Die Dänisch-Englisch-Hallesche Indienmission des späten 18. Jahrhunderts: Alltag, Lebenswelt und Devianz 3515128670, 9783515128674

Vor den englischen Missionsgesellschaften waren ab 1706 und 1760 bereits vom dänischen König geförderte pietistische Mis

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German Pages 286 [290] Year 2020

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
I. Einleitung
II. Ausgangspunkt Europa und der pietistisch-religiöse Raum
II.1 Pietistische Wertvorstellungen und Normen
II.2 Die pietistischen Indienmissionen
II.3 Herkunft, Auswahl und Ablehnung von Missionarskandidaten: Normenentwicklung und -anwendung
II.4 Die Indienreise: Devianz im ‚Zwischenraum‘
III. Einflussfaktoren in Indien: Soziale Umwelt und Norm im kolonialen Raum
III.1 Der kolonialgesellschaftliche Raum
III.1.1 Die Einbindung in die koloniale Gesellschaft: soziale Netze
III.1.2 Andere Missionsgruppen: Konkurrenz oder Ökumene?
III.2 Die Familie in der Mission
III.2.1 Frau und Mann
III.2.2 Kinder
IV. Physische Konstitution und Devianz: Individuelle Erfahrung und Norm
IV.1 Krankheit und Tod
IV.2 Suizid, Sucht und Tod
IV.2.1 Der Suizidfall Müller
IV.2.2 Devianz, Sucht und Tod
V. Missionspraxis, Norm und Devianz im institutionellen Raum
V.1 Recht und Politik in den Kolonien
V.2 Recht und Politik in der Missionspraxis
V.3 Der Fall des Friedrich
V.4 Wirtschaft und Finanzen als Devianz in der Mission
V.5 Missionsmethode: Die lokale Bevölkerung, Devianz und Norm
VI.Schlussfolgerungen
Abkürzungsverzeichnis
Quellen und Literatur
Archivalische Quellen
Gedruckte Quellen und Hilfsmittel
Darstellungen
Personenverzeichnis
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Die Dänisch-Englisch-Hallesche Indienmission des späten 18. Jahrhunderts: Alltag, Lebenswelt und Devianz
 3515128670, 9783515128674

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Tobias Delfs

Die Dänisch-Englisch-Hallesche Indienmission des späten 18. Jahrhunderts Alltag, Lebenswelt und Devianz

Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte | 112 Franz Steiner Verlag

Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte vormals: Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte Im Auftrag der Forschungsstiftung für vergleichende europäische Überseegeschichte Begründet von Rudolf von Albertini Fortgeführt von Eberhard Schmitt Herausgegeben von Markus A. Denzel, Mark Häberlein und Hermann Joseph Hiery Band 112

Die Dänisch-Englisch-Hallesche Indienmission des späten 18. Jahrhunderts Alltag, Lebenswelt und Devianz Tobias Delfs

Franz Steiner Verlag

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Frühjahrssemester 2017 auf Antrag der Promotionskommission bestehend aus Herrn Prof. Dr. Jörg Fisch (hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Herrn Prof. Dr. Martin Krieger als Dissertation angenommen.

Umschlagabbildung: „Frederiksnagore eller Serampore. En dansk plads i Bengalen“ J. Hammer, 1810. Maritime Museum of Denmark, Elsinore Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12867-4 (Print) ISBN 978-3-515-12869-8 (E-Book)

Vorwort Die vorliegende Arbeit stellt meine an der Universität Zürich eingereichte Dissertation dar. Sie wurde leicht überarbeitet. Zuvörderst danke ich selbstverständlich meinen beiden Doktorvätern Prof. Dr. Jörg Fisch sowie Prof. Dr. Martin Krieger für ihre engagierte Betreuung. Langjährige Unterstützung erfuhr ich durch Prof. Dr. Hermann Kulke und Prof. Dr. Gerhard Fouquet sowie PD Dr. Sven Trakulhun. Auch ihnen sei herzlich gedankt. Die Arbeit entstand am UFSP Asien und Europa in Zürich und wurde dankenswerterweise durch Stipendien gefördert, so durch ein Fritz-Thyssen-Stipendium der Franckeschen Stiftungen in Halle und einen Reisekostenzuschuss der Prof. Dr. Werner Petersen-Stiftung. Weiterhin ist der DFG zu danken, die ein Kieler Projekt zum ‚Alkohol in Dänisch-Ostindien‘ gefördert hat, an dem ich unter der Leitung von Prof. Dr. Martin Krieger teilhaben durfte und das u. a. Archivreisen nach Kolkata, Serampore und nach Südindien ermöglichte. Bedanken möchte ich mich außerdem bei den Herausgeber*Innen der Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte, insbesondere bei Prof. Dr. Mark Häberlein. Ich danke den zahlreichen Mitarbeiter*Innen und Kolleg*Innen im Serampore College, im Botanic Garden (Kolkata), im Reichsarchiv und der Königlichen Bibliothek (Kopenhagen), im Unitätsarchiv Herrnhut, in den Franckeschen Stiftungen (Halle), im Museum für Naturkunde (Berlin), in den Historischen Seminaren Kiel und Zürich, im ZAAS Kiel, im UFSP Asien und Europa, im Seminar für Südasienstudien (HU Berlin) und im DFG-Langfristvorhaben MIDA. Für ideelle und/oder praktische Unterstützung geht mein besonderer Dank an: Christian Hagen, Sven Rabeler, Henning Trüper, Simon Rastén, Niklas Thode Jensen, Samir Boulos, Linda Maduz, Julia Maria Hermann, Frauke und Matthias Hermann, Maria Framke, Katrin Leineweber, Keyvan Djahangiri, Birte Sörje, Thomas Ruhland, Thomas Henopp und Familie, Henning Schlaack, Franziska Lenhard und Florian Remien. Sollte ich jemanden vergessen haben, möchte ich mich vorsorglich dafür entschuldigen. Ihr wisst, wer Ihr seid. Nicht zuletzt danke ich meiner Familie für alles und möchte die Arbeit meinem Onkel Dr. Johannes-Otto Delfs widmen. Berlin im Oktober 2019

Tobias Delfs

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ausgangspunkt Europa und der pietistisch-religiöse Raum. . . . . . . . . . . . Pietistische Wertvorstellungen und Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die pietistischen Indienmissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herkunft, Auswahl und Ablehnung von Missionarskandidaten: Normenentwicklung und -anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.4 Die Indienreise: Devianz im ‚Zwischenraum‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. II.1 II.2 II.3

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III. Einflussfaktoren in Indien: Soziale Umwelt und Norm im kolonialen Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 III.1 Der kolonialgesellschaftliche Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 III.1.1 Die Einbindung in die koloniale Gesellschaft: soziale Netze . . . . . . . . . . . . 90 III.1.2 Andere Missionsgruppen: Konkurrenz oder Ökumene? . . . . . . . . . . . . . . . 113 III.2 Die Familie in der Mission. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 III.2.1 Frau und Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 III.2.2 Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 IV.

Physische Konstitution und Devianz: Individuelle Erfahrung und Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1 Krankheit und Tod. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2 Suizid, Sucht und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.1 Der Suizidfall Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.2 Devianz, Sucht und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.2.1 Der Fall Früchtenicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.2.2 Der Fall des Herrnhuters Beck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

V. V.1 V.2 V.3 V.4 V.5

Missionspraxis, Norm und Devianz im institutionellen Raum . . . . . . . . . 209 Recht und Politik in den Kolonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Recht und Politik in der Missionspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Der Fall des Friedrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Wirtschaft und Finanzen als Devianz in der Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Missionsmethode: Die lokale Bevölkerung, Devianz und Norm . . . . . . . . . . . 237

VI.

Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Archivalische Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Gedruckte Quellen und Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

I. Einleitung 1706 gelangten die beiden Missionare Plütschau und Ziegenbalg in den an der südostindischen Koromandelküste gelegenen dänischen Handelstützpunkt Tranquebar. Ihre Ankunft, gefördert vom dänischen König und den lutherisch-pietistischen Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale, markierte den Beginn einer bis 1845 andauernden protestantischen Indienmission, die über die Beteiligung der anglikanischen Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK) und über die Ausweitung auch in englische Gebiete zu einer Dänisch-Englisch-Halleschen Mission (DEHM) wurde. Im Jahre 1800 stellte die Missionsleitung in Halle in einem Brief dem Missionskollegium in Kopenhagen folgende Frage bezüglich ihrer Indienmissionare: „Was will aus der Mission werden, wenn wir solche schlechte Missionare dort haben?“1 Schon etwa elf Jahre zuvor hatte der Herrnhuter Indienmissionar Grasmann aus Serampore in Bengalen in einem ähnlich resigniert klingenden Schreiben an den Bischof der seit 1760 auch in Indien vertretenen Herrnhuter Brüdergemeine geschrieben: Wenn man nun, zumalen auf einen so isolirten Posten als Bengalen ist, eine lange Zeit gewesen, so wie ich nun bereits 13 Jahre, u. 2 Jahre in Trankebar, u. man sieht, daß es in der Haupt-Sache nicht gehen will, ja wenn überdis unter den wenigen Brüdern ein solcher Gang ist wie bisher bey uns hier, da dem Hld [= Heiland, TD] u. seiner Sache Schmach u. nicht Freude entsteht, so kan man, wie ich denke, es keinem Br. [= Bruder, TD] verargen, wenn er sich von hier wegsehnt, u. sich nach Europa wünscht.2

Diese beiden Zitate treffen den Kern der vorliegenden Studie und stehen ganz im Gegensatz zu einer in der traditionellen Geschichtsschreibung vertretenen Forschungsmeinung, die sich noch lobpreisend über die Missionare der DEHM äußerte: „none

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Das Zitat stammt aus Knapp an Gude, 13.06.1800, AFSt/M 4 E 5: 63. Vgl. hierzu auch Tobias Delfs: ‚What shall become of the mission when we have such incompetent missionaries there?‘: Drunkenness and mission in eighteenth century Danish East India, in: Harald Fischer-Tiné, Jana Tschurenev (Hg.): A History of Alcohol and Drugs in Modern South Asia. Intoxicating Affairs, London u. a. 2014, S. 65–88. Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60.

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Einleitung

of them sank like many of the chaplains below a high standard of devotion and ability, and the breath of scandal has touched none of them.“3 Die angeführten Aussagen weisen jedoch auf massive Probleme hin, die die beiden pietistischen Missionsgruppierungen zu dieser Zeit in Indien hatten. Dabei stehen die Zitate von Missionsleitung und Missionar stellvertretend für zwei sich teilweise bestätigende, teilweise widersprechende Perspektiven: (1.) für eine eher institutionell-organisatorische Sichtweise der Missionszentralen in Europa und (2.) für eine individuell-praktische direkt aus dem ‚Missionsfeld‘ Indien. In und zwischen den mit beiden Sichtweisen von Zentrum und Peripherie verbundenen Wahrnehmungs- und Werteräumen bewegt sich die folgende Untersuchung. Sie wird sich einerseits den vor allem von der Missionsleitung der DEHM in Europa vertretenen Werten und Normen, andererseits den von Missionaren in Indien zwischen circa 1777 und 1813 begangenen Normverletzungen im Rahmen ihres Alltags, kurzum deren Devianz, zuwenden. Es gilt die dabei deutlich werdenden Diskrepanzen zwischen erhobenem Anspruch und erlebter Wirklichkeit auf Seiten der Leitung wie der Missionare zu identifizieren, Reaktionen, kreativen Lernprozessen und möglichen Erklärungen für Abweichungen, aber auch Konformität in den unterschiedlichsten Abstufungen nachzuspüren. Die Missionare wiesen „globale Lebensläufe“ auf – verstanden in dem Sinne, dass sie im Laufe ihres Lebens zumeist mehrere Kontinente berührten, dabei auf zuweilen – je nach Wahrnehmung des einzelnen Missionars – für sie schwierige Übergänge politischer, kultureller, sozialer, religiöser, aber auch moralischer Art trafen und dabei „interaktive Kommunikations- und Anpassungsleistungen“ zu vollbringen hatten.4 Von besonderem Interesse wird das dabei erfolgende Zusammentreffen der genannten Werte- und Wahrnehmungsräume sein, also die Verhandlung von Werten und Normen in den ‚Kontaktzonen‘ von unterschiedlichen Gruppen und Einzelpersonen in einem übergeordneten gemeinsamen Raum von ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘. Als ‚Kontaktzone‘ bezeichnet Mary Louise Pratt: The space of colonial encounters, the space in which peoples geographically and historically separated come into contact with each other and establish ongoing relations, usually involving conditions of coercion, radical inequality and intractable conflict.5

Raum und Kontaktzone treffen dabei die vorliegenden Sachverhalte besser, als die Verwendung des Begriffes Grenze, da erstere weniger das allein Konfrontative, Starre und Trennende als vielmehr auch das Interaktionistische, Verhandelnde, Flexible, sich

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Percival Spear: The Nabobs. A Study of the Social Life of the English in 18th Century India, London 1963 (zuerst 1932), S. 119. Vgl. Bernd Hausberger: Globalgeschichte als Lebensgeschichte(n), in: Ders. (Hg.): Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen, Wien 2006, S. 9–27, hier: S. 13 (inkl. der Zitate). Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992, S. 6.

Einleitung

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gegenseitig Beeinflussende und Improvisierte der Begegnungen insinuieren.6 Die von Pratt verwendete Definition des Begriffes der ‚Transkulturation‘ besitzt jedoch immer noch eine leichte Tendenz zu einer relativ einseitigen Übertragung von (oder selektiven Übernahme aus) einer dominierenden in eine (oder mehrere) untergeordnete ‚Kultur(en)‘.7 Die sehr heterogenen Kontaktzonen Missionsstation und Kolonialstützpunkt sind als Begegnungsstätten verschiedener sozialer Gruppen und Individuen mit vielen Sprachen zugleich Konfliktzonen,8 in denen es ‚sprachlicher wie auch kultureller Übersetzung‘9 durch Vermittler bedarf, um sich verständigen zu können.10 Mit Simone Lässig muss betont werden, dass es bei der ‚kulturellen Übersetzung‘ „nicht mehr um bloßen Transfer von Kultur, sondern um Transformationen“, um „komplexe Prozesse des Aushandelns und Aneignens von Ideen oder Praktiken und des Herstellens von Bedeutung“ geht.11 Dazu gehörten ebenfalls Nicht-Übersetzbares, Missverständnisse, Eigensinn, Widerstände, Verweigerungen12 und deviantes Verhalten. Betroffen war nicht allein der (wechselseitige) Kontakt zwischen indigener und europäischer Bevölkerung, der schon gar nicht dichotomisch dargestellt werden sollte, sondern beispielsweise auch zwischen unterschiedlichen europäischen sozialen Gruppen und zwischen indigenen Gruppen. Thoralf Klein hat das Konzept der Kontaktzone darüber hinaus noch erweitert um die Dimension globaler Kommunikation über die jeweilig in den

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Vgl. Pratt, Imperial Eyes, S. 5 f. Vgl. überdies Simone Lässig: Übersetzung in der Geschichte – Geschichte als Übersetzung? Überlegungen zu einem analytischen Konzept und Forschungsgegenstand für die Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 189–216, hier: S. 193. Vgl. Pratt, Imperial Eyes, S. 6: Transkulturation meint bei ihr „how subordinated or marginal groups select and invent from materials transmitted to them by a dominant or metropolitan culture.“ Schon Fernando Ortiz, der den Begriff in die Forschung einführte, um sich von einseitigen Begriffen wie Akkulturation oder Diffusion abzugrenzen, betonte den reziproken, dynamischen und komplexen Charakter von Transkulturation. Vgl. Fernando Ortiz: Cuban Counterpoint. Tobacco and Sugar, Durham, London 1995 (zuerst 1940 auf Spanisch, 1947 auf Englisch), insbesondere S. 97–103. Obwohl sie sich an anderen Stellen, wie ihrer Konzeption einer ‚Kontaktzone‘, weitgehend Ortiz annähert und seine Konzeptionen weiterführt, unterbetont Pratt hier die Dynamik und Reziprozität des Transkulturalitätsansatzes. Vgl. ähnlich Catherine Davies: Fernando Ortiz’s Transculturation: the Postcolonial Intellectual and the Politics of Cultural Representation, in: Robin Fiddian (Hg.): Postcolonial Perspectives on Latin American and Lusophone Cultures, Liverpool 2000, S. 141–169, hier: S. 158. Vgl. Renate Dürr: Übersetzung als Wissenstransfer: Das Beispiel der Guaraní-Wörterbücher von Antonio Ruiz de Montoya S. J. (1639/40), in: Mark Häberlein, Alexander Keese (Hg.): Sprachgrenzen – Sprachkontakte – kulturelle Vermittler. Kommunikation zwischen Europäern und Außereuropäern (16.–20. Jahrhundert), Stuttgart 2010, S. 31–45, hier: S. 31 f. Vgl. Lässig, Übersetzung, S. 198 f. Zu den Vermittlern vgl. beispielsweise die aussagekräftigen Fallstudien bei Mark Häberlein: Kulturelle Vermittler in der atlantischen Welt der Frühen Neuzeit, in: Ders., Alexander Keese (Hg.): Sprachgrenzen – Sprachkontakte – kulturelle Vermittler. Kommunikation zwischen Europäern und Außereuropäern (16.–20. Jahrhundert), Stuttgart 2010, S. 177–202. Lässig, Übersetzung, S. 195. Vgl. Lässig, Übersetzung, S. 195 f.

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Einleitung

Kontaktzonen stattfindenden Begegnungen.13 Er trifft damit den in der vorliegenden Untersuchung angenommenen gemeinsamen Raum von ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ oder auch ‚Metropole‘ und ‚Kolonie‘, der gleichsam über die einzelnen Kontaktzonen gelegt werden kann.14 Der Beginn des Untersuchungszeitraumes dieser Arbeit ergibt sich einerseits aus der Übergabe der Verwaltung der dänischen Kolonien von der Handelskompanie an den dänischen König im Jahr 1777, wobei eine gewisse Vorlaufphase dieser Entwicklung einzubeziehen sein wird. Es scheint jedenfalls kein reiner Zufall zu sein, dass die Forschung den Beginn der sogenannten Niedergangsphase der DEHM zeitnah auf die 1780er Jahre datiert, verstärkte dieser Wechsel doch bereits vorhandene Unsicherheiten rechtlicher, aber auch personeller Art für die DEHM noch zusätzlich. Das Jahr 1813 als Ende des behandelten Zeitraumes ergibt sich andererseits aus der Charta der britischen East India Company. Mit ihr wurde Indien schließlich auch offiziell für die christliche Mission geöffnet. Eine solche Mission war zuvor auf britischen Territorien allenfalls eingeschränkt möglich gewesen, was sich etwa an der seit den 1790er Jahren in Indien zunächst vereinzelt missionierenden evangelikalen Mission zeigt, die oftmals auf dänische Gebiete auswich. Die DEHM wurde nun mehr und mehr von diesen britischen Missionsgesellschaften verdrängt. Im Untersuchungszeitraum waren vor den englischen Missionsgesellschaften in Indien mit den Missionaren der DEHM und denen der Herrnhuter zwei vom dänischen König geförderte pietistische Missionen, oftmals in unmittelbarer Nähe zueinander tätig. Sie standen in Kontakt und Konkurrenz zueinander und hatten, wie nicht zuletzt die beiden eingangs angeführten Zitate belegen, mit ganz ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Da die DEHM in Indien weit wirkmächtiger als die Brüdergemeine war, wird der Schwerpunkt dieser Arbeit auf diesem Missionsunternehmen liegen. Doch auch die Herrnhuter Mission hat in Indien Spuren hinterlassen. Deshalb wird in dieser Arbeit zuweilen die bislang im Unterschied zu anderen Herrnhuter Stützpunkten von der Forschung noch gänzlich vernachlässigte Mission der Brüdergemeine in Bengalen ergänzend herangezogen.15 Gerade in der untersuchten Zeitspanne scheinen sich die 13

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Vgl. hierzu Thoralf Klein: How to be a Contact Zone. The Missionary Karl Gützlaff between Nationalism, Transnationalism and Transculturalism, 1827–1851, in: Judith Becker (Hg.): European Missions in Contact Zones. Transformation through Interaction in a (Post-)Colonial World, Göttingen 2015, S. 219–239. Zu ‚Metropole‘ und ‚Peripherie‘ im gemeinsamen Raum vgl. Ann Laura Stoler, Frederick Cooper: Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: dies. (Hrsg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley u. a. 1997, S. 1–56. Die übrigen Herrnhuter Stützpunkte und die Konflikte mit der DEHM wurden bereits verschiedentlich behandelt, so hervorragend bei Thomas Ruhland: „Ein paar Jahr muß Tranquebar und Coromandel wol Serieus das Object seyn“ – Südasien als pietistisches Konkurrenzfeld, in: Pietismus und Neuzeit 39 (2013), S. 86–116 oder ders.: Pietistische Konkurrenz und Naturgeschichte. Die Südasienmission der Herrnhuter Brüdergemeine und die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission (1755–1802), Herrnhut 2018. Noch immer Standard zu diesem Thema: Martin Krieger: Vom

Einleitung

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Probleme mit normverletztenden Missionaren bei beiden Missionen zu häufen – auch wenn es durchaus schon zuvor einige Beispiele zu verzeichnen gab. Was aber meint eigentlich der Begriff der sozialen Normen? Sie lassen sich soziologisch definieren als „explizit gemachte Verhaltensregeln, die Standardisierungen – und damit Handlungswiederholungen und -erwartungen – ermöglichen.“ Solcherlei Normen werden vom Einzelnen angeeignet, internalisiert, „in Prozessen der Institutionalisierung verbindlich gemacht“16, zuweilen kodifiziert und gesellschaftlich sanktioniert. Sie bieten einerseits Orientierung, Verlässlichkeit und Vereinfachung, kurzum Handlungssicherheit, können andererseits Komplexität fördern, wenn beispielsweise unterschiedliche Normen zugleich Geltung beanspruchen17 oder aber wenn für veränderte Situationen der vorhandene Normenfundus nicht ausreichend oder nicht eindeutig ist – ein Zustand, der in der Soziologie als ‚Anomie‘ bezeichnet wird.18 Schon Émile Durkheim verwendete 1893 diesen Begriff mit Bezug auf die sozialen Umbrüche der Industrialisierung und die Arbeitsteilung und entwickelte ihn 1897 in Hinblick auf den Suizid weiter, indem er beispielsweise bemerkte, dass Wirtschaftskrisen genauso wie die plötzliche Zunahme von Wohlstand zu einer Erhöhung der Suizidrate führen könnten.19 Eine allgemeinere Weiterführung des Ansatzes unternahm 1938 (und später) Robert K. Merton.20 Das Anomiekonzept nimmt grundsätzlich an, dass ein Missverhältnis zwischen kulturellen Ziel- und Wertvorgaben auf der einen Seite und gesellschaftlich anerkannten und gestatteten sozialen Möglichkeiten, diese Vorgaben zu erreichen auf der anderen Seite, zum Kollaps der ‚kulturellen Struktur‘ führen könne. Letztere wird bei Merton definiert als „die strukturierte Menge der allen Mitgliedern einer bestimmten Gesellschaft oder sozialen Gruppe gemeinsamen normativen Werte“, während die Sozialstruktur sich auf die „sozialen Beziehungen“ innerhalb dieser Gesellschaft oder sozialen Gruppe bezieht.21 Die Individuen stehen in einer instabilen oder regellosen

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„Brüdergarten“ zu den Nikobaren. Die Herrnhuter Brüder in Südasien, in: Stephan Conermann (Hg.): Der Indische Ozean in historischer Perspektive, Hamburg 1998, S. 209–245. Bernhard Schäfers: Soziales Handeln und seine Grundlagen: Normen, Werte, Sinn, in: Ders. / Hermann Korte (Hrsg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, Wiesbaden 2010, S. 23–45, hier: S. 30 und 31. Vgl. hierzu Miles Hewstone, Robin Martin: Sozialer Einfluss, in: Klaus Jonas u. a. (Hrsg.): Sozialpsychologie, Berlin, Heidelberg 2014, S. 269–315, hier: S. 275. Vgl. mit Bezug zur Basler Mission in Afrika Jon Miller: Missionary Zeal and Institutional Control. Organizational Contradictions in the Basel Mission on the Gold Coast, 1828–1917, Grand Rapids 2003, S. 126. Vgl. Émile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Berlin 2016 (zuerst 1893) sowie ders.: Der Selbstmord, Berlin 2014 (zuerst 1897), etwa S. 273–279. Vgl. die Sammlung von Mertons Aufsätzen in Robert K. Merton: Soziologische Theorie und soziale Struktur, Berlin, New York 1995, v. a. S. 127–187 (‚Sozialstruktur und Anomie‘ sowie ‚Weiterentwicklungen der Theorie der Sozialstruktur und Anomie‘). Vgl. zur Unterscheidung von sozialer und kultureller Struktur in seinem soziologischen Begriff der Anomie Merton, Soziologische Theorie, S. 155f, 156 (Zitate). Damit grenzt Merton seinen Anomie-

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Einleitung

Situation der Anomie unter Druck, sich abweichend zu verhalten und adaptieren entweder die Ziele, Werte und gesellschaftlich erlaubten Mittel oder lehnen sie ab und entwickeln deviantes Verhalten. Anhand der amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit entwickelte Merton hieraus eine Typologie der Anpassungen und versuchte unterschiedliche Häufigkeiten anhand unterschiedlicher Klassen- und Schichtenzugehörigkeiten zu erklären.22 Sowohl Durkheim als auch Merton sehen Anomie eigentlich als „Effekt struktureller Prozesse“23 oder wie Merton es ausdrückte: als „Eigenschaft der sozialen und kulturellen Struktur“ und nicht als „Eigenschaft der Individuen, die mit dieser Struktur konfrontiert sind“.24 Die beiden Soziologen wurden jedoch, oftmals aus einem Missverständnis heraus, individualistisch oder psychologisch interpretiert und ihre Konzepte auf diese Weise durchaus auch weiterentwickelt.25 „Globale Lebensläufe“, wie sie bei den hier zu behandelnden Missionaren festzustellen sind, sind durch die individuelle Erfahrung von Verunsicherung, ausgelöst durch die relative Neu- oder Fremdartigkeit des Kontextes, geprägt.26 Auf die Relativität von Fremdheit hat zwar bereits Jürgen Osterhammel unter Bezugnahme auf das niederländische Batavia aufmerksam gemacht. Es habe schließlich viele Ähnlichkeiten mit den bekannten zeitgenössischen europäischen Metropolen aufgewiesen: Dort hätte sich ein „urbaner Nordwesteuropäer […] zweifellos leichter einzurichten gewußt als unter dem rauhen Inselvolk der Äußeren Hebriden.“27 Irmtraud Götz von Olenhusen konnte darüber hinaus für den katholischen Klerus des 19. Jahrhunderts nachweisen, dass schon innerhalb Deutschlands auf kleinem Raum, nämlich in der Erzdiözese Freiburg, eine „Diskrepanz zwischen Geburts- und Wirkungsort“ deviantes Verhalten unter Geistlichen begünstigte. Sie führte dies auf eine „relative[n] Unangepaßtheit an die Umgebung“ zurück.28 So ist erst recht für einen nordeuropäischen Reisenden im Batavia, Madras oder Kalkutta des 18. Jahrhunderts ein gewisses Maß an Verunsicherung anzunehmen. Sie mag trotz aller vorbereitenden Lektüre von, häufig ebenfalls verfälschte Bilder und Vorstellungen liefernder Asienliteratur, möglichen ‚Trainings‘ oder den Gesprächen mit Heimkehrern allein schon durch die ökologischen Stand-

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begriff vom ‚psychologischen Anomiebegriff ‘, dem es um die ‚Eigenschaften von Individuen‘ gehe, ab. Vgl. Merton, Soziologische Theorie, S. 135–154. Vgl. zusammenfassend zu Merton Peuckert, Abweichendes Verhalten, S. 114–116. Jürgen Mackert, Jochen Steinbicker: Zur Aktualität von Robert K. Merton, Wiesbaden 2013, S. 112. Merton, Soziologische Theorie, S. 155. Vgl. Mackert, Steinbicker, Aktualität, S. 112. Vgl. zur Konzeption umfassend den Sammelband mit einigen Fallstudien Bernd Hausberger (Hg.), Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen, Wien 2006. Vgl. Jürgen Osterhammel: Reisen an die Grenzen der Alten Welt. Asien im Reisebericht des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt am Main 1989, S. 224–260, hier: S. 225 (Zitat). Irmtraud Götz von Olenhusen: Klerus und abweichendes Verhalten: zur Sozialgeschichte katholischer Priester im 19. Jahrhundert: Die Erzdiözese Freiburg, Göttingen 1994, S. 172, 175.

