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German Pages [164] Year 1985
MICHAEL JAGER: DIE METHODE DER WISSENSCHAFTLICHEN REVOLUTION
Das Argument-Konzept Das Verlagsprogramm soll der Entwicklung der theoretischen Kultur der Linken dienen. Wissenschaftliche Zuarbeit zu den sozialen Bewegungen: den Kräften der Arbeit, der Wissenschaft und der Kultur, der Frauenbefreiung, der Naturbewahrung und der Friedensbewegung. Zuarbeit zu einem sozialistischen Projekt, das diese Bewegungen aneinanderlagert. Die wissenschaftliche Taschenbuchreihe Argument-Sonderbände stellt im Rahmen dieses allgemeinen Projekts einen Verbund spezieller Projekte dar. Die einzelnen Serien innerhalb der Reihe sind Medien der Forschung und Kommunikation spezifischer Praxisbereiche:
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Gewerkschaftsfragen/Arbeitergeschichtsschreibung Frauen-Forschung Kultur-von-unten/Eisler/Brecht Literatur im historischen Prozeß Gulliver/Deutsch-Englische Jahrbücher Ideologie-Theorie Kritische Psychologie Kritische Medizin Automation und Qualifikation Alternative Wirtschaftspolitik Alternative Umweltpolitik Theorie der Politik und der Parteien Internationale Sozialismus-Diskussion
Wie bei einem Buchklub kann man AS-Bände auch billiger beziehen, wenn man sich auf eine jährliche Mindestbestellung festlegt. Das Auswahl-Abo verpflichtet zur Abnahme von drei Bänden nach Wahl aus der Jahresproduktion. Man kann sich auch auf ein Spezial-Abo einer der mit Sternchen bezeichneten Serien beschränken. Schließlich gibt es das besonders preisgünstige AS-Gesamt-Abo. Jede dieser Abo-Arten berechtigt zum Bezug weiterer AS-Bände — auch aus früheren Jahrgängen — zum Abo-Preis. Die einzelnen Projekte der Argument-Sonderbände werden verbunden über die Zeitschrift Das Argument. Sie dient der Entwicklung des allgemeinen Wissens- und Diskussionszusammenhangs. Die Zeitschrift ist ein Forum — in dem verbindende politische und methodische Diskussionen ausgetragen werden; — in dem Exposes und Forschungsergebnisse aus den Spezialgebieten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden; — in dem Literaturübersichten und ein beispielloser Rezensionsteil helfen, Überblick zu gewinnen; — in dem allgemeintheoretische Entwicklungen auch aus anderen Ländern kritisch und kollektiv ( = diskutierend) angeeignet werden, damit permanente Erneuerung marxistischer Theorie stattfinden kann. Zur Kontinuität der theoretischen Kultur der Linken trägt die Reihe ArgumentStudienhefte bei. Hier werden Grundlagen- und Einführungstexte für Arbeitsgruppen verfügbar gehalten.
ARGUMENT-VERLAG BERLIN
»Man kann eine Revolution nicht machen, weder in der Politik noch in der Wissenschaft. Aber wenn ihre Bedingungen reif sind, kann man sie behindern oder ihr den Weg ebnen. Wir kennen die Bemerkung von Marx, eine Gesellschaft, die dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen sei, könne zwar naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren, wohl aber die Geburtswehen abkürzen und mildern. Das Erstaunliche ist, daß es dennoch an einer Hebammenkunst der Revolution fehlt. Es hat meine Untersuchung motiviert. Die politische Revolution ist freilich nicht jedermanns Sache, aber wer ist denn gegen die wissenschaftliche?«
ISBN 3-88619-137-0
Argument-Verlag Berlin
ARGUMENT-SONDERBÄNDE (AS) Die Taschenbuch-Reihe im ARGUMENT-Verlag AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS
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Neue Technik und Sozialismus; Internationale Sozialismus-Diskussion 4 Die verborgene Frau, von Inge Stephan und Sigrid Weigel, LHP 6 Landeskunde und Didaktik; Gulliver 13 Das Subjekt des Diskurses, hrsg. v. M. Geier/H. Woetzel Entwicklungstheorie, Methodendiskussion; FKP 12 Aktualisierung Marx', hrsg. v. Argument, Prokla, spw Erfahrung und Ideologie in der Massenliteratur; LHP 7 A m b u l a n t e Gesundheitsarbeit Kultur zwischen Bürgertum und Volk, hrsg. v. J u t t a Held Alternativen der Ökonomie — Ökonomie der »Alternativen««; AWP 5 »1984«; Gulliver 14 Psychoanalyse; Feminismus/Arbeiterbewegung; FKP 13 Arbeit, Frauen und Gesundheit; Jahrbuch für Kritische Medizin 9 Literatur der siebziger Jahre, hrsg. v. G. Mattenklott/G. Pickerodt; LHP 8* Rethinking Marx (engl.); Internat. Sozialismus-Diskussion 5 Geschlechterverhältnisse und Frauenpolitik Materialien zur Ideologieforschung* Rußlandreisen 1917-33, hrsg. v. Gert Mattenklott; LHP 9* Wie teuer ist uns Gesundheit? Kritik phänomenolog. P s y c h o l o g i e / K i n d h e i t s e n t w i c k l u n g / S o z i a l a r b e i t ; FKP14 Englisch - alternativ; Gulliver 15 Nachkriegsliteratur 2, hrsg. J.Hermand, H.Peitsch u. K.R.Scherpe; LHP 10 Frauenformen 3: Kritische Psychologie der Frauen, Bd.1* Rüstungskonversion, Alternativproduktion und Gewerkschaften, AWP 6* Krankheit und Ursachen; Jahrbuch für Kritische Medizin 10 Feministische Literaturwissenschaft, hrsg. v. I.Stephan u. S.Weigel; LHP 11 A r b e i t s f o r s c h u n g / J u g e n d f o r s c h u n g / A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit Leontjew; FKP15 Frieden, Paix, Peace; Gulliver 16 »10 Jahre Cavtat«; Band 1. Internationale Sozialismus-Diskussion 6*
Programm 1985 AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS
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Heinrich Heine, hrsg. v. Rolf Hosfeld; LHP 12 Krankheit und Ökologie Geschlechtsspez. Arbeitsteilung, Berufspraxis von Psychol., Therapie; FKP 16 Chicanos und Indianer in den USA; hrsg. v. D.Herms/H.Lutz; Gulliver 17 Die Suche nach dem rechten Mann. Zu H.H. Jahnn, hrsg. v. W. Popp; LHP 13 Theorie und Politik bei Otto Bauer Frauenformen 4: Kritische Psychologie der Frauen, Bd.2 Pflege, ambulante Medizin, Primärversorgung; Jahrbuch für Kritische Medizin 11 Forum Kritische Psychologie 17 Women's Studies/Frauenstudien 2; Gulliver 18 Frauen - Weiblichkeit - Schrift, hrsg. v. Berger/Hengsbach/Kublitz/Stephan/ Weigel; LHP 14 AS 135 Sozialismus pass6? Hrsg. v. K.-E. Lohmann; AWP 7 AS 136 »10 Jahre Cavtat«; Band 2, Internationale Sozialismus-Diskussion 7 AS 137 Michael Jäger: Die Methode der w i s s e n s c h a f t l i c h e n Revolution AWP = Alternative W i r t s c h a f t s p o l i t i k FKP = Forum Kritische Psychologie, herausgegeben von Klaus Holzkamp LHP = Literatur im historischen Prozeß, Neue Folge, hrsg. v. Karl-Heinz Götze, Jost Hermand, Gert Mattenklott, Klaus R. Scherpe, Jürgen Schutte und Lutz Winckler PAQ = Projektgruppe A u t o m a t i o n und Qualifikation * Diese Bände erscheinen 1985 Preise: 17,60 DM/14,60 DM f.Stud, pro Band (zzgl. Versandkosten) AS-Auswahlabo: mind. 3 Bände aus der Jahresproduktion. Preis pro Band 14,60 DM/ Stud. 12,60 DM (zzgl. Versandkosten). Gesondert abonniert werden können: Literatur im historischen Prozeß (LHP) mit 3 Bänden pro Jahr, Kritische Medizin, Forum Kritische Psychologie und Gulliver mit je 2 Bänden pro Jahr. Abonnenten dieser Fachreihen erhalten alle anderen AS-Bände auf Wunsch zum Abo-Preis. Argument-Vertrieb, Tegeler Str. 6, 1000 Berlin 65, Tel.: 030/4619061
Michael Jäger
Die Methode der wissenschaftlichen Revolution Erster Teil: Die Regeln der Entdeckung
ARGUMENT-SONDERBAND AS 137
Jäger, Michael, Dr. phil., geb. 1946. Wichtigste Veröffentlichungen: Kritik der »Marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie•«, in: Argument 119 (1980); Ökonomie und Politik des sozialliberalen Korporatismus (1980, in: Sozialliberalismus oder rechter Populismus? AS 51); Über Macht und Parteien (1983, in: Marxismus und Theorie der Parteien, AS 91). Mitglied der GEW und der DVPW.
Für Waltraud
Copyright © Argument-Verlag GmbH Berlin 1985 Alle Rechte — auch das der Übersetzung — vorbehalten. Argument-Verlag: Redaktion Altensteinstr. 48a, 1000 Berlin 33, Tel. 030/831 40 79; Argument-Vertrieb: Tegeler Str. 6, 1000 Berlin 65, Tel. 030/ 461 90 61 Umschlaggestaltung: Sigrid von Baumgarten und Hans Förtsch Titelbild: Paul Klee, 1937, R 13 (153) »Revolution des Viaductes«, Gemälde, Oelfarben, Baumwolle, ölgrundiert, auf Keilrahmen / 60: 50 / signiert rechts unten / Slg. der Kunsthalle Hamburg. © 1985, Copyright by Cösmopress, Genf. Satz: Verlag Konstanze Freihold, Berlin. Druck: SOAK, Hannover. 1.-3. Tsd., 1985. . • CIP — Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Jäger, Michael: Die Methode da- wissenschaftlichen Revolution / . Michael Jäger. - Berlin : Argument-Verlag Teil 1. Die Regeln der Entdeckung. -1. - 3. Tsd. -1985 (Das Argument: Argument-Sonderband; AS 137) ISBN 3-88619-137-0 NE: Das Argument / Argument-Sonderband
Inhalt
In den Fluten des Vor-Wortes Rationalität und wissenschaftliche Revolution 5 — Tradition der Platon-Kriük 8 — Der Wille zur Antwort 11 — Selbstbehauptung und Selbst-Frage; zu Habermas 14 — »Begreifendes Erkennen« und revolutionäre Anamnese 18 — Zum Vorgehen der Untersuchung24
Die Regeln der Entdeckung 1. Ausgangspunkte für eine Analyse des Fragespiel-Widerspruchs 1.1 Die Vermengung von Frage, Aussage und Befehl in der herrschenden Wissenschaftslogik . . . . 29 1.2 Die Vermengung von Fragespielanalyse und Diskursanalyse beiAlthusser — 39 2. Die Semantik des Fragespiels und die Grenzen der Aussagenlogik 2.1 Übergang von der Frage zur Antwort *. Die Frage 46 Die Antwort 54 Der Gegenstand 64 2.2 Verwandlung der Antwort in Behauptung 2.3 Übergang von der Antwort zur Frage.. 2.4 Frage-Antwort-Sequenz und Aussagenlogik 3. Die Rhetorik der Fragespiels und die Wege der ErkenntnisBeschleunigung 3.1 Fragespiel und »Einfälle« 3.2 Strukturen der Äußerung im Fragespiel: shifter und Metonymie ..... 3.3 Die Explikation der Antworten 3.4 Carmens »lalala«
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4. Vom Fragespiel zum Methodenspiel 4.1 Der Diskurs als Gegenstand der Frage-Antwort-Kette.y.. 108 4.2 Wer ist der Mächtige? Ein Fragespiel über zwei Sequenzen .. 110 4.3 Von der spontanen zur antizipierbaren Frage-Antwort-Kette 113 4.4 Die Aufforderung im Methodenspiel 116 4.5 Methodenspiel und Algorithmus 119 5. Fragespiel und Befehlsspiel 5.1 Die Aufforderung im Befehlsspiel 124 5 .2 Exkurs über »Herrschaft« und »Macht« bei Max Weber . . . 126 5.3 Exkurs über zwei Bedeutungen von »Dialektik« 128 ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
6. Theorien über die Methode 6.1 Methodenbegriffe 131 Methode und Denken 131 Methode und Produktion 135 Innovation als Regelverletzung 140 Methode als Feind des Fragens 143 6.2 Methodenbegriff in der Popper-Kuhn-Kontroverse 145 Literaturverzeichnis
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Inhalt des Zweiten Teils (AS 147)
Die Entmachtung des Diskurses. Versuch über Galilei 1. Zur Interpretation der galileischen Physik 1.1 Worin besteht Galileis wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung? 1.2 Galileis Beitrag zur Mathematisierung der Physik und zur Vorbereitung des Trägheitsprinzips 1.3 Der vorneuzeitliche physikalische Diskurs: Entstehung seiner Grundzüge bei Piaton und Aristoteles und Verhältnis zur Astronomie 1.4 Das Fallgesetz und sein theoretischer Kontext 1.5 Die Funktion des Experiments in der mathematisierten Physik
2. Die Entstehung der galileischen Physik 2.1 Galilei und die frühbürgerliche Revolution Politik und Ökonomie der frühbürgerlichen Revolution — Die drei Etappen der galileischen Problementwicklung und die absolutistische Strategie — Galileis Problemlösung und die kapitalistische Produktionsweise — Galifeis »wissenschaftliche Revolution« als Produkt einer rationalen Entmachtungsstrategie 2.2 Der vorneuzeitliche physikalische Diskurs als Galileis Erkenntnismittel 2.3 Galileis Fragespiel Diskursanalytische Vorüberlegungen — Die rationale Entstehung der neuen Falltheorie — Entmachtungsstrategie als »revolutionär Praxis« 2.4 Die Enstehung der galileischen Physik und die Theorie wissenschaftlicher Revolutionen ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
In den Fluten des Vor-Wortes
Rationalität und wissenschaftliche Revolution Man kann eine Revolution nicht »machen«, weder in der Politik noch in der Wissenschaft. Aber wenn ihre Bedingungen reif sind, kann man sie behindern oder ihr den Weg ebnen. Wir kennen die Bemerkung von Marx, eine Gesellschaft, die dem »Naturgesetz ihrer Bewegung« auf die Spur gekommen sei, könne zwar »naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren«, wohl aber »die Geburtswehen abkürzen und mildern« (MEW 23,15f). Das Erstaunliche ist, daß es dennoch an einer Hebammenkunst der Revolution fehlt. Es hat meine Untersuchung motiviert. Die politische Revolution ist freilich nicht jedermanns Sache, aber wer ist denn gegen die wissenschaftliche? Wie kommt es, daß die wissenschaftliche Revolution, ohnehin erst seit zwanzig Jahren als Thema entdeckt, immer wieder nur unter der Frage analysiert wird, was die Bedingungen ihres Auftretens sind, auch wie man mit dem Umstand fertig wird, daß sie das Funktionieren der »normalen« Wissenschaft durcheinander bringt? Nicht aber unter der Frage, wie man sie herbeiführt? Zum Teil aus Desinteresse. Thomas Kuhn, der Themenmacher, hatte behauptet, »daß es nicht einmal sehr schwierig ist«, revolutionäre Alternativen »zu erfinden«, die Wissenschaftler würden dies jedoch aus gutem Grund »selten unternehmen«: »Wie bei der Fabrikation, so auch in der Wissenschaft — ein Wechsel der Ausrüstung ist eine Extravaganz, die auf die unbedingt notwendigen Fälle beschränkt bleiben soll.« (1973, 108f.) Aber wo wird uns der »extravagante« Mechanismus erklärt, für den Fall, daß wir uns seiner doch einmal bedienen müssen? Soll etwa Kuhns Hinweis, »daß auf eine gegebene Sammlung von Daten immer mehr als eine theoretische Konstruktion paßt» (ebd), diese Erklärung sein? Das würde nur zeigen, daß er das Desinteresse der Popper-Schule, gegen die seine Historiografle der Revolution sonst Protest einlegt, an Fragen der Entstehung von Erkenntnissen teilt. Nur Desinteresse kann die Vorstellung eingeben, der erneute Blick auf die »Sammlung von Daten« führe hier und da etwa zur Relativitätsphysik. Zum größeren Teil wohl aus Gründen, die »hinter dem Rücken« von Wissenschaftshistorikern spielen. Das Desinteresse hat seinerseits Quellen in der Evolution des Positivismus, die Kuhn nur unbewußt reproduziert. Man behauptet zunächst, Theorie werde induktiv durch »VerallgemeineARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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Michael Jäger
rung« von »Daten« geschaffen (Duhem), dann: gerade induktiv könne sie unmöglich entstehen, aber wie auch immer, die Entstehungsfrage sei ja wissenschaftslogisch gar nicht interessant, vielmehr ein Thema von Psychologie (Popper), und schließlich: wenn sie doch einmal interessieren sollte, sei sie jedenfalls ein Leichtes. Man blendet die Frage keineswegs deshalb aus, weil man sie nicht beantworten könnte! Aber ich glaube doch, daß am Anfang die Antwortverweigerung steht, die wir selbst wieder hinterfragen müssen. Sie manifestiert sich in einer Kette von Ersatz-Auskünften und ist selbst die Manifestation eines Gesetzes der »Verknappung« unserer wissenschaftlichen Diskurse, dem vor allem die Revolution im Diskurs zum Opfer fällt. Es scheint, daß wir mit Foucault voraussetzen müssen, »daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird — und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen« (1979, 7).
Sowohl die Seltenheit der wissenschaftlichen Revolution als auch das Fehlen einer Theorie über ihren Mechanismus verweist auf solche Kontrolle, deren »Prozeduren« uns noch reichlich beschäftigen werden. Als ich diese Untersuchung in der Mitte der siebziger Jahre begann, war es naheliegend, das Thema einer revolutionären Hebammenkunst mit dem Thema der Rationalität zu verbinden. Und zwar im Sinne seiner Veränderung wie seiner Verteidigung. Diejenigen, die »die Produktion des Diskurses kanalisierten«, hatten nämlich die Rationalität der Revolution bestritten. Wir lesen z.B. bei Lakatos, einem Hauptexponenten der RevolutionsDebatte zwischen Kuhn und der Popper-Schule, daß man »die utopische Idee einer sofort wirkenden Rationalität« zurücknehmen müsse (1974, 168). Das will sagen: nur die nachträgliche Prüfung des theoretisch Geschaffenen könne rational sein, nicht die Erschaffung selbst. Diese Position steht im übrigen schon vor Debattenbeginn fest. Lange bevor Kuhn auf das Thema Revolution verfällt, ist die analytische Wissenschaftstheorie aller Schattierungen einig, daß nur Fragen der Geltung von Theorie Interesse verdienen (context of justification statt context of discovery). Man spricht von einer »Rationalität« der Geltungs-Überprüfung, weil sie Regeln folgt, die jedermann erlernen kann und die zu Entscheidungen führen. Im Fall der einzelnen theoretischen Hypothese wird nach Regeln der Logik und mit der strengen Methode des Experiments geprüft. Steht nun aber ein ganzes »Paradigma«, Ergebnis einer wissenschaftlichen Revolution, zur Prüfung an, dann wird man eben spezielle Regeln ergänzen; so spinnt Lakatos den Faden der »Rationalität« fort. Die Logik darf eine Zeitlang verletzt, das Experiment eine Zeitlang ausgesetzt werden, damit .. sie dann mit desto größerem Einsatz ins Spiel zurückkehren, und so weiter. In dieser Weise verwenden alle Teilnehmer der Popper-Kuhn-Debatte den ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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Rationalitäts-Begriff: dieser Konsens ist ihrem publikumswirksamen Streit vorausgesetzt. Wenn das Rationalität ist, behaupten nun die einen, ist die Revolution irrational, denn sie läßt sich nicht auf Logik und Experiment zurückführen. Besonders Feyerabend rückt die Konsequenz ins Licht: dann ist jede Erkenntnis im Irrationalen begründet, auch die nichtrevolutionäre; sie wurde ja in der Revolution etabliert; und dann ist es das beste, sich überhaupt gegen Rationalität auszusprechen. Andere, besonders Kuhn selbst, wollen es dazu nicht kommen lassen und reden beschwichtigend, von einer kleinen rationalen »Lücke«, die der Ausnahmezustand der Revolution im sonst kontinuierlichen Erkenntnisverlauf hinterlasse. Wieder andere bestreiten selbst noch diese »Lücke« und bemühen sich teils um den Nachweis, daß auch in der Revolution die Logik in Geltung bleibe (Popper), teils fangen sie an, ihren Rationalitätsbegriff reformistisch zu erweitern (Lakatos, s.o., und mehr noch Stegmüller), um seine Allgewalt zu erhalten. Er bleibt in allen Varianten Begriff der Rationalität von »Geltung«. Mir hat diese Debatte gezeigt, daß es verständlich, aber hilflos ist, auf den Rationalismus der »Geltungs«-Theoretiker mit Irrationalismus zu antworten. Damit zieht man sich den Schuh dieser Theoretiker an und versäumt die Frage, die sie verdrängen, nach der Rationalität der Revolution. Folgt die Revolution wirklich keinen Regeln, die man erlernen könnte? Vielleicht sind es nur andere Regeln als die »normalen«? Oder ist die Revolution ein Gemenge von Zufall und Willkür? Sollen wir abwarten, bis sie vorbei ist, und dann ihre Resultate beurteilen? Aber wer revolutioniert denn, und wie? Die Position des Irrationalismus schien mir nicht hinreichend. Sie war eine bloße Protestposition; sie macht nicht handlungsfähig. Die marxistische Adaption der Popper-Kuhn-Debatte hatte diesen Mangel nicht beseitigt. Man freute sich, daß die bürgerliche Seite endlich von selbst die Grenzen ihrer Erkenntnisvernunft bemerkte. Aber es war eine merkwürdige Freude, die auf Erleichterung hinauszulaufen schien, daß damit ja auch die eigenen Erkenntnisgrenzen gerechtfertigt waren. Marxistische Wissenschaftstheoretiker haben nicht etwa gezeigt, was revolutionäres Handeln in der Wissenschaft heißt, sondern unterstrichen, daß die Revolution die Zeit sei, in der sich Entwicklungen hinter dem Rücken der Handlung durchsetzen. Ihre Analysen hoben die Rolle der ökonomischen und sozialen Umbrüche hervor, die die wissenschaftlichen Revolutionäre antreiben, und brachen dann ab. Dazu aber bestand kein Anlaß. Lesen wir noch einmal die eingangs zitierten Worte von Marx. Zunächst scheinen auch sie zu unterstreichen, daß es nicht darum geht, eine Theorie der Hervorbringimg, vielmehr darum, eine Theorie der Bedingungen der Revolution zu formulieren. Er selbst ist ja im »Kapital« so verfahren. Auf die Frage, was die Kommunisten »theoretisch voraushaben«, antwortet das Kommunistische Manifest ARGUMENT-SONDERBAND AS .137 ©
12 Michael Jäger allerdings umfassender, es sei die Einsicht in die Bedingungen und Resultate und in den »Gang« der »proletarischen Bewegung« (MEW 4,474). Ich werde das Reden von der Bewegung ganz wörtlich nehmen. Die proletarische »Bewegung« (s.o.), die »unter unsern Augen vor sich gehende geschichtliche Bewegung« (475), das »Naturgesetz« der gesellschaftlichen »Bewegung« (s.o.), all das, will Marx sagen, geht von selbst. Was bleibt dem Revolutionär dann noch zu tun? haben viele gefragt. Die Antwort, er könne die »Geburtswehen abkürzen«, also die Bewegung beschleunigen, schien eine Aufforderung zum Aktionismus, wenn nicht zum »Voluntarismus«. Aber wir sind hier durchaus noch im Bereich der Theorie. Es handelt sich um eine präzise Anknüpfung an die Bewegungslehre der Physik. In der Physik weiß man, daß Bewegung von selbst geht; man nennt das »Trägheit«. Jeder, der Kraft aufwendet, bewegt bereits die Bewegung, d.h. er beschleunigt. Beschleunigung aber ist selbst Gegenstand, zusätzlicher, der Bewegungslehre. Indem Marx auf eine solche Konstellation anspielt, deutet er auch die Pointe an, daß politische und wissenschaftliche »Beschleunigung« ebenso theoriefähig ist wie physikalische; mit dem Verhältnis von Gesetz und Aktion hat das noch gar nichts zu tun. Man darf freilich kein Aristoteliker sein, um Marx zu begreifen. Man darf nicht hinter Galilei und Newton zurückfallen, die den aristotelischen Grundsatz gestürzt haben, alles, was bewegt sei, werde von Etwas bewegt; man muß auf der Höhe des Fallgesetzes stehen, in dem impliziert ist, daß Bewegung durch Etwas schon gleichbedeutend ist mit Beschleunigung. Ich werde die Revolution gegen Aristoteles im Zweiten Teil dieser Untersuchung analysieren: nicht nur, um die revolutionsbeschleunigende »Rationalität« Galileis aufzuweisen, sondern auch, um jedem Aristotelismus der MarxInterpretation schon im Vorfeld den Boden zu entziehen. Insofern ist meine Untersuchung auch ein Umweg zu Marx. Tradition der Platon-Kritik Die Popper-Kuhn-Debatte ist heute einigermaßen in Vergessenheit geraten, und die Fragen nach »Revolution« und »Rationalität« werden anders gestellt als zu der Zeit, als ich, noch unter dem Einfluß der Studentenbewegung und ihrer Kanalisierung in den Traditionsparteien der Arbeiterbewegung, mit der Arbeit begann. Beispielsweise hatte Kuhns revolutionärer Wechsel der »Paradigmen« noch etwas von einem einmaligen Bruch, der jeweils zwei Phasen von Kontinuität ünterbrach, aber gleichsam als Ausnahme, die die Regel bestätigt. Die Frage nach Möglichkeiten, den Bruch zu beschleunigen, tendierte da leicht zur Suche nach dem imaginären »archimedischen Punkt«, an dem sich ein überlebtes System aushebeln ließ — das Folgesystem schien bereits am anderen Hebelarm auf seine Erhebung zu warten. Je mehr sich aber die punktuelle Widerstandspraxis der neuen ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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sozialen Bewegungen ausbreitete, desto einflußreicher wurden die neostrukturalistischen Philosophen mit ihrer Auffassung, daß die Revolution vielmehr ein verstreuter und mehrschichtiger Transformationsprozeß ist, dessen Einheit lediglich in der »Codierung der Widerstandspunkte« liegt (Foucault). Die Frage, ob und wie man solche Codierung beschleunigen kann, stellt sich ganz anders als die Frage nach jenem archimedischen Bruchpunkt. Ich machte sie mir zueigen — Paris war eine Messe wert — und hatte, soweit es Galilei anging, nicht nur die Herbeiführung der falltheoretischen Hypothese nachzuzeichnen, sondern darüber hinaus zu zeigen, daß sie einen Bruch mit Aristoteles insofern bedeutete, als sie den aristotelischen Physik-Diskurs decodierte. Noch gravierender war die Verschiebung des Rationalitäts-Problems. In der Zeit der Popper-Kuhn-Debatte waren es die Formallogiker und Platonisten gewesen, von denen die irrationalistische Tendenz ausging. Das wird besonders an Popper anschaulich: er beschränkt Rationalität strikt auf die Geltungsfrage — womit er die Entstehungsfrage dem Irrationalismus überantwortet — und muß gerade deshalb eine autonome »dritte Welt« als Gegenstand der Geltungsfrage postulieren, eine Welt, die in Anknüpfung an Piatons Ideenhimmel von aller Banalität des Werdens gereinigt ist. Aber nun wurde das Thema der Platon-Kritik als Kritik an Logik und Rationalismus gerade von denen ins Spiel gebracht, die auf dem Werden beharrten und über die revolutionäre Codierung des Widerstands forschten. Es handelt sich um die Wiederkehr einer Problematik, die auf Nietzsche zurückgeht. Nietzsche hatte unterstellt, daß die europäische Metaphysik nur durch Kritik an der platonischen Konzeption der »Wahrheit« zu überwinden sei. Aber ist die wissenschaftliche Revolution denn nicht »wahr«? Und ließe sich ohne ihre »Wahrheit« noch sinnvoll von ihrer »Rationalität« reden? Foucault nimmt Nietzsches Faden auf; er fragt wahrheitskritisch nach den Existenzbedingungen des platonischen Diskurses. Näher ist dies die Frage nach der Herkunft der »Aussage«, an die sich aller »Wahrheits«-Anspruch und alle Logik, als Lehre von der Wahrheitsübertragung zwischen Aussagen, knüpft. »(...) eines Tages hatte sich die Wahrheit vomritualisierten,wirksamen und gerechten Akt der Aussage weg und zur Aussage selbst hin verschoben: zu ihrem Sinn, ihrer Form, ihrem Gegenstand, ihrem referentiellen Bezug. Zwischen Hesiod und Piaton hat sich eine Teilung durchgesetzt, welche den wahren Diskurs und den falschen Diskurs trennte; diese Teilung war neu, denn nunmehr war der wahre Diskurs nicht mehr der kostbare und begehrenswerte Diskurs, der an die Ausübung der Macht gebunden ist. Der Sophist ist vertrieben.« (1979, 12)
Ist dann nicht schon die Frage nach der Rationalität der Revolution ideologisch? Sie scheint auf den Versuch hinauszulaufen, den Machtgrund der Revolution zu leugnen, die doch am ehesten ein »Akt« der Aussage ist. Müssen wir uns da nicht tatsächlich als Wissenschaftslogiker und RationaARGUMENT-SONDERBAND AS .137 ©
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litätstheoretiker auf die Frage nach der Geltung neuer Aussagen beschränken, also nach ihrer »Wahrheit« außerhalb des revolutionären Akts? Während dieser selbst von den Machttheoretikern zu beschreiben wäre? Das rät uns ja auch die Galilei-Studie von Paul Feyerabend (1976). So viel war allerdings schon ohne Foucault klar, daß die Rationalität der Revolution, wenn es eine gibt, aus dem Regelbereich der »Aussagen« herausführen müßte; es wird sich um keine aussagenlogische Rationalität handeln. Mail mag die revolutionären Regeln nennen wie man will; ich bleibe dabei, sie Regeln der Rationalität zu nennen; wichtig ist nur, daß man die Frage nach ihrer Existenz nicht fallen läßt. Einen Hinweis auf die Möglichkeit rationaler, jedoch nicht aussagenlogischer Revolutionsregeln finden wir in Klaus Heinrichs Vorlesung mit dem translogischen Titel »tertium datur«. Der Autor befaßt sich unter anderem mit der Überwindung des »sophistischen Protests« durch die »Essenzenlogik« von Piaton, Aristoteles und ihren Nachfolgern, die er wie Foucault als entscheidenden Umschlagpunkt in der Entstehung der spezifisch abenländischen Rationalität begreift (1981, 33). Wir lesen, daß der Sophist Protagoras bereits versucht habe — in Reaktion auf die Krise Athens während des Peloponnesischen Krieges —, »Existenzialismus« und »Operationalismus« des Wissens miteinander zu verbinden (ebd), ein Fortschritt, den Piaton wieder rückgängig mache, um alles, was an Affekte und Lebendigkeit erinnere, einer krisenfesten philosophischen Indifferenz zu opfern (39). Auch hier wird Piatons Etablierung der »Aussage« herausgestellt. Das sei ein Sprachmodus, der durch Abstraktion vom öffentlichen Kontext der Rede, etwa des juristischen Streitgesprächs, zu seiner fragwürdigen Ruhe komme. Ausgesagt werde stets das ruhende »Sein« der Dinge »in seiner starren, in sich geronnenen Identität« (47). Die DenkformTheorie des Protagoras habe dagegen auf den öffentlichen Kontext noch rekurriert; der Sophist unterschied als »Geschlechter der Rede« Bitten, Anordnen, Fragen, Antworten (34). Die Konfrontation von »Aussage« und »Redegeschlechtern« ist entscheidend. Wenn der Weg der »Aussage« ein Irrweg war, warum nicht an die Wegscheide zurückkehren und den anderen Weg gehen, den Weg der »Redegeschlechter«? Wir brauchen diese Frage nur aufzuwerfen, um zu finden, daß sie längst beantwortet ist. Die Rückkehr ist bereits geschehen; der Weg der »Redegeschlechter« wird unter dem Titel einer Philosophie der Sprachspiele schon beschritten, von Wittgenstein und den vielen, die er beeinflußt hat. Diesen Weg bin auch ich gegangen, anders als Wittgenstein, aber an ihn anknüpfend, indem ich die Rationalität der wissenschaftlichen Revolution als Rationalität nicht der Aussagenlogik, sonder des revolutionären Spiels von Fragen und Antworten zu begreifen versucht habe. Denn auch dieses verläuft nach Regeln. Regeln, die von einer Kritik des Piatonismus nicht mitbetroffen sein können, weil der Platonismus sich tatARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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sächlich, wie Heinrich andeutet, als Genesis der Fragespiel-Zerstörung auffassen läßt. Das läßt sich rasch demonstrieren, wenn man nur vergleicht, wie der frühe, noch sokratisch beeinflußte Piaton — der in Heinrichs, wenn auch nicht in Piatons Sinn noch »Sophist« ist — »Dialektik« definiert, und wie der späte. »Dialektik« ist das Wort, das die Würde des Philosophen bezeichnet. Worin besteht diese Würde? Im »Kratylos« heißt es noch ohne Nebensinn, ein Dialektiker sei einer, »der zu fragen und zu antworten versteht« (390b ff.), Im »Phaidon« weiß Piaton schon ganz genau, wonach zu fragen ist; es geht um »jenes Wesen selbst, welchem wir das eigentliche Sein zuschreiben in unsern Fragen und Antworten« (78d). Im »Sophistes« schlägt das »Seins«-Interesse auf die Methode seiner Erfassung zurück. Als Aufgabe der »dialektischen Wissenschaft« wird jetzt das »Trennen nach Gattungen« — die dihairesis, Spaltung — bezeichnet (253d), welches auf Begriffe bzw. Satzprädikate, d.h. auf Aussagen und Aussagenlogik zielt; die Begriffe halten das »Sein« fest. Das Fragespiel ist hier nicht mehr grundlegend; es taucht in der Gattungskette, die der »Sophistes« selbst vorführt, nur noch als Unterart der Kampfgeschicklichkeit auf (225b). Ich mache weder eine Untersuchung über den Mechanismus der platonischen Grundlegung der Metaphysik noch über Entstehung und Schicksal der »Dialektik« (obwohl ich auf beides an zentralen Stellen zurückkomme), glaube aber, daß meine Untersuchung über Fragespiel und wissenschaftliche Revolution zur Bewältigung dieser Themen einen konstitutiven Beitrag leistet. Der Wille zur Antwort Heinrichs Konfrontation von »Aussage« und »Redegeschlechtern« führt weiter als Foucaults Konfrontation von »Aussage selbst« und dem »ritualisierten, wirksamen und gerechten Akt der Aussage« (s.o.); man erkennt, daß über denselben Gegenstand geredet wird und daß die erste Formulierung konkreter ist. Aber nicht nur das. Bei Foucault sind Aussage wie Aussage-Akt gleichermaßen Machtausiibung, und wenn der Aussage-Akt bevorzugt wird, dann nur deshalb, weil er die Macht noch offen ausübt; kritisiert wird nicht die Macht, sondern ihre Verdrängung ins Unkenntliche. Obwohl viel machtkritischer als Nietzsche, bleibt Foucault diesem gerade hier am meisten verhaftet. Bereits Nietzsche hatte uns vorgeschlagen, . wir sollten uns in der Auseinandersetzung zwischen Piaton und den Sophisten einfach auf die Seite der letzteren schlagen, und das heißt nicht nur auf die Seite einer Theorie der »Redegeschlechter«, sondern vor allem auf die Seite der nackten Machtpropaganda, des »Willens zur Macht«. Dieser Vorschlag läuft auf die Elinünierung der Zwischenposition des Sokrates hinaus, der die frühen platonischen Dialoge beherrscht. Sokrates hatte eiARGUMENT-SONDERBAND AS .137 ©
