben. Dies Ziel führt dann auch in Ranke zur Ausbildung aller Mittel der Kritik." 5 7 ) Auf die Bedeutung der hier gegebenen Bestimmung historischer Objektivität wird noch zurückzukommen sein — im Augenblick gilt es, der Differenzierung des Verstehens weiter nachzugehen. So ist festzustellen, daß der dritte Verstehens-
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begriff trotz des eben gezeigten Unterschieds nicht in der Weise dem zweiten gegenüber kontrovers ist wie dieser gegenüber dem ersten. Betrachtet man nämlich das geisteswissenschaftliche Verstehen seinem Inhalt nach, so erscheint es als die systematisch erweiterte Fortsetzung jener bereits dem Alltag zukommenden Orientierung in der Welt der Menschen. So mag es zunächst nicht überraschend sein, daß sich Dilthey häufig auf beide Bedeutungen gewissermaßen im gleichen Atemzug bezieht. Diese Plausibilität verschwindet aber, wenn man mitbedenkt, daß auch der erste Verstehensbegriff aller Kontroversialität zum Trotz in vielen Äußerungen Diltheys mit den anderen zusammengenommen wird. Damit stellt sich noch einmal die Frage nach ihrem Verhältnis.
3 . H E R M E N E U T I K ALS „ E R S T E
WISSENSCHAFT"
Es zeigt sich nun, daß der Begriff des geisteswissenschaftlichen Verstehens der eigentlich fundamentale ist. Verstehen ist für Dilthey primär das über die methodisch gesicherte Auslegung von Lebensäußerungen vermittelte Auffassen des Erlebnisses. Und der hier als erster bezeichnete Verstehensbegriff ist von diesem Modell her gedacht. Das heißt, zusammen mit bestimmten Erlebnissen soll auch der Charakter des Erlebnisses selbst, als „Untergrund", auf dem Wege der Auslegung erfaßt werden. Darin liegt der Kern des Diltheyschen Gegenzugs gegen die Transzendentalphilosophie — was sich bei Kant als a priori darstellt, ist hier Resultat jener „Art der Beziehung". Darin liegt aber ebenso ein wesentliches Moment der Abkehr von der Philosophie Hegels. So ist der Einschätzung Gadamers, die auch von Riedel übernommen wurde 58 ), zuzustimmen, wonach bei Dilthey „die Identität von Bewußtsein und Gegenstand, dieses spekulative Postulat des Idealismus, noch immer aufweisbare Wirklichkeit ist" 5 9 ). Im Grunde wird erst hier deutlich, warum Dilthey die Einsicht in die ursprüngliche Einheit überhaupt als Verstehen bezeichnet.
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Ist auf diese Weise das geisteswissenschaftliche Verstehen der entscheidende Vorgang, demgegenüber selbst das Erfassen des Wesens des Erlebnisses, d. h. des Menschen als solchen (in seiner unmittelbaren Verbundenheit mit der Welt), als sekundär erscheint, so heißt das, daß den Geisteswissenschaften bei Dilthey eine über ihre genuine Funktion hinausgehende fundamentale Bedeutung zukommt. Das traditionelle, noch für die Neukantianer bestimmende Verhältnis von Erkenntnisund Wissenschaftstheorie wird in sein Gegenteil verkehrt. In diesem Sinn betont auch Riedel: „Den Geisteswissenschaften und ihren Methoden wird nicht eine Logik und Erkenntnistheorie vorausgeschickt, sondern es wird umgekehrt versucht, auf der Grundlage einer Selbstreflexion ihrer Geschichte, Grundsätze und Methoden die Logik und Erkenntnistheorie über traditionelle Grenzen hinaus zu erweitern und jene nicht vorhandene ,erste' Wissenschaft auszuarbeiten, die dann als Grundwissenschaft die Funktion der Rechtfertigung und Regelgebung der geisteswissenschaftlichen Forschung übernehmen soll."60) In dieser Umkehrung liegt die Voraussetzung für den weithin beachteten und folgenreichen Umstand, daß die Hermeneutik bei Dilthey die Qualität einer prima philosophia erlangt. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Dilthey in der Konzeption des Verstehens an die romantische Hermeneutik, insbesondere diejenige Schleiermachers, anschließt. Mit Schleiermacher war gewissermaßen die erste Phase der Universalisierung der Hermeneutik an ihr Ende gekommen. Hatte sich die Hermeneutik als Theorie der Auslegung zunächst auf die besonderen Fälle, in denen sich das Verständnis eines Textes nicht unmittelbar herstellt, beschränkt, so bezog sie sich bei Schleiermacher auf die jedem Verstehensprozeß immanente Struktur. Hinzu kam noch, daß Schleiermacher nicht nur die Lektüre von Texten, sondern auch jedes Gespräch als einen solchen der Struktur der Auslegung folgenden Prozeß bestimmte. Aber auch mit Bezug auf die Zielbestimmung ist eine Erweiterung der Hermeneutik zu verfolgen. Ging es vorerst um ein dem dogmatischen Interesse, sei es der Theologie, sei es
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des am klassischen Altertum orientierten Humanismus, entsprechendes, von Mißverständnissen befreites Auffassen der in den Texten ausgedrückten Wahrheit, so waren für Schleiermacher Texte wie gesprochenes Wort nicht bloß Ausdruck eines sachlichen Gehalts, sondern auch eines Individuums. Er forderte, „eine Reihe von Gedanken zugleich als einen hervorbrechenden Lebensmoment, als eine mit vielen anderen, auch anderer Art zusammenhängende Tat zu verstehen" 61 ). Es war insbesondere diese Überlegung, von der Dilthey seinen Ausgang nahm. Sein Ansatz erweist sich somit als eine neuerliche Erweiterung der Hermeneutik. Bei ihm sind es nicht nur sprachliche Äußerungen, die in der Auslegung auf ein „Lebensmoment" zurückgeführt werden, sondern, wie sich gezeigt hat, alle Formen von Lebensäußerungen. Damit können auch die historischen Wissenschaften als Auslegungs- bzw. Verstehensprozesse gedeutet werden, und die Theorie der Auslegung wird zur Theorie der Geisteswissenschaften insgesamt. Wird nun aber weiter bei Dilthey die Theorie der Geisteswissenschaften in der eben konstatierten Umkehrung zur Grundlage der „ersten Wissenschaft", so bedeutet das, daß der Hermeneutik die Rolle der eigentlich fundamentalen Theorie zuwächst. Dieses Motiv setzt sich dann bei Heidegger fort und führt zur Vollendung des Universalitätsanspruchs der Hermeneutik 62 ). Gegenüber Diltheys Versuch, auf der Basis der auf die Auslegung aller Lebensäußerungen erweiterten Hermeneutik die erkenntnistheoretischen Fragestellungen des Cartesianismus wie des deutschen Idealismus zu überwinden, ist aber festzuhalten, daß sich dieser Versuch in der hier vorgenommenen Analyse bereits als gescheitert erwiesen hat. So hat sich gezeigt, daß die Übertragung des Modells der Auslegung auf die Selbsterkenntnis des Menschen (in seiner Verbundenheit mit der Welt) auf der unreflektierten Voraussetzung beruht, daß die zentrale Kategorie des Erlebnisses verdoppelt, d. h. mit zwei ganz verschiedenen, einander sogar widersprechenden Bedeutungen ausgestattet wird — daß diese Übertragung also bloß verbal bleibt. Darüber hinaus hat sich gezeigt, daß, selbst
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ungeachtet dieser Schwierigkeit, das Verstehen im Sinn der ersten Bedeutung des Begriffs die beanspruchte Leistung nicht erbringt. Das denkende Subjekt ist dort, wo es erst abgeleitet werden soll, jeweils schon als konstitutiv vorausgesetzt. Da Dilthey diese Voraussetzung unreflektiert läßt, gerät er in eine Ambivalenz, die sich nun als die zentrale Paradoxie seines hermeneutischen Ansatzes erweist: Das Verstehen als Prinzip der „ersten Wissenschaft" ist einerseits subjektlos, d. h. ein bloß rezeptives Medium, in dem das denkende und sich wissende Subjekt erst entsteht, es muß aber andererseits eine Leistung eben dieses Subjekts sein, weil es sonst nicht vom Modell der geisteswissenschaftlichen Auslegung her zu bestimmen ist. Erinnert man sich in diesem Zusammenhang, daß die Grundwissenschaft dann ihrerseits zum theoretischen Fundament der Geisteswissenschaften wird, so folgt, daß die eben gezeigte Paradoxie nicht ohne Konsequenzen für die Geisteswissenschaften bleiben kann. Das bedeutet aber nicht weniger, als daß Diltheys Ausgang von der Hermeneutik nach zwei Richtungen hin in Probleme führt, nämlich sowohl in der versuchten Überwindung der traditionellen Erkenntnistheorie als auch in der Grundlegung der Geisteswissenschaften. Hier ist allerdings noch einmal zu bemerken, daß sich die Motive, die für Dilthey bestimmend sind, im einzelnen als legitim und auch für die gegenwärtige Diskussion des Standorts der Geisteswissenschaften relevant erwiesen haben. Die Schwierigkeiten ergeben sich erst damit, daß sie vom Modell der Auslegung her aufgefaßt und zu einem hermeneutischen Universalkonzept zusammengenommen werden.
4. SUBJEKTIVIERUNG
DER
GESCHICHTE
ENTSUBJEKTIVIERUNG
DER INDIVIDUEN
Fragt man sich nun, was aus dem Diltheyschen Ansatz für die Geisteswissenschaften folgt, so ist vor allem darauf einzugehen, wie Dilthey die Geschichte bestimmt, ist doch die
Subjektivierung der Geschichte
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Geschichte für ihn der Inbegriff alles dessen, worauf die Geisteswissenschaften abzielen. Es ist also zu verfolgen, wie Dilthey die Geschichte vom Erlebnis her charakterisiert. Dabei ist zunächst zu beachten, daß er das Erlebnis nicht als ein isoliertes, punkthaft Gegenwärtiges sieht, sondern als ein auf einen zeitlichen Verlauf Bezogenes. Genauer gesagt, ist umgekehrt das Erlebnis der Ort, wo sich der Zusammenhang eines zeitlichen Verlaufs allererst herstellt. Die drei im Erlebnis verschmolzenen Verhaltenstypen Denken, Fühlen und Wollen sind nämlich auf die drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezogen. So gehört dem Denken die Erinnerung an, die das Gegenwärtige mit dem Vergangenen zusammenschließt. Daher entsteht, wie sich bereits gezeigt hat, für Dilthey im Erlebnis die Identität des Individuums. Diese Zusammengehörigkeit von Erlebnis und zeitlichem Zusammenhang ist schließlich auch die Basis für Diltheys Geschichtsbegriff. „Die Grundform des Zusammenhangs entsteht so in dem Individuum, das Gegenwart, Vergangenheit und Möglichkeiten der Zukunft zu einem Lebensverlauf zusammennimmt. Dieser Lebensverlauf kehrt dann in dem geschichtlichen Verlauf wieder, dem die Lebenseinheiten eingeordnet sind." 63 ) Dilthey geht also in seiner Geschichtskonzeption davon aus, daß die Einzelnen als Teile in übergeordnete Einheiten, „Gebilde" 6 4 ), eingebunden sind. „Kultursysteme, Richtungen, Bewegungen, Organisationen sind solche Gemeinsamkeiten, zusammengehörige Ganze, in denen auf verschiedene Art Einzelne als Teile zusammenwirken." 65 ) Diese Gebilde haben ihrerseits den Charakter von Individuen. So „sind sie dem seelischen Zusammenhang vergleichbar; auch sie sind nicht als Substanzen gegeben, aber Teile wirken hier wie dort nach einem ihnen eigenen Gesetz zusammen" 66 ). Das heißt, Dilthey sieht aus den Einzelnen als Teilen „ein Subjekt entstehen, das tut und leidet wie ein Selbst" 6 7 ). Damit gewinnen die übergeordneten Einheiten die Qualität von Erlebnissen. Ihr Zusammenhang ist „nicht von außen nur gegeben, daher schließlich rätselhaft, sondern der Zusammenhang ist erlebt,
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irgendwie" 68 ). Das bedeutet, daß diese Gebilde dieselben drei Verhaltenstypen aufweisen wie die Individuen. So kann „die Kategorie des Zwecks vom Einzelwesen übertragen werden auf einen solchen Zusammenhang" 69 ), und ebenso gilt, daß „ein historischer Zusammenhang werterzeugend ist" 70 ). Vor allem aber stellt sich die Kontinuität des zeitlichen Verlaufs in der Erinnerung her. Diese Gebilde sind aber selbst wieder Teile eines ihnen übergeordneten Ganzen, nämlich des die ganze Menschheit umfassenden Lebens. „Der Zusammenhang der Geschichte ist der des Lebens selber."71) Dilthey spricht von einer „Gliederung, welche von der Menschheit bis zu den Typen engsten Umfangs hinabreicht" 72 ), und das Leben ist für ihn die Einheit, die diese „Mannigfaltigkeit gegliederter Ordnungen" 73 ) umschließt. Es stellt sich so als ein Zusammenwirken von Teilen, als ein „Wirkungszusammenhang" 74 ) dar, was bedeutet, daß es seinerseits den Charakter der Individualität hat. „Dieser Wirkungszusammenhang unterscheidet sich von dem Kausalzusammenhang der Natur dadurch, daß er nach der Struktur des Seelenlebens Werte erzeugt und Zwecke realisiert . . . Das geschichtliche Leben schafft. Es ist beständig tätig in der Erzeugung von Gütern und Werten, und alle Begriffe von solchen sind nur Reflexe dieser seiner Tätigkeit." 75 ) Das heißt nichts anderes, als daß das Leben selbst erlebnishaft gedacht ist. Es „ist, was im Erleben und Verstehen gegeben ist . . . Es ist das von innen Bekannte" 76 ). So kommt dem Leben auch das einheitsbildende Moment der Erinnerung zu. Dilthey spricht in diesem Sinn von der „Erinnerung des Menschengeschlechts an sich selbst"77). Es erfolgt also im Leben selbst ein Innewerden der Geschichte als des Verlaufs des Lebens in der Zeit 78 ). Damit gilt hier neuerlich, was sich schon am Paradigma der Lebenseinheit des Einzelnen gezeigt hat, nämlich daß es das Leben selbst ist, „durch welches Bedeutung zugeteilt wird und das sonach dem Teil seine Stellung zuweist" 79 ). Das heißt, auch auf die Geschichte als ganze trifft die bereits zitierte Überlegung zu: „ein Zusammenhang ist im Leben selber gebildet
Subjektivierung der Geschichte
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worden . . . Da ist also das Geschäft historischer Darstellung schon durch das Leben selber halb getan" 80 ). Schon an diesem gerafften Aufriß der Diltheyschen Geschichtskonzeption läßt sich ihre Problematik erkennen. Um Geschichte vom Erlebnis her bestimmen und damit als dem Verstehen zugänglich erweisen zu können, muß Dilthey den historischen Zusammenhängen und auch dem Gesamtzusammenhang der Weltgeschichte die Individualität eines „Selbst" unterlegen. Auf diese Problematik hat Gadamer hingewiesen: „Der entscheidende Schritt, den Diltheys erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften zu tun hat, ist nun der, daß von dem Aufbau des Zusammenhangs in der Lebenserfahrung des einzelnen der Übergang zu dem geschichtlichen Zusammenhang genommen wird, der von keinem einzelnen mehr erlebt und erfahren wird . . . Es läßt sich nicht behaupten, daß Diltheys Gedanken über diesen Punkt, in dem er selbst das entscheidende Problem sieht, zur völligen Klarheit gelangt wären . . . So behält in dem ausgeführten Teil des ,Aufbaus' die Autobiographie und die Biographie — zwei Sonderfälle geschichtlicher Erfahrung und Erkenntnis — ein nicht ganz begründetes Übergewicht. Denn wir sahen ja: nicht, wie überhaupt Zusammenhang erlebbar und erkennbar wird, ist das Problem der Geschichte, sondern wie auch solche Zusammenhänge erkennbar sein sollen, die niemand als solche erlebt hat." 8 1 ) Und Gadamer macht darauf aufmerksam, daß Dilthey in die Paradoxie gerät, „trotz aller Kritik an der Spekulation", d. h. vor allem an Hegels Fundierung der Geschichte im Weltgeist, selbst historische Verläufe auf überindividuelle Subjekte zu beziehen 82 ). Noch schärfer als Gadamer formuliert Baumgartner diese Problematik. Er sieht in ihr die zentrale Aporie des Diltheyschen Geschichtsbegriffs. „An dieser Stelle gerät nun Diltheys Konzept historischer Kontinuität in unauflösliche Schwierigkeiten. Alle Wirkungszusammenhänge der Geschichte sollen kraft des Grundmodells des individuellen Lebensverlaufs jeweils ein erlebbarer Zusammenhang mit Kontinuität, und bedeutunggebender Sinnmitte, um die sie jeweils zentriert sind, 4 Nagl-Docekal
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sein und gleichwohl muß Dilthey zugeben, daß sie nicht auf ein identisches erlebendes und in seinen Interpretationen sich selbst identifizierendes Subjekt bezogen werden können. Die Kontinuität der Geschichte als Kontinuität von Wirkungszusammenhängen soll von der Kontinuität der individuellen Lebensgeschichte her gedacht werden und kann doch nicht den Kontinuitätskriterien des individuellen Erlebenszusammenhanges genügen." 83 ) Wie Gadamer weist auch Baumgartner darauf hin, daß Dilthey diese Schwierigkeit selbst gesehen hat, und beruft sich dabei auf die selbe Passage im „Aufbau" wie dieser: „Nun entsteht die Frage, wie kann ein Zusammenhang, der nicht als solcher in einem Kopf hervorgebracht wird, der also weder direkt erlebt ist, noch auf das Erlebnis einer Person zurückgeführt werden kann, aus deren Ausdrücken und den Aussagen über sie als ein solcher in dem Historiker sich bilden? Dies setzt voraus, daß logische Subjekte, die keine psychologischen sind, gebildet werden können. Es muß Mittel geben, sie abzugrenzen, es muß ein Rechtsgrund da sein, sie als Einheiten oder Zusammenhang aufzufassen. Wir suchen die Seele; dies ist das letzte, zu dem nach langer Entwicklung der Geschichtsschreibung wir gelangt sind. Und hier entsteht nun das große Problem: gewiß ist alles Wechselwirkung seelischer Einheiten, aber auf welchem Weg finden wir nun Seele da, wo nicht Einzelseele ist?"84) Trotz dieses Belegs ist Baumgartners Urteil aber nicht ohne Modifikation zu akzeptieren. Eine Ergänzung erweist sich als notwendig, wenn man die Voraussetzungen für Diltheys Konzeption näher betrachtet. Es zeigt sich dabei, daß Dilthey von einem Phänomen ausgeht, das die menschliche Situation unleugbar bestimmt: die Individuen sind nicht in der Weise selbständig, daß sie jeweils an einem Nullpunkt beginnen würden, sich und die Welt aufzufassen und handelnd Stellung zu nehmen. Jeder wird in eine bestimmte, einer Gruppe von Individuen auch über Generationen hinweg gemeinsame Weltin-
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terpretation, die mit gemeinsamen Regeln für die Praxis verbunden ist, hineingeboren und findet sich in dieser vor. In diesem Sinne zählt Dilthey u. a. „Staaten, Kirchen, Institutionen, Sitten" als Beispiele überindividueller Zusammenhänge auf 85 ). Er schließt damit an eine Einsicht in menschliche Lebensbedingungen an, die schon vor ihm entfaltet worden war. So betont er, daß der Sinn, in dem er von einem Gemeinschaften umfassenden Geist spricht, identisch sei mit jenem, „in welchem Montesquieu vom Geist der Gesetze, Hegel vom objektiven Geist oder Ihering vom Geist des römischen Rechts gesprochen hat" 8 6 ). Nun mag die nähere Ausführung dieses Gedankens bei allen Genannten der Kritik bedürftig sein — entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß es dabei um eine Einsicht geht, über die sich auch die gegenwärtige Reflexion auf Geschichte nicht hinwegsetzen kann. Im übrigen ist diese Einsicht bereits für die Realität humanwissenschaftlicher Arbeit bestimmend geworden. Nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern vor allem auch die Sozialwissenschaften sind an solchen die Individuen umfassenden Zusammenhängen orientiert. Und diese werden gewöhnlich mit einem Ausdruck im Singular — „der absolutistische Staat", „die bürgerliche Gesellschaft" — bezeichnet und in der Weise von Individuen charakterisiert. Gadamer betont zu Recht: „Der Historiker tut das ja ständig, wenn er von den Taten und Geschichten der Völker spricht." 87 ) Dabei kann es sich allerdings nur um eine Weise der Beschreibung handeln, die metaphorischen Charakter hat und nicht ontologisch mißzuverstehen ist. Es ist jedoch hinzuzufügen, daß die ontologische Verselbständigung der überindividuellen Zusammenhänge ebenso Tradition hat und, wenn auch in geänderter Form, bis in die Gegenwart anzutreffen ist. Hat sie bei Dilthey noch, in deutlicher Anlehnung an Hegel, den Charakter einer Subjektivierung, so findet sie sich gegenwärtig in ent-seelten Versionen, ζ. B. wenn in den Sozialwissenschaften Systeme und Gesetze als selbständige Agenten berachtet werden (worauf noch näher einzugehen sein wird). 4*
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Im Hinblick auf das Urteil Baumgartners ergeben sich somit zwei Überlegungen. Erstens: Die Kritik an der Subjektivierung historischer Zusammenhänge ist legitim, wo diese mehr ist als bloß metaphorischer Sprachgebrauch, und sie erweist sich als über Dilthey hinaus relevant. Zweitens: Die Subjektivierung ist bei Dilthey aber erst gewissermaßen der Schlußstein einer Argumentation, deren Thematik ihre Aktualität bewahrt hat und daher neben der Kritik Baumgartners wieder in Sicht zu bringen ist. Es geht Dilthey um das Phänomen der die Individuen vielfach umschließenden und als Einheiten identifizierbaren Zusammenhänge. Gewiß ist es ungerechtfertigt, wenn er sich im Gefolge seiner Erkenntnistheorie dazu hinreißen läßt, diese Zusammenhänge in Analogie zum individuellen Lebensverlauf zu setzen — aber er geht dabei immerhin von der entscheidenden Überlegung aus, daß diese Zusammenhänge für die in ihnen vereinigten Individuen identitätsbildend sind und sich nicht erst dem späteren und von außen herantretenden Interpreten präsentieren. Mit anderen Worten: Wie berechtigt es auch ist, Dilthey zu kritisieren, insofern er das Leben „metaphysiziert" 88 ) — Baumgartner setzt sich seinerseits der Kritik aus, insofern er nicht wahrnimmt, daß Dilthey, wenn auch mit unzulänglichen Mitteln, ein wesentliches Moment menschlicher Existenz und damit der Geschichte thematisiert. Die nähere Auseinandersetzung mit Baumgartner wird ergeben, daß diese Ausblendung kein Zufall ist, sondern eine signifikante Folge seiner auf dem Konstruktionsgedanken beruhenden Geschichtskonzeption. Im vorliegenden Zusammenhang ist noch zu beachten, daß die ontologische Verselbständigung der überindividuellen Einheiten in allen ihren Spielarten auf die gleiche Problematik zurückzuführen ist. Sie tritt immer dann auf, wenn das Verhältnis der Individuen zu diesen ihnen zunächst vorgegebenen und sie umfassenden Zusammenhängen inadäquat bestimmt wird. So ist bei Dilthey festzustellen, daß er der Frage der Genese dieser Zusammenhänge kaum nachgeht, daß er also nicht hinlänglich klarmacht, daß sie ihrerseits das Denken und Han-
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dein von Individuen zur Voraussetzung haben. Er spricht zwar, wie sich gezeigt hat, vom Zusammenwirken der Teile, bzw. von einer Wechselwirkung zwischen Teilen und Ganzem, trotzdem ist für ihn das Individuum wesentlich abkünftig. Es erscheint ihm als „ein Kreuzungspunkt von Zusammenhängen, welche durch die Individuen hindurchgehen, in denselben bestehen, aber über ihr Leben hinausreichen und die durch den Gehalt, den Wert, den Zweck, der sich in ihnen realisiert, ein selbständiges Dasein und eine eigene Entwicklung besitzen" 89 ). Darin kommt deutlich zum Ausdruck, daß Dilthey die immanente Veränderung der überindividuellen Einheiten nicht auf die Individuen rückbezieht. Das heißt, der Fortgang der Geschichte erfolgt für ihn lediglich „durch die Individuen hindurch" und ist nicht in deren Denken und Handeln konstituiert. Das bedeutet aber, daß die Individuen nur mehr als passive Medien aufgefaßt und damit ihres spezifischen Charakters beraubt werden. Es zeigt sich so, daß die Subjektivierung der überindividuellen Einheiten eine Entsubjektivierung der einzelnen zur Voraussetzung hat. Damit wiederholt sich im übrigen bei Dilthey eine Entwicklung, die sich schon bei Hegel verfolgen läßt. Auch in dessen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" wird die Spannung zwischen subjektivem Geist und List der Vernunft schließlich so zurückgenommen, daß die Individuen als „Mittel" der „Taten des Geistes der Völker" unterbestimmt werden 90 ). Diese Entsubjektivierung ist bei Dilthey bereits in den grundlegenden Kategorien seiner Philosophie angelegt. Hier ist daran zu erinnern, daß sich schon an der Bestimmung des Wesens des Menschen durch das Erlebnis (im Sinne des ersten Erlebnisbegriffs) ein deutlicher rezeptiver Akzent erkennen ließ und daß sich in der Folge auch die Orientierung des Einzelnen in der Welt der Menschen als wesentlich rezeptiv charakterisiert erwies. Wenn sich nun herausstellt, daß für Dilthey nicht die Individuen, sondern die überindividuellen Einheiten die eigentlich denkende und handelnde Instanz sind, so erscheint dies als die notwendige komplementäre Ergänzung
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dieser Rezeptivität. Das bedeutet, daß die Problematik der Subjektivierung der überindividuellen Einheiten bereits in der Konzeption des Erlebnisses angelegt ist und nicht erst im Rahmen des Geschichtsbegriffs („an dieser Stelle", wie Baumgartner meint) auftritt. Baumgartner kann auch dies nicht wahrnehmen, weil er, wie sich gezeigt hat, den ambivalenten Charakter des Erlebnisses bei Dilthey nicht zur Kenntnis nimmt. So beruft er sich auf die oben zitierte Passage, ohne zu berücksichtigen, daß sie nur ein Moment des Diltheyschen Ansatzes repräsentiert, noch dazu das gegenüber der lebensphilosophischen Komponente nachrangige Moment, wie Gadamer zutreffend betont.
5 . DIE
GEISTESWISSENSCHAFTEN
ALS
WISSENSCHAFTEN
VOM OBJEKTIVEN GEIST
Geht man nun Diltheys Bestimmung der Geschichte weiter nach, so stößt man auf ein zweites zentrales Moment. Daß die Geschichte selbst erlebnishaft ist, impliziert nämlich, daß sie Lebensäußerungen produziert. Als seelischer Zusammenhang ist sie ein Inneres, das sich in einem Äußeren ausdrückt. Dilthey bezeichnet diese Äußerungen als „Objektivationen des Lebens" 9 1 ) und führt aus: „Durch die Idee der Objektivation des Lebens erst gewinnen wir einen Einblick in das Wesen des Geschichtlichen . . . Von der Verteilung der Bäume in einem Park, der Anordnung der Häuser in einer Straße, dem zweckmäßigen Werkzeug des Handwerkers bis zu dem Strafurteil im Gerichtsgebäude ist um uns stündlich geschichtlich Gewordenes. Was der Geist heute hineinverlegt von seinem Charakter in seine Lebensäußerung, ist morgen, wenn es dasteht, Geschichte. Wie die Zeit voranschreitet, sind wir von Römerruinen, Kathedralen, Lustschlössern der Selbstherrschaft umgeben." 92 ) Diese Manifestationen des Gemeingeistes sind aber nicht abtrennbar von denen der einzelnen. Es zeigt sich vielmehr
Wissenschaften vom objektiven Geist
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im Gegenteil: Da die Individuen als „Kreuzungspunkte von Zusammenhängen" bestimmt werden, sind alle ihre Lebensäußerungen immer schon Ausdruck solcher überindividueller Zusammenhänge. „Jede einzelne Lebensäußerung repräsentiert im Reich dieses objektiven Geistes ein Gemeinsames. Jedes Wort, jeder Satz, jede Gebärde oder Höflichkeitsformel, jedes Kunstwerk und jede historische Tat . . .; der einzelne erlebt, denkt und handelt stets in einer Sphäre der Gemeinsamkeit." 93 ) Ist aber jede einzelne Lebensäußerung Ausdruck eines gemeinsamen Geistes, so bedeutet dies umgekehrt, daß alles irgendwie vom Menschen Hervorgebrachte unter den Begriff „Objektivation des Lebens" fällt. Damit wird deutlich, wie umfassend dieser Begriff von Dilthey gemeint ist. Wenn nun, wie dies häufig geschieht, die Wendung „Objektivation des Geistes" als Synonym, d. h. in der gleichen umfassenden Bedeutung anzutreffen ist, so heißt das, daß Dilthey die Hegeische Abgrenzung des Begriffs des objektiven Geistes nicht beibehält. Er markiert denn auch diesen Unterschied ausdrücklich: „Wir können den objektiven Geist nicht in eine ideale Konstruktion einordnen, vielmehr müssen wir seine Wirklichkeit in der Geschichte zugrunde legen . . . Indem so der objektive Geist losgelöst wird von der einseitigen Begründung in der allgemeinen, das Wesen des Weltgeistes aussprechenden Vernunft, losgelöst auch von der ideellen Konstruktion, wird ein neuer Begriff desselben möglich: in ihm sind Sprache, Sitte, jede Art von Lebensform, von Stil des Lebens ebensogut umfaßt wie Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht. Und nun fällt auch das, was Hegel als den absoluten Geist vom objektiven unterschied: Kunst und Religion und Philosophie unter diesen Begriff, ja gerade in ihnen zeigt sich das schaffende Individuum zugleich als Repräsentation von Gemeinsamkeit, und eben in ihren mächtigen Formen objektiviert sich der Geist und wird in denselben erkannt." 9 4 ) Der objektive Geist wird so für Dilthey zum Geist schlechthin. Hat er, wie sich zeigte, bereits den subjektiven Geist absorbiert, so löst er nun auch den absoluten Geist in sich auf.
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Wilhelm Dilthey
Sowohl Kunst und Religion als auch die Philosophie werden als Ausdruck des Gemeingeistes der jeweils bestimmten überindividuellen Einheiten aufgefaßt. Das bedeutet zunächst, daß die bei Hegel zwischen den Gestalten des Absoluten bestehende Differenz nivelliert wird, aber die eigentliche Stoßrichtung dieser Entwicklung liegt woanders. Sobald Kunst, Religion und Philosophie unter den objektiven Geist subsumiert werden, ist das Konzept der zwar jeweils in der Geschichte formulierten, aber selbst nicht geschichtlichen Wahrheit verlassen. Es ist ersetzt durch die Überlegung, daß jede historische Gestalt ihren spezifischen, für die ihr zugehörigen Individuen verbindlichen Wahrheitsanspruch aufweist, der demnach limitiert und nicht auf absolute Geltung ausgerichtet ist. Diltheys Abkehr von Hegel ist motiviert von dem Gedanken „der Endlichkeit in allem, was Leben ist, auch wo die höchsten Gebilde des Gemeinschaftslebens aus ihm entstehen" 95 ). Im Sinne dieses Gedankens hat Dilthey selbst in mehreren Untersuchungen die Pluralität der Weltanschauungen auf die Mehrseitigkeit des Lebens zurückgeführt 96 ). Damit wird nun deutlich, daß sich hinter der neuen, erweiterten Bestimmung des objektiven Geistes das Programm des Historismus verbirgt. Die Wissenschaft hat die zahlreichen in der Geschichte aufgetretenen Wahrheitsansprüche als nebeneinanderstehende zu erfassen und nicht mit einer an übergeschichtlicher Geltung orientierten Wahrheitsfrage zu konfrontieren. Das bedeutet, daß in der Neubestimmung des objektiven Geistes eine weitere Wurzel für Diltheys rezeptive Charakterisierung der Geisteswissenschaften liegt. Daher wird auch die Kritik an diesem Wissenschaftsbegriff auf diesen Punkt zurückkommen müssen. Das kann gewiß nicht heißen, daß Hegels Begriff des absoluten Geistes einfach zu restituieren wäre. Er ist aber soweit wieder aufzugreifen, als er die Konzeption einer zwar in der Geschichte, aber mit universellem Anspruch geführten und daher nicht geschichtlich relativierbaren Auseinandersetzung um die Wahrheit als einzige exponiert. So wird zu fragen sein, ob nicht auch die Geisteswissen-
Wissenschaften vom objektiven Geist
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Schäften an dieser Auseinandersetzung partizipieren sollen bzw. dies immer schon tun. (Übrigens geht auch Gadamers Kritik an Dilthey von diesem Punkt aus, wenngleich sie eine ganz andere Richtung nimmt. Gadamer argumentiert, daß Dilthey entgegen seiner Intention am absoluten Geist festhält, daß er ihn lediglich aus Kunst, Religion und Philosophie in das historische Bewußtsein verlagert. „So werden wir uns fragen müssen, ob es nicht auch für Dilthey eine Gestalt des Geistes gibt, die wahrhaft ,absoluter Geist', das heißt völlige Selbstdurchsichtigkeit, völlige Tilgung aller Fremdheit und alles Andersseins wäre. Für Dilthey ist es keine Frage, daß es das gibt und daß es das geschichtliche Bewußtsein ist, das diesem Ideal entspricht, und nicht die spekulative Philosophie . . . Das historische Bewußtsein breitet sich ins Universelle aus, sofern es alle Gegebenheiten der Geschichte als Äußerung des Lebens versteht, dem sie entstammen; ,Leben erfaßt hier Leben'. Insofern wird die gesamte Überlieferung für das historische Bewußtsein zur Selbstbegegnung des menschlichen Geistes. Es zieht damit an sich, was den besonderen Schöpfungen von Kunst, Religion und Philosophie vorbehalten schien. Nicht im spekulativen Wissen des Begriffs, sondern im historischen Bewußtsein vollendet sich das Wissen des Geistes von sich selbst." 97 ) Es ist allerdings die Frage, ob Dilthey das historische Bewußtsein nicht als ein nur dem Ideal nach vollendetes, realiter aber stets endliches Bewußtsein gesehen hat. Diese Frage kann jedoch in diesem Zusammenhang nicht weiterverfolgt werden.) Stellt man nun in Rechnung, daß der objektive Geist bei Dilthey zum Geist schlechthin erweitert ist, d. h. alle wie immer gearteten Tätigkeiten des Lebens umfaßt, so überrascht es nicht, daß der Begriff „Objektivationen des Geistes" zum Definiens der Geisteswissenschaften wird, das ihr empirisches Material von demjenigen der Naturwissenschaften abzugrenzen gestattet und darüber hinaus ihren Namen legitimiert. „Und hier vollendet sich nun der Begriff der Geisteswissenschaften. Ihr Umfang reicht so weit wie das Verstehen, und das Verste-
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hen hat nun seinen einheitlichen Gegenstand in der Objektivation des Lebens. So ist der Begriff der Geisteswissenschaft nach dem Umfang der Erscheinungen, der unter sie fällt, bestimmt durch Objektivation des Lebens in der äußeren Welt. Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er. Die Natur, der Gegenstand der Naturwissenschaft, umfaßt die unabhängig vom Wirken des Geistes hervorgebrachte Wirklichkeit. Alles, dem der Mensch wirkend sein Gepräge aufgedrückt hat, bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften. Und auch der Ausdruck ,Geisteswissenschaft' erhält an dieser Stelle seine Rechtfertigung. Es war früher die Rede vom Geist der Gesetze, des Rechts, der Verfassung. Jetzt können wir sagen, das alles, worin der Geist sich objektiviert hat, in den Umkreis der Geisteswissenschaften fällt." 98 ) (Hier ist allerdings zu beachten, daß Dilthey die Bezeichnung „Gegenstand" nicht in dem Sinn gebraucht, in dem in der vorliegenden Untersuchung vom Gegenstand der Wissenschaft gesprochen wird, sondern sie auf die „Erscheinungen in der äußeren Welt", also auf das Material, das der Forschung zur Verfügung steht, bezieht.) Insbesondere an der letzten Wendung dieses Zitats wird deutlich, daß die Geisteswissenschaften für Dilthey auf zwei Momenten beruhen, die nicht voneinander zu trennen sind, nämlich auf dem Wesen der Menschheit ebensowohl wie auf dem spezifischen Verhalten zu demselben. Dies ist deshalb hervorzuheben, weil man nicht selten auf die Auffassung stößt, Dilthey habe die Geisteswissenschaften ausschließlich von der Verhaltensweise her bestimmt. In diesem Sinn schreibt etwa Habermas über Dilthey: „Verschiedene Regionen von Tatsachen sind nicht ontologisch, sondern allein erkenntnistheoretisch zu begreifen: es ,gibt' sie nicht, sie werden vielmehr konstituiert. Der Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften muß deshalb auf die Verhaltensweise' des erkennenden Subjekts, auf dessen Stellung zu den Objekten zurückgeführt werden." 99 ) Dagegen betont Dilthey ausdrücklich: „es handelt sich nicht nur zwischen Geistes- und Naturwissenschaften um einen Unterschied in der Stellung des Sub-
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jekts zum Objekt, um eine Verhaltungsweise, eine Methode, sondern das Verfahren des Verstehens ist sachlich darin begründet, daß das Äußere, das ihren Gegenstand ausmacht, sich von dem Gegenstand der Naturwissenschaften durchaus unterscheidet" 100 ). Mit der bisherigen Untersuchung sind nun die Voraussetzungen angegeben, auf denen Diltheys Konzeption des geisteswissenschaftlichen Verstehens beruht. So ist die Möglichkeit geschaffen, diese selbst näher zu betrachten. Dabei ist vor allem der Frage nachzugehen, wie Dilthey das Kriterium der Wissenschaftlichkeit, die Objektivität, bestimmt und wie er es im Verstehen für realisiert bzw. für realisierbar hält. 6 . D I E AMBIVALENZEN IN DER BESTIMMUNG DER GEISTESWISSENSCHAFTEN
Die Geisteswissenschaften haben für Dilthey den Charakter des Verstehens, weil sie die empirisch gegebenen Lebensäußerungen rückübersetzen in das ihnen zugrunde liegende Erlebnis, d. h. in den erlebnishaft gedachten objektiven Geist. Insofern sind sie ihrer wesentlichen Bestimmung nach der vorwissenschaftlichen Orientierung in der Welt der Menschen inklusive der eigenen Lebenseinheit analog. So tragen sie auch im einzelnen dieselben Züge, weshalb sich schließlich auch die beobachtete Ambivalenz neuerlich ergibt. Wie das Denken auf allen verfolgten Stufen seines Hervorgehens wird auch die Geisteswissenschaft zunächst als rezeptiv gekennzeichnet. Wie sich gezeigt hat, ist nicht nur im Individuum, sondern auch in den übergreifenden Einheiten der Zusammenhang durch die Erinnerung als eine dem Leben immanente Potenz bereits hergestellt, so daß er im Verstehen lediglich „zum Bewußtsein gebracht wird". Was Bedeutung hat, ist bereits durch die Erinnerung fixiert. Das Verstehen hat so den Charakter eines Abbildens des bereits gegebenen Zusammenhanges. Dilthey kann diese Rezeptivität allerdings nur behaupten, indem er dem Wesen der Erinnerung nicht weiter nachgeht.
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Bedenkt man nämlich das Phänomen, daß verschiedene Personen identische Situationen verschieden erinnern und daß es signifikant ist, welche Personen sich woran erinnern, so ergibt sich, daß die Erinnerung keineswegs nur ein unmittelbarer Vollzug, sondern zumindest auch eine Leistung des Subjekts ist. Freilich ist hinzuzufügen, daß sie ebenso die Seite der Unwillkürlichkeit an sich hat. Doch gerade auf dieser kann Wissenschaft nicht begründet werden, weil sie sonst der Zufälligkeit anheimgegeben würde. Es ist erst die letzte Überlegung, die Dilthey dazu nötigt, den Gedanken der Rezeptivität zu durchbrechen. So schreibt er: „Die erste Bedingung für den Aufbau der geschichtlichen Welt ist daher die Reinigung der verworrenen und vielfach verderbten Erinnerungen des Menschengeschlechts an sich selbst durch die Kritik." 101 ) Hier erscheint die Geisteswissenschaft nun nicht mehr als eine bloße Reproduktion der Erinnerung, sondern als eine von einem eigenen Standort gewissermaßen außerhalb des unmittelbar gegebenen Zusammenhangs ausgehende Tätigkeit. „Der Zusammenhang der geistigen Welt geht im Subjekt auf, und es ist die Bewegung des Geistes bis zur Bestimmung des Bedeutungszusammenhanges dieser Welt, welche die einzelnen logischen Vorgänge miteinander verbindet." 102 ) Das heißt, der Gegenstand der Geisteswissenschaft ist nicht mehr als fertiger vorgegeben, so daß er nur mehr der Abbildung bedürfte, sondern wird nun selbst durch das forschende Subjekt konstituiert103). Damit wiederholt sich mit Bezug auf die Geisteswissenschaften die bereits bekannte Ambivalenz. Sie läßt sich, wie Riedel feststellt, bis in die Titelformulierung verfolgen. So diagnostiziert er im „Titel des ,Aufbaus der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften' jene Zweideutigkeit einer subjektiven und objektiven Bedeutung, die kaum mehr kritisch einlösbar ist" 104 ). Die Feststellung Riedels bedarf allerdings in einer Hinsicht der Ergänzung. Den beiden Seiten dieser Ambivalenz kommt keineswegs das gleiche Gewicht zu. Verfolgt man die weitere Entfaltung der Konzeption des geisteswissenschaftlichen Ver-
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stehens, so zeigt sich, daß die konstitutive Bedeutung des Subjekts rasch in den Hintergrund tritt. Hier ist darauf hinzuweisen, daß die Erörterung des dritten Verstehensbegriffs nicht nur die Analogien des geisteswissenschaftlichen Verstehens zum vorwissenschaftlichen (im Sinn des zweiten Verstehensbegriffs) aufweist. Sie umfaßt auch die Fragestellung, wie sich das geisteswissenschaftliche Verstehen als wissenschaftlich legitimieren kann, d. i. die Fragestellung, wie in den Geisteswissenschaften objektives Wissen zu erlangen ist. Wie sich gleich zeigen wird, ist mit Bezug auf diese Fragestellung der Gedanke der Rezeptivität dominant. Dilthey exponiert diese Frage folgendermaßen: „So ist einerseits diese geistige Welt die Schöpfung des auffassenden Subjektes, andererseits aber ist die Bewegung des Geistes darauf gerichtet, ein objektives Wissen in ihr zu erreichen. So treten wir nun dem Problem gegenüber, wie der Aufbau der geistigen Welt im Subjekt ein Wissen der geistigen Wirklichkeit möglich mache." 105 ) An diesem Expose ist zu beachten, daß schon mit der Formulierung der Fragestellung eine wesentliche Vorentscheidung getroffen ist. Die „geistige Wirklichkeit" wird als ein vorgegebener Zusammenhang angenommen, den es wirklichkeitsgetreu nachzubilden gilt. So kann die Tätigkeit des Subjekts von Anfang an nur unter dem Aspekt einer möglichen Gefährdung der wissenschaftlichen Objektivität erscheinen. Ausgehend von dieser Entgegensetzung von urteilender Subjektivität und wissenschaftlicher Objektivität gelangt Dilthey zu zwei verschiedenen Lösungsversuchen. Der eine davon besteht darin, diese Entgegensetzung als eine Scheinalternative auszuweisen. Dilthey greift dabei zurück auf sein Konzept des objektiven Geistes und argumentiert, daß dieser auch den geisteswissenschaftlich Verstehenden umfaßt: „der einzelne erlebt, denkt und handelt stets in einer Sphäre von Gemeinsamkeit, und nur in einer solchen versteht er. Alles Verstandene trägt gleichsam die Marke des Bekanntseins aus solcher Gemeinsamkeit an sich. Wir leben in dieser Atmosphäre, sie umgibt
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uns beständig." 106 ) Das eigene Erlebnis des Forschers, von dem er in der Interpretation der vergangenen Lebensäußerungen notwendig seinen Ausgang nimmt, ist also für Dilthey immer schon im objektiven Geist mit den Erlebnissen der Vergangenheit identisch. Demnach kann die auffassende Subjektivität gar nicht in Widerspruch zur historischen Wirklichkeit geraten. In diesem Sinne fährt Dilthey nach dem eben zitierten Problemexpose fort: „Das Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich im Du; der Geist findet sich auf immer höheren Stufen von Zusammenhängen wieder; diese Selbigkeit des Geistes im Ich, im Du, in jedem Subjekt einer Gemeinschaft, in jedem System der Kultur, schließlich in der Totalität des Geistes und der Universalgeschichte macht das Zusammenwirken der verschiedenen Leistungen in den Geisteswissenschaften möglich. Das Subjekt des Wissens ist hier eins mit seinem Gegenstand, und dieser ist auf allen Stufen seiner Objektivation derselbe."107) Daraus ergibt sich für Dilthey „die Objektivität der im Subjekt geschaffenen geistigen Welt" 108 ). Diese Argumentation ist im Grunde nichts als die konsequente Fortführung der Konzeption des objektiven Geistes, und so ist sie auch durch die Problematik dieser Konzeption gekennzeichnet. Erfolgt, wie sich gezeigt hat, im objektiven Geist bei Dilthey eine Auflösung des subjektiven Geistes, so ist hier festzustellen, daß auch der geisteswissenschaftlich Verstehende entsubjektiviert wird. Manche Wendungen Diltheys lassen darüber keinen Zweifel. Wenn er etwa schreibt, daß das „Schaffen" des Lebens „in den Geisteswissenschaften zur Besinnung über sich selbst" gelangt109), dann ist der Verstehende ebenso zum Medium herunterbestimmt wie der in der Geschichte Wertende und Zwecke Realisierende. Über die generelle Problematik einer solchen Entsubjektivierung, von der bereits die Rede war, hinaus ist an dieser Stelle zu beachten, daß eine auf Entsubjektivierung beruhende Bestimmung von Objektivität nicht geeignet ist, der sich von der Realität der Geisteswissenschaften her ergebenden Fragestellung gerecht zu werden. Die Objektivität hat
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hier den Charakter einer Leistung wissenschaftlicher Anstrengung verloren und ist zu etwas ohnehin Unausweichlichem geworden. Dem widerspricht aber die Erfahrung, daß sich für die geisteswissenschaftlich Tätigen das Problem der Objektivität stets von neuem stellt, auch wenn es über vage Formulierungen nicht hinausgelangt. Dilthey widerspricht mit seiner eben referierten Bestimmung geisteswissenschaftlicher Objektivität aber ebenso eigenen Überlegungen, die er in anderen Zusammenhängen formuliert hat. Wie sich gezeigt hat, bezieht er den Begriff des objektiven Geistes nicht nur auf die Menschheit als ganze, sondern auch und vor allem auf kleinere, begrenzte und voneinander deutlich unterschiedene Einheiten — man denke ζ. B. an den „Geist des römischen Rechts". Das bedeutet aber, daß das forschende Individuum zumindest nicht als mit allen von ihm erforschten Zusammenhängen gleichermaßen identisch aufgefaßt werden kann. Hinzu kommt noch, daß Dilthey äußert, daß die eigentliche Aufgabe der Forschung erst dort beginnt, wo eine gewisse Fremdheit eingetreten ist. So schreibt er: „Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre. Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen liegt sie also. Sie wird überall erfordert, wo etwas fremd ist, das die Kunst des Verstehens zu eigen machen soll." 1 1 0 ) Es überrascht nun nicht, daß Dilthey trotz des gezeigten Lösungsversuchs immer wieder zu seiner Ausgangsfrage zurückkehrt. In einer anderen Passage formuliert er sie folgendermaßen: „Wie Historiker, Nationalökonomen, Staatsrechtler, Religionsforscher im Leben stehen, wollen sie es beeinflussen. Sie unterwerfen geschichtliche Personen, Massenbewegungen, Richtungen ihrem Urteil, und dieses ist von ihrer Individualität, der Nation, der sie angehören, der Zeit, in der sie leben, bedingt. Selbst wo sie voraussetzungslos zu verfahren glauben, sind sie von diesem ihrem Gesichtskreis bestimmt; zeigt doch jede Analyse, die an den Begriffen einer vergangenen Generation vorgenommen wird, in diesen Begriffen Bestand-
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teile, die aus den Voraussetzungen der Zeit entstanden sind. Zugleich aber ist doch in jeder Wissenschaft als solcher die Forderung der Allgemeingültigkeit enthalten. Soll es Geisteswissenschaften in dem strengen Verstände von Wissenschaft geben, so müssen sie immer bewußter und kritischer dies Ziel sich setzen."111) Die Formulierung der Ausgangsfrage weist hier einen Akzent auf, in dem sich bereits ankündigt, daß Dilthey einem anderen Lösungsversuch entgegengeht. Das forschende Individuum kann nun nicht mehr als von vornherein identisch mit seinem Gegenstand dargestellt werden, denn es ist als Ort möglicher Korruption von Objektivität nicht mehr bloß vermutet, sondern bereits auf dem Wege der Analyse identifiziert. So gelangt Dilthey zu folgender Argumentation: „Ich finde das Prinzip für die Auflösung des Widerstreites in diesen Wissenschaften in dem Verständnis der geschichtlichen Welt als eines Wirkungszusammenhanges, der in sich selbst zentriert ist, indem jeder einzelne in ihm enthaltene Wirkungszusammenhang durch die Setzung von Werten und die Realisierung von Zwecken seinen Mittelpunkt in sich selber hat, alle aber strukturell zu einem Ganzen verbunden sind, in welchem aus der Bedeutsamkeit der einzelnen Teile der Sinn des Zusammenhanges der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt entspringt: so daß ausschließlich in diesem strukturellen Zusammenhang jedes Werturteil und jede Zwecksetzung, die in die Zukunft reicht, gegründet sein muß." 112 ) Objektivität ist in diesem Fall ein Ziel, um das die Forschung sich allererst zu bemühen hat. Der Weg zu diesem Ziel ist durch die Forderung markiert, sich jeglichen Praxisbezugs zu enthalten. Umgekehrt gesagt: Objektivität wird immer dann verfehlt, wenn der Forscher seine Arbeit auf die praktische Situation bezieht, in der er selbst steht, bzw. auf die Prinzipien, nach denen er sie beurteilt und sich handelnd mit ihr auseinandersetzt. Man erinnert sich hier an die bereits zitierte Stelle, an der Ranke mit der Begründung als objektiv apostrophiert wird, daß er es vermocht habe, im Rahmen
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seiner Wissenschaft von der Gegenwart „abzusehen" 113 ). Wenn Dilthey im Zuge dieser Argumentation Objektivität mit Allgemeingültigkeit übersetzt, so entspricht das der Überlegung, daß die wissenschaftliche Leistung durch dieses „Absehen" des Forschers von seiner Gegenwart auch für alle künftigen Gegenwarten ihre Bedeutung behält. In diesem Sinne spricht Dilthey, u. a. wieder mit Bezug auf Ranke, von „zeitlosen historischen Werken" 114 ). Er steht übrigens auch in diesem Punkt in der Tradition der Hermeneutik, ist doch in deren klassischer Forderung an den Interpreten, sich mit dem interpretierten Autor gleichzeitig zu machen, seine Argumentation bereits angelegt. Um es noch einmal deutlich zu machen: Dilthey stellt keineswegs die praktische Bedeutung der Geisteswissenschaften in Abrede, aber er verweist sie in den Bereich des außerwissenschaftlichen Umgangs mit denselben. Die Wissenschaft selbst hat hingegen um ihrer Objektivität willen auf praktische Bezüge zu verzichten. Dementsprechend heißt es an anderer Stelle: „So wird der unmittelbare Bezug des Lebens, seiner Werte und Zwecke zu dem geschichtlichen Gegenstand allmählich in der Wissenschaft nach ihrer Richtung auf Allgemeingültigkeit ersetzt durch die Erfahrung der immanenten Beziehungen, die im Wirkungszusammenhang der geschichtlichen Welt zwischen wirkender Kraft, Werten, Zwecken, Bedeutung und Sinn bestehen."115) Wie auch aus der oben zitierten Passage und aus zahlreichen anderen Äußerungen hervorgeht, wäre also Objektivität dann erreicht, wenn die Zusammenhänge der Vergangenheit in ihrer immanenten Struktur rein zur Darstellung gelangen. Daß heißt, Objektivität ist hier gleichbedeutend mit der generellen Absenz von Urteilen. Dabei ist zu beachten, daß es Urteile in zweifacher Hinsicht sind, die als der Wissenschaft abträglich erscheinen. Sowohl Urteile mit Bezug auf die Bedeutung als auch solche mit Bezug auf die politischmoralische Wertigkeit fallen unter Diltheys Verdikt. Dies bestätigt sich indirekt darin, daß Dilthey den Ausdruck Urteil für die Wissenschaften nur in der Bedeutung von Feststellung gelten läßt: „. . . wenn nun der Historiker urteilt, so stellt er 5
Nagl-Docekal
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fest, was der Einzelne in diesem Zusammenhang geleistet hat." 1 1 6 ) Aus alledem geht hervor, daß sich in der Bestimmung der Objektivität bei Dilthey neuerlich eine Ambivalenz einstellt. Objektivität ist einmal die ursprüngliche Identität des Forschers mit seinem Gegenstand im objektiven Geist und einmal die über die absichtsvolle Vermeidung von Urteilen zu erreichende allgemeingültige Wiedergabe der historischen Wirklichkeit. Es ist allerdings hinzuzufügen, daß diese Ambivalenz nur die Stellung des Subjekts betrifft. Die Objektivität als solche ist in beiden Fällen gleich bestimmt: als die reine Präsentation geistiger Zusammenhänge respektive ihrer einzelnen Teile, d. h. als „das Verständnis dieses Ganzen aus ihm selbst" 117 ). So ist es signifikant, daß den Geisteswissenschaften bei Dilthey der lineare Fortschritt zunehmender Aufklärung der Wirkungszusammenhänge der Vergangenheit zukommt: „in dem Ganzen der Geisteswissenschaft regiert doch ein Fortschritt: die Einsicht in die Zusammenhänge, die in der Geschichte zusammenwirken, wird allmählich für das historische Bewußtsein erobert" 118 ). In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, daß Dilthey die geisteswissenschaftliche Forschung, zumindest was einzelne Zusammenhänge betrifft, für grundsätzlich abschließbar hält: „dieses Versuchen geht so lange fort, bis der ganze Sinn ausgeschöpft ist, der in den Lebensäußerungen enthalten ist" 1 1 9 ). An dieser letzten Überlegung bestätigt sich mit besonderer Deutlichkeit, daß das zunächst bei Dilthey vorhandene zweite Konzept des geisteswissenschaftlichen Verstehens, nämlich das von der Konstitutionsleistung des forschenden Individuums ausgehende, im Zuge der Erörterung des Objektivitätsproblems keine Rolle mehr spielt. Das Subjekt, auch wo es nicht nur als besonderes, sondern als Repräsentant der Probleme und Prinzipien seiner Zeit sichtbar wird, hat nur mehr den Charakter eines Störfaktors geisteswissenschaftlicher Objektivität. Angesichts einer solchen Bestimmung fragt es sich aber sowohl, ob Objektivität in diesem Sinn erreichbar sein kann,
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Der „heimliche Positivismus"
als auch, ob sie überhaupt eine Wünschbarkeit ist. — Es ist diese Frage, in deren Zeichen die meisten und meistzitierten kritischen Stellungnahmen gegenüber Dilthey erfolgt sind.
7.
D I E T H E S E VOM „HEIMLICHEN POSITIVISMUS"
G A D A M E R UND H A B E R M A S ALS K R I T I K E R
—
DILTHEYS
Mit Bezug auf die eben erörterten Ausführungen Diltheys schreibt Gadamer: „Zwar verkannte Dilthey die Bedeutung nicht, die die individuelle und allgemeine Lebenserfahrung für die geisteswissenschaftliche Erkenntnis besitzen — aber beides wird bei ihm lediglich privativ bestimmt" 120 ), und formuliert von hier aus seinen zentralen Einwand gegen Dilthey, „die eigene wesenhafte Geschichtlichkeit der Geisteswissenschaften zu vernachlässigen" 121 ). Dabei betont Gadamer, daß der Gedanke dieser Geschichtlichkeit eigentlich genau auf der Linie von Diltheys lebensphilosophischem Ansatz gelegen wäre, und geht daher der Frage nach, wie es kam, daß Dilthey diese Konsequenz nicht selbst sah. Als wesentlich erscheint ihm dabei, daß Dilthey zur Problematik des Relativismus nicht eindeutig Position zu beziehen vermochte. Gadamer führt aus, daß der Vorwurf des Relativismus Dilthey eigentlich nicht betreffen hätte brauchen. „Eine wirkliche Antwort auf dieses Problem des Relativismus wird man bei Dilthey vergeblich suchen, und das nicht, weil er die rechte Antwort nie gefunden hat, sondern weil es gar nicht seine eigene wirkliche Frage gewesen ist. Er wußte sich vielmehr in der Entfaltung der historischen Selbstbesinnung, die ihn von Relativität zu Relativität führte, immer schon unterwegs zum Absoluten. Insofern hat Ernst Troeltsch Diltheys Lebensarbeit ganz richtig in die Losung zusammengezogen: Von der Relativität zur Totalität. Diltheys eigene Formel dafür lautete: ,mit Bewußtsein ein Bedingtes zu sein'." 122 ) Gadamer gelangt so zur Überzeugung: „Der Zusammenhang von Leben und Wissen ist also nach Dilthey eine ursprüngliche Gegebenheit. Das macht Diltheys 5*
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Position gegen alle Einwände unangreifbar, die von der Philosophie aus und insbesondere mit Argumenten der idealistischen Reflexionsphilosophie gegen den historischen ,Relativismus' gerichtet werden können." 123 ) Wenn nun aber festzustellen ist, daß Dilthey immer wieder zur Frage des Relativismus zurückkehrte, so kann dies nach Gadamer nur bedeuten, „daß er die Konsequenz seines lebensphilosophischen Ansatzes gegen die Reflexionsphilosophie des Idealismus nicht wirklich festzuhalten vermochte. Sonst hätte er in dem Einwand des Relativismus den Intellektualismus' erkennen müssen, dem sein eigener Ausgangspunkt von der Immanenz des Wissens im Leben gerade den Boden entziehen wollte." 124 ) So erklärt es sich für Gadamer, daß Dilthey schließlich die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften nur durch den Gedanken der Zeitlosigkeit begründen zu können meinte. Das bedeutet für ihn, daß Dilthey das Konzept des endlich-geschichtlichen Bewußtseins verließ und zum Gedanken des unendlichen Intellekts, für den alles gleich-zeitig und gleich gegenwärtig ist, zurückkehrte. Es ist dieser Zusammenhang, in dem Gadamer seine bereits erwähnte These von der grundlegenden Uneinheitlichkeit des Denkens Diltheys vorbringt: „Diese Zweideutigkeit hat ihren letzten Grund in einer inneren Uneinheitlichkeit seines Denkens, dem unaufgelösten Cartesianismus, von dem er ausgeht. Seine erkenntnistheoretischen Besinnungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften schließen sich nicht wirklich mit seinem lebensphilosophischen Ausgangspunkt zusammen." 125 ) Gadamers eigener Anspruch liegt demgegenüber darin, den lebensphilosophischen Ansatz konsequent, d. h. ohne Zugeständnisse an den Cartesianismus, durchzuführen. Dies umfaßt auch die Intention, nachzuweisen, „daß die geisteswissenschaftliche Erkenntnis . . . eine ganz andersartige Objektivität hat" 126 ). Es wird daher im Zuge der vorliegenden Untersuchung notwendig sein, Gadamers Ausführungen im Hinblick auf diese angekündigte Neubestimmung des wissenschaftlichen Status der Geisteswissenschaften eingehender zu betrachten.