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ortbedingungen, etwa das ungewohnte Klima, durch falsche oder mangelnde Informationen, eine unberechenbare (oder nicht vorhandene) Kolonialverwaltung oder aber durch unzureichende Sprachkenntnisse, kurzum einen „ungleichen Informationsstand“, sowie einen „Mangel an institutionellen Rahmenbedingungen“29 und knappe Ressourcen ausgelöst worden sein.30 Für den baptistischen Missionar Fountain zum Beispiel, der 1796 Kalkutta erreichte, begann in Bengalen schlicht „a new world“, da er sich unmittelbar von einer großen Gruppe neugieriger und geschäftstüchtiger Einheimischer bedrängt fühlte, ohne aber deren Sprache verstehen zu können.31 Das Ausmaß einer solchen Unsicherheit jedoch mag vom Reisenden selbst, seiner Persönlichkeit, seiner Fähigkeit zu differenzieren, seiner Gruppenzugehörigkeit und den Umständen seiner Aufnahme in der neuen Umgebung abhängig gewesen sein. Eine Rolle mag überdies seine genaue Herkunft, seine konkrete Vorbereitung, der Zeitpunkt seiner Reise und der jeweilige Zielort selbst gespielt haben. Die Missionare gelangten zwar unmittelbar nach ihrer Ankunft zumeist zunächst in die Kolonialmetropolen wie Madras und Kalkutta, ihre eigentlichen Missionsstationen lagen dann aber doch häufiger in den kleineren, eher abgelegenen und rural geprägten Ortschaften wie Tranquebar oder Serampore oder anderen europäischen Stützpunkten, in denen ihnen möglicherweise eine urbane Herkunft oder die Kenntnis europäischer Metropolen nur wenig Orientierung geboten hätten. Auch entstammte nicht jeder Missionar einer europäischen Metropole. Viele kamen aus kleineren, häufig ländlichen Ortschaften und lernten vermutlich während ihrer Indienreise das erste Mal eine Metropole wie London kennen. In jedem Falle ist es wichtig, solche Relativitäten im Hinterkopf zu behalten und – wenn es die Quellen erlauben – die Herkunft und Motivationen der Missionare zu berücksichtigen. Die eingangs vorgebrachten Zitate deuten darauf hin, dass ihr aus der „bisherigen Lebenserfahrung“,32 der ‚Lebenswelt‘, geschöpfte Vorrat an Verhaltensregeln, an sozialen Normen, sogar an Vorbereitung für eine angemessene und schnelle Reaktion auf diese neuen ‚globalen‘ Herausforderungen offenbar nicht immer ausreichte.33 Der Begriff ‚Lebenswelt‘ ist hier an Alfred Schütz angelehnt, der von einem „fraglos gegebenen“ aus der individuellen Sozialisation und den dabei gesammelten (Einzel- und Gruppen-)Erfahrungen heraus entstehenden lebensweltlichen „Wissensvorrat“ aus-

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Vgl. inkl. der Zitate Dietmar Rothermund: Unsichere Transaktionen in globalen Lebensläufen, in: Bernd Hausberger (Hg.): Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen, Wien 2006, S. 283–288, hier: S. 283. Vgl. zu solcherlei Verunsicherungen von Afrikamissionaren der Basler Mission des 19. Jahrhunderts auch Miller, Missionary Zeal, S. 126 f. Vgl. Periodical accounts relative to the Baptist Missionary Society (im Folgenden zitiert als PA BMS) I, S. 310 (inkl. des Zitats). Alexander Thomas: Grundriß der Sozialpsychologie, Bd. 1: Grundlegende Begriffe und Prozesse, Göttingen u. a. 1991, S. 78. Vgl. speziell zu Missionaren Miller, Missionary Zeal, S. 127.

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geht. Dieser Vorrat findet nach Schütz Anwendung in Form von „Deutungsschemata“, Sinnstiftungen und „Typenbildungen“ bei der „Auslegung“ der Welt und führt in der Anwendung zu bestimmten Handlungsweisen des Einzelnen.34 Von Schütz ist auch Pierre Bourdieu und insbesondere sein Habitus-Konzept beeinflusst. Bourdieu beschreibt den Habitus folgendermaßen: Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen […], die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefasst werden können, erzeugen Habitusformen, d. h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken.35

Für den Einzelnen ergeben sich hieraus „bestimmte Denk-, Wahrnehmungs- oder Handlungsweise[n]“ „als ein Muster […], das auf andere Situationen übertragen und variiert werden kann“.36 Auch bezüglich eines pietistisch-missionarischen Habitus muss in der Beschreibung differenziert werden, spielen dabei doch nicht zuletzt individuelle (etwa ein eigener „Stil“37 oder die persönliche Konstitution) oder spezifische gruppenbestimmte Faktoren wie die pietistische Erziehung bzw. Ausbildung im Falle der Missionare eine Rolle. Gerade das Individuelle und Persönliche sowie Wandel, Brüche oder Widersprüche in der Lebenswelt sowie eine möglichst „mehrstimmige Darstellung“ sind dazu geeignet, das vermeintlich Selbsverständliche oder die kritisierte Homogenität im Lebenswelt-Konzept von Schütz zu hinterfragen.38 Dennoch ist bei aller Berücksichtigung von agency, also den autonomen Entscheidungen der einzelnen Akteure und einer habituellen Eigendynamik, anzunehmen, dass bestimmte strukturelle Vorprägungen und ‚Wissensvorräte‘ zumindest vielen pietistischen Missionaren gemein waren und sich in gewissem Maße etwa in den von ihnen in Indien vertretenen Werten, Erwartungen, Verständnis- und Handlungsweisen beispielsweise bei Problemlösungen niederschlugen.39 Dabei ist sicher nicht gänzlich auszuschließen, dass der ein oder andere Missionar sich schon in Europa deviant gezeigt hatte, und nun die Überfahrt zur Flucht, „to leave 34 35 36 37 38 39

Vgl. Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, S. 33, 35, 36, 109 (Zitate) und passim. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976, S. 164 f. (Hervorhebungen im Original). Boike Rehbein, Gernot Saalmann: Art. Habitus (habitus), in: Gerhard Fröhlich, Boike Rehbein (Hg.): Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2009, S. 110–118, hier: S. 112. Rehbein, Saalmann, Habitus, S. 112. Vgl. zum Beispiel die Kritik am Lebenswelt-Konzept bei Alf Lüdtke: Lebenswelt: verriegelte Welt? Überlegungen zu einem Konzept und seinen Verwendungen, in: WerkstattGeschichte 75 (2017), S. 115–124, hier: S. 123 (Zitat). Vgl. zur „Weiterauslegung des Horizonts“ „bis die Lösung auch für das aktuell vorliegende Problem als ausreichend erscheint“ Schütz, Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, S. 41.

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the past behind“, nutzte. Für solch ein Verhalten von Europäern außerhalb der Mission existieren jedenfalls für alle Kolonialgebiete genügend Beispiele.40 In einem solchen Fall hätte dann möglicherweise nicht allein die neue Herausforderung in Indien zu einer Abweichung geführt, sondern vielleicht auch eine bereits in Europa ‚eingeübte‘ Verhaltensweise. Umso wichtiger wird die Analyse der Vorgeschichte der Missionare. Es ist dennoch mit der Sozialpsychologie davon auszugehen, dass bei verhaltenswirksamen Anpassungen an neuartige Umstände nicht allein Sozialstruktur und kulturelle Struktur im Sinne Mertons oder Lebenswelt und Habitus, sondern auch (1.) die persönliche Konstitution des jeweils Betroffenen von Bedeutung ist. Hinzu kommen (2.) seine „erworbenen Eigenschaften und Gewohnheiten“ und schließlich (3.) „Werte, Normen und Rollenerwartungen“, in der Sozialpsychologie zusammengefasst als „soziale Bedeutung“ bezeichnet, die „in einer gegebenen Situation handlungsrelevant werden“.41 Damit sind zwei weitere Begriffe eingeführt, die in der Arbeit wichtig sein werden: der des Wertes und der der sozialen Rolle. Werte können definiert werden als „Vorstellungen vom Wünschenswerten“, als „kulturelle und religiöse, ethische und soziale Leitbilder, die die gegebene Handlungssituation sowohl steuern als auch transzendieren.“42 Sie geben Normen und dem Handeln Sinn.43 Die soziale Rolle bezeichnet die „Verhaltensweisen, die von einer Person mit einer bestimmten Position in der Gruppe erwartet werden“.44 Im Unterschied zur ähnlich definierten sozialen Norm ist hier die soziale Position entscheidend. Es handelt sich also um einen enger gefassten Begriff.45 Beide, soziale Norm und Rolle, spielen gerade bei den Missionaren eine große Rolle. Von zentraler Bedeutung für diese Arbeit ist jedoch der bereits angedeutete Terminus der Devianz oder des abweichenden oder nonkonformen Verhaltens, das in DEHM und Herrnhuter Mission nicht so selten vorkam, wie es die Mission nach außen darstellte, und mit dem die Missionen auch verschiedentlich von außen konfrontiert wurden. Mit ‚Devianz‘ sind in der Soziologie „Verhaltensweisen“ gemeint, die gegen die in einer Gesellschaft oder einer ihrer Teilstrukturen geltenden sozialen Normen verstoßen und im Falle der Entdeckung soziale Reaktionen hervorrufen, die darauf abzielen, die betreffende Person, die dieses Verhalten zeigt, zu bestrafen, zu isolieren, zu behandeln oder zu bessern.46

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Vgl. inkl. des Zitats Will Jackson, Emily J. Manktelow: Introduction. Thinking with Deviance, in: Will Jackson, Dies. (Hg.): Subverting Empire. Deviance and Disorder in the British Colonial World, Houndmills u. a. 2015, S. 1–22, hier: S. 4. Vgl. zu diesen drei Aspekten inkl. der Zitate Thomas, Sozialpsychologie, Bd. 1, S. 19. Schäfers, Handeln, S. 37. Vgl. zusammenfassend Schäfers, Handeln, S. 37. Bernard A. Nijstad, Daan Van Knippenberg: Gruppendynamik, in: Klaus Jonas u. a. (Hrsg.): Sozialpsychologie, Berlin, Heidelberg 2014, S. 439–469, hier: S. 450. Vgl. Thomas, Sozialpsychologie, Bd. 1, S. 80 f. Peuckert, Abweichendes Verhalten, S. 108.

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Wie schon Émile Durkheim erkannt hat, muss abweichendes jedoch nicht gleichbedeutend mit kriminellem Verhalten sein. Dies hängt von der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung ab und zeigt einmal mehr die Relativität und Wandelbarkeit sozialer Normen auf. Es liegt geradezu auf der Hand, dass abweichendes Verhalten eine solche Ordnung stören und schädigen kann. Daneben wurde aber bereits früh von Durkheim und anderen eine systemerhaltende, wenn nicht gar -fördernde Funktion von Devianz festgestellt,47 denn: „Der Inhalt der Moral wird häufig durch ihr Gegenteil, nämlich durch das, was nicht erlaubt ist, definiert.“ Damit erfülle Nonkonformität – so der Soziologe Peuckert weiter – die „Funktion der Normverdeutlichung“. Durch Normverletzung und Strafe würden die wichtigsten Regeln und Grenzen, die manchmal ambivalente Handlungen zulassen, immer wieder in die Öffentlichkeit gebracht. Weiterhin sei Devianz in der Lage, Innovationen zu fördern, gesellschaftlichen Stillstand aufzulösen, Gruppensolidaritäten zu stärken („Solidarisierungsfunktion“) und als soziales Ventil zu dienen.48 Kurzum: „Deviance worked“49 – jedenfalls zuweilen. Nun existieren weitere Erklärungsversuche für das Phänomen des abweichenden Verhaltens: Rüdiger Peuckert unterscheidet hierbei zusammenfassend zwei Forschungsansätze, (1.) den traditionellen, ätiologischen und (2.) den interaktionistischen. Ersterer geht von einem grundsätzlichen Unterschied zwischen sich deviant verhaltenden und sich konform verhaltenden Individuen aus. Ansätze dieser Richtung bemühen sich, in diesen konkreten Unterschieden Determinanten für die Abweichung zu bestimmen.50 Demgegenüber hinterfragen interaktionistische Ansätze die Vorannahmen des traditionellen Ansatzes und sehen Devianz als ein „sich fortlaufend entwickelndes Ergebnis dynamischer Interaktionsprozesse“. Weniger steht der ‚Täter‘ und sein eigentliches Verhalten quasi getrennt von seiner Umgebung im Fokus als vielmehr seine soziale Umwelt selbst und deren Verhalten in Normsetzung, -anwendung und sozialer Kontrolle. Es geht insbesondere um die Zuschreibung, die Etikettierung, die eine Person erst zu einem Abweichler mache. Damit verschiebt sich die Theorie vom eigentlich abweichenden Verhalten weg, hin zu einer Theorie abweichender sozialer Rolle.51 In der Kriminalsoziologie wird dieser Ansatz als labeling-approach bezeichnet. Ein bestimmtes Verhalten erhält erst durch die „soziale Reaktion“ eine Bedeutung.52 47 48 49 50 51 52

Vgl. etwa Émile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt/M. 2014 (zuerst 1895), S. 159. Vgl. (auch zu Durkheim) Peuckert, Abweichendes Verhalten, S. 111–113, 112 (Zitate). Jackson, Manktelow, Introduction, S. 10. Vgl. Peuckert, Abweichendes Verhalten, S. 114. Vgl. zusammenfassend Peuckert, Abweichendes Verhalten, S. 118–122, 118 (Zitat). Vgl. mit Anwendungsbeispielen aus der historischen Forschung Gerd Schwerhoff: Historische Kriminalitätsforschung, Frankfurt/M. 2011, S. 9–13, 35–39. Vgl. ebenso Alexander Kästner, Gerd Schwerhoff: Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften. Eine Einführung in systematischer Absicht, in: Dies. (Hg.): Göttlicher Zorn und menschliches Maß. Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften, Konstanz, München 2013, S. 9–43, hier: S. 27–34, 27 (Zitat).

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Von den angedeuteten ‚Skandalen‘53 oder abgeschwächt formuliert: den Problemen einiger Missionare waren – je nach Fall in unterschiedlichem Ausmaß – zumeist auch andere Personenkreise wie vor allem die jeweilige Obrigkeit, die Missionszentralen in Europa, einheimische Mitarbeiter, herangezogene Zeugen, schlichte Beobachter und andere direkt oder indirekt beteiligt, persönlich betroffen oder wurden kommunikativ in die Vorgänge hineingezogen. Dementsprechend gehen ‚Skandale‘, einzelne ‚Eklats‘ oder andere Konfliktsituationen und ihre Regelung, wie Frank Bösch zeigen konnte, mit einer Kommunikationsverdichtung unterschiedlichster Akteure einher und können so gut als „Sonde“ zur Analyse „übergeordneter Prozesse“ dienen:54 in diesem Falle von sozialen Distinktionen, der Kommunikation über Normen, der Aushandlung und dem Wandel derselben und der Konstituierung von Gruppen, wobei letztere in sich durchaus heterogen sein können und keinesfalls als statische Gebilde aufzufassen sind. Diese Arbeit versucht dementsprechend, anhand der Missionare nicht allein ‚täterzentriert‘ dem ätiologischen, sondern auch dem interaktionistischen Ansatz gerecht zu werden: Sie wird – soweit aus den Quellen ersichtlich – die für deviantes Verhalten hemmend wie fördernd wirkenden sozialen Bedingungen berücksichtigen, ohne aber die eigentliche Normverletzung und den Abweichler zu vernachlässigen. Dabei gilt es, eben nicht allein die stark abweichend lebenden Personen und die Normendurchsetzer zu behandeln, sondern auch eher flüchtige Abweichler, ‚tolerierte Devianz‘ und andere eher konforme Personen und Gruppen einzubeziehen und so für eine Kontextualisierung zu sorgen.55 In Hinblick auf die Missionarsbiographien sind in diesem Zusammenhang unterschiedliche, sich jedoch auch überschneidende normative Räume oder ‚Kontaktzonen‘, die durch voneinander abweichende Wertungen gekennzeichnet sein konnten, zu unterscheiden: So hatten die Missionare in ihrem Alltag in Indien (1.) mit bereits be53

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Dieser Begriff ist nicht unproblematisch. Nach Frank Bösch, Kampf um Normen. Skandale in historischer Perspektive, in: Kristin Bulkow, Christer Petersen (Hrsg.): Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung, Wiesbaden 2011, S. 29–49, hier: S. 33 f. bedarf es für einen Skandal zunächst eines Normbruches, dann der Aufdeckung desselben und schließlich der Empörung einer breiten Öffentlichkeit. Gerade letzteres ist im Falle der Missionare nur eingeschränkt gegeben, versuchte man die Fälle doch hauptsächlich missionsintern zu regeln. Sie erscheinen deshalb allenfalls angedeutet in den Missionsberichten und auch nicht in den Zeitungen. Dennoch wurden sie zumindest in der kolonialen Gesellschaft diskutiert. Vgl. inkl. der Zitate Bösch, Kampf um Normen, S. 34. Zur Verwendung ‚globaler Lebensläufe‘ als „historische Sonde“ vgl. Rothermund, Unsichere Transaktionen, S. 286. Vgl. zu einem solchen Ansatz Kästner, Schwerhoff, Religiöse Devianz, S. 33 f., die sich auf David Downes, Paul Rock: Social Reaction to Deviance and Its Effects on Crime and Criminal Careers, in: The British Journal of Sociology 22,4 (1971), S. 351–364, hier: S. 358–360, 362 f. beziehen und auf die Eigendynamik der Abweichung, die „Dynamik sozialer Kontrollagenturen“, die „Dynamik der Kontextes“ sowie die komplexe „Beziehung […] zwischen der typisierten Person und den das ‚Label‘ vermittelnden Akteuren“ verweisen, „welches neben Momenten von Repression und Ausgrenzung auch Absprachen, Kooperation und Koexistenz aufweist.“

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stehenden Werten, Normen und Institutionen indigener Gruppen und Individuen zu tun. Sie selbst waren (2.) von europäisch-pietistischen Werten und Normen geprägt, mussten sich (3.) diesbezüglich – inklusive einer eigenen Missionsrechtsprechung – mit den einheimischen Missionschristen auseinandersetzen, trafen in Indien (4.) aber auch auf die Werte und Normen einer europäisch-kolonialen Gesellschaft und deren gesellschaftlichen Gruppen, Schichten und – häufig nur schwach ausgebildeten – Institutionen.56 Schließlich (5.) hatten sie sich zusätzlich mit den normativen Vorgaben und der Erwartungshaltung der europäischen Missionszentralen zu beschäftigen, mit denen sich nur schwer Rücksprache halten ließ, die sich untereinander nicht immer einig sein mussten und denen die Umstände in Übersee nicht aus persönlicher Erfahrung bekannt waren. Den mit diesen Normen, Werten und Institutionen verbundenen alltäglichen Problemen, den Handlungsoptionen innerhalb des Handlungsrahmens der europäisch-kolonialen Gesellschaft sowie den eigentlichen Problemlösungsversuchen und -strategien sowie der Kommunikation darüber widmet sich diese Arbeit. Welche geschriebenen oder ungeschriebenen Normen und Werte lagen vor? Änderten sie sich? Wo, wann und warum kam es überhaupt zu Normverletzungen? Wie und von wem wurden diese definiert? Wie ging man damit um? Wie wurden die Normbrüche jeweils von den konkret Betroffenen und den Zentralen, wie vom weiteren Umfeld wahrgenommen? Für das behandelte Thema existiert ein breites Spektrum an Quellen: Interessant sind die von außen auf die Mission blickenden Quellen, etwa Reise- und Zeitungsberichte von Besuchern oder anderen Beobachtern, genauso wie diejenigen aus der Mission und den Missionsarchiven selbst, insbesondere wenn es sich um direkte Instruktionen an die Missionare handelt. Da solcherlei Anweisungen zuweilen erneuert wurden, eignen sie sich ausgesprochen gut, um einen möglichen Wertewandel zu untersuchen. Ähnliches gilt für Unterlagen von Bewerbern für die Mission und die Akten über deren Bewertung durch die darüber entscheidenden Personenkreise. Im Falle der DEHMissionare und der Herrnhuter war das vorherrschende Medium der Kommunikation insbesondere mit den Zentralen der Brief, der dementsprechend neben den Diarien die Hauptquellenart dieser Arbeit darstellt. Hinzu kamen jedoch auch Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Nicht zuletzt gehörten im Falle der DEHM auch die weit verbreiteten Missionsberichte dazu,57 in denen missionarische Briefe, Tagebücher und 56 57

Vgl. zu den „sozialen Räumen“ in Indien ohne die normative Dimension Heike Liebau: „Alle Dinge, die zu wissen nöthig sind“. Religiös-soziale Übersetzungsprozesse im kolonialen Indien, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 243–271, hier: S. 246. Vgl. zur Verbreitung der Berichte Heike Liebau: Die Halleschen Berichte, in: Dies. (Hg.): Geliebtes Europa – Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission. Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 7. Mai – 3. Oktober 2006, Halle 2006, S. 97–102. Sie wurden von Halle aus – um nur die ferneren Orte zu nennen – nach Tranquebar, Wien, Moskau, London, Venedig, Kopenhagen und Königsberg verschickt. Die Herrnhuter Schriften wurden zunächst allein handschriftlich verbreitet, wodurch ihre Verbreitung

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Reisebeschreibungen auch für ein breiteres Publikum gedruckt wurden, um Gönner und Spenden zu gewinnen und für pietistische Erbauung und Unterhaltung zu sorgen.58 Die Missionsleitung in Halle wirkte dabei jedoch als Kommunikationsfilter gegenüber der Öffentlichkeit, entschied sie doch, welche der Schriften vollständig, gar nicht oder nur in Auszügen veröffentlicht werden konnten. Ähnliches gilt für die Weitergabe von missionarischen Nachrichten an die SPCK oder das Missionskollegium. Es liegt auf der Hand, dass es beispielsweise nicht gerade im Interesse der Leitung lag, die gerade für diese Arbeit interessanten Missionsinterna, unliebsamen Meinungen, heiklen Probleme mit einzelnen Missionaren, anderen Missionsgruppen, der Obrigkeit oder die generellen Misserfolge öffentlich „auszubreiten“ (Arno Lehmann), weil dies einerseits zur Einschränkung der Spendentätigkeit, andererseits zu weiteren nachteiligen persönlichen und institutionellen Verwicklungen oder dem Verlust der Missionslegitimation in Gänze führen konnte.59 Etwa aufgrund persönlicher Differenzen hat es sicherlich Übertreibungen von einzelnen Missionaren gegeben. Solches ist beispielsweise in Fällen extremer Devianz anzunehmen, da die übrigen Missionare die unliebsame Person gewiss lieber früher als später von ihrem Posten entfernt gesehen hätten. Umgekehrt konnte sich der jeweilige Abweichler durchaus offensiv mit Gegenattacken verteidigen, die ihrerseits ganz sicher nicht frei von Übertreibungen oder gar Unwahrheiten waren. Außerdem spielten

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deutlich begrenzter war als diejenige der Halleschen Berichte. Als „Nachrichten aus der Brüdergemeine“ wurden sie erst ab 1817/18 gedruckt. Vgl. hierzu Gisela Mettele: Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1727–1857, Göttingen 2009, S. 113. Vgl. Der Königl. Dänischen Missionarien aus Ost-Indien eingesandter Ausführlichen Berichten, Von dem Werck ihres Amts unter den Heyden, angerichteten Schulen, ereigneten Hindernissen und schweren Umständen; Beschaffenheit des Malabarischen Heydenthums, gepflogenen brieflichen Correspondentz und mündlichen Unterredungen mit selbigen Heyden […], 9 Bde., Halle 1710–1772 (Hallesche Berichte, im Folgenden abgekürzt als HB) und die Fortsetzung der HB: Neuere Geschichte der evangelischen Missionsanstalten zu Bekehrung der Heiden in Ost-Indien. Aus den eigenhändigen Aufsätzen und Briefen der Missionarien herausgegeben […], 8 Bde., Halle 1776–1839 (Neue Hallesche Berichte, hier abgekürzt als: NHB). Die beiden Missionsberichte sind inzwischen digitalisiert und online einsehbar auf den websites der Franckeschen Stiftungen in Halle (HB) sowie bei der Bayerischen Staatsbibliothek in München (BSB). Vgl. für die Halleschen Berichte http://192.124.243.55/digbib/hb.htm (zuletzt eingesehen am 23.08.2012) mit Recherchefunktionen, für die NHB vgl. den online-Katalog der BSB, wobei bedauerlicherweise einzelne Bände – wie die ersten vier Stücke – unvollständig oder wegen verzerrender Aufnahmen schlecht lesbar sind (zuletzt eingesehen am 28.08.2012). Deshalb werden in der vorliegenden Untersuchung zusätzlich, wenn nötig, die gedruckten Originale herangezogen. Vgl. weiterhin für Berichte der SPCK: An Abstract of the Annual Reports and Correspondence of the Society for Promoting Christian Knowledge from the Commencement of its Connexion with the East India Mission, A. D. 1709 to the Present Day […], London 1814. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 19. Vgl. zu ähnlichen Verfahrensweisen in Halle hinsichtlich der Lutheraner in Nordamerika Hermann Wellenreuther: Heinrich Melchior Mühlenberg und die deutschen Lutheraner in Nordamerika 1742–1787. Wissenstransfer und Wandel eines atlantischen zu einem amerikanischen Netzwerk, Berlin 2013, S. 334 f.