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nerseits »zu fragen und zu antworten verstanden« — und noch nicht zu spalten —, andererseits waren gerade die Machtpropagandisten seine erbitterten Gegner, die er in öffentlicher Rede überwand und die ihn dafür zum Tod verurteilen ließen. Piaton, wie gesagt, hat das Fragespiel abgeschafft. Die Machtpropaganda hat er nur zum Schein angegriffen, er hat nämlich nur den sophistischen Machtindividualismus durch den Machtanspruch der kriegführenden Polis ersetzt. Dieses Verhältnis wiederum wurde von Nietzsche umgekehrt, zurückgedreht. Das Fragespiel blieb beiseite. Indessen läßt sich jedenfalls eine Revolution mit dem »Willen zur Macht« nicht veranstalten. Das mag paradox klingen, wird aber auf Heller und Pfennig gezeigt werden. Die Fallstudie über Galilei wird beweisen, daß es stattdessen eines Willens zur Antwort bedarf. Für diesen gibt es bei Nietzsche und seinen französichen Nachfolgern sogar Bruchstücke von Begriffsäquivalenten, die sich freilich nicht zur Rationalitätstheorie zusammenfügen. Am bemerkenswertesten ist die Lehre vom »Zufall«, dieDeleuze in seinem Nietzsche-Buch zusammenfaßt. Was er »Bejahung des Zufalls« nennt, ist in mancher Hinsicht der Antwortfähigkeit äquivalent: »Nietzsche identifiziert den Zufall mit dem Vielen, den Fragmenten, den Gliedern, dem Chaos: dem Chaos der Würfel, die man schüttelt und wirft. Nietzsche macht aus dem Zufall eine Bestätigung, eine Bejahung. (...) Zwar gibt es viele Zahlen entsprechend wachsenden oder abnehmenden Wahrscheinlichkeiten, aber nur eine einzige Zahl des Zufalls als solchen (...) Deshalb reicht es aus, wenn der Spieler einmal den Zufall bejaht, um die Zahl herbeizuführen, die den Würfelwurf wiederholen läßt. Den Zufall bejahen können heißt spielen können. Wir aber können nicht spielen (...) Der schlechte Spieler setzt auf mehrfache Würfe, auf deren große Zahl: so hantiert er mit Kausalität und Wahrscheinlichkeit, um eine Zahlenkombination herbeizuführen, die er zur wünschenswerten erklärt; diese Kombination legt er als ein zu erreichendes, hinter der Kausalität verborgenes Ziel fest. Dies hat Nietzsche im Sinn, wenn er von der ewigen Spinne, vom Spinnennetz der Vernuft spricht: 'irgendeine angebliche Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem großen Fangnetz-Gewebe der Ursächlichkeit (...)'«.(1976, 32)
Wenn ich alles auf den nächsten Wurf setze, setze ich mich auf das, was ich noch nicht kenne, freilich gleich erfahren werde; auf die Gesamtheit der Würfe setzen, heißt demgegenüber: so lange würfeln, bis das Ziel erreicht ist, das ich für vorausberechenbar gehalten habe. Was ist dann aber die »Bejahung des Zufalls« anderes als die Bereitschaft, sich antworten zu lassen? Dagegen wären gerade »Spinne und Fangnetz« das Ergebnis eines .Willens zur Macht, der auf Sicherheit vor Veränderungen abzielt. Was uns Deleuze, Nietzsche (und Mallarmö) folgend, am Beispiel des Würfelwurfs erklärt, ist die Fähigkeit zur Selbstveränderung im Zuge der Antwortveränderung. Das ist im übrigen keine Schicksalsgläubigkeit, die mit dem Zufall auch die mögliche Selbstzerstörung bejaht. Der Würfelwurf wird ja wiederholt. Alles auf ihn setzen heißt nicht alles aufs Spiel setzen: der einARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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zelne Wurf ist nicht das ganze Spiel Wenn es schiefgeht, gelingt es beim nächsten Mal besser. Gefährlich ist es freilich, den Wurf zurückzuhalten, denn damit bricht das Spiel ab. AU das gilt auch für die Antwort. Die Antwort ist immer einzelne Antwort. Hat man sie gegeben oder sich geben lassen, kann man weiterfragen. »Wir aber können nicht spielen«: nicht antworten. Wer von uns wagt es, jederzeit zu antworten, zumal im Bereich der Wissenschaft? Wir könnten stets zu allem etwas sagen, aber wir halten unsere Antworten zurück, weil wir uns vor Fehlern fürchten. Die »Fragmente« und »Glieder« möglicher Antwortelemente vor Augen, die wir auch antworten könnten, aber nicht antworten würden, antworten wir lieber überhaupt nicht; dabei wäre es so leicht, sie zunächst beiseite zu lassen und im zweiten Schritt auf sie zurückzukommen. Wir fürchten uns vor Fehlern und kommen deshalb nie aus Fehlern heraus, denn dazu müßten wir weiterfragen, also erst einmal antworten, sei es auch falsch. Die falschen Antworten haben eine Erkenntnisfunktion, ohne die namentlich die wissenschaftliche Revolution niemals stattfinden könnte. Einige von Ihnen zeigen an, daß falsche Fragen gestellt worden waren, und führen letztlich zur »Umkehrung der Fragerichtung« — die sich als zentraler Mechanismus der revolutionären Rationalität herausstellen wird. Es gibt bei Nietzsche und den Nietzscheanern viele Bilder der Selbstveränderung, aber selten ein Nachdenken über die Frage, umso häufiger über den Befehl. Hier wird das Überspringen der sokratischen Position zum Verhängnis. Die Selbstveränderung durch Befehl, den ich gegen mich richte, ist ein Spiel der Selbstzerstörimg. »Dem wird befohlen«, lesen wir im »Zarathustra«, »der sich nicht selber gehorchen kann. So ist es des Lebendigen Art«, und so führt der »Wille zur Macht« zuletzt dazu, daß »das Größte« um der Macht willen das Leben selbst »opfert«, weil dieses sich am liebsten die Selbstüberwindung befehlen läßt ( 1967, 622f). Sokrates hatte dagegen Selbstüberwindung noch explizit als Willen zur Antwort gedacht. Ohne ihn würde die sokratische Hebammenkunst leerlaufen, die im »Theaitetos« gefeiert wird. Sokrates »befiehlt immer, herzhaft zu antworten« (204b). »Denn sollte es uns, wenn wir weitergehen, nicht mehr so scheinen, so wollen wir (...) dann versuchen, etwas anderes zu sagen. — Das ist recht, Theaitetos, und so muß man mutiger reden, als wie du anfänglich nur allzu bedenklich warst zu antworten. Machen wir es so, so werden wir eins von beiden, entweder das finden, worauf wir ausgehen, oder nicht so sehr glauben, dasjenige zu wissen, was wir keineswegs wissen. Und auch ein solcher Preis wäre schon nicht zu verschmähen.« (187b-c)
Leider hat Sokrates seine Methode nicht so weit entwickelt, daß sie zur Selbstbefragung und -antwort eingesetzt werden konnte. Deshalb kann Piaton, der im »Theaitetos« eine abschließende Würdigung der Stärken und Schwächen des Sokrates versucht, die »Hebammenkunst« bereits im ARGUMENT-SONDERBAND AS .137 ©
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nächsten Dialog als unfruchtbare, nur »reinigende» Erkenntnismethode denunzieren (Soph.230c f.) und ihr, in einer zugleich aristokratischen und sexistischen Wendung, seine eigene Methode der dihairesis als männliches Kampfspiel, ja buchstäblich als Jagd auf Erkenntnisobjekte entgegensetzen (235b). Selbstbehauptung und Selbst-Frage; zu Habermas Daß Sokrates die Antwortbereitschaft als »mutiges Reden» lobt, geschieht nicht ohne Grund. Der Mut muß häufig so groß sein, daß nur Revolutionäre ihn aufbringen, die nur in revolutionären Situationen gedeihen. Darin zeigt sich die Macht der Diskurse, in denen wir uns bewegen und die uns für Regungen der Vielfalt, gar des Ausbruchs bestrafen. Diese Macht aber kulminiert darin, daß sie unser Bild von uns selbst »verknappt«. Ein Antwortender, der sich den Regeln des Fragespiels willig überläßt, muß ja nicht nur auf spätere Korrektur dieses oder jenes Fehlers, sondern seiner selbst, seines bisherigen Selbstbilds, gefaßt sein. Die Antwort, die ich mir selbst oder die ein anderer auf meine Frage gibt, kann sogar in der Zurückweisung meines »Namens« bestehen, wie im Fall des Königs ödipus. Vor diesem Reichtum läßt uns die Macht zurückschrecken. — Das Selbst des Fragespiels ist eines, das sich ständig verschiebt. Dadurch wird es nicht »zerstört«, außer es will sich mit seinen zufälligen Ausgangspunkten ein für allemal identifizieren, wozu jedoch kein Grund besteht. Dadurch wird es sich aber auch nicht »behaupten«, jedenfalls nicht im gewohnten Sinn dieses Wortes; denn auch das Behaupten ist ein Sprachspiel, ein anderes als das Fragespiel. Selbstbehauptung und Selbsterhaltung, gar Selbsterhaltung durch Selbstveränderung, sind nicht dasselbe. Eine Konzeption von Rationalität, die Rationalität nicht mit Selbstbehauptung identifizieren will,findenwir auch bei Jürgen Habermas; sie sei zur Verdeutlichung meiner eigenen Position kommentiert. Der Grundbegriff von Rationalität, den Habermas in der Einleitung zur »Theorie des kommunikativen Handelns«famuliert,läßt sich in drei Schritten darstellen. Zunächst und von vornherein führt Habermas zwei verschiedene Rationalitätsbegriffe ein: kognitiv-instrumentelle Rationalität, die die »Konnotation erfolgreicher Selbstbehauptung« mit sich führe, und kommunikative Rationalität, deren Konnotationen »letztlich zurückgehen auf die zentrale Erfahrung der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede« (1981, 28). Diese Konzepte bzw. Haltungen werden in der Vereinseitigung und im Gegeneinander jeweils fragwürdig, besonders wenn instrumentelle Rationalität den Vorrang oder gar Ausschließlichkeit beansprucht. Habermas sieht in der kommunikativen Rationalität das umfassendere, den instrumentellen Aspekt dann aber auch einschließende Konzept, weil »interne Beziehungen zwischen der Fähigkeit ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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zur dezentrierten Wahrnehmung und zur Manipulation von Dingen und Ereignissen«, also zum instrumenteilen Denken und Handeln, einerseits und der kommunikativen »Fähigkeit intersubjektiver Verständigung über Dinge und Ereignisse andererseits« bestehen; er beruft sich auf Piagets »Modell der gesellschaftlichen Kooperation, demzufolge mehrere Subjekte ihre Eingriffe in die objektive Welt über kommunikatives Handeln koordinieren« (33). — Im zweiten Schritt »expliziert« Habermas den Begriff der kommunikativen Rationalität skizzenhaft »durch eine Theorie der Argumentation«, weil »die der kommunikativen Alltagspraxis innewohnende Rationalität (...) auf die Argumentationspraxis als die Berufungspraxis« verweist, »die es ermöglicht, kommunikatives Handeln fortzusetzen, wenn ein Dissens durch Alltagsroutinen nicht mehr aufgefangen werden kann und gleichwohl nicht durch den unvermittelten oder strategischen Einsatz voii Gewalt entschieden werden soll« (37f). Argumentation wird zu diesem Zweck in die Aspekte des Prozesses, der Prozedur und des Produkts auseinandergelegt, die für die Realisierung des genannten Funktionsziels jeweils besondere Strukturen bereithalten. So ist der Prozeßaspekt wünschenswerter Kommunikation durch »die Strukturen einer idealen, gegen Repression und Ungleichheit in besonderer Weise immunisierten Sprechsituation« charakterisiert, der prozedurale Aspekt stellt sich in »Strukturen einesritualisiertenWettbewerbs um die besseren Argumente« dar und der Produktaspekt betrifft die »Strukturen, die den Aufbau einzelner Argumente und deren Beziehung untereinander bestimmen« (49). — In einem dritten Schritt, der bei Habermas der erste ist, muß man sich die unvermeidliche Implikation eines solchen Rationalitätskonzepts klarmachen: Rationalität ist »auf Kritisierbarkeit und Begründungsfähigkeit zurückzuführen« (27). Das ist bewußt vor dem Hintergrund der Unterscheidung von context of discovery und context of justification gesagt, denn Habermas läßt keinen Zweifel an seinem Standpunkt, daß Rationalität »weniger mit Erkenntnis und dem Erwerb von Wissen als damit zu tun« habe, »wie sprach- und handlungsfähige Subjekte Wissen verwenden« (25). So steht in jenem »ritualisierten Wettbewerb«, der den Gipfel des Rationalen erreicht, Wissen gegen Wissen, Behauptung gegen Behauptung, »Proponent« gegen »Opponent«; und doch wird es Konsens geben, weil es einen Sieger in den Begründungsversuchen geben wird und weil auch der Unterlegene, infolge der Eindeutigkeit der Regeln, das erkennen kann. Diese Entscheidung für das Konzept der Begründungsfähigkeit wird selber nicht begründet, sondern erscheint als axiomatische Setzung bzw. als Voraussetzungsexplikation oder auch als Rekurs auf ein immer schon der wissenschaftlichen Reflexion vorausgehendes Alltagsverständnis. Sowohl der Gegenstandsbestimmung von Rationalität als auch der Rationalitätstheorie selbst kann ich ein Stück weit zustimmen. Zum Gegenstand jeder Rationalitätstheorie werden Elemente gehören wie »SelbstbeARGUMENT-SONDERBAND AS .137 ©
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hauptung« und Subjektivität im allgemeinen, Orientierung am »Konsens«, d.h. der Anspruch auf freiwilliges Überzeugen bzw. Sichüberzeugen-lassen, und der gesellschaftliche Kontext, in dem »Selbstbehauptung« und »Konsens« funktionieren oder nicht funktionieren; im einzelnen wird das »Begründen« geklärt werden müssen. An der Theorie selbst besticht, daß sie der Reduktion des Rationalitätsbegriffs auf logisches Begründen entgegenwirkt, es vielmehr, wie auch die Selbstbehauptung schlechthin, zum Teilaspekt rationaler Kommunikation herabsetzt. Überlegungen, die ich weiter oben angestellt habe, legen hier den Kommentar nahe, daß Kommunikation nur in einer Theorie der Sprachspiele expliziert werden kann, und Habermas selbst läßt auf seine allgemeine Erörterung später eine subtile Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie von Searle folgen. In dem Versuch, kommunikative Rationalität gegen ein »monologisierendes« Denken abzugrenzen, spricht Habermas zweifellos über dasselbe wie Heinrich; seine Relativierung des logifizierbaren Produkts von Kommunikation auf Situation und Rede-Prozeduren des Sprechens läßt sich in die Tradition des Rückgangs auf »Protagoras« einreihen. Problematisch ist jedoch der Umstand, daß Rationalität erst beginnen soll, wo fertiges Wissen bloß noch auf Begründung wartet. Hier kann ich schon deshalb nicht folgen, weil in solcher Denkweise die wissenschaftliche Revolution genauso irrational wäre wie in der Poppersehen. Aber auch ohne dieses Anwendungsinteresse erscheint das Konzept reduktionistisch; was sind seine Folgen? Zunächst führt es zu jener Unterscheidung der Rationalitätstypen. Es sind Typen der Begründung durch Verschiedenes — instrumentelles Denken und Handeln wird rational genannt, wenn es sich durch den Erfolg der Selbstbehauptung begründet, kommunikatives, wenn durch Konsens. Der Konsens, wie gesagt, wird durch ein Spiel von Behauptung und Gegenbehauptung erreicht. Keineswegs versuchen »Proponent« und »Opponent« gemeinsam etwas zu finden, was sie beide noch nicht wissen. Man kann also auch sagen, die beiden Rationalitätstypen sind Typen des Behauptens in verschiedener Weise; im einen Fall behaupte ich mich, im andern etwas. So gesehen, sind die Typen viel enger verquickt, als es zunächst scheint. Es gibt eben eine Behauptung,die ich niemals aufgeben werde—ich werde behaupten, sie selbst zu »sein«, und darin wird sie sich auch schon erschöpfen —, und andere Behauptungen, auf denen ich so lange beharre, bis sie mir widerlegt werden; im Hinblick auf sie beharre ich aber jedenfalls auf den Regeln, die das Kampfspiel organisieren und die mit meiner »Selbstbehauptung« verträglich sind, sonst hätte ich das Spiel gar nicht begonnen. Die Identifikation von Rationalität und Selbstbehauptung wird hier nicht zugunsten des Fragespiels kritisiert — dieses kommt gar nicht vor —, sondern weil die Behauptung des Gemeinwesens, die sich in der Anerkennung der Regeln kristallisiert, der Behauptung der Individuen übergeordARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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net wird und sie sogar verschluckt, denn die Regeln haben es nicht schwer, mit einer »Selbstbehauptung« verträglich zu sein, die nur darin besteht, daß ich irgendeiner Behauptung im Innern des Kampfspiels meinen leeren Namen gebe. Es ist eine ähnliche Wendung, wie Piaton sie gegen die Sophisten macht, und die einfache Umkehrung der Position Nietzsches. Das sind keine Erkenntnismittel, mit denen sich Selbsterhaltung durch Selbstveränderung denken läßt. Man sieht das auch an der Mühe und Randständigkeit, in der Habermas selbst den Umstand reproduziert, daß jemand seine Meinung ohne Einwirkung von »Opponenten« ändert: Wie verhält sich der »einsame Denker«, fragt er in einer Fußnote, wenn »die Gültigkeit und damit die assertorische Kraft einer Aussage problematisch wird« und er »vom Schlußfolgern zum Erfinden und Abwägen von Hypothesen übergehen muß«? Antwort: er sehe sich dann »genötigt, die Argumentationsrollen des Proponenten und Opponenten (...) als eine kommunikative Beziehung in seine Gedanken aufzunehmen« (400). Die beiden Rationalitätstypen sind nicht nur eng verquickt; es zeigt sich hier, daß sie eine falsche Front schaffen, die sich nicht halten läßt. Die »einsame« Selbstveränderung läßt sich nur als Vorgang verstehen, der kommunikativer Logik folgt; sind dann nicht die Gesetze dieser Logik grundlegender als die Frage, ob sie von Individuen oder Gruppen realisiert werden? Dann muß man sie aber auch unabhängig von dieser Frage darstellen. Und dann gibt es überhaupt keinen Grund mehr, ein Denken oder Handeln »instrumentell« zu nennen, wenn ein Einzelner seinen Erfolg, aber »kommunikativ«, wenn Zwei ihren »Konsens«, d.h. eine Entscheidung ihres ritterlichen Kampfes suchen. Es sei denn, als Erfolg des Einzelnen würde wirklich nur die »Behauptung« dessen gelten, was er immer schon ist, und als Mißerfolg seine Veränderung. Eine solche Haltung noch »rational« zu nennen, wäre jedoch absurd. Man denke an das Experiment mit der Spinne, die angesichts zweier instinktrelevanter Signale in und vor ihrer Höhle ihre Identität dadurch behauptet, daß sie zwischen diesen Feuern hin und her und schließlich zu Tode rennt. Im übrigen kann man sich auch im »ritualisierten Wettbewerb« einträchtig zugrunderichten. Stellen wir uns vor, der Opponent verlangte plötzlich die Regel, daß jeder den Versuch machen soll, nicht nur dem andern, sondern auch sich selbst zu widersprechen; zu diesem Zweck solle man vom Behauptungs- zum Fragespiel übergehen. Sein Argument lautet, man könne auf diese Weise einer drohenden Katastrophe schneller begegnen; die Zeit für Rettungsmaßnahmen sei nicht unbegrenzt. Der Proponent antwortet: das alles sei in den Regeln nicht vorgesehen. Wie würde der Kommentar von Habermas lauten? Verhält sich der Proponent »instrumentell« oder »kommunikativ«; »rational« oder »irrational«? Klar ist jedenfalls, daß er von der drohenden Katastrophe abstrahiert, und daß Habermas das ebenfalls tut. Darin besteht in letzter Instanz die Grenze seines Rationalitätsmodells: er zieht keine Konsequenzen aus dem ARGUMENT-SONDERBAND AS .137 ©
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Umstand, daß es nicht nur die Dialogpartner und nicht nur die Verwurzelung des Einzelnen im Dialog gibt, sonder auch das, was im Dialog zur Sprache kommt — die Gegenstandserfahrung. Wir haben gehört, daß man sich im Dialog über die »Manipulation von Dingen« »verständigt«. So viel Eigenleben, daß die Verständigung hier und da zu eng wird, um sie zu fassen, scheinen die Dinge nicht zu haben. Der Opponent, der auf Gegenstandserfahrung pocht, verletzt zweifellos die »ideale Sprechsituation«, die Habermas utopisch unterstellt; in ihr würde gerade deshalb keine Gewalt drohen, weil auch sonst nichts Bedrohliches mehr existiert; es ist dann unnötig, Regeln zu ändern, die sich zu unbedrohlichen Gegenständen verhalten mögen wie sie wollen, jedenfalls aber als Regeln des »ritualisierten Wettbewerbs« taugen. Das heißt aber umgekehrt, daß das Pochen auf Gegenstandserfahrung und der mit ihm verbundene" Vorschlag, zum Fragespiel überzugehen, auf keine utopischen Unterstellungen mehr angewiesen ist. In einer Zeit, die den repressionsfreien Dialog durchaus nicht kennt, ist das kein Nachteil. Ich brauche auch hier nur an Sokrates zu erinnern: die rationale Kraft seiner Frage bewährt sich gerade in der reprimierten Kommunikation. Es ist eine Kraft, Regeln nicht vorauszusetzen, sondern zu erneuern oder — wie Sokrates in seiner Verteidigungsrede vor Gericht demonstriert — ihren Mangel zu enthüllen. Gerade nach dieser Kraft suchen wir auch, wenn wir die Rationalität der wissenschaftlichen Revolution begreifen wollen. »Begreifendes Erkennen« und revolutionäre Anamnese Ich hätte mir das Thema »Rationalität in der Revolution« kaum gestellt ohne Holzkamps Postulat, Wissenschaftstheorie habe sich nicht nur »mit der Geltungsbegründung von Theorien« zu befassen, sondern auch »mit ihrem Zustandekommen, das — gemäß manchen wissenschaftslogischen Konzeptionen — unter dem Thema der kreativen Akte des Theorienfindens beim einzelnen Forscher von der Psychologie untersucht werden soll (vgl. etwa Popper)« (1973, 35f). Der Psychologe Holzkamp weist diese Rollenzuschrdbung zurück und fordert umgekehrt von den Wissenschaftslogikern, sie hätten zu zeigen, inwiefern der Weg des Forschers zur Theorie seinerseits »auf wissenschaftliche, d. h. methodisch reflektierte und wissenschaftstheoretisch ausweisbare Art«, also rational, »durchschritten werden muß« — jedenfalls wenn sich die Theorie nicht in »Vordergründigkeiten und Scheinhaftigkeiten« erschöpfen soll (36). Auch sonst knüpfe ich konzeptionell und methodisch an zentrale Auffassungen der Kritischen Psychologie an. Beispielsweise hat Holzkamp vorgeführt — in der Tradition Lewins, auf den ich im Experiment-Kapitel des Zweiten Teil eingehe —, daß man die Struktur von Erkenntnisobjekten nicht durch Sammlung vieler Exemplare ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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und anschließenden Merkmalsvergleich erfährt, sondern durch Analyse des einen »typischen« Falls, In gleicher Weise werde ich z. B. die entscheidenden ersten Schritte meines Rationalitäts-Modells weitgehend an einer »typischen« Frage demonstrieren; der Frage, wie spät es sei. Es ist die alltäglichste und zugleich die komplexeste, das philosophische Hauptproblem der Zeitlichkeit berührende Frage. Auch die möglichen Antworten, die meine Analyse unterstellt, sind »typisch« in dem Sinne, daß jede für eine Weise zu antworten steht und so auch, mutatis mutandis, jeder anderen Frage erteilt werden könnte. Es, sind übrigens dieselben Antwort-Weisen, die Conrad (1978) aus einer Zusammenfassung bisheriger Fragetheorien gewinnt; ich analysiere sie nur anders. Weiter folge ich Holzkamps Aufforderung, nicht die tote Faktizität oder die Durchschnittlichkeit, sondern zuvor die »Möglichkeit« des Objekts zum Erkenntnisgegenstand zu machen. Sie erspart mir den Irrweg, die Frage in ihrer alltäglichen Vermengung mit Aussage und Befehl aufzunehmen, einer Vermengung, die Gegenstand der Soziologie des Fragespiels sein müßte, tatsächlich aber schon von der Interrogativlogik blind reproduziert und zur Norm erhoben wird. Mit »Möglichkeit« ist hier nicht die aristotelisch-baconische Belastbarkeit einer Sache gemeint, die man unter fremden Zwecken zum Äußersten treibt — dieses Denken weist Holzkamp in seiner kritischen Experimentalkonzeption gerade zurück —, sondern das gesamte Ausmaß ihrer Erweiterungsfähigkeit im Eigeninteresse. Die »Möglichkeit« der Frage liegt darin, daß man ihr widersprechen kann, ja daß sie mich unter Umständen zum Selbstwiderspruch und damit zur Selbstveränderung führt. So selten immer sie realisiert werden mag — vielleicht in einem Umfang, der statistisch gar keine Relevanz hat —, es wird nichts übrigbleiben, als gerade sie zur Grundlage einer Theorie des rationalen Aspekts wissenschaftlicher Revolutionen zu machen. Ein dritter Punkt, an den ich methodisch anknüpfe, ist die Gegenstandsvoraussetzung in der Analyse. Um die Evolution menschlicher und tierischer Fähigkeiten zu erfassen, geht Holzkamps Psychologie stets von der Bestimmtheit dessen aus, was die Lebewesen in Anpassung oder »Aneignung« zu bewältigen haben, d.h. von ihrer gegenständlichen Umwelt, beim Menschen von der Gesellschaftsformation. Ich kann mich zwar nicht von der Pflicht befreien, die fehlbare Theorie zu explizieren, die ich über den jeweiligen Gegenstand habe. Aber es macht einen erheblichen Unterschied — nicht nur wenn ich Emotion und Motivation, sondern auch wenn ich Erkenntnis und Wissenschaft analysiere —, ob ich nur ganz allgemein unterstelle, daß Gegenstände existieren, um gleich wieder von ihnen zu »abstrahieren«, oder ob ich der Frage, wie man Gegenstände zu fühlen oder wissenschaftlich zu erkennen pflegt, die Frage vorausschicke: welche Gegenstände? Die Option für letzteres hat in beiden Teilen meiner Untersuchung Konsequenzen. Im Ersten Teil mache ich die Abstraktion vom ARGUMENT-SONDERBAND AS .137 ©
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Fragegegenstand nicht mit, in der sich die gesamte vorliegende Literatur zur Frage einig ist. Im Zweiten Teil stelle ich die Analyse des Forschungsprozesses von Galilei zurück, bis ich über eine Theorie des Gegenstands dieses Forschungsprozesses verfüge, d.h. ihn in seine ökonomischen, politischen und wissenschaftsinternen Dimensionen zerlegt habe. Die drei methodischen Prinzipien Holzkamps, an die ich anknüpfe, hängen miteinander zusammen. Das zweite mit dem ersten, weil es gerade die »Möglichkeit« ist, die unerkannt bleibt, wenn ich einen Sachverhalt nur als Merkmals-Gemeinsamkeit seiner Exemplare auffasse; das dritte mit dem zweiten, weil das Ausmaß dessen, was mir »möglich« ist, von der Eigenart meines Gegenstands abhängt. So würde auch die Möglichkeit des Selbstwiderspruchs im Fragespiel verdeckt bleiben, wenn wir nur eine statistische oder empirisch-klassifizierende Untersuchung darüber anstellen würden, wie meistens gefragt und geantwortet wird; sie wäre aber selbst als Möglichkeit nicht vorhanden, wenn wir nicht unterstellten, daß zwischen unsere Fragen und Antworten eine Gegenständlichkeit einbricht, die unsere Erwartung manchmal durchkreuzt. Ein wichtiger konzeptioneller Anknüpfungspunkt war die denkpsychologische Unterscheidung von »orientierendem« und »begreifendem Erkennen«, mit der Holzkamp die Darstellung der »Sinnlichen Wahrnehmung«, das Paradigma seiner Schule, zum Abschluß bringt. Die Unterscheidung folgt den methodischen Prinzipien: »orientierende« Erkenntnis ist die unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen durchschnittliche; es ist das Denken, das den Widerspruch eliminiert; oder das ihn allenfalls als vermeidbaren Widerspruch des Denkens verharmlost, wogegen Holzkamp betont, daß er sich aus der »Eigenart von Wirklichkeitsstrukturen« ergibt (1973, 354). Im »orientierenden Erkennen« stellt sich, so lautet die zusammenfassende These, »das Verhältnis zwischen sinnlicher und denkender Erkenntnis als eine partielle Überwindbarkeit der Anschaulichkeit, logisch stringente Verarbeitbarkeit sinnlicher Daten unter Optimierung von Denkstrategien im Zusammenhang 'auftauchender' Probleme« dar, »mit deren Lösung jeweils ein 'Hindernis' des Sich-Zurechtfindens, 'Vorankommens' der individuellen Menschen einer Lebenswelt beseitigt ist, die im ganzen nicht als geprägt durch die bürgerliche Geseüschaftsstruktur in ihrer historischen Bestimmtheit begriffen, sondern auf dem Niveau anschaulicher Evidenzen hingenommen wird«.