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Ebenso maßgeblich für die gegenwärtige Auseinandersetzung mit Dilthey wie die Kritik Gadamers wurden auch die Ausführungen von Habermas. Dieser knüpft seinerseits an Gadamer an, w o er Dilthey einen „Rückfall in den Objektivismus" 1 2 7 ) bescheinigt. Auch manche seiner Gegenthesen gegen Dilthey könnten ebensogut „Wahrheit und Methode" entnommen sein, etwa wenn er schreibt: „Der Interpret kann sich, gleichviel ob er es mit zeitgenössischen Objektivationen oder mit geschichtlichen Überlieferungen zu tun hat, von seiner hermeneutischen Ausgangslage nicht abstrakt lösen. Er kann den offenen Horizont der eigenen Lebenspraxis nicht einfach überspringen und den Traditionszusammenhang, durch den seine Subjektivität gebildet ist, nicht schlicht suspendieren." 128 ) Wie Gadamer sieht auch Habermas in den objektivistischen Äußerungen „eine folgenreiche Inkonsequenz in Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften" 129 ). Er wendet sich aber in der Frage nach den Gründen dieser Inkonsequenz von Gadamer ab und betont, daß er diese nicht in „einem Zwiespalt von Wissenschaft und Lebensphilosophie" 130 ) sehen kann. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, daß Habermas in dieser Frage zum genauen Gegenpol Gadamers wird. Habermas weicht bereits in der weiteren Charakterisierung des Diltheyschen Zwiespalts von Gadamer ab. Für ihn ist es nicht der lebensphilosophische Ansatz, dessen Konsequenz abgeschnitten wird, sondern der Gedanke, daß die Geisteswissenschaften an einen praktischen Kontext gebunden sind. So ist es für Habermas ζ. B. folgende Stelle, an der Diltheys Inkonsequenz deutlich wird: „Leben und Lebenserfahrung sind die immer frisch fließenden Quellen des Verständnisses der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt; das Verständnis dringt vom Leben aus in immer neue Tiefen; nur in der Rückwirkung auf Leben und Gesellschaft erlangen die Geisteswissenschaften ihre höchste Bedeutung, und diese Bedeutung ist in beständiger Zunahme begriffen. Aber der Weg zu dieser Wirkung muß durch die Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnis gehen." 1 3 1 )
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Damit erhält nun die Kritik an Diltheys Objektivismus eine neue Akzentuierung: „In dieser Gegenüberstellung von praktischem Lebensbezug und wissenschaftlicher Objektivität setzt sich bei Dilthey ein heimlicher Positivismus durch. Dilthey möchte das hermeneutische Verstehen dem Interessenzusammenhang, dem es doch auf transzendentaler Ebene eingebettet ist, entheben und nach dem Ideal reiner Beschreibung ins Kontemplative entrücken. Wie Peirce bleibt auch Dilthey der Gewalt des Positivismus am Ende soweit verhaftet, daß er die Selbstreflexion der Geisteswissenschaften gerade an dem Punkt, an dem das praktische Erkenntnisinteresse als die Grundlage möglicher hermeneutischer Erkenntnis, und nicht als deren Korruption, durchschaut ist, abbricht und in Objektivismus zurückfällt." 132 ) Von dieser Analyse ausgehend, gelangt Habermas zur Überzeugung, daß Dilthey seinen objektivistischen Rückfall nur auf der Basis der lebensphilosophischen Motive seines Ansatzes vollziehen kann. „Die Gleichzeitigkeit erfüllt in den Geisteswissenschaften dieselbe Funktion wie in den Naturwissenschaften die Wiederholbarkeit des Experiments: die Austauschbarkeit des Erkenntnissubjektes wird garantiert. Freilich ist die methodologische Annahme der möglichen Gleichzeitigkeit von Interpret und Gegenstand so wenig selbstverständlich, daß es der Lebensphilosophie bedarf, um sie plausibel zu machen. Nur soweit die Objektivationen der geistigen Welt Protuberanzen eines in der Zeit sich erstreckenden omnipräsenten Lebensstroms darstellen, dessen Einheit durch die potentielle Gleichzeitigkeit und Ubiquität seiner Hervorbringungen gesichert ist, kann die historische Welt positivistisch begriffen, nämlich als Inbegriff aller möglichen Erlebnisse aufgefaßt werden." 133 ) Ohne dies explizit zu thematisieren, steht Habermas mit dieser Überlegung in schroffem Gegensatz zu Gadamer, für den doch Diltheys Positivismus gerade auf eine Abwendung von der Lebensphilosophie zurückzuführen ist. Dazu ist zunächst festzustellen, daß Habermas der Intention der Lebens-
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philosophic nicht genau genug nachgegangen ist. Wie sich oben gezeigt hat, sollte das Konzept des Lebens bzw. des als Leben interpretierten objektiven Geistes die die Individuen umfassenden Einheiten dartun und so eine Isolierung des Forschungssubjekts und die damit verbundene objektivierende Abtrennung der erforschten Zusammenhänge ausschließen. Daß Habermas diese Intention nicht hinlänglich ernstgenommen hat, wird auch an seiner Interpretation des Diltheyschen Verstehensbegriffs deutlich, auf die gleich noch einzugehen sein wird. Hier ist im übrigen zu bedenken, daß mit der Lebensphilosophie ein Gedanke zum Ausdruck kommt, der schwer von der Hand zu weisen ist: daß die Auseinandersetzung des Menschen mit anderen Menschen stets eine bestimmte Gemeinsamkeit der einzelnen voraussetzt. Verzichtet man auf diesen Gedanken, so bestimmt man die jeweils anderen als etwas völlig Fremdes, dem man in der Tat nur mehr auf dem Wege der äußeren Beobachtung von Objekten begegnen kann. Damit gerät man aber in Schwierigkeiten, der Realität sowohl der geisteswissenschaftlichen Arbeit als auch bereits der alltäglichen Orientierung in der Welt der Menschen gerecht zu werden. Das heißt, auch wenn sich die Lebensphilosophie als unhaltbar erweist, behält dieser ihr immanente Gedanke der Gemeinsamkeit seine Legitimität. Bei Habermas geht dieser Gedanke aber mit der Zurückweisung der Lebensphilosophie verloren, obwohl er andererseits der Konzeption des praktischen Erkenntnisinteresses, wenn auch unausgesprochen, zugrunde liegen muß, weil sonst nicht plausibel zu machen ist, worauf sich dieses Interesse richtet. Es ist hinzuzufügen, daß sich bei Dilthey selbst ein Ansatz zu einer von der Lebensphilosophie unabhängigen Bestimmung dieses Gedankens findet, wenn er die Gemeinsamkeit nur mehr als eine Übereinstimmung der Möglichkeiten bezeichnet. Er schreibt dann ζ. B.: „Alles Menschliche wird uns zum Dokument, das uns irgendeine der unendlichen Möglichkeiten unseres Daseins vergegenwärtigt." 134 ) Hier ist auch auf folgende
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Überlegung hinzuweisen: „Die Phantasie vermag die Betonung der in unserem eigenen Lebenszusammenhang enthaltenen Verhaltungsweisen, Kräfte, Gefühle, Strebungen, Ideenrichtungen zu verstärken oder zu vermindern und so jedes fremde Seelenleben nachzubilden." 135 ) Es ist dies wieder einer jener Punkte, die bei aller Problematik der Gesamtkonzeption der Theorie Diltheys ihre Bedeutung behalten, doch leider allzu oft im Zuge der kritischen Auseinandersetzung mit dieser Problematik aus dem Blickfeld geraten. Ein wesentlich entscheidenderer Anstoß als in seinen Äußerungen zur Lebensphilosophie liegt aber darin, daß Habermas Diltheys kurze und verstreute Überlegungen zum praktischen Ausgangspunkt und Ziel der Geisteswissenschaften unterstreicht. Im Rahmen einer Bestimmung des Status der Geisteswissenschaften darf in der Tat nicht übersehen werden, daß diese Wissenschaften in der Praxis ihr Fundament haben. Weil der Mensch in der Dimension der Praxis steht, die die Reflexion auf bzw. die Auseinandersetzung über Zwecke und Prinzipien des Handelns erforderlich macht, interessiert er sich für die Zwecke und Prinzipien der in der Vergangenheit Lebenden. Die Geisteswissenschaften bedeuten so die Erweiterung der gegenwärtig geführten, auf die Differenzierung der anstehenden Entscheidungen abzielenden Auseinandersetzung auf den Bereich der Vergangenheit. Daher ist Habermas zuzustimmen, wenn er hervorhebt, daß auch für Dilthey die Geisteswissenschaften „in der Rückwirkung auf Leben und Gesellschaft . . . ihre höchste Bedeutung" erlangen.136) Habermas hat aber ebenso recht, wenn er darauf aufmerksam macht, daß Dilthey andererseits mit seinem Objektivitätskonzept eine solche Rückwirkung gerade ausschließt. Ist die Wissenschaftlichkeit wesentlich in der Abstinenz von allen Urteilen begründet, wie soll dann aus den Geisteswissenschaften „jedes Werturteil und jede Zwecksetzung, die in die Zukunft reicht" abgeleitet werden können? Habermas betont gegenüber Dilthey zurecht, daß die Fundierung der Geisteswissenschaften in der Praxis impliziert, daß es in diesem Wis-
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senschaftstyp nicht darauf ankommt, „das Spezifische seiner eigenen Identität so . . . wie der Beobachter eines Experimentes" auszulöschen 137 ). Die Unhaltbarkeit der Position Diltheys in diesem Punkt läßt sich auch daran erkennen, daß er die Wirkung der Geisteswissenschaften schließlich auf eine Befreiung in der Imagination beschränkt: „So kann der von innen determinierte Mensch in der Imagination viele andere Existenzen erleben. Vor dem durch die Umstände Beschränkten tun sich fremde Schönheiten der Welt auf und Gegenden des Lebens, die er nie erreichen kann. Ganz allgemein ausgesprochen: der durch die Realität des Lebens gebundene und bestimmte Mensch wird nicht nur durch die Kunst — was öfter entwickelt ist —, sondern auch durch das Verstehen des Geschichtlichen in Freiheit versetzt." 138 ) Für Habermas ergibt sich in diesem Zusammenhang, daß die Objektivität der Geisteswissenschaften einer neuen, von Dilthey abweichenden, dem praktischen Fundament der Geisteswissenschaften Rechnung tragenden Bestimmung zugeführt werden muß, und darin liegt die eigentliche Bedeutung seiner Auseinandersetzung mit Dilthey. Er argumentiert: „Wenn der praktische Lebensbezug der Geisteswissenschaften, der sowohl ihre historische Entstehung als auch ihren faktischen Verwendungszusammenhang bestimmt, der hermeneutischen Verfahrensweise nicht nur äußerlich anhaftet, . . . dann kann daraus eine Beeinträchtigung der Objektivität der Wissenschaft nicht entstehen — denn das erkenntnisleitende Interesse legt die Bedingungen möglicher Objektivität der Erkenntnis erst fest." 139 ) Hier legt sich nahe, der Frage nachzugehen, wie Habermas nun die spezifische Objektivität der Geisteswissenschaften im einzelnen bestimmt. Dabei stößt man aber neuerlich auf Schwierigkeiten. Es stellt sich heraus, daß Habermas seinerseits den Bezug von Praxis und Geisteswissenschaften auf eine nicht legitime Weise limitiert. Wenn Habermas die praktische Fundierung der Geisteswissenschaften betont, so bedeutet das für ihn, daß dieselben „darauf angelegt" sind, „ein mögliches handlungsorientierendes
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Selbstverständnis von Individuen und Gruppen und ein reziprokes Fremdverständnis anderer Individuen und Gruppen zu garantieren" 140 ). Von hier aus ergibt sich als das Kriterium der Objektivität das Zustandekommen dieses Verständnisses. Demnach „ist Sachlichkeit des hermeneutischen Verstehens in dem Maße zu erreichen, als das verstehende Subjekt über die kommunikative Aneignung der fremden Objektivationen sich selbst in seinem eigenen Bildungsprozeß durchschauen lernt" 141 ). Hier zeigt sich nun, daß die Geisteswissenschaften letztlich auch bei Habermas den Charakter theoretischen Wissens haben. Zwar geht Habermas ab vom Konzept der bloßen, über die versuchte Selbstauslöschung des Subjekts angestrebten Erkenntnis des Vergangenen um seiner selbst willen und vertritt die Relation alles geisteswissenschaftlichen Wissens auf die Selbsterkenntnis, aber diese ist nun ihrerseits ein bloß theoretisches „Durchschauen". Nicht zufällig wählt Habermas Ausdrücke wie „Sachlichkeit" und „unwiderruflich vermittelte Erkenntnis" 142 ) als Synonyma für die Objektivität der Geisteswissenschaften. An dieser Stelle ist bereits Gesagtes nocheinmal genauer aufzunehmen. Das der Praxis immanente Bestreben, die anstehenden Entscheidungen zu differenzieren, umfaßt zwei Momente. Es geht nicht nur darum, die Kenntnis der Situation, ζ. B. durch Reflexion auf ihre Genese, zu präzisieren, sondern ebenso um eine Differenzierung der Handelnsmaximen. Das heißt, daß auch der auf die Vergangenheit ausgeweiteten Auseinandersetzung dementsprechend zwei Aufgaben zufallen. Sie hat sowohl Fragen zur Erweiterung der Sachkenntnis als auch Fragen des Sollens zu verfolgen. Wenn nun der Historismus wesentlich dadurch bestimmt ist, daß er den Verzicht auf die Wahrheitsfrage fordert, so heißt das nichts anderes, als daß dieser zweite Fragenkomplex systematisch ausgeklammert werden soll. In diesem Sinne sieht auch Dilthey die eigentliche Gefährdung seiner vom Historismus her bestimmten geisteswissenschaftlichen Objektivität im „Urteil", das die Vergangenheit auf die Zwecksetzungen der Gegenwart bezieht. Will man nun den
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Historismus, bzw. den ihm entspringenden Objektivitätsbegriff, unter Verweis auf den praktischen Ursprung der Geisteswissenschaften als Reduktionismus erweisen, so ist also dieses ausgeklammerte Moment praktischer Auseinandersetzung wieder zur Geltung zu bringen. Genau das leistet aber Habermas in seiner Kritik an Dilthey nicht. Indem er lediglich die Komponente der Information modifiziert, bleibt er selbst im Gefolge des Historismus. Zu ergänzen ist hier, daß die beiden genannten Komponenten der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ohnehin erst im nachhinein, in der Analyse zu trennen sind. Selbst wenn, wie im Historismus, die Selbstbeschränkung auf das reine Erkennen zum Programm gemacht wird, erfolgt unter dem Deckmantel dieser Objektivität immer auch Beurteilung. Jedes Handelnsprinzip, auf das der Handelnde in der Auseinandersetzung mit den Handlungen anderer stößt, ist nicht bloß ein verwirklichtes und damit beschreibbares, sondern ebenso ein neuerlich mögliches, das als soches Beurteilung provoziert. Dies bestätigt im Grunde auch Dilthey, wenn er über die Geisteswissenschaftler schreibt: „Selbst wo sie voraussetzungslos zu verfahren glauben, sind sie von diesem ihrem Gesichtskreis bestimmt." Daß Dilthey die Konsequenz aus dieser Einsicht nicht zu ziehen vermochte, hat seinen Grund in dem erwähnten Umstand, daß sein Ansatz keine Theorie des Handelns impliziert. In diesem Sinne sieht auch Riedel Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften „in der Nachfolge jener spezifisch deutschen Theorie der Geschichte ohne praktische Philosophie, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Kompensation der fehlenden bürgerlich-politischen Öffentlichkeit entstand und mit dem Namen des Historismus belegt ist" 143 ). Hier ist allerdings hinzuzufügen, daß Dilthey trotzdem an Stellen wie der eben zitierten klarer sieht, was der praktische Ursprung der Geisteswissenschaften bedeutet, als dies bei Habermas der Fall ist. Mit alledem hat sich nun gezeigt, daß geisteswissenschaftliche Objektivität im Sinne Diltheys weder wünschbar noch realisierbar ist. Es ist deutlich geworden, daß das Subjekt nicht
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zu eliminieren, sondern als in doppelter Hinsicht fundierend für die Auseinandersetzung mit den in der Vergangenheit Lebenden zu sehen ist. Zum einen tritt das Subjekt als Repräsentant einer bestimmten geschichtlichen Situation mit Fragestellungen und Begriffen, die derselben entsprechen, in diese Auseinandersetzung ein und verhält sich damit nicht abbildend, zum anderen bezieht es die Vergangenheit auf die Möglichkeiten der Gegenwart und kann damit nicht auf Wertungen verzichten. Das bedeutet, daß die Analyse der Ausführungen Diltheys nicht unmittelbar in eine adäquate Theorie der Geisteswissenschaften führt, wohl aber in eine neue, präzisere Formulierung der Problemstellung. So ist nun der Frage nachzugehen, ob die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, insofern sie durch den doppelten Zugriff des Subjekts gekennzeichnet ist, überhaupt den Charakter einer Wissenschaft gewinnen kann, bzw. ob eine Bestimmung von Objektivität möglich ist, die diesen doppelten Zugriff nicht zu verleugnen braucht. Beruht somit die Ausgangsfrage für die weiteren Überlegungen zum wissenschaftlichen Status der Geisteswissenschaften auf einer Kritik des Diltheyschen Objektivitätsbegriffs, so heißt das nicht, daß Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften insgesamt zu negieren wäre. Sie umfaßt vielmehr eine Reihe von Argumenten, die auch in einer neuen Konzeption der Geisteswissenschaften zu berücksichtigen sind. Die vorliegende Untersuchung hat nicht zuletzt darin ihren Zweck, die wichtigsten dieser Argumente, bei aller Kritik an dem Gesamtaufriß, in den sie eingebunden sind, aufzuzeigen — vor allem angesichts der bis in die Gegenwart gängigen allzu pauschalen Urteile (von denen einzelne besonders repräsentative noch näher zu betrachten sein werden). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß Riedel gegenüber der „heute weitverbreiteten Auffassung" von der „Einheit des Historismus mit dem Positivismus" den Vorwurf erhebt, in der Pauschalität der Diagnose die zentrale Intention des Historismus zu übergehen. Riedel unterstreicht, daß die unterschiedlichen Positionen, die gewöhnlich dem Histo-
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rismus zugezählt werden, gerade in der Gegnerschaft zum Positivismus die sie vereinende Mitte haben. „So richtig es sein mag, daß beide Positionen durch eine Reihe von Zwischengliedern verbunden sind . . ., so unzweifelhaft ist es, daß diese Zuordnung der Selbstauffassung des Historismus widerspricht. Der Gegensatz zum Positivismus gehört bekanntlich zum festen Inventar jener Denkweise der ,historischen Schule' des 19. Jahrhunderts, die sich auf der Basis einer bestimmten Immunisierungsstrategie gegenüber westeuropäischen Einflüssen konstituiert." 144 ) Bezieht man diese Überlegungen auf Dilthey, so ergibt sich, daß darauf zu achten ist, daß dieser trotz der nivellierenden Tendenzen seines Objektivitätsbegriffs wesentlich darauf abzielt, im Gegenzug gegen den Positivismus den spezifischen Status der Geisteswissenschaften herauszustellen. Es gilt daher, seinen im engeren Sinn wissenschaftstheoretischen Überlegungen weiter nachzugehen, um zu verfolgen, wie er diese Intention einzulösen suchte. 8 . DAS GEISTESWISSENSCHAFTLICHE VERSTEHEN UND DIE F R A G E DER METHODOLOGIE
Hier ist auszugehen von der vielzitierten Äußerung: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir" 1 4 5 ), in der der Grundgedanke der Wissenschaftstheorie Diltheys zum Ausdruck kommt. Sie stellt sich zunächst als pragmatische Äußerung eines Methodendualismus dar, in dem den beiden Wissenschaftstypen verschiedene Methodentypen zugesprochen werden. Wie Dilthey von hier aus die Naturwissenschaften bestimmt, kann in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden, es sei nur darauf hingewiesen, daß er damit auf heftigen Widerstand stieß 146 ). — Für die nähere Charakterisierung des geisteswissenschaftlichen Verstehens spielt der Begriff Transposition eine wesentliche Rolle. Der Rückgang von den Lebensäußerungen zu dem in ihnen objektivierten Geist ist nach Dilthey nur über die Mobilisierung der eigenen Erlebnisse bzw.
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des als Möglichkeit Erlebten zu vollbringen, d. h. über ein „Sichhineinversetzen, sei es in einen Menschen oder ein Werk" 147 ). So argumentiert Dilthey: „einen Lebenszusammenhang im Gegebenen aufzufinden . . . ist nur möglich, indem der Zusammenhang, der im eigenen Erleben besteht und in unzähligen Fällen erfahren ist, mit all den in ihm liegenden Möglichkeiten immer gegenwärtig und bereit i s t . . . Wenn nun so aus der Stellung der Verständnisaufgabe die Präsenz des eigen erlebten seelischen Zusammenhangs folgt, so bezeichnet man das auch als die Übertragung des eigenen Selbst in einen gegebenen Inbegriff von Lebensäußerungen. Auf der Grundlage dieses Hineinversetzens, dieser Transposition entsteht nun aber die höchste Art, in welcher die Totalität des Seelenlebens im Verstehen wirksam ist — das Nachbilden oder Nacherleben." 148 ) Auch diese Komponente des Diltheyschen Wissenschaftsdualismus hat häufig Widerspruch erfahren. Bei näherem Zusehen zeigt sich allerdings, daß sie nahezu ebenso häufig mißverstanden wurde. Die meisten Einwände laufen darauf hinaus, daß Dilthey gerade das wissenschaftliche Element der Geisteswissenschaften nicht zu erfassen vermocht habe. So meint Abel in einem immer wieder zitierten Argument, daß das Verstehen als Projektion sich stets im Kreis des bereits Bekannten bewege, so daß es die primäre Leistung der Wissenschaft, neue Erkenntnissse zu gewinnen, nicht zu erfassen erlaube 149 ). In dieser Argumentation bleibt aber ein wesentlicher Gedanke Diltheys unberücksichtigt: Dilthey faßt die Transposition nicht bloß als Projektion des aus eigenem Erleben Bekannten, sondern auch als die Voraussetzung für neue Erlebnisse. Das, was im eigenen Leben nur Möglichkeit geblieben ist, soll über die Transposition als Wirklichkeit erfahren werden und somit den Horizont des Erlebten erweitern. (Auf die weiteren Argumentationen Abels wird im nächsten Kapitel einzugehen sein.) In etwas modifizierter Form findet sich der eben anhand von Abel erörterte Einwand bei Acham. Dieser liest das Konzept der Transposition als das eines „kongenialen Einverständ-
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nisses", wonach nur der als Geisteswissenschaftler qualifiziert sei, der „über die Disposition verfügt, sich in die in Betracht stehende Persönlichkeit so hineinzuversetzen, daß er sagen kann: ,So hätte ich auch gehandelt'" 1 5 0 ). Acham gelangt so zu folgendem Einwand: „Es ist ein offensichtlicher Nonsens anzunehmen, daß nur ein großer Mensch ein großes Haus bauen könne. Es ist aber ein gleich arger Irrtum anzunehmen, daß jemand die Voraussetzungen und Konsequenzen von verschiedenen Weltanschauungen oder Seinsverständnissen nicht objektiv erforschen könne, ohne sich selbst von ebendiesen verschiedenen Weltanschauungen oder Seinsverständnissen begeistern zu lassen und mit dieser Begeisterung an den Gegenstand seiner Forschung heranzutreten." 151 ) Auch dieser Argumentation ist entgegenzuhalten, daß sie der Intention Diltheys nicht gerecht wird. Gewiß ist für das geisteswissenschaftliche Verstehen eine minimale Identität aller vorausgesetzt, aber Dilthey betont ebensowohl, daß mittels der Transposition gerade das Fremde erkannt werden soll. So schreibt er ζ. B.: „Die Bühne tut sich auf. Richard erscheint, und eine bewegliche Seele kann nun, indem sie seinen Worten, Mienen und Bewegungen folgt, etwas nacherleben, das außerhalb jeder Möglichkeit ihres wirklichen realen Lebens liegt." 152 ) Ein anderer, vielleicht noch häufiger anzutreffender Einwand ist der, daß Dilthey die Geisteswissenschaften durch den unkontrollierbaren Prozeß der Einfühlung charakterisiert und ihnen somit indirekt die methodische Basis abspricht. Für diese Argumentation ist ebenfalls Karl Acham als österreichischer Repräsentant zu nennen, der Dilthey gegenüber betont: „der Geschichtswissenschaft geht es um die Darstellung von in bestimmter Hinsicht relevanten Fakten, nicht um die zusätzliche Information darüber, welches Gefühlsverhältnis der damit Beschäftigte zu diesen Fakten hat bzw. nicht hat." 1 5 3 ) Acham ist mit dieser Argumentation, wie gesagt, nicht allein, vielmehr repräsentiert er eine bestimmte, vor allem im angelsächsischen Raum vertretene wissenschaftstheoretische Position, der das nächste Kapitel gewidmet ist. Es ist allerdings hin-
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zuzufügen, daß die Dilthey-Interpretation, von der er ausgeht, auch außerhalb dieser Position verbreitet ist. Hier ist darauf hinzuweisen, daß Habermas im Zeichen des entgegengesetzten Vorwurfs (des Vorwurfs des Positivismus) dieselbe Einschätzung vertritt. Auch er faßt das „Modell des Hineinversetzens" als „Einfühlungsmodell" auf 154 ). Auch dieser Interpretation ist der Vorwurf nicht zu ersparen, daß sie auf einer eher flüchtigen Rezeption der Überlegungen Diltheys beruht. Wie sich hier gezeigt hat, ist das Erlebnis bei Dilthey durchgängig als Einheit von Denken, Fühlen und Wollen bestimmt. Das Hineinversetzen in ein fremdes Erlebnis muß demnach ebenfalls als ein alle drei Typen des menschlichen Verhaltens aktivierender Vorgang gedacht werden und nicht bloß als eine Angelegenheit der Gefühle. Dilthey sagt dies auch explizit: „Worin besteht nun aber dies Nacherleben? Der Vorgang interessiert uns hier nur in seiner Leistung; eine psychologische Erklärung desselben soll nicht gegeben werden. So erörtern wir auch nicht das Verhältnis dieses Begriffes zu dem des Mitfühlens und dem der Einfühlung, obwohl der Zusammenhang derselben darin deutlich ist, daß das Mitfühlen die Energie des Nacherlebens verstärkt." 155 ) Das heißt also: Obzwar zu kritisieren ist, daß Dilthey von unmittelbarer Einheit spricht, wo es der Differenzierung bedürfte, steht doch außer Zweifel, daß er eben an eine Einheit denkt, in der das Gefühl nur Moment ist. Faßt man nun die Transposition in einem weiteren, über die Gefühlsebene hinausgehenden Sinn, so könnte dennoch der hier an Acham exemplifizierte Einwand gegen Dilthey beibehalten werden. Es könnte argumentiert werden, daß das Hineinversetzen trotzdem den Charakter der Spontaneität und nicht den eines kontrollierbaren und damit methodisch gesicherten Vorgehens habe. Als Beleg böte sich folgende Äußerung Diltheys an: „Wie deutlich zeigt sich im Nachbilden und Nacherleben des Fremden und Vergangenen, daß das Verstehen auf einer besonderen persönlichen Genialität beruht!" 156 ) Aber auch diese Argumentation wäre nicht aufrechtzuerhalten.
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Liest man an der eben zitierten Stelle weiter, so zeigt sich, daß Dilthey keineswegs die Genialität an die Stelle methodisch gesicherten Vorgehens setzt. Er betont vielmehr, daß zur Wissenschaft die „Auslegung" als das „kunstmäßige Verstehen" wesentlich dazugehört, und schreibt in diesem Sinn: „So wird die persönliche Genialität zu einer Technik, und diese Technik entwickelt sich mit der Entwicklung des geschichtlichen Bewußtseins." 157 ) Das „Nachbilden" stellt sich somit nicht als ein einmaliger Akt dar, sondern als ein Prozeß, in dem das zunächst auf dem Wege des spontanen Hineinversetzens Zustandegekommene der kunstmäßigen Kontrolle unterzogen wird. Es ist nicht zu übersehen, daß Dilthey damit an die Tradition der Hermeneutik anknüpft, insbesondere an Schleiermachers Unterscheidung von divinatorischem und komparativem Verstehen 158 ). In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß Dilthey die Bedeutungen des Wortes Verstehen hier neuerlich vermehrt. Genauer gesagt, umfaßt der Ausdruck „geisteswissenschaftliches Verstehen" seinerseits drei verschiedene Bedeutungen. Er bezieht sich erstens auf den genialen Akt der Transposition, zweitens auf den Prozeß der kunstmäßigen Auslegung und drittens auf das Ziel der geisteswissenschaftlichen Arbeit. Auch hier gilt, daß die verschiedenen Bedeutungen nicht klar voneinander unterschieden, sondern durch die Bezeichnung mit dem gleichen Ausdruck so miteinander vermengt werden, daß sich der häufige Verlust dieser Differenzierung in der Dilthey-Rezeption als eine naheliegende Konsequenz darstellt. Kam bisher fast nur die erste der genannten Bedeutungen zur Sprache, so stellt sich nun die Frage, wie Dilthey das kunstmäßige Verstehen näher bestimmt. Dabei stößt man auf eine Undeutlichkeit, die entscheidender ist, als es zunächst den Anschein haben mag. Zum einen ist festzustellen, daß sich Dilthey mehrmals auf die Leistungen der hermeneutischen Tradition beruft. Die Hermeneutik „hat immer die Sicherheit des Verstehens gegenüber der historischen Skepsis und der subjektiven Willkür verteidigt", schreibt er 159 ). Wenn er gelegent6
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lieh auf „die grammatische und die historische Vorarbeit" zu sprechen kommt 1 6 0 ), so verweist er damit auf die Unterscheidung von Ast, die auch Wolf und Boeckh aufgegriffen haben 1 6 1 ). Dabei fällt aber auf, daß Dilthey keineswegs ins Detail geht. Ineichen betont mit Recht, daß Dilthey keine eigene Hermeneutik im Sinn einer ausgearbeiteten Kunstlehre des Verstehens vorgelegt hat 1 6 2 ). Zum anderen zeigt sich, daß Dilthey die „Technik" der Auseinandersetzung mit dem gegebenen Material häufig auch als ein Verfahren kennzeichnet, das nicht auf die Geisteswissenschaften beschränkt ist. Dabei spielt der Begriff Induktion eine zentrale Rolle. So führt er ζ. B. aus: „In Wirklichkeit sind . . . die Lebensäußerungen für uns zugleich Repräsentationen eines Allgemeinen; wir schließen, indem wir sie einem Typus der Gebärde, der Handlung, einem Kreis des Wortgebrauchs unterordnen. In dem Schluß vom Besonderen zum Besonderen ist eine Beziehung auf ein Gemeinsames, das in jedem Falle repräsentiert ist, gegenwärtig. Und dies Verhältnis wird noch deutlicher, wenn nicht aus dem Verhältnis zwischen einer Reihe einzelner verwandter Lebensäußerungen zu dem Psychischen, dessen Ausdruck sie sind, auf einen neuen Fall geschlossen wird, sondern zusammengesetztere individuelle Tatbestände den Gegenstand des Analogieschlusses bilden. So schließen wir aus der regelmäßigen Verbindung bestimmter Eigenschaften in einem zusammengesetzten Charakter darauf, daß bei dem Vorhandensein dieser Verbindung in einem neuen Fall ein in diesem noch nicht beobachteter Zug nicht fehlen werde. Wir weisen aufgrund desselben Schlusses eine mystische Schrift, die neu gefunden ist oder chronologisch neu bestimmt werden muß, einem bestimmten Kreis der Mystik in einer bestimmten Zeit zu. Aber in einem solchen Schluß liegt stets die Tendenz, die Art, wie in einem solchen Gefüge seine einzelnen Teile miteinander verbunden sind, aus den einzelnen Fällen abzuleiten und so den neuen Fall tiefer zu begründen. So geht in Wirklichkeit der Analogieschluß in den Induktionsschluß mit Anwendung auf einen neuen Fall über. Die Abgrenzung
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dieser beiden Schlußarten im Vorgang des Verstehens hat nur eine relative Geltung. Und überall ergibt sich nur die Berechtigung zu einem irgendwie abgegrenzten Grad von Erwartung in dem neuen Fall, auf den geschlossen wird — ein Grad, über den keine allgemeine Regel gegeben werden kann, der nur aus den Umständen abgeschätzt werden kann, die überall andere sind. Es ist die Aufgabe einer Logik der Geisteswissenschaften, Regeln für diese Abschätzung aufzufinden. Dann ist der hierauf begründete Vorgang des Verstehens selbst als Induktion aufzufassen. Und diese Induktion gehört in die Klasse, in welcher nicht aus einer unvollständigen Reihe von Fällen ein allgemeines Gesetz abgeleitet wird, sondern aus ihnen eine Struktur, ein Ordnungssystem, das die Fälle als Teile zu einem Ganzen zusammennimmt. Induktionen dieser Art sind den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften gemeinsam. Durch eine solche Induktion entdeckte Kepler die elliptische Bahn des Planeten Mars. Und wie nun hier eine geometrische Anschauung eingesetzt wird, welche eine einfache mathematische Regelmäßigkeit aus den Beobachtungen und Berechnungen ableitete, so muß auch alles Probieren im Verständnisvorgang die Worte zu einem Sinn und den Sinn der einzelnen Glieder eines Ganzen zu dessen Struktur zusammennehmen." 163 ) Dieser grundsätzlichen Überlegung entspricht auch das vielbeachtete Beispiel von der historischen Auseinandersetzung mit Bismarck. Dilthey will damit verdeutlichen, daß „das Verstehen der einzelnen Persönlichkeit zu seiner Vollendung das systematische Wissen" voraussetzt 164 ). „Die Aufgabe sei, Bismarck zu verstehen. Eine außerordentliche Fülle von Briefen, Aktenstücken, Erzählungen und Berichten über ihn bildet das Material. Dieses bezieht sich auf seinen Lebensverlauf. Der Historiker muß nun dies Material erweitern, um das, was auf den großen Staatsmann einwirkte, wie das, was er erwirkt hat, zu erfassen. Ja, solange der Vorgang des Verstehens dauert, ist auch die Abgrenzung des Materials noch nicht abgeschlossen. Schon um Menschen, Ereignisse, Zustände als diesem Wir6»
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kungszusammenhang zugehörig zu erkennen, bedarf er allgemeiner Sätze. Sie liegen dann auch seinem Verständnis Bismarcks zugrunde. Sie erstrecken sich von den gemeinsamen Eigenschaften des Menschen zu den besonderen einzelner Klassen."165) Bedenkt man nun, daß das geisteswissenschaftliche Verstehen in seiner zweiten Bedeutung im Rahmen des Gesamtaufbaues der Überlegungen Diltheys den Ort der Methodologie bezeichnet, so wird die Bedeutung der eben angeführten Undeutlichkeit sichtbar: Wo es um die Methode im engeren Sinn, also im Sinn des kontrollierten und kontrollierbaren Verfahrens geht, schwankt Dilthey zwischen dem Konzept einer spezifischen durch die Hermeneutik theoretisch zu erfassenden Vorgangsweise der Geisteswissenschaften und dem Konzept einer alle Wissenschaften gleichermaßen kennzeichnenden, wesentlich durch Generalisierung und Prognose bestimmten Vorgangsweise. Das läßt erkennen, daß Dilthey seine Intention, die Besonderheit der Geisteswissenschaften herauszustellen, nicht oder zumindest nicht primär als eine Angelegenheit der Methodologie sieht. Das spezifische der Geisteswissenschaften liegt für ihn vor allem in den durch die beiden anderen Bedeutungen des geisteswissenschaftlichen Verstehens bezeichneten Phänomenen, dem unmittelbaren Nacherleben und Auffassen menschlicher Realität. Das heißt, der Unterschied von Geistes- und Naturwissenschaften, auf den es in erster Linie ankommt, ist ein Unterschied in der Relation von Forscher und Erforschtem und nicht ein Unterschied in der „Technik" der Verknüpfung des vorliegenden Materials. So ergibt sich also, daß die zitierte Kernthese Diltheys — „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir" — nicht einfach im Sinne eines methodologischen Dualismus auszulegen ist, wie es zunächst den Anschein hat. Sie ist jedenfalls primär auf das an der Besonderheit der jeweiligen Gegenstandsbereiche orientierte Ziel bzw. den der methodischen Arbeit vorausliegenden Rahmen der beiden Wissenschaftstypen zu beziehen. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu bemerken,
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daß dieser Hauptakzent des Diltheyschen Wissenschaftsdualismus, hinter dem die Frage der Methodologie so zurücktritt, daß sie nur undeutlich skizziert wird, weitgehend unbemerkt blieb. Bis in die Gegenwart wird Dilthey sowohl von denen, die die Legitimität seiner Motive zu zeigen suchen, als auch von seinen Kritikern als einer der Begründer einer spezifisch geisteswissenschaftlichen, gegenüber der naturwissenschaftlichen deutlich abgegrenzten Methodologie gesehen. Abgesehen von den im folgenden Kapitel zu nennenden Beispielen, sind etwa Habermas 166 ) und die beiden neueren Publikationen Apels zur Erklären-Verstehen-Kontroverse 167 ) einerseits sowie Albert 168 ) andererseits als Beleg dieser verbreiteten Einschätzung zu nennen. Freilich ist noch einmal zu bemerken, daß Dilthey selbst die in seinen Überlegungen angelegten Differenzierungen nicht konsequent genug ausführte und so seinen Ansatz reduzierende Interpretationen begünstigte. Es zeigt sich nun, daß sich eine weitere Frage ergeben hat, die von Dilthey her einerseits exponierbar ist, andererseits offen bleibt. Hat die Auseinandersetzung mit Dilthey zunächst in die Frage geführt, wie geisteswissenschaftliche Objektivität zu bestimmen ist, nachdem sich herausgestellt hat, daß die Konzeption Diltheys in mehrfacher Hinsicht problematisch ist, so erhebt sich nun die Frage, ob diese Neubestimmung eine Methodologie zu umfassen hat, in der die Geisteswissenschaften durch eine spezifische Verfahrensweise gekennzeichnet werden. Angesichts dieser Fragestellung scheint nichts naheliegender zu sein, als zunächst auf jene wissenschaftstheoretische Argumentation näher einzugehen, die nachzuweisen sucht, daß alle Wissenschaften in ihrer Verfahrensweise identisch sind. Dabei ist folgendes zu berücksichtigen: Die auf dieser Argumentation beruhende Position wird, der gängigen Einschätzung entsprechend, gewöhnlich als die dezidierte Gegenposition zu Dilthey betrachtet, doch nach der hier vorgelegten Analyse bleibt auch dieses Urteil vorerst noch fraglich.
II. DIE METHODOLOGISCHE RESTRIKTION DES OBJEKTIVITÄTSPROBLEMS IN DER ERKLÄREN-VERSTEHEN-DEBATTE 1. HEMPELS EINHEITSWISSENSCHAFTLICHE INTERPRETATION DER HISTORIE
Das Argument von der Identität aller Wissenschaften geht in seiner gegenwärtig diskutierten Ausprägung auf Hempel, Oppenheim und Popper zurück. Es waren diese drei, die zum Teil unabhängig voneinander unter Aufnahme älterer, positivistischer Motive ein Wissenschaftsmodell entwickelten, das sie als Grundlage aller Wissenschaften ausweisen zu können beanspruchten. Sie gehen davon aus, daß alle Wissenschaften mit „Warum?"-Fragen einsetzen und darauf abzielen, Erklärungen vorzulegen, und argumentieren, daß diese Erklärungen trotz aller Verschiedenheit der Forschungsbereiche ihrer Struktur nach identisch sind. Die charakteristischen Grundzüge dieser Struktur, die die Diskussion bis heute bestimmen, wurden schon in der Zwischenkriegszeit konzipiert1). Hier sollen sie vor allem im Anschluß an Hempel präsentiert werden, weil dieser auch für die besondere Fragestellung der Geschichtstheorie von größter Bedeutung ist. Immerhin hat Hempel schon 1942 den Versuch gemacht, die Geschichtswissenschaft vom einheitswissenschaftlichen Programm her zu definieren2). Die Bestimmung der allgemeinen Struktur der Erklärung operiert im wesentlichen mit drei Momenten. Das erste ist das hinterfragte Ereignis bzw. die bestimmte Beschreibung eines Ereignisses, von der Hempel sagt: „Wir wollen sie als explanandum-Aussage [E] bezeichnen und gebrauchen den Begriff ,explanandum', um uns auf Ε oder das durch Ε beschriebene
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Ereignis zu beziehen." 3 ) Die beiden anderen Momente sind die zwei Gruppen „erklärender Sachverhalte", die unter der Bezeichnung explanans zusammengefaßt werden. Eine davon umfaßt die Antecedens- oder Randbedingungen, die andere „Regelmäßigkeiten, die in allgemeinen Gesetzen zum Ausdruck gelangen" 4 ). Eine Erklärung besteht demnach in ihrem Kern darin, daß für ein explanandum die zugehörigen Randbedingungen ausfindig gemacht werden, was nur unter Bezugnahme auf bestimmte Regelmäßigkeiten möglich ist. Zweideutig bleibt dabei, wie sich zeigt, ob die drei genannten Momente primär als Sachverhalte oder als Sätze gedacht werden. Es sind damit schon in der grundlegenden Bestimmung des Erklärungsbegriffs jene zwei verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten angelegt, die im folgenden herausgestellt werden sollen. Diese wissenschaftstheoretische Position sieht also das Wesen wissenschaftlicher Erklärung darin, daß sie die Beziehung von antecedens und explanandum als Fall eines Gesetzes behandelt. In der weiteren Differenzierung dieses Ansatzes unterscheidet Hempel zunächst zwei verschiedene Ausprägungen wissenschaftlicher Erklärung, nämlich die deduktiv-nomologische und die induktiv-probabilistische. Die erste ist dadurch gekennzeichnet, daß das im explanans formulierte Gesetz Anspruch auf ausnahmslose Gültigkeit erhebt, so daß bei gegebenen Randbedingungen das explanandum mit Notwendigkeit abgeleitet werden kann. Sie ist das Schema der Erklärung, dem die Kausalerklärungen folgen, bleibt aber nicht nur auf diese beschränkt, „denn es gibt deduktiv-nomologische Erklärungen, die man gewöhnlich nicht als kausal bezeichnen würde . . . in einer kausalen Erklärung werden einige der erklärenden Bedingungen zeitlich der zu erklärenden Wirkung vorangehen, und es gibt Erklärungen vom Typ D [deduktiv-nomologisch], denen dieses Merkmal fehlt" 5 ). In der angelsächsischen Literatur wird diese Form der Erklärung im Anschluß an die Formulierung Drays gewöhnlich als „covering-law-theory" bezeichnet 6 ). Die deutschsprachige Rezeption sah sich zunächst in einer gewissen Verlegenheit in bezug auf die Ubersetzung dieses Ter-
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minus, in letzter Zeit scheint sich aber der Ausdruck „Subsumtionstheorie" einzubürgern7). Die zweite Form der Erklärung unterscheidet sich von der ersten dadurch, daß die in ihr relevanten Gesetze nicht dieselbe strikte Allgemeinheit beanspruchen. Sie sind vielmehr, „allgemein gesprochen, Behauptungen der Art, daß bei Vorliegen bestimmter Bedingungen gewisse Ereignisse mit statistischer Wahrscheinlichkeit eintreten werden" 8 ), d. h. Wahrscheinlichkeitsgesetze. Hempel erläutert dies am Beispiel des Arztes, der nicht mit Gewißheit prognostizieren kann, ob ein Medikament die erwünschte Wirkung haben wird. Die induktiv-probabilistischen Erklärungen sind also dadurch gekennzeichnet, „daß im Gegensatz zu deduktiv-nomologischen Erklärungen das explanans das explanandum nicht logisch impliziert, sondern ihm nur eine hohe Wahrscheinlichkeit verleiht"9). Wie sich daraus ergibt, „ist eine probabilistische Erklärung eine Sache des Grades, während deduktiv-nomologische Erklärungen nur ein entweder-oder zulassen. Eine gegebene Menge allgemeiner Gesetze und singulärer Aussagen impliziert entweder eine explanandum· Aussage oder nicht" 10 ). Im Zuge dieser Ausführungen nimmt Hempel zwei mögliche Einwände vorweg. Die Unterscheidung der beiden Erklärungstypen könnte in Zweifel gezogen werden mit Hinweis darauf, daß die für die deduktiv-nomologische Erklärung relevanten Gesetze auf dem Wege empirischer Verallgemeinerung aus einer begrenzten Zahl von Beobachtungen, die keine vollständige Verifikation ermöglicht, gewonnen werden und daher ebenfalls nur den Charakter von Wahrscheinlichkeitsgesetzen haben. Hempel zeigt aber, daß seine Unterscheidung durch diesen Hinweis nicht widerlegt ist. Er macht darauf aufmerksam, daß „zwischen dem Anspruch einer Gesetzesaussage und ihrem Bestätigungsgrad oder ihrer Wahrscheinlichkeit, die sie aufgrund der verfügbaren Daten besitzt", zu unterscheiden ist 11 ), und erläutert dies so: „Es ist richtig, daß Aussagen, die Gesetze der einen oder der anderen Art zum Ausdruck bringen, nur unvollständig durch eine endliche, wenn auch vielleicht sehr
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große Menge von Daten über singuläre Tatbestände bestätigt werden können. Aber Gesetzesaussagen der beiden verschiedenen Typen erheben unterschiedliche Ansprüche, die sich in ihrer logischen Form wiederspiegeln. Grob gesprochen behauptet eine allgemeine Gesetzesaussage der einfachsten Art, daß alle Elemente einer unbegrenzten Bezugsklasse (ζ. B. kupferne Gegenstände) ein bestimmtes Merkmal aufweisen (sie sind ζ. B. gute elektrische Leiter), während statistische Gesetzesaussagen behaupten, daß langfristig eine bestimmte Proportion der Elemente der Bezugsklasse eine bestimmte Eigenschaft aufweisen wird." 1 2 ) Auf der Basis dieser Erläuterungen präzisiert Hempel noch einmal sein Konzept: „Unsere Unterscheidung von zwei Gesetzestypen und den entsprechenden Erklärungsarten in der Wissenschaft gründet sich auf diesen Unterschied im Anspruch." 13 ) Ein weiterer Einwand legt sich im Anschluß an die Beobachtung nahe, daß in wissenschaftlichen Publikationen sowohl natur- als auch humanwissenschaftlicher Herkunft vieles zu finden ist, was sich nicht als Erklärung im Sinne einer der beiden unterschiedenen Typen ausweist. Hempel nimmt diesen Einwand vorweg und versucht plausibel zu machen, daß alle wissenschaftlichen Argumentationen Erklärungen des einen oder des anderen Typs zumindest ansatzweise enthalten. Dabei unterscheidet er drei verschiedene Formen einer solchen rudimentären Erklärung. Zunächst die „elliptisch oder unvollständig" formulierten Erklärungen, die nicht nur in der Wissenschaft anzutreffen sind, sondern vor allem auch im Alltag. „Ein Bericht dieser Art verzichtet auf die Erwähnung bestimmter Gesetze oder singulärer Tatsachen, die als unproblematisch gelten können." 1 4 ) Würde er alles stillschweigend Vorausgesetzte explizit ausführen, so würde er sich als eine vollständige Erklärung entpuppen, die einem der beiden Modelle entspricht. Die zweite Form wissenschaftlicher Argumentation, die den beiden Grundtypen von Erklärungen nicht unmittelbar entspricht, nennt Hempel „partielle Erklärung" 1 5 ). Er meint damit Argumentationen, in denen das explanans so allgemein bleibt, daß
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sich nur die Klasse von Ereignissen, der das explanandum zugehört, daraus ableiten läßt, nicht aber das explanandum in seiner Besonderheit. Eine entsprechende Modifikation der explanandum-Aussage oder die Spezifikation des allgemeinen Gesetzes würde das Argument in eine vollständige Erklärung verwandeln. Hempel gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß das explanandum-Ereignis grundsätzlich nur unter bestimmten Beschreibungen und nicht in seiner Konkretheit erklärt werden kann. „Wir könnten daran denken, ein bestimmtes Ereignis nur dann als vollständig erklärt zu betrachten, wenn eine deduktive oder induktive Erklärung aller seiner Aspekte vorliegt. Diese Idee ist jedoch selbstzerstörerisch, denn jedes singuläre Ereignis weist unendlich viele verschiedene Aspekte oder Merkmale auf, die nicht alle durch eine finite Menge von erklärenden Aussagen, wie groß sie auch sein mag, erklärt werden können." 16 ) Wenn Hempel also bestimmte Argumentationen als partielle Erklärungen bestimmt, so setzt er dabei einen Begriff von Vollständigkeit voraus, der sich von dieser prinzipiell uneinlösbaren Idee unterscheidet. „Der Begriff der Vollständigkeit in diesem Sinn ist relativ zu unserer explanandumAussage."17) Die dritte Form wissenschaftlicher Ausführungen, die Hempel hier aufzeigt, ist die der „Erklärungsskizze". Er hat dabei eine Argumentation vor Augen, die so unspezifisch und andeutungshaft bleibt, daß sie nicht ohne weiteres vervollständigt werden kann. „Sie kann unter Umständen sehr überzeugend und lebendig auf die allgemeinen Umrisse dessen verweisen, was hoffentlich einmal zu einem durchdachteren Argument ausgebaut werden kann, das sich auf besser konstruierte Hypothesen stützt und kritische Stellungnahmen auf der Basis von Erfahrungsdaten zuläßt." 18 ) Sie selbst läßt aber noch nicht erkennen, auf welchen Typ der Erklärung sie hinausläuft. Diese allgemeinen Differenzierungen lassen bereits erraten, in welcher Weise Hempel das einheitswissenschaftliche Konzept auf die Geschichtsforschung zur Anwendung bringt. Er braucht der Tatsache nicht aus dem Weg zu gehen, daß sich in
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historischen Publikationen kaum Argumentationen finden, die einem der beiden Grundtypen von Erklärung in allen Momenten folgen. Aber aus dieser Tatsache läßt sich für ihn nicht ableiten, daß der Historie bzw. den Geisteswissenschaften eine methodologische Sonderstellung zukomme — er konstatiert dasselbe Phänomen auch an naturwissenschaftlichen Publikationen — , ebensowenig, daß das Basiskonzept der Erklärung ungeeignet sei, die wissenschaftliche Vorgangsweise zu erfassen. Er sieht daher die Geschichtsforschung vor allem von den eben referierten Formen fragmentarischer Erklärung her. Schon in seiner ersten Publikation zu diesem Thema beruft er sich auf die häufige Verwendung von Termini wie „,hence', ,therefore', consequently', ,because', ,naturally', ,obviously' etc." als Indikatoren dafür, daß auch die Historie auf Erklärungen abzielt. Er argumentiert dabei: „Such terms . . . are used to tie up the initial conditions with the event to be explained; but that the latter was ,naturally' to be expected as ,a consequence' of the stated conditions follows only if suitable general laws are presupposed." 19 ) So haben historische Argumentationen nach Hempel häufig den Charakter elliptischer Erklärungen, indem sie darauf verzichten, die jeweils vorausgesetzten Gesetze explizit zu formulieren. Dies gilt ζ. B. für jene Fälle, in denen die historische Arbeit auf Gesetze der Individual- oder Sozialpsychologie zurückgreift, die aus der Alltagserfahrung genommen und deshalb als bekannt vorausgesetzt werden. Die meisten historischen Argumentationen erweisen sich aber nach Hempel als bloße Erklärungsskizzen. Er begründet dies damit, daß die allgemeinen Gesetze, die stillschweigend vorausgesetzt werden, meist gar nicht ohne größere Schwierigkeiten explizit gemacht werden könnten. „Consider, for example, the statement that the Dust Bowl farmers migrate to California ,because' continual drought and sandstorms render their existence increasingly precarious, and because California seems to them to offer so much better living conditions. This explanation rests on some much universal hypothesis as that populations will tend to migrate to regions which offer better livingconditions.
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But it would obviously be difficult accurately to state this hypothesis in the form of a general law which is reasonably well confirmed by all the relevant evidence available."20) Gegen dieses Hempelsche Wissenschaftskonzept wurde eine Vielzahl von Einwänden vorgebracht, die allerdings in einige Gruppen zusammenzufassen sind. So gibt es eine Reihe von Überlegungen, die in Zweifel ziehen, ob das Hempelsche Erklärungsmodell den Naturwissenschaften gerecht zu werden vermag. Dabei wird einerseits versucht, ein adäquateres Modell naturwissenschaftlicher Erklärung zu entwickeln21), andererseits, an der Logik der Naturwissenschaften weitere, von den, wie immer strukturierten, Erklärungsmodellen nicht erfaßte Elemente nachzuweisen. Der letztgenannte Versuch wird gegenwärtig vor allem in der an der Frage der Wissenschaftsgeschichte orientierten Variante, etwa bei Hanson und Kuhn 22 ), diskutiert. In ihrer Relevanz bleibt diese Argumentation freilich nicht auf die Naturwissenschaften beschränkt. Sie erfolgt nicht im Zeichen einer Differenzierung von Natur- und Humanwissenschaften, sondern zielt vielmehr auf eine Weiterentwicklung der Wissenschaftslogik überhaupt ab, d. h., sie stimmt, bei aller Kritik, mit Hempel im Grundsätzlichen des einheitswissenschaftlichen Programms überein. Trotz der somit auch für die Humanwissenschaften beanspruchten Relevanz, ist es aber im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht erforderlich, diesen Bereich der Auseinandersetzung mit Hempel im einzelnen zu erörtern. Hier ist der prinzipiellen Frage nachzugehen, ob die Geisteswissenschaften und damit die Geschichtswissenschaft im besonderen im Sinne einer allgemeinen Wissenschaftstheorie erfaßbar sind oder einen spezifischen Wissenschaftscharakter aufweisen. Da dabei, wie sich zeigen wird, die Frage nach der Möglichkeit von Gesetzesaussagen für den Bereich des Handelns ins Zentrum rückt, gilt es, vom ursprünglichen Erklärungskonzept als dem harten Kern des einheitswissenschaftlichen Ansatzes auszugehen. Dieser Überlegung entspricht es auch, daß in der bisher geführten Diskussion zur Theorie der Geisteswissenschaften die Auseinander-
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Setzung mit dem einheitswissenschaftlichen Konzept um den Begriff Erklärung zentriert war. Die Einwände gegen Hempel, die sich auf die Geisteswissenschaften berufen, und die in einer Flut von Publikationen, sowohl von Seiten der Philosophie als auch der betroffenen Disziplinen erhoben wurden, lassen sich ihrerseits in zwei Gruppen gliedern: in solche, die auf Modifikationsvorschläge hinauslaufen, und solche, die eine einheitswissenschaftliche Interpretation der Historie als grundsätzlich inadäquat zu erweisen suchen. Zur ersten Gruppe gehören ζ. B. alle jene Einwände gegen die ursprüngliche Formulierung des einheitswissenschaftlichen Geschichtskonzepts, die geltend machen, daß sich für zeitlich oder räumlich bzw. für zeitlich und räumlich äußerst disparate Menschen und Menschengruppen keine Gemeinsamkeiten, die in allgemeinen Gesetzen Ausdruck finden könnten, feststellen lassen. In diesem Sinn meinten etwa Joynt, Helmer und Rescher, daß sich die Historie nur auf „limited generalizations" stützen könne 23 ). Hierher gehört aber auch M . Scrivens These, daß das Allgemeine der Historie das sei, was normalerweise eintrete, d. h, daß die Historie mit „normic generalizations" 24 ) arbeite. Alle Argumentationen dieser Art lassen das einheitswissenschaftliche Programm im prinzipiellen unangetastet. Auch für sie ist der Gedanke bestimmend, daß die Historie in Übereinstimmung mit den übrigen Wissenschaften Erklärungen unter Bezugnahme auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten vorlegt. Im übrigen hat Hempel selbst den Terminus „general law" nicht nur Gesetzen vorbehalten, die für den Gesamtbereich der Geschichte formuliert sind. Das Adjektiv „general" bezieht sich lediglich darauf, daß die Relation zwischen bestimmten Einzelereignissen nicht als etwas Einmaliges gedacht, sondern einem an vergleichbaren Fällen empirisch überprüften Typus zugeordnet wird. So konnte Hempel auch, wie sich gleich zeigen wird, das Konzept der „limited generalizations" bruchlos in seine Argumentation aufnehmen. Nicht zuletzt daran wird deutlich, daß für diese Gruppe von Einwänden dasselbe gilt wie für die zuvor genannte: daß ihre
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Details für die vorliegende Untersuchung unerheblich sind, da es hier um die grundsätzliche Frage geht, ob es möglich ist, die Historie bzw. die Geisteswissenschaften überhaupt von einem einheitlichen Wissenschaftsmodell her zu begreifen. Damit rückt die andere von den Geisteswissenschaften ausgehende Gruppe von Einwänden gegen Hempel ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie umfaßt jene Stellungnahmen, die zu zeigen suchen, daß Hempels Anspruch wegen der Eigenart der Historie und ihres Forschungsbereiches prinzipiell uneinlösbar ist. Dabei fällt das Augenmerk zunächst auf William Dray, dessen Auseinandersetzung mit Hempel in diese Richtung geht und in der internationalen Diskussion dieser Frage eine breite Rezeption erfuhr.