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oft schon von den Zeitgenossen schwer zu verifizierende Gerüchte mit einer gewissen Eigendynamik eine Rolle, wie auch die jeweilige Persönlichkeit des Missionars einzubeziehen ist. Sie konnte genauso zu schriftlichen Wutausbrüchen wie zu behutsam-diplomatischem Verhalten führen. Auch standen sich vor allem in den 1790er Jahren innerhalb der DEHM die durchaus planmäßig materiell besser gestellten ‚etablierten‘ und die ‚jungen‘ Missionare gegenüber. Erstere warfen Letzteren beispielsweise vor, nicht mit Geld umgehen zu können, während Letztere eine materielle Gleichstellung anstrebten. Es gab also im Hintergrund der geäußerten Kritik einen Generationenund Ressourcenkonflikt in der Hierarchie der Mission, der zu interessengeleiteten Äußerungen geführt haben könnte. Tendenziell sind es in der Tat eher die jüngeren Missionare, denen auch im Kampf um die insgesamt nur knappen Ressourcen der Missionare Missbilligung entgegenschlug. Bestimmte Normverstöße mögen überdies gar nicht gemeldet worden sein, da sie als bekannt vorausgesetzt wurden, die Person des Berichtenden ebenfalls in schlechtem Licht dargestellt hätten, sie als vernachlässigbar oder aber als zu zweckdienlich für die Mission betrachtet wurden. Solches galt gerade im Falle von Finanzfragen. Wahrscheinlich ist ebenso, dass im Laufe der Zeit Wahrnehmungsverschiebungen in der Beurteilung von Normverstößen stattfanden. Wegen der Furcht vor Rufschädigungen in der Öffentlichkeit oder zwischen den Missionspartnern und der Tabuisierung einzelner Themen gerade im Körperlichen mag es zudem gezielte Verheimlichungen oder Vertuschungen gegeben haben. Den Quellenbefund insgesamt betrachtend, kann sich jedwede historiographische Klassifizierung lediglich im Rahmen von Plausibilitäten und Wahrscheinlichkeiten bewegen.60 Trotzdem lassen sich auch im Nachhinein anhand der Quellen noch einige sehr sichere Aussagen tätigen, denn bestimmte Normverletzungen hätten sich mit großer Sicherheit nicht verheimlichen lassen – gerade im Falle des Bruches von geschriebenen Rechtsnormen, wenn die weltliche Obrigkeit strafrechtlich einzugreifen gehabt hätte. Solches gilt beispielsweise für Mord oder für einen angezeigten Diebstahl, wovon, um es vorweg zu nehmen, aber kein Missionar betroffen gewesen zu sein scheint. Abgesehen von den obrigkeitlichen Eingriffen im Falle Früchtenichts, um die öffentliche Ordnung zu sichern, und im Falle Kiernanders und des Fabricius wegen deren Überschuldung war kein Missionar von strafrechtlichen Verfolgungen persönlich betroffen. Die Missionare berichteten jedoch zuweilen über derartige Fälle außerhalb der Mission. Größere Vergehen auf Missionarsseite sind in jedem Falle von der Missionarskonferenz der DEHM diskutiert worden und hätten auf diese Weise auch Quellen produziert.

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Vgl. zur Wirklichkeitsannäherung der Geschichtswissenschaft Otto Gerhard Oexle: Kultur, Kulturwissenschaft, Historische Kulturwissenschaft. Überlegungen zur kulturwissenschaftlichen Wende, in: Das Mittelalter 5 (2000), S. 13–33, hier v. a.: S. 33.

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Häufig wirkten Indienmissionare selbst darauf hin, nicht alles Geschriebene zu veröffentlichen: So entschuldigte sich zum Beispiel der Sekretär des Missionskollegiums Gude 1796 in einem Brief an den Direktor der Franckeschen Stiftungen und Herausgeber der Halleschen Missionsberichte Schulze, dass er ein Schreiben des Missionars John verspätet an Schulze weitergeleitet habe. Es handele sich dabei um einen „privaten Briefe“ Johns an Gude und Pastor Chemnitz in Kopenhagen, worin sich von John mit Bleistift durchgestrichene Passagen befänden, die „allein von seinen Freunden gelesen“, also nicht für den Druck, bestimmt seien.61 Diesem Befund der Trennung von ‚privaten‘ und ‚öffentlichen‘ oder ‚intern‘ und ‚extern‘ ausgerichteten Sphären der Kommunikation entsprechend wird sich die vorliegende Untersuchung zumindest bei den potenziell problembehafteten Themen häufiger auf das ungedruckte Archivmaterial der Missionsarchive in Halle und Herrnhut und des Reichsarchives Kopenhagen stützen. Die gedruckten Missionsberichte werden jedoch zuweilen zum Vergleich herangezogen, weil es für die Position der Zentrale in Europa gegenüber der ‚Öffentlichkeit‘ durchaus aussagekräftig sein kann, was im jeweiligen Fall redigiert wurde und was nicht. Ebenso werden sie an den weniger problematischen Stellen Verwendung finden, an denen anzunehmen ist, dass solche Eingriffe unnötig waren.62 Die ‚Gemeinnachrichten‘ und ‚Gemeindiarien‘ der Brüdergemeine zirkulierten im Unterschied zu den Halleschen Berichten bis 1817/18 lediglich handschriftlich, waren also weit weniger ‚öffentlich‘ als die gedruckten Halleschen Quellen, sondern vielmehr für die interne Kommunikation und den Erhalt und die Festigung der globalen Gemeinschaft der Geschwister gedacht. Auf diese Weise waren jedoch die Gemeinen in Asien zumindest in Teilen auch über Vorgänge in Amerika oder Grönland informiert. Die Berichte wurden zumeist gemeinschaftlich gelesen. Nichtmitgliedern war das Lesen nach Gisela Mettele erst ab den 1770er Jahren erlaubt, wobei sie sich zunächst zur Verschwiegenheit zu verpflichten hatten. Ab 1789 entstanden die Gemeinnachrichten dann in zwei – immer noch handschriftlichen – Versionen, eine für den internen, die andere für den externen Gebrauch.63 Da sie jedoch ebenfalls lediglich eine Auswahl

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Gude an Schulze, 05.07.1796, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1765–1854, F 34, Ostindisk missions brevbog, S. 130 f. Vgl. die Hinweise in: John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24. In diesem Brief bat John den Direktor, „die ganz particulairen Nachrichten, die ich gemeldet nicht bekant werden zu lassen“. So schreibt Heike Liebau: „Bei Vergleichen des Gedruckten mit parallel vorliegenden Manuskripten wurden selten größere Abweichungen registriert.“ Man kann also schwerlich – wie es in der bisherigen Forschung häufig getan wurde – von einer generellen Zensurpraxis sprechen. Vgl. hierzu zusammenfassend Heike Liebau, Die indischen Mitarbeiter der Tranquebarmission (1706– 1845). Katecheten, Schulmeister, Übersetzer, Tübingen 2008, S. 18f, Fn. 39. Die Eingriffe hingen eher vom Einzelfall, vom jeweiligen Thema, dessen Problematik und dem jeweiligen Herausgeber der Berichte ab. Vgl. Mettele, Weltbürgertum oder Gottesreich, S. 146–178. Auf den unterschiedlichen Stellenwert, das „Missverhältnis“, der „Außendarstellung“ der Mission in der Brüdergemeine und der DEHM im Vergleich zur eigentlichen „Bedeutung der außereuropäischen Mission“ für beide pietistischen

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darstellten und der eigentliche Schwerpunkt auf der DEHM liegt, verwendet die folgende Untersuchung allein die direkten Schriften der Missionare vor Ort in Bengalen, das heißt vor allem ihre Briefe und Tagebücher. Bei all diesen Quellengattungen gilt es freilich zu beachten, dass es sich hauptsächlich um von einem pietistisch-missionarischen Standpunkt geschriebene Quellen handelt, denen eine spezifische normative Wahrnehmung innewohnt. Gerade auf moralische und religiöse Themen reagierten die Missionare häufig deutlich sensibler als andere Bevölkerungsgruppen, so dass es zu Verzerrungen in den Quellen kommen kann. So begreift etwa schon Martin Scharfe den Pietismus als „Subkultur“ mit einem „Werte-Kosmos“, „der eine eigene rigide Moral beinhaltet“, die sich ihrerseits aus der „strenge[n] Auslegung des ‚Worts‘“ ableitet und über einen „Literaturkanon (Erbauungsliteratur)“ sowie „besondere Zusammenkünfte (Erbauungsstunden)“ in „scharfe[r] Abgrenzung“ von der Welt tradierte.64 Es gilt das Diktum Émile Durkheims (1858–1917), der bereits 1895 feststellte: Man stelle sich eine Gesellschaft von Heiligen, ein vollkommenes und musterhaftes Kloster vor. Verbrechen im eigentlichen Sinne des Wortes werden hier freilich unbekannt sein; dagegen werden dem Durchschnittsmenschen verzeihlich erscheinende Vergehen dasselbe Ärgernis erregen wie sonst gewöhnliche Verbrechen in einem gewöhnlichen Gewissen.65

Eine häufiger vorkommende Benennung und Sanktionierung von bestimmten Missständen in den Quellen beispielsweise muss demnach nicht zwangsläufig bedeuten, dass die besagten Probleme zugenommen hätten oder zuvor nicht bereits vorhanden gewesen sein könnten. Umso wichtiger ist es, die Quellen zu hinterfragen und auch die Darstellungen anderer Personengruppen (wie europäische Kaufleute, Mitglieder von Verwaltung und Gouvernement, Reisende und die einheimischen Mitarbeiter wie überhaupt die lokale indigene Bevölkerung) einzubeziehen, was jedoch nicht immer möglich ist. Bedauerlicherweise kommt etwa die einheimische Bevölkerung selbst nur sehr selten zu Wort. Ihre Reaktionen und Positionen sind zumeist – wenn überhaupt – lediglich indirekt aus Missionarsquellen oder in von Missionaren bearbeiteten Quellen zu erschließen.66 Bei diesen Schriften handelt es sich häufig um Übersetzungen, die entweder von den betroffenen Einheimischen selbst erstellt wurden oder die man von vermeintlich Sprachkundigen mit oftmals eigenen Interessen zuvor hatte anferti-

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Unternehmungen hat bereits Hermann Wellenreuther: Pietismus und Mission. Vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Hartmut Lehmann (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004, S. 166–193, hier: S. 168 hingewiesen. Vgl. inkl. der Zitate Martin Scharfe: Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus, Gütersloh 1980, S. 26. Durkheim, Regeln der soziologischen Methode, S. 158. Vgl. auch die Anwendung dieses Zitates ohne Bezug zur Mission bei Peuckert, Abweichendes Verhalten, S. 111. Vgl. nur Liebau, Mitarbeiter, S. 15, 27, 34. Das gilt oft ebenso für die europäischen Unterschichten.

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gen lassen. Immer wieder gab es dementsprechend Beschwerden über die – in solchen normativen Interessenkonflikten im Nachhinein nur schwer abschätzbare – Qualität der Übersetzungen und andere Kommunikationsprobleme.67 Mit den etwas überspitzten Worten Dietmar Rothermunds sind globale Lebensläufe unter anderem wegen der geschilderten Unsicherheiten oftmals „Gratwanderungen, bei denen der Sturz in den Abgrund droht“, wobei die „Gestürzten meist keine Spuren hinterlassen, während die Erfolgreichen oft noch einen reichen Nachruhm geerntet haben, als sie längst nicht mehr unter den Lebenden weilten.“68 Diese Annahme ist nicht allein im Falle der Missionare nur zum Teil richtig, denn die Missionsarchive der DEHM und der Herrnhuter beherbergen durchaus reichhaltig überlieferte Spuren sowohl der ‚Erfolgreichen‘ als auch der ‚Gestürzten‘ und noch dazu der sich zwischen beiden Extremen befindlichen Personen. Nicht immer führte zudem die durch die Indienreise ausgelöste Änderung der Bedingungen zu abweichendem Verhalten der Europäer. In seiner insbesondere an die Briten gerichteten und deswegen englischsprachigen, überaus missionskritischen Streitschrift Letters on the State of Christianity in India machte zwar der langjährige katholische Indienmissionar Abbé Jean Antoine Dubois 1823 verallgemeinernd die Verfehlungen der Europäer insgesamt für den seiner Meinung nach sehr schlechten Ruf des Christentums unter den Einheimischen verantwortlich.69 Dabei handelt es sich um einen Topos, der in unterschiedlichen Variationen auch in den protestantisch-pietistischen und anderen Quellen immer wieder vorkommt,70 wobei sich – wie gezeigt – gerade Missionare in der ihnen eigenen Perspektive empfänglich für diese Beobachtungen zeigten und deshalb Übertreibungen zu erwarten sind. Es haben dennoch – anders als Rothermund annimmt – nicht allein die ‚Erfolgreichen‘, sondern zuweilen gerade die ‚Gestürzten‘, die freilich insbesondere für die Geistlichkeit von Interesse waren, für eine Fülle an Quellenmaterial gesorgt, das nun insbesondere in den Missionsarchiven zu besichtigen ist.71 Insgesamt belegt dieser Befund den unterschiedlichen Umgang des Einzelnen mit Unsicherheit oder aber die unterschiedliche Betroffenheit durch Unsicherheit. Der von Rothermund angespro-

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Vgl. etwa Missionare an Gouvernement, 24.11.1794, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. Rothermund, Unsichere Transaktionen, S. 285. Vgl. Abbé Jean Antoine Dubois: Letters on the State of Christianity in India; in which the Conversion of the Hindoos is Considered as Impracticable […], London 1823, S. 17. Vgl. ähnlich wie bei Dubois bereits die Bemerkungen des Indienreisenden Jakob Haafner über die „Europäer“. Er konstatiert „Abneigung“, „Furcht“ und „Misstrauen“ „aller Inder gegen die Europäer“, vgl. Jakob Haafner: Reise in einem Palankin. Erlebnisse und Begebenheiten auf einer Reise längs der Koromandelküste Südindiens in den Jahren 1785 und 1786, ungekürzte Ausgabe, aus dem Niederländischen übers. und hgg. von Thomas Kohl, Mainz 2003, S. 35. Vgl. zu diesem Topos Jackson, Manktelow, Introduction, S. 3 f. Vgl. unabhängig von der Mission zu solchen methodischen Fragen Arnold Esch: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 529–570.

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chene Sachverhalt einer Vernachlässigung der ‚Gestürzten‘, gilt jedoch zumeist für die publizierten Quellen, etwa die Missionsberichte, und in Teilen auch für die sich mit der Mission beschäftigende Forschung. Um die Missionare und ihr Verhalten zu verstehen, ist es sinnvoll, die ‚gefallenen‘ Missionare gerade im Kontext der übrigen Bevölkerung, insbesondere von in Indien marginalisierten Europäern, den ‚Verlierern‘ und ‚Versagern‘72 in all ihren Abstufungen, zu sehen. Schließlich war dieser Personenkreis zuweilen als Zielgruppe unmittelbarer Teil des missionarischen Alltags, mithin eines normativen Raumes. Überdies bildeten die missionarischen Diskurse über sie in gewisser Weise die Selbstwahrnehmung und Moralvorstellungen der Missionare im Rahmen der europäischen Expansion selbst mit ab. Sie wurden in der geschichtswissenschaftlichen Forschung nur allzu oft vernachlässigt, vielleicht weil sie nicht den klassischen Vorstellungen von kolonialer Herrschaft und der oftmals angenommenen Dichotomie von ‚Herrscher‘ und ‚Beherrschten‘ entsprachen. Zwar spielten sozial abgestiegene und geächtete Personen in früheren Untersuchungen bereits eine Rolle, etwa 1932 bei Percival Spear, der auf diesen Missstand schon hinwies,73 umfassender wandte sich die Geschichtswissenschaft, etwa personifiziert durch David Arnold und Ann Laura Stoler, den Kolonialskandalen, Randgruppen und Außenseitern der kolonialen Gesellschaft jedoch erst seit den 1980er Jahren und vermehrt in jüngster Zeit zu. Dies geschah, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, 2011 bei Joseph Sramek und seiner Studie zu Gender, Morality, and Race in Company India,74 2010 bei Elizabeth Kolsky und ihrer Untersuchung zu ‚weißer Gewalt‘ und kolonialer Justiz75 und vor allem 2009 in Harald Fischer-Tinés Arbeit zu den ‚weißen Subalternen‘. 2015 erschien sogar ein Sammelband, der sich in Fallstudien generell mit kolonialer Devianz beschäftigte. Die Schwerpunkte dieser Analysen liegen allerdings im ‚langen‘ 19. oder im 20. Jahrhundert und auf Britisch-Indien oder anderen britischen Kolonien.76 All diese Studien verweisen gleichwohl auf die zunehmende Bedeutung biogra72 73 74 75 76

Zur Problematik einer solchen Zuschreibung vgl. Swen Steinberg: Probleme und Potentiale einer allgemeinen Theorie der Verlierer für die Frühneuzeitforschung, in: Marian Nebelin, Sabine Graul (Hg.): Verlierer in der Geschichte. Von der Antike bis zur Moderne, Berlin 2008, S. 281–288. Vgl. Percival Spear: The Nabobs. A Study of the Social Life of the English in 18th Century India, London 1963 (zuerst 1932). Zu ihm Harald Fischer-Tiné: Low and Licentious Europeans. Race, Class and ‚White Subalternity‘ in Colonial India, New Delhi 2009, S. 10 f. Vgl. Joseph Sramek: Gender, Morality, and Race in Company India, 1765–1858, Houndmills u. a. 2011. Vgl. Elizabeth Kolsky: Colonial Justice in British India. White Violence and the Rule of Law, Cambridge 2010. Vgl. Fischer-Tiné, Low and Licentious Europeans, und Will Jackson, Emily J. Manktelow (Hg.): Subverting Empire. Deviance and Disorder in the British Colonial World, Houndmills u. a. 2015. Vgl. ebenso Sameetah Agha, Elizabeth Kolsky (Hg.): Fringes of Empire, New Delhi 2009, S.2 f.: „By restoring less visible, if not forgotten, characters such as the European poor, Indian lunatics, pirates, soldiers, convicts, and frontiersmen to the history of colonial India, this volume positions these intra-colonial fringes as sites for reframing the larger imperial picture.“ Vor- oder frühkoloni-

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phischer Ansätze in der sich mit Kolonien beschäftigenden Geschichtsschreibung.77 Es mangelt jedoch generell an neuen, historisch-kritischen Missionarsbiographien.78 Trotz der genannten Quellenfülle finden deren Sichtweisen kaum Berücksichtigung.79 Dabei existierten sogar einige wenige Fälle von Missionaren, die sich selbst den ‚weißen Subalternen‘ anschlossen, also gesellschaftlich geächteten Gruppen wie anstellungslosen Seeleuten und Soldaten, von deren Arbeitskraft die koloniale Gesellschaft trotz aller Ächtung gleichwohl abhängig war und die sich deshalb auch nicht ganz auf einer Ebene mit den als ‚rassisch‘ minderwertig wahrgenommenen Einheimischen befanden.80 Mittels verschiedener Maßnahmen zur Kontrolle ihres Verhaltens durch die jeweilige koloniale Obrigkeit sollte die Grenze „that distinguished the ruler from the ruled“81 aufrecht erhalten und ein „undermining“ des „moral prestige of empire“82 verhindert werden.83 Eine vergleichbare Wahrnehmung lässt sich in den Missionen feststellen, die ebenfalls bestrebt waren, gleichsam ihr ‚moralisches Prestige‘ zu erhalten. Zu ‚Dänisch-Ostindien‘ und dem dänischen Gesamtstaat,84 zu Devianz oder einzelnen Randgruppen existiert noch keine Untersuchung solcher Art. Hier bieten gerade die Missionare und die von ihnen produzierten Quellen, die sich nicht nur mit der Mission an sich beschäftigten, sondern sich überdies dem allgemeinen Umfeld zuwandten, das seinerseits Rückwirkungen auf die Mission hatte, nicht nur für Devianz innerhalb der Mission, sondern auch für dieses Forschungsdesiderat Chancen tieferer Einblicke. Ähnliches könnte für die indigenen Mitarbeiter der Mission und die Einheimischen insgesamt gelten. Dem steht jedoch die erwähnte Quellenproblematik im Wege.

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ale Zeiten werden auch hier eher am Rande behandelt – genauso wie bei David Arnold: European Orphans and Vagrants in India in the Nineteenth Century, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 7 (1979), S. 104–127. Vgl. insbesondere Clare Anderson: Subaltern Lives. Biographies of Colonialism in the Indian Ocean World, 1790–1920, Cambridge 2012. Vgl. so schon Liebau, Mitarbeiter, S. 37 f. Eine Ausnahme bildet Emily J. Manktelow: Thinking with Gossip. Deviance, Rumour and Reputation in the South Seas Mission of the London Missionary Society, in: Will Jackson, Dies. (Hg.): Subverting Empire. Deviance and Disorder in the British Colonial World, Houndmills u. a. 2015, S. 104–126. Vgl. neben Fischer-Tiné, Low and Licentious Europeans, etwa die Fallstudien im Sammelband: Anja Pistor-Hatam, Antje Richter (Hg.): Bettler, Prostituierte, Paria. Randgruppen in asiatischen Gesellschaften, Hamburg-Schenefeld 2008, der die gesellschaftliche Bedeutung von „Randgruppen“ besonders betont. Vgl. zur Rolle der Seeleute beispielsweise Roald Kverndal: Seamen’s Missions: Their Origin and Early Growth. A Contribution to the History of the Church Maritime, Seattle 1983, S. 42. Kolsky, Colonial Justice, S. 21. Sramek, Gender, Morality, and Race, S. 2. Vgl. insgesamt Fischer-Tiné, Low and Licentious Europeans. Hier nicht nur Dänemark-Norwegen und die beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein umfassend, sondern als Konglomeratsstaat inklusive der Färöer Inseln, Island, Grönland, Teilen der afrikanischen Goldküste, Dänisch Ost- und Westindien verstanden. Vgl. Eva Heinzelmann, Stefanie Robl und Thomas Riis (Hg.): Der dänische Gesamtstaat. Ein unterschätztes Weltreich?, Kiel 2006.

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Umfassend arbeitete erstmals Heike Liebau im Jahre 2008 über Die indischen Mitarbeiter der Tranquebarmission.85 Im Unterschied zu den vielen missions- und kirchengeschichtlichen Studien nimmt sie dabei eine dezidiert sozialgeschichtliche Perspektive ein.86 Auch bietet sie – wenngleich dies nicht der Schwerpunkt ihrer Arbeit ist – en passant zahlreiche hilfreiche Hinweise zu den Werten, Normen, Rollen und ‚Fehlverhaltensweisen‘ der Einheimischen, aber auch der Europäer und vor allem der Missionare. Liebau bezieht zudem die späteren Phasen der Mission ein, während sich die meisten Untersuchungen nach wie vor auf die frühen Phasen und vor allem den ersten Missionar Ziegenbalg konzentrieren. Noch weniger Beachtung als die eigentlichen ‚weißen Subalternen‘ in der geschichtswissenschaftlichen Forschung fand bisher jedoch normverletzendes Fehlverhalten im Bereich der protestantischen Mission selbst. Die wenigen überhaupt zu diesem Themenkomplex existierenden Arbeiten konzentrierten sich zumeist, wie Emily J. Manktelow, auf Einzelaspekte oder Fallstudien, die Missionsgesellschaften des 19. oder 20. Jahrhunderts und/oder andere Regionen als Indien.87 Aufgrund von Unterschieden im Organisationsgrad dieser Gesellschaften, in der – trotz weiterhin bestehender Mängel – verbesserten Ausbildung der Missionare, in den erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten, zunehmender imperialer Zivilisierungsmission, den besonderen Verhältnissen vor Ort und anderen Umständen finden sich nicht immer Anschlussmöglichkeiten zur DEHM und zum Indien des 18. Jahrhunderts. Gleichwohl bieten diese Untersuchungen häufig vor allem methodisch und begrifflich wichtige Anregungen.

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Vgl. auch ihre anderen Arbeiten, zum Beispiel: Heike Liebau: „Alle Dinge, die zu wissen nöthig sind“; (zusammen mit Margret Liepach): Christliche Hindus – indische Christen? Die Nationalarbeiter der Dänisch-Halleschen Mission in Südindien im 18. Jahrhundert, in: Joachim Heidrich (Hg.): Changing Identities. The Transformation of Asian and African Societies under Colonialism, Berlin 1994, S. 307–322 oder: Indische Angestellte in der dänischen Kolonialadministration während der sozialen Unruhen in Tranquebar und Umgebung im Jahre 1787, in: asien, afrika, lateinamerika 25 (1997), S. 111–126; Tamilische Christen im 18. Jahrhundert als Mitgestalter sozialer Veränderungen. Motivationen, Möglichkeiten und Resultate ihres Wirkens, in: Petra Heidrich, Heike Liebau (Hg.): Akteure des Wandels. Lebensläufe und Gruppenbilder an Schnittstellen von Kulturen, Berlin 2001, S. 19–44 und Country Priests, Catechists, and Schoolmasters as Cultural, Religious, and Social Middlemen in the Context of the Tranquebar Mission, in: Robert Eric Frykenberg (Hg.): Christians and Missionaries in India. Cross-Cultural Communication since 1500, with Special Reference to Caste, Conversion, and Colonialism, London u. a. 2003, S. 70–92. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 27. Vgl. Manktelow, Thinking with Gossip, S. 104–126. Vgl. als weitere Beispiele die Aufsätze in Judith Becker (Hg.): European Missions in Contact Zones. Transformation through Interaction in a (Post-)Colonial World, Göttingen 2015; Andrea Schultze: Wenn das Eigene zum Fremden wird. Deutschsprachige Missionsgesellschaften und ihr Umgang mit Dissidenten, am Beispiel des Berliner Südafrika-Missionars Johannes Winter (1873–1890), in: Dies. u. a. (Hrsg.): Vom Geheimnis des Unterschieds. Die Wahrnehmung des Fremden in Ökumene-, Missions- und Religionswissenschaft, Münster u. a. 2002, S. 155–176 oder Miller, Missionary Zeal.

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Die zum 18. oder zu früheren Jahrhunderten arbeitende Forschung blieb demgegenüber häufig eher anekdotenhaft bei den nicht missionierenden europäischen Geistlichkeiten stehen, bei den von ihnen ausgehenden Eklats und bei Einzelerwähnungen – so Asta Bredsdorff in ihrer Untersuchung zum frühen Tranquebar, Percival Spear, der vor allem die englischen Kaplane behandelte, oder Charles Boxer, bei dem hin und wieder katholische Missionare und Priester einbezogen werden.88 Gerade Missionare konnten durch Verhalten, das nicht gruppenkonform war, in dieser Zeit zu ausgegrenzten ‚weißen Subalternen‘ werden, umso mehr, weil von ihnen als Geistlichen „durch ihre gesellschaftliche Stellung die Wahrung der verhandelten Norm“ besonders erwartet wurde.89 Und auch bei ihnen sahen sich – teilweise konkurrierende – weltliche und geistliche Obrigkeiten aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedliche Weise gezwungen einzugreifen. Hier konnten die manchmal durchaus unterschiedlichen Perspektiven von Missionsleitung in Europa oder Missionaren vor Ort sehr bedeutsam sein, entwickelten die Missionare doch oftmals aus den ihnen begegnenden Schwierigkeiten und Zwängen heraus eigene, manchmal opportunistische Strategien des Umganges, die den Missionszentralen nicht immer gefielen.90 Vor allem für andere Missionsunternehmungen gibt es zu diesen Spannungen zwischen ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ inzwischen einige Untersuchungen, vornehmlich zum mittleren und späten 19. Jahrhundert, von denen insbesondere diejenige Jon Millers zur Basler Mission, einem zunächst ebenfalls von den Dänen geförderten pietistischen Unternehmen an der afrikanischen Goldküste, hervorsticht.91 Gerade sein organisationssoziologisches, aber dennoch quellennahes Vorgehen erweist sich für

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Vgl. Asta Bredsdorff: The Trials and Travels of Willem Leyel. An Account of the Danish East India Company in Tranquebar, 1639–48, Kopenhagen 2009, S. 106–119, Charles R. Boxer: The Portuguese Seaborne Empire: 1415–1825, London 1969 und Spear, Nabobs, S. 105–125. Vgl. die Quellenausgabe zum hannoverschen Militärpastor Langstedt und speziell zu dessen Fehlverhalten rund um Alkoholmissbrauch und sexuelle Eskapaden Carz Hummel (Hg.): Hannoversche Truppen in Indien, Nachrichten vom Militärpastor Langstedt, Welfenschriften 87, Wedemark 2014. Bösch, Kampf um Normen, S. 34 (ohne den speziellen Bezug auf Missionare). Vgl. in dem Sammelband die Einleitung von Bulkow und Petersen: Skandalforschung. Eine methodologische Einführung, S. 9–28, hier: S. 15 f. Auf solche Spannungen verweist Michael Mann: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Aufgeklärter Geist und evangelische Missionen in Indien, Heidelberg 2008, S. 11–23, hier: S. 18 f. Vgl. Miller, Missionary Zeal. Vgl. Miller, Missionary Zeal. Vgl. zudem zur Leipziger Mission und der Marginalisierung des Missionars Carl Ochs Andreas Nehring: Eine Art von Nicht-Ort: Marginalia aus den Missionsarchiven, in: Michael Mann (Hg.): Aufgeklärter Geist und evangelische Missionen in Indien, Heidelberg 2008, S. 209–225 sowie ebenda zum Basler Missionar Kittel Reinhardt Wendt: Visionärer Missionsstratege oder praxisferner Schreibstubengelehrter? Ferdinand Kittel und seine Studien zum südindischen Kerala, S. 119–143 oder Thorsten Altena: „… to warn Brother Kittel not to continue on his present course …“ – An Attempt to Define the Standing of a Headstrong Missionary at the Basel Mission, in: Reinhardt Wendt (Hg.): On the Initial Failure and the Posthumous Success of the Missionary Ferdinand Kittel (1832–1903), Wiesbaden 2006, S. 211–231. Vgl. Schultze, Wenn das Eigene zum Fremden wird.