Dieser Typus, für den nicht nur Denkstrategien des Alltags, sondern auch die sie reproduzierenden Kognitionstheorien bis hin zu Piaget — auf den sich Habermas stützt — und der gängigen Problemlösungspsychologie als Beispiele angeführt werden, verweist auf »die notwendigen Beschränktheiten menschlichen Erkennens als Moment individuell-utilitaristischer Praxis in der bürgerlichen Gesellschaft« (359). »Notwendig« heißt hier aber nicht unüberwindlich. In dem Maße vielmehr, wie von dieser reduzierten »zu beARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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wußt-kritischer, aus der Einsicht in gesamtgesellschaftliche Notwendigkeiten entspringender Praxis« R?)-(R2» R3HR3» x?). Wenn wir diesen Übergang mit dem umgekehrten, der von der Frage zur Antwort führt, vergleichen, fällt zweierlei auf. Erstens kehrt in beiden Übergängen dieselbe Struktur wieder. Abgesehen davon, daß beim F-A-Übergang (R, x?), beim A-F-Übergang jedoch (R, R?) gefragt wird, gibt es überhaupt keinen Unterschied, und der Unterschied von x? und R? ist — so scheint es zunächst — nur »inhaltlicher«, nicht struktureller Art. Satzradikale können eben genauso gut zum Gegenstand einer Frage gemacht werden wie alles andere. Dieses Ergebnis ist wichtig, weil es zeigt, daß wir zur Erklärung des A-F-Übergangs dieselbe Theorie weiterverwenden können, die uns schon zur Erklärung des F-A-Übergangs gedient hat, und auch deshalb, weil die Kontinuität beider Übergänge — der Übergang der Übergänge ineinander — hervortritt. Zweitens ist jedoch auch hervorzuheben,was zu der Theorie des F-A-Übergangs modifizierend hinzukommt, wenn der A-F-Übergang erklärt wird. R? ist nicht nur eine besondere Weise, einen intendierten Gegenstand x? zu benennen, sondern ein Rückwärtsfragen, während x? ein Vorwärtsfragen ist. Frage ich nach einem x?, z. B. nach der Uhrzeit, dann ist die Antwort (genauer: ihr Zweitglied) etwas noch nicht Geschehenes, eine Zukunft, die ich durch die Frage zu vergegenwärtigen versuche. Frage ich dagegen nach einem R? , dann versuche ich Vergangenes zu vergegenwärtigen, etwas, das ich schon weiß. Ich habe schon vor meiner ersten Frage über die Annahme verfügt, die ich in die zweite Frage einfließen lassen werde, aber damals war kein Anlaß, sie zu benutzen. Jetzt, wo die erste Frage beantwortet ist, komme ich auf sie zurück. Ich frage z. B., was Dichter A kritisiert, und weiß ganz gut, daß es einen Zusammenhang von Inhalt und Form eines Gedichtes gibt; aber diese Frage und dieses Wissen haben nichts miteinander zu tun. Wenn aber geantwortet wird, Dichter A kritisiere Unehrlichkeit, dann wird der Zusammenhang durch Rückwärtsfragen greifbar. — Nun zeigt sich, daß auch der Unterschied von x? und R? nicht bloß »inhaltlicher« Art ist. Das Vorwärts- und Rückwärtsfragen ist ebenso Struktur, nur eine andere, hinzutretende, wie die Konstellation der Frage als solche. Es variiert nämlich, ebenso wie diese, unabhängig von der Bestimmtheit seiner Gegenstände. Ein und dieselbe Annahme, z. B. »16 Uhr«, kann in dem einen Fragespiel unbekannter Gegenstand sein, nach dem mit dem x? der ersten Frage gezielt wird, und in dem anderen gewußte, aber für die erste Frage nicht verwendete Annahme: »Wann fährt dein Zug?« »Um 16 Uhr.« Es ist in dem anderen Fragespiel Annahme, die erst für die zweite Frage verwendet wird: »Warum bist du dann nicht längst auf dem Bahnsteig?« Der Übergang von der Antwort zur Frage ist also ein Übergang von der Frage zur Antwort, der zurückfragt, um wieder vöranzufragen. ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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Aber was ist das, worauf dieses Zurückfragen zielt? Es ist die Gesamtheit der Annahmen, die wir wissen; vor allem Fragen, auch vor der ersten Frage. — Die Frage ist niemals ein Erstes, weil ihr immer schon diese Annahmen vorausgehen, von denen sie eine oder einige auswählt, um mit ihr oder mit ihnen nach einer unbekannten Sache zu fragen. Wir wollen sie als Ro bezeichnen. Hier muß hinzugefügt werden, daß nicht nur die Frage kein Erstes ist, sondern daß es auch so etwas wie eine »erste Frage« nicht gibt, die unmittelbar aus Ro hervorginge, ohne Vermittlung durch Antworten. Das Kind, das seine erste Frage ausspricht, reagiert damit bereits auf Antworten der Eltern. Wo ich selbst von ersten Fragen spreche, geschieht dies in der Künstlichkeit von Modellen, die sich, wie alles NachDenken, von der zu reproduzierenden Realität dadurch eben unterscheiden, daß sie einen Anfang haben. — Ro ist der »Diskurs«, in dem sich unser Denken bewegt. Wie man weiß, denken wir in bestimmten Diskursen, deren Grenzen sich nicht ohne weiteres überschreiten lassen; ganz sicher nicht dadurch, daß wir ihre »Elemente erschöpfen«, denn sie sind unerschöpflich und doch begrenzt. Hier wurzelt Althussers Behauptung, alles, was jenseits der Grenzen einer Problematik liege, sei für die in ihr Denkenden unsichtbar und unerreichbar. Ich behaupte umgekehrt, daß die Regeln des einfachen Fragespiels im Prinzip ausreichen, um jeden »Diskurs zu entmachten«. Aber hier ist lange noch nicht der Ort, das zu begründen. Es bleibe vorerst der Phantasie des Lesers überlassen, ob er sich unter Ro den abgeschlossenen Diskurs vorstellen mag, aus dem niemand herausfindet, oder den unerschöpflichen Wechsel von Diskurs zu Diskurs. — Auf der gegenwärtigen Modellstufe genügt es zu wissen, daß Ro, die Menge aller gewußten Annahmen, Voraussetzung von (R|, x?) und Fragegegenstand von (R2, R?) ist. Der Wechsel von Vorwärts- und Rückwärtsfragen erhöht wesentlich die Kapazität des Erkennens. Beim obigen Beispiel der Lehrerfragen sieht es so aus, als ob erste und zweite Frage immer schon vorab formulierbar wären, vom Lehrer aber nur schrittweise bekanntgegeben würden. Das wird auch häufig so sein. Das Stellen mehrerer Fragen kann aber auch zur Lösung der Aufgabe dienen, alle Annahmen aus Ro zu ermitteln, die zu einem intendierten Fragegenstand x? »passen« und deshalb in das Fragen nach ihm eingehen sollten. Es mag sein, daß diese Aufgabe auf dem Weg der Konstituierung einer Frage nicht lösbar ist: man mag bereits erkennen können, daß mittels R\ gefragt werden muß, aber der Zusammenhang von x? und R3 mag dabei gänzlich unklar sein, obwohl R3 als solches bekannt ist. Sobald nun die Antwort (Rj, R2) vorliegt, kann die Erkenntnissituation derart verwandelt sein, daß auf einmal der Zusammenhang von R2 mit R3 (nämlich die Beantwortbarkeit einer mit R2 konstruierten Frage durch R3), damit auch von R\ mit R3 und schließlich von R3 mit x? hervortritt. — Und gerade diese Situation ist in den von Galilei und von Marx vollzoARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
Die Semantik des Fragespiels und die Grenzen der Aussagenlogik genen Revolutionen aufgetreten und tritt wahrscheinlich in jeder wissenschaftlichen Revolution auf. Beide hatten es mit einem Ro zu tun, das eine in sich widersprüchliche Struktur aufwies. Galilei hatte platonische und aristotelische Annahmen zur Interpretation seines Fragegenstandes heranzuziehen, aber es war unmöglich, beides gleichzeitig zu tun. Ebenso ging es Marx mit den ökonomischen Theorien von Smith und Ricardo, an die er anzuknüpfen hatte. Beide, Marx wie Galilei, begannen daher mit einer selektiven und einseitigen Fragestellung (Rj, x?) — wenn wir unter R\ hier keine einzelne Annahme verstehen, sondern ein ganzes Gefüge von Annahmen, das jedoch nur einen Teil von Ro ausschöpft —, wurden aber durch die so erzielbare und erzielte Antwort (nicht Rj, sondern R2) imstandgesetzt, auch noch den anderen für die Interpretation von x? relevanten Teil von Ro in ihren Frageprozeß einzubeziehen. — Es lassen sich aber auch nichtrevolutionäre und zugleich mehr mikrologische Beispiele anführen. Z. B. werden die meisten Kriminalfälle Hercule Poirots durch den Umstand in die Länge gezogen, daß bestimmte Spuren erst dann als Spuren sichtbar werden — in den Frageraum rücken —, wenn die Frage nach den Verdächtigen und der Struktur ihrer Tat eine bestimmte Beantwortung gefunden hat. »An sich« sind sie aber von vornherein sichtbar, nur gelten sie zunächst nicht als Spuren. Der Hinweis auf Marx und Galilei führt zugleich auf die Frage, ob sich Modifikationen in der Struktur des Übergangs von der Antwort zur Frage ergeben, wenn die Antwort widersprechend ist. Das ist tatsächlich der Fall. Gerade weil die widersprechende Antwort (teilweise) außerhalb des Frageraums der zu ihr führenden Frage liegt, kann sit unmittelbar, ohne den Umweg über die Suche nach geeigneten zusätzlichen Satzradikalen, in eine neue Frage nach x? transformiert werden. Diese Möglichkeit besteht natürlich nur deshalb, weil die Suche nach zusätzlichen Radikalen hier schon vorher aufgenommen und abgeschlossen wurde: schon beim Übergang von der Frage zur Antwort*. Mit anderen Worten: wo wir es mit einer widersprechenden Antwort zu tun haben, schließt der Übergang von der Frage zur Antwort selbst schon den Übergang von der Antwort zur Frage ein. Wir haben diesen Vorgang bisher als »Umkehrung der Fragerichtung« charakterisiert, können ihn jetzt jedoch in einem mehr technischen Sinn begreifen. Wenn eine Frage (Rj, x?) zu keiner subsumtiven Antwort führt, was geschieht dann? Es wird der Vorgang, Ri aus Ro zum Zwecke der Befragung von x? auszuwählen, rückgängig gemacht und eine alternative Auswahl angestrebt. Diese Neuauswahl folgt insofern dem Schema, das bei allen Übergängen von Antworten zu Fragen wirksam ist, als auch hier mit einem Radikal nach einem Zusatzradikal gefragt wird. Jedoch wird nicht mittels eines R2 gefragt — das Problem besteht ja gerade darin, daß ein solches nicht hat geantwortet werden können und folglich nicht für den Fragenden existiert —, sondern die Erkenntnis, daß sich mit Rj nicht fraARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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gen läßt, muß für die neuerliche Frage ausreichen. Statt (R2, R?) wird also hier gefragt: (nicht Ri, R?); so läßt sich (nicht Rj, sondern R2) antworten. — Wenn ich im vorigen Abschnitt davon gesprochen habe, es sei, um den Erkenntnissinn eines Fragespielwiderspruchs auszuschöpfen, notwendig, »sich auf den Standpunkt der Antwort zu stellen«, so lag in dieser Formulierung noch ein Rest von scheinbarem Voluntarismus, der an Ort und Stelle unvermeidlich war, weü sich die gesamte Realität der widersprechenden Antwort im dortigen Kontext des »Übergangs von der Frage zur Antwort« eben nur teilweise, nur zur einen Hälfte erfassen ließ. Jetzt, wo wir auch den gegenläufigen Übergang erfaßt haben, verschwindet dieser Schein. Es zeigt sich, daß der »Standpunktwechsel« überhaupt nicht für widersprechende Antworten spezifisch ist, sondern konstitutive Regel jedes beliebigen Fragespiels ist. Wo immer eine Frage gestellt wird, mag sie widersprechend oder nicht widersprechend beantwortet werden, muß der »Standortwechsel« schon vorausgegangen sein, denn die Frage muß selbst von einer Antwort hergeleitet, und das bedeutet u. a., es muß die Frage (R2, R?) gestellt worden sein. Die widersprechende Antwort bedient sich demgegenüber keiner neuartigen Struktur. Die Besonderheit der widersprechenden Antwort liegt nur darin, erstens daß mit nicht-R], statt mit R2 nach R gefragt wird, und zweitens — hierin schon impliziert — daß dies ein Rückwärtsfragen vor der Beantwortimg, statt nach einer gegebenen Antwort ist. Kurz, der Übergang von der Frage zur widersprechenden Antwort geschieht nicht sprunghaft, sondern komplex: in ihm überlagern sich ein Frage-Antwort- und ein Antwort-Frage-Übergang, zwei Prozesse, die bei nichtwidersprechenden Antworten nacheinander verlaufen und deshalb besser unterschieden und je für sich analysiert werden können. Ob sie sich jedoch überlagern oder nicht, ändert nichts an ihrer Rationalität. In der Form, nacheinander zu existieren, sind die beiden Übergänge offenbar Keimzelle einer ganzen Kette von Fragen und Antworten (»F-AKette«), die sich beliebig lange fortsetzen (oder auch zurückverfolgen) läßt, jedenfalls mindestens bis zur Ausschöpfung der Menge aller Annahmen RQ. Ich will die Keimzelle als solche, also den Transformationszusammenhang der beiden Übergänge, als Frage-Antwort-Sequenz bezeichnen (»F-A-Sequenz«). Wir können dann z. B. ein Teüstück der F-A-Kette betrachten, das aus n F-A-Sequenzen besteht. Bevor wir jedoch in dieser Betrachtimg fortfahren, ist es an der Zeit, nach dem Verhältnis von Fragespiel und Formallogik zu fragen, um es in allgemeiner Form zu klären.
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2.4 Frage-Antwort-Sequenz und Aussagenlogik Wenn das Wahre das Begründete ist, dann ist der Grund nicht wahr, noch falsch. Wittgenstein
Die Theorie der Logik, so formuliert Frege in einer frühen Schrift, habe die Gesetze zu formulieren, »nach denen ein Urteil durch andere gerechtfertigt wird, einerlei, ob jene selbst wahr sind« (1971, 24). Er bewegt sich hier noch in der klassischen, beispielsweise in Hegels »Wissenschaft der Logik« verwendeten Terminologie, die Logik als Gesetz des Denkens, noch nicht des Sprechens auszeichnet; so auch in dem folgenden Hinweis: »Die Lehre vom Begriff und vom Urteil dienen nur als Vorbereitung für die Lehre vom Folgern.« (ebd.) Später, als die Wendung zur Sprach-Logik — Aussagenlogik — vollzogen wird, heißt es: »Denken ist Gedankenfassen. Nachdem man einen Gedanken gefaßt hat, kann man ihn als wahr anerkennen (urteilen) und dieses Anerkennen äußern (behaupten)« (S.74). In der vollendeten Fregeschen Logik, die Grundlage des heutigen Logik-Verständnisses ist, wird nur noch zwischen Gedanke und Behauptung unterschieden/Jeder wissenschaftliche Satz ist nach Frege eine Behauptung — dies unterscheidet ihn vom dichterischen Satz —, d. h. ein Satz, der sagt, daß der in ihm ausgedrückte Gedanke wahr sei. Die Logik handelt vom Wahrheitsaspekt in den Beziehungen zwischen Behauptungen. Frege kann daher auch die Formulierung gebrauchen, der Logik komme die Aufgabe zu, »die Gesetze des Wahrseins finden« (1967, 343). Wenn fortan von »Logik« die Rede ist, ist die von Frege und in der Nachfolge Freges beschriebene Logik gemeint. Alternative Entwürfe lasse ich außer acht, obwohl sie parallel zu dem, was ich selbst auf den folgenden Seiten versuche, die »Zweiwertigkeit« dieser Logik angreifen, d. h. den Umstand, daß es in ihr nur wahr und falsch und »nichts Drittes« gibt. Aber wenn z. B. Lorenzen zu diesem Zweck Dialogregeln konstruiert, die die Niederlage des »Proponenten« herbeiführen, sobald er sich des Tertium non datur bedient, so kann ich aus mehreren Gründen nicht folgen. Erstens könnte man, wie Lorenz (1961) gezeigt hat, auch die Fregesche Logik durch geeignete Regelveränderung in einem Dialogspiel verankern, weshalb Lorenzens Ansatz als Willkürkonstruktion erscheint, obwohl er seinerseits der Fregeschen Logik Konventionalismus vorwirft. Zweitens schüttet ein Ansatz wie der von Lorenzen das Kind mit dem Bade aus, wenn er das Tertium non datur aufweicht oder verwirft, statt zu sagen, wo man es gebrauchen kann und wo nicht, d. h. statt die Reichweite der logischen Regeln zu erkennen. Drittens ist er umgekehrt zu unkritisch, wenn er wie Frege bloß Behauptungen untersucht. Es klingt zwar zunächst sehr sympathisch, wenn man hört, seine Logik nehme »explizit auf eine Gemeinschaft Bezug«, insofern als sie »jeweils nur durch mindestens zwei Handelnde begründet werden« könne (Klüver 1971,102). Aber es gibt noch Humaneres, als das Implizite zu explizieren: man könnte versuchen, die »Gemeinschaft« der Selbstbehauptung und des Kampfsports — wir sind ihr schon bei Habermas begegnet — in eine der Frage- und Antwortbereitschaft zu überführen. ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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1. Die Fregesche Logik handelt von Behauptungen. Behauptungen aber, das hat meine ganze bisherige Erörterung gezeigt, sind kein elementares gedankliches und sprachliches Phänomen. Bevor etwas behauptet werden kann, muß erst einmal gefragt und geantwortet worden sein. Der »in ihr ausgedrückte Gedanke«, von dem de Behauptung sagt, daß er wahr sei, ist Transformationsprodukt der Satzradikale einer Antwort. Diese Vorgeschichte einer Behauptung als solche mag-gleichgültig erscheinen und ist es auch, wenn es darum geht, die Wahrheit oder Falschheit eines »geäußerten Gedankens« festzustellen. Jedoch geht es in der Logik nicht um Feststellung — etwa durch empirische Kontrollen —, sondern um Übertragung des Wahrheitswerts. Von der Beziehung zwischen Behauptung und Gegenstand wird gerade abstrahiert, dafür hat man es stets mit mehreren Behauptungen zu tun, die in eine Beziehimg zueinander treten. Ob hier die Vorgeschichte der Behauptung ebenso gleichgültig ist, ist sehr fraglich. Es fängt damit an, daß mehrere Behauptungen samt der logischen Problematik ihrer Wahrheitsbeziehungen gar nicht existieren würden, wenn Behauptungen keine Vorgeschichte hätten. Betrachten wir den einfachsten überhaupt denkbaren Fall der Existenz mehrerer Behauptungen, nämlich die Existenz zweier Behauptungen innerhalb eines F-A-Übergangs, und ihre Wahrheitsbeziehungen. Dazu müssen wir annehmen, daß aus dem Übergang solche Behauptungen herausgesetzt und verselbständigt sind, was sich, wie gezeigt, nicht von selbst versteht, aber stets möglich ist. Handelt es sich also um einen Übergang von der Form B1-F1-A1-B2, so müssen wir von den hierin vorkommenden Fragen und Antworten abstrahieren und uns lediglich für die abstrakt gegeneinandergestellten B\ und B2 interessieren. Während man nun bei einer isoliert herausgegriffenen Behauptung meinen kann, es komme aufs gleiche heraus, der Einfachheit halber anzunehmen, daß sie gar keine Vorgeschichte habe, ist es diesmal nicht möglich, eine solche Annahme zu machen, weil sonst B\ und damit das ganze Problem, das auf spezifische Weise gelöst werden soll, verschwinden würde. Hier handelt es sich vielmehr darum, vom Umwandlungsprozeß durch Fragen und Antworten abzusehen, obwohl er konstitutiv ist, und sich mit der Betrachtung von etwas zu beschäftigen, das dann immer noch übrigbleibt. Was ist aber dieses Übrigbleibende? Kehren wir, um dies zu klären, zum Beispiel der Frage nach der Uhrzeit zurück. In dem Satzradikal dieser Frage ist die Annahme der Existenz einer begrenzten Menge möglicher Uhrzeiten enthalten. Da es am Problem der logischen Beziehungen nichts ändert, ob zwei Uhrzeiten möglich sind oder 24 mal 60 mal 60, will ich die Struktur dieser Annahme, verselbständigt zur eigenen Behauptung B\, einfach mit »es existiert p oder q« angeben. Von hier aus haben wir nun ohne Betrachtung irgendwelcher Zwischenglieder auf die Behauptung B2 überzuspringen: es ist 16 Uhr spät, also »es existiert q«. Die Beziehung von B\ und B2 ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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logisch betrachtet heißt nun: fragen, inwiefern B2 und B\ auseinander »folgen«, ohne daß man dazu ihre Beziehung zum Gegenstand (etwa zur »wirklichen Uhrzeit«) kennen müßte. Wir finden zwei solcher Beziehungen. Die eine ist, daß B2 zu Bj nicht in Widerspruch steht, d.h. wenn Bj wahr ist, ist die Wahrheit von B2 möglich. Die andere ist, daß wenn B2 wahr ist, die Wahrheit von B\ tautologisch folgt, also nicht nur möglich, sondern tatsächlich gegeben ist. Diese beiden Beziehungen kann man in der Tat auch dann erkennen, wenn man nicht nur den Gegenstand, sondern auch das Fragespiel, das zwischen Bi und B2 vermittelt, außer Betracht läßt. Das soll nicht besagen, daß man sie erkennen könnte, wenn es keine Fragespiele gäbe, in denen das Konzept des Zueinandergehörens von Annahmen bereits auf vorlogischer Ebene einen Sinn erhält, von dem innerhalb der Logik bereits Gebauch gemacht, der hier Objekt der Präzisierung werden kann. Aber unnötig erscheint es, gerade das bestimmte Fragespiel zu kennen, dem B\ und B2 angehören. Man kann sich ja vorstellen, daß der Ubergang von Bi zu B2 auf ganz andere Weise, unter Einschaltung ganz anderer Fragespiele vollzogen wurde als ich erfunden habe, oder gar daß auch auf der Fragespielebene vielmehr ein Übergang von B2 zu B\ vollzogen wurde, das würde an den logischen Beziehungen nicht im mindesten etwas ändern. Deshalb ist jenes einfachste Modell der Beziehungen zwischen zwei Behauptungen auch nicht so zu verstehen, daß je zwei Behauptungen meistens oder auch nur in der Regel einem F-A-Übergang oder benachbarten F-AÜbergängen angehören müßten. Ich nehme lediglich an, daß alle Behauptungen, die überhaupt existieren — bis auf einen teils aus quantitativen Gründen, teils aus Gründen seiner geringen Relevanz für die Wissenschaft vernachlässigbaren Rest —, auf sei es auch verschlungene Weise durch FA-Übergänge miteinander zusammenhängen, daß dieser Zusammenhang für ihre Existenz konstitutiv ist und daß es daher erlaubt ist, ihn auch in einem solchen Modell zu repräsentieren, das lediglich der Feststellung der Wahrheitsbeziehungen zwischen Behauptungen dient. Es mag sich dann immer noch zeigen, daß diese Repräsentanz innerhalb des Modells zu nichts führt. Tatsächlich zeigt sich aber etwas anderes. Wenn zum Zusammenhang zwischen Behauptungen der Zusammenhang durch F-A-Übergänge notwendig gehört, dann erhalten die beiden Verlaufstypen von F-AÜbergängen, nämlich ihr Resultieren in der subsumtiven oder aber in der widersprechenden Antwort, denselben Status von Notwendigkeit. Eine Theorie der Wahrheitsbeziehungen zwischen Behauptungen, die nur die erste Hälfte dieses Zusammenhangs unter ihrem spezifischen Gesichtspunkt betrachten wollte, könnte nicht mehr mit Recht behaupten, sie wollte den Zusammenhang zwischen Behauptungen unter ihrem spezifischen Gesichtspunkt betrachten. Wie steht es um die Logik, wenn widerspreARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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chende Antworten ins Spiel kommen? Eine widersprechende Antwort auf eine Frage, in der die Behauptung »p oder q existiert« impliziert ist, würde nach unseren bisherigen Überlegungen in die Behauptung münden: »Nicht (p oder q), sondern r.« Zugleich haben wir angenommen, daß (p oder q) »zum Teü« in r eingeht, wobei r das Prinzip des Teilens setzt; r übernimmt p'q', das aber mit (p oder q) nicht kommensurabel ist. Im Beispiel der Uhrzeit-Frage: r übernimmt Gegenwart und Sich-zeigen als bewahrenswerte bzw. neutrale Momente aus der »vulgären Zeit«, löst aber ihren Zusammenhang auf und trennt sie vom Moment der Beständigung; diese Unterscheidungen sind mit der Differenzierung möglicher Stellungen des Zeigers auf dem Zifferblatt nicht kommensurabel. Man sieht, daß hier zwischen der ersten und der zweiten Behauptung keine logischen Beziehunge existieren außer einer, die gerade unter dem Aspekt der Wahrheitsübertragung, der das spezifische Interesse der Theorie der Logik ist, in die Irre führt. Diese Beziehung besteht darin, daß B2 falsch ist, wenn man die Wahrheit von B\ unterstellt. Aber müßte dann nicht umgekehrt Bi, nach aller logischen Erwartung, falsch sein, wenn man die Wahrheit von B2 unterstellt? Nun besagt B2 aber, daß Bi teilweise wahr ist. Auf diese Art entsteht, unter logischem Gesichtspunkt, eine allem Anschein nach unauflösliche Paradoxie. Mit der Logik geht es gewissermaßen erst dann weiter, wenn man sich auf den Standpunkt der Behauptung »es existiert r« gestellt hat und nun innerhalb dieser neuen Behauptung die Wahrheitsbeziehung zwischen r einerseits und p'q' andererseits betrachtet. Es ist jedoch nicht möglich, auf logischem Wege einen Zusammenhang zwischen p', q' einerseits und der Behauptung B\ andererseits herzustellen. Und das, obwohl p' und q' innerhalb der Behauptung B2 gerade das sind, was von B\ übriggeblieben ist. — Es gibt natürlich einen einfachen Weg, die Paradoxie auf logischem Wege zu schlichten, der in der Auskunft besteht: »in logischer Hinsicht sind B\ und B2 miteinander unvereinbar, darüber hinaus läßt ach nichts logisch Klares sagen, und worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen«. Diese Lösung ist auch durchaus akzeptabel, aber nur dann, wenn sie mit dem Eingeständnis verbunden wird, daß Logik keine Theorie der Wahrheitsübertragung zwischen den Behauptungen ist. Es gibt offenbar Behauptungen, zwischen denen eine Wahrheitsübertragung stattfindet, die jedoch nicht logischer Natur ist Denn ohne Zweifel gibt es einen Zusammenhang zwischen p\ q' und p, q, auch wenn es kein logischer ist, und sofern man annimmt, daß p\ q' wahr sind, kann es nicht sein, daß p, q schlicht das Gegenteil von wahr, also falsch sind, p\ q' sind zwar keine distinkten Teile von p, q, die so fertig in die Behauptung B2 übernommen werden, vielmehr werden sie erst von r produziert; aber diese Produktion besteht in nichts anderem als darin, daß »der wahre Kern aus B\ übernommen wird«. Die Logik ist also an Voraussetzungen gebunden. Da, wo sie aufhört, ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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die Wahrheitsbeziehungen zwischen Behauptungen zu klären und für sie als Gesetz zu gelten, finden wir den Regelsatz des Fragespiels vor. Die Voraussetzungen, an die die Logik gebunden ist, lassen sich gerade mittels dieses Regelsatzes angeben. Zwischen Behauptungen B\ und B2 bestehen dann rein logische Wahrheitsbeziehungen — d.h. Wahrheitsbeziehungen, die sich durch Logik vollständig erfassen lassen —, wenn B2 aus einer substitutiven Antwort transformiert wurde, die Glied eines F-A-Übergangs oder einer Kette oder eines verschlungenen Netzes von F-A-Sequenzen ist, das mit Bj anfängt. Alle Behauptungen B2, die aus widersprechenden Antworten transformiert wurden, setzen die Logik außer Kraft. Dies bedeutet mit anderen Worten, daß die Regel »tertium non datur«, Grundpfeiler der Fregeschen Logik, falsch ist bzw. nur unter der genannten Voraussetzung gilt. Es stimmt nicht, dqß B2 entweder wahr oder falsch ist, richtig ist stattdessen, daß nur dann zwischen B\ und B2 rein logische Wahrheitsbeziehungen bestehen, wenn Bj entweder wahr oder falsch ist. Der eben analysierte Fall, in dem B\ im nachhinein als »etwas Falsches mit wahrem Kern« erscheint, ist ein Tertium Datur. Es ist zugleich das einzige Tertium Datur, das im Umkreis von Logik und Fragespiel und damit, soweit ich sehen kann, im Umkreis von Wahrheitsbeziehungen überhaupt, möglich ist. Deshalb kann ich meine Behauptung über die Wahrheitsübertragung zwischen Behauptungen — diesmal: Behauptungen aller Art — in der Form eines »quartum non datur« vortragen: eine Behauptung Bj ist entweder eindeutig wahr oder eindeutig falsch oder sie ist aus dem Radikal einer falsch gestellten Frage gebildet worden; eine vierte Möglichkeit gibt es nicht. (Es müßte denn neben Logik und Fragespiel noch eine weitere, mir aber derzeit gänzlich unsichtbare Dimension rationalen Denkens existieren.) Das Kriterium, um eine Frage als falsch gestellt zu bezeichnen, ist, wie erinnerlich, mit dem Wechsel von dieser Frage zu ihrer Antwort gegeben, falls es sich um eine widersprechende Antwort handelt. — Man kann sich auch so ausdrücken, daß innerhalb der Logik das Tertium non datur gilt. Aber diese Regel ist dann selber ableitbar innerhalb einer Theorie des Fragens und Antwortens; sie erscheint als Reduktion des Quartum non datur, die unter gewissen Umständen zulässig ist. Es sei auch noch einmal unterstrichen, daß das Fragespiel nicht nur, im Unterschied zur Logik, sämtliche Fälle von Wahrheitsübertragung zwischen Behauptungen umgreift, sondern daß darüber hinaus die Problematik der Wahrheitsübertragung als solche nur einen Teilaspekt dessen ausmacht, was sie umgreift. Denn Behauptungen sind nur ein besonderes, nicht einmal ein konstitutives Transformationsprodukt innerhalb von F-A-Sequenzen. Ich habe mit den letzten Überlegungen gezeigt, daß die Logik das Fragespiel voraussetzt und aus ihm abgeleitet werden muß. Erstens ist ihre Geltung auf einen Bereich eingeschränkt, in dem die Geltung des Fragespiels nicht eingeschränkt ist. Zweitens stellt sich heraus, daß auch der BeARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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reich, für den sie gilt, nämlich eine bestimmte Klasse von Behauptungen, nicht voraussetzungslos existiert, sondern als Abstraktionsprodukt aus Fragespielbegriffen erst entsteht. Die Ableitung als solche ist damit noch nicht zu Ende, da ich noch nicht alle logischen Grundbegriffe auf diese Weise im Kontext des Fragespiels interpretiert habe. Bevor wir hierin fortfahren, sei jedoch eine Zwischenbemerkung über das Verhältnis der gegenwärtigen Überlegungen zu meinem Problemausgangspunkt eingeschoben. Wir waren von der Frage der Rationalität wissenschaftlicher Revolutionen, im Übergang vom alten zum neuen Paradigma, ausgegangen. Diese Frage können wir auf der gegenwärtigen Modellstufe sehr einfach beantworten. Wissenschaftliche Revolutionen sind dadurch charakterisiert, daß widersprechende Antworten in ihnen eine zentrale Rolle spielen. Das bedeutet, daß es Punkte in ihrer Entwicklung gibt, in denen die logischen Beziehungen aufhören. Aber da, wo die logischen Beziehungen aufhören, wirkt das idealisierte Fragespiel weiter, welches im übrigen keine äußerliche Alternative zur Logik ist, sondern deren eigene notwendige Voraussetzung. Infolgedessen verlaufen wissenschaftliche Revolutionen ration Nun ist zu erwarten, daß diese Lösung auf Widerstand stößt, weil es scheinen mag, daß sie zu einfach ist. Aber dieser Schein wäre nur ein Nebenprodukt jener falschen Perspektive, aus der heraus das Rationalitätsproblem bisher, und immer vergeblich, zu lösen versucht wurde. Z.B. ist der Lösungsversuch von Stegmüller/Sneed außerordentlich komplex, und zugleich ist er, wie ihm mehrfach nachgewiesen wurde, an seiner selbstgesetzten Aufgabe gescheitert (vgl. Kapitel 6.2). Nicht nur das Scheitern, sondern auch die Komplexität des Herangehens sind Konsequenz der Aufgabenstellung, die —- wie auch alle anderen Diskussionsbeiträge in der Popper-Kuhn-Kontroverse — Rationalität mit Logik identifiziert und deshalb danach streben muß, die Ungebrochenheit logischer Beziehungen durch die wissenschaftliche Revolution hindurch nachzuweisen, wenn sie deren Rationalität nachweisen will. Der Versuch von Stegmüller/Sneed geht von der Erwartung aus, daß ein solcher Nachweis vielleicht doch gelingen könnte, wenn man nur das Potential der Logik-Theorie bis auf den Grund und bis in die feinsten Verästelungen hinein ausschöpft; er verhält sich wie ein Diktator, der das Arsenal seiner Machttechniken immer mehr auffüllt und verfeinert in der Erwartung, das Endresultat werde sein, daß die Unterworfenen der Herrschaft freiwillig zustimmen. Und doch kommt schließlich jene Aporie heraus, die wir mit unseren so einfachen begrifflichen Mitteln auch beschreiben können; die Komplexität des logischen Herangehens erweist sich als blanker Scharfsinn und, soweit es um das Rationalitätsproblem geht, als überflüssig. Das Rationalitätsproblem läßt sich nicht lösen, wenn man nicht die Möglichkeit erwägt, daß die Lösung höchst einfach sein könnte. ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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Ich verwende die Begriffe »Ableitung« und »Rationalität« wie folgt. Eine Theorie B ist aus einer Theorie A abgeleitet, wenn B mit A logisch verträglich ist, wenn B Begriffe und/oder Aussagen unerklärt voraussetzt — um ihnen weitere hinzuzufügen oder um die vorausgesetzten selbst zu modifizieren, »weiterzuentwickeln« —, die in A Resultat sind, und wenn die Explikanda von B »Grenzfälle« der Explikanda von A sind. — Daß mein Versuch, die Logik aus dem Fragespiel abzuleiten, mittels der Logik unternommen wird, begründet keinen Zirkelschluß. Es zeigt nur einen Unterschied zwischen meinem darstellenden und dem von mir dargestellten Fragespiel, der in letzterem selbst Erklärung findet. Im Fragespiel können widersprechende und subsumtive Antworten gegeben werden; bei Beschränkung auf subsumtive Antworten sind Fragespiel und Logik verträglich; und mein darstellendes Fragespiel erteilt nur subsumtive Antworten. — Eine Tätigkeit, ob Denken oder Handeln, ist rational, wenn ihr angebbare Regeln immanent sind, wenn es Kriterien für ihre Konsistenz und Kontinuität gibt (d.h. auch: es müssen sich Fälle angeben lassen, die nach Maßgabe der Kriterien inkonsistent und diskontinuierlich sind) und wenn es möglich ist, mittels der Kriterien eine Kontinuität aufzuweisen zwischen dem Begriff von Rationalität, den sie selbst unterstellen, und seinem sonst üblichen Gebrauch.