2 . DRAYS ALTERNATIVKONZEPT DER „RATIONAL EXPLANATION"
Dray wählt als seinen Ausgangspunkt den Umstand, daß es der Historiker sehr oft mit einzelnen Handlungen der Vergangenheit zu tun hat, die in ihrer Konkretheit relevant für ihn sind. Er hebt hervor, dem Historiker liege dabei primär an „information about what the agent believed to be the facts of his situation, including the likely results of taking various courses of action considered open to him, and what he wanted to accomplish: his purposes, goals, or motives" 25 ). Drays Meinung nach ist das Ziel solcher Forschung erreicht, „when the historian can see the reasonableness of a man's doing what this agent did, given the beliefs and purposes referred to; his action can then be explained as having been an appropriate' one" 2 6 ). Dray gelangt so zur Überzeugung, daß die Historie eine ganz spezifische Form der Erklärung aufweist, die er „rational explanation" nennt. „Explanation which tries to establish a connection between beliefs, motives, and actions . . . I shall call ,rational explanation'" 2 7 ). Diese spezifische Form der Erklärung ist für ihn grundsätzlich unterschieden vom covering-law-Modell in allen seinen Modifikationen. „For explanations of the
Drays Alternativkonzept der „Rational Explanation"
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kind just illustrated, I should argue, the establishment of a deductive logical connection between explanans and explanandum, based on the inclusion of suitable empirical laws in the former, is neither a necessary nor a sufficient condition of explaining. It is not necessary because the aim of such explanations is not to show that the agent was the sort of man who does in fact always do the sort of thing he did in the sort of circumstances he thought he was in. What it aims to show is that the sort of thing he did made perfectly good sense from his own point of view. The establishment of such a connection, if it could be done, would not be a sufficient condition of such explanation either, since it would not itself represent the relation between the agent's beliefs and purposes and what he did as making the latter a reasonable thing to have done." 2 8 ) Es sind also zwei Argumente, auf die Dray sich beruft, um sein Konzept der rational explanation vom covering-law-Modell abzusetzen. Das erste sucht dieses Modell als überflüssig zu erklären mit dem Hinweis, daß historische Erklärungen von Einzelhandlungen nicht darauf abzielen, diese als Einzelfälle allgemeiner Gesetzmäßigkeiten auszuweisen. Es ist allerdings leicht als Mißverständnis durchschaubar. Die einheitswissenschaftliche Argumentation hat gar nie behauptet, daß die Historie dieses Ziel habe oder haben solle. Ihr geht es vielmehr darum, daß das Herstellen einer bestimmten Relation zwischen zwei Einzelereignissen im Rahmen einer Erklärung nur erfolgen kann, wenn ein allgemeines Gesetz vorausgesetzt wird. So läßt Hempel keinen Zweifel darüber, daß seiner Meinung nach das Grundmodell der Erklärung bzw. die zwei Typen desselben für alle Wissenschaften relevant sind, aber in verschiedenen Wissenschaften verschieden akzentuiert werden. Er führt ζ. B. aus, daß die Momente der Erklärung dieselben sind, ob vom gegebenen explanandum ausgegangen wird oder, wie im prognostischen Verfahren etwa der Astronomie, vom gegebenen explanans. In diesem Sinne wäre auch zu argumentieren, daß das Grundmodell identisch bleibt, ob mittels der Herstellung von Einzelbezügen im Experiment das allgemeine Gesetz ge-
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wonnen werden soll oder ob unter Zugrundelegung des allgemeinen Gesetzes das für ein Einzelereignis relevante Antecedens zu eruieren ist. Wesentlich bedeutsamer ist das zweite Argument Drays, daß ein striktes Einhalten des Hempelschen Erklärungsmodells nicht ausreichen würde, Handlungen auf die ihnen zugrundeliegenden Überzeugungen und Motive hin zu untersuchen. Hempel hat sich mit dieser Überlegung in einem späteren Aufsatz auseinandergesetzt und sucht auch sie als ein Mißverständnis zu erweisen. Er argumentiert, daß auch die Erklärung von Einzelhandlungen durch Angabe der in sie investierten Uberzeugungen und Motive demselben Grundmodell der Erklärung folgt. Es wäre seiner Meinung nach nicht einsichtig, warum bestimmte Überzeugungen und Motive in einer bestimmten Situation zur Tat X führen, wenn nicht zumindest unausgesprochen allgemeine Gesetze zur Anwendung gebracht würden. Daher schlüsselt er den von der Frage „Warum tat der Handelnde (A) X ? " ausgehenden Erklärungsprozeß auf folgende Weise auf: „(a) Α befand sich in einer Situation vom Typ C (b) Α hatte eine Disposition, rational zu handeln (c) Jeder Mensch mit einer Disposition zum rationalen Handeln wird in einer Situation vom Typ C unausweichlich (mit großer Wahrscheinlichkeit) X tun." 29 ) Sein Argument läuft also darauf hinaus, daß Erklärungen von Einzelhandlungen durch die Historie gewöhnlich elliptische Erklärungen sind. Das habe Dray dazu verführt, ihren Charakter zu mißdeuten und anzunehmen, daß sie einem besonderen Modell von Erklärung folgen. Hempel fügt ergänzend hinzu, daß sich sein Argument nicht auf die Erklärung rationaler Handlungen beschränkt, sondern in analoger Weise auch auf andere Handlungserklärungen bezieht. „Eine ähnliche Diagnose paßt übrigens auch auf die Erklärungen, die das Verhalten eines Menschen in einer bestimmten Situation nicht auf der Basis seiner Rationalität und seiner mehr oder weniger expliziten Überlegungen erklären, sondern anderen dispositionalen Zügen
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wie seinem Charakter und seiner emotionalen Verfassung zuschreiben." 30 ) Genau genommen ist für Hempel die rational explanation nur eine besondere Form der „dispositional explanation", d. h. jener, die im explanans „Aussagen des dispositionalen Typs" 3 1 ) enthält. Hempel schließt damit terminologisch an eine Theorie an, die von G. Ryle und P. Gardiner wesentlich bestimmt worden ist — allerdings nur terminologisch. Während nämlich die beiden Genannten nachzuweisen suchten, daß dispositionale Aussagen über ein Individuum weder den Status allgemeiner Gesetze haben noch den von Voraussetzungen, aus denen allgemeine Gesetze ableitbar sind, ist Hempel der gegenteiligen Uberzeugung 32 ). Für ihn sind „Aussagen des dispositionalen Typs" nicht grundsätzlich unterschieden von „limited generalizations". Spätestens im Anschluß an diese Ausführungen Hempels wird deutlich, daß sich die Frage nach der Validität seines Ansatzes zuspitzt auf die Frage nach der Möglichkeit von Gesetzesaussagen für den Bereich des Handelns. Diese Frage bildet denn auch das eigentliche Zentrum der Diskussion um das einheitswissenschaftliche Konzept der Historie. Es ist allerdings zu beobachten, daß die Einwände, in denen die Möglichkeit solcher Gesetzesaussagen geleugnet wird, allesamt von derselben Interpretation der Ausführungen Hempels ausgehen. Dabei bleiben jedoch jene Äußerungen Hempels, die dieser Interpretation widersprechen, unberücksichtigt. Es wird daher zu zeigen sein, daß Hempels Theorie auch ganz anders zu lesen ist, als dies üblicherweise geschehen ist, daß sie also zumindest ambivalent ist. Die bisherige Diskussion interpretierte Hempels Konzept als Ausdruck der Uberzeugung, daß jedes Individuum durch die verschiedensten Prägungen determiniert ist. Und es ist nicht zu leugnen, daß die eben zitierte Erwiderung an Dray diese Interpretation nahelegt. Was sonst könnte es bedeuten, wenn Hempel davon ausgeht, daß sich aus dem Charaktertypus zumindest die Klasse von Verhaltensweisen ableiten läßt, die die diesem Typ subsumierbaren Individuen in bestimmten Situati7
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onen zeigen? Und nicht nur bestimmte psychologische Faktoren erscheinen als Determinanten, sondern selbst die Rationalität. Auch von einem rationalen Idividuum läßt sich nach Hempel, wie gesagt, prognostizieren, was es in einer bestimmten Situation, zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit, tun wird. Sind solche Äußerungen als deterministisch zu interpretieren, so können sie in der Tat nicht unwidersprochen bleiben. Es ist ihnen entgegenzuhalten, daß sie das eigentliche Spezifikum menschlichen Handelns unterschlagen. Die Meinung, daß die rationale Verfassung eines Individuums dieses dazu bestimme, sich in bestimmten Situationen auf bestimmte Weise zu verhalten, ist nur möglich, wenn der Begriff Rationalität auf reduktionistische Weise gefaßt wird. Nur mit Bezug auf die Zweckrationalität läßt sich nämlich sagen, daß sie angesichts bestimmter Bedingungen in bestimmte Konsequenzen führt. Wer darauf abzielt, einen bestimmten Zweck zu realisieren, wird aus den in einer Situation gegebenen Alternativen diejenige auswählen, die sich als das geeignetste Mittel zur Erreichung des Zwecks darstellt. Aber die Rationalität beschränkt sich eben nicht darauf, zu gegebenen Zwecken die probaten Mittel ausfindig zu machen, sondern sie wählt auch die Zwecke selbst. (Auf die Folgen eines Konzepts, das die Rationalität auf Zweckrationalität beschränkt und damit „halbiert", hat u. a. Habermas hingewiesen33).) Genauer gesagt: die Rationalität des Menschen besteht primär darin, daß er an keinen vorgegebenen Zweck gebunden ist. Das macht erst den Verstand vom Instinkt unterscheidbar, während die bloße Zweckrationalität vom Instinkt noch nicht wesentlich abgerückt ist. Der Mensch ist also mit Möglichkeiten konfrontiert, die sich nicht dadurch voneinander unterscheiden, daß eine unter ihnen die rationale ist; sonst wäre eine Entscheidung im eigentlichen Sinn und damit Handeln nicht möglich34). Zu dieser Thematik finden sich vor allem bei Kant entscheidende Differenzierungen. Er zeigt, daß zwar allen Menschen der Zweck der eigenen Glückseligkeit von Natur aus vorgegeben ist, daß aber jeder Mensch auch den Sollensanspruch
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der moralischen Verpflichtung kennt, woraus sich eine fundamentale Entscheidungssituation ergibt. Das heißt aber nicht, daß es um einen einmaligen Entschluß geht, durch den der Mensch gewissermaßen eine selbstgegebene Disposition, eine selbstgewählte Determinante seines Handelns erlangen würde. Die spezifische Situation des Menschen liegt vielmehr darin, daß die Entscheidung zwischen den Prinzipien der Glückseligkeit und der moralischen Vollkommenheit in jeder Handelnssituation neu zu treffen ist. Darüber hinaus macht Kant darauf aufmerksam, daß der Zweck der Glückseligkeit selbst nicht in einer so festumrissenen Weise vorgegeben ist, daß die Orientierung an ihm nach dem Schema der Zweckrationalität erfolgen würde. Das bedeutet, daß auch einer Person, die das eigene Glück zum Prinzip ihres Handelns macht, bei bestimmten Alternativen nicht jeweils nur eine als die vernünftige erscheinen wird. „Es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens . . . erforderlich ist . . . Man kann also nicht nach bestimmten Prinzipien handeln, um glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen Ratschlägen, ζ. B. der Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zurückhaltung usw., von denen die Erfahrung lehrt, daß sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten befördern." 35 ) Kant unterscheidet deshalb im Rahmen des hypothetischen Imperativs zwischen den technischen Imperativen (der Zweckrationalität) und den pragmatischen Imperativen (den Ratschlägen der Klugheit). Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß das durch Bedingungen wie Veranlagung, Erziehung und Milieu konstituierte Phänomen des Charakters tatsächlich zu beobachten ist. 7*
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Es wird lediglich zu bedenken gegeben, daß der Charakter keine das Handeln determinierende Instanz ist, sondern seinerseits durch gegenläufige Handlungen verändert werden kann, wogegen auch unter Berufung darauf, daß solche Versuche häufig scheitern, kein prinzipieller Einwand zu erheben ist. — Ebensowenig soll geleugnet werden, daß bestimmte psychische Prägungen das Individuum zumindest in bestimmten Situationen seiner Reflexions- und Entscheidungsfähigkeit so berauben können, daß es durch sie determiniert wird, aber ein solches Reagieren ist gerade nicht als Handeln zu bezeichnen. Psychologische Determinanten haben vielmehr ihr gemeinsames, wesentliches Charakteristikum in der Negation von Handeln. So liegt die Aufgabe des Therapeuten darin, dem Individuum dazu zu verhelfen, auch den betreffenden Situationen wieder handelnd begegnen zu können. Auch Dray ist davon überzeugt, daß Hempels Erklärungsbegriff auf einer deterministischen Bestimmung des Menschen beruht. Er sieht einen wesentlichen Unterschied seines eigenen Konzepts gegenüber demjenigen Hempels darin, daß die „rational explanation" keine deterministischen Implikationen hat. „The incompatibility of representing actions as both free and explicable has often been asserted. But . . . this doctrine holds only for explanation on the covering law model, with an assertion of a deductive connection between an action and its explanatory conditions . . . I am arguing . . . that there is a meaning of ,explain' which is already current in history, as well as everyday affairs, which does not entail determinism." 36 ) In diesem Zusammenhang äußert Dray, daß er von einer „libertarian methaphysical position" ausgeht37). Man könnte daher vermuten, daß seine Kritik an Hempel hier ihre eigentliche Wurzel hat, daß er zunächst den Determinismus zu widerlegen sucht in der Weise, wie es hier eben geschehen ist, und in der Folge davon das covering-law-Modell ad absurdum führt. Dieser Vermutung widerspricht jedoch, daß es für Dray, wie sich gezeigt hat, durchaus denkbar ist, daß die Historie beide Modelle nebeneinander zur Anwendung bringt. Er weist denn auch die
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Interpretation aufs schärfste zurück, daß er darauf abziele, die Relevanz des covering-law-Modells für die Historie zu bestreiten und betont, daß er lediglich zeigen wolle, daß die Historie auch noch einem zweiten Erklärungsmodell folgt „alongside with the other" 38 ). Für welches der beiden Modelle sie sich jeweils entscheidet, hängt nach Dray von ihrer Fragestellung ab. „The two sorts of explanations are better regarded as belonging to different logical and conceptual networks, within which different kinds of puzzlement are expressed and resolved."39) Drays Übelegungen erweisen sich damit als widersprüchlich. Wenn die Historie im wesentlichen Handlungzusammenhänge, d. h. von determinierten Abläufen grundsätzlich verschiedene Prozesse, zum Gegenstand hat, wie Dray betont, dann kann sie eine Methode mit deterministischen Implikationen nicht legitimieren. Oder anders gesagt: Die Verträglichkeit der beiden von Dray unterschiedenen Erklärungstypen ist nicht zu denken, und Dray kann sie nur um den Preis der Konsistenz seiner Theorie behaupten. Wenn es in seiner Erläuterung heißt, daß der Historiker abwechselnd von einem deterministischen und einem freiheitlichen Begriff des Menschen ausgeht, wenn also die Bestimmung dieses Begriffs der Beliebigkeit der Forschungspragmatik anheimgestellt wird, so bedeutet das einen Bruch mit der „libertarian metaphysical position", von der Dray ursprünglich seinen Ausgang nahm. Eine Widersprüchlichkeit dieser Art ergibt sich im übrigen nicht nur bei Dray, sondern auch bei anderen Vertretern der analytischen Philosophie. Am Beispiel Achams, Hempels und Dantos wird sich noch zeigen, daß sie eine signifikante Konsequenz dieses philosophischen Ansatzes darstellt, die seine Problematik enthüllt. Unbeschadet dieser Widersprüchlichkeit erhebt sich jedoch die Frage, ob die zentrale Überlegung Drays, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Handlungen eine von Hempels Modell grundsätzlich unterschiedene Vorgangsweise erforderlich macht, nicht dennoch berechtigt ist. Geht man zu-
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nächst von Drays eigenem Vorschlag für diese alternative Methode, dem Modell der „rational explanation", aus, so rückt der Einwand Hempels, wonach dieses Modell nichts als eine illegitime Verkürzung des von ihm vorgelegten Erklärungsschemas darstelle, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Da Hempel diesen Einwand plausibel zu machen versteht, bieten sich zwei Interpretationsmöglichkeiten an: Entweder Drays Modellvorschlag ist noch unzureichend und bedarf einer Revision, oder sein Programm ist als solches unhaltbar. Diese Frage ist allerdings nur in einer Reihe weiterer Erörterungen zu entscheiden. Im Sinne der ersten Interpretation erfolgten verschiedene Modifikationen des Drayschen Modells, die im folgenden am Beispiel Donagans und van Wrights erörtert werden sollen. Unabhängig davon ist jedoch festzustellen, daß Dray in der Erläuterung der „rational explanation", obwohl dieselbe ja auf einem liberalistischen Begriff des Menschen gegründet sein soll, dennoch von deterministischen Vorstellungen ausgeht. Wenn er das Ziel des Historikers darin sieht, „the reasonableness of a man's doing what this agent did, given the beliefs and purposes referred to" nachzuweisen, so bedeutet auch für ihn Vernunft die Disposition zu einer ganz bestimmten Handlungsweise. Daß dem Leser der historischen Publikation einsichtig gemacht werden soll, daß die vergangene Handlung „was appropriate at least to the circumstances as they were envisaged" 40 ), heißt nichts anderes, als daß jeder Vernünftige in dieser Situation nur diese Entscheidung hätte treffen können. Dray faßt also die Vernunft seinerseits in der oben kritisierten Weise als eine Determinante des Menschen, womit in seiner Argumentation ein weiterer Widerspruch aufbricht. Damit begibt er sich endgültig der Möglichkeit, seine Intention zu realisieren und eine von der Handelnskompetenz des Menschen ausgehende Methodologie der Humanwissenschaften zu entwickeln. So bleibt auch die eigentliche Frage ungeklärt: in welchem Verhältnis eine solche, dem spezifischen Charakter ihres Gegenstandsbereiches konsequent Rechnung tragende Methodo-
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logie der Humanwissenschaften zum Subsumtionsmodell stehen würde. Gewiß in dem der Kontradiktion, soweit dieses Modell deterministische Implikationen aufweist. Hier ist aber zu bedenken, daß jedenfalls Hempel sein Erklärungskonzept nicht in dieser Weise versteht. Er betont ζ. B. ausdrücklich, daß die Rationalität nicht als eine Handlungsanweisung aufzufassen ist, die jeweils etwas Bestimmtes als „das, was zu tun ist", bezeichnet 41 ). Es ist daher im folgenden der Frage nachzugehen, ob Äußerungen wie diese schlicht im Widerspruch zu Hempels Methodenkonzeption stehen, oder ob sie mit dieser doch vereinbar sind, d. h. ob die von Hempel beanspruchte, der gängigen Rezeption allerdings entgegensetze, nicht-deterministische Version des Subsumtionsmodells in der Tat denkbar ist.
3 . DAS DILEMMA ACHAMS
Hempels Auseinandersetzung mit Dray ist übrigens der Punkt der Diskussion, an dem der Österreicher K. Acham mit seinen geschichtstheoretischen Überlegungen einsetzt. Acham ist mit Hempel der Auffassung, daß das Rückführen von Handlungen auf Motive dem Schema der Erklärung folgt, und argumentiert, daß „doch die Kausalitätsthese niemals eine Beschränkung auf bestimmte Typen von Dingen involvierte, die allein als eine Ursache qualifizierbar sein sollen" 42 ). Dabei spricht sich Acham — was gerade im Hinblick auf die eben erwähnte Zweideutigkeit der Ausführungen Hempels aufhorchen läßt — vehement dagegen aus, daß diese Argumentation einem Votum für einen deterministischen Begriff des Menschen gleichkomme. Im Zuge der Erläuterung dieser These gerät allerdings auch er in Widersprüche. Acham geht zunächst in Anlehnung an die sprachanalytische Philosophie von der Überlegung aus, daß ontologische Erkenntnisse grundsätzlich nicht möglich sind. Dabei ist für ihn der Gedanke maßgeblich, daß die Sprache nie im Sinne von „sprachlichen Abbildern der ,wahren' Wirklichkeit aufzufassen
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ist" 43 ). Die Erklärungen der Wissenschaften sind demnach, wie Sprache überhaupt, lediglich „Deutungen" von Sachverhalten" 44 ) und haben keine ontologische Relevanz. So stellt sich die Auffassung, daß das Kausalitätsprinzip eine deterministische Konzeption impliziere, für Acham als ein ontologisches Mißverständnis der Sprache dar. Er warnt in diesem Sinne vor einer „Verwechslung von kategorialen und ontologischen Ebenen" 45 ). Von diesen Überlegungen ausgehend greift Acham Drays Unterscheidung von rationalen und nicht-rationalen Erklärungen neuerlich auf. Die Bedeutung dieser Unterscheidung bleibt damit strikt auf die „kategoriale Ebene" limitiert, d. h., Acham schließt an den einen der widersprüchlichen Ansätze Drays an. Die zwei verschiedenen Erklärungsarten gehen so für ihn darauf zurück, „daß wir in verschiedener Weise ein System von Bildern der Erscheinungen konstruieren können" 46 ). Und Acham erläutert dazu: „Hat man dies eingesehen, so verschwinden alle Widersprüche, welche als vermeintlich unauflösliche Aporien die Philosophie in Atem hielten, wenn man gewisse Fragen zu beantworten suchte: etwa die Frage, . . . ob der Mensch Natur sei oder Geist, ob demzufolge Historie letztlich Naturgeschichte sein müsse oder doch nur Geistesgeschichte sein dürfe" 47 ). Acham führt diese Überlegungen am Beispiel des Historikers aus, der nicht nur auf Motive, sondern ebenso auf neurophysiologische Befunde Bezug nimmt. „Was etwa mentalistischen (Motivations'-) und neurophysiologischen (,Kausal'-) Erklärungen zugrunde liegt, sind zwei verschiedene Theorien als unterschiedliche Bilder eines bestimmten Sachverhalts. Der Historiker wird — bei all seinen Präferenzen für mentalistische Deutungen — nicht versuchen, die Wahrheit oder Falschheit des einen oder anderen Weltbildes (,Sprachspieles', ,Begriffsschemas') zu beweisen."48) In dieser Argumentation zeichnet sich bereits die Problematik der Position Achams ab — sowohl ihre innere Widersprüchlichkeit als auch ihre grundsätzliche Grenze. So ist festzustellen, daß Acham sein eigenes Ontologieverdikt durchbricht, wenn er davon spricht, daß sich die verschiedenen
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Theorien auf denselben „bestimmten Sachverhalt", also auf ein identisches Substrat beziehen. Acham formuliert damit selbst eine ontologische Aussage und präzisiert sie noch durch die Distanzierung der „Doppelwelt-These von Motiven und Ursachen, Geist und Materie, Freiheit und Notwendigkeit" 49 ). Diese ontologische Annahme führt ihrerseits in Probleme, wenn man sie auf die Realität der Historie bezieht. Die Vorgangsweise des Historikers ist nämlich nicht dadurch zu kennzeichnen, daß aufgrund einer Präferenz Ereignisse als Handlungen gedeutet werden, die ebensogut auch als Naturvorgänge gedeutet werden könnten. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß Handlungen auch ein Natur-Moment umfassen, d. h., daß sich an handelnden Personen auch natürliche Vollzüge beobachten lassen. Es ist aber zu bedenken: Wenn man diese natürliche Seite beobachtet und im Rückgriff auf Naturgesetze erklärt, so erfaßt man dabei nicht die Handlung als solche, und umgekehrt, wenn man nach dem Motiv einer Handlung fragt, so untersucht man nicht die physische Konstitution des Handelnden. In Achams Terminologie gesprochen heißt das, daß man dann jeweils mit verschiedenen Sachverhalten und nicht mit einem „identischen Sachverhalt"50) befaßt ist. Analog verhält es sich in dem Fall, daß ein Historiker abschätzen muß, ob ein bestimmtes Verhalten eines Individuums als Handlung aufzufassen ist oder als Symptom einer das Handeln verunmöglichenden Krankheit. Auch in diesem Fall geht es nicht um eine Präferenz des Historikers, sondern um seine Überlegung, mit welcher Art Sachverhalt er es zu tun hat. Acham bestätigt diesen Gedankengang selbst, allerdings ohne dessen gewahr zu werden, wenn er in einem anderen Artikel das oben genannte Beispiel folgendermaßen aufgreift: „Es fällt . . . sicherlich schwer abzustreiten, daß in gewissen Fällen ein spezifisch neurophysiologischer Bericht im Rahmen einer historischen Erklärung adäquat sein kann, gibt es doch Gehirndefekte mit historisch relevanten Konsequenzen, deren Ursachen sich nicht in die Terminologie von Gründen und Motiven übersetzen lassen."51) Wer wollte das schon abstreiten? —
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Außer Acham selbst in seinen oben referierten Überlegungen. Acham gerät somit zu diesen Überlegungen in einen Widerspruch von nicht unbeträchtlichem Ausmaß. Zum einen räumt er indirekt ein, daß die Auswahl des „Begriffsschemas" doch nicht auf den Historiker und seine Präferenzen zurückgeht, sondern auf Unterschiede in den „Sachverhalten" selbst. Das bedeutet aber nicht weniger, als daß Acham hier neuerlich eine ontologische Annahme äußert, noch dazu eine der ersten widersprechende. Acham unterscheidet nun zwischen Motiv und Ursache in einer Weise, die er andererseits als „Doppelwelt-These" zu ridikülisieren pflegt. Eine Konsequenz davon ist, daß er auch in der Determinismus-Frage ganz konträr zu seiner ursprünglichen These, daß dieselbe eigentlich gar nicht gestellt werden könne, Stellung bezieht, d. h. Handlungen als von determinierten Prozessen grundsätzlich verschieden denkt. Er bestimmt die Motivation als „Entscheidung zwischen mehreren Handlungsalternativen" in „freier Wahl" 52 ). (Es ist hier nicht näher darauf einzugehen, daß Acham das Wort Determinismus neben der üblichen und auch hier vorausgesetzten Bedeutung noch in einer zweiten Bedeutung verwendet, die etwa mit „Bedingtheit" zu übersetzen wäre, so daß er dann auch mit Bezug auf Handlungen von Determination sprechen kann, nämlich wenn es um die sozialen, ökonomischen u. ä. Voraussetzungen der Handlungsalternativen geht. Diese Verdoppelung des Wortgebrauches ändert nichts an der hier gezeigten grundsätzlichen Unterscheidung von Motiv und Ursache.) Von dieser Wendung im Denken Achams bleibt auch die Methodenfrage der Historie nicht unberührt. Vor allem wird der Begriff der rational explanation abermals problematisch. Da Acham ihn vom Kausalitätsprinzip her bestimmt hat, fragt sich nun, wie er mit dem freiheitlichen Handlungsbegriff kompatibel sein soll. So münden die Ausführungen Achams in folgende Alternative: Entweder muß gezeigt werden, wie Kausalität auf der kategorialen Ebene auf Prozesse freier Entscheidung bezogen werden kann, oder der Begriff der rational explanation muß neu, d. h. alternativ zum Kausalitätsprinzip, bestimmt
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werden. Da Acham sich seine ontologische Wendung nicht eingesteht, wird er aber dieser Alternative nicht einmal als solcher ansichtig. 4 . D I E VERDOPPLUNG DER DEDUKTION BEI DONAGAN
Hier drängt sich nun die Frage auf, ob Drays Motiv, der Historie eine besondere, vom Schema Hempels unterschiedene Form der Erklärung zuzuerkennen, nicht doch berechtigt ist, auch wenn Dray selbst es nicht einzulösen vermochte. Diese Frage wird noch bekräftigt, wenn man berücksichtigt, daß das genannte Motiv nicht nur für Dray allein bestimmend ist. So endet ζ. B. auch für Alan Donagan die Auseinandersetzung mit Hempel darin, daß er der Arbeitsweise des Historikers einen Sonderstatus zuspricht. Es scheint daher geboten, die Argumentation Donagans näher zu betrachten. Donagan führt zunächst aus, daß und inwiefern Hempel in der Interpretation der Vorgangsweise der Historiker einen entscheidenden Fehler gemacht hat. Das Konzept des „explanation sketch" ist in seinen Augen der unglückliche Versuch, die Historie unter ein Modell zu subsumieren, dem sie offensichtlich widerspricht. Daß sich in historischen Arbeiten keine Bezüge auf allgemeine Gesetze finden, ist seiner Meinung nach nicht so aufzufassen, daß die Historiker noch keine vollgültigen Erklärungen vorzulegen vermögen, sondern im Gegenteil als Indiz dafür, daß sie gar nicht darauf abzielen, Erklärungen im Sinn der Hempelschen Modelle zu leisten. Donagan wirft Hempel vor, übergangen zu haben, daß die Historiker die Möglichkeit allgemeiner Gesetze für den Bereich des Handelns in Zweifel ziehen: „Die meisten Historiker wären Erklärungen gegenüber skeptisch, in denen davon ausgegangen wird, daß alle Handelnden, die zu demselben psychologischen Typ gehören oder sich in derselben sozialen Position befinden, auf bestimmte Art und Weise handeln, wenn sie sich in derselben Situation befinden. Sie kennen zuviele Fälle, in denen einer den anderen haßt und ihm dennoch keinen Schaden zufügt oder in denen ein ganz und gar unzuverlässiger
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Mensch gegen alle Versuchung sein Wort hält. Solche Beispiele sind sicher grob; aber fachkundige Historiker würden auch raffinierteren Beispielen gegenüber dieselben Zweifel hegen."53) Für Donagan ist offensichtlich, daß die Historiker im Rahmen ihrer Wissenschaft nicht von deterministischen Prämissen ausgehen — unabhängig davon, wie sie sonst zur Freiheitsproblematik stehen. „Obwohl die Historiker als solche nicht die Richtigkeit" der „traditionellen Lehre vom freien Willen behaupten, gehen sie so vor, als sei sie möglicherweise richtig. Sie akzeptieren sie methodologisch, obwohl sie sie philosophisch möglicherweise ablehnen" 54 ). Hier zeigt sich, daß Donagan seine Kritik an Hempel nicht auf eine Widerlegung des Determinismus aufbaut, sondern auf den Vorwurf, die Realität der Historie mißdeutet zu haben. Donagan beschränkt seine Überlegungen also auf die „quaestio facti". Es fragt sich jedoch, ob es legitim ist, die Wissenschaftstheorie in dieser Weise zu limitieren. Sobald man aber die „quaestio iuris" in die Fragestellung miteinbezieht, kann die grundsätzliche Klärung der Freiheitsproblematik nicht weiter suspendiert werden. In seiner weiteren Argumentation führt Donagan aus, daß der methodologische Ausschluß des Determinismus, den er an der tatsächlichen Vorgangsweise der Historiker beobachtet, nicht notwendig bedeutet, daß in der Historie keine Erklärungen zustande kommen können. Eine solche Folgerung sei nur dann unvermeidlich, wenn der Begriff Erklärung auf deterministisch fundierte Modelle beschränkt bleibt. Donagan sucht dagegen zu zeigen, daß auch die Historiker wissenschaftliche Erklärungen erstellen, allerdings solche, die durch die Hempelsche Konzeption nicht erfaßbar sind. In diesem Punkt schließt er nun an das Motiv Drays an, die Historie auf ein spezifisches Modell der Erklärung zurückzuführen. Donagan ist aber, nicht zuletzt im Anschluß an die Einwände Hempels, überzeugt, daß Drays Modell der „rational explanation" der gestellten Aufgabe nicht gerecht wird 55 ). Er selbst sieht deren Lösung in einer Differenzierung des Begriffs der deduktiven Erklärung. Er führt aus, daß es neben dem covering-law-Modell
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noch eine zweite Form der Deduktion gibt, die ohne allgemeine Gesetze auskommt. Wo es um Handlungen geht, ist seiner Meinung nach das explanandum aus einem explanans abzuleiten, das kein allgemeines Gesetz umfaßt. Donagan greift dabei auf Poppers Überlegungen zur „Logik der Situation" zurück 56 ). Genauer gesagt, erweitert er das Poppersche Konzept um das Moment der Entschlossenheit des Handelnden für ein bestimmtes Ziel. Er führt damit die Erklärung von Handlungen durch den Historiker auf folgendes Schema zurück: „A war entschlossen, das Ziel Ε um jeden Preis zu erreichen; A war davon überzeugt, sich in einer Situation vom Typ C zu befinden; A war davon überzeugt, daß in C das Ziel Ε nur erreicht werden konnte, wenn er die Handlung χ ausführte; Daher führte Α die Handlung χ aus." 57 ) An diesem Schema wird sichtbar, daß Donagan eine deutlich eingeschränkte Operation vor Augen hat, wenn er von Handlungserklärung spricht. Sie beläuft sich darauf, eine bestimmte Tat als die logische Konsequenz aus einem bestimmten Entschluß im Verein mit einer bestimmten Einschätzung der jeweiligen Situation und ihrer Möglichkeiten zu erweisen. Das heißt, Donagan spricht von Handlungserklärung, wenn die ZweckMittel-Relation zwischen einem Entschluß und seiner Realisierung rekonstruiert wird. Der Entschluß selbst bleibt aus dieser Operation ausgeklammert, indem er als vorgegeben vorausgesetzt wird. Das bedeutet, daß Donagans Argumentation auf einem Handlungsbegriff beruht, in dem die Handlung nur durch eines ihrer Momente, nämlich die Realisierung, bestimmt wird — welcher Reduktionismus erst noch der Legitimation bedürfte. Faßt man dagegen den Handlugsbegriff so, daß der Entschluß ein wesentliches Moment der Handlung ausmacht, so ist festzustellen, daß sich Donagans Schema gar nicht auf die Erklärung von Handlungen bezieht. Donagan selbst führt aus: „Die meisten Entscheidungen sind erklärbar, weil sie durch vorhergehende Entscheidungen bedingt sind. Die einzige Er-
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klärung jedoch für die letzte Entscheidung eines Menschen für ein Prinzip ist die: er hat sich eben so entschieden." 58 ) Das heißt nichts anderes, als daß Entscheidungen im eigentlichen Sinn, also Entscheidungen, die sich nicht bloß auf die Wahl des probaten Mittels zur Realisierung eines bereits gefaßten Entschlusses beziehen, nicht erklärbar sind. Donagan müßte daher, wäre er konsequent, zumindest zwei verschiedene Vorgangsweisen der Historiker unterscheiden: einerseits die deduktive Erklärung des besonderen Typs und andererseits das noch näher zu bestimmende Eruieren der eigentlichen, nicht erklärbaren Entscheidungen. Ergibt sich so zunächst, daß sich das Modell Donagans entgegen dem damit verbundenen Anspruch nur auf einen kleinen Ausschnitt des humanwissenschaftlichen Themenbereichs bezieht, so ist darüber hinaus die grundsätzliche Frage zu stellen, ob es Donagan in der Tat geglückt ist, an den Humanwissenschaften ein zum Hempelschen Erklärungsschema alternatives Modell der Deduktion nachzuweisen. Diese Frage führt neuerlich in gravierende Probleme. Für die Darlegung derselben erscheint es aber als zweckmäßig, auch den Ansatz van Wrights heranzuziehen, dem es zumindest im deutschsprachigen Raum vorbehalten blieb, eine breite Rezeption und Diskussion der Frage eines spezifisch humanwissenschaftlichen Erklärungstypus auszulösen — wohl nicht zuletzt deshalb, weil van Wright, darin über Donagan hinausgehend, das alternative Erklärungsmodell mit der hermeneutischen Tradition zu vereinen suchte.
5 . DAS SCHEITERN DES VERSUCHS EINER SPEZIFISCH GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN METHODOLOGIE BEI VAN WRIGHT
Wie vor ihm Dray und Donagan zielt auch van Wright auf den Nachweis ab, daß die Erklärung vergangener Handlungen ohne Bezugnahme auf Gesetzmäßigkeiten erfolgt und sich daher grundsätzlich vom Subsumtionsmodell unterscheidet. Er geht dabei von der Gegenüberstellung von galileischer und
Van Wright
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aristotelischer Denktradition aus und argumentiert, einer Anregung Anscombes 59 ) folgend, daß die Wissenschaften, in denen Handlungen thematisiert werden, nur im Rückgriff auf den aristotelischen Begriff der Teleologie adäquat zu charakterisieren sind. Zur Fundierung der Humanwissenschaften sei demnach dem Kausalitätsmodell der galileischen Tradition ein auf der Figur des praktischen Syllogismus beruhendes Modell teleologischer Erklärung gegenüberzustellen. Die einfachste Form dieses alternativen Erklärungsmodells lautet folgendermaßen: „A beabsichtigt, ρ herbeizuführen. Α glaubt, daß er ρ nur dann herbeiführen kann, wenn er a tut. Folglich macht sich Α daran, a zu tun." 60 ) Im Zuge der weiteren Erörterung dieses Modells gelangt van Wright zu einer Reihe von Differenzierungen, vor allem zur Berücksichtigung der zeitlichen Dimension sowie der Möglichkeit der Behinderung des Handelnden durch äußere und innere Umstände. Daraus ergibt sich schließlich eine wesentlich komplexere Formulierung des Modells der teleologischen Erklärung: „Von jetzt an beabsichtigt Α, ρ zum Zeitpunkt t herbeizuführen. Von jetzt an glaubt A, daß er ρ zum Zeitpunkt t nur dann herbeiführen kann, wenn er a nicht später als zum Zeitpunkt t' tut. Folglich macht sich Α nicht später als zu dem Zeitpunkt daran, a zu tun, wo er glaubt, daß der Zeitpunkt t' gekommen ist — es sei denn, er vergißt diesen Zeitpunkt, oder er wird gehindert." 61 ) Gerade diese Modifikationen machen deutlich, worin für van Wright der eigentliche Kern seines Ansatzes besteht, der unverändert bleibt: Der praktische Syllogismus ist ein Modell des Prozesses der Realisierung des Mittels zur Erreichung eines intendierten Zweckes und bezieht sich nicht auf die Entschei-
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dung über den Zweck selbst. Bei aller Berücksichtigung zusätzlicher Faktoren weicht van Wright also im Grundsätzlichen nicht vom Ansatz Donagans ab, er faßt ihn vielmehr noch konsequenter, indem er die eigentliche Entscheidung nicht einmal mehr als Randphänomen thematisiert. Umso mehr setzt er sich dem gegenüber Donagan geäußerten Vorwurf aus, mit einem radikal verkürzten Handlungsbegriff zu operieren. Zu einer ähnlichen Kritik gelangt auch Stegmüller, der moniert, daß van Wright den Entscheidungscharakter des Handelns unberücksichtigt läßt und damit hinter bereits gesicherte Differenzierungen zurückfällt. Stegmüller präzisiert dies dahingehend, daß „die innerhalb der Entscheidungstheorie angestellten Betrachtungen . . . in dreifacher Hinsicht komplexer" seien als der praktische Syllogismus. Erläuternd fügt er hinzu, daß es nicht nur zu berücksichtigen gelte, „daß der Handelnde (in der Regel) mehrere Ziele oder Wünsche hat, zwischen denen er wählen muß", sondern ebenso, daß auch im Bereich der Mittel zwischen mehreren Möglichkeiten eine Wahl zu treffen ist, und ferner, daß „quantitative" Unterschiede des „Wünschbarkeitsgrades" eine Rolle spielen62). Stegmüller blendet allerdings seinerseits eine bereits geleistete Differenzierung aus, nämlich diejenige der unterschiedlichen Entscheidungsprinzipien, die oben im Anschluß an Kant zur Sprache kamen. Van Wright sieht übrigens eine philosophiegeschichtliche Vorbereitung seines Konzepts des praktischen Syllogismus auch bei Hegel und beruft sich insbesondere auf die Ausführungen zur Teleologie in der „Wissenschaft der Logik": „Hegels Doktrin von dem, was er gelegentlich auch ,Schluß des Handelns' nennt, zeigt eine interessante Ähnlichkeit mit der in dieser Arbeit behandelten Idee eines praktischen Syllogismus. In dem Hegelschen Schema eines praktischen Schlusses besagt die erste Prämisse, daß jemand ein bestimmtes Ziel verfolgt (,der subjektive Zweck'), die zweite Prämisse bilden die ins Auge gefaßten Mittel zur Erreichung des Ziels, und die Conclusio besteht aus der ,Objektivierung' der jeweiligen Absichten in einer Handlung (,der ausgeführte Zweck')." 63 )
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Van Wright beachtet hier aber nicht, daß Hegel mit dieser Überlegung keineswegs die Struktur des Handelns als solchen zu erfassen beansprucht, sondern lediglich die der technischen Seite desselben, d. h. der Zweckrationalität. In diesem Sinne betont auch Manfred Riedel, daß van Wrights Berufung auf Hegel nur sehr begrenzt legitim ist. In seinem dieser Frage gewidmeten Artikel „Teleologische Erklärung und praktische Begründung" heißt es: „Was der praktische Schluß im TeleologieKapitel der ,Logik' rekonstruiert, ist der Aufbau technischen Handelns (der ,nach außen gekehrten Tätigkeit') und die Rationalität der Mittel, die der Erreichung gesetzter Zwecke angemessen sind. Die Begründung der Zwecke selber ist Aufgabe der praktischen Vernunft, deren Prinzip erst an späterer Stelle, im Abschnitt über die Idee, eingeführt wird." 6 4 ) Eine Auseinandersetzung mit dem Ansatz van Wrights kann sich aber nicht in der Kritik an der Begrenztheit seines Handlungsbegriffs erschöpfen. Es gilt darüber hinaus, auf das eigentliche Anliegen van Wrights, das Zurückweisen der Anwendung des Subsumtionsmodells auf Handlungszusammenhänge, einzugehen und zu untersuchen, ob dieses nicht, bei aller Problematik der Durchführung im einzelnen, dennoch legitim ist. Im Zuge dieser Untersuchung stößt man aber auf weitere entscheidende Schwierigkeiten. Vor allem stellt sich heraus, daß sich van Wright mit einer ganz anderen Frage auseinandersetzt als etwa Hempel. Die mit dem Konzept des praktischen Syllogismus verbundene Intention ist, die innere Struktur des Handelns zu erfassen. In diesem Sinne weist auch van Wright darauf hin, daß „der echt praktische' Schluß . . . . eine in der ersten Person durchgeführte Begründung" ist 65 ). Hingegen zielt das Subsumtionsmodell primär nicht auf die Struktur der erforschten Zusammenhänge ab, sondern auf die der Forschung selbst. Das heißt, die Aufmerksamkeit van Wrights ist auf die Logik des Handelns gerichtet, diejenige Hempels und anderer Vertreter des Subsumtionsmodells aber auf die Logik der Forschung. Damit gilt für van Wright 8 Nagl-Docekal
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(ebenso wie für Donagan), daß das Modell des Handelns vorschnell mit dem Anspruch verbunden wird, die These von der Gültigkeit des Subsumtionsmodells für die Humanwissenschaften zu widerlegen. Selbst wenn van Wrights Modell also alle Momente des Handelns erfaßte, bliebe die Frage offen, welcher Stellenwert ihm im Rahmen der Vorgangsweise des Humanwissenschaftlers zuzuschreiben ist. In diesem Zusammenhang gewinnt Raimo Tuomelas vielbeachtete Kritik an van Wright ihre Bedeutung. Tuomela argumentiert, daß der praktische Syllogismus für den Forscher erst dann schlüssig wird, wenn er durch eine weitere Prämisse in der Form einer allgemeinen Gesetzesaussage ergänzt wird: „Für jeden Handelnden X, jede Intention ρ und Handlung q von X sowie für die Zeit t und t' gilt: Wenn X von jetzt an intendiert, ρ zu t zu verwirklichen und glaubt, daß q nicht später als t' zu tun dafür notwendig ist, und wenn ,normale Bedingungen' zwischen jetzt und t' vorliegen, dann wird X sich nicht später als zu der Zeit, da er t' für gekommen erachtet anschicken, q herbeizuführen." 66 ) Hier ist zunächst der Einwand zu erheben, daß Tuomela den auf Zweckrationalität reduzierten Handlungsbegriff van Wrights unhinterfragt übernimmt. Doch davon unabhängig ist seine eigentliche Pointe zu bedenken, welche die Struktur der Handlungsforschung in die unmittelbare Nähe des Subsumtionsmodells rückt. Der Unterschied besteht nur noch darin, daß die eben zitierte Gesetzesformulierung analytischen Charakter hat. Stegmüller erachtet allerdings auch diese Unterscheidung als unhaltbar, und zwar aufgrund folgender Überlegung: „Sobald wir uns mit tatsächlich handelnden Personen beschäftigen, müssen wir die Idealisierung preisgeben und untersuchen, ob die angeführten Prämissen empirisch gültig sind . . . Daraus folgt, daß man, um das verbesserte intentionale Erklärungsschema für Erklärungszwecke verwenden zu können,anstelle von (G a ) [i. e. die eben zitierte analytische Gesetzesaussage] eine synthetische Generalisierung (G e ) (,el für ,empirisch') benötigt." 67 )
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Hier erhebt sich nun die Frage, ob die Humanwissenschaften tatsächlich auch dann, wenn man von einem intentionalistischen Handlungbegriff ausgeht, im Sinne des Subsumtionsmodells zu charakterisieren sind. Überraschenderweise finden sich sogar bei van Wright Passagen, die, wenn auch inexplizit, in diese Richtung weisen. So schreibt van Wright an einer Stelle: „Die Ziele und Zwecke, die im Hintergrund einer Erklärung des untersuchten Typs stehen, sind manchmal die ziemlich subtilen Produkte kultureller, politischer, religiöser etc. Traditionen . . . Manchmal jedoch ist der Motivationshintergrund derart ,lapidar' und anthropologisch universell, daß ihm der Historiker keine besondere Beachtung zu schenken braucht. So ζ. B. wenn es heißt, daß die ,Ursachen' der Wanderbewegung eines Stammes in Uberbevölkerung, einer Hungersnot oder einer Flutkatastrophe zu sehen sind . . . Im großen und ganzen sind Menschen . . . darauf aus, bei Katastrophen ihr Leben zu retten und nach einem Ort zu suchen, wo sie was zu essen haben oder gesichert sind, wenn die Bedingungen, unter denen sie leben, unerträglich werden. Dies sind universelle Motive und sie brauchen in den Erklärungen des Historikers nicht erwähnt zu werden, die dann die Explananda als die ,Wirkungen' bekannter ,Ursachen' unmittelbar auf vorangegangene Veränderungen in den äußeren Umständen beziehen." 6 8 ) Van Wright setzt hier indirekt voraus, daß die Differenz zwischen der Perspektive der ersten Person und derjenigen des Forschers eine Differenz in der Struktur des Vorgehens zur Folge hat. Daß bestimmte Motive entweder für eine ζ. B. kulturell, politisch oder religiös definierte und begrenzte Gruppe von Menschen signifikant sind, oder aber anthropologisch universellen Charakter haben, ist für den einzelnen sich Motivierenden, der jeweils seine Intentionen verfolgt, irrelevant und kommt erst durch den rückblickenden, vergleichenden und zusammenfassenden Umgang mit Handlungen zutage. Auffallend ist nun, wie van Wright die Funktion solcher, sei es limitiert, sei es allgemein gültiger, Generalisierungen charakterisiert: Er be8·
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stimmt sie als den „Hintergrund", der es dem Historiker ermöglicht, bestimmte Handlungen auf „vorangegangene Veränderungen in den äußeren Umständen" zu beziehen. Wenn er dazu noch betont, daß diese Generalisierungen häufig so trivial sind, daß sie nicht eigens erwähnt zu werden bedürfen, so wird die Parallele zu Hempels Konzept des explanation sketch geradezu überdeutlich. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Hempel umgekehrt keineswegs davon ausgeht, daß der Handelnde selbst durch allgemeine Gesetzmäßigkeiten bestimmt wird, sondern lediglich argumentiert, daß sich der Forscher zur Rekonstruktion von Handlungen auf Gesetzesaussagen stützen muß. Damit zeigt sich, daß die Annäherung van Wrights an Hempel durchaus nicht peripher ist. Da sie aber nicht explizit erfolgt, bleibt die entscheidende Frage nach ihrer Möglichkeit und Begründung offen. Das Interesse an dieser Frage verstärkt sich noch durch den Umstand, daß Hempel, zumindest seiner Intention nach, von einem Begriff des Handelns ausgeht, der dasselbe nicht auf Zweckrationalität reduziert und damit diffezierter ist als derjenige van Wrights. Es wird daher im weiteren zu untersuchen sein, ob Gesetzesaussagen für den Bereich menschlicher Praxis als mit einem nicht-deterministischen Handlungsbegriff vereinbar gedacht werden können. Die Erörterungen van Wrights führen aber nicht nur hinsichtlich der Abgrenzung vom Subsumtionsmodell in Probleme, sondern ebenso hinsichtlich der beanspruchten Nähe zur Hermeneutik. Van Wright will ja mit seinem Buch „Erklären und Verstehen" eine Weiterführung der Hermeneutik, insbesondere ihrer antipositivistischen Intention, leisten. Dabei ist für ihn die Überlegung maßgeblich, daß die traditionelle Hermeneutik diese Intention nicht ausreichend methodologisch umgesetzt habe. Er sieht daher seine Aufgabe darin, die Hermeneutik mit den Mitteln der analytischen Philosophie methodologisch zu präzisieren, und betont in diesem Sinne, „daß der praktische Syllogismus eine seit langem bestehende methodologische Lücke der Humanwissenschaften schließt"69).
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Im Zuge der Rezeption des Buches stimmen Vertreter ganz unterschiedlicher philosophischer Positionen, wie Stegmüller und Apel, darin überein, van Wright diese Weiterführung der Hermeneutik anerkennend zu attestieren. So schlägt Stegmüller im Anschluß an seine Darlegung, daß der praktische Syllogismus als Alternative zum Subsumtionsmodell unhaltbar sei, eine andere Interpretationsvariante vor, in der dieser als Schema für eine „intentionale Tiefenanalyse" aufgefaßt wird. Er schreibt: „Schließlich kann man das, was die intentionale Tiefenanalyse liefert, die Gewinnung eines intentionalen Verständnisses einer Handlung nennen. ,Verstehen' und ,Erklären' werden dadurch tatsächlich miteinander in Einklang gebracht." 70 ) Apel stützt seine diesbezüglichen Überlegungen vor allem auf die zitierte Bemerkung van Wrights, daß der praktische Syllogismus primär in der ersten Person zu lesen sei. Dabei stellt auch er zunächst fest, daß van Wright auf eine andere Fragestellung Bezug nimmt als Hempel. Demnach sei das von ihm vorgeschlagene Schlußschema „eine Alternative nicht im Sinne einer anderen Antwort auf die von Hempel unterstellte WarumFrage, sondern im Sinne einer Antwort auf eine andere Warum-Frage", nämlich auf die Frage „Warum soll ich jetzt A tun?" 71 ). Apel fragt nicht, ob van Wright von dieser Voraussetzung her überhaupt auf eine Widerlegung des Subsumtionsmodells abzielen kann — vermutlich weil letzteres für ihn auf einen deterministischen Begriff des Menschen hinausläuft und damit als Theorie der Auseinandersetzung mit Handlungen von vorneherein ausscheidet, worauf noch im einzelnen einzugehen sein wird. Er sieht das Anliegen van Wrights vielmehr als einen Versuch, die Methode der Humanwissenschaften mit Rücksicht auf die Besonderheit ihrer Erkenntnis-,, Objekte" zu bestimmen, mit Rücksicht darauf also, daß man diese „nicht nur von außen beobachten und eventuell durch Handlungen manipulieren kann,sondern mit denen als virtuellen Ko-Subjekten der Erkenntnis und des Handelns man sich über gute und schlechte
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Gründe des Handelns verständigen kann, ja verständigen muß" 72 ). Apel fügt allerdings einschränkend hinzu, daß van Wright diesem Programm nur teilweise gerecht wird, insofern der praktische Schluß bloß für den Bereich der Zweckmäßigkeit und nicht für den „einer auf Zwecksetzungen bezogenen ethischen Vernunft" relevant ist73). Demgemäß sei die Warum-Frage, auf die sich das Schlußschema van Wrights bezieht, genaugenommen lediglich die: „Warum ist es für Α (zweck-) rational, jetzt a zu tun?" 74 ) Mit dieser einen Einschränkung bedeutet der Ansatz van Wrights also für Apel eine sinngemäße Rekonstruktion des Verstehensbegriffs der hermeneutischen Tradition: „Die positive Leistung dieser Erkenntnisform liegt . . . darin, eine bestimmte Handlung . . . als eine auch für den Erkennenden selbst unter entsprechenden Willens- und Überzeugungsvoraussetzungen sich verbindlich nahelegende Handlung gewissermaßen von innen verständlich zu machen." 75 ) Probleme sieht Apel erst mit Bezug auf die Frage, ob van Wright mit dem Übergang von der Perspektive der ersten Person zu derjenigen der dritten nicht doch in „eine theoretische Erklärung dessen, was geschieht bzw. geschehen muß", zurückfällt 76 ). Hier ist aber einzuwenden, daß, schon ehe sich diese Frage erhebt, das von van Wright postulierte Naheverhältnis zur Hermeneutik als solches problematisch ist. Für Apel wie für Stegmüller gilt, daß die diesbezüglichen Passagen in van Wrights Buch wohlwollend überinterpretiert zu werden scheinen. Gewiß kommen im Zuge der Auslegung auch die einzelnen Momente von Entscheidungsprozessen zur Sprache, sodaß es gerechtfertigt ist, im Rahmen einer Theorie der Auslegung die Logik der Entscheidung zu thematisieren. Doch das eigentliche Interesse der Auslegung ist auf die Motive gerichtet bzw. auf deren Bedeutung im Gesamtkontext der geschichtlichen Situation. Demgemäß hat die Hermeneutik, wie sich gezeigt hat, ihr zentrales Thema in der Theorie der wechselseitigen Bestimmung von Einzelmotiven und historischem Zusammenhang. Ist nun aber
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die Hermeneutik vorzüglich mit der Struktur dieses Vorgehens, die gewöhnlich als hermeneutischer Zirkel bezeichnet wird, befaßt und nicht mit der Struktur des Handelns, so bedeutet dies, daß sie durch den praktischen Syllogismus keinesfalls präzisiert werden kann, das heißt, auch dann nicht, wenn es gelänge, diesen unter Vermeidung der genannten Schwierigkeiten zu reformulieren. In Verbindung mit ihrem Zentralthema ergibt sich für die Hermeneutik, wie gesagt, die weitere Aufgabe, die geschichtlich bedingte Fremdheit, die bei aller grundsätzlichen Identität zwischen dem Subjekt und dem „Objekt" der humanwissenschaftlichen Forschung besteht, zu reflektieren und auf ihre Konsequenzen für die Auslegung hin zu untersuchen. So kann das „Sich-gleichzeitig-Machen" des Forschers mit der von ihm untersuchten Vergangenheit höchstens als ein Postulat formuliert werden — bei van Wright erscheint es dagegen als eine Voraussetzung der Humanwissenschaften, die so selbstverständlich ist, daß sie keiner besonderen Erörterung bedarf. Hier zeigt sich nun, wie weitreichend die Konzequenzen des reduktionistischen Handlungsbegriffs van Wrights sind. Da die Motivation aus dem praktischen Syllogismus ausgeklammert bleibt, kann keines der beiden klassischen Themen der Hermeneutik in van Wrights Ansatz weitergeführt oder auch nur zur Sprache gebracht werden. Ebensowenig können die weiteren, von der Hermeneutik ausgehenden Fragen adäquat exponiert werden, wie ζ. B. diejenige nach der Rolle wertender Beurteilungen im Rahmen der Humanwissenschaften (vgl. Kap. IV, 3). Die Ausblendung der Motivation bedeutet, daß van Wright die Erkenntnisobjekte der Humanwissenschaften gerade nicht als „virtuelle Ko-Subjekte", mit denen „man sich über gute und schlechte Gründe des Handelns verständigen kann" 77 ), ernstnimmt. Auf die Logik der Zweckrationalität beschränkt, provozieren sie keine praktischen Urteile, so daß sich die Frage der Wertung für van Wright als ein schlichtes Mißverständnis darstellt 78 ). Die wohlwollende Unterstellung Apels ist ledig-
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lieh geeignet, die grundsätzliche Problematik des Ansatzes van Wrights zu überspielen. Apel kann denn auch die Distanzierung des Wertungsproblems durch van Wright nur als „erstaunlich" kommentieren 79 ). Bei all diesen gravierenden Schwierigkeiten bleibt jedoch das van Wright so vielfach entgegengebrachte Interesse dennoch gerechtfertigt. Das Programm, die analytische Philosophie der Humanwissenschaften an die Tradition der Hermeneutik anzubinden, verdient als solches Beachtung. Im weiteren gilt es daher, die Legitimität und Notwendigkeit dieses Programms über die Argumentation van Wrights hinausgehend zu untersuchen. Dabei sind zunächst jene Einwände näher zu betrachten, die von selten der Vertreter des einheitswissenschaftlichen Konzepts gegen den hermeneutischen Ansatz gewöhnlich vorgebracht werden.