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die vorliegende Arbeit als inspirierend. Miller beschäftigte sich insbesondere mit den Widersprüchen innerhalb der Organisation der Basler Mission und den Folgen von Regulierung, die eigentlich für eine gewisse Ordnung in der Missionspraxis hatte sorgen sollen, stattdessen aber oftmals zu Unklarheiten, Anomie und damit zu Normverletzungen führte. Obwohl die Basler Mission als spätere Missionsgesellschaft deutlich straffer organisiert war und die Missionare ein ‚Training‘ erfuhren, finden sich zahlreiche Parallelen zur DEHM. Deshalb werden Miller und seine Begriffsbildungen immer wieder zur Sprache kommen. Ähnliches gilt für die Forschung Hermann Wellenreuthers zu den deutschen Lutheranern im Nordamerika des 18. Jahrhunderts. Von besonderem Interesse sind darin die Vorgänge rund um den trunksüchtigen Pastor Brunnholtz sowie die mit der Halleschen Indienmission vergleichbaren interkontinentalen Kommunikationsprobleme.92 Zu verweisen ist außerdem gesondert auf Elisabeth Sommers Studie zu den von der Autorin als Generationenkonflikt interpretierten Problemen zwischen dem nordamerikanischen Gemeinort Salem und der Herrnhuter Missionsleitung im 18. Jahrhundert.93 Nicht zu Unrecht hat Gisela Mettele unlängst darauf hingewiesen, dass in einer hauptsächlich vergleichend ausgerichteten Darstellung wie derjenigen von Sommer die Gefahr bestehe, das Trennende – in diesem Fall zwischen Europa und Amerika – gegenüber dem Verbindenden überzubetonen. Indem Mettele sich stärker auf Interaktion und Kommunikation konzentriere, sei sie jedoch in der Lage, ein „komplexeres und differenzierteres Bild“ zu zeichnen. Dies versucht die vorliegende Arbeit zu berücksichtigen. Leider spielen die indischen Missionsstützpunkte der Herrnhuter, die im Vergleich zu denjenigen der DEHM von der Forschung bisher eher vernachlässigt oder im Falle Bengalens noch gar nicht ausführlich behandelt wurden, in ihrer ausdrücklich global orientierten Untersuchung Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft fast überhaupt keine Rolle.94 Abgesehen von den Studien zur Kritik an den ‚wissenschaftlichen‘ Tätigkeiten der DEHMissionare auf dem Subkontinent95 hat sich bisher keine Arbeit umfassend und systematisch in Bezug auf die Indienmission dem Thema ‚Zentrum und Peripherie‘ gewidmet.96

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Vgl. Wellenreuther, Mühlenberg und die deutschen Lutheraner, S. 327–343. Vgl. Elisabeth Sommer: Serving Two Masters. Authority, Faith and Community among the Moravian Brethren in Germany and North Carolina in the 18th Century, Lexington 2000 und Dies.: A Different Kind of Freedom? Order and Discipline among the Moravian Brethren in Germany and Salem, North Carolina 1771–1801, in: Church History 63,2 (1994), S. 221–234. Vgl. Mettele, Weltbürgertum, S. 27 (Zitat). Vgl. unter Einbeziehung der Missionsgeschichtsschreibung Andreas Nehring: Natur und Gnade. Zu Theologie und Kulturkritik in den Neuen Halleschen Berichten, in: Michael Bergunder (Hg.): Missionsberichte aus Indien im 18. Jahrhundert, 2. Aufl., Halle 2004, S. 220–245 sowie mit Rückblicken auf die DEHM Ders.: Orientalismus und Mission. Die Repräsentation der tamilischen Gesellschaft und Religion durch Leipziger Missionare 1840–1940, Wiesbaden 2003, S. 58–65. Viele Hinweise zur DHM in Tranquebar bietet jedoch Nørgaard, Mission und Obrigkeit.

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Missions- beziehungsweise kirchengeschichtliche Werke zur Indienmission97 behandelten zudem die nicht zu jeder Zeit seltenen Problemfälle „gefallener Brüder“ ( Johann Ferdinand Fenger) eher am Rande,98 jedenfalls nicht systematisch, und insbesondere die älteren und traditionellen Untersuchungen verbleiben zumeist ohne nähere Quellenangaben für die von ihnen verwendeten Archivalien.99 Zwar heißt es schon 1955 in Arno Lehmanns Standardwerk Es begann in Tranquebar, dass die Behandlung von Differenzen, Spannungen und Streitigkeiten innerhalb der Mission durchaus „zu vertiefter Erkenntnis der Missionsgeschichte führen“ könne,100 dennoch habe Lehmann nicht vor, „Einzelheiten über sehr wenige Ausnahmen unter den Missionaren auszubreiten, die der Trunksucht verfielen oder mit dem Kassenwesen nicht zurecht kamen, ja als unsittlich zu bezeichnen sind“.101 Und für die ‚profane‘ Geschichtsschreibung steht beispielsweise das eingangs angeführte, die Missionare insgesamt lobpreisende Zitat Percival Spears, der allerdings die betreffenden Missionsarchive gar nicht konsultiert hatte. Wie gewiss bereits deutlich wurde, stimmt seine positive Einschätzung missionarischen Verhaltens in der DEHM in einer solchen Grundsätzlichkeit sicherlich nicht – was die übrigen Zitate von Mis-

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Vgl. den kurzen und sehr guten Literaturbericht Keyvan Djahangiri: Die Dänisch-Englisch-HallescheOstindien-Mission, in: Südasien-Chronik – South Asia Chronicle 2 (2012), S. 305–349, hier vor allem: S. 310–313. 98 Vgl. Johann Ferdinand Fenger: Geschichte der Trankebarschen Mission nach den Quellen bearbeitet, Grimma 1845 beispielsweise zum Extremfall des Lambert Christian Früchtenicht, der die Mission geradezu erschütterte und bei Fenger lediglich in zwei Fußnoten (auf S. 253, dort allerdings ausführlich und auf S. 222) erwähnt wird. Immerhin aber wird der trunksüchtige Martin Bosse in einem längeren Abschnitt behandelt (S. 127–130). Zu zwei Fällen bei den Herrnhutern vgl. Beck, Brüder, S. 156 f. 99 Vgl. Wilhelm Germann: Johann Philipp Fabricius. Seine fünfzigjährige Wirksamkeit im Tamulenlande und das Missionsleben des achtzehnten Jahrhunderts daheim und draußen, nach handschriftlichen Quellen geschildert, Erlangen 1865. Die Probleme um das Finanzgebahren von Fabricius werden ab der Seite 233 bei Germann allerdings sehr ausführlich geschildert. Auch die Trunksucht Martin Bosses wird thematisiert. In einem anderen Werk Germanns heißt es zu den Problemen des Missionars Müller lediglich, der Fall sei „so traurig, daß wir lieber mit Stillschweigen darüber hinweggehen.“ – Wilhelm Germann: Missionar Christian Friedrich Schwartz. Sein Leben und Wirken aus Briefen des Halleschen Missionsarchivs, Erlangen 1870, S. 222. Noch am Umfangreichsten wird das Problem der Trunksucht unter den Herrnhutern bei Hermann Römer: Geschichte der Brüdermission auf den Nikobaren und des ‚Brüdergartens‘ bei Trankebar auf Grunde des handschriftlichen Materials im Unitäts-Archiv zu Herrnhut, Herrnhut 1921 aufgegriffen. Aber auch Römer bleibt ohne genaue Quellenangaben. Beck, Brüder, stützt sich weitgehend auf Römer, verbleibt allerdings bei der kurzen Nennung zweier Beispiele. Auch die in mehreren Bänden fortgesetzte „Alte und neue Brüderhistorie oder kurz gefaßte Geschichte der evangelischen Brüder-Unität in den ältern Zeiten und insonderheit in dem gegenwärtigen Jahrhundert“ (Barby 1772–1816) vom Herrnhuter David Cranz (Fortsetzungen: Johann K. Hegner) erwähnt etwa die Trunksucht des Missionars Christian Renatus Beck in Serampore mit keinem Wort. 100 Vgl. Arno Lehmann: Es begann in Tranquebar. Die Geschichte der ersten evangelischen Kirche in Indien, Berlin 1955, S. 108 (inkl. des Zitats). 101 Lehmann, Es begann in Tranquebar, S. 122. Die Finanzprobleme von Fabricius werden bei ihm dann später aber doch noch kurz behandelt (S. 273 f.).

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sionsleitung und dem Herrnhuter Grasmann ja schon andeuten. Devianz war immer wieder ein zentraler Bestandteil missionarischen Alltags. Es gilt, sich dieser Frage ausführlicher zuzuwenden. Einzelaspekte nonkonformen Verhaltens von Missionaren werden dementsprechend inzwischen mehr und mehr in der Forschung aufgegriffen – beispielsweise der des Alkoholismus.102 Die Frage der moralischen Vereinbarkeit von Ökonomie und Mission in der Geschichte des Pietismus wurde ebenfalls auf einer Konferenz diskutiert. Sie wurde ebenso in Bezug auf die Basler Mission des 19. Jahrhunderts und die Indienmission der Jesuiten im 18. Jahrhundert gestellt.103 Da viele deviante Verhaltensweisen miteinander zusammenhängen und ähnliche Ursachen haben können, ist es umso wichtiger, sie in einem gemeinsamen Kontext und in Verbindung mit der Lebenswelt und der Alltagsgeschichte zu diskutieren.104 Eine umfassende Darstellung der Rolle von Devianz in der DEHM oder bei den Herrnhutern steht jedoch noch aus. Mit ihrer Hinwendung zu diesen Komplexen folgt die vorliegende Untersuchung einer Forderung Dipesh Chakrabartys, der sich für die besondere Berücksichtigung von „ambivalences, contradictions, […] tragedies and ironies“105 in der Geschichte der Moderne ausgesprochen hat.106 Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, die betroffenen Personen zu „diskreditieren“107, wie dies noch Arno Lehmann befürchtete, sondern vielmehr darum, aus der Devianz und dem Umgang mit ihr erhellende Rückschlüsse auf eine Gesamtsituation missionarischen Alltags und missionarischer Lebenswelten zu ziehen. Durch die zentrale Einbeziehung von Devianz und der nor-

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Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 65–88 oder für Nordamerika Wellenreuther, Mühlenberg und die deutschen Lutheraner, S. 327–343. 103 Vgl. die Mainzer Konferenzankündigung „Pietismus und Ökonomie“, http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/termine/id=20084 (zuletzt eingesehen am 02.10.2012) mit Vorträgen zu Herrnhutern und DEHM im 18. Jahrhundert von Heidrun Homburg und Ulrike Gleixner. Zu den Konflikten zwischen Gewinnorientierung und religiöser Gemeinnützigkeit in der Basler Missions-Handlungs-Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vgl. Heinrich Christ: Zwischen Religion und Geschäft. Die Basler Missions-Handlungs-Gesellschaft und ihre Unternehmensethik, 1859–1917, Stuttgart 2015. Vgl. zu den Jesuiten überdies Julia Lederle: Mission und Ökonomie der Jesuiten in Indien: intermediäres Handeln am Beispiel der Malabar-Provinz im 18. Jahrhundert, Wiesbaden 2009, insbesondere S. 178–197, 211 und passim. 104 Vgl. einige Beispiele in Tobias Delfs: Tagungsbericht: Germans in 18th Century India: A Social History of Everyday Life, 12.12.2019–13.12.2019 Göttingen, in: H-Soz-Kult, 21.05.2020, . 105 Dipesh Chakrabarty: Provincialising Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000, S. 43. Vgl. auch Ders.: Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, 283–312, hier: S. 306. 106 Vgl. den Hinweis und die Anwendung bei Ashwini Tambe, Harald Fischer-Tiné: Introduction, in: Dies. (Hg.): The Limits of British Colonial Control in South Asia. Spaces of Disorder in the Indian Ocean Region, Abingdon 2009, S. 1–10, hier: S. 4. 107 Lehmann, Es begann in Tranquebar, S. 107.

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mativen und diskursiven Regulationsordnungen soll ein linearer, deterministischer und teleologischer Blick auf die europäische Asienexpansion zugunsten von globalgeschichtlicher Pluralität wie Fragilität in Zweifel gezogen werden. Deviante Akteure (insbesondere in der Mission) ermöglichen einen Einblick in die Widersprüchlichkeit der herrschaftlich auftretenden weltlichen oder klerikalen Individuen, Gruppierungen und Institutionen sowie in die soziale Topographie von ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ mitsamt der zugehörigen hierarchischen Abgrenzungen zwischen einzelnen Gruppen und Individuen.108 Die Arbeit wird sich zunächst Europa als Ausgangspunkt der Missionen zuwenden und sich hierbei insbesondere mit den im Pietismus Franckescher und Herrnhuter Prägung vorherrschenden Wertvorstellungen und Normen beschäftigen. Denn der maßgebliche Referenzrahmen für die Indienmissionare blieb trotz aller Anpassungen stets Europa und die pietistische Ausgangskultur. Dort waren sie sozialisiert, ausgebildet und – im besten Falle – auf die Reise vorbereitet worden. Sie hatten sich überdies in ihren Briefen und Tagebüchern gegenüber den europäischen Missionsleitungen und indirekt gegenüber den Lesern der Missionsberichte regelmäßig zu rechtfertigen – und das auch schon vor der eigentlichen Indienreise. Mit den der Passage nach Südasien vorgelagerten Vorgängen und Voraussetzungen beschäftigt sich dementsprechend das Hauptkapitel II. Es wird die Motivationen der Missionarskandidaten analysieren, ihre soziale Herkunft und die Reisevorbereitungen, genauso wie die Bedingungen ihrer Auswahl und Ordination und die an sie von Seiten der Missionszentralen gestellten Anforderungen und Erwartungen, in denen zudem über die Bibel hinausgehende pietistische Wertvorstellungen und Normen deutlich werden, die die Basis missionarischen Handelns bilden sollten. Wichtige Hinweise bieten diesbezüglich die klassischen Schriften Speners und Franckes selbst. Ergänzend sind die im Bewerbungsverfahren der Mission deutlich werdenden Werte und Normen heranzuziehen. Welche Rolle spielten diese bei der Kandidatenauswahl? Wie lief das Verfahren ab? Welche Eigenschaften und Werte wurden von der Zentrale, den Kandidaten und den Missionaren als besonders wichtig erachtet? Wer wurde aus welchem Grunde abgelehnt, wer angenommen? Die sich anschließende Indienreise des Kandidaten wird als normativer ‚Zwischenraum‘ begriffen – eine Sondersituation, die nicht mehr als ‚Europa‘ aber auch noch nicht als ‚Indien‘ wahrgenommen wurde. Nach welchen Maßstäben wurde ‚Fehlverhalten‘ an Bord von den Missionaren und Kandidaten beschrieben und bewertet? Wie reagierte man darauf? Dem schließt sich eine Analyse der Einflüsse in Indien auf die Missionare an (Kapitel III): Welche externen Faktoren besaßen Auswirkungen auf die Realisierung von Normen vor Ort? Wie versuchte man sich im kolonialgesellschaftlichem Raum einzuordnen? Welche Rolle spielten die Familie, die Oberschichten, andere Missio-

108 Vgl. hierzu bereits Delfs, ‚What shall become‘, S. 65–88.

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narsgruppen für die Selbstverortung, die Identität und die Stabilität der Mission? Wie bewerteten die Missionare das Verhalten der übrigen Europäer in der Kolonialgesellschaft? Eine wichtige, immer wieder geforderte Anforderung an angehende Missionare war eine gute physische Verfassung (Kapitel IV): Welche Rolle spielten Krankheit und Tod für das Verletzen von Normen? Besonders prominent wird hierbei die Trunksucht zu behandeln sein, die von großer Bedeutung unter den verschiedenen Fehlverhaltensweisen nicht nur der Missionare war. Wie wurde Trunkenheit zeitgenössisch definiert? Auch die gerade für Christen hochproblematische Selbsttötung109 von Missionaren und der Umgang damit sind anzusprechen. Die eigentliche Missionspraxis und der normativ-institutionelle Raum verschriftlichter Normen betrafen andere Problemfelder, etwa wenn es um die Rechtsprechungskompetenz und -konkurrenz der Missionare, der einheimischen oder der europäischen Obrigkeit ging (Kapitel V). Dabei konnten Missionare sowohl Kläger wie Beklagte sein und mussten sich auch um die Konflikte der Missionschristen mit anderen einheimischen Gruppen und Einzelpersonen kümmern. Welche Werte und Normen wurden hierbei deutlich? Wie ging man mit solchen Problemen konkret um? Welche Sanktionsmechanismen und -möglichkeiten gab es überhaupt? Und allgemeiner: Wie funktionierte ‚Recht‘ in der Kolonie? Ähnlich bedeutsam wie der Alkoholmissbrauch waren angesichts einer oftmals galoppierenden Inflation in den indischen Metropolen ökonomische Verfehlungen von Missionaren, die zwar verurteilt wurden, von denen die Funktionstüchtigkeit der Mission aber oft genug abhängig war. Auch diesbezüglich gilt es, die verschiedenen Sichtweisen herauszuarbeiten. Das ambivalente Verhältnis von Ökonomie und Mission im soeben beschriebenen Sinne, das schon von den handwerklich tätigen Herrnhutern gänzlich anders als von der DEHM betrachtet wurde, wurde bisher von der Forschung noch zu wenig berücksichtigt. In dieses Themenfeld gehört das Misstrauen der Ostindienkompanien gegenüber der Mission, von der man befürchtete, dass sie Unruhen in der einheimischen Bevölkerung auslösen und so den Handel stören oder selbst im Handel aktiv werden könnte. Zu thematisieren ist weiterhin die Frage nach der Missionsmethode. Welche Normen galt es für die Missionare hinsichtlich ihres Umganges mit potenziellen Konvertiten zu beachten? Wie flexibel musste man sein, etwa hinsichtlich des auch unter Missionschristen sogar in der Sitzordnung der Kirche noch beachteten Kastenwesens? Wann immer es die Quellen hergeben, wird die vorliegende Arbeit aber ebenfalls die Perspektiven der Einheimischen auf die Missionare berücksichtigen, etwa im Falle der zuweilen auftretenden Streitigkeiten zwi-

109 In der folgenden Untersuchung werden (bei allen weiterhin bestehen bleibenden Begriffsschwierigkeiten) die weit weniger wertenden Begriffe ‚Suizid‘ und ‚Selbsttötung‘ den Begriffen ‚Freitod‘ oder ‚Selbstmord‘ vorgezogen. Vgl. zu einer Diskussion dieser Problematik Alexander Kästner: Tödliche Geschichte(n). Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547–1815), Konstanz 2012, S. 5–7.

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schen Missionaren und indigenen Personen, die der Obrigkeit zur Entscheidung bzw. Einflussnahme vorgetragen wurden oder aber wenn Einheimische sich bezüglich des Fehlverhaltens eines Missionars äußerten. Das letzte Kapitel (VI) präsentiert auf der Basis der Ergebnisse dieser Arbeit den Versuch einer Typologie missionarischen Fehlverhaltens: Lässt sich in der Mission eine Rangordnung feststellen unter verhandel- und nicht verhandelbaren Normen? Dabei wird möglichst multiperspektivisch die Skala dessen, was als Fehlverhalten wahrgenommen wurde, genauso behandelt werden, wie die jeweilige Verteidigungsstrategie des Betroffenen und überhaupt die Spannbreite potenzieller Reaktionen von der Duldung bis zu den einzelnen Sanktionsstufen, etwa der fernen, zuweilen schwer erreichbaren und standortgebundenen Missionszentralen oder aber der lokalen Obrigkeiten.

II. Ausgangspunkt Europa und der pietistisch-religiöse Raum Vor der Überfahrt nach Indien stand die noch in Europa erfolgende gesellschaftliche und vor allem pietistische Sozialisation, die als mentales Gepäck mit praktischen Auswirkungen, als Habitus im Bourdieuschen Sinne, von den Missionaren aus ihrer konkreten Lebenswelt nach Übersee transportiert wurde. Sie wurde – wie zu zeigen sein wird – nicht nur in schwierigen Situationen auf dem Subkontinent als Orientierungshilfe herangezogen. Die folgenden Unterkapitel beschäftigen sich dementsprechend mit pietistischen oder anderen Geistesströmungen entstammenden Werten und Normen, mit der sozialen Herkunft der Missionarskandidaten als Basis ihres Habitus sowie den in Europa und insbesondere im missionarischen Umfeld vertretenen zeitgenössischen Indienbildern.110 Der Frage, ob und inwieweit diese Vorstellungen oder Ideale durch die globale und speziell die indische Erfahrung in ‚Mitleidenschaft‘ gezogen, zumindest aber besonders herausgefordert wurden und inwieweit Anpassungen im missionarischen Alltag stattfanden, werden dann spätere Kapitel nachzugehen haben. II.1 Pietistische Wertvorstellungen und Normen Wie beispielsweise Andreas Gestrich hervorgehoben hat, besteht die „zentrale Herausforderung pietistischer Lebensführung“ in der „Überwindung der Welt“.111 Die von Pietisten erwartete, biblisch aus der Naherwartung des Paulus und der Offenbarung des Johannes abgeleitete Wiederkehr des Heilands führte dazu, dass der klaren Gegenüberstellung von „dieser und jener Welt eine zentrale handlungsleitende, weil heilsgeschichtlich unmittelbar relevante Rolle“ zukam. Dies gilt für den Pietismus Hallescher wie für denjenigen Herrnhuter Prägung – wenngleich es innerhalb des Pietismus

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Vgl. zur sozialen Herkunft in der Habitus-Konzeption Bourdieus Rehbein, Saalmann, Habitus, S. 113. Andreas Gestrich: Pietistisches Weltverständnis und Handeln in der Welt, in: Hartmut Lehmann u. a. (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004, S. 556–583, hier: S. 559.

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durchaus große Unterschiede in der und Konflikte über die Bewertung der ‚Welt‘ und in den daraus zu ziehenden Handlungskonsequenzen gab. Beides hing weitgehend von theologischen Interpretationen ab, die in Abstufungen bis zum totalen „Rückzug aus der Welt“ in eine eigene Gemeinschaft, zum Separatismus oder sogar zum radikalen Pietismus, führen konnten,112 wie er trotz einiger Unterschiede in der zudem durch disziplinierende Chöre untergliederten Gemeinschaftsbildung der besonders auf Jesus Christus zentrierten Herrnhuter zu sehen war.113 Um der Sozialisation der Missionare näherzukommen und ihre Entwicklung in Indien wie auch die Reaktionen der Missionszentralen in Europa besser abschätzen zu können, ist es sinnvoll, sich zunächst den einflussreichsten pietistischen Gründungsvätern und deren Lehren zuzuwenden, die noch in Europa internalisiert wurden oder werden sollten. Der Grad an Bedeutung des jeweiligen Pietisten für die Missionare lässt sich etwa in häufigen und bewundernden Erwähnungen in den Missionsbriefen und -berichten oder an Versuchen, ihre Werke in die einheimischen Sprachen zu übersetzen, erkennen.114 So bemühten sich die Halleschen Missionare beispielsweise schon vergleichsweise früh, die Schriften Johann Arndts (1555–1621) in das Tamil, das Telugu und das Portugiesische zu übersetzen.115 Arndt gehörte überdies zu den meistgedruckten Autoren seiner (und der späteren) Zeit. Schon insofern dürfte er zum Lesekanon der meisten – wenn nicht aller – Missionare gehört haben, zumal er von späteren, überaus einflussreichen und hier noch zu behandelnden Pietisten wie Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke stark rezipiert wurde.116 Arndts Wahres Christentum (zuerst 1605) gilt zudem als das in Deutschland damals überhaupt „nach Bibel und Gesangbuch verbreitetste Buch“ und wurde in verschiedenste Sprachen übersetzt.117 In ihm beklagte Arndt vor allem die seiner Ansicht nach vorherrschende Diskrepanz von Wort und Tat in Kirche und Christentum: Dann ist das nicht grosser Mißbrauch/ ja eine gleißnerische Phariseische Heucheley/ daß man das Euangelium mit Worten auffs hefftigste verthediget vnnd verfichtet/ mit der That

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Vgl. inkl. der Zitate Gestrich, Weltverständnis, S. 557. Vgl. zum Verhältnis von radikalem und kirchlichem Pietismus sowie dem Separatismus zu den Herrnhutern Dietrich Meyer: Die Herrnhuter Brüdergemeine als Brücke zwischen radikalem und kirchlichen Pietismus, in: Wolfgang Breul u. a. (Hg.): Der radikale Pietismus: Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011, S. 147–158 sowie ebenda Thilo Daniel: Schwestern unter Brüdern. Drei Lebensläufe aus dem Umfeld Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs, S. 159–170. Vgl. Dal an Dezius, 14.12.1719, AFSt/M 1 C 12: 43; Ziegenbalg an Lange, 21.12.1701, AFSt/M 1 C 1: 1 (frühe Reaktion auf Leseempfehlung). Vgl. Schultze an Missionskollegium, 19.01.1737, AFSt/M 2 J 7: 2 (Tamil); Tagebuch von Benjamin Schultze, 29.12.1737–21.12.1738; 29.12.1738, AFSt/M 2 H 6: 2 (Telugu); Schultze an Francke, 01.10.1738, AFSt/M 2 J 7a: 10 (Portugiesisch). Vgl. etwa Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, in: Ders. (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Das 17. und frühe 18. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 113–205, hier: S. 150. Vgl. inkl. des Zitats Wallmann, Pietismus, S. 40.