2.1ndessen ist meine Lösung noch nicht vollständig, weil die Ableitung der Logik aus dem Fragespiel noch nicht stringent genug ist. Bisher berühren sich Logik und Fragespiel in meiner Erörterung nur darin, daß auf beiden Seiten Behauptungen vorkommen. Die Nennung zweier Behauptungen »es existiert p oder q« sowie »es existiert q« jedoch, die für meine Argumentation konstitutiv war, nimmt Formulierungen auf, die den Fragespiel-Kategorien äußerlich sind; auch die Behauptung, aus »q« folge »p oder q«, ist äußerlich aufgenommen. Es kann bisher scheinen, daß die Logik nur in bestimmten Hinsichten das Fragespiel voraussetzt, in anderen Hinsichten jedoch ebenso grundsätzlich ist wie das Fragespiel. Um diesen Schein zu beseitigen, müssen wir die genannten Formulierungen — eventuell ergänzt durch andere, so daß zusammen ein hinreichendes Modell der logischen Grundbegriffe entsteht — auf ihre innere Struktur hin untersuchen und sie auf diesem Wege ebenfalls aufs Fragespiel zurückführen. Nun ist die Behauptimg, aus »q« folge »p oder q«, in der Tat schon sehr komplex. Zunächst läßt sich »p oder q« auflösen in »nicht (nicht p und nicht q)«, d.h. mittels zweier logischer Wörter ausdrücken, die in dem Sinne elementar sind, daß sämtliche anderen logischen Wörter als bloße Abkürzungen für ihre Komplexionen rekonstruiert werden können. (Die Möglichkeit, eine gleichwertige Rekonstruktion mittels der Wörter »oder« und »nicht« vorzunehmen, lasse ich außer Acht.) Insbesondere läßt sich auch die Folgebeziehung von »q« und »p oder q« selbst auf diese Weise rekonstruieren; sie lautet dann: »'nicht (nicht (nicht (nicht p und nicht q)) und q)' ist wahr«. Was die Komplexion von nicht und und in derartigen Ausdrücken angeht, ist es offenbar möglich, sie als solche unberücksichtigt zu lassen und sich auf die Ableitung der einfachsten Fälle zu beschränken, das wären die Behauptungen »'p und q* ist wahr« sowie »'nicht p' ist ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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wahr«. Diese Behauptungen zerfallen aber selbst wieder in die Bestandteile »p und q« bzw. »nicht p« einerseits und »ist wahr« andereseits. Wir können jetzt rückblickend feststellen, daß wir den Bestandteil »ist wahr« als solchen bereits aus Fragespielkategorien abgeleitet haben, denn er ist es, der den Behauptungscharakter für sich genommen zum Ausdruck bringt. Sehen wir uns die Restbestandteile an, die Frege als »Gedanken« bezeichnen würde. Genauer handelt es sich im einen Fall um ein Gefüge aus zwei Gedanken p bzw. q, die durch ein logisches Wort »und« verbunden sind, im andern Fall um einen, durch ein logisches Wort negierten, Gedanken. Jedenfalls haben wir es in beiden Fällen einerseits mit Gedanken, andererseits mit logischen Wörtern zu tun. Aber auch damit sind wir noch nicht auf der elementarsten Ebene angekommen, denn was ist ein Gedanke? Wenn wir Frege folgen, bringt er, wiederum in seiner einfachsten Form genommen, die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer wohldefinierten, d.h. »scharf begrenzten« Klasse von Objekten zum Ausdruck, wobei letztere als Begriff bezeichnet wird. Dieser »Gedanke«, auf dem sich das gesamte System der Logik erhebt, hat also die Form »S ist ein P«, wobei S ein Name und P eine Objektklasse ist, für die das Tertium non datur gilt, denn es muß gewährleistet sein, daß jedes Objekt entweder ein P ist oder nicht. Nur dann wird man später Gesetze über die Wahrheitsübertragung zwischen Behauptungen formulieren können, die derartige Gedanken behaupten. Kurz, wir stoßen innerhalb der Theorie der Logik auf drei Arten von Undefinierten, grundlegenden Ausdrücken, wobei wir eine dieser Arten bereits im Fragespiel-Kontext interpretiert haben; nämlich die Ausdrücke »ist wahr«, »und, nicht« sowie »S ist ein P«, wobei P durch seine »scharfe Begrenztheit« charakterisiert ist. Zuletzt wäre von diesen Ausdrücken, wenn man der Fregeschen Logik-Begründung folgt, selbst wieder einer als primär und die anderen als sekudär auszuzeichnen. Frege deutet nämlich die Struktur einer Behauptung analog zur Struktur eines Gedankens, indem er in dem Satz »'S ist ein P' ist wahr« die Behauptung sieht, daß das Individuum 'S ist ein P' zu der wohldefinierten Objektklasse »Wahrheit« gehört. Es gilt dann auch analog, daß jedes Individuum, d.h. jeder Gedanke dieser Klasse entweder angehört oder nicht, also entweder wahr oder falsch ist; tertium non datur. So liegt also der Schlüssel zum Verständnis des Ausdrucks »ist wahr« im Verständnis des Ausdrucks »S ist ein P«. Der Ausdruck »und« setzt sogar beide anderen Ausdrücke schon voraus, denn die logischen Wörter werden eingeführt als Abkürzungen für die Gesamtheit möglicher Übertragungen des Wahrheitswerts von je zwei einzelnen Gedanken auf den Wahrheitswert ihres »Gefüges«, d.h. einer Behauptung, in der sie beide enthalten sind. So wird »und« eingeführt als Abkürzung für den Vorgang, daß die Wahrheit von zwei Behauptungen A, B sich überträgt auf die Behauptung »'A, B' ist wahr«. Freilich läßt sich auf solche Weise das »nicht« nicht einführen: das »nicht« kann nur in eiARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
Die Semantik des Fragespiels und die Grenzen der Aussagenlogik
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nem Ausdruck eingeführt werden, der außerdem das »und« enthält (»nicht (A und B)« ist nur falsch, wenn A und B wahr sind). Die Möglichkeit, einen Gedanken zu negieren, ist also vor allen Wahrheitsübertragungstabellen gegeben und geht in sie bereits fertig ein, während die Möglichkeit, zwei Gedanken durch »und« zu verbinden, innerhalb der Wahrheitsübertragungstabellen definiert werden kann. Aber die Negation des Gedankens setzt natürlich den Gedanken voraus, der sich also auch hier als grundlegend erweist. Wenn wir die Grundlage dieser Grundlage als äußerste Abstraktion betrachten, von der aus stufenweise zum Konkreten fortgeschritten werden muß, so erhalten wir mithin folgende Begründungskette. Die allgemeinste und abstrakteste Voraussetzung ist mit dem Konzept der »scharfen Begrenztheit« gegeben. Ist es akzeptiert, läßt sich das Prädikat P in dem Ausdruck »S ist ein P« so definieren, daß das Tertium non datur gilt, wozu freilich bereits auch die Negation von P — oder was aufs Gleiche hinauskommt, von »S ist ein P« — unterstellt sein muß. Die nächste Stufe ist die Einführung des logischen Wahrheitsbegriffs in Analogie zur Einführung von P, jedoch auf einer Metaebene. Für das Weitere muß dann die Existenz zweier Gedanken unterstellt werden. Mit den Voraussetzungen zweier Gedanken, des logischen Wahrheitsbegriffs und der Negation lassen sich sämtliche logischen Wörter einführen. Sind diese auch gegeben, dann ist das Rüstzeug vorhanden, mit dem alle Gesetze der Wahrheitsübertragung formuliert werden können. Dieser letzte Schritt wäre erst im engeren Sinne als »Logik« zu bezeichnen, jedoch basiert er auf den vorausgegangenen Schritten und ist aus ihnen ableitbar. Für uns besteht nun die Aufgabe, diese Kette von Begründungen sowie in erster Linie ihren abstrakten Ausgangspunkt aus den vorher dargestellten Fragespiel-Kategorien abzuleiten. Es zeigt sich als erstes, daß der Ausgangspunkt der zur Logik führenden Begründungskette mit dem Ausgangspunkt des idealisierten Fragespiels identisch ist. Das Konzept der »scharfen Begrenztheit« charakterisiert nämlich ebensosehr den Begriff und die Funktion des idealisierten Frageraums, wie er Begriff und Funktion des Fregeschen Begriffs, der wohldefinierten Objektklasse P, charakterisiert. Ein Frageraum muß zwar keine scharfe Grenze haben, aber es ist nützlich, wenn er eine hat, weil dann klar hervortritt, ob eine Antwort subsumtiv, widersprechend oder sonst etwas ist. Es muß nicht gelingen, jede Frageraumgrenze so zu schärfen, daß man von ihr sagen kann, sie »sei scharf«, aber je schärfer sie ist, desto besser. Wittgenstein hat das Konzept der »scharfen Begrenztheit« verworfen; hier bereits distanziert er sich von Frege (undvon seiner eigenen Frühphilosophie). »Das ist wie: Eine unscharfe Begrenzung, das ist eigentlich gar keine Begrenzung (...) Aber ist das denn wahr?« (1977,75) In der Logik werde die Grenze, für ihren besonderen Zweck, künstlich scharf gemacht, alle anderen Sprachspiele arbeiteten »mit verschwommenen Rändern« (60). Er untersucht dann aber überhaupt keine »Ränder« von SprachARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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spielen, weder scharfe noch verschwommene. Wie könnte man »verschwommene Ränder auch anders untersuchen, als daß man sie »für den besonderen Zweck« der Untersuchung wie scharfrandige behandelt? Die fatale Folge des Wittgenstdnschen Zugriffs besteht darin, daß die Logik in ihrem Recht, ideale Sprachen zu konstruieren, noch bestärkt wird (66), während wir von den übrigen Sprachspielen nur »sagen sollten: dies Sprachspiel wird gespielt« (263). Dieses Idealisierungsverbot läuft auf Empirismus der Sprachspielbetrachtung hinaus und ist deshalb weiterhin für Wittgensteins Weigerung verantwortlich, an einer Äußerung Oberfläche, Satzradikale und deren Syntax zu unterscheiden (s.o.). Zwischen Äußerungen mit »verschwommen« bleibenden Rändern kann nämlich nicht nur kein logischer, sondern auch sonst kein stringent theoretischer Zusammenhang hergestellt werden, es kann nur, wie Wittgenstein folgerichtig schreibt, »gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen« aneinandergelagert werden (9). Es wird also bereits durch den Zugriff die Möglichkeit ausgeschlossen, daß wir einen Typ von Zusammenhang etwa zwischen Frage, Antwort und Behauptung entdecken, der, sagen wir, dem Zusammenhang von Körperfall, Ballistik und Planetenbahnen in der Newtonschen Physik oder dein Zusammenhang von Ware, Geld und Kapital in der Marxschen Politischen Ökonmie ähneln würde. — Über die Künstlichkeit der »scharfen Grenzen« braucht man nicht zu streiten. Auch beim Fragespiel sind es nur »besondere Zwecke«, für die man sie unterstellt beziehungsweise herbeiführt. Wir werden noch sehen, daß sie nicht nur die Ableitung verschiedener Äußerungsformen auseinander erleichtern, sondern auch ein Mittel der Erkenntnisbeschleunigung sein können, ähnlich wie sie in der Logik ein Mittel sind, die Erkenntnis zu präzisieren und zu koordinieren.
Von dem Frageraum der Uhrzeit-Frage in unserem Beispiel darf man wohl sagen, daß er scharf begrenzt sei; es war bei allen möglichen Antworten genau klärbar, ob sie sich innerhalb des Frageraums befanden (wie die Antworten »13 Uhr« und »16 Uhr«) oder nicht (wie die Antworten »es ist spät«, »blau« und »es wird 15 Uhr 59 gewesen sein«). Freilich zeigt sich, wenn wir Frageraum und Objektklasse P miteinaner vergleichen, sofort ein Unterschied. Für P gilt, daß jeder Gegenstand, der nicht Element von P ist, damit eo ipso als außerhalb Psituiert gilt; es wird weiter nichts über ihn gesagt, als daß er »nicht P« ist; es gibt hier zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zu P nichts Drittes. D.h. die Charakterisierung der Objektklasse P durch das Konzept der »scharfen Begrenztheit« wird unmittelbar dazu verwandt, die Regel des Tertium non datur einzuführen. »Der ungesättigte Teil eines Satzes, dessen Bedeutung wir Begriff genannt haben, muß die Eigenschaft haben, durch jeden bedeutungsvollen Eigennamen gesättigt, einen eigentlichen Satz zu ergeben; das heißt, den Eigennamen eines Wahrheitswertes zu ergeben. Dies ist die Forderung der scharfen Begrenzung des Begriffes. Jeder Gegenstand muß unter einen gegebenen Begriff entweder fallen oder nicht, tertium non datur.« (Frege 1971,90)
Und durch diese Regel wird auch das Konzept der Negation in bestimmter, nicht selbstverständlicher Weise ausgeprägt; von einem S sagen, daß es »nicht« P sei, heißt dieses S eindeutig außerhalb P situieren. Das »nicht« ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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erfüllt hier die Funktion, zwischen P und allen übrigen Begriffen eine Leere und Diskontinuität zu errichten und alle Gedankenoperationen auszuschließen, die diesen Graben etwa überlagern wollten; ferner handelt es sich um eine rein passive Negation, die einen Gedanken nicht auflösen, sondern nur verschlucken kann, die nichts hervorbringt, sondern sich in den Möglichkeiten erschöpft, absolut durchlässig oder absolut abstoßend zu sein. Daß dieser Negationsbegriff und seine andere Seite, das Tertium non datur, nicht zusammengenommen die implizierte andere Seite des Konzepts der »scharfen Begrenztheit« sind, ersieht man an dessen alternativer Verwendung für den Aufbau des idealisierten Frageraums. Hier gilt keineswegs, daß jedes Element entweder innerhalb oder außerhalb des Frageraums situiert ist, mag dieser auch, wie im Beispiel der Frage nach der Uhrzeit, noch so scharf begrenzt sein. Im Spiel des Fragens und Antwortens würde es nicht als korrekt gelten, die auf die Frage nach der Uhrzeit gegebenen Anworten »blau«, »die Sonne geht unter« und »es wird gewesen sein« als gleichwertige Negationen des Fragespiels anzusehen, an ihnen nur hervorzuheben, daß sie »nicht P« — d.h. nicht R\ — seien, so zu tun, als sei die Antwort »die Sonne geht unter« nur deshalb, weil sie eindeutig kein R2 ausdrückt, das ein Element von R\ ist, eine im gleichen Sinne außerhalb R[ situierte Antwort wie die Antwort »blau«. Würde das Fragespiel genauso funktionieren wie die Logik, dann müßte man unterstellen, daß auf eine Frage wie die nach der Uhrzeit immer nur Antworten wie »13 Uhr« und »blau« gegeben würden. Tatsächlich ist es aber so, daß gerade Antworten wie »blau« nach dem Sinn des Fragespiels irrelevant und vernachlässigbar sind, ganz im Unterschied zu den anderen Negationsformen, die wiederum von der Logik ignoriert werden. Kurz, im Fragespiel führt die Unterstellung der »scharfen Begrenztheit« von R\ zu keinem Tertium non datur und daher auch zu keinem Negationsbegriff, der durch das Tertium non datur geprägt wäre. Unter solchen Umständen können wir das logische »nicht« aus dem Negationsbegriff des Fragespiels wie folgt ableiten. Es gibt eine Negationsart im Fragespiel, die die Verkopplung von Negation und Tertium non datur beim logischen »nicht« vorwegnimmt, das ist das Verhältnis von subsumtiven und Fehlantworten zueinander. Wenn ich statt »'blau' ist eine Fehlantwort« sage: »blau ist nicht eine Uhrzeit«, habe ich das Wort »nicht« im Fragespiel-Sinne und zugleich im logischen Sinne gebraucht. 2.Eine logische Verwendung des Wortes »nicht« setzt voraus, daß die subsumtiven Antworten des Fragespiels in Behauptungen verwandelt werden. Solange z.B. »13 Uhr« und »16 Uhr« bloß Antworten sind, kann es gar keine Negationsbeziehungen zwischen ihnen geben. Werden die Antworten aber in Behauptungen verwandelt, dann wird mindestens eine von diesen falsch sein. Hier kann das logische »nicht« zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zum Prädikat »wahr« trennen. Aus einer Sonderkonstellation ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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des Fragespiels entstanden, enthält es im Kontext des Behauptungsspiels zusätzliche Aufgaben. 3. Infolge der Verpflanzung ins Behauptungsspiel verändert sich seine Beziehung zu seiner Grundlage, dem Verhältnis von subsumtiven und Fehlantworten. Es steht der Negation qua Fehlantwort nicht mehr näher als den anderen Negationen. Das folgt daraus, daß es keine Unterscheidung zwischen Behauptungsarten gibt, die dem Unterschied zwischen Antwortarten analog wäre. Eine Behauptung, die aus einer Antwort transformiert wurde, ist mit der Behauptimg, die der Frage zugrundelag, entweder logisch verträglich oder nicht. D.h. jene Antwort war entweder subsumtiv, oder, wenn sie es nicht war, ist es gleich, ob sie Grenz-, Fehl-oder widersprechende Antwort war. Sofern also das logische »nicht« dazu verwendet wird, die Verträglichkeit einer AntwortBehauptimg mit einer Frage-Behauptung festzustellen, wird es alle nicht subsumtiven Antworten als Fehlantworten behandeln. Daher hat das Wort »nicht« in den Sätzen »blau ist nicht eine Uhrzeit« und »'die Sonne geht unter* ist nicht eine Uhrzeit« denselben Sinn. Auf den bestimmten, d.h. »konventionellen«, nicht ohne Verabredung verallgemeinerbaren Charakter des logischen »nicht« hat auch Wittgenstein aufmerksam gemacht. Er zeigt, daß man etwa mit der Vorstellung der doppelten Verneinung verschiedene Vorstellungen verbinden kann — zweimalige Wendung um 180 Grad oder zweimaliges Kopfschütteln —, wodurch man ihr im einen Fall die Bedeutung der Bejahung, im anderen Fall die Bedeutung noch verstärkter Verneinung gibt. Wittgenstein geht es darum, die Abhängigkeit der Bedeutung vom Gebrauch zu unterstreichen. Man kann jedoch über die Bedeutung der doppelten Verneinung im Kontext der Logik mehr sagen, als daß es einen Gebrauch gibt, der sich auf sie bezieht. Die doppelte Verneinung ist genau dann Bejahung und muß es sein, wenn die zugehörige einfache Verneinung die Bedeutung hat, daß alle Behauptungen durch sie in aus subsumtiven und aus Fehlantworten transformierte unterschieden werden. Jede Verneinung ist dann die Operation, eine Behauptung aus der einen dieser Mengen in die andere abzuschieben, wobei die erste Menge als Ausgangsmenge gilt. Für das Fragespiel kann der Begriff der doppelten Verneinung nicht allgemein definiert werden, sondern nur — wie nicht anders zu erwarten — für Antworten wie »blau«: man wird, wenn man auf Fehlantworten stößt, auf die Frage zurückgehen und sie von neuem stellen. Die Ableitung der Logik aus dem Fragespiel wärefortzusetzenmit der Reinterpretation des logischen Behauptungsbegriffs. Die Behauptung wird in der Logik formuliert als Satz »'S ist ein P' ist wahr«, und dieser Satz wird, wie erinnerlich, analog zu dem Ausdruck »S ist ein P« gelesen: man setzt »S ist ein P« gleich »Meta-S« und »ist wahr« gleich »ist Meta-P«, erhält also »Meta-S ist ein Meta-P« und damit einen Ausdruck, dessen Struktur keiner besonderen Klärung bedarf, weil sie mit der Struktur des ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
Die Semantik des Fragespiels und die Grenzen der Aussagenlogik ersten Ausdrucks »S ist ein P« identisch ist. Das Verhältnis von »S ist ein P« und »ist wahr« ist in unserem Modell des Fragespiels vorgesehen als Verhältnis des Satzradikals R2 zu dem Satzmodus, der genau derart durch ein Radikal charakterisiert ist, also zur Behauptung (R2). P für sich genommen ist ein Radikal, z.B. das der Uhrzeit, dem man im logischen Satz die Stelle des Prädikats fest zuweist. Wenn P z.B. die Menge aller Uhrzeiten und S die Uhrzeit »13 Uhr« ist, dann gilt, daß (R2), gleich »S IST EIN P ist wahr«, Transformationsprodukt der Antwort (Rj, R2), gleich »P, S ist ein P«, ist. Nun erweist sich auch auf dieser Ebene der reduktive Charakter der Logik im Verhältnis zum Fragespiel. Man könnte nicht alle Antworten, die korrekt gegeben werden, durch »P, S ist ein P« repräsentieren. Das habe ich bereits implizit gezeigt: Grenz- und widersprechende Antworten weisen eine Form auf, in der es kein S gibt, das P entweder zugehört oder nicht zugehört. Man könnte von einer widersprechenden Antwort nur sagen, sie laute »nicht P, sondern Q mit P'«. Um von hier zur obigen Struktur zurückzufinden, müßte man etwa behaupten: »S' IST EIN Q ist wahr«. — Und diese Behauptung läßt sich offenbar nicht nach dem Schema »Meta-S ist ein Meta-P« lesen; denn »Meta-S« gleich »S ist ein P« kommt ja gar nicht mehr vor; und es besteht kein Anlaß zu der Annahme, daß sich Meta-S', gleich »S' ist ein Q mit P'«, genauso verhalten sollte wie Meta-S, nämlich daß es entweder zu Meta-P gehören sollte oder nicht, entweder eindeutig wahr oder eindeutig falsch sein sollte. Es zeigt sich also folgendes. »S ist ein P« kann als Behauptung gebildet werden, wenn eine entsprechende subsumtive Antwort vorher vorgelegen hat. Wenn es gebildet werden kann, kann es auch auf Meta-P bezogen werden, d.h. in diesem Fall kann eine Behauptung im logischen Sinne, die den logischen Wahrheitsbegriff verwendet, ausgesprochen werden. Wenn aber nicht, dann läßt sich hinsichtlich der Wahrheit von Behauptungen ebensowenig eine allgemeine Gültigkeit des Tertium non datur behaupten wie hinsichtlich der Zugehörigkeit von Objekten zu P. Mit anderen Worten, der logische Wahrheitsbegriff ist ebenso an das Vorliegen subsumtiver Antworten gebunden wie das logische »nicht«. Liegen subsumtive Antworten aber nicht vor, dann hört die Logik auf und sinkt in ihre Grundlage, die weiter fortläuft, in das Fragespiel zurück. Ich kann meinen Ableitungsversuch damit als abgeschlossen betrachten. Der nächste Schritt wäre der Übergang von einem Gedanken zu zweien; hierzu wäre nur zu sagen, daß dies im Kontext des Fragespiels gar kein Schritt ist, denn man kann über das Fragen gar nicht sprechen, ohne nicht von Anfang an zwei Gedanken zu unterstellen, R\ und R2; die logische Betrachtung muß den zweiten Gedanken jedoch äußerlich zum ersten hinzusetzen. Im übrigen entwickelt sich nur die Reduktion weiter, die ich bereits hinreichend charakterisiert habe. Es ist klar, daß z.B. das logische »und« aus demselben Grund reduzierte, nämlich auf die Verknüpfung logischer ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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Behauptungen bezogene Bedeutung erhalten muß, wie dies für das logische »nicht« gezeigt wurde; aber ich will die Begründungskette nicht weiter verfolgen. Ziehen wir stattdessen ein allgemeines Resümee. Wir haben gesehen, daß Logik und idealisiertes Fragespiel von demselben Grundbegriff der »scharfen Begrenztheit« ausgehen und daß auch noch P, der logische Begriff des Begriffs* mit Ri, dem Satzradikal der idealisierten Frage, äquivalent ist. Von da an begannen sich jedoch die Regeln zu unterscheiden: nur ein Teil der im Fragespiel korrekten Negationen von R\ ist mit der logischen Negation von P vergleichbar und verträglich. Mit dieser Weichenstellung ist dann die gesamte Spezifik der Logik gegenüber dem Fragespiel gesetzt. Die damit hergestellte Konstellation von Logik und Fragespiel holt gleichsam etwas nach, woran Frege ausdrücklich gescheitert ist — denn als Thema ist sie ihm durchaus begegnet, hat sogar eine kaum wegzudenkende Rolle bei der Entstehung seiner Logik-Auffassung gespielt. (Was für die Lehrbücher übrigens von keinerlei Interesse ist, vgl. z.B. Stegmüller 1976,680f.) Frege nimmt eine spätestens 1811 beginnende philosophische Diskussion auf, die sich hauptsächlich in der Problematik der kantischen Erkenntnistheorie bewegt. Damals schreibt Fries in seinem »System der Logik«, die Frage sei diejenige Tätigkeit unseres Verstandes, die eine »in unserer Vernunft vorhandene Erkenntnis« erstmals »in Gedanken« entwerfe. Sein Schüler Calker formuliert, jedes Urteil, »für welches noch kein Grund seiner Wahrheit im Bewußtsein stattfindet«, sei Frage (1822, 332ff). In Liebmanns Werk »Kant und die Epigonen« heißt es: »die Frage (...) geht dem Akte des Erkennens voraus, der uns die Antwort gibt« (1865). Usf. Vgl. die ausführliche Darstellung dieser Diskussion bei Heinrich (1952,9ff). Die neue Richtung, die Frege ihr gibt, besteht darin, daß er einerseits den Urteils-Begriff in den Behauptungs-Begriff transformiert, andererseits aber daran festhält, daß es einen Unterschied zwischen Gedanken-Entwurf und »Grund der Wahrheit« gebe, wobei letzteres, bisher Attribut des Urteils, nun zum Attribut der Behauptung wird. Ein Gedanke sei als solcher noch ohne »behauptende Kraft« (Frege 1967,379). Was ist er sonst? Die Vorgänger legen es nahe: »Am leichtesten wird man die behauptende Kraft dadurch los, daß man das Ganze in eine Frage verwandelt« (ebd.), die Frege dann ihrerseits mit der Aufforderung gleichsetzt (346) — er interessiert sich nicht ernstlich für sie. Aber ohne diesen ungenauen Rekurs wäre jener Unterschied von Gedanke und Behauptung nicht herausgesprungen, von dem alles andere abhängt: seine Definition der Behauptung als dem Gedanken, von dem gesagt werde, daß er wahr sei; die Auffassung der Logik als Wahrheitsübertragung zwischen Sätzen, die teils wahr, teils falsch sind (in denen also Gedanke und Behauptung nicht immer zusammenfallen); schließlich die kontextuelle Definition der logischen Wörter durch verschiedene Typen von Wahrheitsübertragung.
3. Ich möchte aus diesem Ergebnis drei Schlußfolgerungen ziehen. Die erste betrifft den Begriff des idealisierten Fragespiels. Den Schritt, vom alltäglichen zum idealisierten Fragespiel überzugehen, habe ich bislang kaum zureichend begründet, sondern allenfalls durch den Hinweis auf Besonderheiten der wissenschaftlichen Praxis plausibel gemacht. Ich kann diesen Mangel auch jetzt nicht beheben; aber immerhin zeigt sich mittlerweile, ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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daß sich das idealisierte Fragespid gerade durch einen solchen Zug vom nichtidealisierten Fragespiel unterscheidet, durch den sich auch die Logik vom nichtidealisierten Fragespiel und, allgemeiner, vom Alltagsdenken unterscheidet: durch das Konzept der »scharfen Begrenztheit«. Da man diese Idealisierung für die Logik akzeptiert, liegt es immerhin nahe, sie auch für einen solchen Denkmodus zu akzeptieren, der dem Alltagsdenken sogar näher kommt als die Logik, weil es weniger reduktiv ist. In diesem Sinne stellt sich das Verhältnis von Alltagsdenken, idealisiertem Fragespiel und Logik wie folgt dar. Wenn man ein bestimmtes alltägliches Sprachspiel, nämlich das Fragen und Antworten, nur dadurch idealisiert, daß man ihm das Konzept der »scharfen Begrenztheit« als Regel beigibt, hat man das idealisierte Fragespiel konstituiert. Fügt man noch eine weitere Idealisierung hinzu, nämlich die Reduktion der Antworten auf subsumtive und Fehlantworten, hat man die Logik konstituiert. Als Fehler bisheriger Logik-Theorie erscheint dann, daß die »scharfe Begrenztheit« selbst noch als rein logisches Konzept aufgefaßt, jene Differenz also nicht gesehen wurde; nicht gesehen wurde, daß subsumtive und Fehlantworten nicht zwangsläufig folgen, wenn Frageräume scharf begrenzt sind. Die zweite Schlußfolgerung bezieht sich auf den erkenntnistheoretischen Status der Logik. Sowohl Begriffe wie Frageräume lassen sich also »scharf begrenzen«; aber welchen Gegenständen kann sich solche idealisierte Erkenntnis anmessen? Das Uhrzeit-Beispiel, das unseren Überlegungen bisher als Modell diente, dürfte im Hinblick auf seine präzise abgrenzbare Gegenständlichkeit ganz untypisch sein für Sachverhalte, die in der empirischen Wissenschaft begegnen. Die von der Aussagenlogik herkommenden Analysen des wissenschaftlichen Fragens verfahren zwar so, als ob das nicht so wäre, denn sie unterstellen Fragen, die so »wohldefiniert« sind wie unsere Uhrzeit-Frage, und Antworten, die zwar nicht immer wahr sein müssen, aber stets den Fällen (1), (2) oder (3) des Fragespiels der Uhrzeit analog sind, d. h. die stets, selbst wenn sie als Antwort falsch oder unfruchtbar sind, auf Bestätigung der Wahrheit der Frage hinauslaufen. Man könnte dieses Verfahren boshafterweise so charakterisieren, daß es empirische Wissenschaft modelliert als Ablesen der Zeigerstellung von Meßinstrumenten, die nichts messen — nur sich selbst. Tatsächlich dürften aber bei der Befragung realer Gegenstände ausschließlich Grenz- und widersprechende Antworten anfallen, natürlich auch Fehlantworten, jedoch keinerlei subsumtive Antworten. Die subsumtiven Antworten, die auf die Frage nach der Uhrzeit gegeben werden können, sind kein Gegenbeweis; Zeitlichkeit ist zwar auch ein realer Gegenstand, aber es ist alles andere als klar, daß die Uhrzeit-Frage ihm angemessen ist; hier dürfte im Gegenteil ein besonders krasser Fall von Gegenstandsbemächtigung und -verschüttung vorliegen; nicht Empirie, sondern die Bemächtigung erlaubt hier die Subsumtion. Dem steht nun aber nicht entgegen, daß die Antwort-Typen (4), ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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(5) und (6) des Uhrzeit-Beispiels genau den Antworten entsprechen, die in empirischer Wissenschaft gegeben werden können. Hier hat man es zwar mit anderen Gegenständen zu tun, aber nicht mit einem anderen Antwortmechanismus. Selbst der fremdartigste Gegenstand kann sich nicht weiter von einem Frageraum entfernen als die Antwort (5) im Fragespiel der Uhrzeit; es wird dann auch nichts Schlimmeres passieren, als daß der Frager leer ausgeht; aber diejenigen fremdartigen Gegenstände, die sich, repräsentiert durch Beobachtungs- und frageraumexterne theoretische Sätze, mit dem Frageraum überschneiden oder ihn gar eingrenzen, werden ganz ebenso im Frageraum verarbeitet werden wie die Fälle (4),und (6) im Uhrzeit-Beispiel. Denn wie immer der Gegenstand variiert, der Frageraum weist keine fallweise verschiedene Struktur auf, und er ist das Werkzeug, mit dem man Antworten produziert. — Aber wie kann die Logik mit Gegenständen zurechtkommen, die sich nur durch Grenz- oder widersprechende Antworten repräsentieren lassen? Muß sie nicht, da sie ihrerseits aus der Weiterentwicklung subsumtiver Frage-Antwort-Sequenzen gewonnen ist und an solche gebunden bleibt, von empirischer Wissenschaft ganz abgleiten? — Nun, logisch-empirische Wissenschaft behandelt einfach einen Teil der Grenzantworten, die im Forschungsprozeß anfallen, als hätte sie subsumtive Antworten erlangt; d. h. sie abstrahiert stets von einem gewissen unwesentlich erscheinenden Rest, um den, wie es scheint, übergroßen Hauptanteil des gegenständlichen Körpers desto besser in den vorgefertigten Frageraum passen zu können. Jeder Versuch, aus der Eintragung empirischer Daten in einem Koordinatenkreuz eine ihre Verteilung annähernd beschreibende, dabei mathematisch kommensurable Funktion zu rekonstruieren, ist hierfür Beispiel; und den Fall, daß Daten und Funktion einander absolut entsprechen, gibt es nicht. Die Reduktion von Grenzantworten auf subsumtive Antworten ist schon deshalb unvermeidlich, weil sonst keine zwei Antworten in einen gemeinsamen theoretischen Zusammenhang gestellt werden könnten; und weil sie unvermeidlich ist, ist sie auch unproblematisch. Aber jedenfalls ist sie eine Reduktion. — Sobald also ein Fragegegenstand logisch erfaßt wird, tritt eine Trennung ein zwischen seinem logischen Modell und dem Rest seiner dem Frager erscheinenden Wirklichkeit. Die ohnehin schon vorgenommene Einschränkung des Geltungsbereichs der Logik (auf den Bereich subsumtiver FrageAntwort-Sequenzen) ist erkenntnistheoretisch noch mehr zu verschärfen (Modellkünstlichkeit der Annahme solcher Sequenzen). Dies führt zur dritten Schlußfolgerung: Worin besteht denn die Funktion, die die Logik trotz oder wohl gar wegen ihrer Reduktionen fürs Erkennen hat? Ich kann hierüber nur eine Hypothese aufstellen, die aber vor dem Hintergrund der bisherigen Ableitung immerhin als plausibel bezeichnet werden kann. Darin, durch sich selbst die Erkenntnis voranzutreiben, besteht sie allem Anschein nach nicht; insbesondere ist sie nicht Träger der ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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Erkenntniskontinuität in wissenschaftlichen Revolutionen. Gleichwohl gehört sie indirekt zu den Existenzbedingungen von Erkenntnisfortschritt. Durch den Verknüpfungszusammenhang, den sie zwischen subsumtiven Antworten herstellt, läßt sie komplexe Behauptungsmengen entstehen — die wir als Theorien bezeichnen — und schafft so die Voraussetzung für die Entstehung von Frageräumen auf ganz anderer Stufenleiter als der, die in den uns beschäftigenden Beispielen unterstellt ist; Frageräumen, die nicht nur aus einzelnen Behauptungen, sondern aus ganzen Theorien transformiert sind. Man könnte solche komplexen Räume nicht konstruieren, wenn es kein Mittel gäbe, vorher eine Vielzahl von Behauptungen in einer theoretischen Formation zu vereinigen. Und es ist ohnehin nicht möglich, solche Behauptungen zu vereinigen, die nicht aus subsumtiven Antworten transformiert wurden. Für die Konstruktion komplexer Frageräume ist die Logik also ein hinreichendes und zugleich das einzige zur Verfügung stehende Mittel. Die Logik überträgt gewissermaßen das Konzept der »scharfen Begrenztheit«, welches Vorbedingung der Erkenntnisfruchtbarkeit des idealisierten Fragespiels ist, von der einfachen Frage auf die Metaebene der theoretischen Frage; sie zeigt, inwiefern es sinnvoll ist, dieses Konzept nicht nur für einzelne R, sondern auch für bestimmte Mengen von Gedanken Rj, R2,... R n als solche zu definieren. Sie ist daher auf ihrer Metaebene genauso, und aus demselben Grund, für die Erkenntnis fruchtbar wie der einzelne Frageraum, denn je stringenter eine Menge von Behauptungen miteinander logisch verkettet ist, desto leichter kann es im ideellen Stoffwechsel mit dem Gegenstand gelingen, sie zu widerlegen. — Dies muß hier als Hypothese stehen bleiben, weil die Unterstellung einer unbestimmten Menge von Behauptungen und daran geknüpfte Überlegungen zur Logik (ich habe bisher maximal drei Behauptungen unterstellt) ein Vorgriff sind, der allenfalls auf Grundlage der später folgenden Theorie der FrageAntwort-Kette eingeholt werden könnte, mit der ich jedoch meine Untersuchung abschließen werde.