6 . T H E OPERATION CALLED " V E R S T E H E N "
Hempel hat schon in seinem Aufsatz von 1942 auf diesen Ansatz Bezug genommen und zu zeigen versucht, daß eine Zweiteilung der Methoden ungerechtfertigt ist. „This method of empathy is, no doubt, frequently applied by laymen and by experts in history. But it does not in itself constitute an explanation; it rather is essentially a heuristic device; it's function is to suggest certain psychological hypotheses which might serve as explanatory principles in the case under consideration . . . but it's use does not guarantee the soundness of the historical explanation to which it leads. The latter rather depends upon the factual correctness of the empirical generalizations which the method of understanding may have suggested." 80 ) Diese Argumentationsweise findet sich seither in der Literatur immer wieder, aber meist unter Bezugnahme auf den später erschienenen Artikel Theodore Abels „The Operation called 'Verstehen'" 81 ). Abel entwickelt seine Überlegungen zur Verstehens-Problematik im Anschluß an drei Beispiele, von denen vor allem das
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erste in die allgemeine Diskussion aufgenommen worden ist: „Case 1. — Last April 15 a freezing spell suddenly set in, causing a temperature drop from 60 to 34 degrees. I saw my neighbor rise from his desk by the window, walk to the woodshed, pick up an ax, and chop some wood. I then observed him carrying the wood into the house and placing it in the fireplace. After he had lighted the wood, he sat down at his desk and resumed his daily task of writing. From the observations I concluded that, while working, my neighbor began to feel chilly and, in order to get warm, lighted a fire. This conclusion has all the earmarks of an ,obvious fact'. Yet it is obvious only because I have fitted the action of my neighbor into a sequential pattern by assuming that the stimulus ,drop in temperature' induced the response ,making a fire'. Since I recognize a relevant connection between the response and the stimulus, I state that I understand the behavior of my neighbor." 82 ) Abel analysiert dieses Beispiel dahingehend, daß zunächst die aus der Beobachtung gegebenen Daten, nämlich das Sinken der Temperatur von 60 auf 34 Grad Fahrenheit einerseits und die Verrichtungen des Nachbarn andererseits, internalisiert werden. So wird es möglich, eine aus der persönlichen Erfahrung gewonnene Generalisierung, als „behavior maxim" bezeichnet, auf sie anzuwenden. Im vorliegenden Fall etwa den Satz „A person feeling cold will seek warmth" 8 3 ). Dadurch wird zwischen den beobachteten Fakten die Relation von „stimulus" und „response" hergestellt. „Thus we ,understand' a given human action if we can apply to it a generalization based upon personal experience." 84 ) Im Anschluß an diese Analyse führt Abel aus, warum das so beschriebene Verstehen seiner Meinung nach keinen Anspruch auf Erkenntnis erheben könne. Er betont, daß das Ergebnis dieses Prozesses lediglich den Charakter einer Hypothese habe. Dabei sieht er nicht die „behavior maxim" als solche als hypothetisch, sondern ihre Anwendung auf die beobachteten Daten. Mittels dieser Applikation könne nicht mehr ausgesagt werden, als worin die Re-
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lation möglicherweise besteht. „When we say we understand' a connection, we imply nothing more than recognizing it as a possible one . . . But from the affirmation of a possible connection we cannot conclude that it is also probable. From the point of view of ,Verstehen' alone any connection that is possible is equally certain. In any given case the test of the actual probability calls for the application of objective methods of observation; e. g. experiments, comparative studies, statistical operations of mass data, etc." 85 ) Damit gelangt auch Abel zu dem Ergebnis Hempels, daß das Verstehen keine wissenschaftliche Methode ist, sondern nur eine heuristische Funktion erfüllt. Doch selbst die Heuristik kann sich seiner Meinung nach nicht auf das Verstehen beschränken, weil dieses nur die Reichweite der persönlichen Erfahrung umfaßt. „Since the operation consists of the application of knowledge we already possess, it cannot serve as a means of discovery. At best it can only confirm what we already know." 86 ) An dieser Argumentation springt ins Auge, daß Abels Verstehensbegriff in mehrfacher Hinsicht von demjenigen der hermeneutischen Tradition abweicht. Abel läßt vor allem unberücksichtigt, daß mit diesem Begriff primär die spezifische Zugangsweise des Menschen zu einem bestimmten Wirklichkeitsbereich bezeichnet wurde. So bleibt ihm auch verborgen, daß er selbst Verstehen in diesem Sinn auf Schritt und Tritt voraussetzt. Schon wenn er die erste Aneignung der verfügbaren Daten als den Prozeß einer Internalisierung beschreibt, nimmt er stillschweigend die Differenz von zwei verschiedenen Auffassungsweisen, nämlich Beobachtung und Internalisierung, an. Und wo es um die Überprüfung der Erklärungshypothese geht, macht er sich, ohne es zu merken, das Spezifische der hermeneutischen Relation geradezu zunutze. Seine Erläuterung zum Beispiel vom einheizenden Nachbarn zeigt dies deutlich: „To be sure my explanation is correct, I need additional information. I can go over to him and ask him why he lighted the fire." 87 ) Eine solche Überprüfung der Erklärungshypothese bedient sich des von der Hermeneutik angesprochenen Unterschieds, daß der
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Handelnde, dessen Motivation ergründet werden soll, nicht bloß Gegenstand der Beobachtung, sondern auch Gesprächspartner sein kann. Da Abel dies aber nicht reflektiert, entsteht die paradoxe Situation, daß er die Unterscheidung der Hermeneutik in ihr genaues Gegenteil verkehrt. Er spricht von Verstehen, w o noch kein Gespräch geführt wird, und sieht das Gespräch als den entscheidenden Schritt über das Verstehen hinaus. Auch für die Handlungserklärung selbst ist Verstehen als eine besondere Zugangsweise vorausgesetzt, und auch davon nimmt Abel keine Notiz. Hier ist darauf aufmerksam zu machen, daß Abels Versuch, Handlungen nach dem Schema von „stimulus" und „response" und damit als subsumierbar unter allgemeine Gesetze zu denken, nicht nur hinsichtlich seiner Berechtigung in alle jene Fragen führt, die bereits mit Bezug auf Hempel geäußert wurden, sondern daß er auch das immanente Problem aufweist, seine eigenen Voraussetzungen zu leugnen. Wenn Abel nämlich die wissenschaftliche Erklärung einer Handlung dadurch kennzeichnet, daß die Handlung auf ein bestimmtes, durch Uberprüfung belegtes Motiv zurückgeführt wird, so setzt er dabei die besondere Kompetenz voraus, menschliche Verhaltensweisen als Ausdruck von Intentionen aufzufassen. N u r aufgrund dieser Kompetenz kann eine Handlung überhaupt auf ein bestimmtes Motiv bezogen werden, so wie die Bedeutung eines unbekannten Wortes nur deshalb erläutert werden kann, weil Worte grundsätzlich als Vermittlung von Bedeutungen aufgefaßt werden. — Das Versäumnis, sich über diese Voraussetzung Rechenschaft abzulegen, wird auch von Apel kritisiert, nicht nur an Abel, sondern an den Vertretern der einheitswissenschaftlichen Theorie insgesamt. In seinem vielfach wiederabgedruckten Artikel „Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik", auf den noch genauer einzugehen sein wird, setzt er sich mit dem Phänomen auseinander, „daß der Begriff des Motives einer Handlung von Positivisten immer wieder mit dem der Ursache eines Vorgangs gleichgesetzt wird" 8 8 ), und führt es darauf zurück, daß im Szientismus nicht
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zur Kenntnis genommen wird, daß den Handlungswissenschaften ein besonderer Gegenstandsbereich zukommt, nämlich „die verstehbaren menschlichen Verhaltensreaktionen, als sprachbezogene, intentionale Gebilde" 89 ), der das Sinnverstehen als eine spezifische Zugangsweise möglich und notwendig macht. Und so bemerkt Apel ganz im Sinne des hier eben gegen Abel geäußerten Einwands: „Dabei muß doch das Motiv, bevor es als Ursache vergegenständlicht werden konnte, in einer gänzlich anderen Einstellung seinem Sinngehalt nach verstanden worden sein." 90 ) Abel läßt aber auch noch ein anderes, zentrales Motiv der hermeneutischen Tradition unberücksichtigt. Indem die Operation, die er Verstehen nennt, nicht mehr ist als ein erster, aus der persönlichen Erfahrung entspringender Impuls zur Rekonstruktion einer Handlung, so daß sie die eigentlich wissenschaftliche, kontrollierte Rekonstruktion grundsätzlich nicht leisten kann, bleibt die wesentliche Bestimmung der Auslegung, die in der hermeneutischen Tradition durchgängig anzutreffen ist, ausgeblendet. Hier ist an das in der Auseinandersetzung mit Achams Einwänden gegen Dilthey Gesagte zu erinnern. Das geisteswissenschaftliche Verstehen umfaßt bei Dilthey ebenso wie schon bei Schleiermacher neben der Divination das komparative Element, d. h. den Prozeß der kontrollierten und kontrollierbaren Auslegung. Abel kann also seine Forderung, daß die auf der Basis persönlicher Erfahrungen hergestellte Relation erst noch zu überprüfen ist, nur unter der Bedingung als Einwand gegen die Hermeneutik auffassen, daß das Konzept des kunstmäßigen Verstehens verleugnet wird. Abel hat in seine Bestimmung des Verstehens aber auch diejenige der Divination nicht vollständig aufgenommen. Wenn er argumentiert, das Verstehen könne „only confirm what we already know", und damit, wie bereits gezeigt wurde, den Gedanken der Erschließung von Fremdem unberücksichtigt läßt, so heißt das, daß er auch das Konzept der Divination um ein entscheidendes Motiv verkürzt. So ist zusammenfassend festzustellen, daß Abels Reflexionen von einem Verstehensbegriff
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ausgehen, der durch eine mehrfache Reduktion des Verstehensbegriffs der hermeneutischen Tradition (bzw. des bei allen immanenten Differenzen gemeinsamen Konzepts dieser Tradition) gekennzeichnet ist. Dies hat zur Folge, daß die durch den Titel seines Aufsatzes geweckten Erwartungen enttäuscht werden: Abel gelangt gar nicht dazu, seine eigene Position mit der Hermeneutik zu konfrontieren, geschweige denn als deren Widerlegung zu erweisen. Umso erstaunlicher ist es, daß sein Aufsatz in der internationalen Diskussion durchwegs als die Widerlegung der Hermeneutik aufgefaßt wurde 91 ). Die unkritische Tradierung dieser ungenauen Rezeption verhinderte bisher die Einsicht in die Begrenztheit des von Abel kritisierten Verstehens. Damit verhinderte sie aber auch die eigentlich naheliegendste Fragestellung, nämlich die nach dem tatsächlichen Verhältnis der Position Abels (bzw. Hempels) zur Hermeneutik. Wenn Abel, wie sich gezeigt hat, dieselbe gar nicht zur Kenntnis nimmt, und daher auch nicht widerlegt, so ist es nicht ausgeschlossen, daß die beiden Positionen zumindest partiell kompatibel sind. Die erwähnte Parallelität der Überlegungen Abels und Diltheys läßt dies sogar vermuten. In diesem Zusammenhang darf aber der eigentliche Kern des Abelschen Verstehensbegriffs nicht außer acht gelassen werden, der bisher ebenfalls weitgehend unbemerkt blieb: Die Operation, die Abel Verstehen nennt, ist selbst schon vom Modell der Erklärung her bestimmt. Die Verbindung des internalisierten „stimulus" mit dem internalisierten „response" im Rückbezug auf eine aus Erfahrung gewonnene Generalisierung, die „behavior maxim", hat die Struktur der Erklärung. Auf diese Problematik wird noch zurückzukommen sein. Am Rande sei bemerkt, daß diese ungenaue Rezeption Abels wie auch Abels eigene mangelhafte Rezeption der Hermeneutik Beispiele eines allgemeineren Zeitphänomens sind. Immer wieder stößt man darauf, daß gewisse kontroversielle Positionen, die leicht als Scheinalternativen zu durchschauen wären, in der internationalen Diskussion mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit perpetuiert werden, die darauf zurückzuführen ist, daß
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die einzelnen Partizipanten die Überlegungen aller übrigen nicht genau genug verfolgen — und daß damit der Blick auf die eigentlichen Alternativen verstellt wird. Dieses Phänomen ist vermutlich dem die moderne Wissenschaftsorganisation kennzeichnenden Produktionsdruck zuzuschreiben, den schon Nietzsche in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung problematisiert hat: „Wollt ihr die Wissenschaft möglichst schnell fördern, so werdet ihr sie auch möglichst schnell vernichten; wie euch die Henne zugrunde geht, die ihr künstlich zum allzu schnellen Eierlegen zwingt." 92 )
7 . D I E KOMPLEMENTARITÄT VON ERKLÄREN BEI
UND
VERSTEHEN
APEL
Mit Rücksicht auf den bisherigen Duktus der vorliegenden Untersuchung ist hier fürs erste festzuhalten, daß die von Hempel und Abel vorgelegten Argumente nicht zu widerlegen vermögen, daß die mit menschlichen Sinnäußerungen in Sprache und Handlung befaßten Wissenschaften im Verstehen als einer spezifischen Zugangsweise ihre Basis haben. Bedeutet das nun, daß ein Dualismus der Methoden anzunehmen ist? Die Erörterung dieser Frage kann nicht an dem bereits erwähnten Aufsatz Apels vorbeigehen — nicht nur, weil Apel darin die alte Zweiteilung gegenüber dem Szientismus als berechtigt annimmt, sondern vor allem, weil er versucht, sie in einer neuen, dreigliedrigen Wissenschaftstypologie aufzuheben. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der neopositivistischen Wissenschaftstheorie fordert Apel zunächst, wie sich gezeigt hat, eine Rückbesinnung auf die traditionelle Unterscheidung zweier Grundtypen von Gegenstandsbereichen, nämlich „von innen verständliche ,Objektivationen des Geistes' (Hegel—Dilthey) einerseits, von außen erklärbare ,Naturvorgänge' andererseits" 93 ). Es erscheint ihm allerdings als geboten, ein Motiv der sprachanalytischen Philosophie in diese Unterscheidung miteinzubeziehen. „Heute, wo das positivistische Programm der ,Einheitswissenschaft' in sprachanalytischer Formu-
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lierung auftritt (um nicht als metaphysische Reduktionstheorie zu erscheinen!), hat die philosophische ,Hermeneutik' allen Anlaß, ebenfalls diese neue Argumentationsbasis zu akzeptieren." 94 ) Daher ist für Apel die traditionelle Unterscheidung neu zu formulieren bzw. zu „konkretisieren . . . durch die Unterscheidung solcher ,Gegenstände', mit denen der Erkennende in sprachliche Kommunikation treten kann, und solcher, mit denen keine Kommunikation möglich ist" 9 5 ). Damit greift Apel auch die traditionelle Unterscheidung zweier grundsätzlich verschiedener Methodentypen wieder auf und führt sie weiter. Wenn es hieß, „daß die ,Geisteswissenschaften' das Leben als Ausdruck eines Inneren ,verstehen', während die Naturwissenschaften die unverständliche ,Kulisse des Lebens' (Dilthey) von außen beschreiben' und nach induktiv gewonnenen Gesetzen ,erklären'", so behält Apel diese Typologie im grundsätzlichen bei, indem er argumentiert: „Die an ,stumme' Gegenstände herangetragenen Verhaltenserklärungen können nur durch Beobachtungen verifiziert werden, die hermeneutischen ,Hypothesen' des Verstehens dagegen werden primär durch die Antworten der Kommunikationspartner verifiziert. — Auch ,Texte' können ,antworten'!" 9 6 ) Diese Überlegung läuft darauf hinaus, daß nicht nur „beschreibende" und „erklärende" Wissenschaften unter der Voraussetzung der Subjekt-Objekt- Relation, sondern auch „,Verständigungswissenschaften' unter der Voraussetzung der Intersubjektivitätsrelation möglich, ja notwendig sind" 9 7 ). Diese letzte Wendung erlaubt Apel noch einen weiteren Schritt über die einheitswissenschaftliche Position hinaus. Wird das Verstehen auf die Intersubjektivitätsrelation zurückgeführt, so bedeutet das, daß es nicht auf eine bestimmte wissenschaftliche Vorgangsweise beschränkt bleibt, sondern dem Gespräch überhaupt zukommt. Daraus ergibt sich für Apel, daß das Verstehen nicht nur für die „Verständigungswissenschaften" relevant ist, sondern ebenso für die „erklärenden" Wissenschaften. Er verweist darauf, daß auch die in diesen Disziplinen arbeitenden Forscher sich auf eine nicht erklärende Weise mitein-
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ander verständigen. „Ein Naturwissenschaftler kann nicht (als solus ipse) etwas für sich allein erklären wollen. Um auch nur zu wissen, ,was' er erklären soll, muß er sich darüber mit anderen verständigt haben. Der Experimentiergemeinschaft der Naturforscher entspricht stets eine semiotische Interpretationsgemeinschaft." 98 ) Diesen Zusammenhang vor Augen, spricht Apel von der Komplementarität von Szientistik und Hermeneutik und erläutert: „Nun kann diese Verständigung in der Ebene der Intersubjektivität, eben weil sie die Bedingung der Möglichkeit der objektiven Wissenschaft (der science) ist, niemals durch ein Verfahren der objektiven Wissenschaft ersetzt werden; und hier stoßen wir auf die absolute Grenze jedes Programms objektiv-erklärender Wissenschaft." 99 ) Was die Wissenschaftstheorie im engeren Sinn betrifft, argumentiert Apel also, daß mit Bezug auf einen Gegenstandsbereich, der sprachlicher Natur (im weitesten Sinn des Wortes) ist, mit dem man daher eine kommunikative Relation aufnehmen kann, erklärende Methoden prinzipiell unangebracht sind, und unterscheidet deshalb zunächst zwei verschiedene Wissenschaftstypen. Diese der klassischen Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften folgende Unterscheidung erfaßt aber seiner Meinung nach noch nicht alle möglichen Wissenschaftstypen. Ihre Erweiterungsbedürftigkeit ergibt sich für ihn aus der Beobachtung, daß die Menschen beide der unterschiedenen Gegenstandsbereiche repräsentieren. Apel ist überzeugt, daß die Menschen nicht nur sprachlich und insofern Kommunikationspartner, sondern partiell auch „stumm" und insofern Gegenstand der Beobachtung und Erklärung sind. Daraus folgt, daß den Menschen nicht nur auf verstehende Weise zu begegnen ist, sondern daß an Teilbereiche des Menschlichen mit erklärenden Methoden herangegangen werden kann bzw. muß. So resultiert die Forderung nach einem dritten Wissenschaftstypus, in dem beide Grundformen wissenschaftlicher Methodik miteinander verbunden sind. Wie schon im Titel seines Aufsatzes zum Ausdruck kommt, wählt Apel die Bezeichnung Ideologiekritik für diesen dritten Typus.
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Die Menschen repräsentieren für Apel insofern den Bereich des Nichtsprachlichen, als sie in Zusammenhänge eingebunden sind, die sie nicht durchschauen und daher nicht thematisieren können. Er denkt dabei insbesondere an soziale und ökonomische Zusammenhänge und ist überzeugt, daß in ihnen „die nichtverstehbare Naturgeschichte — vorerst noch immer — sich fortsetzt" 1 0 0 ). Mit Bezug auf diese Zusammenhänge erscheinen ihm daher Aussagen gerechtfertigt, die „durchaus wie von außen an den Gegenstand herangetragene Kausalerklärungen nach Gesetzen funktionieren" 101 ), die also in „quasi-objektiven Erkenntnisleistungen" ihr Ziel haben 1 0 2 ). Eine Bestätigung für diese Überlegung sieht er darin, daß solche Verhaltensanalysen „ — genau wie das prognostisch relevante Wissen der Naturwissenschaft — eine theoretische Herrschaft über ihren Gegenstand ermöglichen" 103 ). Apel betont allerdings, daß die Übereinstimmung mit der Naturwissenschaft deutlich limitiert ist, weil die „menschlichen Objekte" zu einer „Reaktion" befähigt sind, „welche der Verhaltens-,Erklärung' ein neuartiges Verhalten entgegensetzt" 104 ). Um dieser Limitierung auch sprachlich Rechnung zu tragen, entschied er sich für den etwas ungewöhnlichen Terminus „quasi-objektiv". Sind die Menschen auf diese Weise sich selbst nicht bzw. noch nicht transparent, so bedeutet das für Apel, daß in ihrer Sprache und in ihren Handlungen nicht nur ihre Intentionen zum Ausdruck kommen, sondern auch „der dunkle Einschlag des Nichtintendierten und noch nicht Intendierbaren" 105 ). Alle menschlichen Lebensäußerungen sind für ihn durch „das Ineinander von Sinn und Unsinn, intendierter Handlungen und naturhaft determinierter Reaktionen" gekennzeichnet 106 ). Daher kann eine nur auf der Gesprächsbeziehung fußende wissenschaftliche Methodik grundsätzlich nicht ausreichen, um das Leben der Vergangenheit adäquat zu erfassen. Apel schließt sich in diesem Zusammenhang der Überlegung Gadamers an, „daß die Leitidee der klassischen Hermeneutik: das Sich-gleichzeitig-Machen und schließlich Sich-Identifizieren mit dem Autor der zu verstehenden Texte Illusion bleiben muß" 1 0 7 ), wenn9
Nagl-Docekal
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gleich er bei Gadamer die Reflexion auf den Grund für diese Grenze der Hermeneutik vermißt. „Wären die Menschen sich selbst durchsichtig in ihren Intentionen, so wären nur zwei komplementäre Erkenntnisinteressen gerechtfertigt: das szientifische Interesse an der technisch relevanten Erkenntnis der Natur und das hermeneutische Interesse an der intersubjektiven Verständigung über mögliche Sinnmotivationen des Lebens. Aber die Menschen haben bis jetzt weder ihre politisch-soziale Geschichte ,gemacht', noch sind ihre sogenannten geistigen Überzeugungen, wie sie in sprachlichen Dokumenten niedergelegt sind, reiner Ausdruck ihrer geistigen ,Intentionen'. Alle Resultate ihrer Intentionen sind zugleich Resultate der faktischen Lebensformen, die sie bislang nicht in ihr Selbstverständnis aufnehmen konnten. An diesem dunklen Einschlag der sich in der menschlichen Geistesgeschichte fortsetzenden Naturgeschichte des Menschen scheitern — so scheint mir — die Bemühungen der hermeneutischen Identifikation, insbesondere mit den Autoren räumlich und zeitlich entfernter Kulturen." 108 ) Auf der Basis dieser Überlegungen führt Apel aus, daß der Historiker ganz verschiedene Zugangsweisen zu seinem Forschungsobjekt wählen kann. Die eine Möglichkeit ist die, daß er „die Menschen als Subjekte ihrer Handlungen und Meinungen völlig ernst nimmt; wenn er ζ. B. die Frage nach den Ursachen eines Krieges nur anhand der hinterlassenen Äußerungen der verantwortlichen Politiker über ihre Beweggründe zu beantworten sucht" 1 0 9 ). Dabei bleibt aber nach Apel vieles unberücksichtigt, was mit zur historischen Realität gehört, deshalb ist „auch der umgekehrte Fall denkbar: daß das Verständnis der Gründe durch eine Analyse von objektiv wirksamen Faktoren, die den verantwortlich Handelnden überhaupt nicht als Sinnmotive bewußt wurden, methodisch vermittelt wird. Etwas Derartiges hat ζ. B. für die Aufklärung der Ursachen des Ersten Weltkrieges das Buch von Hallgarten über die weltwirtschaftliche Situation des Imperialismus geleistet. Hier werden die offiziellen Beweggründe der Politiker gewissermaßen ignoriert und statt dessen die nachweisbaren Bedürfnisse der an Absatz-
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märkten interessierten Großindustrie als Kausalfaktoren eingesetzt."110) Dieser Ausführung gegenüber erheben sich eine Reihe von Fragen, die nicht nur das von Apel gewählte Beispiel, sondern auch die dahinterstehende Konzeption betreffen. Aber es erscheint zweckmäßig, zuerst den weiteren Überlegungen Apels nachzugehen, um seine Konzeption in allen wesentlichen Momenten vor Augen zu haben, und erst dann ihre Konsequenz für die Theorie der Historie zu untersuchen. Es ist vor allem zu betrachten, wie Apel sich, von der referierten Argumentation ausgehend, die Verbindung der beiden bisher getrennten Wissenschaftsmodelle zur Ideologiekritik vorstellt. In einem Gedankengang, den Habermas ziemlich genau übernommen hat, zieht er die Psychotherapie als Paradigma einer solchen Kombination von Erklären und Verstehen heran. Dabei ist für ihn maßgeblich, daß der Therapeut sich zunächst auf zwei getrennten Ebenen bewegt, indem er einerseits ein Gespräch mit seinem Patienten führt, andererseits aber dieses Gespräch „partiell suspendiert" und das Gesagte in „objektiv distanzierender Erkenntnishaltung" 111 ) in einer Sprache interpretiert, an der der Patient nicht teilhat — und daß er im Anschluß daran die beiden Ebenen miteinander vermittelt, indem er die objektive Verhaltenserklärung ins Gespräch einbringt, und so dem Patienten „ein vertieftes Selbstverständnis"112) ermöglicht. „Der Arzt erkennt mit Hilfe der psychoanalytischen Theoriebildung 1. die quasi-naturhafte, erklärbare und sogar voraussagbare Wirkungsweise verdrängter Sinnmotive; insofern macht er den Patienten zum Objekt. 2. Zugleich aber sucht er den nur erklärbaren kausalen Zwang aufzuheben, indem er den Sinn der verdrängten Motive versteht und den Patienten kommunikativ provoziert, diese Sinndeutung zu einer Revision seines autobiographischen Selbstverständnisses zu verwenden." 113 ) Für die weitere Diskussion dieses Konzepts ist nicht unwesentlich, daß für Apel die Psychotherapie im wesentlichen eine explizite Entfaltung jener Momente darstellt, die sich 9'
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bereits in jedem Alltagsgespräch nachweisen lassen. „In jedem Gespräch zwischen Menschen kommt es vor, daß der eine nicht mehr versucht, den anderen in seinen Intentionen hermeneutisch ernst zu nehmen, sondern ihn als ein Quasi-Naturereignis objektiv zu distanzieren, wo er nicht mehr versucht, die Einheit der Sprache in der Kommunikation herzustellen, sondern vielmehr das, was der andere sagt, als Symptom objektiver Tatbestände zu werten, die er von außen, in einer Sprache, an der der Partner nicht teilnimmt, zu erklären vermag." 114 ) Die Ideologiekritik, deren Etablierung Apel fordert, soll analog zur Psychotherapie verschiedene Ebenen des Wissens miteinander verbinden und dadurch ein vertieftes Selbstverständnis befördern. Die Funktion des Arztes fällt dabei dem Geschichtsphilosophen zu, der die „Vermittlung der sozialwissenschaftlichen ,Erklärung' und des historisch-hermeneutischen ,Verstehens' der Sinntraditionen" 115 ) zu leisten hat. Als Adressat dieser Bemühungen ist nicht ein Kreis von individuellen Patienten, sondern die menschliche Gesellschaft als ganze gedacht, so daß Apel die Ideologiekritik „als ,Psychoanalyse' der menschlichen Sozialgeschichte und als ,Psychotherapie' der aktuellen Krisen des menschlichen Handelns" 116 ) bezeichnen kann. Der emanzipatorische Impuls dieses Unterfangens liegt damit in der „Herausforderung an alle . . ., durch Selbstbesinnung kausal erklärbare Verhaltensweisen in verstehbares Handeln zu transformieren" 117 ), und ist auf die „,Aufhebung' der vernunftlosen Momente unseres geschichtlichen Daseins"118) ausgerichtet. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, ob Apel in dieser Argumentation der Psychotherapie und ihren verschiedenen Ausprägungen gerecht wird. Ebenso ist die Erörterung des Problems der emanzipatorischen Relevanz der von Apel vorgeschlagenen Vermittlung sozialwissenschaftlicher und hermeneutischer Methoden zurückzustellen, denn für den vorliegenden Zusammenhang ist vor allem interessant, wie diese Vermittlung im einzelnen zu denken ist. So gilt es zunächst, darauf einzugehen, daß Apel die Ideologiekritik dem Aufgabenbereich der
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Geschichtsphilosophie zuordnet. Nicht der Historiker, sondern der „Geschichtsphilosoph . . der das Historismus-Problem auflösen will" 1 1 9 ), ist es, der sich genötigt sieht, auf beide Methodentypen zurückzugreifen. „Dies tut er faktisch, wenn er nicht nur die Resultate der hermeneutischen Methoden der sogenannten ,Geisteswissenschaften', sondern gleichzeitig die objektiven Strukturanalysen der empirischen Sozialwissenschaften zur Erklärung etwa der nicht literarisch belegbaren Interessen-Konstellationen in der politischen und auch der Ideengeschichte heranzieht." 120 ) Diese Argumentation impliziert die These, daß die Historie auf die Rezeption geäußerter Intentionen beschränkt und daher dem Historismus grundsätzlich verpflichtet bleibt, während eine Überwindung desselben nur der Geschichtsphilosophie in der Vereinigung der Resultate verschiedener methodischer Vorgangsweisen möglich ist. Gegen eine solche Unterscheidung von Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie erheben sich aber von beiden Wissenschaften her Einwände. Zum einen zeigt die neuere Entwicklung der Historie eine Einbeziehung diverser sozialwissenschaftlicher Methoden ebenso wie eine verstärkte Zusammenarbeit mit Disziplinen wie Soziologie und Ökonomie. Apel bringt im übrigen mit dem Beispiel Hallgartens selbst einen Beleg dafür (ohne allerdings anzugeben, wie er dies mit seinem engen Begriff von Geisteswissenschaft vereinbaren kann. Streng genommen, müßte er Hallgarten entgegen dessen Selbstverständnis nicht der Historie, sondern den Sozialwissenschaften zuzählen). Es erhebt sich so die Frage, worin eine dem Vorschlag Apels entsprechende ideologiekritisch orientierte Geschichtsphilosophie über diese neuere Historie hinausgehen soll. Andererseits ist von der Philosophie her in Zweifel zu ziehen, ob es legitim ist, die Geschichtsphilosophie als Summe der Ergebnisse verschiedener empirischer Disziplinen zu bestimmen. Sowohl bei Kant als auch bei Hegel hat die Geschichtsphilosophie im nicht empirisch gewonnenen Begriff der Vernunft ihr Zentrum. Apel hätte also zumindest seinen Standpunkt gegenüber der traditionellen Ge-
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schichtsphilosophie präzisieren müssen. So ergibt sich wie von der Historie auch von der Philosophie her der Einwand, daß die Unterscheidung von empirischer Forschung und Geschichtsphilosophie ungenügend markiert ist. Daß Apel die Vermittlung von Erklären und Verstehen von der Geschichtsphilosophie fordert, zeigt jedenfalls, daß er von sich aus nicht auf eine Neukonstitution der Historie abzielt. (Damit gilt für ihn, was sich auch für Gadamer herausstellen wird, nämlich daß der Historismus zwar als unhaltbar durchschaut, gleichzeitig aber der Historie als unumgehbare Bestimmung zugesprochen wird.) Wenn nun dagegen zu beobachten ist, daß die Integration sozialwissenschaftlicher Methoden in die Historie bereits begonnen hat, so stellt sich die Frage, ob Apels Ansatz nicht entgegen seiner Intention zu einer Neufundierung der Geschichtswissenschaft beiträgt. Dieser Frage kommt umso größere Bedeutung zu, als die Rezeption der Ausführungen Apels auf Seiten der Historie ganz in diesem Sinn erfolgte 121 ). Wenn Apel die Historie auf die hermeneutische Methode beschränkt, so bedeutet das für ihn, wie gesagt, daß sie über das Selbstverständnis der Menschen bzw. ihre artikulierten Intentionen nicht hinausgeht. Es fragt sich aber, ob er die traditionelle Hermeneutik damit nicht unterinterpretiert. Diese macht es sich seit jeher zur Aufgabe, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstand — und was kann dies anderes heißen, als daß die Auslegung seine Äußerungen in einer Sprache interpretiert, an der er selbst nicht teilhat? In diesem Sinne formulierte ζ. Β. A. Boeckh diese Aufgabe: „der Ausleger muß das, was der Autor bewußtlos geschaffen hat, zum klaren Bewußtsein bringen, und hierbei werden sich ihm alsdann auch manche Aussichten erschließen, welche dem Autor selbst fremd gewesen sind" 1 2 2 ). Zuvor hatte schon sein Lehrer Schleiermacher die hermeneutische Auslegung als ein Hinterfragen des in der Aussage Explixiten bestimmt. Dabei ist vor allem interessant, daß Schleiermacher zur Erläuterung dieses Prozesses darauf verweist, daß sich schon das Alltags-
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gespräch auf zwei Ebenen bewegt: „Ich ergreife mich selbst oft mitten im vertraulichen Gespräch auf hermeneutischen Operationen, wenn ich mich mit einem gewöhnlichen Grade des Verstehens nicht begnüge, sondern zu erforschen suche, wie sich wohl in dem Freunde der Übergang von einem Gedanken zum anderen gemacht habe, oder wenn ich nachspüre, mit welchen Ansichten, Urteilen und Bestrebungen es wohl zusammenhängt, daß er sich über einen besprochenen Gegenstand gerade so und nicht anders ausgedrückt." 123 ) An dieser Überlegung wird unmittelbar deutlich, daß Apels Begriff der Hermeneutik wesentliche Momente der hermeneutischen Tradition unbeachtet läßt. Wenn man bedenkt, daß auch Apel sich auf das Alltagsgespräch beruft, so stößt man auf die paradoxe Situation, daß er die Aufhebung der Hermeneutik in Ideologiekritik mit eben jenem Argument fordert, das den Vertretern der Hermeneutik bereits zur Kennzeichnung ihrer eigenen Vorgangsweise diente. Die Paradoxie wird noch dadurch verschärft, daß Apel selbst in seinem frühen Artikel „Verstehen (eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte)" 124 ) die eben zitierte Ausführung Schleiermachers wiedergegeben hat. Wenn sich zeigen läßt, daß es sich die Hermeneutik schon immer zur Aufgabe machte, Äußerungen in der Auslegung auf ihren Kontext und damit auch auf undurchschaute Voraussetzungen rückzubeziehen, so bedeutet das, daß die von Apel geforderte Einbeziehung einer Theoriesprache, an der die Interpretierten nicht teilnehmen, keine Sprengung des ursprünglichen hermeneutischen Programms bedeutet. Apel geht erst damit über die hermeneutische Tradition, genauer gesagt, über deren Selbstverständnis hinaus, daß er das Hinterfragen des explizit Geäußerten als Erklärungsprozeß auffaßt. Es ist daher nun näher zu untersuchen, von welchem Begriff der Erklärung er dabei ausgeht. Aus den bereits referierten Überlegungen Apels geht hervor, daß er genau wie Dray überzeugt ist, daß die Methode der Erklärung, wie sie von Hempel, Popper und Oppenheim und in deren Gefolge dargelegt wude, den Determinismus impliziert. Das hat zur Folge, daß er das Vorgehen der Erklä-
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rung in der Auseinandersetzung mit menschlichen Lebensäußerungen nur soweit als sinnvoll erachtet, als die Menschen ihre Situation nicht durchschauen und daher nicht handelnd bewältigen können. Wie sich gezeigt hat, beschränkt er die Methode der Erklärung auf den Bereich jener „faktisch-kontingenten Faktoren der menschlichen Geschichte — und sogar der Ideengeschichte —, welche noch nicht in die intersubjektive Verständigung aufzuheben sind, eben weil sie nicht — als Motive — subjektiv durchsichtig, sondern nur faktisch wirksam sind" 125 ), welche also die Individuen determinieren. Gelangt Apel von hier aus zur Forderung, auf die Vorgangsweise und Resultate der Sozialwissenschaften zurückzugreifen, so entsteht ein Widerspruch, der jedoch unaufgedeckt bleibt. Die Sozialwissenschaften beschränken ihren Erklärungsanspruch durchaus nicht auf den Bereich „naturhaft determinierter Reaktionen" 126 ). Selbst wenn sich herausstellen sollte, daß sie in der Untersuchung solcher unbewußter Wirkungszusammenhänge einen wesentlichen Forschungsschwerpunkt haben, ist doch nicht zu übersehen, daß sie ebenso dem Erfassen von Motivationen gewidmet sind. Dies zeigt sich auch an den von Apel ausgewählten Beispielen der Untersuchung des Konsumenten- und Wählerverhaltens. Die Sozialwissenschaften setzen sich dabei nicht nur mit unreflektierten Reaktionen auseinander, sondern machen auch Intentionen und Entscheidungen sichtbar. Apels Hinweis, daß die Ergebnisse solcher Untersuchungen zu manipulativen Zwecken ausgenützt werden können bzw. werden, genügt nicht, um seine Theorie der Sozialwissenschaft zu stützen. Es ist nämlich zu beachten, daß unter der Bezeichnung Manipulation ganz verschiedene Vorgänge zusammengefaßt werden: zum einen das Produzieren eines bestimmten Reizes mit dem Ziel, den Mechanismus der gewünschten Reaktion auszulösen, zum anderen aber die Ausblendung bestimmter Informationen bzw. die Retuschierung von Informationen, die versucht, den Handelnden bestimmte Entscheidungsmöglichkeiten vorzuenthalten, die aber damit die Entscheidungskompetenz als solche gerade anerkennt. Das heißt, Manipulation ist
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nicht nur unter der Voraussetzung naturhafter Reaktionen, sondern auch unter der Voraussetzung freiheitlicher Entscheidung möglich (worauf noch genauer einzugehen sein wird). Das übersieht Apel, wenn er glaubt, die Möglichkeit der Manipulation sei ein Beleg dafür, daß die Sozialwissenschaften ausschließlich mit Nichtintendiertem befaßt sind. Es ist allerdings hinzuzufügen, daß die Überzeugung, die Sozialwissenschaften seien ausschließlich auf die Untersuchung determinierter Zusammenhänge ausgerichtet, nicht erst bei Apel, sondern schon auf Seiten der Sozialwissenschaften selbst anzutreffen ist. Sie hat dort jedoch einen anderen Stellenwert. Das heißt, sie bedeutet nicht, daß sich die Sozialwissenschaft auf den Bereich der undurchschauten Faktoren zu beschränken habe, sondern daß alles menschliche Verhalten determiniert sei. Diese Überzeugung ist aber weder theoretisch haltbar noch, wie sich gezeigt hat, mit der Realität der sozialwissenschaftlichen Forschung und ihrer Anwendung in der Praxis in Einklang zu bringen. Sie erweist sich vielmehr als ein Selbstmißverständnis der Sozialwissenschaft, das im Folgenden auf ein weit verbreitetes grundlegendes Mißverständnis ihrer Methode zurückzuführen sein wird. Daß dieses Selbstmißverständnis bei Vertretern sozialwissenschaftlicher Disziplinen häufig auftritt, dürfte Apel den Blick darauf verstellt haben, daß die Sozialwissenschaften auch Motivationen zur Kenntnis bringen. Apel ist sich zwar dessen bewußt, daß die Sozialwissenschaften nicht umhinkönnen, auf die Intentionen von Individuen ζ. B. in Interviews einzugehen, aber er sieht darin nur eine spezifische Form der Datengewinnung, von der die eigentliche sozialwissenschaftliche Tätigkeit wesentlich unterschieden ist. Diese besteht für ihn erst „in der Verfremdung des traditionellen Selbstverständnisses der Einzelmenschen und der menschlichen Gemeinschaften" 127 ), d. h. im Entdecken der undurchschauten Zusammenhänge. Da er nicht darauf aufmerksam wurde, daß die Motivationen für die Sozialwissenschaften nicht bloß als vorausgesetzte Daten, sondern auch als Forschungsziel eine Rolle spielen, sah er auch die Widersprüch-
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lichkeit seiner Argumentation nicht und ebensowenig, daß sein Ansatz eigentlich Kritik an der Sozialwissenschaft impliziert. Von seinen Voraussetzungen her ergibt sich nämlich folgende Alternative: Entweder ist den Sozialwissenschaften, sobald sie sich mit Motivationen auseinandersetzen, der Vorwurf zu machen, ihre Kompetenzen illegitimerweise zu überschreiten, oder es ist zu zeigen, daß ihre aufs Erklären beschränkte Methodologie inadäquat und durch eine solche zu ersetzen ist, in der Erklären und Verstehen miteinander verbunden sind (ohne daß das Verstehen dabei auf das Vorfeld der Datengewinnung beschränkt bleibt). Man kann nun versuchen, diese Überlegungen in die Ausführungen Apels zu intrapolieren, d. h. Apels Argumentation durch die aus seinem Ansatz resultierende, von ihm selbst aber nicht durchgeführte Kritik an den Sozialwissenschaften zu ergänzen — doch damit tritt erst die Problematik dieses Ansatzes voll zutage. Hält man nämlich den Sozialwissenschaften entgegen, daß die Methode des Erklärens für das Erfassen von Motiven grundsätzlich ungeeignet ist, so gerät man in die Schwierigkeit, ein zentrales Phänomen der Sozialwissenschaften nicht einordnen zu können. Die Sozialwissenschaften erzielen im Rahmen der erklärenden Methode auch für den Bereich des Handelns Ergebnisse, deren Gültigkeit nicht zu bestreiten ist. Immer wieder werden Generalisierungen von Motivationen vorgelegt, die nicht zuletzt darin ihre Bestätigung finden, daß sie Prognosen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ermöglichen. So lassen sich eben die Informationen über die Kauf- oder Wahlentscheidung bestimmter Personengruppen in einer Weise zusammenfassen, daß für noch ausstehende Entscheidungen Hochrechnungen erstellt werden können, die äußerst nahe an das tatsächliche Ergebnis heranreichen. Auch daß Manipulationsversuche an Konsumenten und Wählern tatsächlich glücken, ist nur auf dieser Basis möglich. (Es ist nicht zu übersehen, daß die Manipulation, auch wenn sie sich als moralisch nicht legitimierbar erweist, einen unbestreitbaren Nachweis der Leistungsfähigkeit der Sozialwissenschaften darstellt.)
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Argumentiert man nun, daß das erklärende Herangehen an Motivationen auf einem Irrtum beruht, d. h. darauf, daß der spezifische Charakter des Handelns nicht durchschaut wird, so hat man keine andere Wahl, als diese Leistungen dem bloßen Zufall zuzuschreiben. Mit anderen Worten: man muß die Antwort auf die Frage, wie dieses Phänomen möglich ist, schuldig bleiben. So schlägt die von Apel ausgehende Kritik an den Sozialwissenschaften auf Apel selbst zurück, indem sie verrät, daß sein Ansatz der komplexen Realität dieser Wissenschaften nicht gerecht wird. Damit wird vollends klar, daß Apels Rezeption der Sozialwissenschaften auf analoge Weise fragmentarisch ist wie seine Rezeption der Geisteswissenschaften: Apel verkürzt beide Wissenschaftstypen um ein wesentliches Moment. Sein Konzept einer arbeitsteiligen Ergänzung von Geistes- und Sozialwissenschaften beruht also auf einer künstlich stilisierten Gegenüberstellung. Da Apel, wie sich gezeigt hat, die Unterscheidung der beiden Wissenschaftstypen aus der Unterscheidung von Verstehen und Erklären ableitet, ist der Grund für die genannten Verkürzungen in seiner Bestimmung dieser methodischen Differenz zu suchen. Die Auseinandersetzung mit Apel führt somit in folgende Überlegung: Es ist ein legitimes und notwendiges Programm, gegenüber einer Wissenschaftstheorie, die die Differenz der verschiedenen Wirklichkeitsbereiche außer acht läßt, auf die hermeneutische Tradition zurückzugreifen, und es ist Apels entscheidendes Verdienst, den Gedanken in die Diskussion eingebracht zu haben, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Handlungen eine Verbindung von Verstehen und Erklären notwendig macht, aber die Weise, wie Apel Verstehen und Erklären einander gegenüberstellt, erweist sich als inadäquat. 8 . D I E KOMPATIBILITÄT VON H A N D L U N G U N D ERKLÄRUNG
Es stellt sich damit die Aufgabe, eine tragfähigere Bestimmung des Verhältnisses von Verstehen und Erklären zu leisten. Als Ausgangspunkt für dieses Unternehmen bieten sich
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die eben gegenüber Apel geäußerten Überlegungen an. Wenn sich gezeigt hat, daß die Vorgangsweise des Erklärens in den Sozialwissenschaften auch für den Bereich des Handelns zu leistungsfähigen Ergebnissen führt und daß die Frage nach der Möglichkeit dieses Phänomens von den Voraussetzungen Apels her nicht beantwortet werden kann, so liegt darin ein nicht unwesentlicher Hinweis. Es wird deutlich, daß für eine über Apel hinausgehende Begriffsbestimmung auf die Frage einzugehen ist, wie Erklärung gedacht werden muß, damit sich ihr Bezug auf Handlungen nicht als unmöglich darstellt. Es ist allerdings hinzuzufügen, daß es durchaus nicht nur Apels Begriff der Erklärung ist, der sich in dieser Hinsicht als revisionsbedürftig erweist. Hier ist vor allem zu beachten, daß auch die Apel entgegengesetzte Argumentationsrichtung an dem genannten Phänomen ihre Grenze zeigt. Wenn bestimmte Vertreter des einheitswissenschaftlichen Programms und in ihrem Gefolge zahlreiche Sozialwissenschaftler davon ausgehen, daß alles menschliche Verhalten ein determinierter Prozeß ist, und dann daraus die Möglichkeit des erklärenden Zuganges zu Handlungen ableiten, so bedeutet das ,daß auch sie der komplexen sozialwissenschaftlichen Realität nicht gerecht werden können. Indem sie den spezifischen Charakter des Handelns von vorneherein nivellieren, kann die eigentliche angesichts der genannten Leistung der Sozialwissenschaften zu stellende Frage nicht einmal als solche in Sicht kommen. Hier wird man nun darauf aufmerksam, daß Apel und die eben umrissene szientifische Position trotz aller Kontroversialität vom gleichen Erklärungsbegriff ausgehen. Auf beiden Seiten gilt es als selbstverständlich, daß das Modell der Erklärung nur auf determinierte Abläufe bezogen werden kann; die Differenz ergibt sich erst in der Beantwortung der Frage, ob auch Handlungen als determinierte Prozesse zu beurteilen sind. Damit wird bereits deutlicher, welche Aufgabenstellung für die geforderte Neubestimmung des Erklärungsbegriffes relevant ist: Geht man von einem nicht-deterministischen Begriff von Handlung aus, und soll der erklärende Zugriff auf Handlungen
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als möglich gedacht werden, so ist zu untersuchen, ob das Modell der Erklärung ohne deterministische Implikationen zu denken ist. Diese Untersuchung kann zum Teil an Überlegungen anschließen, die in der bisherigen Diskussion bereits aufgetaucht, aber kaum rezipiert worden sind. Daß diese Ansätze noch nicht genügend entfaltet wurden, mag darin mitbegründet sein, daß sich die zwei eben genannten Argumentationsrichtungen so sehr als Alternative darstellten, daß kaum reflektiert wurde, welche Fragen sie beide nicht zu lösen vermögen. Hier ist zunächst die erwähnte Überzeugung Hempels zu bedenken, daß sein einheitswissenschaftliches Programm nicht mit einem deterministischen Begriff des Menschen verbunden sei. Hempel verwehrte sich explizit gegen eine deterministische Interpretation seiner Ausführungen: „Das Ergebnis und die Argumente, die dazu beigetragen haben, implizieren in keiner Weise eine mechanistische Deutung des Menschen, der Gesellschaft und historischer Prozesse, und sie leugnen natürlich auch nicht die Bedeutung von Ideen und Idealen für menschliche Entscheidungen und Handlungen." 128 ) Man kann dagegen gewiß zu bedenken geben, daß sich bei Hempel auch Äußerungen finden, die eindeutig deterministische Implikationen haben, ζ. B., wenn er sich an die Theorie der „dispositional explanation" anschließt. Und man kann damit die Vermutung verbinden, daß Hempel seine eigenen Voraussetzungen nicht hinlänglich reflektierte. Trotzdem muß man zur Kenntnis nehmen, daß seine Intention in die Richtung der eben zitierten Äußerung ging, daß seine Position also zumindest ambivalent bleibt. Diese Ambivalenz wird andererseits dafür mitverantwortlich zu machen sein, daß das antideterministische Motiv Hempels so wenig Beachtung fand — ist es doch nicht nur von seinen Kritikern übersehen worden, sondern ebenso von vielen, die seine Theorie weiterzuentwickeln suchten. Es ist also zu fragen, aufgrund welcher Überlegungen es für Hempel überhaupt als möglich erscheinen konnte, sein Modell (bzw. seine Modelle) der Erklärung von deterministischen Implikationen freizuhalten.
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An der eben zitierten Stelle fährt Hempel fort: „Was diese Überlegungen tatsächlich nahelegen, ist vielmehr, daß die Natur des Verständnisses, in dem Sinne, in dem Erklärungen uns ein Verständnis empirischer Phänomene ermöglichen, in allen Bereichen wissenschaftlicher Forschung dasselbe ist. Die deduktiven und probabilistischen Modelle nomologischer Erklärung umfassen viel mehr als zum Beispiel die Erklärungen der klassischen Mechanik. Sie stimmen auch mit dem Charakter von Erklärungen überein, die sich auf den Einfluß rationaler Überlegungen, bewußter und unbewußter Motive und von Ideen und Idealen auf die Prägung historischer Ereignisse beziehen. In dieser Hinsicht legen unsere Modelle einen wichtigen Aspekt der methodologischen Einheit der Erfahrungswissenschaft bloß." 129 ) Hempel betont also, daß sich das Modell der Erklärung auf die „Natur des Verständnisses" bezieht. Was er damit indirekt zum Ausdruck bringt, ist, daß es nicht die „Natur der Sache selbst" zu bezeichnen beansprucht. Das heißt, sein Argument läuft darauf hinaus, daß der Verstand überall dort, wo er sich mit „empirischen Phänomenen" auseinandersetzt, auf dieselbe Weise vorgeht. Die Verarbeitung von Daten durch den Verstand weist demnach stets dieselbe Struktur auf, nämlich die, die durch das Modell der Erklärung rekonstruiert werden soll — ohne daß damit vorausgesetzt würde, daß auch die verschiedenen Gegenstandsbereiche ihrer Struktur nach identisch sind. Diese Überlegung wird aber von Hempel, obwohl sie das Fundament seines gesamten Vorgehens betrifft, nur sehr andeutungsweise formuliert. Man sucht vergeblich nach einer Begründung derselben. So wäre es erforderlich gewesen, zunächst auf die Unterschiedlichkeit der Forschungsbereiche der verschiedenen Wissenschaften näher einzugehen und im Anschluß daran nachzuweisen, daß der erklärende Zugriff keine Nivellierung dieser Unterschiede bedeutet. Dergleichen findet sich aber bei Hempel nicht. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß die sprachanalytische Philosophie wesentlich dadurch gekennzeichnet ist, daß sie die
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grundsätzliche Unbeantwortbarkeit ontologischer Fragestellungen voraussetzt, so daß sie sich darauf beschränkt, die verschiedenen vorliegenden Sprachsysteme immanent zu analysieren. Bestimmte Sprechweisen können demnach zwar auf ihre innere Struktur, nicht aber auf ihre Legitimation i. e. Adäquatheit hin untersucht werden. Das bedeutet ζ. B. für die Geschichtswissenschaft, daß die Analyse ihrer Sprache abgekoppelt wird von der Frage, was Geschichte eigentlich ist 130 ). Es ist also kein Zufall, wenn Hempel die für ihn so entscheidende Abgrenzung der „Natur des Verständnisses" von der „Natur der Sache" nur so andeutungsweise angibt, daß sie schließlich in der Rezeption seiner Argumentation weitgehend unterging. Ebenso läßt sich die erwähnte Ambivalenz seiner Aussagen auf den genannten Grundsatz der sprachanalytischen Philosophie zurückführen. Es bedarf kaum der Erläuterung, daß das systematische Ausklammern ontologischer Fragestellungen die Gefahr mit sich bringt, daß unreflektiert metaphysische Annahmen einfließen, die daher unkontrolliert und häufig auch widersprüchlich sind. So kommt es, daß Hempel einerseits voraussetzt, daß zwischen mechanischen Vorgängen und Handlungen ein Unterschied besteht, daß er aber andererseits dem einheitlichen Modell der Erklärung auch eine durchgängig determinierte "Wirklichkeit entsprechen läßt. (Wie sich bereits gezeigt hat, geriet dann auch K. Acham, vom Ansatz der sprachanalytischen Philosophie ausgehend, in eine ähnliche Ambivalenz.) Fragt man sich nun, wie weit die von Hempel vorgeschlagene Interpretation des Erklärungsmodells für die erforderliche Neubestimmung des Erklärungsberiffs herangezogen werden kann, so gilt es zu untersuchen, ob sich für diese Interpretation die noch ausstehende Begründung, die bisher weder von Hempel selbst noch sonst geleistet wurde, beibringen läßt. Es ist vom Handeln auszugehen und zu überlegen, ob es möglich ist, daß sich eine nach dem Schema der Erklärung strukturierte Verstandestätigkeit auf Handlungen bezieht, ohne zu deren besonderem Charakter in Widerspruch zu stehen.