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aber/ vnnd gotlo= ǀ sem Leben auffs schändlichste verlestert/ verachtet/ vnd vuntertrucket?118

Mit dieser für den Pietismus zentralen moralischen Kritik richtete er sich, wie er selbst betonte, nicht an ‚Heiden‘, sondern vor allem an das protestantische Bürgertum und insbesondere an die angehenden oder schon tätigen Theologen, die es „nit allein bey der Wissenschafft der heyligen Schrifft“ belassen,119 sondern sich vielmehr der praktischen Erfahrung und einem „fromme[n] Leben“ auf den Spuren von Jesus Christus widmen sollten, dem ‚Christentum der Tat‘:120 „Hastu Christum lieb/ so liebe jhn nicht mit der Zungen/ sondern mit der That vnnd Warheit“.121 Es liegt auf der Hand, dass dies gerade für Missionare zu gelten hatte. Ein gottgefälliges Leben zog Arndt dem bloßen Beherrschen theologischer Theorie vor. Demgemäß verortete er den ‚wahren‘ Christen auch in der Welt, doch: Ein Christ lebe zwar durchaus dort, sei „aber nicht von der Welt“. „Der Welt Pracht/ Ehre/ Ansehen/ Herrligkeit/ Augenlust/ Fleischeslust/ Hoffertiges leben ist den Christen ein todt Ding/ ein Schatte/ sie achten es nicht.“ Die Welt sei ihnen gleichsam wie Jesus „gecreuziget vnd gestorben/ vnd sie sind der Welt wieder gecreuziget vnd gestorben“, ja mehr noch: „Ein Christ soll der Welt gern absterben“.122 In Arndts Werken finden sich vor allem mit der reformerischen Kritik an der Kirche, der Ausrichtung des Glaubens auf das Individuum und dessen auf Buße ausgelegte tägliche Lebenspraxis bereits erste zentrale Elemente, die spätere Pietisten noch aufgreifen sollten. Mit Johannes Wallmann ist jedoch zu betonen, dass in Bezug auf Arndt eher von dem „Begründer des Pietismus als Frömmigkeitsrichtung“ denn als -bewegung gesprochen werden sollte. Eine Bewegung habe zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht bestanden.123 In Hinblick auf den Bewegungs- und Gruppencharakter des Pietismus sind zuvörderst der lutherische Pfarrer Philipp Jakob Spener (1635–1705) und insbesondere sein programmatisches Werk Pia Desideria zu nennen, das 1675 zunächst als Vorwort zu Evangelienpostille Arndts erschienen war, dann aber solch ein großes Interesse erfuhr, dass es als Einzeldruck aufgelegt wurde.124 Mit Recht bezeichnet Martin Brecht Spener als die „wichtigste Bezugsperson“ für „Anhänger wie Gegner des Pietismus in Deutschland“ und als „zentrale Gestalt des lutherischen Pietismus im letzten Drittel

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Johann Anselm Steiger (Hg.): Johann Arndt: Von wahrem Christenthumb. Die Urausgabe des ersten Buches (1605), Hildesheim u. a. 2005, S. 3 f. 119 Steiger (Hg.), Christenthumb, S. 10. Vgl. Brecht, Aufkommen, S. 137. 120 Vgl. inkl. des Zitats Wallmann, Pietismus, S. 39. 121 Steiger (Hg.), Christenthumb, S. 135. 122 Steiger (Hg.), Christenthumb, S. 138. 123 Vgl. Wallmann, Pietismus, S. 33 (Zitat) und 34. 124 Vgl. Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, in: Ders. (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Das 17. und frühe 18. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 281– 391, hier: S. 302.

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des 17. Jahrhunderts“.125 Deshalb und wegen seiner Freundschaft zu August Hermann Francke126 und dessen Kontakten zu Nikolaus Ludwig von Zinzendorf dürften Speners Einflüsse auf die Missionare nicht zu unterschätzen gewesen sein.127 Schon vor der Veröffentlichung von Pia Desideria hatte Spener in Frankfurt am Main ein collegium pietatis eingerichtet, in dem sich regelmäßig Laien trafen, unter anderem um zu beten, zu singen, über die zuvor besuchte Predigt zu sprechen und zusammen mit Spener die Bibel und andere fromme Werke zu lesen und gemeinsam auszulegen. Dies geschah außerhalb der regulären Gottesdienstzeiten und führte nicht zuletzt deshalb zu Unmut innerhalb der kirchlichen Orthodoxie, die Separatismus befürchtete und deren Mitglieder ihr Monopol als studierte Theologen bedroht sahen. Auch wenn Spener bereits zuvor in einer Predigt die Idee zu einem solchen Alternativprogramm zu den sonntäglich üblichen weltlichen, dem Vergnügen zugewandten Gesellschaften, bei denen oft Alkohol floss oder Glücksspiel betrieben wurde, geäußert hatte, war es wohl eine kleine Gruppe aus Laien, die den Wunsch nach einem geistlichen Gesprächs- und Erbauungskreis, abgesondert von der Welt, an ihn herangetragen hatte. Trotzdem war es Spener, der maßgeblich zur Verbreitung und Institutionalisierung dieser typischen Gemeinschaftsform als Konventikel innerhalb des Pietismus beitrug – nicht zuletzt indem er sie in seinem Kirchenreformprogramm Pia Desideria erläuternd einforderte.128 Die häufig auf Arndt bezugnehmende Schrift selbst widmet sich zunächst den ‚verderbten‘ Zuständen der Zeit, wie Spener sie in den drei Kirchenständen, das heißt der weltlichen Obrigkeit, der Geistlichkeit aber auch der Gemeinde selbst, erblickte.129 Am Schlechtesten sei es nun um die ersten beiden Stände bestellt: Ersterer vernachlässige seine Aufgaben als „pfleger und säugammen der kirchen“, lebe zumeist in „allen welt wollüsten“, beachte zu sehr seine eigenen Interessen und verübe zuweilen

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Brecht, Spener, S. 278. Vgl. Helmut Obst: A. H. Francke und die Franckeschen Stiftungen in Halle, Göttingen 2002, S. 11, 13, 15, 16 f. und Wallmann, Pietismus, S. 101, 107. Speners Katechismuserklärung sollte immerhin 1712 ins Tamil übersetzt werden. Weitere Übersetzungen sind im Gegensatz zu Arndt nicht belegbar. Möglicherweise war etwa Speners Schrift „Pia Desideria“ zu kirchenkritisch für ‚heidnische‘ Ohren. Vgl. zur Übersetzung Ordo nexusque salutaris instituti, ad propagandam inter Paganos Orientales vivam Christi cognitionem, inprimis inter Daumulos, vulgo Malabaros dictos, Tranquebariae incepti, 20.06.1712, AFSt/M 1 C 4: 6. Der erste Missionar Bartholomäus Ziegenbalg war Spener überdies – allerdings aus Zeiten vor der Mission, da dieselbe erst nach dem Tode Speners begann – persönlich bekannt. Vgl. nur die zahlreichen Erwähnungen Speners in den Briefen Ziegenbalgs, Arno Lehmann (Hg.): Alte Briefe aus Indien. Unveröffentlichte Briefe von Bartholomäus Ziegenbalg 1706–1719, Berlin 1957, zum Beispiel S. 8–10 und passim. Vgl. Philipp Jakob Spener: Pia Desideria, in: Kurt Aland (Hg.): Die Werke Philipp Jakob Speners. Studienausgabe, Bd. 1: Die Grundschriften Teil 1, Gießen 1996, S. 196–200. Zu Spener und den Konventikeln vgl. Brecht, Spener, S. 295–299. Vgl. auch Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 1986, S. 264–267. Vgl. zum Folgenden bereits Brecht, Spener, S. 304 f.

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Machtmissbrauch bis hin zur „Cäsaropapie“.130 Nicht unähnlich beschreibt Spener die für eine kirchliche Reform bedeutsamste Gruppe, den geistlichen Stand und dessen Außenwirkung: die Geistlichkeit sei ebenfalls „gantz verderbet“ und von allerlei „offentlich ärgernussen nicht frey“; Eigennutz und Karrierestreben seien nur allzu oft vorherrschend. Doch reiche es einfach nicht aus, sich allein die bloßen theoretischen Grundlagen der Theologie anzueignen, sie aber nicht mit Überzeugung zu leben und vorzuleben. Auch verstricke sich die Geistlichkeit allzu oft in nicht immer sinnvolle theologische Streitereien.131 Beim „dritten Stand“, dem der Laien, seien „der regeln Christi keine in offenem schwang“. Es fänden sich ebenfalls viele Ärgernisse, jedoch täten diese „so viel schaden nicht“ und seien somit zu vernachlässigen. „Aber viel schwerer ist das jenige / welches herkommt von sünden / die man nicht mehr vor sünden erkennt / oder je dero schwehre nicht achtet.“132 In diesem Zusammenhang nennt Spener explizit und ausführlich die Trunkenheit und deren Verharmlosung in der Gesellschaft. Beides komme genauso in den beiden ersten Ständen vor.133 Weiterhin kritisiert Spener das Führen von Rechtsprozessen aus „rachgier“, welches – obwohl ja durchaus rechtens – zur Nächstenliebe genauso in Widerspruch stünde wie das Streben nach Reichtum. Beides sei zwar nicht verboten, entspreche aber auch nicht einem christlichen Leben vor allem angesichts erforderlicher Nächstenliebe etwa den Armen gegenüber.134 All dies seien entscheidende Hindernisse nicht zuletzt in der Bekehrung von Juden und Katholiken – andere Zielgruppen einer Mission, gar in Indien, nennt Spener nicht. Doch trotz der Beschreibung eines desolaten Zustandes der Kirche und der Welt seiner Gegenwart gibt es für Spener eine Hoffnung, die er aus der Bibel – genauer: aus Röm 11, 25 f. und der Ankündigung der Bekehrung der Juden beziehungsweise aus Apk 18 und 19 und dem dort prophezeiten „grössern falle deß Päbstischen Roms“135 – ableitet. Beides liegt einerseits in der Hand Gottes, kann andererseits jedoch durch ‚richtiges‘ Verhalten nach Vorbild der Urkirche durchaus befördert werden.136 Es schließen sich Speners Reformvorschläge für die Kirche an:137 Hierzu gehört die erwähnte Bildung von Konventikeln und die Wiederbekanntmachung der Bibel auch in nicht des Lesens mächtigen Bevölkerungskreisen, weiter die „auffrichtung und fleissige übung deß Geistlichen Priesterthums“,138 womit das allgemeine Priestertum aller

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Vgl. inkl. der Zitate Spener, Pia Desideria, S. 110–112. Vgl. inkl. der Zitate Spener, Pia Desideria, S. 112–136. Spener, Pia Desideria, S. 138. Vgl. Spener, Pia Desideria, S. 139–142. Vgl. Spener, Pia Desideria, S. 142–146. Spener, Pia Desideria, S. 174. Vgl. Brecht, Spener, S. 306. Vgl. zum Folgenden auch die Zusammenfassungen von Wallmann, Pietismus, S. 83 f. und Brecht, Spener, S. 307–310 sowie Spener selbst: Pia Desideria, S. 190–250. Spener, Pia Desideria, S. 202.

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Gläubigen gemeint ist. Wie schon Arndt betont Spener zudem den Vorrang der christlichen Lebenspraxis vor dem bloßen theologischen Wissen und wendet sich gegen die im Luthertum vorhandenen Streitigkeiten. Zugleich müsse das Studium der Theologie einschneidend reformiert werden – weg vom bis dato eher ‚unchristlichen‘ Studentenleben, hin zu einem persönlichen „habitus practicus“139 der Theologie, die demnach weniger Lehre, sondern mehr Lebenshaltung im Sinne des ‚wahren Christentums‘ sein müsse. Dies solle von den sich als Vorbilder zur Verfügung stellenden Professoren gefördert werden, etwa über die Einrichtung spezieller collegia pietatis auch an der Universität. Und schließlich sollten die Predigten der Pfarrer – einmal mehr explizit nach dem Vorbild Johann Arndts – sich in Hinblick auf Verständlichkeit und Rhetorik stärker nach dem jeweiligen Publikum richten und weniger der Selbstdarstellung des Pfarrers und seiner Gelehrtheit dienen. Zusammen mit dem Pietismus Hallescher Prägung um Francke wirkte der Spenersche Pietismus als großer Einflussfaktor auf den späteren Herrnhuter Zinzendorf.140 Philipp Jakob Spener, inzwischen Propst und Konsistorialrat in Berlin, war befreundet mit August Hermann Francke und verschaffte ihm überaus wichtige politische, vor allem höfische Kontakte insbesondere in Brandenburg-Preußen. Außerdem setzte er sich für seinen Schüler und Freund unter anderem bei der Besetzung einer Professur der griechischen und der orientalischen Sprachen an der gerade neugegründeten Universität in Halle an der Saale ein.141 Später wurde Francke ebenda Professor der Theologie. Francke selbst war stark beeinflusst von den Ideen Speners und versuchte diese in seiner Doppelfunktion als Pfarrer und Professor sogleich in Glaucha, einer Stadt sehr nahe bei Halle, und in Halle selbst umzusetzen.142 Beide Städte waren arm, die Pest hatte die Bevölkerung bereits stark dezimiert und viele Kinder zu Waisen gemacht. Insbesondere Glaucha war zudem von der Schnapsbrennerei geprägt, was seinerseits offenbar Auswirkungen auf die weitere Struktur der Stadt hatte, waren doch immerhin 37 der 200 dort vorhandenen Häuser Tavernen. Und das Kirchenleben soll ebenso ganz den Kritikpunkten Arndts und vor allem Speners entsprochen haben: nicht nur von Seiten des ‚dritten Standes‘ kam es zu zuweilen alkoholbedingten Verfehlungen, manchmal gar während des Gottesdienstes, sondern auch die lutherisch-orthodoxe

139 Spener, Pia Desideria, S. 226. 140 Vgl. Dietrich Meyer: Zinzendorf und Herrnhut, in: Martin Brecht und Klaus Deppermann (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 2–106, hier: S. 5. 141 Vgl. Helmut Obst: A. H. Francke und die Franckeschen Stiftungen in Halle, Göttingen 2002, S. 11, 13, 15, 16 f. und Wallmann, Pietismus, S. 101, 107. 142 Dies hatte er zuvor bereits andernorts versucht, was ihm jedoch Konflikte in Leipzig sowie eine Ausweisung in Dresden eintrug. Vgl. Brecht, Spener, S. 335–338 sowie Martin Brecht: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus, in: Ders. (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Das 17. und frühe 18. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 440–540, hier: S. 451 f. In Halle geriet Francke ebenfalls in Streit mit der lutherischen Orthodoxie.

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Geistlichkeit selbst soll betroffen gewesen sein von Fehlverhaltensweisen. Darüber hinaus kümmerte sie sich, zumindest von pietistischer Warte aus gesehen, nicht hinreichend um die Gemeindemitglieder insgesamt, die vielen Armen im Speziellen und vor allem die Kinder.143 Sie versagte also weitgehend in Bezug auf die insbesondere bei Spener so stark betonte christliche Nächstenliebe und überhaupt hinsichtlich der Ausübung eines ‚wahren Christentums‘. In Beschreibung und Beurteilung der gesellschaftlichen Missstände, wie sie beispielsweise in Franckes programmatischem „Großen Aufsatz“ von 1704 deutlich wurden,144 war er sich weitgehend einig mit Arndt und Spener. Auch setzte er ebenfalls vor allem auf Reformen im Erziehungswesen der Schulen und Universitäten. Hinzu kam aber eine besondere Fürsorge für die Armen. Denn Ersteres bedinge in gewisser Weise Letzteres, indem etwa die pietistisch ausgebildeten Theologen der Halleschen Universität der aus Franckes Sicht oftmals durch Armut ‚verwilderten‘ Bevölkerung, dem ‚Hausstand‘, religiöse und moralische Werte vermittelten.145 Stärker und vehementer noch als seine Vorläufer baute er dementsprechend auf die konkrete Umsetzung der Reformen in die Praxis. Dabei entstanden eine Armenschule, das Waisenhaus und später noch viele weitere Unternehmungen – all dies interpretiert als ‚Werk Gottes‘ in Erwartung seines Reiches.146 Die ersteren waren vor allem durch Spendensammlungen möglich geworden. Hierbei erwies sich der umtriebige Francke nicht zuletzt durch den Druck und die Verbreitung von einschlägigen Schriften – in heutigem Wirtschaftsjargon gesprochen – gleichsam als ein Marketinggenie, wie er überhaupt in seinen Argumentationen oft auf den ‚Nutzen‘ bestimmter Maßnahmen rekurrierte.147 Dies geschah wohl auch, um weitere Spender zu mobilisieren. In seiner Schrift Kurzer und einfältiger Unterricht, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und christlichen Klugheit anzuführen sind aus dem Jahre 1702 legte er die Grundsätze seiner Pädagogik dar, die sich insbesondere der „Frömmigkeit“ und der „Tüchtigkeit“ verpflichtet sah,148 und als „zentrale[r] Bestandteil des Franckeschen Reformprogramms“149 zumindest Teile von Franckes theologischen und moralischen Wertekosmos abbildete. Konkret war der Unterricht im Sinne Speners dann auch sehr auf die Bibel ausgerichtet, ergänzt – unter erneutem Hinweis auf den Nutzen – durch

143 Vgl. Obst, Francke, S. 17 f. sowie Brecht, Francke, S. 456. 144 Vgl. Otto Podczeck (Hg.): August Hermann Franckes Schrift über eine Reform des Erziehungsund Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts: der Grosse Aufsatz. Mit einer quellenkundlichen Einführung, Berlin 1962. 145 Vgl. Brecht, Francke, S. 480 f. 146 Vgl. Udo Sträter: Soziales, in: Hartmut Lehmann u. a. (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004, S. 617–645, hier: S. 635. 147 Vgl. Brecht, Francke, S. 479 (Nutzen) und 483 (Werbung). 148 Vgl. Wallmann, Pietismus, S. 118 f., 118 (Zitat). 149 Sträter, Soziales, S. 619.

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Realienunterricht. Johannes Wallmanns Interpretation und Zusammenfassung weiter folgend, sollten den Kindern schon möglichst früh die Tugenden von „Wahrheitsliebe, Gehorsam und Fleiß“ vermittelt werden.150 Hinzuzufügen wären mit Udo Sträter noch „der Ruf nach […] rationaler Lebensführung, Produktivität, Ordnung“.151 Im Laufe der Zeit und aufgrund großer Nachfrage sowie vieler Spenden entstand nun geradezu ein Schulsystem, das auch den ‚unteren‘ Schichten das Studium ermöglichte. Mit dem Pädagogium regium existierte zudem eine dem Adel (dem ‚Regierstand‘) und dem ‚gehobenen‘ Bürgertum vorbehaltene Schule. An ihr wurde neben vielen preußischen Offizieren und Beamten etwa der spätere Herrnhuter Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf ausgebildet – einmal mehr eine Querverbindung zwischen den pietistischen Vordenkern.152 Obschon gerade diese Adelsschule und überhaupt die Zusammenarbeit mit den calvinistischen Hohenzollern wie auch mit den dänischen Königen in Fragen der Mission eine besondere Nähe zu absolutistischen Herrschern nahelegen, so lässt sich dies trotz vieler gemeinsamer Werte im Falle des Halleschen Pietismus nicht grundsätzlich auf den Pietismus übertragen, der „in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Optionen wählte“. Dies belegt das Beispiel des eher bürgerlich orientierten Württembergischen Pietismus mit seiner „anti-absolutistische[n] Position“ deutlich.153 Ähnliches wie im Schulwesen zeigte sich in der Universität in Halle: Oberstes Ziel Franckes war die Hinführung der Studenten zu Speners praxis pietatis über das Studium der Bibel, den entsprechenden Austausch der ‚weltlichen‘ Philosophie durch die ‚nützlichere‘ biblische Philologie, die Vermeidung überflüssiger theologischer Streitigkeiten und Polemik, die frühe praktische Einbindung der Studenten in Franckes Schulen und Anstalten und insgesamt eine „Konzentration auf Frömmigkeit und Berufstüchtigkeit“.154 Mehr als die Hälfte der zeitgenössischen und späteren Halleschen Missionare hatten in Halle studiert oder als Lehrer an den dortigen Schulen gewirkt und dürften demgemäß durch Universität und Franckesche Stiftungen gleichermaßen beeinflusst gewesen sein.155 Damit würde sich eine Aussage Martin Brechts bestätigen: „Der Erfolg des Hallischen Pietismus resultierte zum großen Teil daraus, daß er [= Francke, TD] an der neuen Universität eine ganze Generation von Theologen zu gewinnen und zu prägen vermochte.“156 Von diesen Theologen reisten einige als Missionare nach Indien, um – wie bereits von Francke gefordert – nicht allein die europäischen Christen erneut sozial und religiös gewissermaßen zu pietistischen Christen 150 151 152 153 154 155 156

Vgl. inkl. des Zitats Wallmann, Pietismus, S. 118–122, 119 (Zitat). Sträter, Soziales, S. 638. Vgl. Wallmann, Pietismus, S. 119 f. Sträter, Soziales, S. 636. Zu den gemeinsamen Werten vgl. ebda, S. 638. Vgl. inkl. des Zitats Wallmann, Pietismus, S. 123 f., 124 (Zitat). Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 67–69. Die in Halle ausgebildeten Missionare listet Liebau in Fußnote 133 auf S. 68 auf. Brecht, Francke, S. 470.

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zu rekonvertieren, sondern sich im Gegenzug auch um die ‚Heiden‘ weltweit zu kümmern.157 Verschiedene Werte und Moralvorstellungen, die dem Pietismus allgemein innewohnten, wurden bereits angesprochen. Sie leiteten sich vornehmlich unmittelbar aus der Bibel ab, müssen jedoch durch das sogenannte ‚Adiaphora-Problem‘, von Martin Scharfe als die „wundersame Aufblähung von scheinbar Unbedeutendem“158 bezeichnet, ergänzt werden. Das Mittelding (Adiaphoron) beschreibt einen allein anhand der Heiligen Schrift nicht eindeutig zu regelnden Sachverhalt. Hiervon waren insbesondere sinnliche, lustvolle und „basale Bedürfnisse“159 betroffen, die von Pietisten „erst einmal zu einem moralischen Problem erklärt und – dem Sündenfall gleich – aus der Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit des Lebensvollzugs herausgelöst“160 wurden. Scharfe nennt beispielsweise das Reisen, das weder zwecks Unterhaltung noch zwecks Erholung oder der Neugier auf das Fremde durchgeführt werden durfte. Auch im Falle der Sexualität sei es den Pietisten zumeist darum gegangen, sinnliche Bedürfnisse zurückzudrängen. Das Tanzen wurde beispielsweise abgelehnt. Weitere Einschränkungen galten für das Essen und Trinken – die „Mahlzeit“ habe gleichsam „als Gottesdienst“ zu dienen, während der es etwa zu schweigen, jedenfalls nicht zu genießen galt. So mancher Pietist entsagte etwa der Nachspeise oder sprach sich dafür aus, sich immer zuerst für die schlechtere Essenswahl zu entscheiden.161 In diesem asketischen Sinne wurde gerade jeglicher Alkoholkonsum im Laufe der Zeit immer stärker bekämpft, wobei der in der Bibel erwähnte Wein in allen theologischen Diskussionen umstritten blieb.162 Nicht alles wurde jedoch zu jeder Zeit problematisiert. So konnte Ole Fischer zumindest für den Halleschen Pietismus nachweisen, dass der generelle Konsum von Fleisch dort kein großes Thema war – weder in Europa noch in Indien –, obwohl er von anderen Theologen durchaus negativ diskutiert wurde.163 Was konnten die Missionare beziehungsweise die Missionarskandidaten eigentlich über Indien wissen, bevor sie dorthin reisten? Welche konkreten Erwartungen hat-

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Vgl. Gita Dharampal-Frick: Indien im Spiegel deutscher Quellen der Frühen Neuzeit (1500–1750). Studien zu einer interkulturellen Konstellation, Tübingen 1994, S. 96–98. 158 Scharfe, Religion des Volkes, S. 77. 159 Scharfe, Religion des Volkes, S. 78. 160 Scharfe, Religion des Volkes, S. 80. 161 Vgl. Scharfe, Religion des Volkes, S. 79 f., 80 (Zitat). Vgl. zu Franckes Positionen zum Tanz August Nitschke: Gymnastik, Fechten und Tanz im 18. Jahrhundert. Die Ausbildung des Körpers auf den Schulen von August Hermann Francke, in: Josef N. Neumann, Udo Sträter (Hg.): Das Kind in Pietismus und Aufklärung, Tübingen 2000, S. 333–348, hier: S. 334 f. 162 Vgl. zusammenfassend Delfs, ‚What shall become‘, S. 68. Vgl. insbesondere Kurt Dietrich Schmidt: Die Alkoholfrage in Orthodoxie, Pietismus und Rationalismus, Berlin 1927, S. 10. 163 Vgl. Ole Fischer: „Die Allerwenigsten essen was Leben hat“. Fleischkonsum im Hallischen Pietismus, in: Sven Petersen u. a. (Hg.): Umwelten. Ereignisse, Räume und Erfahrungen der Frühen Neuzeit (Festschrift für Manfred Jakubowski-Tiessen), Göttingen 2015, S. 183–201, vgl. zu den Missionaren S. 194–196.

Pietistische Wertvorstellungen und Normen

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ten sie? Diese Fragen lassen sich für ihre ‚vorindische‘ Zeit in Europa aufgrund der Quellenlage leider nur schwer beantworten. Antworten müssen in Teilen weitgehend Vermutung bleiben oder schlicht Plausibilitäten folgen. Hinweise auf das jeweilig nach Asien mitgebrachte Indienbild oder über die Vorstellungen über die dortigen Europäer und deren Verhaltensweisen lassen sich zuweilen in den missionarischen Quellen der Zeit aus Indien erschließen, wenn sich beispielsweise ein Missionar in seinem Bericht überrascht zeigte oder sich bemühte, ein europäisches Indienbild zu korrigieren. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob er damit sein eigenes oder nicht eher ein seiner Meinung nach in Europa vorherrschendes Bild, das er ja nicht zwangsläufig teilen musste, zu verbessern suchte. Zu Vorsicht in der Quelleninterpretation mahnt überdies, dass zumindest die veröffentlichten Missionsberichte potenzielle Kandidaten für die Mission nicht gar zu sehr abschrecken sollten, was ebenfalls zu Relativierungen in der Darstellung geführt haben könnte. Auch hängt eine Antwort entscheidend vom Zeitpunkt der jeweiligen Reise ab. Im Falle der ersten Halleschen Missionare Plütschau und Ziegenbalg hatte man sich – wie schon Heike Liebau dargestellt hat – zum Beispiel erst kurz vor der Abreise für die Destination Indien entschieden. Die beiden Missionare selbst hatten eigentlich mit dem Missionsfeld Afrika gerechnet und waren dementsprechend kaum auf Asien vorbereitet. Spätere angehende Missionare konnten dann über das aus dem Schulunterricht des Waisenhauses hinausgehende Wissen, auf die Erfahrungen, Forschungen und die nach Halle gesandten Sammlungen ihrer Vorgänger, die sie etwa deren Berichten, den Erzählungen der wenigen Heimkehrer oder der Wunder- und Kuriositätenkammer entnahmen, zurückgreifen.164 Insgesamt nahm im Laufe des 18. Jahrhunderts das europäische Schrifttum über Indien, nicht zuletzt begünstigt durch die britische Expansion, stark zu.165 Schon insofern darf angenommen werden, dass spätere Missionare auch durch die direkte oder beispielsweise über die SPCK indirekt vermittelte Rezeption dieser Literatur weitaus besser vorbereitet waren und andere Indienbilder und -stereotype vertraten als ihre früheren Vorläufer. Auch änderten sich die Diskurse zumindest teilweise. So kamen etwa Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt vornehmlich negative Berichte evangelikaler Missionare auf. Weiterhin sind die englischen Nabob-Diskurse zu nennen, die ein negatives Bild über die Indienheimkehrer verbreiteten. Sie seien durch den indischen Kontakt moralisch verdorben, zu neureichen Moguln geworden. Es existierten daneben aber auch die deutschen romantischen Indienbilder eines Herder oder eines Goethe.166 Es sind im deutschsprachigen Raum insbesondere die Missi-

164 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 69 f. 165 Vgl. Heike Liebau, Andreas Nehring und Brigitte Klosterberg: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert, Halle 2010, S. VII–XV, hier: S. Xf. 166 Vgl. zusammenfassend Jürgen Lütt: Das moderne Indien 1498–2004, München 2012, S. 159 f.