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3. Die Rhetorik des Fragespiels und die Wege der Erkenntnisbeschleunigung 3.1 Fragespiel und »Einfälle« Man braucht kein Buch zu schreiben, um den Leuten das Fragen und Antworten beizubringen. Was sie dabei für Regeln anwenden, wissen sie vielleicht nicht, aber sie wenden sie an. Wenn sie es nicht tun, dann gewiß nicht aus Regelunkenntnis. Der Neurotiker z. B., der sich weigert, eine Antwort hinzunehmen, hat sie vorher selbst produziert, er kann oder will sie nur nicht festhalten. Dem Politiker, der sich scheut, korrekt oder gar überhaupt zu antworten, muß man nicht Fragespiel-Kompetenz beibringen, sondern Ehrfurcht, notfalls Furcht vor dem Gesprächspartner. Aber wenn jeder über das Fragespiel verfügt, warum kann nicht auch jeder mit kreativen Erkenntnisleistungen aufwarten? Kommt es doch auf »Einfälle« an, die sich nicht herbeiführen lassen und die bei vielen niemals auftauchen? Oder geht es umgekehrt darum, das Fragespiel nicht nur zu kennen und zu können, sondern »seine Gesetze bewußt anzuwenden«? Wir scheinen an den Anfang zurückgeworfen zu einer neuerlichen Entscheidung zwischen Rationalismus und Irrationalismus. Aber der Schein trügt. Es wird sich zeigen lassen, daß unsere Analyse längst über den Punkt hinaus ist, wo »bewußtes Anwenden« für den bekannten Rationalismus und »Einfälle« für Irrationalismus sprechen würden: diese beiden Erscheinungen sind dem Fragespiel inhärent; sie können nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden. Die Frage, wie das Fragespiel zu kreativen Erkenntnisleistungen beiträgt, muß unter Berücksichtigung dieses Resultats gestellt werden. Ich habe die Fragespiel-Regeln nämlich auf eine Weise formuliert, die es offenläßt, ob das Fragen und Antworten bewußt oder vorbemtßt geschieht. — Das Beispiel der Uhrzeitfrage war zwar so gewählt, daß wenigstens die Strecke zwischen ihr und ihren subsumtiven Beantwortungen im bewußten Bereich lag, aber schon hier zeigte sich die Rolle des Vorbewußten an dem anschließenden Antwort-Frage-Übergang. Der Fragende, dem gesagt wurde: »es wird 15 Uhr 59 gewesen sein«, weiß nicht unbedingt, wie ihm geschieht, wenn er weiterfragt, kaum daß er durch Nachfragen zum Verständnis der Antwort gelangt ist, wo denn die Zweideutigkeit seiner Ausgangsfrage herkomme. Ich habe rekonstruiert, daß er zwischen Antwort und Weiterfrage in den Diskurs eingetaucht ist, der sein Fragespiel trägt: ohne erforderliches Zutun des Bewußtseins, aber nicht ohne Fragen und Antworten vom Typ (R2, R?MR2» haben auch gesehen, daß umgekehrt der Antwort-Frage-Übergang bewußt und der Frage-AntwortÜbergang vorbewußt geschehen kann. Ersteres ist der Fall, wenn Lehrer ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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den »fragend-entwickelnden Unterricht« abhalten, letzteres tritt bei der widersprechenden Antwort ein, von der ich gezeigt habe, daß sie durch Überlagerung beider Übergangsweisen zustandekommt. Eine solche Gleichzeitigkeit entgegengesetzter Bewegungen kann im Bewußtsein nur als »Sprung« erscheinen, das heißt die Bewegungen selbst entfalten sich unterhalb der Bewußtseinsschwelle. — Diesen Resultaten der Analyse ist hinzuzufügen, daß sogar eine subsumtive Antwort vorbewußt erfolgen kann. Wenn ich z.B. den Sinn der Antwort, es sei 15 Uhr 59 gewesen, begriffen habe, kann ich gleich darauf denken, die Zweideutigkeit der Uhrzeitfrage sei möglicherweise ein Produkt der metaphysischen Philosophie. Ich kann aber auch denken, sie hänge mit der Struktur des Warentauschs zusammen, oder einfach: mein Gesprächspartner müsse Philosophie studiert haben. Wenn mir derartiges »einfällt«, dann weil ich vorher gefragt habe, sei es auch vorbewußt. Wie anders wollte man die unterschiedliche Richtung der »Einfälle« erklären und benennen? Sie sind geantwortet, und zwar die ersten beiden auf die Frage, wo die Zweideutigkeit der Uhrzeitfrage herkomme, die dritte auf die Frage, warum der Gesprächspartner so ungewöhnlich antworte; alle drei Antworten sind subsumtiv. — Es ergibt sich insgesamt: jede widersprechende Antwort erfolgt vorbewußt; jeder andere Frage-Antwort-Übergang und jeder Antwort-Frage-Übergang kann sowohl bewußt wie vorbewußt erfolgen. Dabei heißt vorbewußt: qua »Einfall«, aber »Einfall« nicht: außerhalb der Regel. Woraus folgt, daß es sozusagen »subsumtive und widersprechende Einfälle« gibt. Wir können dann aber auch gleich dabei bleiben, von Antworten zu reden. Rätseln wir nicht über »Einfälle«, ziehen wir einen anderen Schluß aus dem Unterschied und der teüweisen Austauschbarkeit der bewußten und vorbewußten Anteile beim Fragespiel. Wir können auch fragen: wann ist es günstig, Fragespiel-Elemente zu explizieren, wann nicht? Vielleicht führt uns dies an den Zusammenhang von Fragespiel und Erkenntnisbeschleunigung heran, falls es überhaupt einen gibt. Auch dieses Thema ist nicht neu. Wenn Bunge und andere Problemlösungstheoretiker vorschlagen, wir sollten Probleme in einen »wöhldefinierten« Zustand bringen, um die optimalen Lösungen zu finden, nehmen sie doch zu jener Frage Stellung, behaupten, es sei immer gut, Fragen zu explizieren. Wir haben selbst schon einen Anhaltspunkt in der Einsicht gefunden, daß in kreativen Erkenntnisprozessen widersprechende Antworten vorkommen, die nur vorbewußt erfolgen, die man daher verhindern würde, wenn alles Fragen und Antworten explizit wäre. Wir sind also schon dabei, zu entdecken. 3.2 Strukturen der Äußerung im Fragespiel: shifter und Metonymie Das Thema der Explikation nötigt zu einer Konkretisierung unseres bisher rein semantischen Fragespiel-Modells. Der bisherige semantische Ansatz ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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hat ausgereicht, um das Fragespiel von der Aussagenlogik zu unterscheiden, aber er wird unbrauchbar, wenn es darum geht, zu verstehen, was bei einer Äußerung von Fragen und Antworten passiert. Das Explizieren ist ja eine Weise des Äußerns. Ohne den Mechanismus des Äußerns zu verstehen, können wir nicht darüber reden, wann expliziert werden soll, wann nicht. Die Äußerung aber wird zuerst gemacht, und dann zeigt sie ihren vollen Sinn, und dann kann dieser Sinn semantisch rekonstruiert werden. Wie es zur Äußerung kommt, wäre nicht semantisch, sondern »rhetorisch« zu analysieren. Die nachfolgenden Hinweise werden einen »grammatischen« und einen »tropischen« Teil haben. Ich nehme das wichtigste Ergebnis vorweg und mache es zum Leitfaden: wenn ich bisher die Verfügbarkeit des Fragespiels für jedermann betont habe, so ergänze ich jetzt unter rhetorischem Aspekt, daß keine verfügbare Denkfähigkeit komplexer und schwieriger ist als das Fragespiel. Die komplexesten Fähigkeiten sind natürlich die, die am ehesten vernachlässigt werden. Wir werden später schließen, daß die Explikation des Fragespiels da, wo sie erforderlich ist, vor allem im Interesse der Bewältigung und auch der »Ausschöpfung« dieser Komplexität geschieht. Um sie zu ermessen, empfiehlt sich zunächst ein Blick auf die Einteilung der grammatischen Kategorien durch Roman Jakobson (1974). Man kann sie partiell als Einteilung in unterschiedliche Komplexitätsgrade interpretieren, wobei es sich aber nur um Kategorien handelt, die jedermann jederzeit verwendet. — Z. B. ist das Personalpronomen »ich« komplexer als der Numerus »einer«, weil der letztere einfach zu den Mitteln zählt, mit denen man den Bericht eines Geschehens äußert, während ersteres eine Beziehung herstellt zwischen dieser Äußerung und dem, der sie äußert: »einer kommt von der Arbeit« ist nur ein Bericht, »ich komme von der Arbeit« sagt darüber hinaus, der Berichtende sei der im Bericht Berichtete. Die Personalpronomina gehören zu einer Klasse grammatischer Kategorien, die als shifter bezeichnet worden (»Umschalter«; der Sinn der Bezeichnung wird sich zeigen) und unter denen sie noch die unkomplexeste sind; der Modus z. B. ist komplexer. Wenn ich einen Satz anfange: »du sagst, du hättest gearbeitet«, dann setze ich genauso wie eben ein berichtetes Geschehen zu mir, dem Berichtenden, in Beziehung — ich bringe nämlich durch die Wahl des zweiten statt des ersten Konjunktivs zum Ausdruck, daß ich die Behauptung meines Gesprächspartners, die ich berichte, nicht für glaubwürdig halte —, aber damit hat dieses Geschehen nun zwei shifter-Beteiligte auf derselben kategorialen Ebene des Personalpronomens, zwischen denen ich eine Beziehung herstelle. Am allerkomplexesten ist ein dritter shifter, den Jakobson als »Evidenz« bezeichnet. Mit ihm wird das Verhältnis nicht nur von berichtetem Geschehen und Sprechakt, sondern von berichtetem Geschehen, Sprechakt und berichtetem Sprechakt ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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zum Ausdruck gebracht. Mit anderen Worten, hier bringe ich nicht (nur) meine eigene Haltung zur Glaubwürdigkeit des Berichteten zum Ausdruck, sondern gebe (darüber hinaus) das Berichtete selber schon als etwas wieder, das mir in einem bestimmten Glaubwürdigkeits-Modus begegnet ist. In der deutschen Grammatik ist die Evidenz-Kategorie verschwunden, aber im Bulgarischen z. B. gibt es grammatische Formen, um zwischen Hörensagenevidenz und Bezeugungsevidenz zu unterscheiden; in den sogenannten primitiven Sprachen sind sie die Regel Hörensagen, Vermuten, Erinnern, Bezeugen, all das wird in gewissen Sprachen bereits qua Grammatik zum Ausdruck gebracht, so wie im Deutschen das Befehlen, für das es eine eigene Flexionsform gibt (»komm!«), was sich ja auch nicht von selbst versteht. Das sind weiter nichts als die möglichen Sprachspiele, die man in Wittgensteins Spätphilosophie diskutiert findet. In der Erwartung, auch die Frage hier zu finden, wird man indessen enttäuscht, weil Jakobson implizit einer eher »Fregeschen« Orientierung folgt. Sie wird neben Annahme, Affirmation, Assertion und Negation unter die »Status«-Kategorie subsumiert, offenbar eine Klasse wahrer und falscher Behauptungen, unter denen sie die »Behauptung ohne behauptende Kraft« wäre. Nach der obigen Analyse des Zusammenhangs von Fragespiel und Aussagenlogik werden wir sie aber doch am ehesten zu den »Evidenzen« rechnen. Das Infragegestelltsein ist ein Glaubwürdigkeits-Modus. Das zeigt schon, worauf ich hinauswollte: das Fragespiel bewegt sich auf der komplexesten grammatischen Ebene. Aber man kann noch weitergehen: es ist noch mehr als eine Evidenz, es wäre die Kategorie, die das Glaubwürdigkeitsthema nur stellt, um es offenzulassen. Denn das Fragen zielt nicht auf Sfe//wig-Nahme zur Glaubwürdigkeit, sondern auf Entdeckung, die einen Stellungs- Wechsel (Umkehr der Frage-Richtung) beinhaltet. Es könnte immer noch als shifter bezeichnet werden, aber es wäre der »Umschalter«, der auf »Umschaltung« abzielt, während alle übrigen shifter bloß eine solche »Umschaltung« ermöglichen (z. B. des »ich« von der Bezeichnung des einen zur Bezeichnung des anderen Gesprächspartners), die aus beliebigen anderen Gründen erforderlich wird oder einfach nur geschieht. Ich will selbstverständlich nicht für die Einführung einer FrageUmkehr-Kategorie in die deutsche Grammatik plädieren. Sie wäre überflüssig und sogar schädlich, wie überhaupt alle komplexeren Kategorien schädlich sind, weil eine Alternative wie die zwischen Vermuten und Bezeugen nicht dem Automatismus der Grammatik ausgeliefert sein sollte. Was schaffen schon allein die Personalpronomina für Schwierigkeiten: in einer Sprache, die ohne sie auskäme, hätte sich wohl niemand eingeredet, das Ich denke sei die »elementarste Gewißheit«, und sie wäre deshalb nicht ärmer gewesen. Aber wenn wir das Komplexeste nicht grammatikalisieren, bleibt es ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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doch das Komplexeste. Durch die Analyse, die Jakobson am Sprachverhalten des wahnsinnig gewordenen Hölderlin durchführte, wird das unerwartet unterstrichen. Es scheint allgemein so zu sein, daß Schizophrene die komplexeren Sprachfunktionen verlernen, die zugleich die Funktionen des Dialogs sind; eins bedingt das andere, denn die shifter, angefangen mit den Personalpronomina, wären ja überflüssig, wenn es nur auf das Halten von Monologen ankäme. Und tatsächlich sind Hölderlins Wahnsinns-Gedichte durch den Verlust aller in der deutschen Grammatik vorgesehenen shifter gekennzeichnet (das heißt sie ignorieren die Existenz von Personen, Zeiten und Modi), was bei einem Dichter besonders auffällt, dessen glücklichere Schöpfungen für einen Philosophen wie Heidegger zum Paradigma der Gesprächsfähigkeit werden konnten. Damit stimmt aber überein, daß er gleichzeitig — oder erst recht — die Fähigkeit zum Fragespiel verloren hat. Hölderlin war in einem präzisen Sinn unfähig, auf Fragen seiner Besucher zu antworten; seine Reaktion bestand stets darin, für die Fragen Befehle zu substituieren, so daß er zum Beispiel auf die Frage, ob er zu einem Spaziergang Lust habe, erwiderte: »Sie befehlen, daß ich hierbleibe.« (Jakobson 1976, 65) Befehlen und Gehorchen ist noch im Irrsinn möglich. Aber wenn nicht qua Grammatik, durch welchen anderen Mechanismus wird die Frage- oder Antwort-Äußerung hervorgebracht? Wir müssen ihn in einem anderen Bereich der Rhetorik suchen, dem der Tropenlehre. Dabei können wir uns weiter auf Jakobson stützen. Als relevant erweist sich dessen Grundunterscheidung zwischen dem »metaphorischen« und dem »metonymischen Weg« des Sprechens (vgl. Jakobson 1971). — Metapher und Metonymie sind in der traditionellen, aus der Antike überkommenen Rhetorik Wörter (oder allenfalls zusammenhängende Substantiv-AttributAusdrücke), die andere Wörter ersetzen, uiid zwar in unterschiedlicher Weise. Die Metapher ersetzt ein Wort durch ein »vergleichbares« Wort, z.B. »Kamel« durch »Schiff der Wüste« (wie ein Schiff durchs Wasser, so bewegt sich ein Kamel durch die Wüste). Die Metonymie »verläßt«, wenn sie ein neues Wort substituiert, »die Ebene des Begriffsinhalts« des alten Worts (Lausberg 1967,77), z.B. »ein wenig Wein«, den ich trinke, durch »ein Glas«. So ist die Metonymie einerseits weniger als die Metapher, denn Glas ist nicht nur untrinkbar, sondern auch mit Wein unvergleichlich, während ein Kamel sehr wohl mit einem Schiff verglichen werden kann, obwohl es nicht schwimmt. Sie ist andererseits mehr, da es eine reale Beziehung zwischen Glas und Wein gibt, nämlich eine der tatsächlichen Berührung beider im Weinglas — andere Metonymien bringen weitere Typen realer Beziehung ins Spiel, vor allem zeitliche und kausale —, aber keine zwischen Kamelen und Schiffen. Jakobson betrachtet auch die Synekdoche, also den pars-pro-toto-Ersatz und seine Umkehrung, als eine eher metonymische Operation, weil sie den Begriffsinhalt des zu ersetzenden Wortes zwar nicht verläßt, aber doch einschneidend verändert — einen KameraARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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Zoom oder Vergrößerungsapparat ähnlich, der etwas Entferntes nahe heranholt, so daß man auf Details aufmerksam wird. Hierin weicht er von der Tradition ab, da er es liebt, in »maximalen Kontrasten« (1982,93) zu denken: bei einer ersten Gliederung der Tropen gibt es neben Metaphorik und Metonymik nichts Drittes. Sein entscheidender Eingriff besteht aber darin, daß er die Tropen zur Charakterisierung nicht nur des Wort-Ersatzes, sondern auch des Ersetzens von Sätzen verwendet (vgl. z.B. seine Textanalysen von Majakowski und Pasternak, 1979). Und schließlich zeigt er, daß sie nicht bloß verschiedene Ersetzungs-Weisen sind, sondern sich auch überlagern können und in der Poesie regelmäßig überlagern (so können die metonymischen Substitutionen, in denen ein Gedicht voranschreiten mag, durch Reim-Endungen »vergleichbar« gehalten sein, die insofern eine »metaphorische Funktion« erfüllen). — Wir haben es auch hier mit dem Aufweis immer komplexerer rhetorischer Gebilde zu tun, diesmal auf der Ebene der Tropen. Und unter den komplexesten Gebüden dieser Art können wir die Fragespiel-Äußerung lokalisieren. Jakobson spricht zwar nicht vom Fragespiel: aber i$t das Verhältnis von Antwort und Frage nicht das beste Beispiel für die Ersetzung eines Ausdrucks — der ein Satz ist — durch einen anderen mit ihm zusammenhängenden Ausdruck? Wenn wir die Sache so betrachten, sehen wir, daß der Fragende und Antwortende zwar keine grammatischen Fähigkeiten im gebräuchlichen Wortsinne braucht, dafür aber andere rhetorische Fähigkeiten; er muß mit Metapher, Metonymie und Synekdoche aufSatzebene umgehen können. — Es liegt auf der Hand, wie diese Kategorien mit der Semantik des Fragespiels zusammenhängen: die subsumtive Antwort ist eine Synekdoche, denn sie verhält sich zum Raum der Frage wie das Teil zum Ganzen; die widersprechende Antwort ist eine Metonymie, die zur Umkehrung der Synekdoche führt, denn sie »verläßt den Begriffsinhalt« der Frage und schließt ihn ein; und die am Widerspruch gehinderte Antwort z.B. des Schülers, die in Wahrheit bloß eine Gehorsamsleistung ist und das vermeintliche Fragespiel als Befehlsspiel erweist, ist eine Metapher, denn ihre Funktion besteht nicht wie die der Synekdoche darin, den Frageraum unerwartet zu akzentuieren, sondern darin, ihn als Ganzen durch Wiederholung in anderen Ausdrücken zu akzeptieren. — Würde man zur Analyse ganzer Texte übergehen, so hätte man auch Beispiele der Überlagerung von Metapher und Metonymie: Fragespiele, die eine Zeitlang synekdocheisch und metonymisch voranschreiten, um an gewissen »Fixpunkten« immer wieder hängenzubleiben, Punkten, die für den Diskurs, für den Mythos das sind, was die Reime für das Gedicht oder die c-moll-Akkorde für Beethovens Schicksalssymphonie. Ich komme auf diese Überlagerung zweier Tropen erst im Zweiten Teü zurück. Für das Folgende ist aber wichtig zu sehen, daß die Tropen schon einzeln genommenen Überlagerungen sind, jedenfalls im Verhältnis zu den ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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Satzradikalen, den Elementen des anderen, semantischen Modells. Dieser Gesichtspunkt bringt das Thema der rhetorischen Komplexität des Fragespiels zum Abschluß. — Die Satzradikale waren distinkt und linearisierbar; man konnte sie kombinieren oder voneinander abkoppeln (z.B. eine Behauptung von einer Antwort, eine Frage von einer Antwort); ihr Zusammenhang wurde nicht als Überlagerung, sondern als Beziehung der Herkunft beschrieben. Demgegenüber können Tropen geradezu als Überlagerungs-Zusammenhänge definiert werden, denn sie sind Formen der Wort- oder Satz-Substitution, und Substitutionen leben davon, daß das Substituierte nicht gänzlich in Vergessenheit gerät . So ist die Metapher nicht nur ein ersetzender Ausdruck, der für sich selbst einstünde, sondern die Bezeichnung zweier (oder mehrerer) Ausdrücke. Niemand könnte z.B. mit dem Ausdruck »Schiff der Wüste« etwas anfangen, wenn im Augenblick seines Auftauchens der Ausdruck »Kamel« aus dem Bewußtsein versehwände, so wie Fragen häufig verschwinden, kaum daß die Antworten erfolgt sind. Ebenso sind Synekdoche und Metonymie Überlagerungen: erstere bezeichnet einen Ausdruck und zugleich einen Teil desselben Ausdrucks (pars pro toto, ein Teil/tfr ein Ganzes, nicht statt des Ganzen), letztere einen Ausdruck, einen anderen Ausdruck und einen Teil beider Ausdrücke (die »Berührungs«-Stelle). Mit anderen Worten, wenn wir die Äußerungen des Fragespiels als Tropen auffassen, dann heben wir den linearen Aspekt des semantischen Modells auf. Sogar in doppelter Weise. Denn die Rhetorik der Äußerung fügt nicht nur der semantischen Linearität ihre eigene Überlagerungs-Technik hinzu, sondern ist auch selbst wieder beides, eine Substitution nämlich, die mal an die Stelle des Substituierten tritt, ohne es überhaupt noch zu nennen, mal vom Substituierten zum Substitur ierenden, vom einfachen zum verdoppelten Ausdruck ausdrücklich linear übergeht. Über beide Möglichkeiten verfügt auch die Äußerungs-Technik des Fragespiels. Und damit haben wir das Thema der bewußten und vorbewußten Elemente des Fragespiels auf der theoretischen Ebene der Rhetorik eingeholt. Wenn, wie ich annehme, bewußtes Denken mit konsequentem oder sprunghaftem, aber jedenfalls linearem Denken gleichgesetzt werden kann und wenn Linearität eine Eigenschaft von Teilen der Tropik des Fragespiels ist — während die durchgängige Linearität des semantischen Modells daran gebunden ist, daß es stets nur zur Rekonstruktion taugt —, dann müßte gerade mittels der Tropik entschieden werden können, wo das Fragespiel expliziert werden sollte, wo nicht.
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3.3 Die Explikation der Antworten Wissenschaftliche Revolutionäre scheinen sich dadurch auszuzeichnen, daß sie mit einer ungewöhnlichen Explikationslust für Metapher, Synekdoche und vor allem Metonymie auf Satzebene begabt sind, worin man sie übrigens den Dichtern vergleichen kann, nur daß ihre Rhetorik sich mehr oder weniger auf die kausalen Ersatz-Weisen beschränkt, die beim Dichter umgekehrt am meisten zurücktreten. Vor allem Metonymie: ob Marx, Freud, Aristoteles, man steht vor einem Wust von Aufzeichnungen oft unterhalb der Veröffentlichungs-Schwelle, in denen scheinbar zufällige »Kreuz- und Querzüge« unternommen werden (wie Marx in Verkennung seiner tatsächlichen Erkenntnispraxis sagt); aber in Wahrheit werden Äußerungen aneinandergereiht, die der Konsequenz nicht ermangeln; nur daß es nicht immer »logisch« dabei zugeht, sondern gelegentlich metonymische Verschiebungen angetroffen werden, die ihrerseits den strengen Regeln des Fragespiels folgen. Aber wie kommt es, daß sie dem ungenauen Blick eine Bild der Zufälligkeit vorführen? Daher, daß meistens nicht Frage-Äußerungen explizit durch Antwort-Äußerungen ersetzt werden, sondern eine Antwort-Äußerung durch eine andere Antwort-Äußerung unter Auslassung der Frage, die vermittelt. (Und oft auch unter Auslassung von Hinweisen auf den Fragegegenstand, der die Gedankenbewegung in letzter Instanz vorantreibt — er ist manchmal nur durch das eigene oder fremde Buch »repräsentiert«, dem die Aufzeichnungen des Revolutionärs gelten.) Eine solche Explikation verwechselt man leicht mit der Aufeinanderfolge zweier »Aussagen« und stellt nur das Außergewöhnliche fest, daß die zweite Aussage mit der eisten logisch doch gar nicht verträglich sei. Worauf der Kreativitätspsychologe empfiehlt, man solle auch einmal die logischen Regeln brechen. Dabei ist jedermann mit der Nichtexplikation vermittelnder Fragen bekannt. Jeder verständige Leser eines Buches stellt sich die Frage, welche Fragen der Autor nacheinander beantwortet, und würde es doch als schlechten Stil empfinden, wenn der Autor jede seiner Fragen ausdrücklich formulieren würde. Der Unterschied ist nur, daß in einem Buch subsumtive Antworten aneinandergereiht zu werden pflegen, während das Protokoll einer Entdeckung, das der Abfassung des Buches über die Entdeckung vorausgeht, auch und gerade widersprechende Antworten enthält. Ich behaupte nun, daß gerade diese Verteilung: ungewöhnliche Ausführlichkeit, Differenziertheit und Explizitheit des subsumtiven und widersprechenden Antwortens, verbunden grundsätzlich mit dem »Geschehenlassen« der vermittelnden Fragen — zu den »Ausnahmen« später —, eine optimale Erkenntnissituation herstellt. Dabei zeigt das semantische Modell, daß bei einer solchen Praxis vom Fragespiel nichts verlorengeht, das ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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rhetorische, daß man bei ihr dazugewinnt. Es geht nichts verloren: denn die Erkenntis, die wir im Fragespiel gewinnen, kommt einzig und allein von den Grenzen der Frageräume; sie erlauben uns eine Lokalisierung oder reizen uns zum Situationswechsel an; um sich auf diese Grenzen zu beziehen, braucht man aber nicht in Frageformulierungen zu sprechen. Das Satzradikal der Frage, das den Frageraum samt Grenze konstituiert, ist ja stets aus einer Antwort entstanden, die sich zuvor ergeben hat. Lautet die Frage z.B. (R3, x?), so ist der A-F-Übergang (Rj, R2HR2» R?MR2, r 3) vorausgegangen. Da die erstgenannte Frage mit demselben Radikal R3 arbeitet, auf das die letztgenannte Antwort hinausgelaufen ist, ist die Explikation der Antwort (R2, R3) eo ipso Explikation des Frageraums von (R3, x?); man kann sich also auf sie beschränken. Und man gewinnt dazu: denn die Alperting von (R2, R3) bringt den gesamten Frageraum R3 ins Spiel der tropischen Substitution, während die Äußerung von (R3, x?) nur zu seiner teilweisen Explikation führen kann und das tropische Spiel entsprechend verengt. Machen wir uns das am Beispiel der Uhrzeitfrage klar. »Wie spät ist es?« Das Radikal der Frage, Menge der Uhrzeiten, Sinn des Blicks auf den Zeiger, ist hier auf den Signifikanten »spät« zusammengeschmolzen. In der Antwort, aus der die Frage herkommt, ist das natürlich ganz anders. Es muß einmal gefragt worden sein, »was die Zeit ist«, und darauf ausdrücklich, Signifikant für Signifikant, mit jener Theorie der Uhrzeiten geantwortet worden sein: »Spätsein heißt, daß...« Eine Explikation, die auch selbst wieder weniger tut, als die ganze Antwort zu äußern, denn dann müßte es etwa heißen: »innerhalb eines aristotelischen Frageraums, der die Zeit nach der Analogie teilbarer Körper denken läßt, heißt Spätsein ...« oder dergleichen. Nun wird eine Synekdoche oder Metonymie, die die Äußerung der Theorie der Uhrzeiten substituiert, ganz woanders hinführen als eine, die vom Signifikanten »spät« ausgeht. Sie wird reicher sein, denn für eine reichere Äußerung wird man reicheren Ersatz geben. Übrigens handelt es sich hier nicht nur um eine Frage der Quantität, also des Ganzen von R3 und seines Teiles »spät«. Denn nur semantisch gesehen ist »spät« ein Teil; rhetorisch gesehen ist der Ausdruek »wie spät ist es?« selbst ein Ganzes, das an die Stelle von R3 tritt; und das hat wieder semantische Folgen, denn dieser Ausdruck suggeriert ein Spätsein schlechthin, während R3 nur eine bestimmte Auffassung des Spätseins enthält; die Explikation der Uhrzeitfrage führt also zu einem Signifikanten, der sein Signifikat »versperrt«. Dies ist überhaupt die Wirkung jeder Explikation. Die Explikation der Theorie der Uhrzeiten »versperrt« ebenso deren Sinn, der in ihrer Herkunft aus einer nicht unproblematischen aristotelischen Frage liegt (oder woraus auch immer), die nicht mehr mitgenannt wird. Aber auch unter diesem Gesichtspunkt macht es einen Unterschied, ob man die Fragen oder die Antworten expliziert. Entschließt man sich nämlich dazu, alle Antworten zu explizieren, dann sind ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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alle »Sperren« so schnell umgangen wie errichtet. »Körper haben Teile... Die Zeit ist eine Art Körper... Wir setzen für die Zeit 24 mal 60 mal 60 Teile an... Im Moment zeigt der Zeiger auf 16...« Hier bleibt nichts ungesagt, außer daß man noch weiter zurückgehen kann, wenn man will. Man stelle sich aber vor, wie leicht es der Metonymie fallen muß, eine solche Kette zu verwerfen! Und wie schwer es dagegen ist, den Ausdruck »spät« zu substituieren. Er kann den Diskurs, in den der Antwort-Frage-Übergang eintaucht, nicht erhellen. Es ist aber nicht nur deshalb notwendig, die Antworten zu explizieren, weil sie zu reicheren Substitutionen führen als die Fragen, sondern weil Substitutionen überhaupt desto reicher sind, je präziser und »erschöpfender«, das heißt je expliziter das zu Substituierende ist. Also ganz abgesehen von der Frage der Fragen: man dürfte keineswegs so weit gehen, auch noch auf die Anwortexplikation zu verzichten. Hier ist daran zu erinnern, daß Synekdoche und Metonymie auf Satzebene äußerst komplexe Denkleistungen sind. Wenn es sich darum handelt, in ganzen Ketten von Antworten zu denken, stößt die vorbewußte Substitutionspräxis schnell auf Schranken: sie büdet immer nur kleine Ausdrücke. Eine Antwortkette wie die oben formulierte könnte sich unterhalb der Bewußtseinsschwelle nicht mehr als einheitlicher Ausdruck konstituieren. Denkt man ihn ausdrücklich, so hat die Metonymie ihren Startpunkt. Man kann aber noch weit größere Antwortketten als Ganzes substituieren, wenn man sie aufschreibt. Da es immer möglich ist, zurückzublättern, sind dann auch die Gedächtnisschranken übersprungen, die dem bloßen ausdrücklichen Denken noch anhaften. Dies, so scheint mir, ist die Funktion jener Entdekkungs-Protokolle, von deren empirischem Vorliegen bei Forschern wie Marx oder Freud wir ausgegangen waren. Präziser, »erschöpfender« Charakter der Antwort-Explikation: in letzter Instanz sind es die Frageraumgrenzen, die auf diese Weise so weit wie möglich geschärft werden, und es bestätigt sich, daß diese Schärfung die Erkenntnis beschleunigen hilft. Nun zu den »Ausnahmen« von der Regel, daß nicht Fragen, sondern Antworten expliziert werden sollen. Innerhalb des eigentlichen Forschungsvorgangs gibt es zwei Fälle, in denen es unvermeidlich und produktiv ist, Fragen zu explizieren. Der erste Fall besteht darin, daß man sieht, wie eine Frage entstanden ist, aber noch nicht, worin die Antwort bestünde. Dies kann im Umkreis der einzelnen F-A-Sequenz, die bisher unser Modell war, eigentlich niemals vorkommen. Man wird aber noch sehen, daß es der Normalfall im später zu analysierenden Methodenspiel ist. Hier werde ich den Abgrund zwischen einer gewußten Ausgangs-Frage und einer fernen End-Antwort, die ich nur ahne, anders nicht überbrücken können, als daß ich mir eine Reihe vermittelnder Fragen vornehme; ich muß sie genau deshalb stellen, weü ich nicht die Wahl habe, stattdessen die AntARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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worten zu denken, denn das Problem besteht gerade darin, daß ich über diese nicht verfüge. Der zweite Fall besteht darin, daß man sieht, wie eine widersprechende Antwort entstanden ist, aber noch nicht, worin im einzelnen oder im ganzen die Falschheit der von ihr zurückgewiesenen Frage liegt. Auch dies weist über das Modell der einzelnen Sequenz hinaus und führt zu einem methodischen Denken in Frageketten, wie ebenfalls noch gezeigt werden wird. Die Zuordnung von Frage-Explikation und Methodenspiel wird nicht dadurch in Zweifel gezogen, daß wissenschaftliche Revolutionäre besonders viel Raum zwischen Ausgangs-Frage und EndAntwort zu überbrücken haben und doch nach meiner Behauptung besonders wenig ausdrücklich fragen. Muß man wieder unmethodisch werden, um die allerhöchsten Denkleistungen zu erbringen? In gewisser Weise ja, denn Methoden sind eben auch insofern Brücken, als sie über ihrem Abgrund festliegen, und deshalb sind sie das Signum der »normalen« Wissenschaft, die am anderen Ufer schon angekommen sein muß, um zu funktionieren; in einer wissenschaftlichen Revolution handelt es aber erst darum, dieses Ufer zu finden, sie muß ihre Brücken also immerzu abbrechen und umbauen können, das heißt sie muß umherfliegen, mit brückenbaumeisterlichem Blick. Aber der Wechsel von virtuellem Brückenbau und -abbruch ist selbst wieder eine Methode — die Methode der wissenschaftlichen Revolution. (Ich wage diese Metaphern, weil ich hier nur auf Späteres vorgreife.) Alle weiteren Kontexte, in denen die Explikation von Fragen erforderlich ist, sind pragmatischer Art. Beispielsweise expliziert man in der Zusammenarbeit von Forschern seine Fragen für den anderen (so wie der Buchautor manche Fragen zur Erleichterung für den Leser expliziert). Auch hier muß man aber zwischen »normaler« und »revolutionärer« Wissenschaft unterscheiden. In der »normalen« Wissenschaft ist die FrageExplikation schon deshalb notwendig, weil die Forscherkollektive sich auf Methoden festlegen werden, nicht anders als der Einzelne. In der Revolution reicht es umgekehrt nicht aus, Fragen zu stellen und zu vernehmen, weil es sich hier immer um paradoxes Zusammenwirken handeln wird, das man ebensogut »Gegeneinanderarbeit« nennen könnte. Wenn mehrere aus einem gegebenen Diskurs herausstreben, werden sie nicht auf derselben Bahn laufen, und es wäre nicht produktiv, sie dazu zu veranlassen. Das heißt jeder wird andere Fragen verfolgen. Zwar wäre es dann nicht schlecht, wenn alle ihre jeweiligen Fragen austauschten, aber der wissenschaftliche Revolutionär wird die Fragen der anderen auch dann zu erkennen versuchen, wenn sie ihm nicht expliziert werden; er wird sie aus den gegebenen Antworten rekonstruieren. Sofern es sich um Zusammenarbeit von Vertretern der Revolution und Vertretern der Normalwissenschaft handelt, ist dieser Typ von Kommunikation sogar die Regel. Denn die letzteren pflegen selten zu bemerken, daß ihre Aussagen bloß Antworten sind, ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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die mit bestimmten Fragen stehen und fallen; die ersteren dagegen sind davon geprägt, daß sie auf die Fragwürdigkeit von Fragen gestoßen sind. — Außerhalb der Forschung gibt es eine Fülle pragmatischer Kontexte, in denen man fragt» weil man einen anderen fragt, zum Beispiel wie spät es sei. Solche Fragen sind meistens verkappte Befehle (oder Bitten), können aber durch eine unerwartete Antwort zu wirklichen Fragen werden. 3.4 Carmens »lalala« Eine Antwort verstehen, bis hin zum Verständnis der Frage, die ihr zugrundeliegt: das verweist auf nochmalige Konkretisierungspflicht für eine Rhetorik des Fragespiels, der ich wenigstens skizzenhaft zum Abschluß noch nachkommen will. Ich rede hier nicht von der Aufgabe, die verstandene Frage oder Antwort selbst wieder zu erklären, indem man sie auf Umstände zurückführt oder in Termini übersetzt, die dem Spieler des Fragespiels nicht bewußt sind; diese Aufgabe, traditioneller Topos der Ideologiekritik, gehört erst in die Diskursanalyse. Denn das »Verstehen« ist selbst schon schwierig genug. Auch ist der Ideologiekritiker selbst nicht vor Ideologie gefeit: es kann ihm passieren, daß er die widersprechende Antwort, die ihm vielleicht erteilt wird, auf eine noch zudem verschobene Aussage reduziert und diese dann aus bösen Begleitumständen »ableitet«, als ob sie mit seiner Frage nichts zu tun hätte. So hat sich auch der sophokleische ödipus gegen Teiresias, den Seher, der ihm seine Tat enthüllt, zunächst mit »ideologiekritischer« Attitüde ideologisch gewehrt: Teiresias wolle »mit diesem Werk« (nämlich setner Antwort auf die von Ödipus selbst gestellte Frage) »der nächste sein an Kreons neuem Thron«.