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Das heißt, der Gedanke Hempels kann nur überprüft und eventuell auch bestätigt werden, wenn er aus dem Kontext der sprachanalytischen Philosophie herausgelöst wird. Die erste Frage, die sich bei dieser Vorgangsweise ergibt, ist die, ob Handlungen überhaupt den empirischen Phänomenen zuzuzählen sind, ist doch bei Hempel das Modell der Erklärung nur auf die Auseinandersetzung des Verstandes mit empirischen Phänomenen bezogen. Sollte sich nun herausstellen, daß der Bereich des Empirischen auf das sinnlich Wahrnehmbare beschränkt ist, so kann sich eine dem Modell der Erklärung folgende Vorgangsweise gar nicht auf Handlungen beziehen. Zwar gehört auch zur Handlung ein sinnlich wahrnehmbares Moment, aber es ist eben nur Moment. Betrachtet man es isoliert, so gerät das Eigentliche der Handlung außer Sicht. Dies wird ζ. B. daran deutlich, daß ein und derselbe sinnlich wahrnehmbare Vorgang zu ganz verschiedenen Handlungen gehören kann. Ein Blick auf die Begriffsgeschichte zeigt aber, daß eine solche Beschränkung des Begriffs Empirie bereits eine aus einer bestimmten Erkenntnistheorie resultierende Abstraktion aus der ursprünglich breiteren Bedeutung darstellt. Mit der Kritik an dieser (empiristischen) Erkenntnistheorie ist zumindest seit Kant jener ältere Begriff wieder in Sicht gekommen. Das empirische umfaßt damit alles, was die Vernunft nicht aus sich selbst, a priori, hervorbringt. (In diesem Zusammenhang ist interessant, daß früher auch das Wort historisch zur Bezeichnung des Empirischen in diesem weiteren Sinn verwendet wurde.) Nun ist zu fragen, ob Handlungen unter Bezugnahme auf diese Begriffsbestimmung als empirische Phänomene zu bezeichnen sind. Dabei ist eine Unterscheidung zu treffen, die sich ebenfalls schon von Kant her ergibt. Ist die Handlung dadurch bestimmt, daß das Individuum aus Freiheit eine bestimmte Entscheidung trifft, so bedeutet das, daß das Prinzip der Handlung in der Vernunft liegt. Das heißt, die Entscheidung wird durch die Vernunft hervorgebracht und ist insofern nicht empirisch. Andererseits ist alles Wissen über
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bestimmte vollzogene Handlungen, also sowohl über die Situation und die in ihr sich anbietenden Alternativen als auch über die Motivation des handelnden Individuums, von Informationen abhängig, die die Vernunft nicht aus sich selbst gewinnen kann. In dieser Hinsicht sind auch Handlungen empirische Phänomene. Kant faßt diesen Gedanken so konsequent, daß für ihn auch das Wissen um die eigenen Handlungen empirisch zustande kommt. Er unterscheidet vom apriorischen Bewußtsein der Freiheit das auf dem Wege der „inneren Erfahrung" erworbene „empirische Bewußtsein meines Daseins" 1 3 1 ). Daß der Mensch sich selbst als bestimmtes, von anderen unterschiedenes Individuum kennt, geht also nach Kant darauf zurück, daß er für sich selbst empirisches Phänomen und als solches Gegenstand der „inneren Erfahrung" ist 132 ). Diese Konzeption ist gewiß nicht unproblematisch, vor allem im Hinblick auf die Vermittlung von „innerer Erfahrung" und „Bewußtsein der Freiheit". Aber die Differenz, auf die Kant mit dieser Unterscheidung abzielt, ist sicher nicht zu bestreiten. Wenn diese Differenz auch erst im einzelnen zu bestimmen sein wird, so zeigt sich schon jetzt, daß sie für die Auseinandersetzung mit Handlungen von entscheidender Bedeutung ist. Sie macht nämlich erforderlich, daß auch diese Auseinandersetzung zwei verschiedene Momente umfaßt. So ergibt sich zunächst, daß das Wissen um das Besondere vollzogener Handlungen nur auf empirische Weise gewonnen werden kann, daß es also legitim ist, Handlungen als empirische Phänomene zu betrachten. Es ergibt sich aber auch, daß diese Zugangsweise zu Handlungen für sich allein deren spezifischem Charakter nicht gerecht wird. Was hinzutreten muß, ist das Wissen um den Ursprung der Handlung in der Freiheit bzw. der Vernunft. Dieses Wissen ist vom ersten grundsätzlich verschieden. Es vermehrt nicht die Informationen über die Besonderheit bestimmter Handlungen, sondern es bezieht sich auf das Wesen von Handlung überhaupt. Seine Bedeutung liegt darin, daß es den Ergebnissen der empirischen Zugangsweise ihren 10
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Ort zuweist. Das heißt, durch dieses Wissen werden die empirisch gewonnenen Erkenntnisse erst eigentlich zu Erkenntnissen über Handlungen. Diese zwei Momente, die die Auseinandersetzung mit Handlungen aufweisen muß, will sie dieselben adäquat erfassen, lassen sich auch im Anschluß an die Unterscheidung von Verstand und Vernunft, wie sie für den deutschen Idealismus maßgeblich war, charakterisieren. Es ist dann der Verstand, dem die empirische Zugangsweise zukommt und der die damit gewonnenen Informationen unter Begriffen ordnet, und es ist die Vernunft, die den Ursprung der Handlung, der empirisch nicht erfaßbar ist, zu denken vermag. Diese Überlegung ergibt, daß es berechtigt ist, Handlungen unter Berücksichtigung der angegebenen Differenzierung als empirische Phänomene zu betrachten. Sie macht aber auch deutlich, daß Handlungen eine vom nur sinnlich Wahrnehmbaren unterschiedene Gruppe empirischer Phänomene darstellen. Es ist daher noch eine weitere Differenz zu berücksichtigen. Die empirische Zugangsweise, von der hier gesprochen wurde, umfaßt ganz Verschiedenes. Wenn es Gegenstände der Sinneswahrnehmung zu erfassen gilt, so ist auch die empirische Zugangsweise sinnlich bestimmt. Im Bereich wissenschaftlich entwickelter Empirie entsprechen dem Beobachtung und Messung. (Auch Apel hat darauf hingewiesen, daß das Messen der Sinnlichkeit zugehört. Er führte aus, daß das Messen von Temperatur auf das „ ,Sich-Messen' des Organismus mit seiner Umgebung" zurückzuführen ist, sodaß sich das Thermometer nur als eine instrumentelle Präzisierung der Wärme- und Kälteempfindlichkeit des Organismus darstellt133).) Es hat sich aber bereits herausgestellt, daß die Sinnlichkeit nicht ausreicht, um alles zu erfassen, was zur Bestimmtheit von Handlungen gehört. Es gibt daher noch eine andere Weise des empirischen Zuganges, die darauf ausgerichtet ist, den zwar in der Sphäre des sinnlich Wahrnehmbaren realisierten, aber selbst nicht sinnlich wahrnehmbaren Sinn zu erfassen. Dieser Zugangsweise entsprechen zum Beispiel das Gespräch, das Lesen von Texten und das Auffassen nicht-sprach-
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licher Vorgänge und Produktionen als Zeugnisse menschlicher Intention. Es ist diese Form der Empirie, die traditionellerweise als Verstehen bezeichnet wird bzw. eine der Bedeutungen des Begriffs Verstehen ausmacht. Von dieser Unterscheidung her erscheint es als berechtigt, wenn Wimmer unter Berufung auf Winch das Verstehen als komplementär zum Beobachten auffaßt. Er sieht das Verstehen „als eine Verstandestätigkeit, die parallel zum Beobachten, nicht als eine, die parallel zum Erklären steht" 1 3 4 ). Es ist allerdings hinzuzufügen, daß Wimmer den übrigen Bedeutungen des Verstehensbegriffs nicht weiter nachgeht. So ist auch diese Parallelisierung von Verstehen und Beobachten nicht unproblematisch, da Wimmer damit den Anspruch verbindet, die gesamte um das Begriffspaar Verstehen—Erklären geführte Kontroverse zur Auflösung zu bringen. Betrachtet man nun diese der Unterschiedlichkeit der empirischen Phänomene entsprechende Differenz empirischer Zugangsweisen, so kann man leicht zu einer Überinterpretation verleitet werden. Es ist daher folgendes zu bedenken: Der Hinweis auf die Differenz von Beobachten und Verstehen reicht nicht aus zur Rechtfertigung der These, daß die auf Empirisches bezogene Verstandestätigkeit durchgängig gespalten ist. Die zahlreichen Vertreter dieser These lassen ein wesentliches Moment außer acht: Die Empirie erschöpft sich nicht in der (jeweils verschiedenen) Auffassung von Gegebenheiten, sondern sie umfaßt, wie gesagt, auch deren Verknüpfung zu Zusammenhängen. Dieses Moment der Verstandestätigkeit bezieht sich nicht mehr unmittelbar auf die unterschiedlichen Phänomene, sondern geht von den mittels der verschiedenen Zugangsweisen gewonnenen Daten aus. Es ist also nicht undenkbar, daß diese Tätigkeit des Verstandes immer die gleiche ist, das heißt, daß der Verstand die Daten stets nach dem gleichen Prinzip verknüpft. Nun hat die bisherige Diskussion der Erkenntnisbzw. Wissenschaftstheorie trotz aller offenen Divergenzen doch erkennen lassen, daß der Verstand bei der Verknüpfung von Daten aus dem Bereich der Natur dem Schema der Erklärung 10»
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folgt (d. h., die Divergenzen beziehen sich auf Details einer angemessenen Bestimmung dieses Schemas). Damit stellt sich die Frage, ob der Verstand auch die durch das Verstehen vermittelten Daten dem Modell der Erklärung entsprechend verknüpft. Es ist nicht zu übersehen, daß diese Frage für die hier durchgeführte Untersuchung von zentraler Bedeutung ist. Sollte sie bejaht werden können, so würde sich damit Hempels Überzeugung, daß sich eine von den Verschiedenheiten der einzelnen Gegenstandsbereiche unabhängige, identische logische Struktur feststellen läßt, als legitim erweisen — allerdings nur in dem hier eben gegenüber Hempel eingeschränkten und präzisierten Sinn. Es ist also zu analysieren, wie die denkende Verarbeitung von Informationen über Intentionen bzw. Handlungen vor sich geht. Vor allem ist zu untersuchen, ob Generalisierungen, die sich als Gesetze formulieren lassen, eine Rolle dabei spielen. Dem ersten Anschein nach ist dies keineswegs der Fall. Eine Handlung zu erkennen erfordert, daß man sich eine bestimmte Situation, bzw. wie sie sich für den oder die Handelnden darstellte, vor Augen führt, ebenso ein bestimmtes Individuum mit seinen Überzeugungen und Absichten oder eine Gruppe von Individuen, so daß sich schließlich die Handlung als Antwort auf die Situation, so wie sie gesehen wurde, darstellt. Dray hat gewiß recht, wenn er das Wissen um bestimmte Handlungen durch diese Momente kennzeichnet und darauf hinweist, daß darin keine allgemeinen Gesetze formuliert werden. Es hat sich aber gezeigt, daß sich die einheitswissenschaftliche Argumentation zu einer solchen Beschreibung gar nicht im "Widerspruch befindet. Sie fügt ihr lediglich ein weiteres Moment hinzu, indem sie betont, daß trotzdem eine Bezugnahme auf allgemeine Gesetze erfolgt, auch wenn dies nicht explizit geschieht. Es erscheint daher als angezeigt, die Ausführungen Hempels noch einmal heranzuziehen und nachzulesen, wie dieser Vorgang im einzelnen bestimmt ist. Als das zentrale Argument erweist sich dabei, daß eine Handlung gar nicht als Antwort auf eine bestimmte Situation eingesehen werden könnte,
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würden nicht zumindest stillschweigend Gesetze vorausgesetzt, in denen das typische Verhalten von Menschen in gewissen Situationen angegeben wird — oder wenigstens Annahmen, die sich als Gesetzeshypothesen dieser Art formulieren ließen. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, zu verfolgen, wie Hempel dieses Argument an einem Beispiel aus der amerikanischen Geschichtsschreibung verdeutlicht. Er wählt eine Passage aus Turners „Early Writings", in der dieser den Gründen für die rasche Westwanderung der weißen Siedler auf dem nordamerikanischen Kontinent nachgeht. Turner schreibt: „Wenn wir von den Pionierfarmern absehen, die aus Freude am Abenteuer weiterziehen, dann ist die Wanderung des normalen Farmers leicht zu verstehen. Augenscheinlich wurden Einwanderer vom billigen Grenzland angezogen, und sogar die bereits seßhaft gewordenen Farmer unterlagen diesem Einfluß in starkem Maße. Jahr für Jahr boten sich den Farmern, deren Bodenerträge zurückgingen, weil sie die Fruchtfolge nicht wechselten, die jungfräulichen Böden der Grenze zu fast symbolischen Preisen an. Ihre wachsenden Familien benötigten mehr Land, und Land war teuer. Der Wettbewerb der unerschöpften, billigen und leicht zu kultivierenden Prärieböden zwang den Farmer, entweder in den Westen zu gehen . . . oder die Anbaumethoden zu intensivieren." 135 ) Hempel führt nun aus, daß Turner die Westwanderung nur deshalb durch die Informationen über die Bodenbeschaffenheit und den Preis des Prärielandes plausibel machen kann, weil er eine allgemeine These von der Art, „daß unter diesen Bedingungen normale Menschen dazu neigen werden, neue Gelegenheiten in der Weise zu ergreifen, wie die Pionierfarmer es taten" 1 3 6 ), voraussetzt, auch wenn er nicht darauf reflektiert. Da hier zur Debatte steht, ob Hempels These im Grundsätzlichen legitimierbar ist, muß die Frage, wie weit er in Beispielen wie diesem der Realität der Historie gerecht wird, zurückgestellt werden. Es ist vielmehr zu untersuchen, ob sich der Verstand in der Verknüpfung von Informationen aus dem Bereich des Handelns tatsächlich auf solche Gesetze stützt. Da-
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bei geht es nicht nur um spezielle innerwissenschaftliche Vorgangsweisen, sondern um die Reflexion des Verstandes auf Handlungen ganz allgemein. Daher ist es in diesem Zusammenhang angezeigt, von der Alltagsorientierung auszugehen. Wenn man die von jedem einzelnen alltäglich geleistete Bezugnahme auf bestimmte Handlungen betrachtet, so stellt man fest, daß sie stets Generalisierungen impliziert. Immer wenn man nach dem Motiv einer bestimmten in ihrem äußeren Ablauf bekannten Handlung sucht, geht man so vor, daß man zunächst diese neuen Daten auf die Motive bezieht, die man schon kennt. Das heißt aber, daß man die besonderen Handlungen unter verallgemeinerte Motive subsumiert. Diese verallgemeinerten Motive resultieren vor allem aus dem, was man in der Alltagssprache Lebenserfahrung nennt. Sie sind also zumeist Generalisierungen einzelner Erfahrungen, die das Individuum im Umgang mit Menschen gemacht hat, kommen aber auch auf dem indirekten Weg der Bildung zustande. Der Gesamthorizont solcher Generalisierungen, der einem Individuum zu Gebote steht, wird umgangssprachlich mit dem Terminus Menschenkenntnis bezeichnet. Er ist allerdings grundsätzlich nie abzuschließen, d. h., es kommt immer wieder vor, daß sich eine Handlung nicht subsumieren läßt. Das Individuum macht dann eine neue Erfahrung, aber auch diese kann nur im Rückgriff auf bereits bekannte Motive bestimmt werden — durch Kombination derselben, Abgrenzung von ihnen, Modifikation von Generalisierungen etc. —, d. h., das Prinzip des Vorgehens bleibt gewahrt. Besonders anschaulich läßt sich diese Denkstruktur an der Arbeit des Kriminalisten aufzeigen. Sie wäre ohne den Rückbezug auf verallgemeinerte Motive undurchführbar. Wie sollte etwa in einer für die Kriminalistik so typischen Frage wie der, wer für ein bestimmtes Verbrechen ein Motiv gehabt haben kann, sonst vorgegangen werden? Hier stellt sich nun die Frage, ob es berechtigt ist, dieses Phänomen der Alltagsorientierung mit Hempelschen Kategorien zu interpretieren, und sie spitzt sich auf die Frage zu, ob es berechtigt ist, die aufgezeigten Generalisierungen als
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Gesetze zu bezeichnen. Betrachtet man daher noch einmal genauer, in welcher Weise die Reflexion von Handlungen auf Generalisierungen von Motiven Bezug nimmt, so stellt sich heraus, daß diesen durchaus die Funktion von Gesetzen zukommt. Wenn eine bestimmte Handlung unter Voraussetzung von Menschenkenntnis auf ein bestimmtes Motiv zurückgeführt wird, so ist das der Form nach eine Erklärung, d. h., der Menschenkenntnis fällt die Funktion von Gesetzen, meist von Wahrscheinlichkeitsaussagen, zu. Darüber hinaus gibt es ein vielleicht noch deutlicheres Indiz dafür, daß die Generalisierungen aus dem Bereich des Handelns als Gesetz fungieren. Es ist nämlich festzustellen, daß sie als Basis für Prognosen dienen.Jeder praktische Entscheidungsprozeß ist dadurch gekennzeichnet, daß der Handelnde diejenigen Personen, auf die sich sein Handeln beziehen soll, in einer bestimmten Weise einschätzt, bestimmte Verhaltensweisen von ihnen erwartet. Das heißt aber für gewöhnlich nichts anderes, als daß er die vergangenen Handlungen dieser Personen, soweit er sie kennt, in Generalisierungen zusammenfaßt und daraus Prognosen für ihr künftiges Handeln ableitet. Dies bestätigt sich auch daran, daß sich die praktische Orientierung als schwierig und mitunter sogar als riskant erweist, wenn der Handelnde in einen völlig fremden Kontext gestellt ist. Diese Schwierigkeit resultiert daraus, daß in solchen Fällen dergleichen Prognosen eben nicht möglich sind. Es zeigt sich also, daß sich Operationen von der Struktur der Erklärung auch dort nachweisen lassen, wo der Verstand auf den Bereich des Handelns bezogen ist. Das bedeutet, daß sich Hempels Argumentation in dem Sinn bestätigen läßt, daß das Verknüpfen von Informationen ungeachtet der Unterschiedlichkeit der empirischen Phänomene jeweils der gleichen Struktur folgt — allerdings nur in diesem präzisierten Sinn. Bedeutet dies nun, daß die Neubestimmung des Begriffs Erklärung, die sich in der Auseinandersetzung mit Apel und seinen Gegnern als nötig erwiesen hat, einmündet in das einheitswissenschaftliche Konzept, genauer gesagt, in die nicht-determini-
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stische Version desselben? Hier ist neuerlich vor einer Überinterpretation zu warnen: Daß sich die Struktur der Erklärung durchgängig aufzeigen läßt, ist noch keine Rechtfertigung für die These, daß das Denken insgesamt auf allen Wissensgebieten der Form nach identisch ist. 9 . D I E G R E N Z E N DES EINHEITSWISSENSCHAFTLICHEN
KONZEPTS
U N D DIE NOTWENDIGE ERWEITERUNG DER WISSENSCHAFTSTHEORIE
Hier ist nun zu berücksichtigen, daß die Ergebnisse der Verstandestätigkeit erst in der Beurteilung durch die Vernunft in ihrem Stellenwert bestimmt werden. Wie bereits erwähnt, erfolgt dabei eine wesentliche Unterscheidung. Der Verstand generalisiert zwar mit Bezug auf Handlungen ebenso wie auf Naturabläufe, und diese Generalisierungen haben die Form und Funktion von Gesetzen, aber die Vernunft vollzieht eine Differenzierung des Anspruchs dieser Gesetze. Die nomologischen Aussagen für den Bereich der Natur werden im Sinne des Versuchs ausgelegt, die Regeln zu rekonstruieren, die die Natur tatsächlich bestimmen. Damit wird keineswegs geleugnet, daß ein unmittelbarer Zugang zur Natur unmöglich ist, es geht lediglich darum, daß den Anstrengungen des Verstandes, auch wenn er auf seine Modelle beschränkt bleibt, dieser Anspruch auf Rekonstruktion zukommt. Für nomologische Aussagen auf dem Gebiet des Handelns muß hingegen ein solcher Anspruch ausgeschlossen werden. Sie bringen zwar übereinstimmende Zusammenhänge auf eine Formel, aber das ist nicht so zu interpretieren, daß damit die Regel erfaßt würde, nach der diese Zusammenhänge tatsächlich zustande gekommen sind. Die Beurteilung erfolgt hier aus dem (bereits charakterisierten) Wissen, daß der Bereich des Handelns wesentlich dadurch bestimmt ist, nicht durch wie immer geartete Regeln determiniert zu sein137). An Hempels Beispiel von der Wahl läßt sich das so erläutern: Beobachtete Übereinstimmungen lassen sich in allgemei-
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nen Aussagen zusammenfassen, etwa, daß die einer bestimmten Berufsgruppe oder sozialen Schicht Zugehörigen eine gewisse Partei gewählt haben, aber das bedeutet nicht, daß damit die Regel gefunden wäre, nach der die Wahl selbst abgelaufen ist. Die Generalisierung ist nicht so aufzufassen, daß sich die einzelnen Individuen für die bewußte Partei ausgesprochen haben, weil sie der bestimmten Gruppe angehören. Jeder einzelne Wahlberechtigte hat sich vielmehr die ihm vorliegenden Alternativen überlegt und seine individuelle Entscheidung getroffen. Dabei ist es durchaus möglich, daß sich für Personen, die sich in vergleichbaren beruflichen und sozialen Positionen befinden, die gleichen Argumente als wesentlich und die gleichen Ziele als erstrebenswert darstellen, so daß sie sich für die gleiche Partei entscheiden. Daher lassen sich dann im nachhinein die Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppierungen und die Wahlentscheidung in allgemeinen Aussagen korrelieren. Eine solche nomologische Formulierung hat aber einen besonderen Status, weil sie auf den Entscheidungscharakter des Wahlvorganges rückzubeziehen ist. (Wenn sich in der gegenwärtigen Diskussion häufig Wendungen wie „kollektives Handeln" oder, wie bei Acham, „Handlungen von Gruppen" finden und Handlungen dabei als „Reaktionen der Menschen auf ihre natürlichen und sozialen Umstände" bezeichnet werden, so ist dieser Sprachgebrauch insofern gefährlich, als er die hier getroffene Unterscheidung verwischt 138 ). Daß die Generalisierungen, die Handlungen betreffen, nicht mit demselben Anspruch verbunden sind wie diejenigen für den Bereich der Natur, spielt auch in der Frage der Prognostik eine Rolle. Das heißt, auch Prognosen sind ihrem Anspruch nach zu differenzieren. Dabei gilt es zu beachten, daß die Erwartung des Zukünftigen im praktischen Bereich notwendig zwei gegenläufige Momente umfaßt. Das eine ist die auf die Generalisierung vergangener Zusammenhänge gestützte bestimmte Erwartung, die, wie erwähnt, nicht erst im Anschluß an die Sozialwissenschaften auftritt, sondern bereits die praktische Orientierung des Alltags kennzeichnet. Als zweites Mo-
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ment tritt aber die grundsätzliche Offenheit hinzu, die aus dem Wissen um den spezifischen Charakter des Handelns resultiert, d. h. die Erwartung, daß die bestimmte Erwartung auch durchkreuzt werden kann. Die Gegenläufigkeit dieser beiden Momente ist übrigens nicht durch eine Bezugnahme auf Hempels Konzept der probabilistischen Aussagen zu vermitteln. Das zweite Moment ist kein Hinweis darauf, daß im praktischen Bereich nur Wahrscheinlichkeitsgesetze möglich sind, sondern vielmehr darauf, daß bestimmte Prognosen in ihrem Anspruch prinzipiell begrenzt sind. Es zeigt also ebenso die Grenze aller bestimmten errechneten Wahrscheinlichkeiten für den Bereich des Handelns und macht damit den entscheidenden Unterschied zur Dezidiertheit der Erwartung deutlich, die für den Bereich der Natur mit Wahrscheinlichkeitsgesetzen ebenso verbunden ist wie mit deduktiv-nomologischen. Diese Differenzierung ist für die vorliegende Untersuchung in mehrfacher Hinsicht von zentraler Bedeutung. Sie läßt vor allem die eigentliche Problematik des einheitswissenschaftlichen Konzepts hervortreten, d. h., sie eröffnet die Einsicht, daß dieses Konzept auch dann in Schwierigkeiten führt, wenn es nicht mit deterministischen Implikationen ausgestattet wird. Es bieten sich nunmehr zwei Möglichkeiten, die Position Hempels zu interpretieren, und beide führen in Aporien. Die eine Alternative ist, anzunehmen, Hempel leite aus der festgestellten Strukturidentität der Erklärung die Folgerung ab, daß die Natur- und Humanwissenschaften insgesamt identisch sind. In diesem Fall ist Hempel jene Überinterpretation vorzuwerfen, vor der eben gewarnt wurde. Es ist ihm gegenüber geltend zu machen, daß die Verstandestätigkeit der Erklärung jeweils nur ein Moment des Denkens ausmacht. Dies läuft auf den Einwand hinaus, daß die Konzentration der Wissenschaftstheorie auf das Phänomen der Erklärung systematisch die Möglichkeit verstellt, die der Struktur nach identischen Satzsequenzen auf ihren unterschiedlichen Realitätsbezug hin zu untersuchen. (Dieser Reduktionismus entspricht im übrigen einer Gefahr, die die sprachanalytische Philosophie insgesamt kennzeichnet:
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Im Zusammenhang mit der Ausklammerung ontologischer Fragestellungen entsteht die Tendenz, auch die ontologischen Bezüge, die die Sprache selbst aufweist, auszuklammern und damit unter dem Titel Sprachphilosophie nur einen Teilbereich der Sprache zu thematisieren, ohne sich darüber jedoch Rechenschaft abzulegen.) Die zweite Alternative für die Auslegung des Hempelschen Konzepts (in seiner nicht-deterministischen Version) ist ein auf den Prozeß der Erklärung eingeschränkter Wissenschaftsbegriff. Hempels Ausführungen sind dann im Sinne des Arguments zu interpretieren, daß die Erklärung das zentrale Kriterium der Wissenschaftlichkeit sei, sodaß umgekehrt alles, was sich nicht als eine Erklärung ausweisen oder auf eine Erklärung zurückführen läßt, dem außerwissenschaftlichen Bereich zuzuzählen sei. Eine solche Bestimmung von Wissenschaft ist aber nichts mehr als eine willkürliche Festlegung, die in mehrfacher Hinsicht problematisch ist. Im grundsätzlichen ist gegen sie einzuwenden, daß sich der Verstand nicht so von der Vernunft isolieren läßt, daß die Vernunft aus den Wissenschaften ausgeklammert werden könnte. Auch wenn es die Analyse des Denkens erforderlich macht, die beiden Momente zu unterscheiden, so folgt daraus nicht, daß sie als voneinander abtrennbar zu denken sind. Das bedeutet, daß die Wissenschaften immer mehr umfassen als die jeweiligen Erklärungsprozesse, worauf gleich zurückzukommen sein wird. Im übrigen erweist sich die Definition von Wissenschaft durch Erklärung schon allein an der Realität der vorliegenden Wissenschaften als zu eng. Zum Beispiel deshalb, weil sie selbst die Gewinnung der Daten, die in der Erklärung verknüpft werden sollen, in den außerwissenschaftlichen Bereich abschieben muß — die einheitswissenschaftliche Argumentation würde sonst durch die erwähnte Differenz von Beobachten und Verstehen vereitelt. In jedem Falle folgt also aus der hier vorgelegten Differenzierung: Auch wenn sich Vorgänge von der Struktur der Erklärung in den Humanwissenschaften ebenso aufzeigen las-
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sen wie in den Naturwissenschaften, so genügt dies nicht zur Fundierung eines einheitswissenschaftlichen Konzepts. Die Erklärungen sind vielmehr nur ein Moment der Wissenschaften — sie erfolgen jeweils in einem bestimmten Kontext, sind einem bestimmten Leitfaden untergeordnet. Das bedeutet aber, daß die Analyse der Erklärungsstruktur nicht ausreicht, um die Wissenschaften umfassend zu charakterisieren, ja mehr noch, daß sie gerade das Wesentliche der Wissenschaften nicht zu erfassen vermag. Es stellt sich somit die Aufgabe, über die im Rahmen der hier vor allem an Hempel exemplifizierten wissenschaftstheoretischen Tradition angestellten Strukturvergleiche und -analogisierungen grundsätzlich hinauszugehen und dieses Wesentliche zu bestimmen, den jeweiligen Leitfaden also, der das Spezifikum der einzelnen Wissenschaften ausmacht, und der erst die Erklärungen bedingt und in ihrer Bedeutung bestimmt. Gilt es nun, sich dieser Aufgabe für den durch die hier verfolgte Thematik abgesteckten Bereich zuzuwenden, so kann neuerlich von der oben ausgeführten Differenzierung ausgegangen werden. Sie hat ja ergeben, daß für die Humanwissenschaften insgesamt die schon vor- bzw. außerwissenschaftlich relevante Unterscheidung von Mensch und Natur und damit das Wissen um den spezifischen Charakter von Handlung und sprachlicher Sinnäußerung entscheidend ist. Dieses Wissen ist die gemeinsame Basis für die verschiedenen besonderen Fragestellungen, die den einzelnen Humanwissenschaften zugrunde liegen. Das bedeutet, daß im Zuge der Bestimmung des Leitfadens der Humanwissenschaften Fragen wieder virulent werden, die die Vertreter des einheitswissenschaftlichen Konzepts als mit ihrem Ansatz überholt erachteten. Es treten nämlich all jene Fragen wieder auf, in denen thematisiert wird, was es für eine Wissenschaft bedeutet, wenn sie durch den Bezug von Handelnden auf Handelnde gekennzeichnet ist. Das heißt aber nicht weniger, als daß Problemstellungen, die im Zusammenhang mit dem Begriff Verstehen diskutiert wurden, erneut Aktualität gewinnen. Allerdings ist hinzuzufügen, daß
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diese Problemstellungen im Gefolge der Auseinandersetzung mit der Hempelschen Theorie eine entscheidende Einschränkung erfahren. Es kann nun nicht mehr darum gehen, das Verstehen als Alternative zur Erklärung zu konzipieren, denn soviel hat sich an der einheitswissenschaftlichen Argumentation als valide erweisen, daß Verstandestätigkeit von der Struktur der Erklärung auch an der Reflexion auf Handlungen nachzuweisen ist. Wo aber im Zusammenhang mit dem Begriff Verstehen die spezifischen Voraussetzungen für den Bezug auf Handlungen zur Debatte stehen, ist diese Diskussion wieder aufzunehmen. So werden vor allem Gadamers Überlegungen zur Geschichtlichkeit des Verstehens genauer anzusehen sein. Das Verstehen soll in dieser Diskussion nicht mehr als ein Alternativmodell zur Erklärung, sondern als der vorausgesetzte Rahmen, auf den die Erklärungen bezogen sind, aufgefaßt und bestimmt werden. Die bisher geführte Argumentation läuft also auf die Kompatibilität von Erklären und Verstehen (nicht jedoch von einheitswissenschaftlicher Theorie und Verstehenskonzept) hinaus. Dabei ist aber zu beachten, daß die Bestimmung dieser Kompatibilität von der Apelschen Komplementaritätsthese wesentlich unterschieden ist, weil diese davon ausgeht, daß Erklären und Verstehen zwei verschiedene Methoden sind, die sich wechselseitig ausschließen bzw. ergänzen. In diesem Zusammenhang ist weiters darauf hinzuweisen, daß die bisherige Argumentation auch eine Bestimmung des Verhältnisses von Sozial- und Geisteswissenschaften zur Folge hat, die von derjenigen Apels abweicht. Dabei ist zunächst festzustellen, daß die oben ausgeführte Differenzierung jene Neubestimmung der Sozialwissenschaften gestattet, die sich angesichts ihrer Leistung als notwendig erwiesen hat. Sie macht vor allem einsichtig, wie der erklärende Zugang zu Handlungen möglich ist. Sie macht aber auch darauf aufmerksam, daß die dabei formulierten Gesetze nicht mit Naturgesetzen zu identifizieren sind, daß also eine beurteilende Instanz im Spiele ist, die diesen Gesetzen ihren spezifischen Stellenwert verleiht. Das heißt, daß
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der häufig anzutreffende Begriff der Sozialwissenschaften, den auch Apel übernommen hat, auf zweifache Weise zu revidieren ist. Zum einen können die Sozialwissenschaften nicht mehr auf die Erklärung undurchschauter Prozesse beschränkt werden, zum anderen können sie, auch bei Berücksichtigung der Erklärung von Handlungen, nicht mehr ausschließlich durch Erklärung bestimmt werden — ebensowenig wie den Geisteswissenschaften eine Erklärung ausschließende Methode zugeschrieben werden kann. Daraus folgt nun, daß die beiden Typen der Humanwissenschaften nicht entlang der Trennungslinie von Erklären und Verstehen voneinander unterschieden werden können, weil für beide der eben charakterisierte Zusammenhang von Erklären und Verstehen kennzeichnend ist. Die Unterscheidung ergibt sich vielmehr aus der im vorwissenschaftlichen Raum formulierten Frage- bzw. Aufgabenstellung, die die jeweils besondere Richtung des wissenschaftlichen Vorgehens bestimmt. So kommt es zur Ausrichtung auf die Generalisierbarkeit von aus Handlungen und anderen Sinnäußerungen bzw. deren Verflechtungen und Konsequenzen resultierenden Zusammenhängen in den Sozialwissenschaften und andererseits auf die Individualität ebensolcher Zusammenhänge in den Geisteswissenschaften, ζ. B. auf besondere und als solche unwiederholbare Zusammenhänge der Vergangenheit in der Historie. Die Überlegungen Windelbands und Rickerts erweisen sich somit insofern als legitim, als in ihnen die Geisteswissenschaften durch ihre Orientierung am Besonderen gekennzeichnet und von den anderen Wissenschaften unterschieden werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß es möglich wäre, diese Überlegungen zur Gänze wieder aufzunehmen, worauf im folgenden noch einzugehen sein wird. Die unterschiedliche Aufgabenstellung von Geistes- und Sozialwissenschaften bedingt, daß jeweils ein anderes Moment der Erklärung in den Vordergrund tritt. So werden in den Sozialwissenschaften solche Generalisierungen thematisiert und kontrolliert, wie sie ζ. B. in der Historie zunächst mehr
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oder weniger unreflektiert aus der Alltagserfahrung vorausgesetzt werden. Umgekehrt sind die Sozialwissenschaften auf genaue Einzelstudien, wie die Historie sie liefert, angewiesen. Daß so das Augenmerk jeweils auf einem anderen Moment der Erklärung liegt, macht übrigens verständlich, warum der Unterschied von Geistes- und Sozialwissenschaften so häufig mißdeutet wird. Wenn das jeweils andere, untergeordnete Moment übersehen bzw. in seiner notwendigen Mitbeteiligung nicht reflektiert wird, dann ist es naheliegend, den Unterschied der beiden Wissenschaftstypen im Sinne der Disjunktion zweier Methoden aufzufassen. Der Nachweis, daß es sich dabei um eine Mißdeutung handelt, betrifft, wie gesagt, eine ganze Reihe von die gegenwärtige Diskussion der Wissenschaftstheorie der Humanwissenschaften bestimmenden Positionen — nicht zuletzt die von den Erkenntnisinteressen ausgehende. Es bedarf nun keiner weiteren Erläuterung mehr, daß diese von Habermas und Apel konzipierte und weithin akzeptierte Theorie schon von der Realität der Vorgangsweise in den Wissenschaften her in Frage gestellt wird, d. h. noch unabhängig von den in der Unterscheidung von Arbeit, Sprache und Herrschaft selbst angelegten Schwierigkeiten. — Sucht man dagegen in der gegenwärtigen Diskussion nach adäquateren Ansätzen, so wird man, was die Historie betrifft, vor allem auf die narrative Geschichtstheorie aufmerksam. Wenn etwa Danto das Wesentliche der Historie darin sieht, daß sie Geschichten erzählt, so ist die Erzählung dabei nicht als eine disjunktive Alternative zur Erklärung im Sinne Hempels bestimmt 139 ). Es kommt Danto vielmehr darauf an, daß die Historie — bei aller Bedeutung, die Generalisierungen in ihr haben — auf besondere, unwiederholbare Veränderungen in der Vergangenheit ausgerichtet ist. So erscheint es angezeigt, im folgenden genauer auf den narrativen Ansatz einzugehen. Vor allem wird zu untersuchen sein, ob mit dem Konzept der Erzählung alles erfaßbar ist, was sich aus der Relation von Handelnden auf Handelnde für die Realität der Historie ergibt.
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Die Bestimmung der Historie, die in den bisherigen Überlegungen angelegt ist, impliziert übrigens ein gewisses Naheverhältnis der Historie zu den Sozialwissenschaften. Es ist nun nicht mehr nötig, eine Ergänzung der beiden Forschungsrichtungen von einer erst zu postulierenden, ideologiekritisch gewendeten Geschichtsphilosophie zu erwarten, sondern es ist möglich, der die Wissenschaftspraxis ohnehin bereits bestimmenden Beziehung von Historie und Sozialwissenschaften gerecht zu werden. Geht man nämlich davon aus, daß die Historie trotz ihrer Ausrichtung auf besondere Zusammenhänge der Vergangenheit nicht ohne den, wenn auch oft unreflektierten, Rückgriff auf Generalisierungen auskommt, so ist es damit schon als möglich und legitim ausgewiesen, diejenigen Wissenschaften, in denen solche Generalisierungen thematisiert und kontrolliert werden, einzubeziehen. Das kann sowohl in Form der Übernahme von Ergebnissen als auch von Fragestellungen der Sozialwissenschaften geschehen. Letzteres erfolgt ζ. B. in der gegenwärtigen Entwicklung einer quantifizierenden Historie. Es ist allerdings zu beobachten, daß diese Ubernahmen oft von Interpretationen bzw. Selbstinterpretationen begleitet sind, in denen die Historie ebenso verkannt wird wie die Sozialwissenschaften. So berichtet z. B. G. Botz, daß die Vertreter „verschiedener etablierter historischer Richtungen" quantifizierende Methoden als mit dem Wesen der Historie unvereinbar einschätzen, wie die „narrative Richtung in ihrer Ausrichtung am individuellen und Besonderen'" und der „NeoHistorismus in seinem . . . immer noch im Zentrum stehenden ^erstehenden' Ansatz" 1 4 0 ). Derartige Argumentationen beruhen aber auf einer Gegenüberstellung von Historie und Sozialwissenschaften, die sich in den hier vorgenommenen Untersuchungen als unhaltbar erwiesen hat. Aus diesen Untersuchungen geht aber auch hervor, daß es ebenso ungerechtfertigt ist, die Übernahme sozialwissenschaftlicher Ergebnisse und Fragestellungen als eine Exaktifizierung der Historie aufzufassen. Sie haben gezeigt, daß der Unterschied von Sozial- und Geisteswissenschaften nicht als der von
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Exaktheit und Nicht-Exaktheit darzustellen ist. Da für beide Wissenschaftstypen der Bezug von Handelnden auf im Handeln fundierte Zusammenhänge konstitutiv ist, stellt sich für beide gleichermaßen das mit dieser Relation verbundene spezifische Objektivitätsproblem. Die Annäherung der Historie an die Sozialwissenschaften enthebt sie also nicht dieses Problems. Daher ist im folgenden der Frage weiter nachzugehen, ob bzw. wie Objektivität im Bereich historischer Forschung möglich ist.
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Nagl-Docekal
III. OBJEKTIVITÄT ALS NOTWENDIGER FALSCHER SCHEIN: HANS-GEORG GADAMER 1 . D I E UNIVERSALITÄT DER HERMENEUTIK
Da sich Gadamers Kritik an Dilthey an entscheidenden Punkten als plausibel erwiesen hat, empfiehlt es sich, auf seine Position genauer einzugehen und zu untersuchen, was sie zur Theorie der Geschichtswissenschaft beizutragen hat. Dabei zeigt sich vor allem, daß Gadamer eigentlich nicht an Fragen der Wissenschaftstheorie im engeren Sinn orientiert ist, sondern daß es ihm darauf ankommt, die weitgehend unreflektierten Voraussetzungen der Wissenschaften in Sicht zu bringen, um damit in einer Zeit, in der die öffentliche Meinung zunehmend in den Bann der Wissenschaften gerät, deren Grenzen deutlich zu markieren. So mündet für ihn die Frage nach der Methode der Geisteswissenschaften in die Reflexion der den Geisteswissenschaften zugrunde liegenden Erfahrungsweise, die er als die vor- bzw. außerwissenschaftliche Erfahrung von Kunst und Geschichte bestimmt. Diese Erfahrungsweise stellt für ihn selbst wieder eine Besonderung dar, die auf „das allgemeine Weltverhältnis des Menschen" 1 ) rückzubeziehen ist. Es geht Gadamer also primär darum, das „vergegenständlichende Verfahren" der Wissenschaften als das „Resultat einer Abstraktion" zu erweisen und demgegenüber auf das den Wissenschaften vorausliegende „ursprüngliche Weltverhältnis . . ., das in der Sprachverfassung unserer Welterfahrung gegeben ist" 2 ), aufmerksam zu machen. Im Zentrum dieser Überlegungen Gadamers steht der Terminus Hermeneutik. Es ist allerdings nicht einheitlich bestimmt,
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sondern erhält, dem eben charakterisierten Aufbau der Argumentation entsprechend, verschiedene Bedeutungen. Ausgehend von der traditionellen wissenschaftstheoretischen Verwendungsweise des "Wortes, erfolgt eine stufenweise Erweiterung, so daß es zuletzt die Seinsweise des Menschen im allgemeinen bezeichnet. So kann Gadamer im Schlußkapitel von „Wahrheit und Methode" resümieren: „Wir . . . waren angesichts der Erfahrung von Kunst und Geschichte zu einer universalen Hermeneutik geführt worden, die das allgemeine Weltverhältnis des Menschen betraf. . . . ja, die Begriffe von ,Kunst' und ,Geschichte' selber sind Auffassungsformen, die sich aus der universalen Seinsweise des hermeneutischen Seins als Formen der hermeneutischen Erfahrung erst ausgliedern." 3 ). Es ist also bei der Lektüre Gadamers darauf zu achten, daß das Wort Hermeneutik auf vierfache Weise verwendet wird. Es bezeichnet (I.J die spezifische Methode der Geisteswissenschaften, (II.) die außerwissenschaftliche Erfahrung von Kunst und Geschichte, (III.) das allgemeine Weltverhältnis des Menschen und (IV.) die philosophische Reflexion der in (I.) bis (III.) ausgesprochenen Problematik. Macht man es sich nun zur Aufgabe, die Relevanz der Philosophie Gadamers für die Theorie der Geisteswissenschaften zu untersuchen, so ist sein Argumentationsgang in umgekehrter Richtung aufzunehmen. Es gilt, zunächst dem Konzept der ursprünglichen hermeneutischen Erfahrung nachzugehen und dann zu fragen, welche wissenschaftstheoretischen Konsequenzen sich daraus ergeben. Der systematische Ausgangspunkt Gadamers ist der Umstand, daß sich der gesamte Weltbezug des Menschen wesentlich über die Sprache herstellt. Er sucht zu zeigen, „daß die Sprache eine Mitte ist, in der sich Ich und Welt zusammenschließen oder besser: in ihrer urprünglichen Zusammengehörigkeit darstellen" 4 ). Dabei ist für ihn die Überlegung entscheidend, daß die Sprache „nicht Abbildung eines fix Gegebenen" ist, sondern eine eigentümliche „spekulative Struktur" 5 ) aufweist. Die Vermittlung von Ich und Welt in der Sprache ist für ihn 11*
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keine „Aktivität des Subjekts", sondern ein „Tun der Sache selbst . . das das Denken ,erleidet'". Das Sprechen erscheint so als der „subjektive Reflex" dieses Tuns, als ein Vollzug, in dem sich die Sache selbst zur Sprache bringt. In weiterer Konsequenz erscheinen die Dinge als die eigentlich sprechenden: „So reden wir ja nicht nur von einer Sprache der Kunst, sondern auch von einer Sprache der Natur, ja überhaupt von einer Sprache, die die Dinge führen." 6 ) Damit bleibt die Sprachlichkeit nicht bloß auf den Menschen beschränkt, sondern sie wird auch zur „Seinsverfassung des Verstandenen". „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache", lautet Gadamers Formel für die Neubestimmung von Sprachlichkeit. „Die spekulative Seinsart der Sprache erweist damit ihre universelle ontologische Bedeutung." Der Bezug des Menschen auf das Seiende gewinnt jetzt den Charakter der „Interpretation" 7 ). Es ist diese Wendung seiner Argumentation, die es für Gadamer möglich macht, den traditionellerweise auf das Gespräch respektive das Verstehen von Texten bezogenen Terminus Hermeneutik auf die Gesamtheit der sprachlichen Vermittlung von Ich und Welt zu übertragen und damit den „universalen Aspekt der Hermeneutik" 8 ) herauszustellen. Gadamer hebt dadurch die hermeneutische Fragestellung selbst auf eine neue Ebene; sie nimmt nun eine „ontologische Wendung" 9 ) und bezieht sich auf die allgemeine „SprachVerfassung unserer Welterfahrung". Diese Erweiterung der hermeneutischen Fragestellung hat aber zur Folge, daß sich der Unterschied von Sprachlichkeit und Gespräch bei Gadamer zunehmend verwischt. Es ist kein Zufall, wenn der Ausdruck „hermeneutisches Universum" unvermerkt zwei verschiedene Bedeutungen erhält und einmal die Gesamtheit der zur Sprache gekommenen Welt, einmal das Insgesamt menschlicher Gesprächsbezüge bezeichnet 10 ). Werden aber Sprachlichkeit und Gespräch nicht hinlänglich unterschieden, so bedeutet das nicht zuletzt eine Gefährdung für Gadamers eigenes Anliegen, die Vereinigung von Ich und Welt in der „Mitte der Sprache" 11 ) klarzulegen. Wo die Sprachlichkeit der Weltauffassung auch nur gesprächsanalog verstan-
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den wird, sind die Dinge und das Ich neuerlich als getrennte gedacht. Gadamer beruft sich hier zu Unrecht auf Hegel, da dieser in seiner Philosophie des Begriffs eine solche Trennung gerade ausschließt. In diesem Zusammenhang ist nicht zu übersehen, daß Gadamer von einer kritischen Intention ausging, nämlich gegenüber der Subjektivitätsphilosophie. Er wendete sich dabei gegen die Isolierung des erkennenden Subjekts als den Ursprung jenes Objektivismus, auf dem die Wissenschaften beruhen. Sieht man dieses Motiv der Kritik hinter Gadamers Vorhaben, die „ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Ich und Welt" 1 2 ) aufzuzeigen, so erklärt sich die eben gezeigte Widersprüchlichkeit. Gadamer geriet gegenüber der kritisierten Position gewissermaßen ins andere Extrem, so daß nun die „Sache selbst" als isoliertes Subjekt erscheint. Diese Entwicklung spielt im weiteren Aufbau der Theorie Gadamers eine nicht unwesentliche Rolle. Sie hat zur Folge, daß die Struktur der Hermeneutik in ihrer allgemeinsten Form ein deutliches Gefälle aufweist, indem das Ich bloß rezeptiv bestimmt wird. Da für Gadamer, wie gesagt, die Hermeneutik in diesem allgemeinen Sinn (Hermeneutik III) die grundlegende ist, aus der sich die besonderen Formen hermeneutischer Erfahrung (Hermeneutik II) erst ausgliedern, ergeben sich daraus weitreichende Konsequenzen, auf die noch einzugehen sein wird. Sieht Gadamer seine Konzeption der erweiterten Hermeneutik im Zeichen der Kritik an der Philosophie der Tradition, so wendet er sich dabei nicht nur gegen die Isolierung des Subjekts, sondern zugleich dagegen, daß es als ein sich selbst einholendes, unendliches vorgestellt wird. Gadamer hält einem solchen Philosophieren entgegen, daß es die grundsätzliche Endlichkeit des Menschen verkennt 13 ). Wenn er die Sprachlichkeit der menschlichen Weltauffassung als hermeneutischen Prozeß interpretiert, so sieht er darin eine Überwindung dieser „Unendlichkeitsmetaphysik" 14 ). Die hermeneutische Struktur impliziert für ihn, daß die Erfahrung der Welt je und je neu gemacht wird und nicht im Wissen eines Subjekts von einem
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„ f i x Gegebenen" ihren Abschluß finden kann. „Wenn w i r von der Sprachlichkeit des Verstehens ausgehen, unterstreichen wir . . . die Endlichkeit des sprachlichen Geschehens, in dem sich das Verstehen jeweils konkretisiert. Die Sprache, die die Dinge führen — welche Art Dinge es jeweils sein mögen — , ist nicht der λόγος ούσίας und vollendet sich nicht in der Selbstanschauung eines unendlichen Intellekts — sie ist die Sprache, die unser endlich-geschichtliches Wesen vernimmt" 1 5 ). Damit tritt an der Hermeneutik im allgemeinsten Sinn die Geschichtlichkeit als zentrales Charakteristikum hervor. Dieses Fundament der Philosophie Gadamers enthält bereits die wesentlichen Voraussetzungen f ü r seine Beurteilung der vorliegenden Wissenschaften. Entscheidend ist dabei, daß die Unterschiede zwischen den beiden großen Wissenschaftsgruppen in ihrer Bedeutung weitgehend zurücktreten. Gadamer betont, daß alle Wissenschaften in doppelter Hinsicht übereinstimmen: Alle stammen aus der einen ursprünglichen Form der menschlichen Weiterfahrimg, dem Verstehen im allgemeinsten Sinn, und alle verleugnen diese Basis und setzen sich damit der gleichen Kritik aus. Hier wird deutlich, daß Gadamers Ansatz in eine gravierende Differenz zu Dilthey führt. Mit der Erweiterung des Verstehensbegriffs erscheinen die Wissenschaften, jedenfalls in ihrer bisherigen Gestaltung, als gegenüber dem Verstehen gleichermaßen defizient. M i t Bezug auf die Naturwissenschaften stellt Gadamer fest, daß sie sich „aus dem ursprünglichen Weltverhältnis herausreflektiert" haben 1 6 ). Ihr Objektivitätsideal verrate ein „ontologisches Vorurteil", d. h. die Vorstellung der Welt als eines „ A n sichseins", das die Wissenschaft als ihr Objekt zu erfassen habe. Die Folge davon sei ein „falscher Methodologismus". Andererseits gesteht Gadamer den Naturwissenschaften zu, daß sie „der wachsenden Beherrschung des Seins . . . zu dienen" vermögen 1 7 ); es fragt sich aber, ob dies mit seiner Kritik vereinbar ist. Wenn die Naturwissenschaften auf einer ontologischen Fehleinschätzung beruhen, wie ist dann ihre Herrschaft über die N a t u r zu begründen? Gadamers Aussagen bleiben ambi-
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valent, und eine analoge Ambivalenz wird auch in bezug auf die Geisteswissenschaften festzustellen sein. Hier stellt sich ferner die Frage, ob das Bild der Naturwissenschaften, das Gadamers Argumentation zugrunde liegt, deren tatsächlicher Arbeitsweise und deren Selbstverständnis entspricht. Die neuere Wissenschaftstheorie, zumindest seit Popper und Hempel und insbesondere seit Kuhns Untersuchungen zur Wissenschaftsgeschichte, entwirft jedenfalls ein anderes Bild. Gewiß ist dadurch die These von der den Naturwissenschaften zugrunde liegenden Abstraktion nicht widerlegt, aber sie bedarf einer anderen Begründung als bei Gadamer. Der Abstraktionsvorgang stellt sich nicht als die Vergegenständlichung des immer neu zur Sprache kommenden Seins zum Ansichsein eines Objekts dar, sondern als die Selbstbeschränkung auf eine bestimmte, am Schema der Subsumtion orientierte Fragestellung, in der der Gesamtumfang des ursprünglichen Weltverständnisses ausgeblendet wird. Es scheint, daß Gadamer bei aller Kritik an Dilthey dessen Vorstellung von der Vorgangsweise der Naturwissenschaften ganz selbstverständlich übernommen hat. Für die in der Tradition des Historismus stehenden Geisteswissenschaften ergibt sich aus Gadamers Ansatz eine Kritik von derselben Struktur wie die den Naturwissenschaften gegenüber geäußerte. Auch sie machen sich ein hypostasiertes Ansichsein zum Gegenstand und reflektieren sich damit aus dem ursprünglichen hermeneutischen Zusammenhang heraus. Aber wie erwähnt, umreißt Gadamer eine besondere Ausformung von Hermeneutik als die ursprüngliche Erfahrungsbasis, von der sich die Geisteswissenschaften abgetrennt haben. So ist vorerst näher auf diese besondere Form hermeneutischer Erfahrung (Hermeneutik II) einzugehen. Erst im Anschluß daran kann die Frage gestellt werden, ob von Gadamers Philosophie Impulse für die Konstituierung eines neuen Typs von Geisteswissenschaften ausgehen, der nicht mehr an einem unhaltbaren Objektivitätsbegriff orientiert ist.
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Hans-Georg Gadamer 2 . D I E URSPRÜNGLICHE ERFAHRUNG DER WAHRHEIT DER ÜBERLIEFERUNG
Gadamer wählt zuerst das Beispiel der Kunst, um die Differenz von geisteswissenschaftlicher Vorgangsweise und ursprünglicher hermeneutischer Relation zu erläutern. Er hofft an der Kunst besonders leicht plausibel machen zu können, daß das methodische Verfahren der Wissenschaft das nicht erreicht, was in der ursprünglichen Erfahrung vor sich geht. „Hier ist die wissenschaftliche Erforschung, die die sogenannte Kunstwissenschaft betreibt, sich dessen von vorneherein bewußt, daß sie die Erfahrung der Kunst weder ersetzen noch überbieten kann." 1 8 ) Dieses außerhalb der Kunstwissenschaft liegende Kunstverständnis ist für Gadamer vor allem dadurch gekennzeichnet, „daß an einem Kunstwerk Wahrheit erfahren wird, die uns auf keinem anderen Wege erreichbar ist" 1 9 ). Die Kunst ist dabei, wie gesagt, lediglich ein besonders einleuchtendes Beispiel für ein viel umfassenderes Phänomen. „Wie wir es in der Erfahrung der Kunst mit Wahrheiten zu tun haben, die den Bereich methodischer Erkenntnis grundsätzlich übersteigen, so gilt ein Ähnliches für das Ganze der Geisteswissenschaften, in denen unsere geschichtliche Überlieferung in allen ihren Formen zwar auch zum Gegenstand der Erforschung gemacht wird, aber zugleich selber in ihrer Wahrheit zum Sprechen kommt. Die Erfahrung der geschichtlichen Überlieferung reicht grundsätzlich über das hinaus, was an ihr erforschbar ist. Sie ist nicht nur in dem Sinne wahr oder unwahr, über den die historische Kritik entscheidet — sie vermittelt stets Wahrheit, an der es teil zu gewinnen gilt." 20 ) Die grundlegende Bestimmung der besonderen Form von Hermeneutik, aus der sich die Geisteswissenschaften „herausreflektiert" haben, liegt also darin, daß sie Erfahrung der Wahrheit der Uberlieferung ist. Von hier aus erklärt sich im übrigen auch der Titel von Gadamers Hauptwerk. Er verweist auf Gadamers Bemühen, die ursprüngliche Erfahrung von Wahrheit gegen eine „Theorie zu verteidigen, die sich vom
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Wahrheitsbegriff der Wissenschaft beengen läßt" 21 ). Gadamer erweitert also den Wahrheitsbegriff parallel zur Erweiterung des Begriffs Hermeneutik gegenüber dem bloß auf die Methode der Geisteswissenschaften bezogenen. Eine ebenso zentrale Rolle spielt das Wort Erfahrung, so daß näher zu untersuchen ist, welche Bedeutung es für ihn hat. In einem Kapitel, das er selbst für eines der zentralen von „Wahrheit und Methode" hält, verfolgt Gadamer die Geschichte des Begriffs Erfahrung und entfaltet dabei dessen wesentliche Momente bzw. die für ihn wesentlichen. Er hebt vor allem den negativen Charakter der Erfahrung hervor. Sie „ist nicht einfach als die bruchlose Herausbildung typischer Allgemeinheiten zu beschreiben. Diese Herausbildung geschieht vielmehr dadurch, daß ständig falsche Verallgemeinerungen durch die Erfahrung widerlegt, für typisch Gehaltenes gleichsam enttypisiert wird. Das prägt sich schon sprachlich darin aus, daß wir in einem doppelten Sinne von Erfahrung sprechen, einmal von den Erfahrungen, die sich unserer Erwartung einordnen und sie bestätigen, sodann aber von der Erfahrung, die man ,macht'. Diese, die eigentliche Erfahrung, ist immer eine negative. Wenn wir an einem Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, daß wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser wissen, wie es damit steht." 22 ) Die grundsätzliche Negativität der Erfahrung impliziert für Gadamer, daß sie wesentlich rezeptiven Charakter hat. Er sieht „das Zustandekommen der Erfahrung als ein Geschehen, dessen niemand Herr ist" 2 3 ). In diesem Sinn ist es auch gemeint, wenn er schreibt: „Jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, durchkreuzt eine Erwartung" 24 ). Im Anschluß daran ergibt sich für ihn das nächste wesentliche Moment: die Nichtbeherrschbarkeit der Erfahrung führt dem Menschen seine eigenen Grenzen vor Augen. „Die eigentliche Erfahrung ist diejenige, in der sich der Mensch seiner Endlichkeit bewußt wird. An ihr findet das Machenkönnen und das Selbstbewußtsein seiner planenden Vernunft seine Grenze." 25 ) Wer Erfahrungen gemacht hat, weiß also, daß der Prozeß der Erfahrung grundsätz-
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lieh nicht abgeschlossen werden kann. Das „vollendete Sein dessen, den wir erfahren nennen, besteht nicht darin, daß einer schon alles kennt und alles schon besser weiß. Vielmehr zeigt sich der Erfahrene im Gegenteil als der radikal Undogmatische, der, weil er so viele Erfahrungen gemacht und aus Erfahrungen gelernt hat, gerade besonders befähigt ist, aufs neue Erfahrungen zu machen und aus Erfahrungen zu lernen. Die Dialektik der Erfahrung hat ihre eigene Vollendung nicht in einem abschließenden Wissen, sondern in jener Offenheit für Erfahrung, die durch die Erfahrung selbst freigespielt wird." 26 ) Mit dem Moment der Unabschließbarkeit ist für Gadamer ein weiteres Moment der Erfahrung eng verbunden. Wenn er zusammenfaßt: „Erfahrung ist also Erfahrung der menschlichen Endlichkeit" 27 ), so führt ihn dies in die Überlegung: „Eigentliche Erfahrung ist somit Erfahrung der eigenen Geschichtlichkeit." 28 ) Es ist kaum zu übersehen, daß Gadamer diese Bestimmungen der Erfahrung dem entnimmt, was man gewöhnlich Lebenserfahrung nennt. Er spricht zum Beispiel davon, „daß Erfahrung vorzüglich die schmerzliche und unangenehme Erfahrung ist" 29 ). Trotzdem versteht er die eben referierten Ausführungen als eine Analyse der „allgemeinen Struktur der Erfahrung". Im weiteren versucht er dann, das Verstehen als eine besondere Erfahrungsform auszuweisen. „So werden wir an der hermeneutischen Erfahrung die Momente aufzusuchen haben, die wir bei der obigen Analyse der Erfahrung unterschieden haben." 30 ) In diesem Zusammenhang ist aber zu beachten, daß Gadamer nicht alles unter seinen allgemeinen Erfahrungsbegriff subsumiert, was gewöhnlich mit dem Wort Erfahrung bezeichnet wird. Ausgeschlossen bleibt die methodische Empirie der Wissenschaften. Für Gadamer sind die Wissenschaften gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie sich nicht auf Erfahrungen einlassen, sondern einen Überlegenheitsanspruch geltend machen. Die Bestätigung dafür sieht er darin, daß nicht nur den Naturwissenschaften an „der wachsenden Beherrschung des Seins" gelegen
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ist, sondern daß auch die Geisteswissenschaften „das schlechthinnige Herrsein des Verstehenden über das Sein" 31 ) beanspruchen. Letzteres ist für ihn dadurch belegt, daß die Geisteswissenschaften vom Wahrheitsanspruch der Überlieferung abstrahieren. Erfahrungen zu machen ist bei Gadamer dagegen nur dem möglich, der sich nicht als überlegen weiß und daher bereit ist, seinen eigenen Standpunkt zu riskieren und sich belehren zu lassen. Gadamer hält allerdings seine eigene Sprachregelung nicht lückenlos durch. Man findet bei ihm das Wort Erfahrung auch in einer zweiten, auf die Wissenschaften bezogenen Bedeutung, freilich, ohne daß dieser Unterschied explizit gemacht wird. Wenn Gadamer schreibt: „Überlieferung ist aber nicht einfach ein Geschehen, das man durch Erfahrung erkennt und beherrschen lernt" 32 ), so bezieht sich das Wort Erfahrung auf das methodische Verfahren der Wissenschaften, das andererseits als gerade nicht der Erfahrung fähig gekennzeichnet wurde. Gadamer schwenkt damit in den allgemein üblichen Sprachgebrauch ein. Da er diese Doppeldeutigkeit aber nicht reflektiert, stellt er auch nicht die Frage, ob vielleicht eine strukturelle Übereinstimmung der verschiedenen Phänomene die Veranlassung dafür ist. Dabei sind gerade die von ihm selbst angegebenen Momente der Erfahrung entgegen seiner Absicht geeignet, auch die wissenschaftliche Empirie zu charakterisieren. So ist das Durchkreuztwerden einer Erwartung nicht nur das Kennzeichen einer schmerzlichen Lebenserfahrung, sondern ebenso dasjenige der Falsifikation einer wissenschaftlichen Hypothese. Und aus der Sicht der neueren Wissenschaftstheorie trifft Gadamers These von der „Grenze alles Voraussehens"33) ebenso auf die empirischen Wissenschaften zu wie seine Überlegung, daß die Erfahrung ein Geschehen ist, „dessen niemand Herr ist". Daß Gadamer offenbar nicht bemerkte, daß die von ihm herausgestellten Charakteristika der Erfahrung auch für die wissenschaftliche Empirie Gültigkeit haben, ist aber nicht nur
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als ein Versehen auszulegen. Es bedeutet auch, daß er seinen Erfahrungsbegriff anders meinte, als dies aus den genannten Charakteristika unmittelbar ersichtlich ist. Wenn er davon spricht, daß „ständig falsche Verallgemeinerungen durch die Erfahrung widerlegt werden", so denkt er dabei an etwas vom gezielten, kontrollierten Lernen der Wissenschaft grundsätzlich Verschiedenes. Die Rezeptivität, die er vor Augen hat, ist die eines Ausgeliefertseins, das sich jeder methodischen Eingrenzung entzieht. Es fragt sich allerdings, ob es legitim ist, die Erfahrung in dieser Weise als bloßes Hinnehmen zu bestimmen, das heißt, ob die Realität der als Erfahrung bezeichneten Phänomene dieser Begriffsbestimmung entspricht. Immerhin heißt es in der Alltagssprache auch in bezug auf das, was man schmerzliche Erfahrung nennt, daß man eine Erfahrung „macht", nicht, daß man sie erleidet. (Um den Sprachgebrauch zu vereinheitlichen, soll im folgenden das Wort Erfahrung nur in dem von Gadamer intendierten Sinn verwendet werden.) Es bedarf wohl kaum der Erläuterung, inwiefern Gadamers allgemeine Charakterisierung der Hermeneutik seiner Bestimmung der Erfahrung entspricht. Aber es ist daran zu erinnern, daß der Begriff Erfahrung erst im Zusammenhang der Erörterung jener besonderen Form der Hermeneutik eine wesentliche Rolle spielt. So bezieht sich der Ausdruck „hermeneutische Erfahrung" bei Gadamer nur auf das Verstehen der Überlieferung: „Die hermeneutische Erfahrung hat es mit der Uberlieferung zu tun. Sie ist es, die zur Erfahrung kommen soll." 3 4 ) Fragt man nun, worin sich diese Erfahrung von anderen Formen der Erfahrung unterscheidet, so ergibt sich, daß sie die Erfahrung von Sprachlichem ist. „Überlieferung ist aber nicht einfach ein Geschehen . . ., sondern sie ist Sprache, d. h. sie spricht von sich aus so wie ein Du. Ein Du ist nicht Gegenstand, sondern verhält sich zu einem." 35 ) Das Gespräch mit dem Du als Erfahrung von Sprachlichem ist also für Gadamer das Paradigma hermeneutischer Erfahrung. Im folgenden wird zu zeigen sein, daß sich daran der Hauptwiderspruch der Position Gadamers manifestiert.