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onsberichte, die beispielsweise in den Bewerbungsschreiben an die Mission erwähnt werden und in größeren Kreisen der Bevölkerung rezipiert wurden. Die frühen Missionare waren vor allem durch die Berichte des Jesuitenordens und die vergleichsweise selteneren älteren europäischen Reiseberichte geprägt, die sich auch in der Missionsbibliothek in Tranquebar wiederfanden, dort also bestellt oder mitgebracht worden waren, und etwa von dem bereits in Indien weilenden Ziegenbalg stark kritisiert und korrigiert wurden. Insbesondere störten den Missionar die mangelnden Sprachkenntnisse von Autoren wie Baldaeus, die zu vielen gravierenden Fehlern geführt hätten.167 Ausdrückliche Erwähnung findet 1710 in Halle selbst weiterhin François Bernier (1625–1688), dessen Indienreisebericht168 in einem Brief des mit Francke befreundeten Anton Wilhelm Böhme zu dem gegenüber Carl Hildebrand von Canstein (1667–1719) geäußerten grundsätzlichen Vorschlag führte, wohl auch für angehende Missionare in Halle eine spezielle Bibliothek mit geographisch ausgerichteten Werken und Reiseliteratur entstehen zu lassen. Unter Bezugnahme auf Berniers Tätigkeit als Arzt am Hofe des Moguls und vermeintliche katholische Missionserfolge in China empfahl schon derselbe Brief, zukünftige Missionare doch ebenfalls in Medizin und Mathematik auszubilden.169 Canstein war noch im gleichen Jahr wie der Brief von 1710 zusammen mit Francke Begründer der Cansteinschen Bibelanstalt in Halle. Im Katalog der Spezialbibliothek, der Halleschen Bibliothek der Ostindischen Missionsanstalt findet sich dann auch Berniers Werk von 1671, das offenbar Canstein der Bibliothek überlassen hatte. Canstein war es auch, der Francke beim seit 1702 erfolgenden Aufbau eines Collegium Orientale Theologicum unterstützte. Das neugegründete Institut, das zumindest nicht explizit für eine Missionsunternehmung gedacht war, sollte aber immerhin Studenten unter anderem in orientalischen Sprachen und biblischer Philologie ausbilden. Erster Direktor war der Orientalist Johann Heinrich Michaelis (1668–1738).170 Viele Missionare hatten also zumindest die Möglichkeit, sich vorbereitend mit einschlägiger Literatur zu beschäftigen – und wenn nicht sie, so doch wenigstens ihre Oberen, die sie dann indirekt beeinflussten und etwa über die Briefkommunikation mit und über Indien Informationen besaßen. Der Schwerpunkt in der Ausbildung der Missionare lag jedoch im theologischen Bereich.171 167 Vgl. Dharampal-Frick, Indien im Spiegel, S. 101 f. Vgl. zur Nutzung der Missionsberichte der Jesuiten in Tranquebar wie Halle Hans-Werner Gensichen: Indienmission im Weltaspekt: Globale Perspektiven in den Halleschen Berichten, in: Michael Bergunder (Hg.): Missionsberichte aus Indien im 18. Jahrhundert: ihre Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte und ihr wissenschaftlicher Quellenwert für die Indienkunde, Halle 2004, S. 30–44, hier: S. 30. 168 Es ist dies: François Bernier: Histoire De la derniere Revolution Des Estats Du Grand Mogol, La Haye 1671. 169 Vgl. Böhme an von Canstein, 29.08.1710, AFSt/H C 229: 58. 170 Vgl. Dharampal-Frick, Indien im Spiegel, S. 98. 171 Vgl. zu Nordamerika, aber auch Indien Wolfgang Flügel: Pastoren aus Halle und ihre Gemeinden in Pennsylvania 1742–1820. Deutsche Lutheraner zwischen Persistenz und Assimilation, Berlin, Boston 2019, S. 77–80.

Die pietistischen Indienmissionen

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II.2 Die pietistischen Indienmissionen Die DEHM missionierte seit 1706 zunächst in Südostindien rund um den dänischen an der Koromandelküste gelegenen Haupthandelsstützpunkt Tranquebar. Im Laufe der Zeit weitete sie ihre Missionsgebiete über Tanjore und Madras aus und gelangte bis in das britisch geprägte Zentrum Kalkutta. Auch in Serampore beabsichtigte man Fuß zu fassen. Die Mission war zunächst noch als lutherische Dänisch-Hallesche Mission (DHM) nach Tranquebar gekommen. Mit dem Eintritt der anglikanischen Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK) 1710 und spätestens ab 1728, als ‚englische‘ Stationen begründet wurden, kann sie jedoch als DEHM bezeichnet werden.172 Sie begann als explizit ‚königliche Mission‘, überspitzt gesprochen als „Privatunternehmen“173 des dänischen Königs Friedrich IV. (1671–1730), der auf Vermittlung seines Hofpredigers Franz Julius Lütkens (1650–1712) zwecks Kandidatenfindung auf dessen Berliner Kontakte zurückgriff und so mit den von August Hermann Francke (1663–1727) in Halle an der Saale pietistisch ausgebildeten Theologiestudenten Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719) und Heinrich Plütschau (1677–1752) zwei für geeignet befundene Kandidaten engagieren konnte. Gegen den Widerstand der lutherischen Orthodoxie in Dänemark setzte der König schließlich die Ordination der beiden Missionare durch und entsandte sie, entgegen den ursprünglichen Plänen einer Entsendung nach Afrika, 1705/06 nach Tranquebar.174 Gerade zu Beginn, aber auch im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts ist das Verhältnis der königlichen Mission zur lutherischen Kirche, vor allem jedoch zur weltlichen Kompanieobrigkeit in Tranquebar immer wieder als gestört zu bezeichnen. Bereits 1708 wurde Ziegenbalg etwa aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten für einige Zeit gefangen gesetzt. Auch die Förderung eines Herrnhuter Missionsunternehmens in Tranquebar durch die Kompanie lässt sich in diesen Zusammenhang einordnen, denn auf diese Weise vermochte die zu diesem Zeitpunkt in der Kolonie herrschende Handelsgesellschaft das schon in Deutschland aufgrund theologischer Differenzen gespannte Verhältnis zwischen Herrnhutern und Hallensern, die sich nun ebenfalls auf dem Subkontinent als Konkurrenten wahrnehmen konnten und sich miteinander beschäftigen mussten, im Sinne des Grundsatzes divide et impera für die eigenen In-

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Die ‚englischen‘ Missionare wurden genauso wie die ‚dänischen‘ zumeist in Halle theologisch ausgebildet und ausgewählt, die ‚dänischen‘ auch von der SPCK gefördert. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 2, Fn. 6 sowie S. 60. Wie Liebau wird auch diese Untersuchung die Mission vor Eintritt der SPCK als Dänisch-Hallesche Mission (DHM) oder Tranquebarmission bezeichnen, anschließend jedoch als DEHM. Anders Nørgaard: Mission und Obrigkeit. Die Dänisch-hallische Mission in Tranquebar 1706– 1845, Gütersloh 1988, S. 55. Vgl. zum Beispiel Dharampal-Frick, Indien im Spiegel, S. 95–99.

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teressen nutzbar machen.175 Die dänische, wie im Übrigen auch andere europäische Handelsgesellschaften, hegte insgeheim die Befürchtung, die Missionare würden durch ihre Aktivitäten unter der einheimischen Bevölkerung für Unruhe sorgen und somit die landläufig verbreiteten Handelsgewohnheiten stören. Hierzu gehörte etwa der Sklavenhandel, der auch auf Betreiben der Missionare 1744 auf dänischem Territorium verboten wurde.176 Andere Vorbehalte betrafen den Verdacht, die Missionare könnten sich ebenfalls merkantil betätigen und somit eine direkte Handelskonkurrenz darstellen. Darüber hinaus sorgte der vom König und seinem 1714 in Kopenhagen gegründeten Missionskollegium vergebene Sonderstatus an die ‚königliche‘ Mission, der unter anderem mit einer eigenen Rechtsprechung verbunden war, mehrfach für Verwirrungen und Gerangel um Zuständigkeiten oder Befugnisse zwischen der Mission und den bis 1777 das dänische Hoheitsgebiet beherrschenden verschiedenen dänischen Handelskompanien. Doch auch nachdem die Kolonien direkt in staatliche und damit königliche Herrschaft übergegangen waren, blieb die Rechtslage unklar und sorgte weiterhin für Konfliktstoff.177 Die eigentlich in der Oberlausitz angesiedelte Herrnhuter Brüdergemeine, deren Quellen hier lediglich in Ergänzung zur DEHM herangezogen werden sollen, war im Unterschied zur DEHM seit dem 18. Jahrhundert nahezu weltweit missionierend tätig. Ihre Ursprünge finden sich in der böhmisch-mährischen Reformation und bei den Hussiten. Später war sie dem Pietismus zugeneigt, ging aber in ihrer spezifischen Gemeinschafts- und Frömmigkeitsform noch darüber hinaus. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) hatte schon 1722 böhmischen Exulanten auf seinem Gut Berthelsdorf Zuflucht geboten. Damit sorgte er für eine Wiederbelebung der Brüdergemeine nach dem Dreißigjährigen Krieg und zugleich für den Aufbau des Gemeinortes Herrnhut, den er der Gemeine zur Verfügung gestellt hatte. In der Folgezeit erhielten die Herrnhuter über ihre Verbindungen zum Königshof in Kopenhagen von den dem Pietismus wohlgesonnenen dänischen Königen verschiedentlich Aufträge zur Mission in Teilen des dänischen Gesamtstaates – so auf den karibischen Jungferninseln oder auf Grönland in den 1730er Jahren.178

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Vgl. zu dieser These Krieger, „Brüdergarten“, S. 219–221, 228. Zu den Problemen von Halle und Herrnhut in Deutschland vgl. Meyer, Zinzendorf und Herrnhut, S. 30–32 sowie Ruhland, „Ein paar Jahr muß Tranquebar und Coromandel wol Serieus das Object seyn“. Vgl. Martin Krieger: Der dänische Sklavenhandel auf dem Indischen Ozean im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 12 (2012), S. 9–30. Es ging jedoch allein um ein Verbot des Sklavenhandels nicht des -besitzes. Hierüber informiert umfassend Nørgaard, Mission und Obrigkeit. Vgl. zusammenfassend und weiter differenzierend Krieger, „Brüdergarten“, S. 211 f. und passim. Zu Herkunft und Entstehung der Brüdergemeine vgl. Meyer, Zinzendorf und Herrnhut, S. 2–106. Zur weltweiten Herrnhuter Mission vgl. zusammenfassend Hartmut Beck: Brüder in vielen Völkern. 250 Jahre Mission der Brüdergemeine, Erlangen 1981.

Die pietistischen Indienmissionen

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Noch während einer von den 1740ern bis in die 1770er Jahre reichenden Periode der Illegalität, die auf vermehrte volksschwärmerische, bei dem dänischen König Christian VI. Besorgnis auslösende Veranstaltungen einer jungen Laienbewegung insbesondere in Kopenhagen zurückzuführen war, begannen die Herrnhuter eine Mission in Südasien auf den im Golf von Bengalen gelegenen Nikobarischen Inseln. Dass solches überhaupt möglich werden konnte, verdankte die Brüdergemeine wohl maßgeblich der Asiatisk Kompagni, der dänischen Ostindiengesellschaft nach Vorbild der niederländischen Vereenigden Oostindischen Compagnie (VOC). Die vornehmlich von merkantilen und freilich weniger (oder gar nicht) von missionarischen Interessen gesteuerten dänischen Kaufleute erhofften sich eine leichtere Erschließung der unwirtlichen Inselgruppe durch handwerklich geschickte Missionare, da die Kompanie schon mehrfach an den dortigen extremen Umweltbedingungen gescheitert war.179 Zu den Nikobaren (1768–1786) und dem eigentlich nur als Zwischenstation dorthin gedachten Tranquebar (1760–1803), das lange Zeit als dänische Hauptfaktorei in Asien diente, kamen im Laufe der Zeit weitere südasiatische Missionsgebiete der Brüdergemeine hinzu. Neben einem Stützpunkt auf Ceylon (1765–1769, ein bereits 1739 von den Niederlanden aus gestarteter Versuch war gescheitert180) und dem bengalischen Serampore (1776–1791) gehörten das im heutigen Bihar gelegene Patna (1784–1787) und die britische Kolonialmetropole Kalkutta (1782–1784) dazu.181 Der einleitend zitierte Brief ist Ausdruck großer Probleme verschiedenster Art, mit denen sich der Herrnhuter Missionar Grasmann in seinem Alltag in Serampore und Kalkutta konfrontiert sah und die weitgehend den Problemen der DEHM entsprachen: ohnehin nur in kleiner Zahl anwesende Missionarskollegen verstarben, verließen die Brüdergemeine oder wandten sich dem Alkohol zu. Hinzu kamen wirtschaftliche Hindernisse und allerlei andere Schwierigkeiten. Hierdurch mussten die sehnlichst erwarteten Missionserfolge weitgehend ausbleiben.182 Das gesamte im Jahre 1759 begonnene Herrnhuter Ostindienengagement wurde schließlich 1803 mit der

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Vgl. umfassend und mit weiterer Literatur zur ‚Nikobarenmission‘, deren Vorgeschichte und Scheitern Krieger, „Brüdergarten“, S. 216–219; zur Geschichte der dänischen Ostindienkompanien und ihren Motiven insgesamt: Ders: Kaufleute, Seeräuber und Diplomaten. Der dänische Handel auf dem indischen Ozean (1620–1868), Köln u. a. 1998. Vgl. darin auch S. 183–193 zur dänischen Interessenlage an den Nikobaren und verschiedenen Besiedelungsversuchen. Vgl. Ruhland, Pietistische Konkurrenz, S. 44–69 sowie Simon Rastén: Encountering the Nicobar Islands: Danish Strategies of Colonisation, 1755–1848, in: Esther Fihl, V. R. Venkatachalapathy (Hg.): Beyond Tranquebar. Grappling Across Cultural Borders in South India, Delhi 2014, S. 579–606. Zu den Beziehungen der Brüdergemeine nach Dänemark vgl. Anders Pontoppidan Thyssen: Die Brüdergemeine als Bindeglied zwischen Deutsch und Dänisch, in: Klaus Bohnen und Sven Aage Jørgensen (Hg.): Der dänische Gesamtstaat. Kopenhagen – Kiel – Altona, Tübingen 1992, S. 119–131. 180 Vgl. Krieger, „Brüdergarten“, S. 233 f. 181 Vgl. Beck, Brüder, S. 155–158; Krieger, „Brüdergarten“. 182 Vgl. Beck, Brüder, S. 155 f.

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Abreise des letzten Missionars beendet.183 Trotz aller Widrigkeiten und der teilweise raschen Schließung einzelner Stützpunkte hatte es aber insgesamt mehr als 40 Jahre Bestand gehabt. Im Unterschied zur Herrnhuter Indienmission sollte es der DEHM gelingen, ihre zahlreichen Missionsstützpunkte auf dem Subkontinent deutlicher und nachhaltiger auszubauen und zudem größere nennenswerte Gemeinden zu begründen. Dennoch waren die Probleme der DEHM denen der Herrnhuter nicht unähnlich, hier wie dort: Überalterung, zuweilen moralisches Fehlverhalten und zunehmende Nachwuchsprobleme, die um sich greifende Teuerung rund um die Zentren Kalkutta und Madras, Kommunikationsschwierigkeiten mit dem fernen Europa, ein zurückgehendes Spendenaufkommen und zumindest im Falle der DEHM Kompetenzstreitigkeiten mit und innerhalb der dänischen Kolonialverwaltung vor Ort sowie mit den seit 1793 neu entstandenen Missionen verbundene Herausforderungen. Demgemäß wird der Zeitraum zwischen etwa 1780 und 1845 in der Forschungsliteratur gemeinhin als Niedergangsphase der DEHM beschrieben.184 II.3 Herkunft, Auswahl und Ablehnung von Missionarskandidaten: Normenentwicklung und -anwendung Beginnend in den 1770er Jahren häuften sich die Forderungen der Missionare der DEHM nach neuen Kandidaten aus Europa. Es zeichnete sich die generelle Überalterung der Mission ab. Einige Missionare, wie Dame und Wiedebrock, waren bereits verstorben, andere fühlten sich zunehmend schwach oder kränklich und wünschten sich zusätzliche Hilfe bei ihrer Arbeit. Wieder andere waren schon sehr alt oder dermaßen erkrankt, dass sie befürchteten, „unvermuthet von [ihren] Posten abgerufen“ zu werden. Vor allem aufgrund des langen Weges zwischen Europa und Indien würde die Mission in einem solchen Falle schwer geschädigt.185 Offenbar war es ausgerechnet in der Niedergangsphase der Mission, in der die meisten Kandidaten vonnöten waren, am Schwierigsten, geeignete und taugliche Kandidaten zu finden. Es sind jedoch gerade die Bemühungen um den Nachwuchs, aus denen sich sehr gut die dahinterliegenden Werte, Normen, Erwartungen und Probleme der Missionare, der Bewerber und der Zentralen extrahieren lassen – zumal parallel zur Kandidatensuche intensive allgemeinere Diskussionen über die Anforderungen und Auswahlkriterien stattfanden. Der Direktor des Waisenhauses in Halle Freylinghausen benannte bereits 1778 die Schwierigkeiten bei der Nachwuchssuche und führte als Begründung vor allem zwei Aspekte an: 183 Vgl. Beck, Brüder, S. 158. 184 Vgl. Nørgaard, Mission und Obrigkeit, S. 189–243; Liebau, Mitarbeiter, S. 83 f. 185 Vgl. inkl. des Zitates HB 107. Cont., Vorrede, S. 293 f.

Herkunft, Auswahl und Ablehnung von Missionarskandidaten

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Es hat zwar auch in vorigen Zeiten oft sehr schwer gehalten, Missionarien zu finden. Allein zu verwundern ist es nicht, daß es ietzt noch schwerer ist, da von so vielen Gelehrten der Jugend solche Grundsätze beygebracht werden, die dem wahren Evangelio ganz zuwider sind.

Umso notwendiger sei deshalb „Vorsichtigkeit in der Prüfung der Candidaten“, „daß man nicht betrogen werde“. Deshalb habe Freylinghausen sich bei der Kandidatensuche nicht „übereilet“. Sorgfalt in der Auswahl war ihm wichtiger als Geschwindigkeit – trotz der drängenden Probleme in Indien. Den vorher begonnenen Gedanken noch deutlicher weiterführend heißt es dann: „Denn wenn ein solcher zum Missionario erwehlet würde, der heimlich den Gedanken bey sich hegte, daß die blose philosophische Moral zur Erlangung der Seligkeit hinreichend sey, so würde er den Heiden nichts anders predigen, als was sie selber wissen und behaupten.“186 Dieser erste Aspekt betraf also die Aufklärung und hierbei insbesondere die Abkehr von einer religiösen Moral hin zu einer philosophischen, die sich bemühte, vermeintliche Wahrheiten mit Vernunft und ohne Vorurteile zu betrachten und kritisch und in aller Öffentlichkeit zu diskutieren.187 Ein zweiter von Freylinghausen angeführter Gesichtspunkt betraf die Konkurrenz durch die Herrnhuter Brüdergemeine, die mit „einem angenommenen feineren Schein überall unter gutgesinnten Personen mehr Eingang zu finden scheinet“. Deren „Absichten die Mission in ihre Hände zu bekommen“ seien „deutlich genug“.188 Es scheint sich bei diesem Brief Freylinghausens eher um einen politisch-ideologischen, von Halleschen Interessen getriebenen Appell in Richtung des Kopenhagener Missionskollegiums, denn um eine konkrete Problembeschreibung aus der Praxis gehandelt zu haben.189 Das Verhältnis zu den Herrnhutern in Tranquebar war zum Zeitpunkt dieses Schreibens, also 1778, jedenfalls verglichen mit den 1760er und frühen 70er Jahren relativ entspannt – wenngleich sie sicherlich mit dem Ende ihrer ‚illegalen Phase‘ im Gesamtstaat und der königlichen Erlaubnis von 1771, sich in den dänischen Niederlassungen anzusiedeln, ihre Position auch in Tranquebar gefestigt hatten.190 Schaut man sich die im Folgenden geschilderten Bewerbungsverfahren von Missionarskandidaten einmal näher an, so berichten die Quellen weder bei gescheiterten noch bei gelungenen Bewerbungen von der Brüdergemeine oder der Aufklärung besonders nahestehenden Kandidaten. Bewerbungskriterien und Ablehnungsgründe 186

Freylinghausen an Missionskollegium, 24.02.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 187 Vgl. hierzu Sven Aage Jørgensen, Klaus Bohnen, Per Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik, 1740–1789, München 1990, S. 327 f. 188 Freylinghausen an Missionskollegium, 24.02.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 189 Hierfür sprechen die Belege bei Ruhland, Pietistische Konkurrenz, S. 250–254. 190 Vgl. zu Tranquebar Nørgaard, Mission, S. 182. Vgl. zu den europäischen Entwicklungen Thyssen, Die Brüdergemeine als Bindeglied, S. 121–123.

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waren gänzlich anders gelagert und besaßen eher einen praktischen denn einen ideologischen Hintergrund. Als durchaus realistisch erscheint aber der Gedanke, dass sich beispielsweise aufgrund der Aufklärung weniger Kandidaten in Europa überhaupt bereit zeigten, in den Missionsdienst einzutreten. Eine solche Klage findet sich schon 1767 bei Gotthilf August Francke, dem die nachlassende Zahl an Theologiestudenten, Informatoren und Missionaren Sorgen bereitete.191 In Freylinghausens Argumentation von 1778 klingt es jedoch eher danach, als habe die Gefahr bestanden, dass Kandidaten systematisch versuchen würden, sich wie trojanische Pferde in die Mission zu schmuggeln, um dann statt des Halleschen Pietismus aufklärerische oder Herrnhuter Gedanken zu verbreiten. Dies spiegelte möglicherweise bereits zu diesem frühen Zeitpunkt Probleme, die der Direktor in Halle mit von der Aufklärung beeinflussten Missionaren wie dem seit 1771 in Indien tätigen Christoph Samuel John befürchtete.192 Die prekäre Lage der DEHM in Indien noch erschwerend kam das langwierige Verfahren der Kandidatenanwerbung hinzu, das zudem von Fehlschlägen begleitet war. Einige Kandidaten erwiesen sich vor allem seit den 1770er Jahren im Laufe der Prüfung aus unterschiedlichen Gründen als ungeeignet oder änderten kurzfristig ihre Meinung, andere wie Schöllkopf, Müller oder Rulfsen verstarben bereits kurz nach ihrer Ankunft in Indien, wieder andere wie Früchtenicht, Fabricius, Hüttemann behinderten die Missionsarbeit über ihr Verhalten. Das Auswahlverfahren selbst erlaubte es aber schlicht nicht, kurzfristig einen Missionar zu ersetzen. Formal nämlich waren das Missionskollegium in Kopenhagen und die SPCK in London dafür zuständig, potenzielle Kandidaten auszuwählen und zu ernennen. Die beiden Zentralen hatten jedoch den Direktoren des Waisenhauses in Halle ein Vorschlagsrecht eingeräumt, einerseits weil diese an einer guten Quelle saßen und leichten Zugang zu hervorragend ausgebildeten (zunächst vornehmlich Theologie-)Studenten hatten, andererseits weil offenbar ein Mangel an geeigneten dänischen oder englischen Kandidaten herrschte.193 So suchten die Direktoren also nach geeigneten Personen in Halle selbst und schickten diese dann mit einer Empfehlung nach Kopenhagen oder London zur weiteren Prüfung und endgültigen Entscheidung. Dementsprechend konnte Heike Liebau – wie erwähnt – feststellen, dass über die Hälfte der Missionare der DEHM schon vor ihrer eigentlichen Annahme als Missionar Verbindungen nach Halle aufwiesen – sei es, dass sie dort studiert hatten und/oder dort als Lehrer arbeiteten oder gearbeitet hatten.194 Da mehrere geographisch vergleichsweise weit auseinander liegende Institutionen in der DEHM beteiligt waren, war das Verfahren komplexer und langwieriger als bei den Herrnhutern, bei denen Gemeinemitglieder sich freiwillig meldeten, die dann al-

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Vgl. Francke an Silchmüller, 27.03.1767, AFSt/H C 708: 100. Vgl. zu Johns aufklärerischen Einflüssen Nørgaard, Mission, S. 195–202. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 71 f. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 68 f. Eine genauer aufgeschlüsselte Auflistung findet sich ebenda, S. 68 in den Fußnoten 133–144.

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lein in Herrnhut auf ihre innere Überzeugung von der Aufgabe und auf die Innigkeit ihrer Verbindung zu Jesus geprüft wurden. Den letzten Ausschlag gab das Los, das die menschliche Entscheidung aus Herrnhuter Sicht göttlich absicherte oder – anders formuliert – den unmittelbaren Auftrag zur Mission durch Jesus ausdrückte.195 Es gab in der DEHM noch andere Wege zur Mission, nämlich die Empfehlung von außerhalb Halles und die Initiativbewerbung. So versprach etwa Direktor Freylinghausen, sich nicht allein in und um Halle nach einem Kandidaten umzuschauen, sondern darüber hinaus „mit einigen Freunden in dem Holsteinischen zu correspondiern und zu versuchen, ob durch dieselben ein dänischer Unterthan ausfindig zu machen“ sei.196 Es wurden also die umfangreichen persönlichen Verbindungen der Direktoren genutzt. Der Wunsch des Missionskollegiums nach einem dänischen Untertan entsprach dem während der Aufklärung vor allem in Kopenhagen wirkenden „dänisch-deutsche[n] Spannungsverhältnis“,197 das auf ein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insbesondere unter Beamten und Bürgern entstehendes dänisches (Proto-)Nationalbewusstsein zurückging. Freylinghausen schrieb seinen Brief just nach den bis dato stärksten von einem ‚Nationalgefühl‘ getragenen Eingriffen in den dänischen Gesamtstaat: Dänisch war zur Hauptsprache in Politik, Administration und dem Heer erklärt geworden, die absolutistische Staatsideologie hatte den Gesamtstaat (seine deutschsprachigen Teile eingeschlossen) zum ‚Vaterland‘ gemacht und das ‚nationale‘ Selbstverständnis desselben zu ‚Vaterland und König‘ erweitert. Schließlich war 1776 das Indigenatsrecht eingeführt worden, nach dem nur noch im Gesamtstaat geborene Untertanen Ämter bekleiden durften.198 Dies galt zwar nicht für Missionare – jedenfalls wurden auch in der Mission anschließend nicht allein im Gesamtstaat Geborene berücksichtigt –, der Wunsch des Missionskollegiums bezeugt jedoch die Wirkmächtigkeit der genannten Entwicklungen bis in die Mission hinein.199 Kurz nach seinem ersten Brief war Freylinghausen eingefallen, dass sich noch unter seinem Vorgänger Knapp ein Kandidat namens Hans Hinrich Vent aus Flensburg in

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Vgl. Carola Wessel: „Es ist also des Heilands sein Predigtstuhl so weit und groß wie die Welt.“ Zinzendorfs Überlegungen zur Mission, in: Martin Brecht, Paul Peucker (Hg.): Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung, Göttingen 2006, S. 163–173, hier: S. 166. 196 Freylinghausen an Missionskollegium, 24.02.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 197 Ole Feldbæk: Dänisch und Deutsch im dänischen Gesamtstaat im Zeitalter der Aufklärung, in: Klaus Bohnen, Sven-Aage Jørgensen (Hg.): Der dänische Gesamtstaat. Kopenhagen – Kiel – Altona, Tübingen 1992, S. 7–23, hier: S. 8. 198 Vgl. Feldbæk, Dänisch und Deutsch, S. 18 f. Für eine weitere Ausdifferenzierung, die vor einer Überschätzung ‚nationaler‘ Gegensätze warnt und andere Konfliktlinien betont, vgl. Michael Bregnsbo: Einheitsstaat statt Konglomeratsstaat. Dänische und deutsche Identitätsmuster im Dänemark des 18. Jahrhunderts, in: Josef Wiesehöfer, Stephan Conermann (Hg.): Carsten Niebuhr (1733–1815) und seine Zeit. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.–10. Oktober 1999 in Eutin, Stuttgart 2002, S. 47–62. 199 Hierzu auch Nørgaard, Mission, S. 222.