Die Antworten anderer begegnen mir zunächst als Lautbild, dem der Fragehintergrund, ja sogar der Antwortcharakter keineswegs wie ein Preisschild angeheftet ist; wie mache ich es, sie wahrzunehmen? Am Lautbild einer Äußerung ist zunächst nicht ablesbar, ob sie Frage, Antwort, gar mir widersprechende Antwort, Behauptühg, Befehl oder was sonst ist. Es kann sogar sein, daß ich meiner eigenen Äußerung den Antwortcharakter oder den Widerspruchscharakter — wenn es sich um das flüchtige Symptom eines Bruchs in meiner Problematik handelt —• nicht ablese. Stellen wir uns eine Situation vor, in der jemand sagt: »Gestern war hier alles noch sauber.« Ist das die Antwort auf einen vorwurfsvollen Blick? Oder die Frage, was seit gestern geschehen ist? Oder die Aufforderung zum Saubermachen? Oder der Protokollsatz eines Ethnologen? In einem eben erschienenen Buch über die »Obszönität des Fragens« wird behauptet, der Fragecharakter einer Äußerung lasse sich aus ihrer Intonation (Hebung der Stimme) ablesen (Bodenheimer 1984, 46). Man sieht, daß das nicht stimmt. Die Normal-language-Philosophie (Austin 1%2, Searle 1969) trägt zwei Gedanken zur Lösung des Problems bei. Einmal benennt sie es als eine ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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Frage der sozialen Kompetenz, zu ergründen, welches Sprachspiel gerade gespielt wird. Ich habe gelernt zu »merken«, wann ein Blick vorwurfsvoll ist. Freilich kann ich mich auch täuschen. Zum andern weist sie darauf hin, daß man zu Zwecken der Rekonstruktion die tatsächlich gefallene Äußerung so lange ergänzen kann — wenn man es kann! —, bis die Bestimmtheit des Sprachspiels deutlich ist. Im Beispiel etwa: »Gestern war hier alles noch sauber, ich frage dich, was inzwischen geschehen ist.« Die beiden Gedanken können zu einem zusammengefügt und von ihrem etwas monologischen Charakter befreit werden: statt daß der eine stumm zu merken versucht, was der andere verschweigt, würde die größte soziale Kompetenz wohl darin bestehen, daß beide gesprächsföhig sind, wobei es dann zu jener »Ergänzung« einfach dadurch käme, daß der eine beim andern nachfragt, bis alles zum Verständnis Notwendige gesagt ist. Ich habe mich dieser Methode der Lautbild-Analyse im Fall der Antwort »es wird 15 Uhr 59 gewesen sein« schon bedient. So gesehen, kommt es zu den größeren Problemen, wenn das Nachfragen nicht möglich ist, sei es weil man es nicht mit Personen, sondern mit Texten oder bloßen Dingen, oder sei es, weil man es mit stummen, verstummenden oder fremdsprachigen Personen zu tun hat. In beiden Fällen muß man trivialerweise das Nachfragen durch möglichst plausible Hypothesen ersetzen, weniger trivial ist aber, daß jegliche Hypothesenbildung selbst wieder die Form eines Fragespiels hat und daß häufig (in den Sozialwissenschaften) der Gegenstand dieses Fragespiels selbst wieder ein Fragespiel ist. Um sich den extremsten Schwierigkeiten zu stellen, müßte man in diesem Zusammenhang zeigen, daß sogar die physikalische Theorie in Frage-Antwort-Ketten verläuft und daß sogar die fremdsprachigsten Personen, deren »wildes Denken« uns verblüfft, sich als Fragende und Antwortende erweisen genauso wie wir selbst. Freilich ist ihr Denken eher metaphorisch als metonymisch, aber was uns daran fremd vorkommt, ist in mancher Hinsicht die Fremdheit unseres eigenen Diskurses, vor der wir die Augen verschließen. Stumme, unbegreifliche Personen: da wäre auch der Fall der Politiker zu erörtern, die den »Dialog mit der Jugend« propagieren und sich dann doch angewidert abwenden, wenn die Jugend tatsächlich kommt und Farbeier auf den Bundesadler schmeißt oder wenn sogar, wie es Peter Glotz auf dem Tunix-Kongress passiert ist, das Alter kommt in Gestalt von Frau Helga Götze und »Ficken,ficken«ruft (vgl. Glotz 1981, 214f). Stoff für eine Fülle von Anschlußuntersuchungen. Das Nachfragen kann aber auch dann auf Grenzen stoßen, wenn es sich einem bereitwilligen Gesprächspartner gegenübersieht. Der Sprecher, der etwas verschwiegen hat, und der Angeredete, der nach Verständnis sucht, mögen die soziale Kompetenz zu einem Gespräch aufbringen. Aber wenn nun zwischen der Frage des Angeredeten und der Antwort des anfänglichen Sprechers der Abgrund zweier Gesellschaftsformationen klafft? Das ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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heißt wenn ich die Antwort (es kann sich auch um eine Metonymie in meinem eigenen Text handeln) nur um den Preis verstehe, daß ich in einen anderen Gesellschaftsdiskurs überwechsle? Soziale Kompetenz müßte dann in Sozialrevolutionäre Kompetenz übergehen. Dieses Problem läßt sich ausgezeichnet an der Oper »Carmen« illustrieren, die vier Jahre nach der Niederschlagung der Pariser Commune in Paris uraufgeführt wurde. Wir erleben mit, wie eine inkommensurable Zigarettenarbeiterin den Fragen und Sehnsüchten spanischer Militärs — es werden aber wohl französische gemeint sein — rätselhafte, anarchistische Antworten erteilt. Im ersten Akt wird ihr in einer Verhörszene schuldhaftes Verhalten vorgeworfen. »Haben Sie etwas zu antworten?« fragt der Leutnant. Carmen: »Lalala... ich liebe einen anderen und sage noch im Sterben, daß ich ihn liebe.« Ein anderer Offizier, Don Jose, fühlt sich schließlich zum Nachfragen gedrängt. Bei der Wiederbegegnung im zweiten Akt, die ihn Carmens liebe kostet, gibt er seinem Begehren Ausdruck: »Ich zwang mich, dich zu verfluchen, dich zu verachten, mich zu fragen: warum mußte das Schicksal sie mir über den Weg schicken?... und ich fühlte nichts in mir als ein einziges Verlangen...« Carmen antwortet im Präsens: »Dorthin, dorthin,ivenn du mich liebtest, würdest du mir folgen. Kein Offizier, dem du zu gehorchen hättest, und kein Zapfenstreich, um dem Verliebten zu sagen, daß es Zeit ist zu gehen.« Der Zapfenstreich gewinnt, Carmen verliert. Es zeigt sich, daß Don Jose lieber oftmals dasselbe fragt, als daß er je die Antwort hören wollte. Das Opernpublikum will sie übrigens auch nicht hören. Zuletzt hat das tödliche Folgen für die Antwortende. Aber man kann von ihr, der Adorno »lateinische Genauigkeit« nachrühmt, nicht sagen, daß sie nicht explizit genug wäre.
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4. Vom Fragespiel zum Methodenspiel 4.1 Der Diskurs als Gegenstand der Frage-Antwort-Kette Man fragt nach Gegenständen und findet manchmal schnelle Antworten oder könnte sie finden, wenn man den Widerspruch ertrüge. Aber es gibt Gegenstände, die sich erst der Vielzahl der Fragen erschließen. Je mehr Fragen gestellt werden müssen, desto mehr wird das Problem des Hintergrunds aller Fragen bewußt oder sollte bewußt werden, das des Diskurses. Wir haben gesehen, daß jede Frage, die auf eine Antwort folgt, in den Diskurs Ro eingetaucht und aus ihm aufgetaucht ist. Dann kann es doch sein, daß sich uns ein Gegenstand deshalb nicht erschließt, weil wir immer wieder aus einem immer selben Diskurs auftauchen, der als solcher die »Erkenntnisbarriere« darstellt. Es kann andererseits sein, daß der Diskurs uns die Erkenntnis schon erlauben würde — denn jeder Diskurs erschwert die eine Erkenntnis und erleichtert die andere —, aber nicht im zufälligen Zugriff irgendeiner Frage (R2, R?), die sich uns gerade aufgedrängt hat, sondern nur, wenn wir ihn sehr weitgehend »ausschöpfen«. In beiden Fällen ist im Grunde der Diskurs selbst unser Fragegegenstand, ob wir es nun merken oder nicht. Wir fragen zwar (Ri,x?), aber antworten können wir erst, wenn wir zuvor die Frage (Ri ,Ro?) beantwortet, also den Diskurs »rekonstruiert« haben. — Zur Diskussion dieses Falls muß man das bisherige Analysemodell, Fragen in einer F-A-Sequenz, erweitern. Es ist im Modell der einzelnen F-A-Sequenz schon impliziert, daß sie ohne weiteres in eine ganze Sequenzen-Kette übergehen kann: F1-A1-F2-A2 usw., oder im Detail: (Ri, x?) -(Ri, R2MR2» R?)-(R2> R3MR3, x?)-(R3, R4) usw. usf. Hierbei kann es sich um die Erfragung immer anderer Gegenstände xi?, X2?, X3? handeln, aber auch um immer denselben Gegenstand, der mit immer mehr auf ihn zugeschnittenen Fragen bedacht wird; der letzte Fall ist der interessantere. Es ist der Fall der »DiskursAusschöpfung« (und auch, nebenbei gesagt, des »Nachfragens«, dessen Gegenstand eine »unausgeschöpfte« Antwort über einen Gegenstand ist). An einer vielgliedrigen Kette kann man beobachten, daß die Fragen immer »genauer« werden. Wie das kommt, läßt sich an der Formel ablesen: es kumulieren sich in ihr die Ketten-Bestandteile aus Antworten auf (R2, R?), (R4, R?), (R$, R?) USW. Jede dieser Antworten macht das Radikal der Frage nach x? reicher, dadurch, daß sie tiefer in den Diskurs hineinführt. Das heißt aber auch, daß der Diskurs selbst immer kenntlicher wird. Diese Lösung berücksichtigt noch nicht die Tücken »geschlossener«, blindmachender Diskurse, auf die ich später zu sprechen komme, gibt aber ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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ein elementares Rekonstruktionsmittel in die Hand, hinter das man nicht zurückfallen darf, und ist darin wenigstens den gängigen DiskursRekonstruktions-Theorien überlegen. Das sei als erstes gezeigt. Zunächst fällt auf, daß solche Theorien, um zu rekonstruieren, stets gleich nach der Gesamtheit des Diskurses greifen. Der pflegt sich dann als chaotische Anhäufung von Sinn-Elementen zu präsentieren. Während wir vom Einzelnen ausgehen, suchen sie von vornherein die immanente Gesamtordnung in dieser sperrigen Vielfalt zu entdecken. Weiter scheint es, daß sie hauptsächlich vier Analyse-Möglichkeiten ins Spiel bringen. Wenn z.B. der »Diskurs der aristotelischen Physik« zur Debatte steht, kann man sich erstens auf Inventarisierung seiner Elemente beschränken, weil man meint, er folge einer ausschließlich »externen« Logik, etwa derjenigen der »materiellen Basis«. Sorgfältiger Beschreibungswille und äußerliche Akzentuierung derjenigen Elemente des diskursiven »Steinbruchs«, die jener vorgefaßten Logik entsprechen, gehen dann Hand in Hand. Zweitens kann man das Chaos der Bruchstücke bestehen lassen, es aber als VerstreuungsEffekt äiskvrsimmanenter Regeln begreifen, wie es etwa Foucault tut (vgl. 1981). Ob diese Regeln als autonom gelten oder selbst wieder aus einer externen Logik abgeleitet werden, ist hier zusätzlich zu entscheiden. Der dritte und vierte Fall ergibt sich, wenn die Chaotik »geleugnet« wird. Man geht entweder von einem rein formallogischen Ordnungsprinzip aus, rekonstruiert den Diskurs als logisch schlüssigen Zusammenhang von Aussagen, die als »Anwendungen« eines mächtigen »Strukturkerns« erscheinen, läßt alles, was in diesen Koffer nicht paßt, einfach beiseite, vergißt es, versäumt es zu erforschen, dekretiert, daß es »so zwar ist, aber nicht sein sollte«. Oder man geht von einem hermeneutischen Ordnungsprinzip aus und sucht darzustellen, wie der Diskurs in sukzessiven Fragen und Antworten voranschreite und derart seine Totalität erlange; er wäre dann so etwas wie eine »Phänomenologie des Geistes«. Die beste Analyse-Möglichkeit scheint mir die zweite zu sein, mit dem »externen« Zusatz, keineswegs die vierte. Aber man muß vor allem über die fünfte Möglichkeit reden, die es noch nicht gibt. Denn der hermeneutische Mißbrauch der Fragespiel-Kategorien kann diese nicht erledigen, so daß sogar Foucaults Rekonstruktions-Variante unbefriedigend bleibt, weil er sie ignoriert.Die fünfte Variante geht von der Einsicht aus, daß der Begriff der Rekonstruktion selbst differenziert werden muß. Die Regeln des rekonstruierten Diskurses fallen nämlich nicht mit den Regeln der Bewegung des Rekonstruierens zusammen. Foucault expliziert in seinen Studien nur die erstgenannten Regeln und ihre verstreuten Effekte. Ich zweifle nicht, daß seine eigene Rekonstruktionstätigkeit andere Regeln und Effekte enthalten hat — solche der Frage-Antwort-Kette. Hätte er auch sie expliziert, so wäre jeweils »inhaltlich« derselbe Diskurs noch einmal vor dem Leser ausgebreitet worden, aber in einer anderen Reihenfolge, der ReihenARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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folge der Entdeckung. Damit wäre die »Form« eine andere: die sperrige Vielfalt der Diskurs-Elemente wäre in sukzessive Fragen und Antworten aufgelöst, das heißt der Diskurs wäre linearisiert. Man wird diesen Gesichtspunkt nicht immer hervorheben, muß es aber unvermeidlich tun, wenn eine wissenschaftliche Revolution zu rekonstruieren oder gar in Gang zu setzen ist. Denn wissenschaftliche Revolutionäre können es sich nicht leisten, die Verstreutheit der Diskurs-Elemente bestehen zu lassen. Sie sind Diskurs-Rekonstrukteure anderer Art. Foucault sagt selbst, die »Codierung der Widerstandspunkte« könne zur Revolution führen. Das Mittel der Codierung aber ist die Frage-Antwort-Kette. Der Diskurs ist also zwar nicht, wie der hermeneutische Idealismus geglaubt hat, eine solche Kette, aber er miß es werden. Sonst gibt es keinen Erkenntnisfortschritt. — Man fängt an zufragen:allein dadurch schon gibt man dem Diskurs eine spezifische Ordnung, er ist jetzt in Frage, Fragegegenstand und Fragehintergrund aufgelöst. Das ist eine andere Ordnung als die in »logischen« und »nichtlogischen« Bereich. Diese Ordnung wäre statisch, jene ist dynamisch. Jene führt ja zu einer Antwort, die zu einer neuen Frage führt, und so weiter. So wird der Diskurs zur Frage-Antwort-Kette. Aber wenn der Diskurs den Revolutionär erblinden läßt? Wenn er gerade durch Regeln definiert ist, die es ausschließen, daß man durch ihm immanente Frage-Antwort-Ketten jenen Gegenstand x? jemals erreicht, auf den es ankäme? Das ist offenbar eine falsch gestellte Frage. Wenn ich im Diskurs vom Jenseits des Diskurses spreche, mache ich doch eine diskursimmanente Äußerung und kann daraus nur zwei Schlüsse ziehen; entweder rede ich gar nicht wirklich von einem Jenseits oder es gehört zu den Regeln des Diskurses, in dem ich rede, daß ihm sein Jenseits immanent ist. (Ich greife vor und kann daher nur abstrakt formulieren.) Da es aber wissenschaftliche Revolutionen gibt, muß man das letztere annehmen. 4.2 Wer ist der Mächtige? Ein Fragespiel über zwei Sequenzen Mit diesem Hinweis ist die Frage der »Entmachtung des Diskurses« aufgeworfen und ihre positive Beantwortbarkeit postuliert. Die blinden Flecke im Diskurs machen uns keine Angst, denn wenn wir sie sagen können, können wir sie auch suchen und schließlich zum Gegenstand unserer Frage machen. Aber dieser Schluß istnoch viel zu pauschal. Wir bleiben dabei, uns dem Problem vom Ausgangspunkt, gleichsam von der »normalwissenschaftlichen« Seite her zu nähern, die wir freilich nicht nach dem logischen Modell begreifen. Die Erfragung der blinden Flecke ist das erreichbare »revolutionäre« Ziel, aber wie sieht es aus, wenn wir zu fragen beginnen! Wir wissen es schon: was immer wir als Beginn ansetzen, vielleicht den Augenblick der Trennung von unseren Lehrern, wir werden uns in einer ersten F-A-Sequenz bewegen und diese zunächst zur zweiten hin überARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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schreiten. Zwei Sequenzen nötigen schon zu Modellerweiterungen. Es gibt vier Möglichkeiten: entweder führen beide Sequenzen zu subsumtiven Antworten, oder zu widersprechenden, oder die erste zur subsumtiven, die zweite zur widersprechenden, oder umgekehrt. Der interessanteste unter diesen Fällen ist der dritte. — Man denke sich, es werde in einer kleingruppendynamischen Situation gefragt, wer der Mächtige sei, und die Antwort ordne die Machteigenschaft der Person P zu. Nun mag sich schon die nächste Frage: was die andern mit P tun könnten, um seine Macht zu brechen, als so nicht beantwortbar erweisen. Man kommt schließlich darauf, daß schon die Grundannahme der ersten Frage falsch war, Macht sei Eigenschaft einer Person; vielmehr, wird jetzt gesagt, ist sie Struktureffekt eines Machtspiels, an dem alle mehr oder weniger teilnehmen. Folgende Kette ist durchlaufen worden: (Ri, x?)-(Ri, R2MR2» R?)-(R2, R3MR3, x?Mnicht Rj/nicht R\, sondern R4). Der letzte Klammerausdruck ist neuartig, obwohl er nur das bisher schon über widersprechende Antworten Gesagte differenziert. Diese bestehen ja immer darin, daß sie ein Frageradikal in verschiedene Bestandteile auflösen und so einen Fehler isolieren. Von der anfänglichen Frage aus gedacht, sieht man aber, daß man ihr zunächst subsumtiv antworten konnte, obwohl ihr schließlich widersprochen wird. Es kommt also, wenn man den Rahmen der einzelnen F-A-Sequenz überschreitet, zu einer Relativierung des Unterschieds von subsumtiver und widersprechender Antwort; der Frage (Ri, x?) widerfährt die eine wie die andere, je nach Gesichtspunkt. Es wird aber noch komplizierter. Wenn die zweite Sequenz mit einer widersprechenden Antwort endet, kann das auch andere Gründe haben als den, daß die erste Sequenz mit einer falsch gestellten Frage begann. Sie kannrichtiggestellt gewesen sein, man mag Macht tatsächlich Personen zurechnen können, aber die Frage (R3, x?) enthält die falsche Vorstellung, die Macht gerade P's, nach deren Brechung sie fragt, beruhe auf seinen Lügen; in Wirklichkeit werden diese vielleicht von allen durchschaut, und das Problem liegt eher in P's Zahlungsfähigkeit. Die Vorstellung hat sich im Übergang zwischen den beiden Sequenzen eingeschlichen — man kennt P's Lügenhaftigkeit, und wenn er nun als Mächtiger erscheint, fällt darauf der erste Gedanke. Das heißt der Fehler liegt darin, daß man auf die Frage (R2, R?) mit (R2, R3) und nicht, sagen wir, mit (R2, R4) geantwortet hat. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: der Fehler liegt im ersten F-AÜbergang, aber nicht weil die Frage falsch war, sondern weil eine andere subsumtive Antwort hätte gegeben werden müssen; ein anderer als P ist der Mächtige. Kompliziert wird es, weil jedesmal die zweite Sequenz mit einer widersprechenden Antwort endet, ohne daß sich an (R3, x?) unmittelbar ablesen ließe, wo der Fehler entstanden ist. »Wie läßt sich P's Lügenhaftigkeit und damit seine Macht brechen?« lautet die Frage in allen Fällen. Scheitert sie schon an der Personifizierung von Macht? Oder an ihrer ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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Koordination von Macht und Lüge? Oder am Irrtum über den wahren Täter? So viele Möglichkeiten schon im Übergang von einer Sequenz zur nächsten. Man kann sich vorstellen, wie vide Entscheidungen auf wie vielen Ebenen faktisch getroffen werden, wenn ein ganzer Diskurs durch eine FA-Kette »weitgehend ausgeschöpft« oder wenn er gar »entmachtet« werden soll. Die Behauptung des vorigen Kapitels, es sei günstig, alle Antworten zu explizieren, sollte damit plausibel geworden sein. Wir können noch eine weitere Schlußfolgerung ziehen. Wenn bei der zuerst erörterten Verlaufs-Möglichkeit die Frage der ersten Sequenz erst in der zweiten Sequenz zurückgewiesen wird, sehen wir, daß sie mehr konstituiert als nur einen Frageraum, in dem sich eine Antwort entweder bewegt oder den sie überschreitet. Denn offenbar stellt sich die Frage ihrer Frageraum-Grenzen noch in der zweiten Sequenz für eine zweite Antwort, nach der sie unmittelbar gar nicht gefragt hat. Es scheint daher, daß sie zugleich mit ihrem unmittelbaren Frageraum einen Frageraum größerer Ordnung zu eröffnen beginnt, der je nachdem, wie gut sie gestellt ist, in den folgenden F-A-Sequenzen durch Anbau weiterer Frageräume erweitert, aber auch durch rückwirkende Kritik weiterer Antworten eingeengt oder zerstört werden kann. Mit anderen Worten, sie ist mehr oder weniger richtig gestellt und hat danach ein Potential, das über endlich viele Sequenzen hinausreicht und irgendwann einmal durch widersprechende Antwort erlischt; der Fall, daß sie sofort zurückgewiesen wird wie oben die Uhrzeitfrage, ist nur der Grenzfall solchen Geschehens. Wenn das Potential der Ausgangsfrage erlischt, hat sich keineswegs im Rückblick auf die Vorgeschichte eines Fehlers gezeigt, daß »alles umsonst war«. Es war bestimmt nicht umsonst, nach der Person des Mächtigen zu fragen, auch wenn sich später herausstellt, daß Macht keine personale Eigenschaft ist. Trotzdem muß es ja einen Grund haben, daß auf die Frage mit »P«-geantwortet wurde: der Fragegegenstand wird es nahegelegt haben. Man wird diese Antwort nun re-interpretieren. So ist es, um ein anderes Beispiel zu nehmen, sicher auch falsch, in der Kapitalistenklasse den ambulanten Geheimausschuß zu vermuten, der über schwer abhörbare Leitungen die Regierung unserer Gesellschaften anruft und steuert. Aber wenn man sich naiver Vorstellungen entschlägt, bleibt immer noch bestehen, daß die Kapitalistenklasse mit Herrschaft sehr viel »zu tun haben« könnte. Sie taucht durchaus nicht grundlos in jenem Fehlurteil auf. Mir scheint im übrigen, daß das Modell des endlichen Frage-Potentials bereits ein elementares Verständnis des Wechsels von »normaler« und »revolutionärer« Wissenschaft, besser gesagt der rationalen Seite dieses Wechsels erlaubt (denn im Zweiten Teil werden wir sehen, daß es auch irrationale gibt). Die »Normalwissenschaft« gerät nicht erst in der »letzten Sequenz« in den Widerspruch, wie es ihre logische Rekonstruktion suggeARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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riert; gerade in der Rekonstruktion muß man zeigen, daß sie vom Widerspruch niemals frei ist und doch eine Weile bestehen kann. 4.3 Von der spontanen zur antizipierbaren Frage-Antwort-Kette Wir haben eben ein Fragespiel über zwei Sequenzen verfolgt. Die Analyse dreier Sequenzen wird sich nun als hinreichend erweisen, um den Begriff des »methodischen Vorgehens« zu rekonstruieren. Nehmen wir hier den Fall, daß die ersten beiden Sequenzen mit subsumtiven Antworten enden, die dritte aber in den Widerspruch führt, und fragen wir, was sich aus der wiederholten Subsumtion gewinnen läßt. Ich behaupte: im Rahmen dieses Falls wird man an eine Frage (Rj, x?) sogleich die Frage der zweiten Sequenz, (R3, x?), anschließen können, noch bevor in der ersten Sequenz geantwortet wurde. D. h. man wird von vornherein die Methodenfrage (Rj, R3, x?) stellen können. Damit wäre aus der spontanen Entwicklung der ersten Sequenz in die zweite hinein, die wir im vorigen Abschnitt beobachtet haben, eine Antizipation der zweiten Sequenz vom Standpunkt der ersten geworden. Ich denke hier natürlich nicht an den simplen Fall der Checkliste, die nur deshalb von vornherein mit vielen Fragen bestückt werden kann, weil die Fragen sich auf verschiedene x? beziehen — z. B. Eigenschaften der Person P: Größe, Wohnort, Augenfarbe, etc. —, wobei jede von jeder Antwort auf eine der anderen Fragen unabhängig ist. Die Checkliste ist ein Aspekt auch wissenschaftlicher Methoden, jedoch der unproblematische, der keine Analyse erforderlich macht. Paradox scheint es nur, daß man bei gleichen x? eine Frage F2 stellen können soll, die auf einer unbekannten Antwort Ai aufbaut. Jedoch zeigt ein Blick auf die semantische Formel noch vor der Bemühung von Beispielen, daß der eine Fall genauso leicht zu bewältigen ist wie der andere. Nach A2 fragen, ohne A4 zu kennen: das heißt (R3, x?) explizieren vom Standpunkt (Rj, x?) ohne R2. Aber R2 kommt in (R$, x?) gar nicht vor, man braucht es nicht zu kennen. — Das ist kein Taschenspielertrick, sondern die Folge davon, daß (R3, x?) nicht unmittelbar auf die Antwort der ersten Sequenz gefolgt, sondern danach noch in den Diskurs zurückgegangen ist. Würde die Antwort der ersten Sequenz vorliegen, so hätte sie die Richtung dieses Rückgangs und des mit ihm verbundenen »Einfalls« bestimmt und daher indirekt auch den Inhalt von R3. Aber aucfi wenn sie nicht vorliegt, liegt der Diskurs vor, und er liegt schon vor/?/, — in ihn kann man immer zurückgehen, auch ohne jede Antwort. Die methodische Antizipation wird dem Diskurs ein R3 entnehmen, das zu Ri paßt, sich nämlich auf (Rj, R?) antworten läßt, und man kann sicher sein: wenn wirklich in den beiden betrachteten Sequenzen nach Voraussetzung nur subsumtiv geantwortet wird, dann wird sich das auf (Rj, R?) Geantwortete auch zur Antwort auf (R2, R?) eignen —wo ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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bei spontaner Frage-Antwort-Kette der Entstehungsort von R3 wäre —, denn R2, worin immer es besteht, ist nichts weiter als ein Teil von Rj. — Wir sind in einem früheren Abschnitt von der Frage ausgegangen, wie man durch fortwährendes Fragen und Antworten den Diskurs immer mehr »erkennt«. Jetzt hat sich unsere Betrachtung umgekehrt und wirfrnden,daß wir Teile des Diskurses immer schon erkannt haben oder zu haben glauben — womöglich haben wir diese Teile sogar schon logisch zur Theorie koordiniert — und deshalb auch mehrere Teile auf einmal verwenden dürfen, bevor wir überhaupt zu antworten anfangen. Das Beispiel des vorausgegangenen Abschnitts läßt sich auch hier verwenden. Wir brauchen nur anzunehmen, daß sich auch noch die Frage, wie P s Lügenhaftigkeit und damit seine Macht gebrochen werden könne, subsumtiv beantworten läßt, und ferner daß den Fragenden der Zusammenhang von Macht und Lügen nicht erst nach der Entdeckung von P eingefallen ist: vielleicht kennen sie von vornherein die »Priestertrugtheorie«. Dann können sie auch von vornherein mit ihrer Frage Fi auf die Antwort A2 zielen und den »Priestertrug des Mächtigen besiegen« wollen, »wer immer es auch sei«. Mühelos läßt sich das in eine methodische Schrittfolge verwandeln: man fragt erst nach der Person des Mächtigen, dann nach der Besiegung seines Trugs. Hier ist wieder einmal daran zu erinnern, daß meine Fragespielanalyse nicht von »wahren Aussagen« handelt. Die Annahmen der Fragenden mag man für falsch halten und bedauern, daß sie nicht schon nach der ersten Sequenz scheitern. Aber an ihrer Suchweise läßt sich nicht rütteln, solange wir unterstellen dürfen, daß sie »ernsthaft« fragen, d. h. die Richtung der Suche jederzeit korrigieren, wenn der Fragegegenstand es nahelegt. Eine darüber hinausgehende Hoffnung wäre unseriös. Wenn ein methodisches Vorgehen scheitert, hat man zwar einen »größeren« Fehler gemacht, als wenn schon die erste Frage Widerspruch erntet. Aber der größere Fehler enthält auch größere Erkenntnis, nachdem er reinterpretiert worden ist, als der kleinere. Es entsteht also keineswegs ein Schaden. Das ist bei Methoden, die ihren Gegenstand umproduzieren, um ihn angeblich zu erkennen oder auch nur überhaupt zu »nutzen«, natürlich anders, aber dann liegt das Problem in der Umproduktion und nicht in der Fragekette. Das methodische Vorgehen in der Wissenschaft unterscheidet sich wesentlich von dem der obigen Gruppendynamiker, wenn man die Dignität der Annahmen unter der Wahrheitsfrage vergleicht. Der Methodenmechanismus als solcher ist aber im Kern derselbe. Um das zu demonstrieren, gebe ich zwei Beispiele aus Saussures linguistischer Abhandlung, die den Vorteil haben, daß sie den Frage-Charakter von Methode unmittelbar erkennen lassen. (Die Allgemeinheit dieses Methodenbegriffs wird teils im übernächsten Abschnitt, teils im Schlußkapitel gezeigt, dadurch, daß ich erstens auch das algorithmische Verfahren auf ihn zurückführe und zweitens die Verwandschaft, manchmal das ZusammenfalARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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len des Algorithmus mit gängigen Methodenbegriffen erweise.) Saussure will z.B. wissen, was die »spezifischen« Folgen des Wegzugs der Sachsen vom europäischen Kontinent nach England für ihre Sprachentwicklung waren. Er beantwortet sie aber nicht, kann sie noch nicht beantworten, sondern stellt eine zweite Frage: »Um das beurteilen zu können, müßte man sich zuerst fragen, ob diese oder jene Veränderung nicht ebensogut hätte eintreten können, wenn der geographische Zusammenhang erhalten geblieben wäre.« (1967,252) — Ein anderes Beispiel erstreckt sich über mehr als zwei Sequenzen und demonstriert dadurch die Allgemeinheit unseres Modells für beliebig viele subsumtive F-A-Sequenzen. Was ist der Ursprung der Sprache? fragt Saussure zunächst. »Diese Frage sollte man überhaupt gar nicht stellen; das einzig wahre Objekt der Sprachwissenschaft ist das normale und regelmäßige Leben eines schon vorhandenen Idioms.« Diese widersprechende Antwort wird gegeben, weil Saussure an der Frage nur den Aspekt des historischen Herangehens richtig, den Aspekt des Ursprungsdenkens jedoch falsch findet. Der Übergang zur nächsten Sequenz ist offenbar von der Frage ausgelöst, welches nicht ursprungsmythische historische Herangehen an Sprache im Diskurs bereitliegt. Das läuft darauf hinaus, »die Frage so zu stellen, wie man es bei anderen sozialen Einrichtungen tun würde«, nämlich zu fragen, wie Sprachzustände ineinander übergehen, ähnlich wie man zu fragen pflegt, wie die sozialen Einrichtungen sich »übertragen«. Das heißt aber, es muß die Frage nach dem Sprachübergang erst einmal zurückgestellt werden; erst werden die Institutionen im allgemeinen, dann die Sprache befragt. Und die Frage nach den Institutionen zerfällt selbst wieder in mehrere: »Es gilt also, zuerst den größeren oder geringeren Grad der Freiheit, die bei den anderen Institutionen obwaltet, zu beurteilen« (Frage der ersten Sequenz im methodischen Vorgehen); »dabei zeigt sich, daß bei jeder derselben ein verschiedener Gleichgewichtszustand zwischen feststehender Tradition und freier Tätigkeit der Gesellschaft besteht« (die Antwort wird gleich mitgeliefert). »Dann gilt es, zu untersuchen, warum in einer bestimmten Kategorie die Faktoren der ersten Art denen der zweiten Art an Wirksamkeit überlegen oder unterlegen sind.« (Zweite Sequenz, die Antwort wird offengelassen.) »Endlich wird man, auf die Sprache zurückkommend, sich fragen, warum sie ganz und gar beherrscht wird von der historischen Tatsache der Übertragung, und warum dies jede allgemeine und plötzliche sprachliche Änderung ausschließt.« (Frage der dritten Sequenz.) »Bei der Beantwortung dieser Frage könnte man viele Gründe angeben und z* B. sagen... Man könnte auch daran erinnern... Ferner kann man darauf hinweisen... Und selbst dann müßte man sich gegenwärtig halten...« (Saussure mißt seinen Frageraum aus. Und nun antwortet er:) »Diese Überlegungen sind wichtig, aber sie sind nicht entscheidend; größeres Gewicht ist auf die folgenden zu legen, die wesentlicher, direkter sind, und von denen alle anderen abhängen. 1. Die Beliebigkeit des Zeichens...« (84f)
»Beliebigkeit des Zeichens«: ein auch nur flüchtiger Blick auf die sprachwissenschaftliche (und sogar philosophische) Diskussion zeigt, daß Saussure eine wichtige Antwort gelungen ist — ausgehend von einer eher unoriginellen Frage, die jeder stellen könnte, und konsequent auf den Bahnen der antizipierenden Frage-Antwort-Kette.