Wirkungsgeschichtliches und historisches Bewußtsein 3 . D I E D I F F E R E N Z VON
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WIRKUNGSGESCHICHTLICHEM
UND HISTORISCHEM B E W U S S T S E I N
In einer für den gesamten Gedankengang von „Wahrheit und Methode" signifikanten Passage unterscheidet Gadamer drei Arten des Umgangs mit dem Du und macht daran sowohl den Unterschied zwischen verschiedenen Typen der Humanwissenschaften als auch den Unterschied zwischen diesen und der außerwissenschaftlichen hermeneutischen Erfahrung deutlich. An unterster Stelle rangiert dabei die Beobachtung des Du, „die aus dem Verhalten des Mitmenschen Typisches heraussieht" und dadurch die Möglichkeit der „Voraussicht des anderen gewinnt . . ., d. h. wir können mit ihm rechnen. Sein Verhalten dient uns genauso als Mittel zu unseren Zwecken wie alle Mittel sonst" 3 6 ). Gadamer faßt diese Form des Verhaltens zum Du unter der Bezeichnung Menschenkenntnis zusammen. (Ob es gerechtfertigt ist, die Bedeutung des Wortes Menschenkenntnis auf den manipulativen Gebrauch des Mitmenschen einzuschränken, kann in diesem Zusammenhang nicht untersucht und soll lediglich als Frage angemerkt werden 37 ).) Zum Prinzip von Wissenschaft erhoben, führt dieses Verhalten zum Du in die „Methode der Sozialwissenschaften, wie sie dem Methodengedanken des 18. Jahrhunderts und seiner programmatischen Formulierung durch Hume entspricht, in Wahrheit ein der naturwissenschaftlichen Methodik nachgearbeitetes Klischee" 38 ). Auch die Sozialwissenschaften sehen „nur das Typische, Gesetzmäßige im menschlichen Verhalten", weshalb Gadamer sie als „schematische Reduktion" bezeichnet. „Wer die Uberlieferung in dieser Weise versteht, der macht sie zum Gegenstand, d. h. aber, er tritt der Uberlieferung frei und unbetroffen gegenüber, und indem er alle subjektiven Momente im Bezug zur Überlieferung methodisch ausschaltet, wird er dessen gewiß, was sie enthält." 39 ) (Gadamer verwendet hier das Wort „verstehen" offenbar im alltagssprachlichen Sinn, denn es bezieht sich weder auf die hermeneutische Erfahrung noch auf die spezifische Methode der Geisteswissenschaften.) Was Gadamer auf der
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Ebene der individuellen Ich-Du-Beziehung als Menschenkenntnis bezeichnet, das findet also im Bereich der Wissenschaft seine Entsprechung in der sozialwissenschaftlichen Gewißheit über gesetzmäßige Zusammenhänge. Dem manipulativen Gebrauch des durchschauten Mitmenschen entspricht der Herrschaftsanspruch der Wissenschaften, von dem bereits die Rede war. Die zweite Form des Umgangs mit dem Du, die Gadamer unterscheidet, ist „sachlich angemessener als die Menschenkenntnis, die den anderen nur zu berechnen sucht" 40 ). Hier wird das Du bereits „als Person anerkannt". Gadamer skizziert ein Verhalten, das sich im klaren darüber ist, daß das Du einen Anspruch zu machen hat, das aber trotzdem nicht über die „Ichbezogenheit" hinausgelangt. Dieses Versagen entsteht dadurch, daß das Ich beansprucht, „den Anspruch des anderen von sich aus zu kennen, ja sogar ihn besser zu verstehen, als er sich selbst versteht. Damit verliert das Du die Unmittelbarkeit, mit der es seinen Anspruch an einen richtet. Es wird verstanden, d. h. aber vom Standpunkt des anderen aus antizipiert und reflektierend abgefangen" 41 ). Gadamer konstatiert dieses Verhalten in einem weiten Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen: „Sofern dies ein wechselseitiges Verhältnis ist, macht es die Wirklichkeit des Ich-Du-Verhältnisses selbst mit aus. Die innere Geschichtlichkeit aller Lebensverhältnisse zwischen Menschen besteht darin, daß die gegenseitige Anerkennung ständig umkämpft ist."42) Die zwischenmenschliche Beziehung, die von diesem Verhalten geprägt ist, stellt sich so dar, „daß jeder Partner des Verhältnisses den anderen reflektierend überspielt" 43 ). Die Wechselseitigkeit dieses Verhaltens beobachtet Gadamer nicht nur an Beziehungen gleichstarker Partner, sondern auch an Abhängigkeits- und sogar an extremen Herrschaftsverhältnissen. „Selbst im Knecht ist noch Wille zur Macht, der sich gegen den Herrn kehrt, wie Nietzsche richtig gesagt hat." 44 ) Gadamer nennt das die „Dialektik der Gegenseitigkeit". „Selbst die extremsten Formen von Herrschaft und Knechtschaft sind ein echtes dialektisches Verhältnis von der Struktur, die Hegel herausgearbeitet hat." 45 )
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Den verschiedenen Spielarten des reflektierenden Verhältnisses ist nicht nur die Gegenseitigkeit gemeinsam, sondern auch, daß sie sich diese nicht eingestehen. „Diese Dialektik der Gegenseitigkeit, . . ., ist aber dem Bewußtsein des einzelnen notwendig verdeckt . . . Ja, das eigene Selbstbewußtsein besteht geradezu darin, sich der Dialektik dieser Gegenseitigkeit zu entziehen, sich selber aus der Beziehung zum anderen herauszureflektieren und dadurch von ihm unerreichbar zu werden." Ein besonders eklatantes Beispiel dafür sieht Gadamer im Fürsorgeverhältnis. „Indem man den anderen versteht, ihn zu kennen beansprucht, nimmt man ihm jede Legitimation seiner eigenen Ansprüche. Insbesondere die Dialektik der Fürsorge macht sich auf diese Weise geltend, indem sie alle mitmenschlichen Verhältnisse als eine reflektierte Form des Herrschaftsstrebens durchdringt. Der Anspruch, den anderen vorgreifend zu verstehen, erfüllt die Funktion, sich den Anspruch des anderen in Wahrheit vom Leibe zu halten. Dergleichen ist etwa aus dem Erziehungsverhältnis, einer autoritativen Form der Fürsorge, wohl bekannt." 46 ) Zum Prinzip der Wissenschaft erhoben, führt diese zweite Form des Verhaltens zum Du nach Gadamer in die Geisteswissenschaften. Mit Bezug auf die Geschichte führt sie in das, was Gadamer „das historische Bewußtsein" (im Unterschied zum „wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein") nennt 47 ). So wie im reflektierenden Verhältnis das Du als Person gewußt wird, so weiß das historische Bewußtsein „um die Vergangenheit in ihrer Andersheit . . . Es sucht im Anderen der Vergangenheit nicht den Fall einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit, sondern ein historisch Einmaliges"48). Aber auch das historische Bewußtsein überspielt den ihm entgegentretenden Anspruch — die traditionelle Hermeneutik zielt darauf ab, die Autoren der Vergangenheit besser zu verstehen, als sie sich selbst verstanden haben. Für das Moment der Wechselseitigkeit findet Gadamer im Verhältnis zur Geschichte darin ein Pendant, daß das historische Bewußtsein selbst historisch bedingt ist, d. h., daß es selbst in einem „Lebensverhältnis zur Überlieferung"steht 49 ). Und so wie
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den Individuen die Gegenseitigkeit ihres Verhaltens verdeckt bleibt, so macht sich auch das historische Bewußtsein diesen Lebenszusammenhang nicht klar. Es ist vielmehr gerade dadurch gekennzeichnet, daß es sich aus dem Überlieferungszusammenhang „herausreflektiert", was darin zum Ausdruck kommt, daß es „seine eigene geschichtliche Bedingtheit verleugnet" und von „seiner Vorurteilslosigkeit" und damit von der „Objektivität seines Verfahrens" überzeugt ist 50 ). Was Gadamer am Fürsorgeverhältnis beobachtet hat, findet er in analoger Weise am historischen Bewußtsein wieder, daß es nämlich „in Wahrheit der Vergangenheit gleichsam Herr zu werden sucht" 51 ). So stimmen für ihn die Geisteswissenschaften trotz aller Verschiedenheit mit den Sozialwissenschaften darin überein, daß sie einen Herrschaftsanspruch geltend machen. Die dritte Form des Verhaltens zum Du, die Gadamer unterscheidet, ist für ihn das Modell der ursprünglichen hermeneutischen Erfahrung. Er hat dabei eine Zuwendung zum Mitmenschen vor Augen, die „echte menschliche Bindung" ermöglicht. „Zueinandergehören heißt immer zugleich Auf-einander-Hörenkönnen. Wenn zwei einander verstehen, so heißt das ja nicht, daß einer den anderen ,versteht', d. h. überschaut." Die dritte Form des Umgangs mit dem Du hat daher in der „Offenheit" ihre zentrale Bestimmung. Offenheit bedeutet die Anerkennung, „daß ich in mir etwas gegen mich gelten lassen muß", bedeutet die Bereitschaft, „das Du als Du wirklich zu erfahren, d. h. seinen Anspruch nicht zu überhören und sich etwas von ihm sagen zu lassen" 52 ). Auf die Auseinandersetzung mit der Überlieferung bezogen, führt diese Verhaltensweise in das „wirkungsgeschichtliche Bewußtsein" 53 ). Dieses unterscheidet sich vom historischen Bewußtsein im wesentlichen dadurch, daß es die eigene Geschichtlichkeit mitdenkt. Es gesteht sich seine „geschichtliche Bedingtheit" ein und kann daher der Uberlieferung gegenüber keinen Herrschaftsanspruch geltend machen. So wie in einer privaten Bindung einer auf den anderen hört, so zeigt auch das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein „Offenheit für die
W i r k u n g s g e s c h i c h t l i c h e s u n d historisches B e w u ß t s e i n
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Überlieferung": „Ich muß die Überlieferung in ihrem Anspruch gelten lassen, nicht im Sinne einer bloßen Anerkennung der Andersheit der Vergangenheit, sondern in der Weise, daß sie mir etwas zu sagen hat." 54 ) Hier zeigt sich, aufgrund welcher Überlegungen Gadamer dazu gelangt, die ursprüngliche Vermittlung der Überlieferung als Erfahrung zu bezeichnen. Es ist das Moment der Offenheit, das ihm die Möglichkeit gibt, das vom Modell des Gesprächs her gedachte wirkungsgeschichtliche Bewußtsein als Erfahrung zu bestimmen. Um dies zu präzisieren, führt Gadamer aus, daß zwei Arten von Offenheit zu unterscheiden sind. Einerseits die kontrollierte Offenheit, die sich auf den einen beschränkt, „von dem man sich etwas sagen lassen will" 55 ). Sie entspricht jener Rezeptivität, die auch in den Wissenschaften anzutreffen ist, aber stets eine gezielte bleibt. Deshalb betont Gadamer, „daß das historische Bewußtsein gar nicht wirklich offen ist, sondern vielmehr, wenn es seine Texte ,historisch' liest, die Überlieferung immer schon vorgängig und grundsätzlich nivelliert hat, so daß die Maßstäbe des eigenen Wissens durch die Überlieferung niemals in Frage gestellt werden können" 56 ). Andererseits kennt Gadamer die „grundsätzliche Art der Offenheit" 57 ), die das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein kennzeichnet. Sie riskiert nicht nur einen jeweils bestimmten Vorentwurf, sondern selbst „die Maßstäbe des eigenen Wissens". Es ist Offenheit in diesem Sinn, die für Gadamer das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein als eine Form der Erfahrung erweist. „Das hermeneutische Bewußtsein hat seine Vollendung nicht in seiner methodischen Selbstgewißheit, sondern in der gleichen Erfahrungsbereitschaft, die den Erfahrenen gegenüber dem dogmatisch Befangenen auszeichnet." 58 ) Trotz dieser Präzisierung erhebt sich aber hier die Frage, ob Gadamers Erfahrungsbegriff in allen seinen Momenten auf das Gespräch oder ein dem Gespräch analoges Verhältnis anwendbar ist. So gehört zu einem Gespräch nicht bloß die Rezeptivität des Hörenkönnens, sondern ebenso die Spontaneität des Sprechens. In diesem Sinne spricht Gadamer selbst vom „Auf-einander-Hörenkönnen". Die 12
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weitere Auseinandersetzung mit seiner Argumentation wird zeigen, wie er dieser Spannung auszuweichen suchte. Die doppelte Bedeutung des Wortes Offenheit entspricht übrigens einem Grundmuster, das auch die Verwendungsweise anderer Worte prägt. Es hat sich bereits an der Neubestimmung und anschließenden Mehrfachverwendung der Worte Hermeneutik, Wahrheit und Erfahrung gezeigt. Die Vermehrung der Wortbedeutungen entsteht immer im Zusammenhang der Bemühung Gadamers, jenes Verhältnis zur Uberlieferung zu bestimmen, das den Geisteswissenschaften vorausliegt (und in weiterer Folge dieses Verhältnis als eine besondere Form des allgemeinen Weltbezugs des Menschen darzustellen). An manchen Stellen versucht Gadamer auch, die von ihm zur Charakterisierung der ursprünglichen Vermittlung der Überlieferung neubestimmten Worte dieser Verwendung ausschließlich vorzubehalten. Diese Intention, die der Unterscheidung von Wahrheit und Methode ebenso zugrundeliegt wie der Abtrennung von Erfahrung und wissenschaftlicher Empirie, zeigt sich auch an der Verwendungsweise des Wortes „verstehen". Gadamer zieht es mitunter vor, in bezug auf das methodisch gesicherte Wissen auf das Wort „verstehen" zu verzichten und stattdessen das Wort „begreifen" zu verwenden. Begreifen meint dann das Erfassen des in der Vergegenständlichung distanzierten Objekts durch die Wissenschaft, Verstehen dagegen den ursprünglichen Prozeß der Wahrheitsvermittlung. In diesem Sinn formuliert Gadamer, „daß Sein nicht erfahren wird, wo etwas von uns hergestellt werden kann und insofern begriffen ist, sondern dort, wo, was geschieht, lediglich verstanden werden kann" 5 9 ). Er hält diesen Wortgebrauch allerdings nicht konsequent durch, so daß sich auch das Wort „verstehen" in doppelter und schließlich dreifacher Bedeutung, dem genannten Grundmuster entsprechend, findet. Für eine genauere Untersuchung der Argumentation Gadamers ist es aufschlußreich, in welcher Weise er die Philosophie als Beispiel heranzieht. Er unterscheidet eine bloß philosophiegeschichtliche Bearbeitung der philosophischen Tradition vom
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eigentlich philosophischen Verständnis derselben. Die textkritische Bearbeitung stellt die verschiedenen philosophischen Positionen nebeneinander, ohne von ihrem jeweiligen Wahrheitsanspruch tangiert zu sein. Die Wissenschaftlichkeit wird um den Preis der Abstraktion von der Wahrheitsfrage erkauft. Dagegen bleibt der im eigentlichen Sinn Philosophierende von den historischen Texten der Philosophie nicht in dieser Weise untangiert. „Es gehört zur elementaren Erfahrung des Philosophierens, daß die Klassiker des philosophischen Gedankens, wenn wir sie zu verstehen suchen, von sich aus einen Wahrheitsanspruch geltend machen."60) Das Verstehen der philosophischen Überlieferung erscheint Gadamer deshalb als eine der philosophiegeschichtlichen Forschung „überlegene Erfahrung" 81 ). Es zeigt seine Überlegenheit nicht zuletzt darin, daß es den Objektivitätsanspruch der Philosophiehistorie als „Schein . . . durchschauen läßt" 62 ). In diesem Zusammenhang fällt auf, daß Gadamer mit Bezug auf die „Erfahrung der Philosophie" ebenso wie mit Bezug auf die „Erfahrung der Kunst" und auf die „Erfahrung der Geschichte" von „außerhalb der Wissenschaft stehenden Erkenntnisweisen" 63 spricht. Er übergeht damit die Tatsache, daß sich die systematische Philosophie in ihrer Auseinandersetzung mit den philosophischen Werken der Tradition seit jeher als Wissenschaft bezeichnete. Das heißt, er bezieht das Wort Wissenschaft nur auf die Natur- und Geisteswissenschaften, so wie sie ihm vorliegen und er sie durch die übereinstimmenden Momente: Sich-Herausreflektieren, Uberlegenheitsanspruch und Objektivitätsideal, gekennzeichnet sieht. Um dem Wissenschaftsanspruch der Philosophie gerecht zu werden, hätte es aber einer weiteren Fassung des Begriffs Wissenschaft bedurft. Es fragt sich also, warum Gadamer im Zuge seiner Doppel- und Mehrfachbestimmung von Begriffen wie Hermeneutik und Wahrheit und nach deren Muster nicht auch den Begriff der Wissenschaft erweitert hat, insbesondere da dies die Geschichte dieses Begriffs ohnehin nahegelegt hätte. Diese Frage richtet sich nicht zuletzt auch an sein Selbstverständnis. Darüber hinaus 12·
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wird sich zeigen, daß es auch für die Theorie der Geisteswissenschaften nicht gleichgültig sein kann, wenn der Wissenschaftsbegriff in dieser Weise eng gefaßt wird. Gadamers Beschränkung des Wissenschaftsbegriffs ist darauf zurückzuführen, daß er das Moment der Kritik aus dem Prozeß der Wahrheitsvermittlung ausblendet. Auch dafür ist das Beispiel der Philosophie aufschlußreich. Gadamer kennzeichnet die „Erfahrung der Philosophie" durch zwei ähnlich klingende Bestimmungen, nämlich dadurch, daß ein Wahrheitsanspruch anerkannt und daß Wahrheit erkannt wird. Seine Verwendungsweise dieser beiden Formulierungen läßt darauf schließen, daß sie für ihn identisch sind. Es ist aber zu bedenken, daß sie sich auf verschiedene Komponenten der Auseinandersetzung systematischer Philosophie mit der philosophischen Tradition beziehen. Den Wahrheitsanspruch anzuerkennen bedeutet den Ausgangspunkt, der die systematische Auseinandersetzung mit überlieferten Texten von einer historischen im Sinne des Historismus unterscheidet. Im weiteren muß erst die Wahrheitsfrage selbst gestellt werden. Den Wahrheitsanspruch anzuerkennen bedeutet also nicht mehr als das Zugeständnis an einen Text, daß er möglicherweise Wahrheit vermittelt. Ob er es tatsächlich tut, kann erst die eingehende Kritik entscheiden. Es ist bezeichnend, daß Gadamer nicht zur Sprache bringt, daß es einander jeweils widersprechende Positionen sind, die im Rahmen der Überlieferung mit Wahrheitsanspruch auftreten und die gegeneinander abgewogen und geprüft werden müssen, so daß schon von der Überlieferung selbst her Kritik gefordert ist. Für ihn ist die Überlieferung lediglich Präsentation von „Wahrheit, an der es teil zu gewinnen gilt" 6 4 ).
4 . DAS AUTORITÄTSVERHÄLTNIS ALS M O D E L L DER HERMENEUTISCHEN
ERFAHRUNG
Die Ausblendung der Kritik indiziert den entscheidenden Bruch in der Argumentation Gadamers. Sie macht deutlich, daß Gadamer die hermeneutische Erfahrung nicht konsequent
Das AutoritätsVerhältnis
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vom Modell des Gesprächs her gedacht hat. Mit diesem Modell wäre Kritik nicht unvereinbar gewesen, im Gegenteil: das Aufeinander-Hörenkönnen" des echten Gesprächs umfaßt mit Notwendigkeit auch die wechselseitige Kritik. Gadamer geht hier auf ein anderes Modell über, allerdings ohne dies selbst als Bruch wahrzunehmen. Er wählt das Autoritätsverhältnis als zweites Paradigma hermeneutischer Erfahrung. Er sieht dessen Kompatibilität mit dem Gesprächsmodell darin gewährleistet, daß er eine Interpretation von Autorität, in der „die Geltung der Autorität an die Stelle des eigenen Urteils tritt", als eine Deformation des Begriffs Autorität zurückweist65). Aber es ist nicht zu übersehen, daß seine eigene Bestimmung der Autorität nicht wesentlich von dieser Interpretation abweicht. „Die Autorität von Personen hat . . . ihren letzten Grund nicht in einem Akte der Unterwerfung und der Abdikation der Vernunft, sondern in einem Akt der Anerkennung und der Erkenntnis — der Erkenntnis nämlich, daß der andere einem an Urteil und Einsicht überlegen ist und daß daher sein Urteil vorgeht, d. h. vor dem eigenen Urteil den Vorrang hat." 66 ) Die Erkenntnis, von der Gadamer hier spricht, könnte so aufgefaßt werden, daß sie die Urteile des anderen selbst überprüft und so zu ihrer Bestätigung gelangt (womit die Autorität des anderen dadurch bestimmt wäre, daß er nachweisbar richtige Einsichten vermittelt hat), doch das ist es nicht, was Gadamer im Auge hat. Für ihn bedeutet Autorität, daß die Anerkennung der Person Vorrang hat und ihre Urteile als Vorurteile übernommen werden. Daran ändert auch die folgende Ergänzung nichts: „So ist die Anerkennung von Autorität immer mit dem Gedanken verbunden, daß das, was die Autorität sagt . . . im Prinzip eingesehen werden kann. Das Wesen der Autorität, die der Erzieher, der Vorgesetzte, der Fachmann in Anspruch nehmen, besteht darin. Die Vorurteile, die sie einpflanzen, sind zwar durch die Person legitimiert. Ihre Geltung verlangt Eingenommenheit für die Person, die sie vertritt. Aber eben damit werden sie zu sachlichen Vorurteilen, denn sie bewirken die gleiche Eingenommenheit für eine Sache, die auf andere
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Weise, ζ. B. durch gute Gründe, die die Vernunft geltend macht, zustande kommen kann." 67 ) Nun ist es aber nicht gleichgültig, auf welche Weise man Urteile gewinnt, ob durch gute Gründe oder als Vorurteile. Gadamer kann nicht verhehlen, daß auch für ihn „die Geltung der Autorität an die Stelle des eigenen Urteils tritt". Im übrigen fragt es sich, wie er das von der Autoritätsperson übernommene als Wahrheit bezeichnen kann bzw. als legitimes Vorurteil. Beide Bezeichnungen sind nur sinnvoll unter Bezugnahme auf eine vorgängige kritische Prüfung des Überlieferten, aber gerade die schließt Gadamers Autoritätsbegriff aus. Gadamer nimmt also zumindest für sich selbst eine Kritik in Anspruch, die er von seinem Modell her nicht begründen kann. Daß Gadamers Autoritätsbegriff tatsächlich ein vom Gesprächsverhältnis verschiedenes Paradigma darstellt, zeigt auch das Beispiel der Erziehung. An einer oben zitierten Stelle wurde über das Erziehungsverhältnis als eine Form des Fürsorgeverhältnisses gesagt, daß es sich aus der Wechselseitigkeit des Gesprächsverhältnisses herausreflektiert und einen Herrschaftsanspruch geltend macht. Wenn Gadamer nun den Erzieher als Beispiel für eine Autorität nennt, so bedeutet dies, daß er das Autoritätsverhältnis nicht als ein solches wechselseitiger Gesprächsbereitschaft denkt. Wo dann das Autoritätsverhältnis zum Paradigma hermeneutischer Erfahrung wird, ergibt sich eine gleichsam spiegelverkehrte Entsprechung von Geisteswissenschaften und dem ihnen vorausliegenden ursprünglichen Bezug zur Überlieferung. Ist es in den Geisteswissenschaften der Forscher, der an die Überlieferung mit der Überlegenheit des Erziehers herantritt, so ist es in der hermeneutischen Erfahrung die Überlieferung, die für den sie gegenwärtig Rezipierenden Autorität ist. Dem Herrschaftsanspruch des Wissenschaftlers auf der einen Seite entspricht die „Herrschaft der Tradition" 68 ) auf der anderen. Die zwei verschiedenen Paradigmata bedingen im Grunde zwei verschiedene Begriffe der hermeneutischen Erfahrung, aber Gadamer legt sich darüber nicht Rechenschaft ab. Für ihn ist
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es ein Begriff, der je nach dem Kontext anders akzentuiert ist, und er stützt sich dabei auf seine Analyse der allgemeinen Struktur der Erfahrung und die in ihr aufgewiesenen Momente. Wo er die hermeneutische Erfahrung nach dem Prinzip des Gesprächs bestimmt, tritt das Moment der Offenheit in den Vordergrund, wo er sie nach dem Prinzip der Autorität bestimmt, das Moment der Rezeptivität. Es bedarf aber kaum der Erwähnung, daß der Hauptakzent des Gadamerschen Erfahrungsbegriffs nur mit dem Modell der Autorität widerspruchsfrei verbunden werden kann. So überrascht es nicht, daß dieses für Gadamer das eigentlich maßgebliche wurde — überraschend ist vielmehr, daß die breite Rezeption Gadamers davon nicht Notiz nahm. So sieht Apel in seiner Rezension von „Wahrheit und Methode" das Konzept der hermeneutischen Erfahrung nur im Zeichen einer Restitution „der echten hermeneutischen Beziehung als einer Gesprächsbeziehung"®9). Wie sehr das Autoritätsmodell bei Gadamer das Gesprächsmodell verdrängt, zeigt sich bei näherer Betrachtung seines Konzepts der „Erfahrung der Geschichte". Gadamer meint damit das den Geisteswissenschaften, insbesondere der Historie, vorgelagerte ursprüngliche Verhältnis zur Geschichte. Er bestimmt es als ein unmittelbares „Darinstehen" in Überlieferung und hat dabei eine besondere Realität vor Augen, die nicht als Vernunftprozeß aufzufassen ist. „In unserem Verhalten zur Vergangenheit, das wir ständig betätigen, ist jedenfalls nicht Abstandnahme und Freiheit vom Überlieferten das eigentliche Anliegen . . ., so daß das, was die Überlieferung sagt, als ein anderes, Fremdes gedacht wäre." 70 ) Vielmehr ist nach Gadamer hier „kaum noch Erkennen, sondern unbefangenste Anverwandlung der Überlieferung zu gewahren" 71 ). Gadamer beeilt sich allerdings, zu betonen, daß zwischen Tradition und Vernunft kein „unbedingter Gegensatz" besteht72) und daß die Traditionsvermittlung keinesfalls als ein naturhafter Prozeß vorzustellen ist. „Auch die echteste, gediegenste Tradition vollzieht sich nicht naturhaft dank der Beharrungskraft dessen, was einmal da ist, sondern bedarf der Bejahung, der Er-
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greifung und Pflege. Sie ist ihrem Wesen nach Bewahrung . . . Bewahrung aber ist eine Tat der Vernunft." 73 ) Aber daß er dies eigens betonen muß, verrät, daß die Tendenz seiner Überlegungen in diese Richtung weist. Immerhin spricht er von einer „naiven Rezeption . . in der Traditionen leben" 74 ). Als das einleuchtendste Beispiel für „Erfahrung der Geschichte" erscheint Gadamer die „Wirklichkeit der Sitten . . . Sie werden in Freiheit übernommen, aber keineswegs aus freier Einsicht geschaffen oder in ihrer Geltung begründet" 75 ). Dies erkannt zu haben, hält er für den entscheidenden Grundzug der Romantik, der sie gegenüber der Aufklärung auszeichnet, auch wenn sie im übrigen vieles mit derselben gemein hat. „Wir ververdanken in der Tat der Romantik diese Berichtigung der Aufklärung, daß außerhalb der Vernunftgründe auch Tradition ein Recht behält und in weitem Maße unsere Einrichtungen und Verhalten bestimmt." 76 ) All dies zeigt, daß Gadamer die Traditionsvermittlung ganz vom Modell der Autorität her denkt. Die „naive Rezeption", die sich nicht auf ihre eigene Einsicht stützt, entspricht den Bestimmungen, die Gadamer dem AutoritätsVerhältnis zugeschrieben hat. „Das durch Überlieferung und Herkommen Geheiligte hat eine namenlos gewordene Autorität, und unser geschichtliches endliches Sein ist dadurch bestimmt, daß stets auch Autorität des Überkommenen — und nicht nur das aus Gründen Einsichtige — über unser Handeln und Verhalten Gewalt hat." 77 ) Es ist nicht zu übersehen, daß gerade hier, wo die hermeneutische Erfahrung vom Autoritätsmodell her gedacht wird, die eigentliche Pointe Gadamers zum Ausdruck kommt. Es geht ihm vor allem darum, das vorwissenschaftliche Verhältnis zur Geschichte als Aneignung von Tradition nach dem Prinzip des Autoritätsverhältnisses zu erweisen. In diesem Sinn bezeichnet er das unmittelbare Einrücken in Traditionen als unser „natürliches Verhalten zur Vergangenheit". Damit will er nicht in Abrede stellen, daß auch ein anderes Verhältnis zur Überlieferung möglich ist, nämlich ein sie reflektierendes, das Traditionen abbrechen kann. Aber dieses bleibt für ihn ohne Be-
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zug zu den Geisteswissenschaften. Das hat seinen Grund darin, daß Gadamer seine Aufmerksamkeit darauf richtet, daß die Möglichkeit der Negation begrenzt ist, weil sich gewissermaßen hinter ihrem Rücken stets Traditionen erhalten. „Selbst wo das Leben sich sturmgleich verändert, wie in revolutionären Zeiten, bewahrt sich im vermeintlichen Wandel aller Dinge weit mehr vom Alten, als irgendeiner weiß . . . Sowohl die aufklärerische Kritik an der Tradition als auch ihre romantische Rehabilitierung bleiben darum hinter ihrem wahren geschichtlichen Sein zurück." 78 ) Diese Beobachtung ist sicher nicht zu bestreiten — aber berechtigt sie dazu, die unmittelbare Traditionsvermittlung allein für das ursprüngliche Verhältnis zur Geschichte zu halten? Gadamer charakterisiert das Wesen lebendiger Tradition gewiß zutreffend, aber diese „unbefangenste Anverwandlung der Überlieferung" als das eigentliche und natürliche Verhalten zur Überlieferung zu interpretieren, bedeutet die Überdehnung eines Moments. Es ist kein Zufall, daß Gadamer die Wirklichkeit der Sitten als Beispiel für die Erfahrung der Geschichte nennt. Doch selbst dieses Beispiel führt an den kritischen Punkt dieser Theorie. Zur Wirklichkeit der Sitten gehört der Konflikt einander widersprechender Sitten, der die Individuen aus dem Frieden der „naiven Rezeption" aufschrecken läßt und ihnen Entscheidungen abverlangt. Schon die griechischen Tragödien hatten dies zum Thema. Es zeigt sich hier neuerlich, was sich auf analoge Weise schon am Beispiel der Philosophiegeschichte ergeben hat. Doch selbst dort, wo keine konkurrierenden Sitten aufeinandertreffen, kommt es immer wieder zu divergierenden Beurteilungen der jeweils neuen praktischen Situation von der einen bestimmenden Sitte her. Auch in diesen Fällen werden den Individuen Entscheidungen abgefordert. Das bedeutet aber, daß die Individuen auf ihre eigene Einsicht gestellt sind. Auch die „selbstverständliche Herrschaft der Tradition" ist also nicht „außerhalb der Vernunftgründe" zu denken. Trotzdem entspricht die Unmittelbarkeit der Aneignung von Sitte noch am ehesten dem, was Gadamer als Erfahrung der Geschichte be-
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zeichnet. Die eigentliche Problematik seiner Position liegt darin, daß er die Sitte als repräsentativ für den gesamten ursprünglichen Zugang des Menschen zur Geschichte auffaßt. Er macht zwar den Versuch, die Traditionsvermittlung selbst als eine „Tat der Vernunft" zu kennzeichnen, aber diese Überlegung steht unvermittelt neben der anderen, daß am Prozeß der Überlieferung „kaum noch Erkennen . . . zu gewahren ist", und scheint schließlich ganz in Vergessenheit zu geraten, wenn Gadamer die Überlieferung als ein „Geschehen" bezeichnet und von dem „aus Gründen Einsichtigen" abgrenzt. So ist der Bezug auf Vernunft nicht mehr als die Formulierung eines Programms, das uneingelöst bleibt, und ein Indiz für die grundlegende Ambivalenz des Gadamerschen Konzepts. Diese Ambivalenz ist bereits in der Bestimmung des Autoritätsverhältnisses angelegt. Auch dort spricht Gadamer einerseits von einem Akt der Erkenntnis und andererseits von einer Übernahme von Vorurteilen, ohne diese beiden Bestimmungen widerspruchsfrei miteinander verbinden können. Im übrigen wiederholt sich hier nur die Ambivalenz, die auch den Begriff der hermeneutischen Erfahrung kennzeichnet und im Konflikt der beiden Paradigmata zum Ausdruck kommt. Genau besehen, bedeutet der Terminus „hermeneutische Erfahrung" nichts als den Versuch, zwei einander widersprechende Konzepte in einem Begriff zu vereinigen. Das Wort Erfahrung steht dabei für das Darinstehen in Überlieferung, für das Geprägtsein durch dieselbe, das der Reflexion immer schon vorausliegt. Durch die Bezeichnung dieser Erfahrung als hermeneutisch soll ihr zudem noch Gesprächscharakter zugesprochen werden. Daß sich für Gadamer dieser Widerspruch nicht offen darstellt, hat seinen Grund darin, daß er die hermeneutische Beziehung selbst im wesentlichen als rezeptiv im Sinne des Angesprochenwerdens dachte. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, daß für Gadamer die hermeneutische Erfahrung eine Besonderung der Hermeneutik im allgemeinsten Sinn sprachlicher Welterfahrung darstellt, die er als das „Tun der Sache selbst . . ., das das Denken ,erleidet'", bestimmt. Es zeigt sich jetzt, welche Konsequenz es
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hat, daß bei Gadamer schon die allgemeine Struktur der Hermeneutik ein Gefälle aufweist. Fragt man sich nach dem Grund dafür, daß Gadamer sich in so unüberwindbare Ambivalenzen hineinmanövrierte, so stößt man auf das gleiche Motiv, das schon die Widersprüchlichkeit der Hermeneutik im allgemeinsten Sinn bedingte. Gadamer zielt mit seinem Konzept der hermeneutischen Erfahrung darauf ab, den Subjektsbegriff der Aufklärung als eine realitätsferne Konstruktion zu erweisen, und er sucht darzulegen, daß das Individuum immer in Überlieferungszusammenhänge eingeordnet ist, die es reflexiv nicht einholen kann. Die aufklärerische Forderung nach Freiheit von Vorurteilen erscheint dabei selbst als ein Vorurteil 79 ). So betont Gadamer, es komme „darauf an, die Phänomenologie des Geistes' rückwärts zu lesen, so rückwärts, wie sie in Wahrheit gedacht ist: vom Subjekt auf die in ihm ausgebreitete und sein Bewußtsein übertreffende Substanz hin" 8 0 ). Die kritische Ausrichtung Gadamers hat also zur Folge, daß das Individuum in einem determinierend gedachten Traditionszusammenhang unterzugehen droht. Das zeigt sich immer dann, wenn er seine Kernthese formuliert: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins." 81 ) Hier zeigt sich, daß mit dem Begriff des Individuums auch der der Geschichte problematisch wird. Wenn das Individuum als durch die Geschichte determiniert vorgestellt wird, kann die Geschichte nicht vom handelnden Menschen — sei es vom handelnden einzelnen, sei es von in Gruppen handelnden — her bestimmt werden. Es ist nur konsequent, daß Gadamer an keiner Stelle ein Beispiel aus der sogenannten Ereignisgeschichte
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bringt. Geschichte kann für ihn nicht das bedeuten, was gewöhnlich auch umgangssprachlich darunter verstanden wird. Seine Ausführungen zur „Erfahrung der Geschichte" haben vielmehr gezeigt, daß für ihn Geschichte mit Überlieferung und Tradition identisch ist. Nicht zufällig beschränken sich seine Beispiele auf Kunst, Philosophie und Sitte, also auf Bereiche, in denen jeweils bestimmte Beurteilungen bzw. Beurteilungskriterien mit Verbindlichkeitsanspruch vertreten werden. Und Gadamer sieht sie als Bereiche, in denen sich diese Verbindlichkeit auf präreflexive Weise erhält. Geschichte erscheint also bei ihm als das Insgesamt sich selbst reproduzierender Normensysteme. Wie sollen aber auf dieser Basis Entwicklungen und Veränderungen erklärt werden? Gadamer läßt sich bezeichnenderweise nicht auf die Frage ein, wodurch der „Stromkreis" der Geschichte bewegt wird. Daß er den Terminus „Leben" verwendet, indiziert aber, daß sich ihm die Analogie zur Naturgeschichte nahelegt, die jedoch kein Ausweg ist, weil sie das Wesentliche der Geschichte unberücksichtigt läßt 82 ). Diese Problematik des Geschichtsbegriffs blieb nicht ohne Folgen für einen anderen zentralen Begriff Gadamers, nämlich den der Wirkungsgeschichte. Dieser Begriff ist häufig isoliert aus seinem Kontext aufgegriffen und so aufgefaßt worden, als beziehe er sich auf die Geschichte der Rezeption von vor allem literarischen Werken der Vergangenheit. Man kann in diesem Sinn, um bei einem Beispiel Gadamers zu bleiben, die Romantik der Wirkungsgeschichte der Aufklärung zuzählen. Bei Gadamer selbst aber liegt die Betonung auf „Wirkung", d. h., er versteht die Wirkungsgeschichte von seinem Erfahrungsbegriff her und meint damit gerade nicht den Prozeß einer kritischen Aneignung, in der „das, was die Überlieferung sagt, als ein anderes, Fremdes gedacht wäre". Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist daher im wesentlichen das durch die Wirkung der Überlieferung bedingte Bewußtsein. Daß es für Gadamer auch den Charakter des Selbstbewußtseins hat, ist nicht so gemeint, daß es in der Reflexion seine konkreten Bedingungen einholen könnte; es würde damit ja dem von Gadamer kritisierten Sub-
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jektivitätsprinzip der Aufklärung gleichkommen. Es ist Selbstbewußtsein nur im Sinn der allgemein und formal bleibenden Einsicht in die eigene Endlichkeit. „Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist in einem so radikalen Sinne endlich, daß unser im Ganzen unserer Geschicke gewirktes Sein sein Wissen von sich wesensmäßig überragt." 83 ) Gadamer gelangt also zu einer entscheidenden Übereinstimmung mit Dilthey. Wenn auch von anderen Voraussetzungen her, orientiert er sich wie dieser an der Struktur der Rezeptivität und gerät damit in die gleiche Problematik hinsichtlich der Bestimmung sowohl des Individuums als auch der Geschichte.
5 . D I E PARADOXIE DER H I S T O R I E
Hat man nun Gadamers Konzept der hermeneutischen Erfahrung in seinen Grundzügen und seiner Problematik vor Augen, so kann die Frage aufgenommen werden, welche Konsequenzen für die Theorie der Geisteswissenschaften sich daraus ergeben. Gadamer kritisiert, wie gesagt, an den Geisteswissenschaften, daß sie sich, dem Objektivitätsideal der Naturwissenschaften folgend, aus dem Zusammenhang ursprünglicher Wahrheitsvermittlung herausreflektieren. Man könnte daher erwarten, daß er auf ein neues Modell der Geisteswissenschaften abzielt, doch im Gegenteil: derartige Überlegungen erscheinen ihm als ein unzulässiger Übergriff: „Es wäre ein ohnmächtiges Unterfangen, dem menschlichen Wissenwollen und dem menschlichen Machenkönnen ins Gewissen zu reden, damit es vielleicht etwas schonsamer mit den natürlichen und gesellschaftlichen Ordnungen unserer Welt umgehen lernte. Die Rolle des Moralpredigers im Gewände des Forschers hat etwas Absurdes. Absurd ist ebenso der Anspruch des Philosophen, der aus Prinzipien deduziert, wie die ,Wissenschaft' sich ändern müsse, damit sie philosophisch legitimierbar würde." 8 4 ) Aber was sich so als realistische Einsicht in die grundsätzlichen Grenzen philosophischen Anspruchs liest, wird sich bei näherem Zusehen als
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eine lediglich für Gadamers Ansatz bestimmende und ihm notwendig zukommende Grenze erweisen. Darüber hinaus wird zu zeigen sein, daß von Gadamers Überlegungen trotzdem Impulse für eine methodologische Neubestimmung der Historie ausgehen. Liest man genauer nach, was Gadamer mit dem Sich-herausReflektieren meint, so zeigt sich, daß er unterscheidet zwischen dem, was die Geisteswissenschaften ihrem Selbstverständnis nach, und dem, was sie eigentlich sind. Er will darlegen, „was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstbewußtsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet" 85 ). Das heißt, er unterstreicht, daß die Geisteswissenschaften selbst ein Produkt der lebendigen Tradition sind, daß in ihnen „trotz aller Methodik ihres Verfahrens ein Einschlag von Tradition wirksam ist, der ihr eigentliches Wesen ist und ihre Auszeichnung ausmacht" 86 ). Mit Bezug auf die Historie bedeutet das, daß die Erfahrung der Geschichte, weil sie den Historiker so wie alle anderen Individuen prägt, auch für seine Arbeit bestimmend ist. „Die geschichtliche Forschung ist mithin getragen von der geschichtlichen Bewegung, in der das Leben selbst steht." 87 ). Die Geschichtsschreibung gehört damit in die Wirkungsgeschichte jener Überlieferung, die sie scheinbar unbeteiligt zum Gegenstand macht. Gadamer interpretiert sie im Sinne seiner generellen These, „daß Verstehen . . . zum Sein dessen gehört, was verstanden wird" 88 ). Die Historie ist für ihn ebenso von jener „naiven Rezeption . . ., in der Traditionen leben und Vergangenheit da ist" 89 ), bestimmt wie ζ. B. die Sitte. Deshalb macht er es sich zur Aufgabe, „die Auflösung des abstrakten Gegensatzes zwischen Tradition und Historie, zwischen Geschichte und Wissen von ihr" 9 0 ) als notwendig zu erweisen und zu zeigen, „wieviel Geschehen in allem Verstehen wirksam ist" 9 1 ). In der Historie spricht die Geschichte gewissermaßen über sich selbst. So überrascht es nicht, wenn Gadamer der Historie dieselbe Autorität zuspricht, die dem durch „Uberlieferung Geheiligten" auch sonst zukommt. „Die moderne histo-
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rische Forschung ist selber nicht nur Forschung sondern Vermittlung von Uberlieferung . . . auch an ihr machen wir gleichsam geschichtliche Erfahrungen, sofern in ihr jeweils eine neue Stimme laut wird, in der die Vergangenheit widerklingt" 92 ). Dementsprechend faßt Gadamer zusammen: „Die Wirkung der fortlebenden Tradition und die Wirkung der historischen Forschung bilden eine Wirkungseinheit." 93 ) Ist diese Sicht der Historie im Grunde nichts als eine konsequente Fortführung des Konzepts der hermeneutischen Erfahrung, so kommt an ihr die Problematik dieses Konzepts umso deutlicher zum Ausdruck. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß Gadamer bei zutreffenden Beobachtungen seinen Ausgang nimmt. So ist Gadamer zuzustimmen, wenn er betont, daß „die jeweilige Gegenwart und ihre Interessen" die Fragestellung, mit der sich der Historiker an die Vergangenheit wendet, bestimmen und daß daher „Thema und Gegenstand der Forschung" durch die Gegenwart konstituiert sind 94 ). Ebenso zutreffend ist auch die Überlegung, daß der Historiker (so wie alle anderen Menschen auch) stets mehr durch Tradition bestimmt ist, als er reflexiv einzuholen vermag. Gadamer mißdeutet aber diese beiden Beobachtungen, indem er sie identifiziert. Die Interessen der Gegenwart, die die Fragestellung des Historikers bestimmen, sind gerade nicht jene Überzeugungen, die undurchschaut im Rahmen lebendiger Tradition angeeignet wurden. Sie resultieren vielmehr aus jenen Problemen, denen die öffentliche Aufmerksamkeit und die Auseinandersetzungen der Gegenwart gewidmet sind. Gewiß sind auch diese Probleme der Gegenwart von der Geschichte vorgegeben, und gewiß hält die Tradition auch Normen bereit, aber die praktische Auseinandersetzung impliziert einen Diskurs, in dem sowohl die Beurteilung der Probleme als auch die kritische Reflexion der zunächst unmittelbar angeeigneten Normen zu leisten ist und der nicht selbst wieder als Produkt der Geschichte zu denken ist, wie bereits gezeigt wurde. Wenn Gadamer fordert, „das historische Bewußtsein nicht — wie es zunächst scheint — als etwas radikal Neues zu denken,
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sondern als ein neues Moment innerhalb dessen, was das menschliche Verhältnis zur Vergangenheit von jeher ausmachte" 9 5 ), so hat er damit sicher recht, allerdings in einer ganz anderen Weise, als er meint. Hat er vor Augen, daß der Historiker wie alle übrigen Menschen durch die Geschichte determiniert ist, so ist dagegen zu betonen, daß er wie die anderen am praktischen Diskurs der Gegenwart teilnimmt und aus ihm seine Fragestellungen bezieht. Ist schon das vorwissenschaftliche Verhältnis zur Geschichte nicht bloß ein rezeptives, sondern auch ein reflexives und praktisches, so nimmt auch die wissenschaftliche Historie hier ihren Ausgang. Sie hat die Funktion, den praktischen Diskurs der Gegenwart in ihrer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu erweitern. Mit anderen Worten: Die Geschichte „geschieht" weder von selbst, noch spricht sie über sich selbst. Mit dieser Argumentation wird, wie gesagt, nicht geleugnet, daß der Historiker immer auch durch Traditionen bestimmt ist, die er nicht durchschaut. Aber darin „das eigentliche Wesen" und die „Auszeichnung" der Geschichtsforschung zu sehen, wäre reine Willkür. Ohne Bezugnahme auf die praktische Auseinandersetzung der jeweiligen Gegenwart mit dem von der Vergangenheit Vorgegebenen und darauf, daß der Historiker selbst Partizipant dieser Auseinandersetzung ist, läßt sich das Wesen der Historie nicht bestimmen. Das bedeutet auch, daß die Geschichtsforschung nicht als unmittelbare Überlieferung von Wahrheit respektive als vorreflexive Traditionsvermittlung aufgefaßt werden kann. Sie macht vielmehr bestimmte Elemente der jeweils vorgegebenen Tradition sichtbar (gewiß ohne den Anspruch auf völlige Einholung der eigenen Voraussetzungen erheben zu können), so daß sie nicht mehr der „naiven Rezeption" anheimgestellt bleiben. In diesem Sinne argumentiert Scheler, „der vorbewußte Druck der Tradition nehme durch die Geschichtswissenschaft zunehmend ab" 9 6 ). Wenn Gadamer dagegen einwendet, daß die Geschichtswissenschaft keineswegs Traditionen durchbreche 97 ), so verrät er damit ein für ihn signi-
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fikantes Mißverständnis. In Schelers Argument löst die Historie nicht Traditionen auf, sondern ihren „vorbewußten Druck". Die Reflexion auf Elemente der Tradition eröffnet ein neues Verhältnis zu ihr: Es erfolgt nun nicht mehr „unbefangenste An Verwandlung", sondern eine argumentative Prüfung, die ebensowohl in die Affirmation führen kann wie in den Bruch. Für Gadamer ist aber ein Eingehen auf diese Differenzierung von seinem Konzept der hermeneutischen Erfahrung her ausgeschlossen. So hält ihm auch Habermas „die Einsicht entgegen, daß die reflektierte Aneignung der Tradition die naturwüchsige Substanz der Überlieferung bricht und die Stellung der Subjekte in ihr verändert", und fährt fort: „Gadamer verkennt die Kraft der Reflexion . . . indem sie die Genesis der Überlieferung, aus der die Reflexion hervorgeht und auf die sie sich zurückbeugt, durchschaut, wird die Dogmatik der Lebenspraxis erschüttert." 98 ) Im Grunde kann Gadamer von seinen Voraussetzungen her nicht erklären, warum die wissenschaftliche Historie als ein so aufwendiger und unabschließbarer Prozeß aus dem vorwissenschaftlichen Verhältnis zur Geschichte überhaupt entstanden ist. Trotz dieser grundlegenden Problematik seines Ansatzes bleibt es Gadamers unbestreitbares Verdienst, die Geschichtlichkeit des Forschers in ihrer konstitutiven Bedeutung für die Geisteswissenschaften erkannt und gegenüber der historistischen Interpretation derselben zur Geltung gebracht zu haben. Umso bedauerlicher ist es, daß er sich durch die Engführung seines Konzeptes der hermeneutischen Erfahrung die Möglichkeit verstellt, seine Erkenntnis in ein alternatives Modell von Geisteswissenschaft überzuführen. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, in dem das historische Bewußtsein überwunden ist, erweist zwar dessen Scheinhaftigkeit, ist aber selbst nicht wissenschaftsbildend. Hier wird deutlich, welche Bedeutung es hat, daß Gadamer den Wissenschaftsbegriff auf das historistische Wissenschaftsverständnis beschränkt. Wie aus den oben zitierten Überlegungen hervorgeht, versucht Gadamer nicht nur zu zeigen, daß die Historie auf die 13
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Erfahrung der Geschichte zurückzuführen ist, sondern vor allem, daß sie ihrerseits Erfahrung von Geschichte vermittelt. Darin sieht er ihre eigentliche Bedeutung. Da der Historie diese Leistung aber nur als eine indirekte zugesprochen werden kann, die in der expliziten Forschungsintention nicht angelegt ist, ergibt sich die eigentümliche Situation, daß für Gadamer gerade das an der Historie bedeutend ist, was in ihr nicht thematisiert ist. Wenn er darauf abzielt, den „abstrakten Gegensatz von Tradition und Historie" als irrelevant zu erweisen, so geschieht es also um den Preis, daß innerhalb der Historie selbst eine Spaltung auftritt, nämlich zwischen der Forschung und dem, was sie unreflektiert vermittelt. Diese Spaltung wäre nur dadurch zu umgehen, daß die Historie ihre Geschichtlichkeit zur Kenntnis nimmt und ihren Zeitlosigkeitsanspruch fallen läßt. Das würde aber bedeuten, daß ein neues Modell der Historie entwickelt werden müßte, und gerade das schließt Gadamer aus. Wollen die Geisteswissenschaften Wissenschaft sein, so bleiben sie den „methodischen Mitteln der Wissenschaft" 99 ) verpflichtet, die sie in der Orientierung an den Naturwissenschaften entwickelt haben. Die Folge davon ist, daß Gadamers Argumentation in eine Paradoxie führt, deren er selbst allerdings nicht gewahr wird. Er zeigt den falschen Schein, dem die Geisteswissenschaften anheimfallen, aber er verschließt zugleich den möglichen Ausweg aus diesem Schein. Fragt man nun nach den wissenschaftstheoretischen Konsequenzen der philosophischen Hermeneutik Gadamers, so zeigt sich zunächst, daß er keine gezogen hat bzw. keine ziehen konnte. Was die Wissenschaftstheorie im engeren Sinn betrifft, bleiben die Geisteswissenschaften an denselben Objektivitätsbegriff gebunden, den er auch den Naturwissenschaften attestiert. „Der methodische Geist der Wissenschaft setzt sich überall durch . . . Meine Absicht war auch nicht, den alten Methodenstreit zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu erneuern. Um einen Gegensatz der Methoden handelt es sich schwerlich." 100 ) Gadamer bleibt also in bezug auf die Gei-
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steswissenschaften ebenso wie auf die Naturwissenschaften trotz seiner Kritik an Dilthey von dessen Wissenschaftsbegriff bestimmt. Da er aber andererseits die grundsätzliche Geschichtlichkeit der Geisteswissenschaften durchschaut, perpetuiert sich ihre Paradoxie, zu einem Selbstverständnis verbunden zu sein, das notwendig uneinlösbar bleibt. Daß Gadamers Überlegungen auf diese Paradoxie zulaufen, bedeutet aber nicht, daß die gegenwärtige Diskussion der Theorie der Geschichtswissenschaft nichts aus ihnen zu gewinnen hätte. So kann sie nicht an Gadamers Einsicht vorbeigehen, daß der jeweilige geschichtliche Kontext des Forschers konstitutiv für die geisteswissenschaftliche Arbeit ist und daß sich der im Gefolge des Historismus formulierte Objektivitätsanspruch damit als falscher Schein erweist. Aber gerade deshalb kann sie nicht an der herkömmlichen Bestimmung der Historie festhalten. Es ist vielmehr eine neue Historie zu entwerfen, die sich nicht aus ihrer geschichtlichen Basis herausreflektiert. Voraussetzung ist allerdings, daß die Geschichtlichkeit des Forschers nicht nur von der Unmittelbarkeit lebendiger Tradition her gesehen wird. Sonst würde die Distanzierung vom objektivistischen Wissenschaftsverständnis die Kapitulation vor dem grundsätzlich unreflektierbaren Geschehen der Überlieferung bedeuten und der Ubergang in eine neue Form der Wissenschaftlichkeit unmöglich sein. Das heißt, an Gadamers Einsicht in die Geschichtlichkeit der Geschichtsforschung läßt sich nur so anschließen, daß gleichzeitig beide Seiten der Alternative von wissenschaftlicher Schein-Objektivität einerseits und außerwissenschaftlicher Erfahrungs-Unmittelbarkeit andererseits negiert werden. Der Historiker ist, wie gesagt, Partizipant des praktischen Diskurses der Gegenwart und tritt als solcher an die Vergangenheit heran. Wo er auf Bereiche mit Verbindlichkeitsanspruch eingeht, wird daher die Abstraktion von der Wahrheitsfrage kein Desiderat mehr für ihn sein. Es kommt ja gerade auf die Auseinandersetzung der Gegenwart mit der Vergangenheit an. 13·
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Hier zeigt sich, daß die Uberwindung der Alternative Gadamers ihrerseits auf ihn zurückgreifen kann, nämlich auf das bei ihm zunehmend verschüttete Gesprächsmodell. (Dies gilt unabhängig davon, wie sich die Frage entscheiden wird, ob zusätzlich zum Gesprächsmodell noch andere Modelle zur Neubestimmung der Historie herangezogen werden müssen.)
IV. DAS SUBJEKTIVE F U N D A M E N T DER HISTORIE ALS FOCUS DES OBJEKTIVITÄTSPROBLEMS 1. DANTOS K O N Z E P T DER NARRATIVEN
ORGANISATION
Die Frage nach der Objektivität der Historie und damit der Humanwissenschaften überhaupt hat in der bisherigen Untersuchung eine wesentliche Einschränkung bzw. Präzisierung erfahren. Es hat sich herausgestellt, daß die Objektivität dieser Disziplinen weder in der bloßen Wiedergabe vorgegebener Zusammenhänge, d. h. in der Ausschaltung des urteilenden Subjekts, noch im selbstverständlich gewährleisteten Ausdruck des Allgemeinen der Geschichte im Individuellen liegen kann. Dabei wurde deutlich, daß die Bestimmung der Objektivität auf die Bestimmung des Verhältnisses von Forscher und Forschungsgegenstand zurückverweist. Die erwähnten Objektivitätsbegriffe erweisen sich deshalb als unzutreffend, weil die Humanwissenschaften weder durch das Verhältnis der teilnahmslosen Beobachtung eines vorliegenden Objektes durch das forschende Subjekt noch durch das (Nicht-) Verhältnis der unmittelbaren Identität von Subjekt und Forschungsgegenstand im sie gemeinsam tragenden und entsubjektivierenden Geschichtsprozeß zu charakterisieren sind. Für die Neubestimmung der Wissenschaftlichkeit der Humanwissenschaften ist also zunächst die neuerliche Reflexion und adäquate Bestimmung dieser Relation erforderlich. Auf die hier im speziellen verfolgte Fragestellung bezogen, bedeutet dies, daß es darauf ankommt, die Relation von Historiker und Geschichte näher zu betrachten. Für dieses Vorhaben erscheint es als angezeigt, vor allem auf jene geschichtstheoretische Position einzugehen, die sich explizit einer Interpre-
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tation der Historie im Sinne der beiden genannten Alternativen entgegensetzt und in dieser Entgegensetzung so weit geht, daß sie geradezu als das andere Extrem erscheint — jene Position nämlich, die auf die These hinausläuft, daß Geschichte in keiner Weise als der Forschung vorgegeben respektive den Forscher umfassend zu sehen ist, sondern vielmehr als Produkt der Historie. „Geschichte ist überhaupt nicht als ein Prozeß zu begreifen, sondern ausschließlich als ein Bewußtseinsphänomen" 1 ), lautet diese These. Diese Position wurde im Rahmen der sprachanalytischen Philosophie, vor allem von A. C. Danto 2 ), entwickelt. Im Rahmen der deutschsprachigen Diskussion war es dann Η. M. Baumgartner, der sie aufgriff und durch Einbeziehung von Überlegungen aus der Tradition der Transzendentalphilosophie an entscheidenden Punkten differenzierte, worauf noch näher einzugehen sein wird. Danto machte es sich ganz im Sinne des generellen Prinzips der sprachanalytischen Philosophie zur Aufgabe, die Sprache der Historiker zu untersuchen. Dabei stellte er zunächst fest, daß die vorliegenden Werke der Geschichtswissenschaft am besten als Erzählungen zu charakterisieren sind, d. h., im erzählenden Satz ihr wesentliches Element haben. Aus dieser Feststellung folgt für ihn, wie bereits erwähnt wurde, keine Kritik an der Überlegung, daß in der Historie wie in den anderen Wissenschaften auf Generalisierungen zurückgegriffen wird, wohl aber Kritik an der Vorstellung, daß im Aufzeigen dieses Rückbezugs das Wesentliche der Vorgangsweise der Historie bereits erfaßt sei. Danto betont, daß es in der Historie darum gehe, Ereignisse in ihrer Besonderheit zu erfassen und nicht nur dem Typus nach, dem sie subsumierbar sind. „Ein Typus-Konzept kann nicht mehr sein, als was es ist: Es hat mit demjenigen zu tun, was typisch der Fall sein kann, und dies ist vereinbar mit einer ganzen Reihe qualitativ verschiedener Ereignisse, deren jedes derselben allgemeinen Beschreibung genügt und von denen jedes einzelne geschehen sein könnte." Die Historie ziele dagegen jeweils auf das Ereignis ab, das „tatsächlich geschehen" ist3).
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„Die Geschichte erzählt Geschichten (History tells stories)" 4 ), ist also die Feststellung, die den Ausgangspunkt für Dantos Überlegungen bildet. (Deshalb wird übrigens diese Position in der internationalen Diskussion gewöhnlich als narrativer Ansatz der Geschichtstheorie bezeichnet.) Im weiteren geht Danto so vor, daß er durch eine Analyse der Implikationen des narrativen Satzes Aufschluß über das Wesen von Historie und Geschichte zu gewinnen sucht. „Die These, die ich aufstellen will, lautet, daß erzählende Sätze in so einzigartiger Weise mit unserem Begriff der Geschichte verknüpft sind, daß ihre Analyse erweisen muß, welches einige der hauptsächlichen Merkmale jenes Begriffs sind." 5 ) Mit diesem Vorhaben rückt vor allem die Frage nach dem Verhältnis der Erzählung zu den Ereignissen, auf die sie sich bezieht, ins Zentrum. In minutiösen und mit vielen Beispielen versehenen Untersuchungen führt Danto aus, daß eine Erzählung etwas grundsätzlich anderes ist als die „Reproduktion" 6 ) von Ereignissen. Mit Bezug auf die Historie legt er dabei zunächst dar, daß ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen der Weise, wie ein jeweils zeitgenössischer Beobachter ein Ereignis wiedergibt, und der, wie sich der Historiker auf dasselbe Ereignis bezieht. Er greift dabei zur Fiktion der „idealen Chronik", d. h. eines von jeweils zeitgenössischen Beobachtern verfaßten vollständigen Berichts der Vergangenheit 7 ). An ihr soll mit aller Deutlichkeit ersichtlich werden, daß auch die vollständigste Zeugenaussage über die Vergangenheit die Historie nicht zu ersetzen vermöchte. Eines der Beispiele, auf die Danto sich in diesem Zusammenhang beruft, ist der Satz: „Aristarchus antizipierte im Jahre 270 v. u. Z. die Theorie, die Kopernikus 1543 η. Z. veröffentlichte." 8 ) Danto führt aus, daß dieser Satz in einer von Zeitgenossen Aristarchs verfaßten idealen Chronik grundsätzlich nicht aufscheinen kann, weil er zur Voraussetzung hat, daß das entscheidende Forschungsergebnis des Kopernikus im Jahr 1543 bereits vorliegt, — und weiter, daß für die Historie andererseits Sätze mit Prädikaten wie „antizipiert" kennzeichnend sind.