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Halle gemeldet hatte, um sich für die Mission zu bewerben. Der Kontakt sei anschließend abgebrochen. Freylinghausen habe Vent aber über den Generalsuperintendenten von Schleswig-Holstein Adam Struensee (1708–1791) in Rendsburg wiedergefunden und empfehle ihn nun aufgrund von Struensees „gute[r] Opinion“ weiter an das Missionskollegium.200 Im Falle Vents spielten interessanterweise persönliche Beziehungen eine doppelte Rolle: nicht allein, dass Freylinghausen ihn zufällig über den schon seinem Vater gut bekannten, lange in Halle tätig gewesenen Struensee aufgetrieben und Letzterer den potenziellen Kandidaten empfohlen hatte; auch Vent selbst war nach seinem Erweckungserlebnis über Kontakte auf die Idee gekommen, sich für die Mission zu bewerben oder wurde zumindest durch solcherlei Verbindungen bestärkt, denn er hatte in Flensburg Maria Dorothea Ziegenbalg, aus Indien zurückgekehrte Witwe des ersten Halleschen Indienmissionars Bartholomäus Ziegenbalg, kennengelernt und sich in seiner ursprünglichen Bewerbung ausdrücklich auf sie berufen.201 Das neuerliche Angebot des Missionskollegiums musste Vent nun aber aus zwei Gründen ablehnen: Wie bei nahezu allen anderen Bewerbungen und Vorschlägen ebenso sollten die Eltern des Kandidaten erst ihre Zustimmung geben. Trotz allen Zuredens war diese Voraussetzung im Falle Vents nicht gegeben. Sein Stiefvater teilte ihm mit, es würde bei Vents Mutter „Schlag und Tod verursachen, wenn der Ruf sollte angenommen werden“. Unklar bleibt, ob diese Annahme auf einem bestimmten negativen Indienbild der Mutter beruhte oder ob es eher die große Entfernung war, die ihr zu schaffen machte. Weiter wurde angeführt, Vent hätte sich während seines Theologiestudiums in Kiel vermeintlich durch das viele Sitzen eine Erkrankung zugezogen, die von den Ärzten entweder als Hypochondrie oder als Lebererkrankung gedeutet wurde.202 Nicht nur aus seiner Sicht war er damit nicht mehr geeignet für die Mission. Vent blieb jedoch später, nachdem er schon Pastor im holsteinischen Hademarschen geworden war, der DEHM sehr verbunden, spendete 1790, also noch knapp 12 Jahre nach dem Ruf, und bat um die Zusendung der Missionsberichte, von Medikamenten und Bibeln.203 Die Absage Vents hatte Struensee an das Missionskollegium weitergeleitet. Ihm sei kein weiterer Kandidat aus den Herzogtümern bekannt.204 Als weitaus bedeutsamer für die Rekrutierung von Missionarskandidaten als Struensee erwies sich der umtriebige pietistische Theologieprofessor Sigismund Friedrich Lorenz (1727–1783) aus Straßburg im Elsass, der überdies als fleißiger Spendensammler für die Mission in Erscheinung trat und auch die Missionsberichte aus Amerika, 200 Vgl. inkl. des Zitates Freylinghausen an Missionskollegium, 24.03.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 201 Vgl. Vent an Knapp, 11.06.1770, AFSt/M 1 K 12: 24. 202 Vgl. inkl. des Zitates Vent an Struensee, nicht datiert, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 203 Vgl. Vent an Schulze, 02.02.1790, AFSt/M 1 C 31a: 43. 204 Vgl. Struensee an Missionskollegium, 23.04.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780.

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Indien und Grönland in Halle bestellte und intensiv verfolgte.205 Von Lorenz stammen die Empfehlungen für die aus dem Kreis seiner Schüler stammenden späteren Missionare Diemer,206 Mentel207 und Rottler sowie den zunächst für die Mission vorgesehenen, dann jedoch absagenden Kandidaten Leutschafft.208 Lorenz beteiligte sich überaus engagiert an den Diskussionen über die Anforderungen an die Kandidaten. So empfahl der Theologieprofessor 1775 für seine jüngsten Vorschläge Leutschafft und Rottler, die angehenden Missionare sollten vor Amtsantritt zur Vorbereitung doch einige Zeit, „wenigstens ein halbes Jahr“, in Halle verbringen. Dort sollten sie beispielsweise das „Catechisiren“ und den „freyen Vortrag“ üben, bis sie ihre „Tüchtigkeit“ erwiesen hätten. Schließlich sei man so bei dem Missionar Diemer verfahren. Lorenz hätte nun nicht erwartet, dass seine Kandidaten so geschwind ausgesandt würden, obwohl er hierfür, angesichts der Umstände der Mission, durchaus Verständnis habe. Er sah also die geschilderten Schwierigkeiten der Mission, plädierte jedoch schon 1775 darauf, nichts zu übereilen, sondern mehr Sorgfalt und Geduld in der Vorbereitung der Kandidaten walten zu lassen.209 Zu diesem Zeitpunkt war Direktor Freylinghausen in Halle offenbar noch anderer Meinung als Lorenz, denn in seinem Kommentar zum Brief des Straßburger Professors relativierte er dessen Position dahingehend, dass es in Indien ja genug ältere Missionare gebe, die die jüngeren noch weiter ausbilden könnten. Deshalb würde eine Vorbereitung in Halle lediglich einen „Verlust von Zeit“ bedeuten. Dem Missionskollegium suggerierte er, dass es doch sicherlich seiner Meinung sei.210 1778, also nur drei Jahre später, vertrat aber auch Freylinghausen gegenüber dem Missionskollegium schon den Standpunkt, man solle bei der Kandidatenauswahl nichts übereilen, eine Position, die die Nachfolger ebenfalls teilten.211 In dieser Zeit war durch einige neue Missionare wie Gerlach, Pohle und Rottler zumindest zu einem gewissen Maße eine Entlastung der jedoch nach wie vor unter Nachwuchsmangel leidenden DEHM eingetreten. Eine andere Form des Vorschlags war derjenige einer gewissen Frau von Bredow, eine langjährige Förderin der Mission, die von den Nachwuchsschwierigkeiten gehört hatte, und deshalb einen verarmten Leipziger Studenten ausgewählt und in seiner weiteren Ausbildung in Halle gefördert hatte, damit er ein Missionar der DEHM wür-

205 206 207 208 209 210 211

Vgl. nur als ein Beispiel unter vielen Lorenz an Francke, 10.04.1764, AFSt/M 3 H 64: 68. Vgl. Lorenz an Knapp, 27.10.1770, AFSt/M 1 K 12: 39. Vgl. Lorenz an Freylinghausen, 25.03.1780, AFSt/M 1 H 5: 52. Vgl. Lorenz an Freylinghausen, 03.04.1775, AFSt/M 1 H 8: 55. Vgl. inkl. der Zitate Lorenz an Freylinghausen, 07.06.1775, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. Vgl. inkl. des Zitates Lorenz an Freylinghausen, 07.06.1775, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780 und dort den angehängten Brief Freylinghausen an Missionskollegium vom 10.07.1775. Vgl. Freylinghausen an Missionskollegium, 24.02.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780.

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de. Da Freylinghausen Zweifel hatte, dass der Stipendiat Johann Gottlieb Schmeißer (1751–1806) schon die für einen Missionar nötigen fachlichen Fähigkeiten besitze, und Schmeißer nicht bereit war, „aufs ungewisse […] zu warten“, wurde der Kandidat schließlich nicht Indienmissionar sondern mit der Unterstützung Freylinghausens und von Bredows Pfarrer in Nova Scotia.212 Sein Beispiel belegt, dass nicht nur die Geistlichkeit, sondern auch der Adel Anteil an der Mission nahm, zu den Empfehlenden gehörte und sogar spezielle Indien-Stipendien vergab. Hinzu kommt, dass Schmeißer – anders als viele der anderen (potenziellen) Kandidaten – nicht aus einem Pastorenhaushalt kam. Sein Vater, ein Schneider, hatte die Familie schon früh verlassen. Seine Mutter war verstorben, als er neun Jahre alt war, so dass der Sohn als Kind in Armut zu leben hatte und auch sein Studium nur mit Mühe und der Förderung von Bredows bewältigen konnte.213 Ein Beispiel für eine schon sehr früh abgelehnte Initiativbewerbung bietet Johann Friedrich Christian Reimann (1769-?), Lehrer und Sohn eines Pastors aus der Nähe von Hildesheim, der sich 1791 in Halle meldete, um sich entweder als Missionar oder – lieber noch – als Missionslehrer zu bewerben. Es steht zu vermuten, dass er sich einer entscheidenden Schwäche seiner Bewerbung bewusst war, denn er hatte nur kurz, nämlich für eineinhalb Jahre, in Halle Theologie studiert. Wahrscheinlich verwies er vor allem deshalb darauf, dass der Schuldienst, seine letzte Tätigkeit, am Ehesten seinen Fähigkeiten entspreche.214 Unter anderem genau aus diesen Gründen wurde seine Bewerbung schließlich abgelehnt: er sei aufgrund seines nur sehr kurzen Studiums, in dem er offenbar nur selten anwesend war, fachlich nicht geeignet. Eine abgeschlossene theologische Ausbildung war also erwünscht. Überdies fehle es ihm an einem pädagogischen Studium, weshalb er für eine Lehrerstelle nicht in Frage kam. Noch dazu habe Reimann einen Sprachfehler, der es ihm unmöglich machte, einen fließenden Vortrag zu halten, geschweige denn, indigene Sprachen lernen zu können.215 Insgesamt gesehen wurde er demnach allein aus fachlichen Gründen abgelehnt. Interessant ist seine Bewerbung vor allem deshalb, weil er – wenn zum Teil sicherlich auch aus rhetorischen Gründen – aktiv bestimmte Negativkriterien anführte, die etwa auf über die Missionsberichte transportierte Bilder in der Bevölkerung und bei

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Vgl. Lebenslauf von Johann Gottlob Schmeißer bis zu seiner Berufung nach Lunenburg, 08.12.1781, AFSt/M 5 C 6: 26. Vgl. inkl. des Zitates Freylinghausen an Missionskollegium, 29.08.1780, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 213 Vgl. Lebenslauf von Johann Gottlob Schmeißer bis zu seiner Berufung nach Lunenburg, 08.12.1781, AFSt/M 5 C 6: 26. 214 Vgl. Reimann an Schulze (?), 13.03.1791, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792. 215 So die Begründung bei Schulze an Missionskollegium, 13.04.1791, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792.

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anderen Bewerbern verweisen:216 So ging es Reimann nach eigener Aussage bei seiner Bewerbung für die Mission nicht im Geringsten darum, „die Welt zu besehen“, „ausländische Thiere kennen zu lernen“, also nicht um die verpönten ‚Mitteldinge‘ Abenteuerlust, Neugierde, Romantik und Exotismus, oder gar um die besonders gebrandmarkte „Ruhmbegierde“, deren explizite Nennung auf einen gewissen ‚Heldenstatus‘ der Missionare hindeutet. Ihm gehe es stattdessen – ganz im Sinne des Pietismus und der Mission – allein um die Liebe zu Jesus. Weitere Motive nannte der Bewerber nicht.217 Ein wenig Ausbildung, einige Praxiserfahrung in Europa als Lehrer und die religiöse Überzeugung allein reichten offenbar trotz aller Nachwuchsschwierigkeiten nicht aus, um Missionar in der DEHM werden zu können. Angesichts seiner bisherigen Tätigkeiten und seiner sonstigen Probleme dürfte es Reimann jedoch in heimatlichen Gefilden ebenfalls schwer gefallen sein, eine Anstellung zu finden. Möglicherweise war dies dann auch ein Motiv, sich für die nachwuchssuchende Mission zu bewerben.218 Ein ausführlich überliefertes und deshalb besonders gut geeignetes Beispiel für die Auswahlkriterien, die beteiligten Personen und überhaupt den Ablauf einer Initiativbewerbung ist das des später tatsächlich als Missionar angenommenen Lambert Christian Früchtenicht:219 Er wurde 1772 als Sohn des Pastors Valentin Früchtenicht (1733–1802) in Hohenwestedt, einem kleinen holsteinischen Ort, geboren. Einem lutherischen Theologiestudium, das ihn von 1791 bis 1796 an die Universitäten von Kiel (1791, Abschluss 1796) und Jena (1794) geführt hatte,220 folgte 1797 eine kurze Anstellung als Hauslehrer221 – ein für die Bewerber für die Mission und die Missionare der DEHM selbst durchaus nicht untypischer Werdegang. Die meisten von ihnen waren studierte Theologen, viele hatten zunächst Lehrerstellen in den Franckeschen Stiftungen oder in privaten Haushalten inne und nicht wenige stammten schon aus Pastoren-

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Über den Missionar Fabricius (DEHM) heißt es beispielsweise, er sei über die Missionsberichte motiviert worden. Vgl. Viktor Hantzsch: Art. Fabrizius, Johann Philipp, in: ADB 48 (1904), S. 478–483, hier: S. 479. 217 Vgl. inkl. der Zitate Reimann an Schulze (?), 13.03.1791, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792. Zu ähnlich gearteten Motiven von Missionarskandidaten des 19. Jahrhunderts vgl. zusammenfassend Miller, Missionary Zeal, S. 49 f. 218 Vgl. zu solchen Motiven in der Basler Mission Miller, Missionary Zeal, S. 51. 219 Vgl. zu ihm und seinem Werdegang auch Delfs, ‚What shall become‘. 220 Vgl. Zeitschrift der Zentralstelle für Niedersächsische Familiengeschichte (Z. N. F.) 120 (1931), S. 106 sowie Franz Gundlach (Hrsg.): Das Album der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 1665–1865, Kiel 1915, S. 150. Seine Brüder Georg Friedrich (S. 158) und Johann Friedrich (S. 150) haben auch in Kiel studiert, der eine Jura (1795), der andere Theologie (1791). Insgesamt hatte Lambert Christian fünf Geschwister. Vgl. zum Vater, der ebenfalls in Jena studiert hatte, überdies Otto Frederik Arends: Gejstligheden i Slesvig og Holsten fra Reformationen til 1864. Personalhistoriske Undersøgelser, I: A-K, Kopenhagen 1932, S. 256 und Felicitas Glade: Hohenwestedt. Geschichte, Menschen, Ereignisse, Hohenwestedt 1994, S. 75 und 81. 221 Vgl. das Empfehlungsschreiben für Früchtenicht von J. C. Lauhup vom 19.09.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799.

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haushalten. All dieses traf (mit der Einschränkung eines nicht abgeschlossenen Studiums) beispielsweise schon auf den abgelehnten Bewerber Reimann zu. Nach seiner Tätigkeit als Lehrer hatte Früchtenicht sich in Halle in den Franckeschen Stiftungen um die Stelle eines Indienmissionars beworben. Schon in Kiel war er mit Jan Gilbert in Kontakt gekommen, ein gebürtiger Inder oder ‚Indo-Portugiese‘, der in Jaffnapatnam (nördliches Ceylon) geboren, anschließend am königlichen Pädagogium in Halle drei Jahre lang ausgebildet worden war und nun zusammen mit seinem Bruder beabsichtigte nach Asien zurückzukehren.222 Leider geben die überlieferten Quellen keine Auskunft über die Umstände des Kennenlernens von Früchtenicht und Gilbert und ebenfalls nicht über die Gründe für die gemeinsame Reise. Sicher ist einzig, dass Letzterer nicht an der Kieler Universität eingeschrieben war223 und dass er Früchtenicht von Kiel aus mit nach Kopenhagen begleitet hatte. Wahrscheinlich lag Kiel schlicht auf dem Weg Gilberts. Die Umstände deuten darauf hin, dass er es war, der den späteren Kandidaten auf die Idee gebracht hatte, als Missionar nach Indien zu gehen. Warum sollte Früchtenicht sonst die Kosten für eine Kopenhagenreise auf sich genommen haben? In Kopenhagen trafen die beiden dann auf den ehemaligen Indienmissionar der DEHM Ernst Philipp Heinrich Stegmann (1773–1828). Wie schon im Falle des Bewerbers Vent Maria Dorothea Ziegenbalg nahm also auch in diesem Falle mindestens eine Person aus dem unmittelbaren Umfeld der Mission Einfluss auf die Bewerbung: Einem überaus positiven Empfehlungsschreiben Stegmanns für Früchtenicht an den Direktor der Franckeschen Stiftungen folgend habe Stegmann den beiden ausführlich von der Indienmission erzählt, woraufhin ihm Früchtenicht sein Interesse zu erkennen gegeben habe: „er nicht abgeneigt sey, selbst Missionar zu werden.“ Der Ex-Missionar habe sich höchst erfreut gezeigt, zugleich aber den jungen Interessenten ermahnt, er solle sich gut überlegen, „was und warum er dies thue.“ Die Antwort Früchtenichts, die Stegmann wörtlich zitiert, soll gelautet haben: „Freund, ich habe alles überlegt und erwogen – und mein Wunsch ist noch dasselbe!“ Er sei „stark und gesund, und an Kraft und Willen fehlt es mir nicht.“ Auf diese Aussage hin habe Stegmann sich angeboten, 222 Vgl. Schulze an Gude, 19.09.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. Vgl. ebenda Niemeyer an Unbekannt, 24.10.1797. „Indo-Portugiese“ ist hier in einem weiteren Sinne gemeint und wird, der Quellensprache gemäß, allgemein auf Menschen indo-europäischer, also nicht allein indo-portugiesischer Abstammung angewendet. Während der eine Gilbert den Vornamen Jan trug, hatte der andere einen indisch wirkenden Vornamen mit der Endung -itra, der in den Quellen jedoch nur einmal genannt wurde und leider nicht weiter lesbar ist. Die genaue Abstammung der beiden Brüder Gilbert ist unbekannt. Immerhin wird der in Colombo tätige, ebenfalls nicht näher identifizierte Prediger Schröter als ihr Schwager erwähnt. Dies spricht dafür, dass es sich in der Tat um Indo-Europäer gehandelt hat, da Schröter vermutlich keine Inderin geheiratet hätte. Vgl. Bach an Unbekannt, vermutlich Gude, 06.10.1801, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808. 223 Vgl. Gundlach (Hrsg.), Album der Christian-Albrechts-Universität.

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den Holsteiner weiterzuempfehlen und das gar „vor allen andern“ – wie der ehemalige Missionar fast schon euphorisch betonte, denn: „Ich glaube in der That, es ist eine besondere Fügung Gottes, die der Mission diesen guten und geschikten Menschen an meiner Stelle erbietet“. Früchtenicht sei bereit, sich in Halle vorzustellen, wenn ihm nur die Reisekosten vergütet würden.224 Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt deuten sich in den zitierten Aussagen einige der an einen Missionar gestellten Anforderungen (neben der fachlichen Eignung) an: Gesundheit, Belastbarkeit und Überzeugung schienen für einen Indienmissionar vor allem erforderlich zu sein.225 Es ist bemerkenswert, dass gerade Stegmann die Empfehlung für Früchtenicht vornahm, war Ersterer doch bereits aufgrund von einem nicht näher spezifizierten, vom Missionsarzt auf das Klima zurückgeführten „hypochondrischem Übel“226 und Eheproblemen nach nur wenigen Monaten hochverschuldet aus Tranquebar zurückgekehrt und das zu einer Zeit, zu der es auf jeden einzelnen Missionar ankam.227 Mit dem Bewusstsein dieser und weiterer Schwierigkeiten der Missionsleitung mit seiner Person wählte Stegmann die Formulierung, dass Gott Früchtenicht „an meiner Stelle“ erboten habe. Schließlich hatte der ehemalige Missionar so seinen guten Willen der Mission gegenüber gezeigt, einen ausgleichenden Ersatz für die durch ihn unerwünscht freigewordene Stelle besorgt und somit gleichzeitig sein eigenes Gewissen beruhigt. Noch bemerkenswerter als die Empfehlung an sich aber ist, dass die Missionsleitung sogar auf seinen Vorschlag einging, denn Stegmann hatte sich nicht nur auf dem Subkontinent als nicht besonders zuverlässig erwiesen, sondern auch schon vor seiner Entsendung und zudem während seiner Schiffspassage. Hierauf deuten verschiedentlich brieflich vorgetragene Klagen hin. So beklagte sich Direktor Schulze, der zu dieser Zeit gerade bei der Füllung der Missionsberichte große Schwierigkeiten hatte, etwa über die knappen Berichte Stegmanns und die Kürze von dessen Briefen aus Tran-

224 Vgl. inkl. der Zitate Stegmann an Schulze, 12.12.1797, AFSt/M 4 E 5: 5. 225 Vgl. zu den von den Missionaren geforderten Kriterien bereits Liebau, Mitarbeiter, S. 72. 226 Gutachten von Klein über und für Stegmann, 16.02.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. Weiter spricht der Missionsarzt von einer „Nervenschwäche“, von „häufigen Ohnmachten“, „Schwindel“, „Herzklopfen“ und einer „sichtbar Abnahme der körperlichen Kräfte und des Gedächtnisses“, die er als Symptome des „hypochondrischen Übels“ deutete. Zu dieser Erkrankung und den zeitgenössischen Diskursen, die sich als sehr vielfältig erweisen, vgl. den Art. Hypochondrisches Übel, in: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Bd. 13, Sp. 1479–1487, von der Bayerischen Staatsbibliothek digitalisiert einsehbar unter: http:// www.zedler-lexikon.de (zuletzt eingesehen am 08.01.2013). Dem Artikel nach wurde die Krankheit durch zu langes und häufiges Sitzen, etwa im Falle von Gelehrten, ausgelöst. Umstritten war, ob dadurch die Milz angegriffen wurde, mit der Folge von den obengenannten und weiteren Symptomen wie Verdauungsstörungen, Melancholie und dem Rückzug aus dem sozialen Leben. 227 Vgl. etwa Cämmerer an Stoppelberg, 30.01.1797, AFSt/M 1 C 38a: 15; Missionare an Schulze, 13.03.1797, AFSt/M 1 C 38a: 32.

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quebar.228 Die Missionarskollegen in Indien äußerten zunächst ihren Unmut über das Unvermögen oder den Unwillen Stegmanns, Tamil zu lernen.229 Erstaunlicherweise hatten die Missionare noch am selben Tag einen Brief an das Missionskollegium in Kopenhagen verfasst, in dem sie von einem Lob durch C. F. Schwartz für Stegmanns Fleiß beim Erlernen des Tamil und anderer Sprachen schrieben.230 Diese Diskrepanz lässt sich nur über das in dieser Zeit nachlassende Engagement des Kollegiums für die Mission erklären, dessen Einstellung nicht noch zusätzliche Nahrung erhalten sollte, da die Missionare und die Hallesche Zentrale ja gerne weitere Missionare engagiert gesehen hätten.231 Mit Schulze glaubten die Missionare offensichtlich offener reden zu können. Auch handelte es sich bei dem Brief der Missionare an das Kollegium lediglich um einen Entwurf, der nicht zwangsläufig nach Kopenhagen weitergeleitet wurde. Dennoch zeigt dieser Befund, dass die Kommunikation von Seiten der Missionare durchaus zielgerichtet an den jeweiligen Adressaten angepasst wurde – und das sogar unterschiedlich in Bezug auf die Missionsleitung oder einzelne Mitglieder, je nachdem, ob Kopenhagen oder Halle angesprochen wurde. Im März 1797 beklagte sich dann Schwartz bei Schulze über die sprachlichen Defizite Stegmanns.232 Später befanden die Missionare ihn gar gänzlich für untauglich – eine Einschätzung, die die Missionsleitung in Halle teilte.233 Und nach der Rückkehr des Missionars nach Kopenhagen 1797 gab es Diskussionen darüber, wer denn nun die von den Missionarskollegen ausgelegten Kosten für Stegmanns Heimfahrt endgültig übernehmen solle.234 Lange Zeit hatten die Missionare in Indien aus ihren ohnehin zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ausreichenden Gehältern dafür aufzukommen.235 Dementsprechend schlecht waren die Missionare auf Stegmann zu sprechen. Nach überaus zähen Verhandlungen übernahm dann aber doch das Kopenhagener Missionskollegium die Kosten.236 Als schärfster Kritiker Früchtenichts sollte sich ausgerechnet der Kopenhagener Garnisonspastor Johann Hieronymus Chemnitz erweisen – pikanterweise Stegmanns ehemaliger Schwiegervater, dessen älteste Tochter den Missionar bei dessen erster Überfahrt nach Indien begleitet hatte und nun in Scheidung von ihm lebte. Schon aus persönlichen Gründen könnte der Pastor Probleme mit Stegmann gehabt haben. Chemnitz besaß beste Kontakte nach Halle, nicht zuletzt weil er dort ausgebildet wor228 Vgl. Schulze an Chemnitz, 24.05.1796, AFSt/M 4 E 4: 90; Schulze an Chemnitz, 28.01.1796, AFSt/M 1 K 12: 64. 229 Vgl. Missionare an Schulze, 24.01.1797, AFSt/M 1 C 38a: 16. 230 Vgl. Missionare an Missionskollegium, 24.01.1797, ALMW/DHM 12/26b: 1b. 231 Vgl. Chemnitz an Schulze, 15.08.1795, AFSt/M 4 E 4: 76; vgl. auch Nørgaard, Mission und Obrigkeit, S. 223–225. 232 Vgl. Schwartz an Schulze, 12.03.1797, AFSt/M 1 C 38a: 31. 233 Vgl. Schulze an Missionare, 09.10.1798, AFSt/M 1 C 38b: 62. 234 Vgl. Chemnitz an Schulze, 23.09.1797, AFSt/M 1 C 38b: 53. 235 Vgl. Chemnitz an Schultze, 01.08.1798, AFSt/M 4 E 5: 35. 236 Vgl. Missionare an Missionskollegium, 01.08.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808.