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4.4 Die Aufforderung im Methodenspiel Ich bezeichne das Verfahren, eine Frage-Antwort-Kette zu antizipieren und dann zu durchlaufen, als Methodenspiel. Die Vorteile dieses Spiels hoffe ich gezeigt zu haben. Aber man kann nicht von »Methode« sprechen, ohne auf den Vorwurf einzugehen, daß »durch Methoden die Gegenstände vergewaltigt werden«. Dieser Effekt tritt tatsächlich ein, wie ich jetzt zeigen will, wenn die Regeln des Methodenspiels auch nur»geringfügig« modifiziert werden. Es ist dieselbe Modifikation, die das Fragespiel schon einzelner Sequenzen aufs Befehlsspiel reduziert: der Ausschluß widersprechender Antworten. Unser Modell des Methodenspiels über zwei Sequenzen mit subsumtiven Antworten steht und fällt damit, daß der Fragende auf Widerspruch reagiert. Widerspruch kann an zwei Stellen erfolgen. Einmal am Ende der dritten Sequenz. Der Fragende, der an seine zwei antizipierenden Fragen noch eine dritte hängt, muß erkennen können, daß er das Spiel zu weit getrieben hat. Zum andern aber schon zwischen den beiden ersten Sequenzen. Kommen wir, um den Fall zu demonstrieren, noch ein letztes Mal auf die »Gruppendynamiker« zurück. Man fragt also 1. Wer ist der Mächtige? und 2. Wie besiegen wir »ihn«? Es ist nichts gegen diese Vorweg-Fragen einzuwenden, wenn die bisherige Erfahrung sie nun einmal nahelegte. Aber alles hängt nun daran, daß man schon die erste Frage ernsthaft als Frage stellt, also gegebenenfalls auch ihre Zurückweisung hinnimmt und die Konsequenzen zieht. Die erste Konsequenz müßte darin bestehen, daß man die zweite Frage fallenläßt. Angenommen nämlich, es ist sofort klargeworden, daß die Suche nach einer Person unsinnig ist, dann ist das in der zweiten Frage vorkommende »ihn« gegenstandslos und die Frage damit hinfällig. Technisch gesprochen: die antizipierte Frage (R3, x?) setzt voraus, daß ein A-F-Übergang (Ri, R2HR2» R?MR2» R3) durchgespielt werden kann; wenn aber statt einer erwarteten subsumtiven Antwort in der ersten Sequenz die Antwort (nicht Rj, sondern R2) erfolgt, dann ist R3 unmöglich geworden — es ließ sich denken als Antwort auf (Ri, R?) oder auf (R2, R?), aber nicht als Antwort auf (nicht Rj, R?) oder auf (sondern R2, R?). Das Schlimme ist, daß sich Vorweg-Fragen auch stellen lassen, wenn die Bereitschaft zum Widerspruch fehlt, die hier nichts anderes ist als die permanente Erfahrungsberätschaft, in der man Methoden nicht nur gut vorbereitet und nach dem Einsatz einer Manöverkritik unterzieht, sondern auch dazwischen jederzeit abbricht, wenn es sein muß. Ein solcher Abbruch schadet ja gar nichts. Man geht eben von der antizipierenden F-AKette mit falscher Antizipation wieder zur spontanen F-A-Kette über und stößt vielleicht später erneut auf eine Frage mit hinreichendem Potential für eine neue Antizipation. (Wie ich im vorigen Kapitel andeutete, scheint ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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gerade dieses Denken zu den Charakteristika wissenschaftlicher Revolutionäre zu gehören.) Läßt man aber den Widerspruch weg, dann wird aus antizipierenden Fragen eine Befehlskette. Es heißt dann: 1. Geben wir den Mächtigen an! 2. Besiegen wir ihn! Jetzt ist »supponiert«, daß es einen Mächtigen gibt; also wird man »ihn« auchfinden;sollte noch etwas Zweideutiges passieren, wird es nicht als Widerspruch zur Frage aufgenommen, sondern als »logischer« Widerspruch, den man übersieht oder ausschließt. Aus der gruppendynamischen Suche wird so eine polizeiliche Rasterfahndung — P's Lügenhaftigkeit wird gleichsam neben seine Größe und Augenfarbe als »besonderes Kennzeichen« in die Checkliste eingefügt — und aus unvollkommener Gegenstandserfahrung eine gegenstandsfreie Zielstrebigkeit, die auch ihren Erfolg haben wird, wenn sie es nicht zu bunt treibt. Denn gegenstandsfreie Zielstrebigkeit ist möglich: durch Umproduktion der Gegenstände. Man muß sich natürlich an die physikalischen Gesetze halten, aber das schließt die Amputation vieler Glieder, die aus diesem oder jenem edlen Frageraum heraushängen, nicht aus. Hat man es mit ideellen Fragegegenständen zu tun, ist die Amputationsfreiheit praktisch absolut. Man sollte es nicht für möglich halten, aber wie ich noch zeigen werde, wird die aus Befehlen zusammengesetzte Methode durchaus für ein Erkenntnismittel gehalten. Einer der Gründe, sicher nicht der wichtigste — am wichtigsten werden hier gesellschaftliche Gründe sein —, liegt in der Verwechselbarkeit von Befehls- und Frageketten auf der Ebene ihrer unmittelbaren Formulierung, wo in beiden Fällen Aufforderungen das Bild bestimmen. Das führt nämlich dazu, daß selbst gutwillige Methodentheoretiker, die gar keine »Vergewaltigungs«-Absichten haben, Frage- und Befehlsgesichtspunkte durcheinanderwerfen, nicht weil sie wüßten, was sie tun, sondern weil ihre Theorie die Oberfläche der Methodenformulierungen abspiegelt. — Schon die Frage, wie spät es sei, kann in der Formulierung »Sagen Sie mir die Uhrzeit!« gegeben werden, und es ist nichts an ihr auszusetzen. Der »sozial Kompetente« muß erkennen können, daß Ausrufungston und -zeichen auf Befehl oder Bitte hindeuten, wenn er auf der Straße von einem Fremden angesprochen wird, auf Frage, wenn der Satz in einem Seminar über Heidegger oder über Einstein fällt und ein gewisser Gesprächskontext besteht. Handelt es sich aber um ein ganzes Methodenspiel, so kann man nicht nur, sondern muß in Aufforderungen reden. Denn wie bringt man die Frage F2 in dem Augenblick vor, wo man sie antizipierend zu Fi ergänzt? Sie ist noch keine Antwort. (R3, x?) könnte zwar durch (R2, R3) rhetorisch ersetzt werden, aber wir verfügen noch gar nicht über diesen Ausdruck. Sie ist auch noch keine Frage, denn wir nennen sie nicht, um sie zu beantworten, sondern um ihre Beantwortung anzukündigen. Stattdessen fordern wir dazu auf uns oder andere, sie später zu stellen. Das haben wir auch bei Saussure gelesen: »Es gilt also, zuerst zu beurARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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teilen... Dann gilt es zu untersuchen...« Das sind Aufforderungen. »Endlich wird man sich fragen...« Aufforderungen, die gleichwohl keine Befehlskette schaffen. Der Unterschied zwischen Befehlsketten und Frageketten ist kein Unterschied zwischen Aufforderungen und Nichtaufforderurigen. Aber es läßt sich dennoch hinreichend deutlich zwischen ihnen unterscheiden. In der methodischen Fragekette wird dazu aufgefordert, bei den antizipierten Fragen anzukommen, dadurch, daß man die Antworten zu geben versucht, auf denen sie aufbauen; in der methodischen Befehlskette wird umgekehrt dazu aufgefordert, bei bestimmten Antworten, nämlich bei subsumtiven, anzukommen, damit die auf ihnen aufbauenden »Fragen« auf gar keinen Fall scheitern können — womit sie sich in Befehle verwandeln. Auf der formalen Ebene ist dieser Unterschied ganz klar/Die Fragekette geht von der Methodenfrage (Rj, R3, x?) aus und entwirft mehrere Schritte: 1. (Rj, x?), 2. !(R3, x?). Daß sie die Frage (R3, x?) antizipieren kann, folgt aus dem Enthaltensein von R3 in der Methodenfrage, die ihrerseits über R3 verfügt, weil (R\, R?) gefragt worden war. Wird den methodischen Schritten nun gefolgt, dann verläuft entweder alles erwartungsgemäß, d. h. es kommt zuletzt im A-F-Übergang zwischen 1. und 2. zu der Antwort (R2, R3) und man ist bei der antizipierten Frage (R3, x?) tatsächlich angekommen, oder es ist überraschend auf (Rj, x?) mit (nichtRj, sondern R2) geantwortet worden, woraufhin man die Methode abbricht und eine neue sucht. Dagegen ist in der Befehlskette die Möglichkeit widersprechender Antworten eliminiert, d. h. die Schrittfolge lautet hier: 1. !(Rj, R2), 2.KR3, R4). (Wir werden diesen Punkt in dem Kapitel über »Fragespiel und Befehlsspiel« noch vertiefen.) Auf der Formulierungsebene, wie gesagt, ist der Unterschied genügend unklar, daß sich Methodentheoretiker über ihn irren können. Aber man muß nun keineswegs glauben, Irrtümer seien unvermeidlich, sofern man nicht über die Sprache der Satzradikale verfügt. Das demonstriert eine bemerkenswerte Passage im Marxschen »Kapital«, die begriffslos zwar — im Hinblick auf die wissenschaftslogische Seite des Problems —, aber mit völlig eindeutigem Sinn zwischen zwei Arten von Aufforderung unterscheidet, in der wir leicht den Unterschied zwischen Aufforderung zur Frage und Aufforderung zur subsumtiven Antwort wiedererkennen. Marx spricht von »Direktive« und »Kommando« (MEW 23, 350ff). Es handelt sich um zwei Arten, die Tätigkeit mehrerer Produzenten zu koordinieren. Das »Kommando des Kapitals« über Produzenten, die »Widerstand« üben, ist letztlich »bedingt durch den unvermeidlichen Antagonismus zwischen dem Ausbeuter und dem Rohmaterial seiner Ausbeutung«. In diesem Modell wird die Produktion nicht dadurch koordiniert, daß jeder mit jedem, soweit möglich und sinnvoll, zusammenarbeitet, sondern durch Zusammenarbeit aller mit der Kommandozentrale, wie beim Militär. Die Zentrale schreibt ihnen einige Verbindungen untereinander ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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(Verarbeitungswege) vor und unterbindet andere, so daß sie nur deshalb koordiniert sind, weil es die Zentrale gibt, und ohne sie auseinanderfallen würden. »Der Befehl des Kapitalisten wird (...) so unentbehrlich wie der Befehl des Generals auf dem Schlachtfeld.« In einer befreiten Produktion wäre auch Koordination und damit Aufforderung notwendig, aber nunmehr als »Direktive«, deren Vorbild Marx in Ermangelung anderer empirischer Anhaltspunkte aus der Kunstsphäre entnimmt. »Ein einzelner Violinspieler dirigiert sich selbst, ein Orchester bedarf des Musikdirektors.« Dessen Aufforderung will und kann die Selbständigkeit der Produzenten nicht verletzen. Die Orchesterleitung »vermittelt« nur die »Harmonie der individuellen Tätigkeiten« und realisiert »die allgemeinen Funktionen (...), die aus der Bewegung des produktiven Gesamtkörpers im Unterschied von der Bewegung seiner selbständigen Organe entspringen«.
Auch eine Frage ist ein Produzent; sie produziert eine Antwort. Deshalb kann man Produzenten umgekehrt als Fragende modellieren. Jeder einzelne versucht sich an seinem Arbeitsgegenstand und kann von ihm auch überrascht werden. Wenn mehrere zusammenarbeiten, müssen sie eine Methode entwerfen. Das geantwortete Produkt des einen soll so beschaffen sein, daß der andere es mit seiner Frage weiterverarbeiten kann. Arbeiten sehr viele zusammen, wird man besondere Personen damit beauftragen, die Methodenfunktion zu realisieren. Aber die Autorität dieser Personen wird nur genau so weit reichen, wie sich die Fragen, zu denen sie auffordern, tatsächlich stellen und beantworten lassen. Fällt nun die Methodenfunktion in die Hände eines »Kommandanten«, so braucht dieser keine Autorität mehr, weil er die Macht hat, die Frage nach der Stellbarkeit und Beantwortbarkeit seiner Vorgaben zu eliminieren. Marx betont die Konsequenz, daß die Einheit der Produktion dann nur noch im Kommando liegt, die Produzenten also voneinander getrennt sind. Das zeigen auch die semantischen Formeln: während in der Fragekette der Anfang (Ri, x?) durch sich selbst in! (R3, x?) übergehen muß, wenn dort etwas soll weiterlaufen können — übergehen durch (Rj, R2MR2» wobei (Rj, R2) die Gegenstandserfahrung ins Spiel bringt und (R2, R?) das Recht der methodischen Antizipation R3 ausdrücklich prüft —, ist dieser Übergang in der Befehlskette buchstäblich herausgebrochen, denn hier heißt es nur !(Rj, R2) und !(R3, R4), und dazwischen ist nichts als Getrenntsein. 4.5 Methodenspiel und Algorithmus In diesem Abschnitt soll gezeigt werden« daß sich F-A-Ketten weitgehend durch algorithmische Prozesse modellieren lassen, die ich als »Logik der Methode« bezeichne. Weitgehend, aber nicht vollständig; wie sich auf einfacherer Modellstufe auch die F-A-Sequenz nicht vollständig als logischer Ablauf auffassen ließ. Die Grenzen des Algorithmus sind den Grenzen jener einfacheren Stufe analog: seine Gültigkeit setzt einerichtiggestellte Frage, hier Methodenfrage, voraus, und damit ist auch schon gesagt, daß ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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sich nur die antizipierbare F-A-Kette algorithmisch modellieren läßt, die aber den Mechanismus und die Rationalität der F-A-Kette überhaupt keineswegs erschöpft. Das sind keine »Einwände« gegen Algorithmen. Fast überall, wo tatsächlich algorithmisch gedacht wird, wäre es bestenfalls semantische Spielerei, wollte man darauf hinweisen, daß der Algorithmus »eigentlich« den Mechanismus des Fragespiels nicht erschöpft, ja daß das Wort question in Computerspielen nicht korrekt gebraucht wird, weil man es »eigentlich« ' mit demands zu tun hat. Mehr noch, es ist offensichtlich, daß der algorithmische Apparat viel subtiler ist, als es der Apparat der Notierung von Satzradikalen je werden könnte; ein Vorschlag, man solle ihr Verhältnis »auf die Füße stellen« und algorithmisches Denken durch Aufmerksamkeit gegen F-A-Ketten ersetzen, wäre ganz absurd. Und doch gibt es zwei Gründe, weshalb auf die Grenzen des Algorithmus hinzuweisen ist. Der erste ist: man muß einem Methodenverständnis vorbeugen, welches sich an der Logik der Methode so einseitig orientiert, daß es für nichtlogische Methoden blind wird oder sie entstellt oder gar verbietet; zweitens muß man einem Verständnis der wissenschaftlichen Revolution vorbeugen, welches die r volutionären F-A-Ketten auf algorithmische Prozesse reduziert, obwohl gerade für sie die widersprechende Antwort spezifisch ist. Unter einem Algorithmus versteht man ein schematisches Verfahren zur Lösung bestimmter Klassen von Aufgaben, wobei jeder einzelne Schritt dieses Verfahrens im voraus genau definiert ist. Das »Philosophische Wörterbuch« von Klaus/Buhr bemerkt, daß die Algorithmentheorie sich philosophisch gesehen »nicht mit der Erkenntnis, sondern mit Anweisungen zum Handeln, zur Umgestaltung der Welt« befasse. »Jede Tätigkeit, die algorithmisch beschrieben werden kann, hört auf, schöpferische geistige Tätigkeit zu sein, und wird zur schematischen Arbeit.« (1964, Bd. 1,51). Ihrer Formulierung nach sind Algorithmen Aufforderungsketten. Z.B.: »Führe zunächst Operation A aus. Prüfe dann, ob die Bedingung p gegeben ist. Ist sie gegeben, so führe die Operation B aus usw. Ist die Bedingung p jedoch nicht erfüllt, so (...) fahre mit C weiter (...)« (ebd) Dies entspricht den beiden vorausplanbaren Schritten eines Methodenspiels, die in einer Methodenfrage (Ri, R3, x?) stecken, nämlich 1. (Rj, x?), 2. HR3, x?). Der Algorithmus ist aber verwandelte Form dieser beiden Schritte. Denn erstens wird dazu, die Ausgangfrage zu stellen, ausdrücklich aufgefordert. Das wäre z. B. in dem Methodenspiel um die »mächtige Person P« überflüssig gewesen. Es gibt aber andere, kompliziertere Spiele, in denen zweifellos überlegt werden muß, welche Reihenfolge man den vielen antizipierten Fragen gibt und mit welcher man anfängt — welches die elementarste Frage ist —; dann wird man zu diesem Anfang auch auffordern. Zweitens impliziert aber die Formulierung »führe A aus, wenn p!«, die den zweiten algorithmischen Schritt und alle späteren Schritte charakARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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terisiert, daß gar nicht zur Stellung einer Ausgangs/rage aufgefordert worden war. Das ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich — wir können sie ja mit »führe (R3, x?) aus, wenn (Rj, R2)« paraphrasieren und ihr, als ob sie eine Frage wäre, zu erwidern versuchen: »Weil nicht (Rj, R2), sondern (nicht R\, sondern R2), führen wir (R3, x?) nicht aus«. Aber so ist es nicht gemeint. Der Fall, daß (Ri, R2) nicht eintritt, ist nicht vorgesehen, da man analog zu Bunges Problembegriff eine »wohldefinierte« Methodenfrage verlangt, die auf gültige Antworten hinauslaufen muß. Zwar kann es passieren, daß »die Bedingung p nicht erfüllt« wird, aber das heißt dann nur, daß eine andere Bedingung q oder auch eine leere Bedingung nicht-p eintritt, die genausogut im Algorithmus als Möglichkeiten vorgesehen waren wie die Erfüllung von p. Auf eine Frage können ja immer mehrere subsumtive Antworten erfolgen. »Führe A aus, wenn p!« kann z.B. heißen: »Gehe zur Arbeit, wenn du '16 Uhr' von deinem Armband abgelesen hast!« Der Algorithmus wird nicht außer Funktion gesetzt, wenn ich stattdessen »13 Uhr« ablese, vielleicht nicht einmal, wenn ich mein Armband verlegt habe, weil er mich dann auffordert — »ist p nicht erfüllbar, so fahre mit C weiter« —, in kurzen Abständen die Zeitansage anzurufen, oder dergleichen. Die Grenzen des Algorithmus sind denen der Logik analog: Die Logik setzt subsumtive und bereits bekannte Antworten voraus; treten widersprechende Antworten auf, ist es mit ihr vorbei. Die Anwendbarkeit eines Algorithmus erfordert Antworten, die zwar nicht a priori bekannt sein, aber unbedingt der Erwartung ihres Enthaltenseins im Methodenraum (Raum der Methodenfrage) entsprechen müssen. Weil der Algorithmus eine Logik auf komplexerem Niveau ist, kann er das Problem der widersprechenden Antwort verschieben, um ihm dann aber ebensosehr zu erliegen. Er sieht zwar durchaus Situationen vor, in denen auf seinen FrageVorschlag »p oder q?« keine Antwort möglich ist, weil weder p noch q greift; man wird dann aufgefordert, »zurück an den Anfang« zu gehen, wo ein anderer Fragestrang schon darauf wartet, in Notfällen wie diesem hilfsweise einspringen zu können. Betrachtet man diese Reaktion auf »p oder q?« isoliert, könnte man sie fast mit einer widersprechenden Antwort verwechseln. Aber: dem Algorithmus als ganzem, der immer endlich und fix ist, d.h. seinen Prämissen, kann der Benutzer nicht widersprechen. Und deshalb eigentlich auch nicht dem »p oder q?«, denn kein Algorithmus, so komplex undriesengroßer auch sein mag, wird Fragen enthalten, die vom Standpunkt seiner Prämissen falsch sind; es mag sein, daß sich eine Frage nicht beantworten läßt, aber das liegt dann am Benutzer, der einen Weg eingeschlagen hat, auf dem er seinen Gegenstand xj? nicht erreichen kann — der Algorithmus hatte ihn vielmehr für X2? vorgesehen. Daß das »Zurück an den Anfang!« keine widersprechende Antwort ist, sieht man im übrigen auch daran, daß die neue Frage, die man schließlich stellt und beARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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antwortet, weil man dem anderen Fragestrang gefolgt ist, in keinem direkten semantischen Verhältnis zu der alten zurückgewiesenen Frage steht. Die eine Frage ist nicht »Auflösung« der anderen, sondern beide sind einfach Arten in derselben Gattung; ihr Verhältnis ließe sich mit Hegel als »gleichgültiges Nebeneinander« beschreiben. — Manchmal stößt man auf den utopischen Traum, das gesamte menschliche Wissen könne »algorithmisiert« und einem Computer eingespeichert werden, wodurch dann Erkenntnisbeschleunigungen erfolgen würden, die alle bisherigen wissenschaftlichen Revolutionen in den Schatten stellten. Diese Idee scheitert daran, daß das menschliche Wissen zu Diskursen organisiert ist und Diskurse keine »Prämissen« haben. Woüte man sie aber so ummodellieren, daß sie welche bekämen, so liefe das auf die »logische« Variante der Diskurs-Rekonstruktion hinaus, über die wir schon kurz gesprochen haben. Der Traum würde den Diskurs in einen logischen und einen unlogischen Teil spalten, und sein Effekt wäre nicht Erkenntnisbeschleunigung, sondern Zubetonierung der »aufschlußreichen logischen Lücke«, die Kuhn an der wissenschaftlichen Revolution beobachtet hat. Als Logik des Methodenspiels hat der Algorithmus aber seine relative Berechtigung. Man kann ihn insofern mit der »wahren Methodenfrage« identifizieren und die Regel des quartum non datur für sie spezifizieren: »entweder ist p gegeben und du kannst A ausführen, oder p ist nicht gegeben und du kannst B ausführen, oder die Methodenfrage ist falsch gestellt« . Aber genau besehen fällt er sogar nur mit einer Teilklasserichtiggestellter Methodenfragen zusammen. Es gehört nämlich zu seinem Begriff, immer auf mehrere Aufgaben desselben Typs anwendbar zu sein, während es auch Methodenfragen gibt, die nur eine einzige Aufgabe lösen, zum Beispiel diese: 1. Wieviel Geld kostet mich die Fahrt zur Zugspitze? 2. Wieviel Kilometer Bahnfahrt brauche ich, um in ihre Nähe zu kommen? 3. Wo ist die Zugspitze überhaupt? 4. Wo ist mein Atlas? Also gibt es sowohl »nomothetische« als auch »idiographische« Methodenfragen, und sie vertragen sich gut miteinander. Hier stoßen wir indes auf eine Quelle von Mißverständnissen, denn der Vorwurf, daß »Methoden ihre Gegenstände vergewaltigen«, wird manchmal auch deshalb erhoben, weil man meint, eine Methode, die bei Befassung mit verschiedenen Gegenständen nicht selbst verschieden werde, mache stattdesssen alles so gleich, wie sie selbst gleich bleibe. Aber nur die Äquivokation der Signifikanten — gleiche Methode, gleichgültige Methode, Gleichmachung de Gegenstände — spricht für diese Meinung, die sachlich gesehen aus zwei Gründen irreführend ist. Erstens, wie gesagt, gehört es gar nicht notwendig zum Begriff der Methode, daß sie auf mehreres anwendbar sein muß. Der minimale Sinn des Begriffs ist vielmehr schon dann erfüllt — auch im Einklang mit dem Alltagsverständnis —, wenn mehrere Schritte zu einem sei es auch singulären Ziel erst vorausgeplant und dann beschritten werden ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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Zweitens, was geschieht denn wirklich, wenn ein Algorithmus auf mehrere Aufgaben angewandt wird? Handelt es sich z.B. um mehrere Multiplikationsaufgaben, dann wird niemand behaupten, daß der für sie zuständige Algorithmus sie »gleichmacht«. Es mag also zwar einen Zusammenhang zwischen Methode und Gleichmachung der Gegenstände geben, aber er müßte noch spezieller sein, als wir bisher ahnen. — Versuchen wir zu entdecken, an welcher Stelle der Algorithmus für Multiplikationsaufgaben in »Gleichmachung« übergehen würde. Wenn wir mit A, B, C usw. beliebige Ziffern abkürzen und unter zusammengesetzten Ausdrücken vom Typ »AB« Zahlen im Dezimalsystem verstehen, die aus solchen Ziffern zusammengesetzt sind, und wenn wir schließlich X für die Ziffer Null reservieren (aber nicht Null für X), dann laute ein Multiplikationsalgorithmus für Aufgaben des Typs »AB mal CD«: 1. D mal AB? 2. C mal AB? 3. wenn D mal AB gleich PQR und C mal AB gleich STU: PQR plus STUX? (1. und 2. sind Beispiele für »führe A aus!«, 3. für »führe A aus, wenn p!«) Es ist klar, daß der Algorithmus sich nur auf Zahlen im Dezimalsystem anwenden läßt, auf diese aber deshalb, weil er Eigenschaften aller Dezimalzahlen berücksichtigt, näher solche, in denen sie übereinstimmen, und nicht solche, in denen sie verschieden sind. Bis zu diesem Punkt ist das Verfahren über jede Kritik erhaben: weil und soweit es Gegenstände mit gemeinsamen Merkmalen gibt, wird man es anwenden können. Wo beginnt min die »Gleichmachung«? Da, wo Gegenstände ohne gemeinsame Merkmale so behandelt werden, als ob sie welche hätten, oder wo die Methode sich auf andere Merkmale als die gemeinsamen bezieht, oder wo ihr Bezug auf die gemeinsamen Merkmale dazu führt, daß der einzelne Gegenstand als durch sie »repräsentiert« erscheint. Eine »Gleichmachung« würde z.B. eintreten, wenn der obige Algorithmus unterschiedslos auf Zahlen im Dezimal- und im binären System angewandt würde, die zwar gemeinsame Merkmale haben, z.B. die Ziffern 1 und 0, aber deren gemeinsame Merkmale den Algorithmus nicht rechtfertigen. Der Algorithmus wird die Aufgabe »11 mal 11« immer mit »121« lösen, aber für binäre Zahlen hieße die richtige Lösung »1001« beziehungsweise »9«. — Zur Gegenstandsvergewaltigung kommt es hier dadurch, daß »supponiert« wird, jede Zahl, die dem Algorithmus begegne, sei Dezimalzahl. Wird dies aber aufrechterhalten, auch wenn stundenlang nur Eins-Null-Zahlen begegnen, so läßt sich . Kritik üben. Hier liegt dann »Gleichgültigkeit« vor. Der Algorithmus sagt: wenn D mal AB gleich PQR; und PQR müßte sich schon als Dezimalzahl erweisen, bevor man »weiterfährt«. Anderes ist zwar auch nicht vorgesehen, aber die Formel gewährleistet, oder verhindert zumindest nicht, daß dem Benutzer das Nichteintreffen aller vorgesehenen Bedingungen auffällt. Wenn (R\, R2), führe (R3,x?) aus: wir werden sehen, daß die Befehlskette anders strukturiert ist, und den Vorwurf der Gegenstandsvergewaltigung für sie reservieren. ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
5. Fragespiel und Befehlsspiel 5.1 Die Aufforderung im Befehlsspiel Wir haben gesehen: in der methodischen Fragekette wird dazu aufgefordert, bei bestimmten Fragen, in der methodischen Befehlskette, bei bestimmten Antworten anzukommen, nämlich subsumtiven. Alles andere ist für die Befehlskette nicht spezifisch: das Auffordern als solches; die Erwartung, daß der Aufforderung Folge geleistet wird; die Mehrschrittigkeit, die man dieser Erwartung wegen wagt. Das heißt nichts anderes, als daß die Befehlskette nicht durch ihre »Kettenhaftigkeit« zum Problem wird; woraus wiederum folgt, daß wir die Befehlskette hinreichend analysieren, wenn uns die Analyse des einzelnen Befehls gelingt, dessen Eigenschaften und schädliche Effekte die Kette dann nur vervielfältigt. Aus unserer Analyse folgt, daß wir ihn als Aufforderung zur subsumtiven Antwort definieren müßten. Und tatsächlich, die alltägliche Befehlssituation besteht darin, daß einer aufgefordert wird, eine bereits feststehende Antwort zu erteilen; nur die Mittel und Wege ihrer Herbeiführung stehen noch aus. Ein typischer Befehl kann z.B. lauten: »Zahlen Sie zehntausend Mark Strafe!« oder: »Stellen Sie heute zehntausend Schrauben her!« Er ist stets, ob ausgesprochen oder unausgesprochen, mit dem Zusatz versehen: »Wie Sie's machen, ist mir gleich; ob es sich 'einrichten' läßt, ist Ihr Problem.« Allerdings muß man unterscheiden: Befehle, die nicht nur Ziele, sondern auch Mittel vorschreiben — das sind »antizipierbare Befehlsketten«, die man z.B. in der Produktionssphäre meistens antrifft —; und Befehle, die die Mittel offenlassen: sei es aus Aggression gegen den Befehlsempfänger, aus der Not der Umstände oder sogar »aus pädagogischen Gründen«. »Auch die Untergebenen«, lesen wir z.B. in einem FAZBericht über die Ausbildung der Bundeswehr-Offiziere (14.8.81, S. 6), »sollen so geführt werden, daß sie zur Selbständigkeit erzogen werden: Jeder Befehl soll einen Auftrag, die Bezeichnung des Ziels, enthalten, aber nicht die Anweisung, wie es zu erreichen sei. Der Untergebene soll in der Wahl seiner Mittel und Wege frei und deshalb auch verantwortlich sein.« Aber selbst der Befehl, der die Mittel vorschreibt, wird niemals alle Mittel vorschreiben, denn er richtet sich stets an den Andern und kann weder, noch will er die Mittel-Zweck-Relation bis zum spezifischen Startpunkt des Andern zurückverfolgen. So wird dem Arbeiter neben dem Produktionsziel auch das Werkzeug vorgegeben, aber es bleibt ihm »freigestellt«, wie er mit unterdrückter Krankheit — man hat Rezession und Entlassung droht — den Arbeitstag übersteht. Aus seiner Perspektive verschmelzen Ziel und Werkzeug zu der einen Antwort, die man ihm heute aufgibt. ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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Wenn wir das Ziel eines Befehls als Antwort auffassen, dann kann das Mittel des Befehlsempfängers nur darin bestehen, daß er nach der Antwort fragt. Und Fragen sind keine Instrumente, die man beliebig auswählt. Der Befehlende, der die Antwort nennt und ihren Herbeiführungsweg offen läßt, appelliert an die Frage eines Anderen, die zu einer anderen Antwort führen würde, wäre sie nicht im Befehlsspiel gefangen; jetzt soll sie zu seiner Antwort führen, das geht aber nur, wenn er ihm auch seine Frage unterschiebt. Die »Freiheit« des Befehlsempfängers in der »Wahl seiner Mittel« besteht daher darin, daß er mit zwei widerstreitenden Fragen, seiner eigenen und der des Befehlenden, nach der Antwort des Befehlenden fragt. Das heißt nach unserer früher gegebenen Definition nichts anderes, als daß er aufgefordert wird, eine unkorrekte Antwort zu geben (vgl. Kap. 2.1). Man fragt sich, warum der Befehlende seine Antwort nicht selbst mit seiner Frage erlangt. Nun, offensichtlich braucht er den Andern, um zu genießen. Situationen, in denen derartiges vorkommt, seien hier nicht charakterisiert. Betont soll nur werden, daß wir es mit einem Typ von Kooperation zu tun haben — antagonistischer Kooperation —, dessen Struktur sich sehr eindeutig unterscheiden läßt von jener anderen Kooperation, die durch »Direktive« geleitet wird. Es ist keineswegs so, daß man nur unterscheiden könnte zwischen Kooperation mit Befehl und Nichtkooperation ohne Befehl. Vielmehr bleibt als Tertium datur die nichtantagonistische Kooperation möglich, bei der zur Stellung von Fragen aufgefordert wird. Hier heißt es nicht: »Wie Sie's machen, ist mir gleich«, sondern der Dirigent geht ungekehrt von seinem Wissen über die Verhältnisse des Anderen aus und sucht nach einer optimalen Resultante. Hier geht es nicht darum, daß Andere die Antwort des Anfordernden herbeiführen, sondern daß der Aufforderade einen Weg zur Antwort der Anderen (und damit seiner selbst) postuliert. Es ist der Unterschied zwischen einem Chauffeur und einem Staffel-Mitläufer: der Chauffeur bringt mich an meinen Ort, der Staffel-Mitläufer, dem ich zurückbleibend die Fackel übergeben habe, läuft zu seinem Ort. »Was ich im Sprechen suche«, schreibt Lacan, »ist die Antwort des anderen. Was mich als Subjekt konstituiert, ist meine Frage.