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„Andere Beispiele wären: ,sagte richtig vorher', ,veranlaßte', ,regte an', ,begann', ,ging vorher', ,verursachte die Entstehung von' usf. Damit jeder dieser Begriffe für ein Ereignis E-l als wahr gelten kann, ist logisch das Eintreten eines Ereignisses erforderlich, das zeitlich später als E-l ist, und Sätze, die offen von solchen Begriffen Gebrauch machen, werden demnach erzählende Sätze sein." 9 ) Der narrative Satz ist also für Danto unter den verschiedenen auf ein Ereignis bezogenen Sätzen dadurch ausgezeichnet, daß er das Ereignis so beschreibt, wie es der zeitgenössische Betrachter nicht beschreiben kann. „Es gibt eine Klasse von Beschreibungen eines beliebigen Ereignisses, in deren Rahmen das Ereignis nicht bezeugt werden kann, und diese Beschreibungen sind notwendig und systematisch von der I. C. ausgeschlossen. Die ganze Wahrheit über ein Ereignis kann erst im Nachhinein, und gelegentlich nur lange nachdem ein Ereignis stattgefunden hat, gewußt werden, und diesen Teil der Geschichte zu erzählen, obliegt einzig den Historikern. Es handelt sich dabei um etwas, das selbst der beste Zeuge nicht wissen kann." 1 0 ) Danto hebt somit hervor, daß im narrativen Satz Informationen genutzt werden, die erst durch zeitliche Distanz gegeben sind. „Man beginnt zu ahnen, . . . daß es gar nicht so nachteilig ist, nicht Zeuge der Ereignisse zu sein, wenn uns historische Interessen leiten." 11 ) Demnach liegt für Danto ein für die Theorie der Geschichte maßgebliches Charakteristikum des narrativen Satzes darin, daß in ihm drei verschiedene Zeitebenen miteinander verbunden sind. So spielt in der Erzählung selbst eine bestimmte Zeitdifferenz eine Rolle. Auch wenn nur ein Ereignis beschrieben wird, geschieht es im Lichte von Späterem, wie sich am Beispiel des auf Aristarch und Kopernikus bezogenen narrativen Satzes zeigt 12 ). Als dritte Zeitebene kommt noch der nicht thematische, aber die Perspektive auf die beiden anderen bestimmende Zeitpunkt hinzu, in dem sich der Erzähler seinerseits befindet.
Dantos Konzept der narrativen Organisation
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Von hier aus gelangt Danto zu einem weiteren, das eben genannte fundierenden Charakteristikum der Erzählung, welches ebenfalls für die Geschichte relevant ist. Dieses liegt darin, daß man erst dann von einer Erzählung sprechen kann, wenn einzelne Ereignisse nicht bloß als Fakten festgestellt, sondern aufeinander bezogen worden sind. Das bedeutet, daß jeder Erzählung ein bestimmtes Konzept zugrunde liegt, von dem her die Ereignisse miteinander in Verbindung gebracht und, genauer besehen, zuvor schon ausgewählt werden. So heißt es bei Danto, „daß jede Erzählung eine den Ereignissen unterlegte Struktur ist, die einige von ihnen mit anderen gruppiert, einige andere wiederum aussondert, weil es ihnen an Relevanz mangelt" 1 3 ). Demnach begreift er auch die Historie als „eine Art Organisation der Vergangenheit" 14 ). Wie Erzählung generell, ist also auch die Historie von bestimmten „OrganisationsSchemata" 15 ) geleitet. „Sich überhaupt der Geschichte verschreiben, heißt übergreifende Konzeptionen verwenden." 16 ) Danto führt ferner aus, daß diese Konzeptionen keineswegs vorgegeben oder festgelegt sind, sondern auf die jeweiligen besonderen Fragestellungen zurückgehen. Er schreibt, daß sie durch „die jeweiligen topischen Interessen dieses oder jenes Individuums" bestimmt sind 17 ), und das bedeutet für ihn, daß die Entscheidung darüber, welche Ereignisse jeweils als signifikant und welche als marginal zu betrachten sind, in den Bereich der Willkür fällt. „Die Aufgabe der narrativen Organisation belastet uns . . . logisch mit einem unausrottbaren subjektiven Faktor. Sie enthält ein Moment reiner Willkürlichkeit." 1 8 ) In diesem Sinne heißt es schon im Vorwort zur „Analytischen Philosophie der Geschichte": „Die Geschichten, die die Historiker erzählen, müssen nicht bloß relativ zu ihrer zeitlichen Lage sein, sondern zugleich auch zu den nicht-historischen Interessen, die die Menschen, als Menschen, haben. Es gibt demnach, wenn ich dies richtig sehe, in der historischen Beschreibung einen unausrottbaren Faktor der Konvention und der Willkür." 1 9 )
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In dieser Argumentation kündigt sich bereits an, welche Stellung zur Frage der Objektivität der Historie sich für Danto aus seinem narrativen Ansatz ergibt. Wissenschaftlichkeit im Sinne von Kontrollierbarkeit kann nur der Feststellung der Ereignisse ihrer Faktizität nach zukommen, nicht aber der Organisation der Ereignisse zu Geschichten. Das heißt, die Historie ist bei Danto nur in einem ihrer Momente, und zwar dem untergeordneten Moment, der Objektivität fähig, nicht aber im Gesamten ihres Vorgehens. Das entscheidende Moment, die Erzählung als solche, ist der Möglichkeit der Rechtfertigung entzogen, weil es auf Konzeptionen beruht, die von „Dezisionen", also „gewissen grundlegenden Entscheidungen" bestimmt sind, welche der Willkür angehören und somit grundsätzlich keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können. „Sie sind willkürlich in dem Sinne, daß sie nicht in Übereinstimmung mit irgendwelchen Kriterien gefällt werden, denn sie bestimmen letztendlich, welches die Kriterien sein sollen, die wir akzeptieren werden." 2 0 ) Von hier aus erscheint es nur als konsequent, wenn Danto schließlich zur Überzeugung gelangt, daß „die einzig angemessene Antwort auf die leidige Frage ,Ist Geschichtsschreibung Kunst oder Wissenschaft?' nur lauten kann: ,Keines von beiden'" 2 1 ). Die Stichhaltigkeit dieser Stellung zum Objektivitätsproblem zu überprüfen macht die Auseinandersetzung mit ihren Voraussetzungen erforderlich. Es ist also zu überlegen, ob der narrative Ansatz dem Wesen der Historie gerecht wird. Dabei kann die Frage, inwieweit die Analyse der Implikationen der Erzählung als solche zutreffend ist, vernachlässigt werden, denn es kommt lediglich auf den Anspruch an, mit den in dieser Analyse hervorgehobenen Charakteristika das Wesen von Historie und Geschichte zu treffen. So ist vor allem zu untersuchen, ob in der Historie tatsächlich mittels der Erzählung strukturelle Bezüge aufgebaut werden, so daß in ihr die Zusammenhänge der Geschichte erst entstehen. Hier ist darauf zu achten, daß Dantos Argumentation auf einer bestimmten, nicht explizit erörterten Auffassung beruht:
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Danto geht davon aus, daß die Vergangenheit eine amorphe Masse einzelner Ereignisse ist. Das heißt, sein Konzept der narrativen Organisation hat zur Voraussetzung, daß die Vergangenheit als strukturlos, gewissermaßen atomisiert vorgestellt wird. Dieser Vorstellung widerspricht aber schon die alltägliche Realitätserfahrung. Gewiß, auch im Alltag findet sich die Bezeichnung Ereignis, doch es ist nicht zu übersehen, daß das durch sie Bezeichnete stets als ein, wenn auch besonders bedeutendes, Moment einer Entwicklung begriffen wird, selbst wo diese nicht genau durchschaut wird. Das heißt, die Realität wird immer schon als in Zusammenhängen strukturiert erfahren. Vor allem aber weiß sich der Mensch selbst als Prinzip von Zusammenhängen. Seine Handlungen haben nicht punktuellen Charakter, sondern beziehen sich auf Entwicklungszusammenhänge, an die sie, unter welchem Vorzeichen auch immer, anknüpfen. In diesem Sinne erörtert ζ. B. Landgrebe die zeitliche Struktur des Handelns als Grundlage der Geschichte 22 ). Handlungen sind also nicht primär Ereignisse, die erst in einen Zusammenhang gestellt zu werden bedürfen, sondern sie können erst im Nachhinein durch einen Prozeß der Isolierung zu solchen gemacht werden. Von hier aus erweist es sich im übrigen als signifikant, daß Danto nicht auf tatsächlich vorliegende Chroniken Bezug nimmt, sondern die Fiktion der idealen Chronik entwirft. Nur so kann der Chronik der Charakter des punktuellen Auffassens punkthafter Ereignisse zugeschrieben werden. (Das heißt allerdings nicht, daß zwischen Historie und Chronik kein prinzipieller Unterschied festzustellen sei, sondern nur, daß darauf Bedacht zu nehmen ist, daß bereits der Chronist Zusammenhänge darstellt.) An diesem Punkt legt sich der Versuch nahe, Dantos These etwas zu modifizieren und zu argumentieren: auch wenn die Realität der Vergangenheit bereits strukturiert ist bzw. in Zusammenhängen aufgefaßt wird, steht die Historie in grundsätzlicher Differenz zu ihr — die Historie greift einzelne Momente als Ereignisse auf und bindet sie mittels der Erzählung in neue Strukturen ein. Diese Argumentation ist ζ. B. für Baumgartners
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narrativen Ansatz bestimmend. So heißt es bei Baumgartner: „Der erste und entscheidende Gesichtspunkt ist die fundamentale Differenz, der Hiatus zwischen Lebenswelt und Geschichte. Hier wäre an J . G. Droysens Unterscheidung von ,Geschäften' und ,Geschichte' zu erinnern, der gemäß ,erst eine gewisse Art, das Geschehene nochmals zu betrachten' aus Geschäften Geschichte werden läßt. Analog ließe sich sagen: materielles Substrat für Erzählungen sind die raum-zeitlich lokalisierbaren Ereignisse und Geschehnisse innerhalb der transzendental konstituierten menschlichen Lebenswelt von Natur und Gesellschaft. Ihnen schließen sich Geschichte und Erzählung nicht bruchlos an; sie zerstören vielmehr die Kontinuität des lückenlos fließenden Lebensgeschehens. . . . (Wir vollziehen) einen konstruktiven Reflexionsakt, indem wir die Kontinuität des Lebens auflösen, um sie unter Gesichtspunkten von Bedeutung und Wertsetzung über die so entstandenen Lücken im Lebensgeschehen hinweg in einer neuen Formgebung als Sinnkontinuität neu zu stiften." 23 ) Dieser Argumentation ist in mehreren Teilschritten zu begegnen. Zunächst ist von der Realität der Historie her zu bestätigen, daß die Historie tatsächlich nicht dadurch gekennzeichnet ist, die Sicht der Zusammenhänge, wie sie den in der Vergangenheit Lebenden zukam, unmittelbar wiederzugeben. Und es ist an die bereits in anderem Zusammenhang gemachte Feststellung zu erinnern, daß sie dies auch nicht zu leisten vermöchte, selbst wenn sie es sich zum Ziel machte. Die Historie ist wesentlich durch die Gegenwart geprägt — ζ. B. durch das in der Gegenwart verfügbare Wissen um die weiteren Entwicklungen und Konsequenzen des historisch Thematisierten. So ist es gewiß berechtigt, darauf hinzuweisen, daß der Historiker durch die zeitliche Distanz über Informationen verfügt, die ihm eine Sicht der Vergangenheit gestatten, die den jeweiligen Zeitgenossen grundsätzlich unzugänglich war. In diesem Sinne erweist sich das erste der angegebenen Charakteristika der Historie bei Danto als legitim.
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Es ist allerdings hinzuzufügen, daß es nicht nur der Zeitabstand ist, der die Differenz des Historikers gegenüber der Sicht der Zeitgenossen bestimmt. Es ist vor allem die Gegenwart als solche, die für die Geschichtsschreibung ausschlaggebend ist. Die in ihr relevanten Kriterien zur Beschreibung und Beurteilung von Handlungszusammenhängen liegen auch der Historie zugrunde. Erich Heintel hat, insbesondere am Beispiel der historischen Auseinandersetzung mit Zeitaltern, die einer von der für die Gegenwart bestimmenden unterschiedenen Ontologie verpflichtet sind, ausgeführt, daß der Versuch einer unmittelbaren Wiedergabe der Sicht der Zeitgenossen nur in „künstliche Naivität" führen kann, d. h. notwendig zum Scheitern verurteilt ist 24 ). Im Rahmen der Diskussion des Dantoschen Ansatzes war es F. Kaulbach, der in diesem Sinn argumentierte. „Aber jetzt ist die Frage zu stellen, ob die Sprech- und Erkenntnissituation des Historikers wirklich nur, wie es Dantos Auffassung entspricht, durch einen zeitlichen Stand und dessen Perspektive bestimmt ist", schreibt er und gelangt zu folgender Überlegung: „Wenn vom Historiker festgestellt wird, daß er einen Stand und dessen Perspektive behauptet, so darf dieser nicht als ,Punkt' auf einer Zeitgeraden verstanden werden, auf der die verschiedenen aufeinanderfolgenden Augenblicke angenommen werden, die einerseits vom geschichtlichen Geschehen, andererseits auch vom Historiker besetzt werden, der als Nach-geborener über die Geschichten berichtet, welche in den früheren Augenblicken und Zeitspannen geschehen sind. Vielmehr muß der Stand des Historikers als gedanklicher Stand, als ,Ich behaupte denkend . . .' begriffen werden: die dabei maßgebende Perspektive muß demgemäß als Denk-situation erkannt werden." 25 ) Doch auch diese Argumentation Kaulbachs bedarf noch einer Ergänzung. Es ist zu betonen, daß das Denken des Historikers, das seiner Bezugnahme auf die Vergangenheit zugrunde liegt, nicht bloß als theoretische, sondern auch als praktische Auseinandersetzung mit der Gegenwart zu sehen ist. Es zeigt sich also, daß die Historie die „menschliche Lebenswelt in Natur und Gesellschaft" in der Tat nicht bruchlos ver-
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mittelt, und ferner, daß die von Danto vorgenommene Bestimmung dieses Bruchs nur ein Moment desselben herausgreift und daher der Ergänzung bedarf. Aber es ist hinzuzufügen, daß damit das oben angegebene Argument von der Neustrukturierung der Vergangenheit in der Historie noch nicht bestätigt ist. Vielmehr ist zu bedenken, daß das Interesse der Historie bzw. das öffentliche Interesse an Historie auf die Lebensrealität der Vergangenheit gerichtet ist. Mit Bezug auf das erste angegebene Charakteristikum der Historie bei Danto formuliert, bedeutet das: Die Historie beschränkt sich nicht auf solche Feststellungen, die die Zeitgenossen grundsätzlich nicht treffen konnten, sondern im Gegenteil, gerade weil die weitere Entwicklung des Vergangenen und ihre oft bis in die Gegenwart reichenden Auswirkungen bekannt sind, sucht sie auf die ursprüngliche Lebenssituation bzw. darauf, wie sie sich für die in der Vergangenheit Entscheidenden und Handelnden darstellte, zurückzugehen. Um bei einem von Danto selbst gewählten Beispiel zu bleiben: Gewiß kann erst von einem nach dem Westfälischen Frieden sich äußernden Historiker gesagt werden, daß 1618 der Dreißigjährige Krieg begann, — trotzdem, genauer gesagt, eben weil die Länge und die ganz Europa betreffende Tragweite dieses Krieges bekannt sind, ist die Aufmerksamkeit der Historie auch darauf gerichtet, wie sich für die Zeitgenossen des Jahres 1618 die Lage darstellte. Anders gesagt: Unbestreitbar beruht die Historie auf den in der Gegenwart relevanten Kategorien, doch es darf nicht übersehen werden, daß sie mittels derselben für die in der Gegenwart Lebenden die Lebensrealität der Vergangenheit erfaßbar zu machen sucht respektive bestimmte, aus der Situation der Gegenwart gesehen bedeutende Aspekte derselben. Sicher ist hier hinzuzufügen, daß die Historie auch mit Zusammenhängen befaßt ist, die von den in der Vergangenheit Lebenden oder zumindest von vielen nicht durchschaut wurden, doch ergibt sich daraus kein grundsätzlicher Einwand gegen das eben Gesagte. Die Reflexion auf die undurchschauten Zusammenhänge macht die Grenzen des Handlungsraumes sichtbar und
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trägt damit ihrerseits bei zur Charakterisierung der Entscheidungssituation der Vergangenheit. Im Sinne dieser Überlegungen ist übrigens auch die vielkritisierte programmatische Äußerung Rankes, daß die Historie zu zeigen habe, „wie es eigentlich gewesen" 26 ), zu rehabilitieren. Die Problematik dieser Äußerung beginnt, wie gesagt, erst damit, daß Ranke die Forderung der Selbstauslöschung des Forschenden, d. h. der Eliminierung aller Gegenwartsbezüge, mit ihr verbindet. So ist zusammenfassend festzustellen, daß die Historie durch eine ganz bestimmte Spannung gekennzeichnet ist, welche durch die beiden Momente des Gegenwartsbezugs und des Interesses an vergangener Lebensrealität konstituiert ist. Bei Ranke und Danto geht diese Spannung auf komplementäre "Weise dadurch verloren, daß jeweils eines der beiden Momente für die gesamte Bestimmung der Historie genommen wird. Fragt man sich an dieser Stelle, wie es bei Danto zu dieser Abspannung kommt, so zeigt sich, daß dieselbe auf den sprachanalytischen Ansatz zurückgeht. Indem Danto im Sinne dieses Ansatzes nur auf die Sprache der Historie Bezug nimmt und die Frage ausklammert, welchem Gegenstand diese Wissenschaft gewidmet ist, gelangt er nicht zur Reflexion darauf, daß in der Geschichtswissenschaft wie in den Geisteswissenschaften überhaupt ein besonderer Wirklichkeitsbereich thematisiert wird, der wesentlich durch Selbstbewußtsein und Handeln gekennzeichnet ist, und ebensowenig darauf, daß dies für die Historie im speziellen bedeutet, daß ihrem „Gegenstand" bereits eine jeweils bestimmte Wahrnehmung von Zusammenhängen immanent ist, daß sich also die Zusammenhänge, die sie aufzeigt, nicht erst für sie als solche präsentieren. Das heißt also: Nur durch die Ausklammerung der Gegenstandsdiskussion ist es möglich geworden, daß Danto die für die Historie charakteristische Spannung nicht wahrnimmt. Diese Verkürzung der Historie ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Sie führt Danto zunächst in eine Paradoxie, die er allerdings nicht wahrnimmt. Seinem Anspruch nach kon-
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zentriert er sich zwar auf die Sprache der Historie, doch kann er mit den Mitteln dieser Untersuchung die Geschichte der Menschheit nicht von der Naturgeschichte abgrenzen. Indem er nämlich die erstere als einen Strukturierungsprozeß sieht, in dem, von bestimmten Konzeptionen her, Zusammenhänge von außen an bestimmte Phänomene herangetragen werden, ist sie nicht zu unterscheiden von der Naturgeschichte, in der die Phänomene der Natur ζ. B. nach dem Konzept der Evolution in Entwicklungszusammenhänge eingeordnet werden. Hier wird man darauf aufmerksam, daß bei Danto dieselbe Inkonsequenz anzutreffen ist, die im Verlauf dieser Untersuchung schon mehrfach bei Vertretern der analytischen Philosophie festzustellen war. Auch Danto unterläuft das Programm der Abstinenz von ontologischen Aussagen. Im Ereignisbegriff verbirgt sich ja die Vorstellung, daß es keinen Unterschied von Handlungen und Naturabläufen gibt. Und diese Vorstellung kommt auch explizit zum Ausdruck, ζ. B. an einer Stelle, an der Danto zur Frage nach dem Unterschied von Geistes- und Naturwissenschaften Stellung nimmt. Es heißt dort: „Jene Behauptung (der man im übrigen heutzutage weniger häufig begegnet als früher), daß es zwei unterschiedene Arten von Ereignissen gebe — nämlich naturwissenschaftliche Ereignisse, die vorausgesagt und erklärt werden können, und historische Ereignisse, bei denen man dies nicht vermag — , ist abwegig. Es gibt nicht zwei Klassen von Ereignissen, sondern höchstens zwei Klassen von Beschreibungen." 27 ) Auf die Problematik einer solchen Argumentation braucht hier nicht neuerlich eingegangen zu werden. Die durch Ausklammerung der Gegenstandsfrage verkürzte Bestimmung der Historie ist aber nicht nur insofern problematisch, als sie den Unterschied von Menschheits- und Naturgeschichte nivelliert. Sie hat vielmehr ihre entscheidende Grenze darin, daß sie dem Forschungscharakter der Historie nicht gerecht zu werden vermag. Wird die Historie so gedacht, daß sie auf der Basis von bestimmten Konzepten bzw. aus der Gegenwart des Historikers erwachsenden Fragestellungen aus den
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Bausteinen der Vergangenheit Geschichte erst herstellt, so ist damit die Vorstellung, daß sie Geschichte erforscht, zurückgewiesen. Das bedeutet, daß Danto mit dem Konzept der narrativen Organisation noch einen weiteren Unterschied nivelliert, nämlich den von historischer Forschung und historischer Dichtung. Damit steht er aber in eklatantem Widerspruch nicht nur zum Selbstverständnis, sondern auch zur Realität der Historie. In diesem Zusammenhang ist folgendes zu überlegen: Gewiß nimmt die Historie (wie übrigens andere Wissenschaften auch) von bestimmten Fragestellungen, die zur Gegenwart in (einer noch näher anzugebenden) Beziehung stehen, ihren Ausgang, und gewiß entscheidet sich von diesen Fragestellungen her, was aus der Vielfältigkeit der Vergangenheit als relevant ausgewählt und was als marginal abgetan wird — aber das bedeutet nicht, daß die Historie bestimmte Strukturen in die Vergangenheit projiziert, sondern lediglich, daß sie bestimmte in der Vergangenheit selbst liegende Zusammenhänge in Sicht zu bringen sucht. Das heißt, die Fragestellungen haben den Charakter von Instrumenten, um bestimmte Strukturen freizulegen, und die Historie verfolgt durchgängig Forschungsintentionen. D a ß dieser Anspruch auch der tatsächlichen Realität der Historie entspricht, wird insbesondere am Phänomen der Kontrolle erkennbar. Immer wieder erweisen sich nicht nur bestimmte Darstellungen, sondern bereits bestimmte Fragestellungen von der Vergangenheit her als unberechtigt. Letzteres gilt etwa für all jene Fälle, in denen sich herausstellt, daß Kategorien der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, die für die Gegenwart leistungsfähig sind, auf gewisse Perioden der Vergangenheit nicht anwendbar sind. Wenn sich nun die Vergangenheit in dieser Weise als resistent erweisen kann, worauf u. a. schon Dilthey hingewiesen hat, so heißt das nichts anderes, als daß die Historie eben nicht jede beliebige Geschichte erzählen kann. Von dieser Überlegung her läßt sich nun auch die Ausgangsfrage nach der Validität der Dantoschen Stellungnahme zum Objektivitätsproblem klären bzw. weiter differenzieren. Es ergibt sich jetzt, daß die These von der Willkürlichkeit des Ar14
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rangements vergangener Ereignisse in der Erzählung nicht haltbar ist, weil sie dem durchgängigen Forschungscharakter des Vorgehens der Historie nicht Rechnung trägt. Sie ist dadurch widerlegt, daß nicht nur Aussagen über einzelne, isolierte Ereignisse, sondern auch Aussagen über Zusammenhänge in der Vergangenheit kontrollierbar sind. Doch es ist hinzuzufügen, daß Dantos Stellungnahme zur Objektivitätsfrage damit nicht zur Gänze getroffen ist. Wenn Danto von Willkürlichkeit spricht, bezieht er sich nicht nur auf das Vorgehen der Historie, sondern auch auf die dasselbe fundierenden Fragestellungen. Somit bleibt über die eben geführte Argumentation hinaus das Problem, ob die Entscheidung über die zu verfolgenden Fragestellungen den zufälligen Interessen der Individuen anheimgestellt, also ob die Historie nicht doch, zumindest in ihrem jeweiligen Ausgangspunkt, von der Willkür bestimmt ist. Die Erörterung dieses Problems macht eine Analyse des Subjekts und seiner Stellung zur Geschichte erforderlich. Damit kommt aber eine weitere Grenze der sprachanalytischen Philosophie in Sicht. Diese kann die Subjektivität des Historikers nur indirekt, über die Erzählung als ihr Produkt thematisieren. So hat der Historiker bei Danto, wie sich gezeigt hat, nur die abstrakte Qualität des (jeweils letzten) Punktes auf der Zeitstrecke bzw. des Ortes von Konstruktionsprinzipien. Äußerungen, die den Historiker als solchen betreffen, wie etwa die, in denen Danto von der Willkürlichkeit der „topischen Interessen" spricht, haben nur den Charakter von Nebenbemerkungen und können grundsätzlich nicht mehr sein, weil in ihnen der genuine Boden der sprachanalytischen Philosophie bereits verlassen ist. Das bedeutet, daß auch die weitere Reflexion auf die in ihnen angesprochene Thematik außerhalb des Rahmens der sprachanalytischen Philosophie erfolgen muß. Die Auseinandersetzung mit Dantos Ansatz hat somit die generelle Ambivalenz sprachanalytischer Geschichtsphilosophie deutlich werden lassen: Einerseits bringt sie, und das ist ihr entscheidendes Verdienst, in die Diskussion der Theorie der
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Geschichtswissenschaft ein Motiv ein, genauer gesagt: wieder ein, das im Gefolge der Lebensphilosophie weitgehend zurückgetreten ist, nämlich die Frage nach dem Subjekt und seiner Bedeutung für die Geschichtsschreibung, andererseits wird gerade an der Frage der Einlösung dieses Motivs ihre Grenze sichtbar. Es gilt also, die von der sprachanalytischen Philosophie anvisierte Problematik weiterzuverfolgen, aber mit anderen Mitteln. M i t genau dieser Aufgabenstellung setzen die Arbeiten Baumgartners ein.
2 . D I E KRITIK D E R HISTORISCHEN V E R N U N F T BEI BAUMGARTNER
Baumgartner zielt darauf ab, die Voraussetzungen der Geschichtserzählung im erzählenden Subjekt aufzuklären. Dabei verfolgt er den Ursprung der Historie immer weiter zurück, so daß sich in seinen Ausführungen fünf (wenn auch von ihm selbst nicht deutlich voneinander abgegrenzte) Ebenen der Fundierung unterscheiden lassen. Zunächst führt er aus, daß der Historiker als Repräsentant seiner Zeit zu sehen ist. Das heißt, die Fragestellung, die der Geschichtserzählung zugrunde liegt, erscheint bei Baumgartner nicht als bloß zufällig, sondern als signifikant für die Gegenwart des Historikers bzw. als Produkt der Auseinandersetzung des Historikers mit seiner Gegenwart. In diesem Sinne schreibt er etwa: „Die Weltgeschichte ist die zu Geschichtsstadien aufgespannte Anatomie der Gegenwart." 2 8 ) Baumgartner argumentiert also, daß die Kategorien, auf deren Basis die Geschichtsschreibung erfolgt und die ζ. B. für die Periodisierung der Weltgeschichte ausschlaggebend sind, identisch sind mit denjenigen, die die Selbstreflexion der Gegenwart des Historikers bestimmen. Baumgartner bleibt bei dieser Überlegung aber nicht stehen. Er fragt nicht nur nach dem Ursprung der jeweils bestimmten Kategorien, die der Geschichtsschreibung zugrunde liegen, sondern auch nach dem Ursprung der Geschichtsschreibung überhaupt. Das heißt, er geht dem Motiv nach, das für die Auseinandersetzung mit Vergangenheit in Form von Geschichten aus14*
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schlaggebend ist. Dabei gelangt er zu der Feststellung, daß der Zweck, auf den die Geschichtsschreibung zurückgeht, „die Orientierung und Legitimation von Handeln" 2 9 ) ist. Baumgartner argumentiert in diesem Zusammenhang folgendermaßen: Der sich in der Gegenwart Motivierende erfährt „die Unmöglichkeit einer material absoluten Begründung menschlichen Handelns" 30 ) und versucht diese zu kompensieren. Eine Möglichkeit der Kompensation liegt darin, eine Geschichte zu erzählen, die die gegenwärtige Situation so mit der Vergangenheit verbindet, daß sie als ein Moment in einem sinnvollen Entwicklungsgang erscheint und daraus ihren Sinn gewinnt. Von hier aus stellt Baumgartner eine weitere Fundierungsfrage: Er fragt nach der Bedingung der Möglichkeit für ein solches Geschichtenerzählen. Er greift dabei die schon beü Dilthey formulierte Frage nach der „historischen Vernunft" wieder auf, wenngleich sie bei ihm, wie sich gleich zeigen wird, eine ganz andere Akzentuierung erfährt, indem er nicht auf eine Uberwindung der Transzendentalphilosophie durch das Aufzeigen der historischen Bedingtheit der Vernunft abzielt, sondern vielmehr darauf, die apriorischen Bedingungen der Historie zu klären. Baumgartner geht in diesem Zusammenhang von folgender Überlegung aus: Damit eine jeweils bestimmte Geschichte erzählt werden kann, ist die Idee der Kontinuität notwendig. Demnach „unterstellen wir einen erzählbaren Zusammenhang der Ereignisse mit Anfang, Mitte und Ende" 3 1 ), das heißt, Baumgartner konstatiert „eine ursprüngliche narrative Synthesis, ein apriorisches Schema für Geschichten, das den konkreten Erzählungen, dem empirischen historischen Gegenstand, als Bedingung der Möglichkeit zugrunde liegt" 32 ). Mit anderen Worten: Die bestimmte erzählte Geschichte ist für Baumgartner eine aus der „Standortgebundenheit des konkreten Historikers in seinem jeweiligen Lebenszusammenhang" heraus erfolgende inhaltliche Füllung des Kontinuitätsschemas. Im Zuge der weiteren Entfaltung dieser Überlegung hinterfragt Baumgartner schließlich das apriorische Schema der Kontinuität noch einmal. Dabei gelangt er zur Uberzeugung, daß
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es auf ein bestimmtes, dem Menschen als solchem zukommendes Interesse zurückverweist, nämlich auf das angesichts des Vergehens in der Zeit sich manifestierende Interesse an einem universalen Zusammenhang, „kraft dessen das Vergängliche, alle vergangenen Ereignisse, im Ganzen eines Unvergänglichen bewahrt sind" 33 ). Dieses Interesse ist für Baumgartner klar von dem oben erwähnten Interesse unterschieden. Demnach „überlagern sich offenbar zwei verschiedene Interessensrichtungen: das Interesse an konkreter Orientierung und Legitimation des Handelns, das die Konstruktion bestimmter Zusammenhänge im Vergangenen leitet und das Interesse an Geschichte schlechthin, welches die Konstruktion von Zusammenhang überhaupt als sinnvoll erscheinen läßt" 34 ), und Baumgartner fügt hinzu, daß man diese beiden Interessen „auch durch die Differenz des Interesses am Erzählen selbst und des Interesses am Erzählten beschreiben kann" 35 ). Das Interesse am Erzählen selbst ist für Baumgartner seinerseits fundiert in dem für den Menschen kennzeichnenden allgemeinen, auf „letzte Wertstellungnahmen" 36 ) und „Sinngebung" 37 ) bezogenen Interesse. Baumgartner argumentiert in diesem Zusammenhang, daß „in allem menschlichen Erkennen ein Zug zum Ganzen des Erkenn- und Wißbaren, zum Ganzen der Wirklichkeit angelegt ist, demgemäß alles Einzelne, Bestimmte, Begrenzte auf das Ganze als das Grenzenlose, Unbestimmte und Umgreifende bezogen ist" 38 ). Über dieses allgemeine Interesse ist für Baumgartner das Schema der Kontinuität mit der Idee der Totalität im Sinne Kants verbunden. Das heißt, die Ideen Kontinuität und Totalität gehen für ihn beide auf dieses Interesse als ihre gemeinsame Wurzel zurück. Baumgartner wendet sich daher der Frage zu, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Er unterstreicht zunächst ihre Ubereinstimmung, was den Charakter der Idee betrifft. Dabei geht er davon aus, daß das im „Interesse am Erzählen selbst" Intendierte mittels der bestimmten Erzählungen nicht erreichbar ist. Kontinuität bleibt demnach „eine Utopie, derentwillen erzählt wird, die aber im
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Erzählen selbst nicht eingelöst werden kann . . . Die realisierbare Vorstellung von Geschichte und Kontinuität ist nur möglich in der Begrenzung auf partikulare Zusammenhänge im Vergangenen: auf kontinuierliche Geschichten"39). Der Gedanke der Kontinuität hat also die Funktion eines regulativen Prinzips, d. h., er hat mit der Idee der Totalität „die Figur des unendlichen Strebens"40) gemeinsam. In diesem Sinn führt Baumgartner aus: „,die Geschichte' ist allein symbolischer Ausdruck jenes Interesses, das allen realisierbaren Geschichten zugrunde liegt. Ihre Wahrheit und eigentümliche Realität ist der . . . universale Sinn, um dessentwillen das Erzählbare erzählt wird. Eben darum ist die Geschichte selbst aber nicht realisierbar: als Sinnpostulat einer umfassenden Synthesis, einer universalen Totalität eines dynamischen Zusammenhanges alles Erzählbaren in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist sie nur die Artikulation des Interesses an Totalität, das alle nur als partikulare narrative Konstruktion mögliche Geschichtsschreibung motiviert." 41 ) Diese Überlegung ist das eigentliche transzendentalphilosophische Fundament der narrativen Geschichtstheorie bei Baumgartner. Von ihr aus sucht er alle Vorstellungen von einem objektiven Zusammenhang von Geschichte als falschen Schein zu entlarven: „Die als vorgegebene und erfahrbare Realität konzipierte Geschichte erscheint so als theoretisch verschleiertes Vehikel einer letzten Wertstellungnahme, als objektiv gewendeter subjektiv absoluter Sinnwille. In der Vorstellung einer objektiven Geschichte ist daher immer schon entschieden, was prinzipiell offen bleiben muß." 42 ) In der Konsequenz dieser Argumentation erscheint schließlich die Historie als Entstehungsort der Geschichte. Baumgartner macht dies auch auf sprachphilosophischer Ebene deutlich, indem er betont, „daß die in der historischen Objektsprache verwendeten Ausdrücke nicht den logischen Status theoretisch abbildender Begriffe und ihrer logischen Begriffsverhältnisse einnehmen, sondern ausschließlich, ihrem Stellenwert nach, symbolbildende Ausdrücke für Erzählzusammenhänge darstellen.
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Historische Ausdrücke, mögen sie in anderen Zusammenhängen auch als theoretische Begriffe verstanden werden können, stehen in narrativer Supposition, d. h., sie sind Ausdrücke für Mikroerzählungen und repräsentieren jeweils das Thema einer zu erzählenden Geschichte" 43 ). Die Frage des Verhältnisses von Kontinuität und Totalität führt Baumgartner aber nicht nur in diese Überlegungen. Baumgartner erörtert darüber hinaus, ob die Idee der Kontinuität denselben transzendentalphilosophischen Status hat wie die der Totalität, d. h., ob sie sich als „Konstituens des menschlichen Geistes" ausweisen läßt 44 ). Anders formuliert, ist dies die Frage, ob die Menschen notwendig Geschichten konstruieren. Hier ergibt sich für Baumgartner zunächst eine Differenz. Während sich die Idee der Totalität als eine „ausweisbare Struktureigentümlichkeit des endlichen Wissens" 45 ) präsentiert, erscheint die Idee der Kontinuität als das Produkt „einer freien Applikation jener Totalität auf die Zeitreihe" 46 ). Baumgartner schreibt: „Die Vorstellungswelt eines Sinnzusammenhanges der Geschichte setzt die Idee der Totalität als notwendige Bedingung voraus, ohne sich aus ihr herleiten zu lassen. Dies bestätigt sich an der Einsicht, daß der Idee der Totalität ebensowohl durch die Idee eines ungeschichtlichen absoluten Wesens, durch die Idee Gottes, genügt werden kann, welche jedenfalls nicht eo ipso die Vorstellungswelt von Geschichte mit erzeugt." 47 ) Baumgartner betrachtet also die Idee der Totalität als eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für die Idee der Kontinuität. „D. h. das Interesse an Kontinuität ist nicht selbst transzendental, läßt sich aber über den Hiatus eines freien Aktes hinweg auf transzendentale Strukturen zurückführen." 48 ) Dementsprechend bezeichnet Baumgartner die Idee der Kontinuität, im Unterschied zur „notwendigen" Idee der Totalität, als eine „frei erzeugte" 49 ). So erweist sich für ihn letztlich „das Problem der Geschichte und ihrer Kontinuität . . . überhaupt nicht als ein transzendentales Problem, da die Auffassung von Welt als Geschichte nicht als notwendiges
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Implikat zur Konstitution des endlichen Selbstbewußtseins gehört; Geschichte ist vielmehr selbst freier Entwurf endlicher Menschen" 50 ). Baumgartner unterstreicht diese Differenz von Totalität und Kontinuität immer wieder, weil er zunächst überzeugt ist, daß sich nur aus ihr die jeweilige Gegenwarts- und Praxisbezogenheit der Historie erklären läßt. Er argumentiert dabei folgendermaßen: „Sofern historisches Wissen nicht notwendig als Moment in die apriorische Konstitution des Bewußtseins eingeht, ist es nicht auf den geometrischen Ort des Selbstbewußtseins bezogen, es gründet vielmehr in einer freien Veranstaltung konkreter endlicher Menschen. Sein geometrischer Ort ist nicht das transzendentale Ich und dessen apriorische Selbstkonstitution, sondern die unter transzendentalen Gesichtspunkten sekundäre, apriori nicht konstruierbare, zufällige und freie, wenn auch nicht willkürliche und unvernünftige Kommunikation und Interaktion bereits konstituierter Subjekte." 51 ) Baumgartner hält aber trotz dieser Argumentation nicht an der Ausklammerung der „historischen Vernunft" aus dem eigentlich transzendentalen Bereich fest. In seinem vier Jahre nach „Kontinuität und Geschichte" erschienenen Aufsatz „Thesen zur Grundlegung einer transzendentalen Historik", der als „Skizze einer transzendentalen Grundlegung des historischen Wissens" gedacht ist 52 ), findet sich kein Hinweis mehr auf einen Hiatus zwischen Transzendentalität und Kontinuität. Im Gegenteil: es heißt dort, „daß die Idee einer umfassenden Geschichte als regulative Idee notwendig ist" 5 3 ), was einen expliziten Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Konzeption als einer „frei erzeugten" Idee bedeutet. Umso erstaunlicher ist es, daß sich Baumgartner gerade an dieser Stelle, wo man eine Begründung und Erläuterung dieser Kehrtwendung erwartet, auf seine Ausführungen in „Kontinuität und Geschichte" beruft. Die fünfte und eigentlich fundamentale Ebene der Reflexion auf die subjektiven Voraussetzungen der Historie erweist sich also als uneinheitlich. Ohne dies als Bruch mit seinen ursprünglichen Überlegungen wahrzunehmen, geht Baumgartner dazu
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über, die historische Vernunft als eine dem Menschen als solchem, d. h. notwendig zukommende Kompetenz zu charakterisieren, mit anderen Worten, sie als einen spezifischen Bereich der Transzendentalität darzulegen. Er tut dies in Form des Versuchs, die Vernunftkritik Kants zu ergänzen, und schreibt in diesem Sinne: „Transzendentale Historik zielt der Idee nach auf eine Kritik der historischen Vernunft, die analog zu den kantischen Vernunftkritiken als Elementarlehre eine transzendentale Ästhetik (als Theorie der historischen Zeit) und eine transzendentale Logik (Analytik und Dialektik), sowie eine transzendentale Methodenlehre umfassen müßte." 54 ) Dieses Programm wird in dem genannten Aufsatz näher erläutert, seine vollständige Einlösung steht jedoch noch aus. Am vorliegenden Entwurf läßt sich bereits erkennen, daß sich die Orientierung der Kritik der historischen Vernunft an der Vernunftkritik Kants, die Baumgartner anstrebt, auf eine Orientierung an der Kritik der theoretischen Vernunft beschränken wird. So verwendet Baumgartner den Terminus „erkennendes Subjekt" als Synonym für „historische Vernunft" 5 5 ). Ebenso bezeichnend ist es, daß er die historische Vernunft als eine „besondere konstruktive Auffassungsweise" der gegebenen Wirklichkeit bezeichnet56) und dabei neuerlich die Idee der Totalität als das regulative Prinzip der Konstruktion versteht 57 ). Dieses Programm Baumgartners erscheint in mehrfacher Hinsicht als problematisch. Z u m einen erhebt sich die Frage, ob die Bezüge auf Kant dessen Differenzierungen adäquat aufnehmen, zum anderen, ob Baumgartners Konzept der historischen Vernunft als solches geeignet ist, die subjektiven Voraussetzungen der Historie zu bestimmen. Diese Fragen ergeben sich bereits in bezug auf den Ausgangspunkt der Entfaltung der transzendentalen Bedingungen der Historie bei Baumgartner, nämlich auf die Theorie der „Konstitution des historischen Gegenstandes" 58 ). Baumgartner bestimmt zunächst „die Lebenswelt des Menschen in Natur und Gesellschaft" als das „Substrat" 59 ), das durch die historische Vernunft „in der Erzählin-
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tention schematisiert" 60 ) und damit als historischer Gegenstand konstituiert wird. Das bedeutet, daß die Konstitution des historischen Gegenstandes eine bereits konstituierte Realität voraussetzt, genauer gesagt, eine in Natur und Gesellschaft unterscheidbare Realität. Die „Konstitution des historischen Gegenstandes" erscheint so als eine zweite Konstitution von bereits Konstituiertem, womit sich bei Baumgartner eine Denkfigur wiederholt, die schon bei Heinrich Rickert und M a x Weber aufgetreten ist 61 ). Diese Denkfigur widerspricht aber grundsätzlich dem Konstitutionsgedanken Kants, der sich ausschließlich auf die Bedingungen der Möglichkeit des primär empirisch Gegebenen bezieht. Es legt sich hier nahe, von diesem Widerspruch zu Kant einmal abzusehen und der Intention Baumgartners nachzugehen. Dabei stellt sich zunächst heraus, daß Baumgartner einen Zusammenhang im Auge hat, der gewiß nicht zu leugnen ist. Wie sich bereits an anderer Stelle gezeigt hat, ist der Gegenstand der Geschichtswissenschaft durch die bestimmte Zugangsweise, mit der die Historiker an das Gesamtfeld möglicher Gegenstände ihrer Forschung herantreten, mitbestimmt. Es fragt sich aber, ob die Erörterung dieses Zusammenhangs das Konzept einer besonderen Form der Vernunft notwendig macht. Baumgartner bleibt jedenfalls eine einleuchtende Begründung dafür schuldig. Außerdem ist zu bedenken, daß der eben mit Bezug auf die Historie festgestellte Zusammenhang von Zugangsweise und Forschungsgegenstand auch in allen anderen Realwissenschaften anzutreffen ist. Baumgartners Überlegungen münden somit in einen Pluralismus der Vernunft, in dem jeder Wissenschaft eine besondere Vernunft zugeordnet ist. Nicht zuletzt angesichts dieser Konsequenz ist aber Kants Warnung vor einer unnötigen Vermehrung der Prinzipien Baumgartner gegenüber in Erinnerung zu rufen. Baumgartners Konzept der „Konstitution des historischen Gegenstandes" ist aber nicht nur hinsichtlich der konstituierenden „historischen Vernunft", sondern ebenso wohl hinsichtlich des „Substrats" problematisch. Wenn Baumgartner die der Hi-
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storie vorgegebene Vergangenheit der Menschheit als „lückenlos fließendes Lebensgeschehen" bezeichnet bzw. als „Kontinuität des Lebens", die durch die historische Betrachtungsweise „aufgelöst" und „zerstört" wird 62 ), so wird er damit den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht. Er läßt unberücksichtigt, daß bereits das Handeln über „die lückenlose Ereignisfolge in Raum und Zeit" 63 ) hinausgeht und mitunter an sehr weit Zurückliegendes anknüpft, so daß die Realität menschlichen Lebens gerade dadurch gekennzeichnet ist, nicht dem Muster des kontinuierlichen Lebensgeschehens des Organischen zu folgen. Es zeigt sich somit bei Baumgartner ein Phänomen, das der Atomisierung der Vergangenheit bei Danto analog ist: in beiden Fällen wird die Realität der Vergangenheit der Menschheit reduktionistisch, d. h. um die ihr bereits immanente Stiftung von Zusammenhang verkürzt, aufgefaßt, um in das Konzept der narrativen Konstruktion zu passen. Die Frage der Bestimmung des „Substrats" verkompliziert sich noch dadurch, daß Baumgartner selbst, wenn auch nur auf indirekte Weise, auf die dem menschlichen Leben immanente Zusammenhangsstiftung zu sprechen kommt. Baumgartner betont, daß die konstruktive Sinngebung der Vergangenheit nicht erst mit der wissenschaftlichen Historie einsetzt, sondern bereits mit dem Geschichtsbewußtsein überhaupt, so daß die Historie lediglich als „ausgezeichneter Fall, Paradigma" 64 ) erscheint. Wie soll nun aber das Geschichtsbewußtsein gedacht werden, wenn nicht als Moment des spezifisch menschlichen Lebens, auch in der Vergangenheit? Das bedeutet, daß Baumgartner von seinem Konstitutionskonzept her, streng genommen, die Lebenswelt selbst noch einmal in die beiden bekannten Momente zerlegen müßte, nämlich in die konstituierende Vernunft einerseits und ein (noch näher zu bestimmendes) Substrat andererseits. In diesem Zusammenhang ist ferner hinzuzufügen, daß Baumgartner bei der Bestimmung des „Substrats" der „Konstitution des Gegenstandes der Historie" auch noch in andere als die eben gezeigten Schwierigkeiten gerät, worauf noch zurückzukommen sein wird.
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Baumgartners Anspruch, im Sinne Kants zu argumentieren bzw. dessen Konzept weiterzuführen, erscheint ferner deshalb als ungerechtfertigt, weil wesentliche Unterscheidungen Kants unberücksichtigt bleiben. Hier ist zu bedenken, daß der Kontinuitätsgedanke bei Baumgartner eine doppelte Funktion erfüllt. Er leistet zum einen die Konstitution des historischen Gegenstandes und bildet zum anderen den Leitfaden für die erzählende Auseinandersetzung mit der so konstituierten Realität. Baumgartner nimmt also im Konzept der Kontinuität zwei verschiedene Momente der Kantischen Erkenntnistheorie zusammen, nämlich die Kategorien und die Ideen. Auf diese Weise wird sowohl diese Unterscheidung nivelliert als auch ein weiteres Moment der Analyse Kants übersprungen: die von Kant aufgezeigte Spannung von transzendentalem Idealismus und empirischem Realismus hat bei Baumgartner kein Äquivalent. Diese Reduktion der Differenzierungen Kants ist nicht nur im Hinblick auf die Frage des Kantverständnisses Baumgartners relevant, sondern vor allem deshalb, weil sie eine entscheidende Schwierigkeit der Position Baumgartners zur Folge hat. Daß das Moment des empirischen Realismus ausgeblendet bleibt, ist die Grundlage dafür, daß Baumgartner schließlich wie Danto die Erzählung als Herstellung des historischen Zusammenhanges auffaßt. So ergibt sich bei ihm dasselbe Problem, nämlich daß das Konstruktionsmodell dem Wissenschaftscharakter der Historie nicht gerecht wird. Alle diese mit bestimmten Details der Kantrezeption Baumgartners befaßten Fragen treten aber schließlich als sekundär hinter die eigentlich zentrale Fragestellung zurück. Es ist nämlich zu überlegen, ob es grundsätzlich legitim ist, die Historie auf eine subjektive Instanz zurückzuführen, die in Anlehnung an die theoretische Vernunft Kants bestimmt ist. Bedenkt man, daß bei Kant das Moment der Gegenstandskonstitution auf empirische Phänomene beschränkt bleibt und daß die Freiheit dem Bereich der Noumena zugeordnet ist, so ergibt sich das Problem, wie eine von der theoretischen Vernunft her gedachte
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transzendentale Kompetenz eine Wissenschaft begründen können soll, welche auf Handlungszusammenhänge bzw. auf in Handlungszusammenhängen Fundiertes bezogen ist. Mit anderen Worten: die in der vorliegenden Arbeit in anderem Kontext als für die Historie relevant aufgezeigte Verbindung von Empirie und apriorischem Wissen um die Freiheit kommt bei Baumgartner nicht in Sicht. In welche Schwierigkeiten eine Geschichtstheorie gerät, in der das Wissen um die Freiheit auf diese Weise systematisch ausgeblendet bleibt, wird an Baumgartners weiteren Überlegungen deutlich. Ist Baumgartner, wie sich gezeigt hat, zunächst davon überzeugt, daß es die menschliche Lebenswelt der Vergangenheit ist, auf die sich die „historische Vernunft" bezieht, so muß er schließlich diese Spezifizierung des „Substrats" samt der Unterscheidung von Natur und Gesellschaft wieder fallen lassen. In der Konsequenz der Orientierung an der theoretischen Vernunft kann sich die „historische Vernunft" lediglich auf das empirisch Wahrnehmbare im allgemeinen (und nur darauf) beziehen. Baumgartner argumentiert nun folgendermaßen: „Alles, was daher als Geschichte erscheint, verdankt sich einer besonderen konstruktiven Auffassungsweise der durch sinnliche Erkenntnis gegebenen raum-zeitlichen Wirklichkeit, die auf ein apriorisches Interesse des Menschen und seines Wissens an Vernunft und Sinngebung zurückverweist; umgekehrt kann alles, was sich als raum-zeitliche Wirklichkeit bestimmen läßt, als Geschichte bzw. als geschichtliches Ereignis aufgefaßt und gedeutet werden." 65 ) Damit ergibt sich nun folgendes: Zwar hat sich bereits der durch „lückenlos fließendes Lebensgeschehen" bestimmte Begriff der Lebenswelt als unzureichend erwiesen, um das Spezifische der Vergangenheit der Menschheit zu erfassen, doch erfolgt seine Verwendung immerhin noch im Zeichen des Versuchs, den Gesamtbereich des möglichen Bezugsfeldes der Historie abzustecken. Indem Baumgartner nun gezwungen ist, auch diese vage Differenzierung noch fallen zu lassen, gerät er neuerlich in eine Schwierigkeit, die auch bei Danto festzustellen war: auch
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er hat nun keine Möglichkeit mehr, die Geschichte der Menschheit von der Naturgeschichte zu unterscheiden. Hier wird nun auch die grundsätzliche Problematik des Begriffs Kontinuität sichtbar. Hat sich bei der Lektüre verschiedener Arbeiten Baumgartners zunächst gezeigt, daß dieser Begriff in unterschiedlichen, einander widersprechenden Varianten anzutreffen ist, so stellt sich nun heraus, daß dieser Widerspruch von untergeordneter Bedeutung ist. Entscheidend ist vielmehr, daß die Kontinuität in beiden Varianten im Rückbezug auf Kants Idee der Totalität bestimmt ist. Sie ist damit in jedem Falle an der theoretischen Vernunft orientiert und durch die sich daraus ergebende Problematik belastet. Die Idee der Totalität zielt ab auf den unendlichen Regreß in der Reihe der Bedingungen, und so kann Baumgartner, wie sich gezeigt hat, auch die Idee der Kontinuität nur auf die „Zeitreihe" als solche beziehen. Das heißt, die Idee der Kontinuität bietet keine Möglichkeit, den besonderen Zeitraum der Entwicklung der Menschheit abzugrenzen. Allerdings zeichnet sich bei Baumgartner auch der Versuch ab, diese Abgrenzung als gegeben vorauszusetzen und die Idee der Kontinuität als die Anwendung der Idee der Totalität auf die Vergangenheit der Menschheit zu bestimmen. Demgegenüber ist aber zu bedenken, daß das Konzept der Idee der Totalität seine Pointe darin hat, auf das empirisch grundsätzlich nicht erfaßbare Insgesamt, also gerade nicht auf empirisch eingrenzbare Bereiche bezogen zu sein. D. h., Baumgartner geht in diesem Fall vom eigentlichen Kern des Totalitätskonzepts ab und kann sich, ohne dies jedoch zu reflektieren, nur mehr verbal auf dasselbe beziehen. Es ergibt sich also, daß das Konzept der historischen Vernunft, mit dem Baumgartner die transzendentalen Voraussetzungen der Historie zu erfassen suchte, in mehrfacher Hinsicht unhaltbar ist. So erhebt sich die Frage, ob davon auch die anderen Ebenen seiner Reflexion auf das Subjekt der Geschichtsschreibung betroffen sind. In diesem Sinn sind vor allem seine Überlegungen zum Praxisbezug der Historie zu untersuchen.
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Wenn Baumgartner betont, daß die Geschichtsschreibung in der praktischen Situation der jeweiligen Gegenwart ihren Ausgangspunkt hat und ihrerseits eine Funktion für die Praxis erfüllen soll, so ist dies durchaus plausibel. Betrachtet man aber näher, wie Baumgartner diese Beziehung bestimmt, so ergeben sich neuerlich Probleme. Baumgartner konstatiert zunächst, daß es die „Orientierung von Handeln" ist, der die Geschichtsschreibung dienen soll. Das bedeutet für ihn aber nicht, daß das Bedürfnis nach Orientierung veranlaßt, daß der Blick auf die Geschichte gerichtet wird, etwa um die Genese der gegenwärtigen Situation kennenzulernen, sondern vielmehr, daß es den Konstruktionsprozeß, in dem Geschichte allererst entsteht, auslöst. Nun bildet das Prinzip für diese Konstruktion bei Baumgartner, wie gesagt, die „Anatomie der Gegenwart". Er schreibt in diesem Sinn: „Analytisch rekonstruierte oder auch nur nach Gesichtspunkten von Plausibilität angenommene Strukturen des gegenwärtigen Lebens werden zu Stadien des vergangenen Prozesses der Geschichte vergegenständlicht." 6 6 ). Damit wird Baumgartners Argumentation aber zirkulär: Die Geschichte, die der Orientierung in der Gegenwart dienen soll, ist nun selbst ein Produkt derselben. Es ist unschwer zu erkennen, daß diese Schwierigkeit in den transzendentalphilosophischen Erörterungen Baumgartners bzw. deren Problematik ihre Wurzel hat. Wird die Möglichkeit der Erforschung von Geschichte schon auf der epistemologischen Ebene ausgeschlossen, so kann der Geschichtsschreibung kein Orientierungswert mehr zukommen. D a ß ihr Baumgartner trotzdem „Orientierung des Handelns" als Leistung zuspricht, verrät, daß er von einem Vorverständnis ausgeht, in dem Geschichte nicht als ein Konstruktionsprodukt, sondern als ein zu erforschender Bereich der Wirklichkeit gedacht ist. Die gezeigte Zirkularität resultiert also aus der Gegenläufigkeit von Baumgartners expliziter Theorie und dem ihr widersprechenden, sich unbemerkt geltend machenden Vorverständnis. M i t anderen Worten: Die Auseinandersetzung mit dem konkreten Historiker zwingt Baumgartner, seine Konzeption zu
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durchbrechen und auf ein adäquateres Vorverständnis zurückzugreifen. Dieses uneingestandene Vorverständnis verrät sich ζ. B. auch darin, daß Baumgartner an mehreren Stellen seiner Ausführungen unter Geschichte doch einen Prozeß und nicht ein bloßes „Bewußtseinsphänomen" versteht 67 ). Im übrigen wird schon an der Thematik des Praxisbezuges der Historie als solcher deutlich, daß Baumgartner sein eigenes Programm implizit unterläuft. Würde nämlich der Handelnde konsequent als außerhalb der Geschichte stehend interpretiert — wie sollte er dann historische Informationen auf seine Situation beziehen und sich an ihnen orientieren? Nun sieht Baumgartner aber, wie sich gezeigt hat, den Praxisbezug der Geschichtsschreibung nicht nur in der Orientierung, sondern auch in der „Legitimation von Handeln". So führt er aus, daß die Geschichtsschreibung für das „Handeln, sofern ihm die Relativität seiner eigenen Wertvorstellung bewußt wird, das fehlende Moment der Absolutheit durch den Rekurs auf vergangene Sinn- und Wertrealisationen ersetzt und mithin das Handeln aus der Geschichte legitimiert, indem es durch die Kontinuitätsvorstellung in einen historischen Zusammenhang als sinngebende Werdeeinheit eingegliedert wird" 6 8 ). Die nähere Charakterisierung dieses Zusammenhangs erfolgt in Anlehnung an die Terminologie Troeltschs. Demnach trifft der Historiker „eine Entscheidung, in der er aus den ihm bekannten Wert- und Sinnideen diejenigen auswählt, die aufgrund seiner eigenen Wertstellungnahme sein eigenes Kulturideal darstellen und Gegenwart wie Zukunft bestimmen sollen. Von dieser Entscheidung zu einem Kulturideal aus antizipiert er Zukunft und interpretiert das Vergangene. So entsteht ihm eine Linie eines sinnvollen Zusammenhanges aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft, die sein Handeln motiviert und als Element in der Kontinuierlichkeit eines werdenden Sinnes verstehbar macht." 6 9 ) Aus dieser Passage geht mit aller Deutlichkeit hervor, daß Baumgartner mit Bezug auf die Legitimationsfrage ebenfalls in eine Zirkularität verfällt. Die praktische Entscheidung, die
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sich aus der Geschichtserzählung erst ableiten soll, liegt derselben bereits zugrunde. Es ist allerdings hinzuzufügen, daß diese Argumentation auch dann problematisch wäre, wenn Baumgartner den Zirkel vermieden hätte. Die Legitimation von Handlungen aus der Geschichte ist nämlich grundsätzlich nicht möglich. Wird versucht, eine Handlung unter Berufung darauf zu rechtfertigen, daß sie einen bestimmten Entwicklungszusammenhang weiterführt, so entspricht dies dem Prinzip vom Zweck, der die Mittel heiligt. Dieses Prinzip ist aber untauglich als Basis der Legitimation, was zumindest seit der Ethik Kants keine Frage mehr sein kann 7 0 ). Baumgartner bestreitet allerdings nicht, daß die Legitimation von Handeln „durch einen Blick auf ethische Prinzipien menschlichen Handelns und auf eine unter allgemeinen Begriffen beschriebene faktische Situation" 71 ) erfolgen kann, aber er sieht darin nur eine von zwei gleichrangigen alternativen Möglichkeiten, deren andere das Erzählen von Geschichten ist. Baumgartners Überlegungen zur praktischen Relevanz der Geschichtsschreibung führen also in verschiedener Hinsicht in schwerwiegende Probleme. Es ist aber zu betonen, daß damit die These vom Praxisbezug der Historie nicht als solche fragwürdig geworden ist, sondern lediglich in ihrer näheren Bestimmung bei Baumgartner. Sie gehört vielmehr zu den unverzichtbaren Bestandstücken der Theorie der Geschichtswissenschaft, d. h., es gilt, sie auf eine neue, die bei Baumgartner aufgetretenen Schwierigkeiten vermeidende Weise zu explizieren. Wie sich herausstellen wird, ist dabei auch auf eine Unterscheidung Baumgartners zurückzugreifen, nämlich auf die Unterscheidung von „Orientierung und Legitimation von Handeln." Die Relation dieser beiden Momente zur Geschichtsschreibung ist allerdings ganz anders darzustellen. Baumgartner ist freilich nicht der erste, der den Praxisbezug der Historie aufzeigt. Er kann aber das Verdienst in Anspruch nehmen, ihn gegenüber der analytischen Geschichtsphilosophie wieder in Sicht gebracht zu haben. Das Verdienst liegt dabei vor allem darin, daß es Baumgartner trotz aller IS
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Unzulänglichkeiten seiner Argumentation gelingt, die These vom dezisionistischen Ursprung der Geschichtsschreibung als inadäquat zu distanzieren und plausibel zu machen, daß sie durch eine Theorie zu ersetzen ist, in der gezeigt wird, daß und wie die Geschichtsschreibung mit dem von den Zeitgenossen des Historikers und ihm selbst geführten Diskurs über die gegenwärtige Situation und das in ihr Gesollte in Zusammenhang steht. Im Hinblick auf die hier verfolgte Thematik ist diese Distanzierung der Dezisionismus-These von zentraler Bedeutung, weil sie eine entscheidende Modifikation der Objektivitätsfrage zur Folge hat. Solange die Konzepte bzw. Fragestellungen, auf denen die Geschichtsschreibung beruht, der individuellen Willkür zugeschrieben werden, bleibt die Möglichkeit, sie einer Rechtfertigung zuzuführen, ausgeschlossen und muß die Historie als der Wissenschaftlichkeit letztlich unfähig erachtet werden. Sobald sie jedoch auf die praktische Situation der Gegenwart zurückgeführt werden, erhebt sich zumindest die Frage, ob sie nicht der Rechtfertigung im praktischen Diskurs fähig bzw. bedürftig sind. Damit rückt die Objektivität der Historie neuerlich in den Bereich der Möglichkeit. Welche Position Baumgartner in dieser Frage bezieht, wird noch zu erwähnen sein. An dieser Stelle erscheint es als vordringlich, darauf hinzuweisen, daß er das Thema der Objektivität der Historie nicht in seinem vollen Umfang entfalten kann. Die eben erwähnte neue Frage nach der Rechtfertigung der Konzepte bzw. Fragestellungen, auf denen die Geschichtsschreibung beruht, ist zwar legitim und notwendig, aber sie stellt nur ein Teilmoment der Gesamtfrage dar. Baumgartner muß jedoch in der Konsequenz seines Ansatzes die Gesamtfrage auf dieses Teilmoment reduzieren. Wird nämlich die Geschichtsschreibung als Herstellung von Geschichte gesehen, so bleibt die Frage nach der Rechtfertigung der Konstruktionsprinzipien als die einzige Form des Objektivitätsproblems übrig. Gegenüber der herkömmlichen Auffassung dieses Problems, in der es auf die Frage der Kontrolle am „Objekt", d. h. der Übereinstimmung
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historischer Aussagen mit der Wirklichkeit der Vergangenheit, reduziert wurde, gerät Baumgartner also ins andere Extrem. (Es ist allerdings hinzuzufügen, daß er in seinen späteren Publikationen seinen ursprünglichen Ansatz nicht in dieser Weise konsequent weiterverfolgte 72 ).)