« (1973,145) Bilden wir derart zwei Kooperierende — Modell für beliebig viele — als zwei Fragestellungen ab, also als Herrn (Rj, x?) und Frau (R3, x?), die indessen, sollte sie als Untergebene sozialisiert sein, nur als (R3J, x?) vorkommt, dann erhalten wir folgenden Unterschied zwischen den beiden Arten von Kooperation: — Direktive: Der Auffordernde geht von der Methodenfrage (Rj, R3, x?) aus und sagt: (Rj, x?), KR3, x?); angestrebtes Ziel ist R4; die realisierende Vermittlung (wenn alles gut geht) lautet: (R\9 R2HR2» R?MR2> R3) — Kommando: Der Auffordernde geht von der Frage (Rj, x?) aus und sagt: (Rj, x?), !(Rj, R2); angestrebtes Ziel ist R2; die realisierende VermittARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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lung (wenn es gut ginge) würde lauten: (R3,i, R2?MR3,1> R2)Wie man sieht, ist der Befehl charakterisiert als Frage, die nicht zurückgewiesen werden darf: der Zusatz !(Rj, R2) zur gewöhnlichen Frageformel stellt die subsumtive Antwort sicher. Wollte man aber nun eine Formel schreiben für die Vorstellung der Interrogativlogiker, es müsse immer gültig gefragt werden, sie würde nicht viel anders ausseben. »Sollen impliziert Können«: (Rj, x?), !(Rj, R2) impliziert !((Rj, x?)-(Ri, R2)). Und ungekehrt. 5.2 Exkurs über »Herrschaft« und »Macht« bei Max Weber Man fragt sich nicht nur, warum der Befehlende sich nicht selbst antwortet, sondern auch, warum der Gehorchende. Offenkundig kann das Befehlsspiel nur funktionieren, weil Gewalt, Macht, Herrschaft im Spiel sind. Denn der Gehorchende wird kaum »freiwillig« die Frage des Befehlenden statt seiner eigenen beantworten. Wir lesen bei Max Weber, daß jemand, der für seine Aufforderungen »Gehorsam« erwarten kann, also der in gewisser Permanenz das Befehlsspiel spielt, »Herrschaft« ausübt (1956,38). Hier wird aber gerade offengelassen, ob der »Gehorsam« freiwillig oder unfreiwillig erfolgt. Einem solchen Herrschaftsbegriff kann vor aller Soziologie »linguistisch« widersprochen werden, da er auf einem unklaren Befehlsbegriff beruht. Wenn wir den Befehl als Frage auffassen, die nicht zurückgewiesen werden darf, dann ist der Befehl, dem man freiwillig gehorcht, gar kein Befehl, sondern eine Frage, die nur faktisch nicht zurückgewiesen wurde — weil sie sich dem Folgeleistenden als antwortfähig vorstellte mit einer gegenstandserfahrenen Antwort, aii die er selbst seine eigene Frage anschließen konnte. Das heißt, wenn wir »Herrschaft« aus dem Kontext von »Befehl« und »Folgeleisten« definieren wollen, dann ist es unvermeidlich, zwei Typen von Herrschaft zu definieren, einen, der sich auf den Befehl stützt, und einen, in dem es zwar Aufforderung und Folgeleisten gibt, der sich aber nicht auf den Befehl, sondern auf die Antwortfähigkeit, d.h. auf die Sachkompetenz des Auffordernden stützt. Man könnte den letzteren Typ mit Antonio Gramsci als Hegemonie bezeichnen. Aber wenn sich nichthegemoniale Herrschaft auf den Befehl stützt, bleibt immer noch hinzuzusetzen, daß der Befehl sich seinerseits auf Macht stützt — und was ist »Macht«? Laut Max Weber »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht« (1956,38). D.h. es ist die Chance, einen Befehl zu geben; wir drehen uns im Kreise; denn das Befehlsspiel ist die Durchsetzung des »eigenen Willens«, nämlich meiner Frage (Rj, x?), auf die unbedingt die Antwort (Ri, R2) folgen soll, »auch gegen Widerstreben«, nämlich gegen den Willen von (R34, x?), der eher ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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nach R4 als nach R2 streben, mir also »widerstreben« wird. Mit unseren Mitteln können wir aber mehr sagen, als daß (Rj, x?) sich hiergegen »durchsetzt«, nämlich welche Struktur das »Widerstreben« in einem solchen Fall aufweist. Es ist die Struktur der Spaltung. Unter Spaltung verstehen wir umgangssprachlich eine Beziehung, deren Beteiligte gleichzeitig zusammengehören und im Kampf gegeneinander begriffen sind. In diesem Sinn ist derjenige, der die Antwort des Befehlenden statt seiner eigenen herbeiführen muß, gespalten — denn er fragt mit zwei Fragen, die nicht zusammengehören und doch unter einen Zweck subsumiert werden. Und noch mehr. Wenn wir einmal anfangen, die Webersche Machtdefinition unter dem Spaltungsgesichtspunkt zu lesen, sehen wir, daß sie sich ganz und gar als Definition einer Spaltungsstruktur lesen läßt, denn wir wissen ja, daß das Gehorchen, also daß die Spaltung des Gehorchenden durch den Befehlenden ein Merkmal antagonistischer Kooperation ist; mit anderen Worten, daß sie die Spaltung zwischen Gehorchenden und Befehlenden voraussetzt »Macht« wäre dann eine Struktur der Spaltung, in der jede Spaltungspartei versucht, die andere Partei noch in sich selbst zu spalten. Wenn der Versuch gelingt bin ich »mächtiger« als die andere Partei und kann ihren »Gehorsam« erwarten. Damit haben wir nun keineswegs nur ein »strukturalistisches« Äquivalent für die »handlungstheoretische« Formulierung Webers geschaffen. Sondern wir haben sie attfgelösL Die Spaltungsperspektive hat nämlich zwei Spaltungsebenen erscheinen lassen, während Weber nur eine Machteigenschaft definiert, nämlich die Chance auf »Durchsetzung« — auf Mächtigersein. Seine Definition erweist sich damit aber als noch unklarer als die der Herrschaft, denn es ist schon rein grammatisch schwer einzusehen, daß Machthaben und Mächtigersein, also der Positiv und der Komparativ von »mächtig«, dasselbe sein sollen. Noch schwerer ist es sachlich einzusehen, denn wenn man Macht und Mächtiger einmal auseinanderhält, kann man nicht mehr im Ernst behaupten, es müsse qua definitionem zum Mächtigersein kommen, wo Macht ist. Zwei Duellanten oder zwei Atommächte, die sich gegenseitig totschießen, haben schließlich auch im Machtkampf gestanden. — Wir brauchen also nicht nur zwei Herrschafts-, sondern auch zwei Machtbegriffe, und können dann sinnvoll sprechen: Hegemonie ist Führung ohne Macht und Mächtigersein; nicht hegemoniale Herrschaft stützt sich auf Mächtigersein und ist selbst Spielball von Macht; aber Macht führt nicht immer zu Mächtigersein und Mächtigersein nicht immer zu Herrschaftt (nämlich zu relativ dauerhafter Gehorsamsbereitschaft); wenn es aber zu Herrschaft führt, dann nur zu nichthegemonialer. Ich werde mich der Auffassung von Macht als Spaltungsstruktur (ausführliche Begründung in Jäger 1983) im Zweiten Teil dieser Untersuchung häufig bedienen und vor allem die Schlußfolgerung aus ihr ziehen, daß ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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auch die Macht eines Diskurses, z.B. der aristotelischen Physik, darin besteht, daß er diejenigen spaltet, die in ihm denken. Die »Entmachtung des Diskurses«, d.h. die wissenschaftliche Revolution, kann dann nur seine Ent-spaltung sein. 5.3 Exkurs über zwei Bedeutungen von »Dialektik«
Es blieb oben etwas offen, als ich formulierte, beim Kommando sei R2 das angestrebte Ziel und die realisierende Vermittlung würde, wenn es gut ginge, (R3f |, R2?)-(R3,1 ,R2) lauten. Hinzuzufügen ist, daß diese Vermittlung selbstverständlich nicht gutgehen kann. Wenn R2 subsumtives Antwortelement allenfalls auf die Frage (Ri, x?) ist, kann es nicht genausogut auch subsumtives Antwortelement auf (R3) 1, X?) sein; in der tatsächlich gegebenen Antwort wird sich auch der R3-Bestandteil der Frage abzeichnen, so daß die tatsächliche Befehlserfüllung eher die Struktur (R34, R^^ bat. Praktisch gesprochen: selbst der machtloseste Sklave wird seinem Gehorsam ein Stück Widerstand beifügen; nicht nur seine Frage war gespalten, auch die Antwort wird es sein; Marx weist darauf hin, daß den Sklaven nur rohe, wenig leistungsfähige Maschinen zur Verfügung gestellt werden konnten, denn sie pflegten sie »con amore zu verwüsten« (MEW 23,210f). Das heißt aber, daß der Befehlshaber nicht nur den Gehorchenden daran hindert, seiner eigenen Frage nachzugehen, sondern auch seinerseits vom Gehorchenden frustriert wird, nämlich die Antwort, die er erpressen wollte, schließlich doch nicht erhält. Das macht für die Gehorchenden immer einen Unterschied, für die Befehlshaber nur manchmal. Der Versklavte würde immer anders arbeiten, wenn er für sich selbst arbeitete, der Herr aber kann die Arbeit so eingerichtet haben, daß der Produktausfall per Sklavenwiderstand in einer höheren Rechnung schon einkalkuliert ist. Freilich setzt das schon sehr entwickelte Machtverhältnisse voraus (die in der Ökonomie allemal bestehen). Wenn wir auch hier wieder mit dem einfachsten Modellfall anfangen, bleibt es bei der Frustration des Herrn, und man muß sich fragen, warum er den Anderen überhaupt knechtet — statt mit ihm zusammenzuarbeiten wenn er doch nicht zu seinem Ziel kommt. Die sich aufdrängende Antwort ist, daß er ein allerhöchstes Ziel verfolgt, das er selbst noch auf diese Weise erreicht, nämlich zu verhindern, dqß auf seine Frage eine widersprechende Antwort erfolgt. Er will nicht das Schicksal des Königs ödipus teilen. Er fordert (Rj, x?), !(Rj, R2), damit es nicht zu (nicht Ri, sondern R2) kommt, und das wenigstens ist mit der tatsächlich nur erreichbaren Antwort (R3J, R3f2) gewährleistet. Freilich wird er die Differenz der tatsächlichen Antwort zu seinem Anspruch bemerken und mit erneuertem Befehl reagieren: !(nicht R$92> sondern R\, R2); wobei er sein Ziel R2 festhält, seine Frage aber verschoben, nämlich ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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negativ auf den widerspenstigen Befehlsempfänger bezogen hat. Das Spiel wird sich dann auf höherer Stufenleiter wiederholen; der Befehl wird sich immer mehr verschieben, um sich immer demselben imaginären Ziel R2 zu nähern. Wir finden also die Struktur einer Spaltung, die sich immer mehr vertieft. Wenn ich die Verschiebung des Fragebestandteils im Befehl abgekürzt als R\9 notiere — statt »nicht R3,2» sondern Rj« —, so daß der verschobene Befehl insgesagt lautet: !(Ri', R2), dann läßt sich diese Spaltung wie folgt veranschaulichen: ^Verschiebung des Gehorsams Verschiebung des Befehls ^ ... ( R 3 , I " USW.)(R3 > I > USW.) R2 (Ri'usw.XRi^usw.)... Beide, Befehlshaber und Gehorchender, werden von der Imagination R2 gesteuert. Aber mehr noch, beide sind ihretwegen gespalten; der Gehorchende freilich mehr als der Befehlende. Während dieser immerhin weiß, was seine widersprechende Antwort wäre (dieses Wissen motiviert ja seinen Befehl), kennt jener nicht einmal seine subsumtive Antwort, ist er doch vollkommen mit der unlösbaren Aufgabe beschäftigt, die subsumtive Antwort des Anderen herbeizuführen. Weil der Befehlende sich gegen seine mögliche Zukunft abschottet, ist auch dem Gehorchenden die Zukunft abgeschnitten, aber er ist noch zusätzlich in seinem Fragevermögen gespalten. Aber umgekehrt bewahrt das Wissen, was korrektes Antworten wäre, den Befehlenden nicht davor, durch seinen Zukunftsverlust selbst gespalten zu sein; er kann seiner Imagination R2 nur eine gespaltene Gegenwart verschaffen, denn sie wird stets nur als Antwortbestandteil R3,2 auftreten. Ich habe diese Modellüberlegungen angestellt, um noch einmal auf die Frage der »Dialektik« zurückkommen zu können. »Nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit«, heißt es bei Hegel (1966,58). Diesen Satz pflegt man so aufzufassen, daß darin Bewegung auf Antagonismen, »Einheit und Kampf der Gegensätze«, also auf Spaltung zurückgeführt werde, und so gilt er als Kurzformel für Dialektik. In meinem Modell wird nun tatsächlich gezeigt, wie es kommen kann, daß Spaltung zu Bewegung führt, nämlich zur Verschiebung der Befehle und Gehorsamsversuche; daß Macht, um mit Foucault zu sprechen, »produktiv ist«. — Nur: wie läßt sich dieser Begriff von Dialektik zu demjenigen in Beziehung setzen, den wir oben bei Einführung des Konzepts der widersprechenden Antwort formulierten? Oben stellten wir fest, daß das Fragespiel »dialektisch« ist, weil es sich des Widerspruchs, der widersprechenden Antwort, bedient. Jetzt erscheint der Antagonismus, der aufder Unterdrückung der widersprechenden Antwort beruht, als »dialektisch«. Wir werden also auch den Begriff »Dialektik« auflösen müssen. Dabei geht es nicht so sehr um eine Entscheidung zwischen den beiden genannten Bedeutungen, als darum, sie anders anzuordnen, als die Tradition dies tut. ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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Bei den großen Dialektikern Piaton und Hegel ist Dialektik tatsächlich Spaltungsdenken, von dem man sich befreien sollte, denn es verkümmert die Frage zum Befehl und hindert mich, den Fragegegenstand zu erfahren, unterwirft ihn meiner Bemächtigung und Imagination. Aber sie ist gleichzeitig auch Widerspruchsdenken und insofern aufhebenswert. Es ist ein Denken, in dem die Spaltung über den Widerspruch dominiert. Was Piaton angeht, so wird in seiner frühen, somatischen Periode unter Dialektik noch der Frage-Antwort-Dialog verstanden, der die Möglichkeit des Selbstwiderspruchs einschließt, in der späten aber die »dihairetische« Methode, eine Gattung immer wieder in zwei Teile zu spalten, bis man bei etwas anlangt, das angeblich unspaltbar ist. Diese wissenschaftsbiografische Entwicklung wird von Hegel in eine systematische umgewandelt: die »Phänomenologie des Geistes«, Propädeutik zu seinem philosophischen System, macht von einer Theorie des Lernens durch widersprechende Antworten didaktisch-klugen Gebrauch, das System selbst beginnt dann mit dem Antagonismus von »reinem Sein und reinem Nichts«, die »dasselbe« sind (»Wissenschaft der Logik«). (Streng genommen handelt es sich in beiden Fällen um »Spaltungen zweiten Grades«, vgl. zu diesem Konzept Jäger 1983.)
Dieses Denken sollte man nun umkehren, damit vielmehr der Widerspruch über die Spaltung dominiert und aus Spaltungsdenken ein Nachdenken über Spaltung werden kann. Dabei stellt sich heraus, daß solche Nachdenklichkeit ohne den Widerspruchsbegriff zum Scheitern verurteilt wäre. In diesem Sinn gehören beide Bedeutungen von »Dialektik« zusammen. Spaltung, so sagten wir, gelte umgangssprachlich als eine Beziehung, deren Beteiligte eine Einheit bilden und gegeneinander kämpfen. Es ist kein Zufall, daß wir in der Wissenschaft keiner präzisierten Fassung dieses Begriffs begegnen: zusammengehören und sich ausschließen, müßte sie lauten, aber das wäre der logische Widerspruch par excellance, der selber ausgeschlossen ist. Wenn wir aber den Begriff des Fragespiel-Widerspruchs verwenden, können wir Spaltung logisch widerspruchsfrei definieren: das Radikal einer Frage nennen wir gespalten, wenn in ihm zwei Signifikanten gleichgesetzt werden (z.B. »sich zeigen« und »gegenwärtig sein« in der Uhrzeitfrage), auch noch nachdem widersprechend geantwortet wurde, sie seien verschieden. Vom Standpunkt des Widersprechenden sind die Signifikanten dann verträglich und unverträglich in ein und derselben Beziehung, und es ist möglich, dqß die widersprechende Antwort »wahr« ist Aus gespaltenen Fragen gehen notwendig unkorrekte Antworten hervor, die folglich als Spaltungssymptom gelten dürfen. Auch alles übrige, was oben »Spaltung« genannt wurde (Spaltung zwischen Befehlendem und Gehorchendem, »gespaltene Gegenwart«, etc.), liegt schon auf der Symptomebene. Die Situation, die ich oben beschrieben habe, bestand darin, daß ein Fragender gespalten war und das auch wußte—seiner Frage war widersprochen worden, er hat sie aber, wie Don Jos6, aufrechterhalten — und seine Spaltung einem Befehlsempfänger einpflanzte in der vergeblichen Hoffnung, dieser werde ihn vom Widerspruch abschirmen. ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
6. Theorien über die Methode 6.1 Methodenbegriffe Forschungsmethoden werden von der einschlägigen Literatur in aller Regel als Aufforderungsketten begriffen, denen man Schritt für Schritt genüge tut, um das jeweilige Erkenntnisziel zu erlangen. Daß es jedoch verschiedene Arten von Aufforderungsketten gibt, wird nicht bewußt. Der Begriff einer Forschungsmethode als Ausgangsfrage und Aufforderung, weitere Fragen zwar zu antizipieren, sie aber nur abhängig von anfallenden Antworten tatsächlich zu stellen, begegnet nirgendwo. Zwischen den beiden übrigen Möglichkeiten: algorithmische Aufforderungskette und Befehlskette, kippt die Literatur hin und her. Wir finden logisch bzw. algorithmisch orientierte Modellierer, denen die Entstehung neuer Erkenntnis ein eingestandenes Rätsel bleibt, andere, die gar nicht merken, wie sich ihr algorithmisches in befehlendes Denken verwandelt, und dritte, die ganz offen von methodischen »Normen« reden. Als allgemeine Folge des Nichtverfügens über Fragespiel-Kategorien machen sich überall Verdinglichungstendenzen breit: der nur analytisch zerlegbare Frage-AntwortÜbergang fällt in verschiedene Erst-dann-Schemata auseinander, Soll und Ist, Ziel und Mittel, Problemlösung und Problembarriere... Angebliche Elementarteilchen der Methode, in Wahrheit allenfalls Signale dafür, daß eine Frage durch das »Mittel« Methode beantwortet werden muß, über deren Strüktur man damit aber noch nicht das geringste weiß. Die genannten Haltungen findet man sowohl aufsehen derer, die Methode als Denkmethode thematisieren — Logik- und »geometrisches« Paradigma —, als auch derer, die Denkmethoden und Produktionsmethoden in Analogie setzen; in dieser Reihenfolge werde ich sie darstellen. Anschließend zeige ich ihre gemeinsame »Kehrseite«: Da der Versuch scheitert, Erkenntnis mit Algorithmen und Normen zu modellieren, tauchen Versuche auf, sie als methodische Regelverletzung zu denken. Einige gehen noch weiter und distanzieren sich von Methode und halten auch darin noch am Methodenbegriff der anderen fest. Methode und Denken Charakteristisch für eine am Logikparadigma orientierte Methodenlehre ist die Argumentation des »Handbuchs philosophischer Grundbegriffe« (Krings u.a. 1973), in dem man unter dem Stichwort »Methode« lesen kann: man schränke, weil die logische Ableitung innerhalb eines aromatischen Systems das »Musterbeispiel« methodischer Exaktheit abgebe, »vielfach die gesamte Methodenlehre auf die Theorie der folgerichtigen Denkoperationen ein. In dieser Sicht ist die Methodologie also (!) die Lehre von der Anwendung logischer Gesetze in den verschiedenen Wissensgebieten.« (914) ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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Daß das Fragespiel auch eine folgerichtige Denköperation ist, kommt den Verfassern nicht in den Sinn. Wir können die Kosten der Reduktion nicht nur des Frage-, sondern nun auch des Methodenspiels auf Logik am Abriß allgemeiner wissenschaftlicher Methoden von Bochenski ermessen (1973), der Methodologie ebenso definiert wie das Handbuch (vgl. 16). Methodisch vorgehen und Schlußfolgern ist für Bocheriski ein und dasselbe, die Theorie des Schließens ist aber die Logik. Deshalb ist seine Methodologie um ein Tertium non datur zentriert, das seinen Geltungsanspruch letztlich aus dem logischen Tertium non datur bezieht: »Es ist eine der wichtigsten Einsichten der exakten Methodologie, daß man die Richtigkeit eines Satzes entweder direkt einsehen oder erschließen muß; ein anderes Verfahren gibt es nicht und kann es auch nicht geben.« (73)
Methodologie wird hier unter der Frage der Wahrheit von Sätzen, statt der Erreichbarkeit von Antworten organisiert. Zur einen Hälfte scheint sie mit Logik direkt zusammenzufallen und Theorie der Wahrheitsübertragung zu sein, denn wie kann man die »Richtigkeit eines Satzes erschließen«, wenn nicht indem man von anderenrichtigenSätzen ausgeht und nach korrekten Regeln, die nach Voraussetzung nur logische sein können, den Übergang vollzieht? Und eben deshalb ist sie zur andern Hälfte nichts weiter als zugestandene Irrationalität. Niemand kann die Richtigkeit eines Satzes »direkt einsehen«. Bocheriski bemüht sich zwar, auch für einen solchen Vorgang Regeln herbeizuzitieren — solche der Phänomenologie Husserls —, aber gerade darin bleibt er mit Grund untypisch für Methodologen, die dem Logikparadigma gehorchen. Der Versuch scheitert bei Bocheriski selbst an der Unbefolgbarkeit der Regeln. Nimm eine dem Gegenstand zugewandte Haltung an! Schalte zunächst alles Subjektive, dann alle Nützlichkeitserwägungen, dann alles Schließen aus! Sieh alles, was gegeben ist! Usw. Solches Sollen impliziert kein Können. Der Weg, auf dem die als richtig behaupteten Sätze wirklich entstehen, kann bei derartigen »Regeln« nur ein willkürlicher oder unbewußter, jedenfalls nicht-methodischer sein. Aber Willkür zersetzt nicht bloß das Jenseits der logischen Methodologie, sondern auch deren Inneres. Die Methodologie der Wahrheitsübertragung wird bei dem Versuch, der Realität der wissenschaftlichen Forschung gerecht zu werden, in zwei Übertragungs-Grundformen unterscheiden. Von einer Behauptung könne auf die andere entweder deduktiv geschlossen werden (wenn A dann B; A; also B) oder reduktiv (wenn A dann B; B; also A); die erste Schließweise liege der axiomatischen Methodologie zugrunde, die zweite der naturwissenschaftlichen Induktion und der geschichtswissenschaftlichen Deutung. Der Witz dieser Klassifizierung liegt darin, daß der reduktive Schluß logisch nicht statthaft ist und die gesamte empirische Methodologie mithin als Abweichung von der Logik erscheint, d.h. — in ARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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diesem Kontext — als Nichtmethodologie. Bochenski stellt zwar wiederum, wie beim »direkten Erkennen«, Regeln auf, so vier zusammenfassende für qualitative Induktion: »Man suche die Bedingungen; man setze voraus, daß die Bedingung zu einem gegebenen System gehören muß; man wähle jene Hypothesen, welche am besten mit dem Ganzen des Systems zusammenhängen; man wähle die einfachste Hypothese.« (123)
(Es könnte noch »man vollziehe hin und wieder wissenschaftliche Revolutionen« hinzugefügt werden.) Aber diese Regeln sind ebensowenig befolgbar wie oben die phänomenologischen. Bochenski selbst sieht immerhin, daß sie nicht begründbar sind: »dem Logiker erscheint die gewaltige, durch die Induktion geleistete Arbeit wie ein erfolgreiches Entziffern eines chiffrierten Textes, zu dem uns doch der Schlüssel fehlt« (ebd.). Mit anderen Worten, über naturwissenschaftliche »Induktion« Sprechen ist so gut wie, mit den Achseln Zucken. Aber noch unklarer, vom Standpunkt der Logik, ist die Methode der Historiker: sie »besteht selbst in einer besonderen Anwendung der großen allgemeinen Verfahren, vorzüglich der reduktiven Methode. Der ausschlaggebende Unterschied zwischen dem, was wir in der Geschichte, und dem, was wir in den Naturwissenschaften finden, liegt nicht so sehr im Bereich der Methode wie in jenem des Stoffes: dieser ist in der Geschichte unvergleichlich komplizierter und verlangt sehr komplexe Gedankengänge. Welches die logische Struktur der historischen Verfahren im einzelnen ist, wissen wir eigentlich nicht.« (136f)
Die einzige Methodologie, die nach logischem Paradigma gebildet werden kann und an ihrem Gegenstand nicht abgleitet, bleibt die aromatische. Daher geht das logische von selbst ins geometrische Paradigma über. Denn dessen Vertreter denken Methode ausdrücklich nach dem Vorbild der aromatisierten Theorie. Das geometrische Paradigma fällt aber mit dem logischen nicht zusammen, weil zur Axiomatisierung mehr gehört als Einhaltung logischer Regeln: sie besteht im Kern darin, Behauptungen, deren Existenz und logische Verträglichkeit vorausgesetzt sind, vom Allgemeinen zum Besonderen sowie vom Einzelnen zum Komplexen hin anzuordnen. Wir nennen das am axiomatischen Aufbau orientierte Methodenparadigma geometrisch, weil es seine erste wissenschaftliche Realisation in Euklids Geometrie fand und weil diese es war, die der neuzeitlichen Physik und der auf sie folgenden verallgemeinernden Methodenreflexion die entscheidenden Impulse gab. Klassischer Text dieser Reflexion ist der »Diskurs über die Methode« von Descartes (1904 ff). »Die langen Ketten von ganz einfachen und leicht einzusehenden Vernunftgründen«, schreibt Descartes, »deren sich die Geometer zu bedienen pflegen, um zu ihren schwierigsten Beweisen zu gelangen, hatten mich darauf geführt, mir vorzustellen, daß alle Dinge, die unter die Erkenntnis der Menschen fallen können, untereinander in derselben Beziehung stehen und daß, wenn man nur darauf achtet, kein Ding für ARGUMENT-SONDERBAND AS 137 ©
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wahr zu halten, das es nicht ist, und stets die Ordnung beibehält, die erforderlich ist, um die einen von den andern abzuleiten, es keine so entfernten Erkenntnisse gebeji kann, zu denen man nicht gelangte, noch auch so verborgene, die man nicht entdeckte.« (II, 18)
In dem Glauben, die geometrischen Begründungsketten seien Beispiel für Methode schlechthin, liegt der Fehler Descartes' wie aller, die diesem Methodenparadigma folgen. Galilei hatte sich noch darauf beschränkt, von der Geometrie auf eine andere Wissenschaft, die Physik, zu verallgemeinern, und dadurch war Euklid für ihn fruchtbar geworden; aber Descartes verallgemeinert vom theoretischen Aufbau, von der Darstellungsmethode, denen Euklid und Galilei folgen, auf die Forschungsmethode. Erklärung späterer durch frühere Sätze und Entdeckung verborgener durch bekannte Erkenntnisse sind für ihn ein und dasselbe. Nur weil er Philosoph war, konnte er mit dieser Verwechslung überhaupt arbeiten. Galilei hätte mit seinen vier Grundregeln nichts entdeckt: der ersten, wonach nur das »klar und distinkt« Erkennbare als unzweifelhaft wahr anerkannt werden dürfe; der zweiten, man solle jedes Problem »in so viele Teile...zerlegen als nur möglich«; der dritten, beim Einfachsten zu beginnen und zum Zusammengesetztesten aufzusteigen; und der vierten, in den so entstehenden Begründungsketten »nichts auszulassen« (II, 14.-17.). Mit diesen Regeln kann man zwar tatsächlich den Aufbau der »Discorsi« charakterisieren, aber die Erzeugung der Behauptungsmenge, die den »Discorsi« zugrundeliegt, machen sie nicht begreifbar. Niemals hätte Galilei etwa auf die Frage, woraus ider Wurf zusammengesetzt ist, die Antwort »aus horizontaler Bewegung und freiem gleichmäßig beschleunigtem Fall« gefunden. Der einzige Weg, die cartesischen Methodenregeln wirkungsvoll zu machen, würde darin bestehen, sie in Befehle zur Gegenstandsvergewaltigung umzuformen. Von einer solchen Erwägung ist Descartes weit entfernt, aber wir können beobachten, daß er seine Metaphern gern der Polizeisphäre entnimmt. Die Zentralisation des Sonnenstaats macht die Axiomatisierung der Theorie plausibel: »Da nun die Vielheit der Gesetze den Verbrechen häufig Entschuldigungen liefert, so daß ein Staat weit besser regiert ist, wenn sie, nur in geringer Anzahl vorhanden, recht genau beobachtet werden«, deshalb setzt Descartes an die Stelle einer großen Anzahl logischer Vorschriften jene vier Regeln (II, 13). Die Analogie geht so weit, daß Descartes eine Theorieentstehungsweise, die seinen goldenen Regeln nicht folgt, barbarisch finden müßte: »So stellte ich mir vor, daß die Völker, die, früher halb wild gewesen, sich nur nach und nach zivilisiert und nur, soweit als Verbrechen und Streitigkeiten sie zwangen, an der Gesetzgebung gearbeitet haben, sich nicht in so wohlgeordneten Zuständen befinden wie die, welche von Anbeginn der Zeiten, da sie sich zusammenfanden, die Verfassung eines klugen, weisen Gesetzgebers beobachteten.« (II, 4.)
Ein neuerer Vertreter des am geometrischen Paradigma orientierten Methodenbegriffs ist der Konstruktivist Lorenzen, der uns schon im LogikKapitel begegnete. In seinem programmatischen Aufsatz über »MethodiARGUMENT-SONDERBAND«AS137 ©
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sches Denken« werden Methode und Darstellungsmethode von vornherein miteinander identifiziert, schon in der Eingangsbemerkung, es gelte seit Aristoteles und Euklid die sogenannte aromatische Methode unbestritten als einzige wissenschaftliche (1968,24). Zur Weiterarbeit an der Methodologie wird Lorenzen durch die Frage gedrängt, wie eine Wissenschaft möglich sei, die noch von den Axiomen der Wissenschaften Rechenschaft ablege, und wie Methode — so verstandene Methode — als »menschliche Leistung« zu verstehen sei (25 f). Die Antwort besteht im Prinzip darin, daß die Axiome der Wissenschaften in Theoreme von Protowissenschaften verwandelt werden, die ihrerseits auf Alltagssprache und Dialog als grundlegende »Lebenssituation« zurückgeführt werden. Obwohl eine derartige Grundlage kein Axiom im üblichen Sinne ist, sondern beabsichtigte Zirkelstruktur aufweist — »vergleichen wir unsere Lebenssituation mit der eines Schiffbrüchigen, so handelt es sich um die Aufgabe, uns, mitten im Meer, dn Schiff zu erbauen« (41) —, ist sie doch weiter nichts als eine Vorverlegung des Anfangs von Axiomatik bis an den Punkt, wo mit dem Axiomatisieren zugleich jegliche Methodik aufhört. (Dem Auseinanderfall von Methode und Dialog werden wir unten, in verwandelter Form, bei Gadamer wiederbegegnen.) Methode und Produktion Das Produktionsparadigma geht von dem Versuch aus, methodische Erkenntnisproduktion aus der Analogie oder sogar als Aspekt derjenigen Produktion zu begreifen, die sichtbar mit Händen und Werkzeugen an materiellen Stoffen vollzogen wird. Besonders die marxistischen Methodologen wählen diesen Ausgangspunkt. Sie machen eine Bemerkung von Marx im dritten Band des »Kapital« zu ihrer programmatischen Basis: »Allgemeine Arbeit ist alle wissenschaftliche Arbeit, alle Entdeckung, alle Erfindung. Sie ist bedingt teils durch Kooperation mit Lebenden, teils durch Benutzung der Arbeiten Früherer.«