3 . D I E OBJEKTIVITÄT DER HISTORIE ALS RESULTAT EINES MEHRDIMENSIONALEN
KONTROLLPROZESSES
Uberblickt man nun den narrativen Ansatz der Geschichtstheorie in seinen wesentlichen Ausprägungen, so ist festzustellen, daß keine der beiden Varianten in der Lage ist, der Historie voll gerecht zu werden. Bei aller Unterschiedenheit der Argumentation wird in beiden der Historiker als Konstrukteur, der die Geschichte erst hervorbringt, dargestellt, so daß der Forschungscharakter der Historie ausgeblendet bleibt. Die Analyse der narrativen Position mündet demnach primär in die Aufgabe, das Verhältnis von Historiker und Geschichte neu zu bestimmen. Dabei ist zunächst jene traditionelle Überlegung wieder aufzunehmen, daß die Geschichte als ein eigenständiger Prozeß aufzufassen ist und der Historiker als derjenige, der sich mit diesem auseinandersetzt. Es ist aber gleichzeitig zu berücksichtigen, daß in keiner der bisher vorliegenden Positionen diese Auseinandersetzung des Historikers mit der Geschichte adäquat bestimmt wird, wie die vorangegangene Untersuchung deutlich macht. Die gestellte Aufgabe kann also nicht so gelöst werden, daß man einfach auf eine der dem narrativen Ansatz vorausliegenden Positionen zurückgreift. Dennoch können Rückgriffe zu einer Lösung erheblich beitragen, dann nämlich, wenn man die in den einzelnen Theoriekomplexen entdeckten legitimen Motive unabhängig von ihrem jeweiligen Kontext wieder aufnimmt. In diesem Sinne ist mit dem Gedanken Diltheys einzusetzen, daß der Gegenstandsbereich, dem die Historie zugewendet ist, im spezifischen Wesen des Menschen fundiert ist und daher 15'
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die Gesamtheit der Konkretisierungen dieses Wesens in der Vergangenheit umfaßt. Und davon ausgehend ist, weiter in Übereinstimmung mit Dilthey, festzustellen, daß dieser Gegenstandsbereich, eben weil er im Menschen als solchem sein Konstituens hat, eine spezifische Zugangsweise möglich bzw. erforderlich macht. (In der näheren Bestimmung dieses Gedankens ist freilich von Dilthey abzugehen, um die Aporien seines Erlebnisbegriffs zu vermeiden 73 ).) Von hier aus ergibt sich zunächst, daß die auf den Menschen als solchen bezogene Empirie (nicht nur der Historie) nicht auf das Auffassen von sinnlich Wahrnehmbarem beschränkt ist, sondern auch das Auffassen von Sinn in seinen unterschiedlichen Gestalten und Ausdrucksformen umfaßt. Das heißt, wenn man der Eigenart dieses Gegenstandsbereichs gerecht werden will, ist Erfahrung in zwei Dimensionen nötig: als Erfassen sowohl von beobachtbarer Faktizität wie auch von (sprachlichem oder intentionalem) Sinn. Das Spezifische der diesem Gegenstandsbereich adäquaten Zugangsweise liegt aber nicht allein in dieser Zweidimensionalität der Empirie, sondern auch darin, daß das empirische Vorgehen nur ein Teilmoment ist, zu dem noch eine andere Form der Auseinandersetzung hinzukommt, wie noch zu zeigen sein wird. Ehe dies geschehen kann, sind in der Frage der Empirie weitere, für die hier verfolgte Thematik entscheidende Differenzierungen vorzunehmen. Vor allem gilt es zu reflektieren, daß die Empirie in keiner ihrer Formen den Charakter rezeptiver Entgegennahme in der Art bloßer Abbildung hat, sondern daß sie in jeweils bestimmten Fragestellungen begründet ist. Und es ist hinzuzufügen, daß dies nicht nur die wissenschaftliche, sondern bereits die alltägliche Empirie betrifft. Hier ist mit Dan to an den Gedanken „individuum est ineffabile" anzuschließen, um die zentrale Bedeutung der Fragestellung deutlich zu machen. Damit erhebt sich nun die Frage, worin das gemeinsame Charakteristikum jener bestimmten Fragestellungen besteht, die die empirische Arbeit des Historikers bestimmen. Sie macht
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neuerlich einige Differenzierungen erforderlich. Zunächst ist Gadamers Motiv der Geschichtlichkeit aufzugreifen, und zwar im Sinne der Überlegung, daß die Fragestellungen auf den Horizont der jeweiligen Gegenwart zu beziehen sind. Der einigermaßen geübte Leser kann ja auch ohne Kenntnis des Autors feststellen, welcher Zeit und vielleicht auch welchem Land ein bestimmter ihm vorliegender historischer Text entstammt. Doch es ist hinzuzufügen, daß damit noch kein Spezifikum der Historie erreicht ist. Solche Zuordnungen sind in der gleichen Weise sowohl mit Bezug auf die Humanwissenschaften insgesamt wie auch auf die Naturwissenschaften (und auf andere Texte) möglich 74 ). Eine Spezifizierung ergibt sich, wenn man die Fragestellungen nicht nur auf die Gegenwart als solche, sondern auf die praktische Situation in ihr rückbezieht. Gewiß: auch der Rückbezug auf die Praxis ist mit Bezug auf alle Wissenschaften möglich. Aber es ist zu bedenken, daß dabei jeweils verschiedene Momente von Praxis relevant werden. Hier ist die traditionelle Unterscheidung von Technik, der die Wahl der Mittel zu vorgegebenen Zwecken zugrunde liegt, und Praxis im engeren und eigentlichen Sinn, die auf der Entscheidung über die Zwecke selbst basiert, wieder aufzugreifen. Das zweite Moment ist deshalb als das eigentliche auszuzeichnen, weil es das umfaßt, was das Spezifische des Handelns gegenüber allen übrigen Vollzügen ausmacht — die Stellungnahme des Individuums zu anderen und seine Verantwortlichkeit. Diese Unterscheidung macht deutlich, daß die praktische Dimension seiner Existenz für den Menschen bedeutet, daß er vor verschiedene Typen von Entscheidungen gestellt ist. Es ergibt sich damit, daß auch verschiedene Typen der den Entscheidungen vorgelagerten Reflexion erforderlich sind. So kommt es zu Fragen in verschiedenen Richtungen, aus denen schließlich die den Wissenschaften zugrundeliegenden Fragestellungen hervorgehen. Dabei erfolgt allerdings eine Verästelung, so daß sich nicht nur zwei Wissenschaftstypen entsprechend den beiden Momenten der Praxis unterscheiden lassen. Die somit erforderliche Wissenschaftssy-
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stematik kann aber im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung nicht im einzelnen expliziert werden. Es ist lediglich darauf hinzuweisen, daß dichotomische Wissenschaftstheorien auf Simplifikationen beruhen (wobei an das im Kapitel zur Erklären· Verstehen-Debatte Gesagte zu erinnern ist). Für die Geschichtswissenschaft ist nun festzustellen, daß sie aus der der Praxis im eigentlichen Sinn entspringenden Fragerichtung hervorgeht. Dabei ist zu beachten, daß diese Fragerichtung zwei Momente umfaßt. Die Entscheidung über die Zwecke selbst erfordert nämlich zum einen die Reflexion auf die Situation und die in ihr gegebenen Alternativen, zum anderen die Reflexion auf die Prinzipien des Handelns. Betrachtet man nun die Fragen, die sich im Zusammenhang dieser Reflexionen ergeben, so stellt sich heraus, daß beide Reflexionstypen auf die Geschichtswissenschaft zuführen. In diesem Sinne ist Baumgartners Unterscheidung der „Orientierung und Legitimation von Handeln" sowie seine Überlegung, daß die Geschichtswissenschaft auf beide Momente rückzubeziehen ist, wieder aufzugreifen. Es ist allerdings hinzuzufügen, daß es nicht allein die Geschichtswissenschaft ist, die aus dieser doppelten Reflexion hervorgeht, sondern daß mit ihr die Gesamtheit der Humanwissenschaften dieser Wurzel entspringt 75 ). Die besondere Frage, die im Rahmen dieser generellen Fragerichtung das Spezifische der Geschichtswissenschaft begründet, ist die Frage nach individuellen Zusammenhängen der Vergangenheit. Dies ist nicht dahingehend mißzuverstehen, daß die Historie nur an (großen) Individuen interessiert sei. Es geht hier nicht um eine reduktionistische Bestimmung der Historie, in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ausgeklammert werden, sondern vielmehr um die Überlegung, daß auch diese Disziplinen — im Unterschied zu den systematischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, selbst wenn die Grenzen nicht scharf zu ziehen sind76) — auf einmalige, in ihrer Konkretheit unwiederholbare Zusammenhänge abzielen. Hier kann das Konzept des Idiographischen wieder aufgenommen werden, allerdings nur, soweit es der Bestimmung des „Erkenntniszieles" der
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Geisteswissenschaften dient und nicht in der methodologischen Bedeutung, die es bei Windelband auch hat 77 ). In diesem Zusammenhang wird nun die eigentliche Bedeutung des narrativen Ansatzes sichtbar. Die Konzeption der Geschichtsschreibung als Erzählung hat in beiden Versionen ihre Pointe darin, daß der Historiker auf besondere, unverwechselbare Zusammenhänge abzielt, und vermag gleichzeitig die zwei traditionell mit diesem Gedanken verbundenen Schwierigkeiten abzuwehren. Die Zuwendung zum Individuellen stellt sich für sie nicht als eine bloße Abbildung dar (wobei sie allerdings, wie sich gezeigt hat, ins andere Extrem fällt) und ebensowenig als eine der Erklärung schlicht engegengesetzte Vorgangsweise. Darüberhinaus bietet die narrative Geschichtstheorie einen weiteren Ansatzpunkt, nämlich in der Überlegung, daß die (im Rahmen der allgemeinen für die Geschichtswissenschaft signifikanten Fragerichtung gestellte) jeweils besondere Frage, die einer historischen Arbeit zugrundeliegt, selbst bereits sowohl Struktur als auch Inhaltsmomente einer Erzählung enthält. Von diesem Gedanken ausgehend, gilt es, weiter zu differenzieren. Die in den einzelnen Fragen implizierte Erzählung scheint zunächst bloß aus spezifischen Elementen zu bestehen, wie denjenigen in der Frage nach der Entwicklung eines bestimmten Wirtschaftszweiges in Österreich zur Zeit Maria Theresias. Es ist aber zu bedenken, daß solche Fragen nicht isoliert auftreten, sondern im Rahmen einer umfassenden Auseinandersetzung mit Geschichte. So mag hinter der eben als Beispiel erwähnten Frage ein bestimmtes Konzept des Maria-Therisianischen Österreich oder der Wirtschaftsentwicklung Europas stehen. Das heißt, die einzelne Frage impliziert auch Elemente der Erzählung dieses größeren Zusammenhanges. Geht man diesen Implikationen weiter nach, so entdeckt man immer allgemeinere Konzepte, bis sich schließlich herausstellt, daß die einzelnen Fragen bis auf einen jeweils bestimmten Begriff vom Wesen der Geschichte überhaupt zurückzuverfolgen sind. Mit anderen Worten: Alle historischen Einzeluntersuchungen sind in Grundorientierungen fundiert, wie sie gegenwärtig etwa
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im Anschluß an die These vom Primat der sozio-ökonomischen Zusammenhänge oder an den strukturalistischen Geschichtsbegriff oder an bestimmte Entwicklungs- und Modernisierungsmodelle diskutiert werden. Sind diese allgemeinen Bestimmungen der Geschichte das eigentliche Thema der Geschichtsphilosophie, so wird an dieser Stelle der Zusammenhang von Historie und Geschichtsphilosophie deutlich. Es zeigt sich, daß Geschichtsschreibung immer in geschichtsphilosophischen Konzepten fundiert ist, wenngleich hinzuzufügen ist, daß dies häufig inexplizit geschieht. Daraus resultieren beträchtliche Konsequenzen, nicht nur für die Geschichtstheorie, sondern ebenso für die Historie selbst. Ergibt sich zunächst die Forderung an die Historie, ihre inexpliziten geschichtsphilosophischen Annahmen zu thematisieren, so bedeutet die Einlösung dieser Forderung den Eintritt in die philosophische Diskussion. Was ansteht, ist also eine Transformation der Historie, in der die Abgrenzung gegenüber der Philosophie, die ursprünglich als Preis für die Konstituierung der Historie als Wissenschaft erforderlich schien, partiell zurückgenommen wird. (Im folgenden wird sich herausstellen, daß die Überschreitung der Grenze zur Philosophie hin auch von anderen Momenten der Historie her notwendig wird.) Dem narrativen Ansatz kommt also bei aller Kritikbedürftigkeit der Vorzug zu, wesentliche der für eine adäquate Geschichtstheorie notwendigen Momente zu vereinigen. Trotzdem würde selbst ein durch Eliminierung der oben aufgezeigten Probleme rektifiziertes narratives Konzept noch einen entscheidenden Punkt vermissen lassen, der im folgenden darzulegen ist. Hier ist darauf aufmerksam zu machen, daß der Zusammenhang der Historie (wie der Humanwissenschaften insgesamt) mit der auf Praxis im engeren Sinn bezogenen Reflexion eine Implikation hat, die gewöhnlich sogar von jenen übergangen wird, die selbst auf diesen Zusammenhang hinweisen. Sie liegt darin, daß sich der gezeigte Doppelcharakter dieser Reflexion in der Geschichtswissenschaft fortsetzt. Um dies deutlich zu
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machen, ist noch einmal auf den Ursprung der Historie in den beiden Reflexionsmomenten einzugehen. Das eine Moment der auf Praxis im engeren Sinn bezogenen Reflexion ist, wie gesagt, auf den Charakter der Situation und die in ihr gegebenen Handelnsalternativen gerichtet. Von ihm aus wird an die Historie die Aufgabe delegiert, möglichst viele Informationen über die Vergangenheit, die die Einsicht in die Gegenwart zu differenzieren vermögen, beizubringen. Dabei geht es nicht nur um die Vorgeschichte der Gegenwart respektive um die Einordnung der Gegenwart in einen größeren Entwicklungszusammenhang, wie im Rahmen der zeitgenössischen geschichtstheoretischen Diskussion häufig angenommen wird. Auch die Erforschung von Kulturen, die wegen ihrer zeitlichen und räumlichen Distanz mit der Gegenwart nicht in direkte Beziehung gebracht werden können, kann dieser Aufgabe entsprechen, ζ. B., indem sie durch Kontrastwirkung bestimmte, sonst als selbstverständlich aufgefaßte und daher kaum beachtete Züge der Gegenwart deutlich hervortreten läßt. Das zweite Moment, die Reflexion auf die Handlungsprinzipien, weist seinerseits zwei Dimensionen auf, indem die Prinzipien sowohl ihrem sachlichen Gehalt als auch ihrer Validität nach reflektiert werden. So ergibt sich das zweifache Bedürfnis, sowohl die Kenntnis möglicher Prinzipien als auch ihre Beurteilung zu differenzieren. Aus diesem Bedürfnis erwachsen schließlich zwei weitere Aufgaben für die Historie. Sie hat zum einen die in der Vergangenheit bestimmend gewesenen oder auch nur formulierten Prinzipien wieder in Sicht zu bringen und zum anderen dieselben auf ihre Legitimierbarkeit hin zu untersuchen. Die erste dieser Aufgaben schließt unmittelbar an die eben genannte an, denn auch sie erfordert eine Vermehrung von Informationen. Deshalb wird sie mit dieser auf dem Wege ein und desselben Forschungsprozesses wahrgenommen. Die zweite erfordert hingegen das grundsätzlich andere Vorgehen der Beurteilung, und so erhält die Historie die Komponente der Kritik. Dabei ist zu beachten, daß nicht allein praktische Maximen der Beurteilung unterliegen, sondern auch die den
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Kontext derselben bildenden Selbst- und Weltinterpretationen, kurz, der gesamte Bereich der praxisrelevanten Wahrheitsansprüche. Es ist diese kritische Komponente der Historie, die in den wissenschaftstheoretischen Erörterungen gewöhnlich verkannt wird. Dabei sollte es auffällig genug sein, daß die These von der Wertfreiheit stets die Form eines Postulats annehmen muß, weil sich in der gesamten bisherigen Entwicklung der Geschichtswissenschaft kein Fall findet, für den sie als Deskription gelten könnte. Freilich ist ein solcher Hinweis auf die Faktizität kein letztes Argument. Es könnte immerhin gerechtfertigt sein, Wertfreiheit dennoch zu postulieren. Doch dieser Überlegung gegenüber ergeben sich zwei Einwände. Erstens: Wertfreiheit ist grundsätzlich unerreichbar. Wie sich bereits gezeigt hat, können Handlungsprinzipien nie nur Gegenstand theoretischer Analyse sein. Sobald sie reflektiert werden, sind sie auch mögliche Prinzipien und provozieren als solche eine Stellungnahme. Zweitens: Wertfreiheit ist grundsätzlich nicht anzustreben, auch nicht in Form der unendlichen Annäherung an ein unerreichbares Ideal. Die Historie würde damit eine der ihr zukommenden Funktionen systematisch blockieren. Das heißt, das Wertfreiheitspostulat findet sich immer nur dann, wenn der Ursprung der Historie (bzw. der Humanwissenschaften insgesamt) in der auf Praxis im engeren Sinn bezogenen Reflexion nicht überlegt oder wenn die unterschiedlichen Bedürfnisse, die aus dieser Reflexion erwachsen, nicht gesehen werden. Die Einsicht in die kritische Komponente wird allerdings durch die Realität der Historie erschwert. Seit ihren Anfängen war das Selbstverständnis der Historie weitgehend am Gedanken der Wertfreiheit orientiert, so daß die Beurteilungen, die sich trotzdem und, wie gesagt, mit Notwendigkeit einstellten, uneingestanden blieben und daher nur mehr oder weniger indirekt zum Ausdruck kamen. Dies verhinderte, daß die kritische Komponente in der gleichen Weise reflektiert und weiterentwickelt wurde wie die empirische samt den dazugehörigen Techniken.
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An dieser Stelle läßt sich eine oben gemachte Feststellung präzisieren: Die beurteilende Auseinandersetzung mit Prinzipien und Wahrheitsansprüchen der Vergangenheit ist jenes Moment der Historie, in dem sie die Grenzen empirischer Forschung überschritten hat und einer anderen Vorgangsweise folgt 78 ). Versucht man nun, diese Vorgangsweise näher zu bestimmen, so kann man der Anregung Gadamers folgen und das Gespräch als Modell heranziehen. Gadamers Verzerrung des Gesprächs durch das Autoritätskonzept ist jedoch zu vermeiden, denn es ist die Wechselseitigkeit, deretwegen das Gespräch hier relevant wird. Es soll ja deutlich werden, daß das Subjekt, das Prinzipien und Wahrheitsansprüche reflektiert, zum einen betroffen und in Frage gestellt (und eben nicht nur mit neuen Informationen bereichert) wird, zum anderen aber selbst hinterfragt und beurteilt. Letzteres ist allerdings nicht dahingehend mißzuverstehen, daß der Historie unter anderem die moralische Beurteilung der in der Vergangenheit Handelnden obliege. Der Ursprung der Historie in der auf Praxis im engeren Sinn bezogenen Reflexion hat zur Folge, daß sie auf die Beurteilung von Prinzipien im allgemeinen, die das Handeln der Gegenwart potentiell betreffen, beschränkt bleibt und nicht auf die Beurteilung von Personen ausgerichtet ist — ganz abgesehen davon, daß die moralische Einschätzung anderer vor grundsätzliche Probleme stellt 79 ). Die Charakterisierung der kritischen Komponente der Historie macht noch eine weitere Differenzierung nötig: Die Beurteilung von Prinzipien und Wahrheitsansprüchen der Vergangenheit ist zwar ein notwendiges Moment der Historie, dennoch ist sie kein spezifisch historisches Unternehmen. Sie setzt keine Spezialisierung analog zu derjenigen, auf der die empirische Arbeit beruht, voraus und ist somit keine Teildisziplin der Historie. Ebensowenig ist sie eine Spezialdisziplin, die der Historie und mit ihr den gesamten Humanwissenschaften in der Art einer Hilfsdisziplin zur Verfügung stünde. Die im Rahmen der Historie erfolgende Beurteilung steht vielmehr auf einer Ebene mit der Philosophie (die ihrerseits nicht den Charakter
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einer Spezialdisziplin hat) bzw. mit der nicht-wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Prinzipien, worauf noch zurückzukommen sein wird. Im Anschluß an diesen Aufriß des Verhältnisses von Historiker und Geschichte ist nun die Objektivitätsfrage neuerlich aufzurollen. Hat sich dieses Verhältnis als ein komplexes erwiesen, so ist auch das Objektivitätsproblem entsprechend zu differenzieren. Dabei ist zunächst folgendes festzustellen: Daß die historische Arbeit verschiedene Momente impliziert, hat zur Folge, daß sich die Diskussion und Kritik historischer Publikationen auf mehreren Ebenen bewegt. Das bedeutet, daß sich die Frage der Rechtfertigung und damit der Objektivität nicht nur einmal, sondern auf jeder Ebene neu stellt. Das heißt aber nichts anderes, als daß der Hinweis auf ein einziges Kriterium der Kontrolle nicht genügt, um die Historie als der Objektivität fähig auszuweisen, sondern daß vielmehr nur dann von historischer Objektivität gesprochen werden kann, wenn sich für jede Ebene ein spezifisches Kriterium angeben läßt 80 ). Wo die empirische Arbeit zur Debatte steht, geht es zunächst um die Frage der Richtigkeit von Aussagen über die Faktizität des Vergangenen. Die im Zeichen dieser Frage erfolgenden Erörterungen und Diskussionen sind entscheidend dadurch bestimmt, daß ein unmittelbarer Zugang zur Vergangenheit weder in der Form der Beobachtung noch der des Gesprächs gegeben ist. D. h., Aussagen über die Faktizität des Vergangenen sind nicht auf dem Wege direkter Kontrolle zu legitimieren. Es besteht aber kein Zweifel darüber, daß sie dennoch kontrollierbar sind. Sie lassen sich einer indirekten Kontrolle zuführen, deren Mittel die in der Gegenwart verfügbaren sprachlichen und nichtsprachlichen Zeugnisse der Vergangenheit sind. Das Kriterium der Rechtfertigung liegt also hier darin, daß die Aussagen der Historie durch solche Zeugnisse zu stützen sein müssen und durch keines von allen einschlägigen Zeugnissen widerlegt werden dürfen. Es war dieses Objektivitätskriterium, in dessen Zeichen sich die Historie als wissenschaftliche Disziplin etablierte und das lange Zeit als einziges reflektiert
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wurde. So wurden auch die Operationen, die der Einlösung dieses Kriteriums dienen, am meisten entfaltet und im Laufe der Entwicklung der Historie zu einem immer differenzierteren Apparat von Quellenkritik und Hilfsdisziplinen gestaltet. Wo die empirische Arbeit zur Debatte steht, geht es aber ebenso um die Fragestellungen, auf denen dieselbe beruht. So ist es eine häufige Form der Kritik vorliegender historischer Schriften, daß der Vorwurf erhoben wird, es seien überholte Fragen verfolgt oder unverzichtbare Fragen nicht gestellt worden — ein Vorwurf, der gegenwärtig ζ. B. im Zusammenhang mit der Gegenüberstellung der Geschichtsforschungsprinzipien „Geschichte als Geschichte der großen Persönlichkeiten" einerseits und „Geschichte als sozio-ökonomischer Prozeß" andererseits immer wieder anzutreffen ist. In kritischen Kommentaren dieser Art und den durch sie ausgelösten Diskussionen wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Fragestellungen, von denen die empirische Arbeit ausgeht, nicht der Willkür des Historikers überlassen sind, sondern der Rechtfertigung bedürfen, und ferner, daß sie derselben auch fähig sind. Demnach ist zu überlegen, worin das Kriterium der Legitimation von Fragestellungen liegt. In diesem Zusammenhang ist der oben aufgezeigte Ursprung der Fragestellungen der Historie in der Gegenwart zu berücksichtigen. Damit wird deutlich, daß hier die Komplexität des Selbstverständnisses der Gegenwart den Maßstab bildet, d. h., daß die Fragestellungen der Historie dadurch auszuweisen sind, daß sie die dieses Selbstverständnis maßgeblich bestimmenden Momente aufgenommen haben. Eine Verkomplizierung ergibt sich allerdings dadurch, daß es nie eine allen Zeitgenossen gemeinsame Einschätzung der Gegenwart gibt. So mag der Gedanke naheliegend sein, daß historische Fragestellungen nur mit Bezug auf jeweils eine der alternativen, meist ganzen Gruppen gemeinsamen Interpretationen der Gegenwart zu rechtfertigen sind, was gleichbedeutend ist damit, daß sie einer letzten argumentativen Begründung nicht fähig sind. Demgegenüber ist aber darauf hinzuweisen, daß die alternativen Interpretationen
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ihrerseits argumentativen Charakter haben, d. h., daß sie selbst dort, w o sie äußerlich als pluralistisch verfestigt erscheinen, Momente einer Auseinandersetzung sind, die auf eine gemeinsame, begründete Sicht der Gegenwart abzielt. Es ist daher das Ganze dieser Auseinandersetzung respektive ihre jeweils erreichte Komplexität, woran die Fragestellungen der Historie zu orientieren sind. Das Kriterium der Rechtfertigung der Fragestellungen ist also in diesem Sinne zu präzisieren und durch die Differenziertheit der Rezeption der in der Auseinandersetzung um das Gegenwartsverständnis vorgebrachten Analysemomente zu bestimmen. In dieser Argumentation kommt indirekt bereits zum Ausdruck, daß die Fragestellungen der Historie nicht ein für allemal zu rechtfertigen sind, sondern nur für das jeweilige Jetzt. Eine vorangeschrittene Gegenwart mit neuen Interpretationsalternativen macht auch neue Fragestellungen erforderlich. Es ist aber hinzuzufügen, daß die zeitliche Limitation der Rechtfertigung nicht nur auf dieser Ebene der Diskussion festzustellen ist. Auch die oben erörterte Legitimation von Aussagen über die Faktizität des Vergangenen gilt nur vorbehaltlich der Auffindung neuer Quellen oder neuer Methoden der Quellenkritik, die zu widersprüchlichen Resultaten führen. Dieser zeitliche Aspekt ändert jedoch in keinem Fall etwas an der Möglichkeit und Notwendigkeit der Legitimation. Die Diskussion historischer Publikationen betrifft aber nicht nur die beiden Momente der Empirie, sondern darüber hinaus das nicht-empirische Element der Historie. Dabei steht zunächst die Auseinandersetzung des Historikers mit Wahrheitsansprüchen der Vergangenheit, wie sie in Kunst, Religion und Philosophie vorliegen, zur Debatte. So erhebt sich die Frage, nach welchem Kriterium diese Auseinandersetzung zu beurteilen bzw. zu rechtfertigen ist. Hier gilt es zu bedenken, daß die Kritik von Wahrheitsansprüchen eine genuine Aufgabe der Philosophie ist, daß also der Historiker in diesem Moment seiner Tätigkeit an der philosophischen Diskussion partizipiert. Die Urteile, zu denen der Historiker gelangt, sind also an den
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Differenzierungen zu messen, die im Rahmen der Philosophie mit Bezug auf den betreffenden Wahrheitsanspruch bereits vorliegen. Dabei ergibt sich allerdings eine ähnliche Verkomplizierung, wie sie an der zuletzt erörterten Ebene festzustellen war: auch in der Philosophie stehen einander alternative Positionen gegenüber. Doch es gilt hier ebenso — und bedarf wohl keiner näheren Erläuterung — , daß diese Alternativen als Momente einer einzigen Diskussion aufzufassen sind. So ist auch das Kriterium der Rechtfertigung ein analoges: Urteile über Wahrheitsansprüche der Vergangenheit sind auf der Basis der in der philosophischen Tradition bis zur Gegenwart jeweils erreichten Komplexität der diese Thematik betreffenden Argumentation auszuweisen. Diese Seite der historischen Arbeit blieb aber, wie gesagt, bisher nahezu unbeachtet, und so wurden auch die Mittel zur Einlösung dieses Objektivitätskriteriums nicht thematisiert. Dabei geht es zwar nicht um die Entwicklung spezieller Methoden in der Art der Quellenkritik, aber um die Ausbildung des Historikers auf dem Gebiet der Philosophie. Hier wird neuerlich die Notwendigkeit der Überschreitung der traditionellen Fachgrenze zur Philosophie hin deutlich. Daß sich hieraus Konsequenzen auch für den Bereich der Wissenschaftsund Studienorganisation ergeben, kann in diesem Zusammenhang nur erwähnt, aber nicht näher ausgeführt werden. Die Diskussion historischer Publikationen weist darüber hinaus noch eine weitere Ebene auf, nämlich die auf das zweite Moment der nicht-empirischen Seite der Historie, also auf die Beurteilung praktischer Prinzipien, bezogene. So ist nun zu fragen, ob bzw. wie auf dieser Ebene eine verbindliche Argumentation möglich ist. Einer weithin verbreiteten Überzeugung zufolge gehören praktische Urteile in den Bereich der individuellen Einschätzungen und sind deshalb nicht legitimierbar. Diese Uberzeugung wurde auch für die Theorie der Geschichtswissenschaft maßgeblich. Es herrschte und herrscht weitgehend Einhelligkeit darüber, daß praktische Urteile mit dem Objektivitätsanspruch der Historie unvereinbar sind. In diesem Punkt stimmen Positionen überein, die ansonsten zu ganz unterschied-
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liehen Aussagen gelangen. So ist das sowohl in der historistischen wie in der neopositivistischen Wissenschaftstheorie anzutreffende Argument, daß Werturteile aus der Historie (bzw. aus der Wissenschaft überhaupt) auszuklammern sind, um ihre Objektivität zu gewährleisten, ebenso auf diese Überlegung zurückzuführen wie die vor allem bei Historikern häufige Meinung, daß die Historie, weil moralische Urteile in ihr unvermeidlich sind, eben nicht eigentlich Wissenschaft ist. Dagegen ist aber einzuwenden, daß moralische Urteile keineswegs nur auf dem Boden der Willkür zustande kommen, sondern daß sie der Rechtfertigung fähig und damit auch bedürftig sind. Ein Indiz dafür liegt schon in der Tatsache, daß Auseinandersetzungen über moralische Fragen geführt werden. Wie anders sollten solche Auseinandersetzungen als sinnvoll erscheinen und zustande kommen, wenn nicht unter Voraussetzung eines gemeinsamen Kriteriums der Moralität, auch wenn dies nicht reflektiert wird? Darüber hinaus ist an den Dezisionismus die Frage zu richten, wie der Ursprung des Begriffs Moral bzw. der Unterscheidung moralischer Handlungen von anderen überhaupt zu denken sei, wenn Handlungen unterschiedslos auf den jeweils spontanen und damit nicht weiter begründbaren Entschluß des Individuums zurückzuführen sein sollen. Sucht man das Kriterium der Rechtfertigung praktischer Prinzipien respektive ihrer Beurteilung zu bestimmen, so ist auf die praktische Philosophie Kants zurückzugreifen. Das Konzept des kategorischen Imperativs bietet die grundlegenden Elemente für eine Explikation jenes Kriteriums, welches den praktischen Argumentationen zugrundeliegt und ihre Verbindlichkeit ermöglicht. Wenn in der gegenwärtig wieder intensivierten Diskussion zur Fundierung der Ethik der Begriff der Verallgemeinerungsfähigkeit im Zentrum steht, so bedeutet dies eine Wiederaufnahme der Überlegungen Kants bzw. eine unter Berücksichtigung neuerer philosophischer Ansätze erfolgende weitere Entfaltung und Präzisierung derselben. Diese Diskussion hat
Die Objektivität der Historie
241
freilich auch eine Reihe von Problemen aufgeworfen, deren Lösung noch aussteht. Mündet also die Theorie der Geschichtswissenschaft bzw. ihrer nicht-empirischen Seite in die zeitgenössische Ethikdebatte ein, so ist zu überlegen, wie weit sie durch dieselbe bestimmt wird. Die eben erwähnte Unabgeschlossenheit dieser Debatte mag die Folgerung nahelegen, daß die Frage der Objektivität der Historie bis zur Lösung der noch offenen Probleme zu suspendieren ist. Diese Folgerung wäre aber übereilt. Es ist zu bedenken, daß die philosophischen Reflexionen zur Ethik sowohl in der Gegenwart wie schon bei Kant die Möglichkeit verbindlicher moralischer Argumentation bereits voraussetzen und lediglich nach ihren Bedingungen fragen, daß sie also nicht beanspruchen, sie erst zu begründen. Das argumentative Ausweisen moralischer Urteile ist demnach vom Fortgang und Abschluß dieser Reflexion unabhängig und jederzeit möglich. Es ist ferner zu bedenken, daß es keine spezifisch wissenschaftliche Auseinandersetzung mit moralischen Fragen gibt. Der Wissenschaftler ist verbunden, diese Auseinandersetzung auf argumentativer und nicht etwa auf emotionaler Basis zu führen, aber diese Verpflichtung gilt auch außerhalb der Wissenschaft. Die Argumentation als solche unterliegt in der Wissenschaft wie im Alltag demselben Kriterium der praktischen Vernunft. Das bedeutet, daß auch die im Rahmen der Historie notwendigen Urteile über Prinzipien des Handelns ohne Vorbehalt zu legitimieren sind. Damit erweist sich die gängige Disjunktion von wissenschaftlicher Argumentation und moralischer Beurteilung als hinfällig, und es stellt sich heraus, daß die Historie auch auf dieser Ebene ihres Vorgehens der Objektivität fähig ist. Was nun das Verhältnis der Geschichtstheorie zur zeitgenössischen Ethik-Debatte betrifft, so ergibt sich folgendes: Der Fortgang dieser Debatte wird weiteren Aufschluß darüber bringen, wie die Begründung moralischer Urteile im Alltag und in der Wissenschaft möglich ist, aber er hat keine Relevanz für die grundsätzliche Feststellung, daß diese Begründung und damit die Objektivität der Historie auf diesem Gebiet möglich ist. 16 Nagl-Docekal
242
Das subjektive Fundament der Historie
Ein erster Ansatz für die eben vorgenommene Überlegung findet sich bereits bei Nietzsche. Zielt seine zweite unzeitgemäße Betrachtung darauf ab, den im Historismus ausgeblendeten Zusammenhang von Historie und Leben wieder deutlich zu machen und eine Geschichtsbetrachtung zu postulieren, die dem Leben dient, so kommt dem Urteil des Historikers zentrale Bedeutung zu. Allerdings schließt sich Nietzsche über weite Strekken dem historistischen Wissenschaftsverständnis an, indem er die wissenschaftliche Geschichtsforschung einerseits und den geforderten praxisrelevanten urteilenden Umgang mit Geschichte andererseits als die beiden Seiten einer wechselseitig exklusiven Alternative auffaßt, so daß seine Forderung auf die Beendigung der Geschichtswissenschaft hinausläuft. Dies ist ζ. B. an der Erläuterung der vielzitierten drei Formen der praxisrelevanten Geschichtsbetrachtung, der monumentalischen, der antiquarischen und der kritischen, festzustellen. An einer wenig beachteten Stelle der genannten Schrift findet sich aber ein anderer Ansatz. Nietzsche wählt dort den Richter als Modell der Historie und zeigt damit einen Ausweg aus der leidigen Disjunktion. Es sind vor allem zwei Momente, die Nietzsche den Richter als adäquates Modell einer nicht-historistisch verfaßten Historie erscheinen lassen, und zwar zum einen, daß der Richter urteilt und sich damit grundsätzlich unterscheidet von jenen, die „sich die Aufgabe stellen, die ,reine, folgenlose' Erkenntnis oder, deutlicher, die Wahrheit, bei der nichts herauskommt, zu suchen" 81 ), zum anderen aber, daß er dabei nicht bloß zum „Parteigänger" 82 ) wird, sondern sein Urteil auf der Basis der Gerechtigkeit erstellt und es so zu einem wahren macht 83 ). In der Übertragung auf die Geschichtsforschung bedeutet dies, daß der Historiker, der sich nicht mehr „zum nachtönenden Passivum" bestimmt, sondern urteilt, auch dabei zur Wahrheit gelangen kann, dann nämlich, wenn er sein Urteil an der Gerechtigkeit orientiert. „Wahrheit will er, doch nicht nur als kalte, folgenlose Erkenntnis, sondern als die ordnende und strafende Richterin . . . Wahrheit mit einem Worte als Weltgericht . . .
Die Objektivität der Historie
243
Nur insofern der Wahrhafte den unbedingten Willen hat, gerecht zu sein, ist an dem überall so gedankenlos glorifizierten Streben nach Wahrheit etwas Großes." 84 ). So kann Nietzsche in diesem Zusammenhang nun auch einer urteilenden Geschichtsbetrachtung Objektivität zusprechen. Nietzsches Überlegungen bieten damit einen ersten Ansatz für die Bestimmung der Objektivität der Historie als einer spezifischen, der leider in der weiteren Entwicklung der Theorie der Geschichtswissenschaft nicht zur Geltung kam. Freilich hat dieser Ansatz auch seine deutlichen Grenzen. Nietzsche unterscheidet nicht die verschiedenen Typen von Urteilen, die der Historiker zu fällen hat, und er sieht vor allem die Gerechtigkeit nicht als eine Frage des argumentativen Ausweisens, sondern der Tugend. Er bezeichnet sie als die „allerseltenste Tugend", die nur „das ehrwürdigste Exemplar der Gattung Mensch" 8 5 ) auszeichnet, was bedeutet, daß die auf Gerechtigkeit gegründete Objektivität nur wenigen Auserwählten vorbehalten bleibt. Es gilt daher, über diesen Ansatz hinausgehend, in der hier vorgeschlagenen Weise weiter zu differenzieren und die Objektivität der Historie als ihre spezifische Verbindlichkeit zu bestimmen, die aus einem auf vier Ebenen geführten und an vier verschiedenen Kriterien orientierten Argumentationsprozeß resultiert.
ANMERKUNGEN EINLEITUNG
*) Vgl. Unger, Zur Entwicklung des Problems der historischen Objektivität bis Hegel. 2 ) Ranke, Geschichte der germanischen und romanischen Völker, Einleitung; Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 11. 3 ) Droysen, Grundriß der Historik; ders., Historik, Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. *) Vgl. den Versuch einer Gliederung dieser Bedeutungen in: Schaff, Geschichte und Wahrheit, und ders., Der Streit um die Objektivität der historischen Erkenntnis. 5 ) Um der größeren Klarheit der Argumentation willen soll hier die traditionelle Zweideutigkeit des Wortes Geschichte vermieden werden. Die historia rerum gestarum wird als Geschichtswissenschaft oder Historie bezeichnet, so daß der Ausdruck Geschichte den res gestae vorbehalten bleibt. e ) Zur Erläuterung der Unterscheidung von Human-, Geistes- und Sozialwissenschaften siehe Anm. 2 im folgenden Kapitel.
I. OBJEKTIVITÄT
ALS
REZEPTIVITÄT
DER
BEDEUTUNG:
WILHELM DILTHEY
') Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 89. 2 ) Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, daß in der vorliegenden Untersuchung das Wort Geisteswissenschaften, wo es nicht in unmittelbarem Bezug auf das Werk Diltheys steht, in der jetzt üblichen engeren Bedeutung verwendet wird, wie sie etwa auch Fakultätsbenennungen zugrunde liegt. Der Ausdruck Geisteswissenschaften bezieht sich dabei nicht mehr auf die systematischen Disziplinen Philosophie, Theologie und Jurisprudenz und ebensowenig auf die Sozialwissenschaften (Soziologie und Wirtschaftswissenschaften). Wo es darum geht, die letzteren zusammen mit den Geisteswissenschaften, in ihrer Gemeinsamkeit als empirische Disziplinen vom Menschen, zu thematisieren, soll der Ausdruck Humanwissenschaften verwendet werden. 3 ) Dilthey, Aufbau, 92. *) Ebd., 92.
Anmerkungen η ·) ') 8 ) ») 10 )
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13 ) ") 15 ) le ) ") le ) ") *») 21 ) l2 ) *') ") 25 ) *·) ") ") »·) 30 ) ") S! ) ·») M ) S5 ) »') ") S8 ) «·) ">) ") «) ") «) ") ")
245
Ebd., 93. Ebd., 93. Ebd., 93 f. Ebd., 95. S. u. Seite 58. Ζ. B. Krausser, Kritik der endlichen Vernunft. Wilhelm Diltheys Revolution der allgemeinen Wissenschafts- und Handlungstheorie; Riedel, Einleitung in: W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften; Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Riedel, Einleitung, 31. Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel, 118. Zur besonderen Fragestellung dieses Buches und ihrer Problematik vgl. meine Rezension in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. IX, 1976, 326. Dilthey, Aufbau, 139. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, XVIII. Ebd., XVIII. Riedel, Einleitung, 38. Dilthey, Aufbau, 158. Ebd., 168. Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel, 123 f. Ebd., 124. Aus dem Nachlaß zitiert bei Riedel, Einleitung, 38. Riedel, Einleitung, 32. Dilthey, Aufbau, 241. Ebd., 168. Gadamer, Wahrheit und Methode, 224 f. Dilthey, Aufbau, 242. Ebd., 242. Ebd., 91. Vgl. Heintel, Begriff des Menschen, bes. 213 ff. Riedel, Einleitung, 38. Dilthey, Aufbau, 242 f. Ebd., 91. Ebd., 239. Ebd., 91. Ebd., 91. Vgl. auch Dilthey, Aufbau, 95 f. Vgl. dazu Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, 95. Dilthey, Aufbau, 158. Ebd., 92 f. Ebd., 99. Ebd., 92 f. Ebd., 98. Ebd., 98 f. Ebd., 94. Ebd., 100. Ebd., 158 f.
246 ") 48 ) 49 ) 50 ) 51 ) 52 ) 53 ) 54 ) 55 ) 5 ») ") δβ ) 59 ) eo ) β1 ) e2 )
Anmerkungen Vgl. Riedel, Verstehen oder Erklären, 63. Dilthey, Aufbau, 169. Ebd., 297. Dilthey, Aufbau, 246. Ebd., 247. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, 100. Dilthey, Aufbau, 98. Ebd., 99. Ebd., 188. Ebd., 99. Ebd., 121. Riedel, Verstehen oder Erklären, 62. Gadamer, Wahrheit und Methode, 209. Riedel, Verstehen oder Erklären, 100 f. Schleiermacher, Werke I, 173 f. Zur Geschichte der Hermeneutik vgl. Apel, Das Verstehen (eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte), und Gadamer, Wahrheit und Methode, bes. 162—217. Zur Kritik dieses Erweiterungsprozesses und insbesondere der Heideggerschen „Ausuferung des Redens von Hermeneutik" vgl. Kamiah, Plädoyer für eine wieder eingeschränkte Hermeneutik. Dilthey, Gesammelte Schriften, V. 155 f. Dilthey, Aufbau, 314. Ebd., 325. Ebd., 326. Ebd., 325. Ebd., 326. Ebd., 327. Ebd., 327. Ebd., 324. Ebd., 183. Ebd., 179. Ebd., 186 ff. Ebd., 187. Ebd., 323. Ebd., 324. Ebd. 325. Ebd., 325. Ebd., 247. Gadamer, Wahrheit und Methode, 210 f. Ebd., 211. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, 103. Ebd., 104. Dilthey, Aufbau, 95. Ebd., 97. Gadamer, Wahrheit und Methode, 211. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, 108. Dilthey, Aufbau, 162 f.
Anmerkungen β0
247
) Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 47 und 106. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Für einen Kammerdiener gibt es keinen Helden, 76. Dilthey, Aufbau, 177 f. Ebd., 179. Ebd., 178. Ebd., 183. Ebd., 183. Dilthey, Gesammelte Schriften, V., 338. Gadamer, Wahrheit und Methode, 216. Dilthey, Aufbau, 180. Habermas, Erkenntnis und Interesse, 180 f. Dilthey, Aufbau, 140 f. Ebd., 324. Ebd., 235. Vgl. Riedel, Verstehen oder Erklären, 106. Ebd., 108. Dilthey, Aufbau, 235. Ebd., 178. Ebd., 235 f. Ebd., 236. Ebd., 188. Ebd., 278. Ebd., 166. Ebd., 167. Ebd., 121. Ebd., 175. Ebd., 189 f. Ebd., 189. Ebd., 189. Ebd., 175. Ebd., 281. Gadamer, Wahrheit und Methode, 228. Ebd., 226. Ebd., 223. Ebd., 223. Ebd., 224. Ebd., 224. Ebd., 228. Habermas, Erkenntnis und Interesse, 225. Ebd., 227 f. Ebd., 223. Ebd., 225. Dilthey, Aufbau, 166 f.; zitiert bei Habermas, Erkenntnis und Interesse, 223. Habermas, Erkenntnis und Interesse, 224 f. Ebd., 229. Dilthey, Aufbau, 305.
248 13S
) ) 137 ) 138 ) 139 ) 140 ) 141 ) 142 ) 143 ) 144 ) 145 ) 14e ) 13e
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) ) 149 ) 15 °) 151 ) 152 ) 153 ) 154 ) 155 ) 15β ) 157 ) 158 ) 15e ) 1β °) lel ) 148
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) ) le4 ) 1β5 ) 1ββ ) 1β7 ) le3
1ββ
)
Anmerkungen Ebd., 265. Habermas, Erkenntnis und Interesse, 223. Ebd., 227. Dilthey, Aufbau, 267. Habermas, Erkenntnis und Interesse, 223 f. Ebd., 221. Ebd., 228. Ebd., 228. Riedel, Verstehen oder Erklären, 111. Ebd., 113. Dilthey, Gesammelte Schriften, V., 144. Vgl. J. Meurers, Wilhelm Diltheys Gedankenwelt und die Naturwissenschaft. Dilthey, Aufbau, 263. Ebd., 263 f. Abel, Operation, 185. Acham, Subjektives Interesse, 52 f. Ebd., 64. Dilthey, Aufbau, 265. Acham, Subjektives Interesse, 53. Habermas, Erkenntnis und Interesse, 226. Dilthey, Aufbau, 265. Ebd., 267. Ebd., 267. Schleiermacher, Werke, Bd. III, 3, 360 ff. Dilthey, Aufbau, 268. Ebd., 270. Ast, Grundlinien der Grammatik, 177; Wolf, Enzyklopädie, 293; Boeckh, Enzyklopädie, 119; vgl. dazu Apel, Das Verstehen, 167 ff. Ineichen, Erkenntnistheorie, 221. Dilthey, Aufbau, 270 ff. Ebd., 173. Ebd., 172. Vgl. Habermas, Erkenntnis und Interesse, 232. Apel (Hrsg.), Neue Versuche, ζ. B. 3; ders., Die Erklären: VerstehenKontroverse, ζ. B. 17. Albert, Theorie, Verstehen und Geschichte, 16.
II. D I E
METHODOLOGISCHE IN DER
RESTRIKTION
DES
OBJEKTIVITÄTSPROBLEMS
ERKLÄREN-VERSTEHEN-DEBATTE
') Popper, Logik der Forschung; vgl. auch Hempel—Oppenheim, Studies in the Logic of Explanation. 2 ) Hempel, The Function of General Laws in History. 3 ) Hempel, Wissenschaftliche und historische Erklärungen, 238 f. 4 ) Ebd., 238.
Anmerkungen 5
249
) Ebd., 241. ·) Dray, Laws and Explanation in History. 7 ) Vgl. Wright, Erklären und Verstehen; und Wimmer, Verstehen, Beschreiben, Erklären. Wimmer macht auch darauf aufmerksam, daß die Schreibweise „Subsumption", die sich vor allem in Ubersetzungen angelsächsischer Literatur findet, aus dem Englischen übernommen wurde und der deutschen Rechtschreibung nicht entspricht (ebd. 118). 8 ) Hempel, Wissenschaftliche und historische Erklärungen, 241. 9 ) Ebd., 242. 10 ) Ebd., 243. ») Ebd., 243. >2) Ebd., 243 f. 13 ) Ebd., 244. 14 ) Ebd., 245. 15 ) Ebd., 246. 16 ) Ebd., 247. " ) Ebd., 247. ίβ ) Ebd., 247. 19 ) Hempel, The Function of General Laws in History, 349. 2 °) Ebd., 349 f. 21 ) Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Schlußkapitel. 22 ) Hanson, Patterns of Discovery; Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen; vgl. Oeser, Wissenschaft und Information, Bd. III, 76 und 107 ff. 23 ) Joynt-Rescher, The Problem of Uniqueness in History; Helmer-Rescher, On the Epistemology of the Inexact Sciences. 24 ) Scriven, New Issues in the Logic of Explanation, 343. 25 ) Dray, The Historical Explanation of Actions Reconsidered, 108. 2β ) Ebd., 108. " ) Ebd., 108. 28 ) Ebd., 109. 29 ) Hempel, Wissenschaftliche und historische Erklärungen, 256. so ) Ebd., 256 f. 31 ) Ebd., 258. 32 ) Vgl. Dray, The Historical Explanation of Actions Reconsidered, 125 f. 33 ) Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus. 34 ) In diesem Sinne habe ich Hempel bereits 1972 kritisiert, in meinem Artikel „Zum Problem des Relativismus in der neueren amerikanischen Geschichtstheorie", in: Denken über Geschichte. Wien 1974, 128. 35 ) Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke, Bd. IV, 47 f. 3e ) Dray, The Historical Explanation of Actions Reconsidered, 131. 37 ) Ebd., 131. ae ) Ebd., 132. '») Ebd., 131. 4 ») Ebd., 109. 41 ) Hempel, Rational Action, 10 und 12. 42 ) Acham, Über Deutung und Auswahl, 388. 43 ) Ebd., 389.
250
Anmerkungen Ebd., 388. Acham, Grundlagenprobleme der Geschichtswissenschaft, 62. Acham, Uber Deutung und Auswahl, 389. Ebd., 390. Ebd., 388. Acham, Grundlagenprobleme der Geschichtswissenschaft, 62. Acham, Zum wissenschaftlichen Status, 132. Ebd., 133. Acham, Grundlagenprobleme der Geschichtswissenschaft, 63. Donagan, Neue Überlegungen, 196. Ebd., 198. Ebd., 204. Ebd., 195; vgl. Popper, Die offene Gesellschaft, 2. Bd., 122 f. Ebd., 204. Ebd., 198. Van Wright, Erklären und Verstehen, 36; vgl. Anscombe, Intention, Abschnitt 33. Van Wright, Erklären und Verstehen, 93. Ebd., 102. Stegmüller, Hauptströmungen, Bd. II, 117. Van Wright, Erklären und Verstehen, 159; vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, Buch II, Abschnitt III, Kap. 2B. Riedel, Teleologische Erklärung, 27 f. Van Wright, Erklären und Verstehen, 173. Tuomela, Erklären und Verstehen menschlichen Verhaltens, 50 f. Stegmüller, Hauptströmungen, Bd. II, 119. Van Wright, Erklären und Verstehen, 131 f. Ebd., 37. Stegmüller, Hauptströmungen, Bd. II, 121. Apel, Die Erklären: Verstehen-Kontroverse, 169. Ebd., 170 f. Ebd., 169. Ebd., 169. Ebd., 170. Ebd., 174. Ebd., 170 f. Van Wright, Erklären und Verstehen, 35. Apel, Die Erklären: Verstehen-Kontroverse, 174. Hempel, Function of General Laws, 352 f. Die folgenden Zitate stammen aus dem Reprint in: Theorie und Realität, Tübingen 1964. Abel, Operation, 179. Ebd., 180. Ebd., 181. Ebd., 186. Ebd., 185. Ebd., 179 f.
Anmerkungen β8
251
) Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, 30; zitiert nach der ersten Veröffentlichung in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. I, 1968. 8 ») Ebd., 27. Ebd., 30. 91 ) In jüngster Zeit etwa in: O. Schwemmer, Theorie der rationalen Erklärung, 111. 02 ) Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil, 59. M ) Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, 26. M ) Ebd., 26. M ) Ebd., 26. M ) Ebd., 26. " ) Ebd., 31. M ) Ebd., 30. »») Ebd., 30f. 10 °) Ebd., 40. 101 ) Ebd., 43. 10!! ) Ebd., 43. ">) Ebd., 43. 1M ) Ebd., 44. "«) Ebd., 40. 10 «) Ebd., 41. 107 ) Ebd., 40; vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl., Tübingen 1965, 279 ff. 108 ) Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, 40. 10 ») Ebd., 42. ,10 ) Ebd., 42. m ) Ebd., 41 f.; vgl. Habermas, Erkenntnis und Interesse, 263. lu ) Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, 44. "») Ebd., 44. "«) Ebd., 41. 11S ) Ebd., 45. "·) Ebd., 45. " ' ) Ebd., 45. lle ) Ebd., 45. »·) Ebd., 41. 12 °) Ebd., 42. m ) Vgl. Groh, Kritische Geschichtswissenschaft in emanzipatorischer Absicht. Daß Apel die Ideologiekritik der Geschichtsphilosophie und nicht der Historie zur Aufgabe macht, wird von Groh völlig übergangen. 122 ) Boeckh, Enzyklopädie, 87; zitiert bei Apel, Das Verstehen, 169. "») Schleiermacher, Werke III, 3, 351. m ) Apel, Das Verstehen, 168; in diesem Sinne kritisiert auch Pöggeler Apel (ebenso wie Habermas), indem er schreibt: „Die Frage bleibt, ob die Hermeneutik in dieser Wissenschaftstheorie nicht in ihrer Leistung unterbewertet ist und die Ideologiekritik weniger als ein Uberstieg über die Hermeneutik denn als Bewährungsprobe der Hermeneutik zu nehmen ist" (Pöggeler, Einführung, 53).
252 125
) ) ) 128 ) 129 ) 130) 12e
127
131
) ) ) 134 ) 132
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137
iss) 139 ) 14 °)
Anmerkungen Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, 41. Ebd., 41. Ebd., 43. Hempel, Wissenschaftliche und historische Erklärungen, 261. Ebd., 261. Vgl. meinen Artikel, Geschichtsphilosophie ohne Geschichte, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. VIII, 1975, 378. Kant, Gesammelte Werke, hrsg. v. K. Vorländer, IV, 296. Ebd., V, 3, 142. Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, 16. Wimmer, Verstehen, Beschreiben, Erklären, 164; vgl. Winch, Idee der Sozialwissenschaft, 145. Hempel, Wissenschaftliche und historische Erklärungen, 249; zitiert aus: The Early Writings of Frederick Jackson Turner, Madison, Wisconsin, 1938, 210. Hempel, Wissenschaftliche und historische Erklärungen, 250. Η. Gomperz hat schon 1929 in seinem Buch „Über Sinn und Sinngebilde. Verstehen und Erklären" ausgeführt, daß sich Erklärungen nicht auf den Bereich der Natur beschränken und daß eine Verbindung von Erklären und Verstehen bestehe. Dennoch laufen seine Uberlegungen nicht auf die hier erörterte Kompatibilität von Erklären und Verstehen hinaus. Gomperz bestimmt nämlich das Verstehen ganz allgemein als „die verhaltensmäßige Kehrseite des Erklärens" (ebd. 87), so daß es nicht die den Humanwissenschaften spezifisch zukommende Relation bezeichnet. vgl. Acham, Zum wissenschaftlichen Status, 161. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, bes. 370. Botz, Quantifizierende Methoden in der Politik- und Zeitgeschichte, 1. Teil, Nov. 1977, 75 f.
III. OBJEKTIVITÄT ALS NOTWENDIGER FALSCHER H A N S - G E O R G GADAMER
') 2 ) ) 4 ) 5 ) 3
') ) 9 ) 10 ) 8
SCHEIN:
Gadamer, Wahrheit und Methode, 451. Ebd., 451. Ebd., 451f. Ebd., 449. Ebd., 450. Ebd., 450. Ebd., 450. Ebd., 449. Ebd., 452. Vgl. ebd., XXX u. XIX. Wenn Habermas den Universalitätsanspruch der Hermeneutik durch den Hinweis zu widerlegen sucht, daß nicht alles, was über Menschen zu erfahren ist, im Medium des Gesprächs gewonnen werden kann, so übersieht er dabei diese Doppeldeutigkeit. Vgl. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik.
Anmerkungen ") 12 ) 1S ) ») 15 ) 1β ) ") 18 ) le ) 2 °) 21 ) 22 ) 23 ) ") 25 ) 2 ') ") 2e ) 2 ») 30 ) 31 ) 32 ) 3S ) 34 ) 35 } 3 «) 37 )
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