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den war und dort bereits als Informator gearbeitet hatte.237 Für den Missionar John und dessen naturhistorische Sammlungen und Korrespondenzen diente er, der sich selbst als Naturforscher vor allem in der Schnecken- und Muschelforschung hervortat, als Kommissionär und Kunde.238 Er setzte sich zudem häufig beim Missionskollegium für die Mission ein, versorgte Halle mit Informationen und Einschätzungen bezüglich der Stimmung im Missionskollegium und hatte auch schon im Auftrag Halles dänische Kandidaten für die Mission ausgesucht und vorgeschlagen.239 Er kann, noch vor dem Sekretär des Missionskollegiums, als der zu dieser Zeit zentrale Mittelsmann Halles in Kopenhagen bezeichnet werden. Chemnitz äußerte bereits am 9. Januar 1798 ausdrücklich seine „Befremdung“ über die Empfehlung Früchtenichts, dem er dessen Unerfahrenheit und ungeeignete Konstitution vorwarf.240 Früchtenicht habe doch gerade erst sein Examen abgelegt. Auch habe Stegmann den sich lediglich zu Besuch in Kopenhagen befindenden Holsteiner doch bisher allenfalls flüchtig kennengelernt. Früchtenicht sei „seiner Statur nach aber noch einen Kopf kleiner als H. Stegmann“. Dies sei sehr ungünstig, „da es doch höchstnöthig ist dem Missions Amte zu Tranquebar auch in äußerlichen einen etwas ansehnlichen Mann darzustellen“. Sich auf die erforderliche Durchsetzungskraft eines Missionars beziehend heißt es dann weiter bei Chemnitz: Ein solcher „ansehnliche[r] Mann“ könne „sich eher Eingang […] verschaffen“. Weiterhin besitze der Bewerber zwar gute Zeugnisse, „[a]llein Erfahrungen in den Wegen des HErrn, geübte Sinne u dergl besitzet er gewiß nicht.“ Früchtenicht selbst scheint überraschend offen mit Chemnitz geredet zu haben, so über seine Karriereambitionen: „Überdem will er die Stelle bey der Mission nur ad interim etwa 4 höchstens 5 Jahre annehmen u alsdan zurück kehren.“ Der Pastor habe ihm daraufhin gesagt, mit einer solchen Einstellung werde er niemals Missionar werden können. Er müsse vielmehr der „Mission mit Redlichkeit dienen“ und „sich ganz u gar zum Dienst derselben aufopfern“. Doch Früchtenicht habe davon nichts hören wollen, so Chemnitz weiter, „weil er [Früchtenicht, TD] in seinem Vaterlande mit der Zeit eine gute Beförderung zu hoffen habe.“ Der Ratschlag des Pastors an den Adressaten seines Briefes, Schulze, lautete folgerichtig, der Direktor der Franckeschen Stiftungen solle Früchtenicht doch „offenherzig“ mitteilen, „man müste sich nicht bloß auf wenig Jahre sondern auf Zeitlebens zum Dienst der Miss. [= Mission,

237

Vgl. den Eintrag der Personendatenbank des Archives der Franckeschen Stiftungen, http://192.124. 243.55/cgi-bin/gkdb.pl (zuletzt eingesehen am 06.01.2013). 238 Vgl. John an Knapp, 15.07.1802, AFSt/M 1 C 43b: 64. Vgl. hierzu ausführlich Ruhland, Pietistische Konkurrenz, insbesondere S. 283–286. 239 Vgl. zum Missionskollegium etwa Schulze an Missionare, 23.07.1793, ALMW/DHM 4/6b: 7; Chemnitz an Schulze, 18.07.1795, AFSt/M 4 E 4: 72. Vgl. zu den dänischen Kandidaten Chemnitz an Freylinghausen, 16.12.1776, AFSt/M 1 H 4: 32; Chemnitz an Freylinghausen, 20.09.1779, AFSt/M 1 C 22: 46. 240 Vgl. zu Chemnitz, Schulze und Früchtenichts Bewerbung gekürzt Delfs, ‚What shall become‘, S. 73, 75 f.

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TD] verschreiben“. Auch bei dem möglichen „Verlaß der Tauglichkeit u Gesundheit“ dürfe er „die Mission nie […] verlassen.“ Die unterschwellige Hoffnung hinter diesen drastischen Formulierungen lieferte Chemnitz Schulze gleich mit: „Alsdann wird seine [= Früchtenichts, TD] gantze Reise nach Halle unterbleiben.“241 Der Pastor hielt den Bewerber also für gänzlich ungeeignet für diese Aufgabe und wollte ihn deshalb vorweg schon abschrecken. Vor allem Früchtenichts vermeintliches Streben nach einer Karriere mittels der Mission stieß Chemnitz auf. Solch ein materiell orientiertes Ziel entsprach weder dem damaligen noch dem heute in der Forschung vertretenen Idealbild eines Pastors oder Missionars, zumal eines pietistischen. So heißt es beispielsweise bei Dietmar Rothermund allgemein über die Figur des Missionars in Übersee: „Kommunikations- und Anpassungsleistungen dienen nicht dem persönlichen Fortkommen, sondern der Verbreitung seiner Botschaft“ und weiter: ein Missionar sei „nicht auf eigenen Vorteil bedacht“.242 Auch Michael Mann verortet Missionare in der kolonialen Gesellschaft anders als etwa Söldner, Mediziner und Ratsherren, denn „Missionare fielen in der Frühen Neuzeit nicht unter die Kategorie der Karrieristen“.243 Und bei Heike Liebau heißt es konkret zur DEHM, wenn auch mit einem einschränkenden „kaum“ formuliert: „die Hoffnung auf materielle Vorteile und Reichtum oder auf eine gute Stellung nach der Rückkehr“ spiele „bei der Aussendung der Männer kaum eine Rolle.“244 Doch scheint zumindest Früchtenicht eine Ausnahme von der vermeintlichen Regel gewesen zu sein – jedenfalls insofern, als er seine Ambitionen offen zugegeben hatte. Inwieweit dies ebenso auf andere Missionare der DEHM zutraf, ist hingegen schwer zu belegen. Die diesbezügliche Empfindlichkeit der Zentralen deutet darauf hin, dass das Streben nach einer Karriere eben doch nicht so selten gewesen zu sein scheint wie die Forschungsliteratur es gemeinhin annimmt. Immerhin schrieb Direktor Schulze bereits 1789, also lange vor Früchtenichts Bewerbung, aus Halle an das Missionskollegium, dass er Schwierigkeiten habe, tüchtige und verträgliche Kandidaten mit „lauter[en] Absicht[en]“ zu finden, denen nicht „im Vaterlande Gelegenheit zur Beförderung gefehlet“ hätte und die deshalb ihr „Glück in Ost=Indien, auch vielleicht durch fremdartige Unternehmungen“ suchten.245 Die 1778 bei Freylinghausen noch so prominent vertretene Kritik an aufklärerischen Positionen der Bewerber taucht hier bei Schulze nicht mehr auf. Sie wurde vor allem durch eine Kritik an vermeintlichen Karriere- und Reichtumsambitionen der Kandi241 Chemnitz an Schulze, 09.01.1798, AFSt/M 4 E 5: 8. 242 Rothermund, Unsichere Transaktionen, S. 285 f. 243 Michael Mann: Indien ist eine Karriere. Biographische Skizzen deutscher Söldner, Ratsherren und Mediziner in Südasien, 1500–1800, in: Markus A. Denzel (Hg.): Deutsche Eliten in Übersee (16. bis frühes 20. Jahrhundert), St. Katharinen 2006, S. 249–290, hier: S. 255. 244 Liebau, Mitarbeiter, S. 73. 245 Schulze an Missionskollegium, 13.01.1789, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792.

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daten verdrängt. Mit den „fremdartigen Unternehmungen“ waren mit hoher Wahrscheinlichkeit Handels- und Geldgeschäfte gemeint, beides nicht selten vorkommende Sachverhalte in der Mission, die – unter dann eher ‚unglücklichen‘ Umständen, wie im noch zu schildernden Falle des Missionars Fabricius oder dem des Kiernander – für große Probleme von der Inhaftierung bis zur Insolvenz und dem Verlust von Missionskirchen sorgen konnten, ganz zu schweigen vom Imageschaden für die Mission mit allen dazugehörigen Folgen. Für eine ähnlich ‚glücksuchende‘ Motivlage bei so manchem Bewerber spricht die bereits zitierte Nennung der „Ruhmbegierde“ im Bewerbungsschreiben des abgelehnten Reimann. Wie Manfred Jakubowski-Tiessen überzeugend nachweisen konnte, hatte es in Europa schon zu Anfang des 18. Jahrhunderts pietistisch beeinflusste Reformbestrebungen bezüglich der personellen Besetzung von Pfarrämtern gegeben. Kirchliche Reformen wurden als dringend notwendig erachtet, weil zu dieser Zeit die vor allem pietistische Kritik am Lebenswandel der Amtsträger stark zunahm. Weiterhin kritisierte man den konkreten Ablauf der Berufungsverfahren, denn diese wurden häufig von Korruption, Vettern- und Günstlingswirtschaft begleitet. Obschon sicherlich die Zunahme der in dieser Hinsicht besonders empfindsamen pietistisch geprägten Diskurse die Überlieferung begünstigte, ging es in Europa so manchem Geistlichen demnach durchaus um eine Karriere.246 Eine der schon seit dem frühen 18. Jahrhundert vorgenommenen Maßnahmen der Probstei Tondern betraf beispielsweise die nun verstärkte Kooperation von Probst und Amtmann bei der Kandidatenbegutachtung, die nun vermehrt über persönliche Gespräche und weniger über Empfehlungsschreiben erfolgte. Darüber hinaus ging man aktiv gegen die verwandtschaftliche Nachfolge des Vaters durch den Pastorensohn vor.247 Dieses Vorgehen, das nach Jakubowski-Tiessen in Tondern das „Zentrum des Pietismus im Herzogtum Schleswig“248 entstehen ließ, wird auch auf Früchtenicht Auswirkungen gehabt haben, der der Sohn eines Pastors war und wahrscheinlich Schwierigkeiten hatte, eine aufgrund ihrer vergleichsweisen

246 Vgl. neben Manfred Jakubowski-Tiessen: Wege ins Pfarramt. Pfarrerberufungen in der Frühen Neuzeit, in: ders. (Hg.): Geistliche Lebenswelten. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Geistlichen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Neumünster 2005, S. 97–115 auch Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1700–1815, Bd. 1:Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära, München 2008, S. 272. 247 Vgl. Jakubowski-Tiessen, Wege, S. 97–99, 113 f. Vgl. zur „extrem hohen Selbstrekrutierung von Pastoren und ihren Frauen aus Pfarrerfamilien“ in anderen Regionen wie Württemberg und Pommern auch Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1, S. 274. Es wird angenommen, dass im 18. Jahrhundert ca. 40 % der Stellen auf diese Weise besetzt wurden. Vgl. dazu Luise Schorn-Schütte: Zwischen ‚Amt‘ und ‚Beruf ‘. Der Prediger als Wächter, ‚Seelenhirt‘ oder Volkslehrer. Evangelische Geistlichkeit im Alten Reich und in der schweizerischen Eidgenossenschaft im 18. Jahrhundert, in: dies., Robert von Friedeburg (Hg.): Evangelische Pfarrer. Zur sozialen und politischen Rolle einer bürgerlichen Gruppe in der deutschen Gesellschaft des 18. bis 20. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 1997, S. 1–35, hier: S. 6 f. Vgl. auch Flügel, Pastoren aus Halle, S. 86. 248 Jakubowski-Tiessen, Wege, S. 115.

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Sicherheit durchaus erstrebenswerte kirchliche Anstellung zu finden.249 Für solche Probleme spricht seine nur kurze Tätigkeit als Hauslehrer in Dänemark.250 Eine ähnliche Motivlage könnte bei dem zuvor behandelten Bewerber Reimann ebenfalls von Bedeutung gewesen sein. Die geschilderte Entwicklung war jedoch nicht allein eine Folge des Pietismus, sondern auch Ausdruck der gesellschaftlichen Veränderungen des 17. und des 18. Jahrhunderts, von zunehmender sozialer Ausdifferenzierung, wachsender Bedeutung des Bürgertums und ständischer Durchlässigkeit. Damit einher ging eine Bedeutungszunahme der individuellen Karriere, die nun weniger von Geburt, Familie und Stand abhängig war. Stattdessen stieg die Bedeutung von Leistung und Qualifikation.251 Gesellschaftlicher Status und Rolle des Einzelnen waren mehr und mehr „gebunden an die Karriere, die diese Person gemacht hat und den damit zu erwartenden Zukunftsaussichten.“252 Dass auch die Mission in späteren Zeiten als Aufstiegsmöglichkeit für eine zukünftige Pastorenanstellung in Europa gesehen werden konnte, belegt Jon Miller in seiner Untersuchung zur Basler Mission im Afrika des 19. Jahrhunderts. Sie habe in den Worten von Miller einen „alternative path“ zur „desirable profession of the pastorate“ geboten.253 Wie schon die Missionsleitung und deren Ratgeber im Falle Früchtenichts, so sah auch die pietistische Basler Missionszentrale ein solches Karrierestreben jedoch ausdrücklich als eine zu verurteilende Selbstsucht an, die der eigentlichen Berufung eines Missionars diametral entgegenstand.254 Wie gezeigt konnten Anspruch und Praxis aber deutlich auseinanderdriften. Die oben zitierten Aussagen bezüglich einer Karriere durch Mission sind also zumindest in ihrer Grundsätzlichkeit zu relativieren: Es gab Missionare, die die Mission als Chance für eine pastorale Karriere nutzen wollten oder konkret nutzten. Trotz der guten Überlieferungslage lassen sich die generellen Motive Früchtenichts allenfalls indirekt über die Aussagen von Stegmann, Chemnitz, Schulze und anderen erschließen, da die formalisierten Empfehlungsschreiben und Zeugnissediesbezüglich nur bedingt als Quellen dienen können.255 Allenfalls antizipierten sie noch die von Seiten des Bewerbers vermuteten Anforderungen an einen Kandidaten auf Seiten der Entscheidungsträger in Halle, London und Kopenhagen. Die Einflüsse Stegmanns auf 249 Vgl. ohne sich auf Missionare und Früchtenicht zu beziehen Jakubowski-Tiessen, Wege, S. 107. 250 Nach Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1, S. 272, sich auch noch auf das 18. Jahrhundert beziehend, „mußten viele [der Kandidaten, TD] sich erst als Hauslehrer oder Schulmeister durchschlagen, ehe sie in eine Pfarre als Lebenszeitstelle eingewiesen wurden.“ 251 Vgl. Bernd Glazinski, Torben Bleikertz: Alternative Karrieremodelle und die Möglichkeiten der Integration von Individuum und Organisation, in: Kairos 2 (2008), S. 114–160, hier: S. 116. 252 Glazinski, Bleikertz, Alternative Karrieremodelle, S. 120. 253 Vgl. inkl. der Zitate Miller, Missionary Zeal, S. 56. 254 Vgl. Miller, Missionary Zeal, S. 59. 255 Vgl. diejenigen des Oberkonsistorialkollegiums vom 09.10.1797, von Früchtenichts Vater Valentin vom 31.01.1798 und von J. C. Lauhup vom 19.09.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799.

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den Holsteiner dürften jedoch nicht zu unterschätzen sein. Sein konkretes Beispiel hätte bei Früchtenicht – entgegen den Warnungen durch Chemnitz – zumindest den Eindruck erwecken können, dass bestimmte Risiken dann doch begrenzt waren: Immerhin war der ehemalige Missionar nach kürzester Zeit zurückgekehrt, wenn auch aus Krankheitsgründen, die aber von den Missionaren und auch in Europa zuweilen angezweifelt wurden. Zudem war er anschließend in Kopenhagen versorgt worden und – als wohl wichtigster Aspekt – Pastor geworden.256 Aus Sicht eines Karrieristen gesprochen hatte er es also geschafft und die Mission dafür als Sprungbrett genutzt. Als Früchtenicht in Kopenhagen einen zweimonatigen Gehaltsvorschuss vom Missionskollegium erbat, der nicht einmal unberechtigt war, berief er sich auf Stegmann, bei dem er sich offenbar zuvor eingehend informiert hatte. Dieser habe einen solchen Vorschuss doch ebenfalls erhalten. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern habe Früchtenicht keine Vergünstigungen wie eine freie Wohnung zugestanden bekommen, obwohl das Leben in Kopenhagen doch sehr teuer sei. In dieser Zeit hatte das Kollegium in der Tat finanzielle Engpässe zu verzeichnen, die noch verstärkt wurden durch den Brand Kopenhagens im Jahre 1795, bei dem das Waisenhaus abgebrannt war. Im Waisenhaus war das Kollegium nebst einer Wohnung für Missionskandidaten untergebracht.257 Hätte der Holsteiner jedoch von den nicht so positiven Gesamtzahlen der DEHM und ihren Heimkehrern gewusst, so wäre er hinsichtlich einer missionarischen Tätigkeit in Indien vielleicht zu einem anderen Schluss gekommen. Zudem hätte er wahrscheinlich die möglichen Gefahren und Strapazen des Unternehmens höher gewichtet als potenzielle Karrierechancen nach einer unsicheren, zumeist durch Krankheit bedingten Rückkehr.258 Von den dreizehn zurückgekehrten Missionaren der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission waren zwar sechs später als Pastoren, andere als Lehrer oder Übersetzer tätig, die übrigen 44 des Zeitraumes 1706 bis 1826 blieben jedoch zumeist unter prekären Umständen bis zu ihrem Tod in Indien, kamen gar nicht erst dort an oder starben während der Heimfahrt.259 Auch die Bilanz der 73 Herrnhuter

256 Vgl. Cämmerer an Nebe, 30.08.1798, AFSt/M 1 C 39b: 39. 257 Vgl. Früchtenicht an Missionskollegium, 23.04.1798, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. Vgl. ebenda auch den Brief Stegmann an Missionskollegium, 23.10.1795, der dessen Bitte enthält. Vgl. Nørgaard, Mission und Obrigkeit, S. 224; zur Wohnung und dem Brand vgl. Schulze an Gude, 07.09.1795, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. In diesem Brief erwähnt Schulze, dass er den damaligen Missionskandidaten Stegmann nun wegen des Brandes bei Pastor Chemnitz unterbringen wolle. Im Falle Früchtenichts hatte Schulze das Kollegium gebeten, „für sein [= Früchtenichts, TD] Logis, Beköstigung und nöthige Equipirung väterlich zu sorgen“ (Schulze an Gude, 27.02.1798, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799). 258 Vgl. zu den Umständen bei der Heimkehr bereits Liebau, Mitarbeiter, S. 73. 259 Vgl. die Kurzbiographien bei Jürgen Gröschl: Missionaries of the Danish-Halle and English-Halle Mission in India 1706–1844, in: Andreas Gross u. a. (Hg.): Halle and the Beginning of Protes-

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Brüder, von denen lediglich zwanzig nach Europa heimkehrten, war nicht besonders gut.260 Dass die Vorstellungen von einer missionarischen Tätigkeit in Indien durchaus von der dann vorgefundenen Realität abweichen konnten, belegt zudem das zeitnahe Beispiel des Missionars Päzold, der sich 1796 über seine finanziellen Engpässe, die so gar nicht seinen Erwartungen entsprachen, bitterlich beklagte.261 Ähnliches gilt für die in Indien nach Reichtum oder Aufstieg suchenden Personengruppen, von denen wohl nur ein verschwindend geringer Prozentsatz wirklich einigermaßen reich nach Europa zurückkehrte.262 Schon 1755 hatten sich die beiden Missionare Hüttemann und Kiernander beispielsweise zu den falschen Vorstellungen deutscher Soldaten über Indien geäußert.263 Umso mehr erstaunt, dass überhaupt eine solche Erwartungshaltung hatte entstehen können. Hierzu dürften die in ihrer Heimatgesellschaft ja durchaus auffälligen, dann als ‚Nabobs‘ karikierten Heimkehrer genauso beigetragen haben wie aus früheren Zeiten stammende Indienbilder und ökonomische Notlagen in Europa.264 All dies wird auch auf Früchtenicht, andere Bewerber und andere Missionare eingewirkt haben. Nicht zuletzt die Missionszentralen in Europa dürften diesbezügliche Debatten und Nachrichten aus Indien verfolgt haben. Wie bereits angedeutet hatte Stegmann zudem ein persönliches Interesse daran, einen Nachfolger für seine Person zu finden, um seinen Ruf wenigstens zu einem gewissen Maße wiederherzustellen. Eine zusätzliche Bestärkung für Früchtenicht mag auch die Begleitung durch Gilbert gewesen sein, der ihn vielleicht in Kiel schon dahingehend beeinflusst hatte, als Missionar nach Indien zu fahren. Hierüber geben die Quellen bedauerlicherweise keine Auskunft. Schulze nahm die warnenden Ratschläge des Pastors aus Kopenhagen durchaus ernst und ermahnte Früchtenicht dementsprechend mit ganz ähnlichen Formulierun-

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261 262 263 264

tant Christianity in India, Volume III: Communication between India and Europe, Halle 2006, S. 1497–1528. Die verwendeten Zahlen richten sich nach den Listen erstellt von Andreas Gross: Missionaries of the Danish-Halle Mission, in: ebd., S. 1571 f. sowie ders.: Missionaries of the English-Halle Mission, in: ebd., S. 1573 f. Vgl. die Zahlen bei Beck, Brüder, S. 143. In der Zahl von 53 in Indien verbliebenen Missionaren sind sechs Aussteiger enthalten, deren Verbleib nicht immer sicher ist. Möglicherweise ist der ein oder andere von ihnen noch nach Europa zurückgefahren. Aufgrund der Kosten und ihres Austrittes aus der Gemeine dürfte aber auch eine Mehrheit der Aussteiger in Indien geblieben sein. Dies gilt etwa für Christian Renatus Beck, der 1793 in Kalkutta verstarb. Hinzu kämen auch noch die Schwestern der Brüdergemeine, deren Zahlen ebenfalls unklar sind. Päzold an Stoppelberg, 23.09.1796, AFSt/M 1 C 37b: 28. Vgl. Mann, Indien ist eine Karriere, S. 252. Vgl. Kiernander, Hüttemann an Francke, 11.10.1755, AFSt/M 1 B 45: 38. Vgl. zu den Indienbildern zum Beispiel Jörg Fisch: Der märchenhafte Orient. Die Umwertung einer Tradition von Marco Polo bis Macaulay, in: Saeculum 35 (1984), S. 246–266, insbesondere S. 252–254, 257–259, das Standdardwerk von Dharampal-Frick, Indien im Spiegel, und in Form einer Fallstudie zu den Portugiesen und einem mitreisenden deutschen Händler Gerhard Fouquet: Vom Meer zum Land. Indien 1502 aus der Sicht eines deutschen Reisenden, in: Stephan Conermann u. a. (Hg.): Studia Eurasiatica. Kieler Festschrift für Hermann Kulke zum 65. Geburtstag, Schenefeld 2003, S. 71–94.

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gen wie den von Chemnitz vorgeschlagenen. Dies mag als Indiz für die Bedeutung, die Schulze dem Urteil des Pastors beimaß, dienen – auch wenn er ihm später im Falle Früchtenichts zunächst nicht mehr folgte. Der Direktor bat den Bewerber eindringlich, vor einer Reise nach Halle eingehend zu prüfen, ob „Sie auch die innere und äußere requisita haben, nach der Mission Gottes ein brauchbarer Missionar zu werden“. Als Grund für seine Ermahnungen führte er die „kostspielige Reise“ nach Halle an, die Früchtenicht doch sicher nicht „vergeblich“ unternehmen wolle.265 Nur fünf Tage später kommentierte Schulze, explizit seine Hoffnung hinsichtlich einer abschreckenden Wirkung äußernd, dieses Schreiben in einem weiteren Brief an Chemnitz: „Wenn nun mein Brief ihn noch in Hohen-Wettstedt [= Hohenwestedt, TD] trift, so wird es ihm wol vergehen, die Reise hierher, die allem Anschein nach vergeblich seyn würde, anzutreten.“266 Der an den potenziellen Kandidaten gerichtete Brief erreichte Früchtenicht zwar noch nahe bei Hamburg, die beabsichtigte Abschreckung wollte jedoch nicht gelingen. So lautete eine nachträglich eingefügte Notiz in die Kopie des Schreibens von Schulze an Früchtenicht: Obgleich „Früchtenicht diesen [Brief, TD] erhalten hatte, kam er doch gegen die Mitte des Febr. [1798, TD] nach Halle.“267 Schulze deutete Früchtenichts Erscheinen auf eigene Kosten als Ausdruck eines besonderen Einsatzes des Bewerbers, worauf allein die Existenz einer solchen Notiz schon hinweist, zumal der Holsteiner ihm dann im Gespräch zusätzlich versichert habe, „daß er sich der Mission, so lange Gott ihm Kräfte verliehe, widmen wollte“.268 Trotz einer Fülle an Vorbehalten hatte der Direktor nach eingehender und erfolgreicher Prüfung von Früchtenichts Fähigkeiten im Predigen, Missionieren und seinem Charakter im Allgemeinen nach eigener Aussage keine andere Wahl als ihm die Stelle des Missionars anzubieten, wie Schulze seine Entscheidung gegenüber dem nach wie vor skeptischen Chemnitz rechtfertigte.269 Aufgrund der bereits vorab erfolgten verschiedenen mündlich und schriftlich kommunizierten Hinweise und Mahnungen wusste Früchtenicht bereits im Voraus, worum es der Missionsleitung ging und was diese von einem Bewerber hören wollte. Somit konnte er sich dementsprechend darauf einstellen. Während seiner Zeit in Halle vorgebrachte Vorwürfe lassen sich in den Quellen nicht finden. Später jedoch, als der Missionar schon einige Zeit in Indien verbracht hatte, soll er damit geprahlt haben, dass Schulze ihm sogar „seine Billard Schulden im Wirthshause in Halle wo er logirt habe, bezahlt hätte“.270 Da die Missionare Früchtenicht zu dieser Zeit bereits gerne entfernt gesehen hätten, sind solcherlei Aussagen sicherlich mit Vorsicht zu behandeln.

265 266 267 268 269 270

Vgl. inkl. der Zitate Schulze an Früchtenicht, 20.01.1798, AFSt/M 4 E 5: 9. Schulze an Chemnitz, 25.01.1798, AFSt/M 4 E 5: 4b. Schulze an Früchtenicht, 20.01.1798, AFSt/M 4 E 5: 9. Schulze an Stegmann, 27.02.1798, AFSt/M 4 E 5: 14. Vgl. Schulze an Chemnitz, 30.08.1798, AFSt/M 4 E 5: 36. John an Knapp, 27.03.1800, AFSt/M 1 C 41: 94.

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Wenn Schulze von Billardschulden gewusst hätte, so ist anzunehmen, hätte er, nicht zuletzt als Pietist, trotz aller Dringlichkeit Früchtenicht wohl eher nicht als Kandidaten ausgewählt. Zu diesem frühen Zeitpunkt wäre es ja noch leicht möglich gewesen, eine bereits getroffene Entscheidung zugunsten des Bewerbers weitgehend ohne Gesichtsverlust wieder rückgängig zu machen. Es könnte sich also in der Tat lediglich um die bloße, wenngleich zumindest respektlose Prahlereien eines jungen, betrunkenen Mannes gehandelt haben – sollte er die Aussage denn überhaupt in dieser Art getroffen haben. Angesichts späterer Entwicklungen erscheint es aber nicht einmal unwahrscheinlich, dass der Direktor von Billardschulden schlicht nichts wusste. Zudem stand Schulze unter einem nicht unerheblichen Druck, doch nun endlich neue Missionare zu liefern. Der nächste Schritt Schulzes im weiteren Verfahren bestand darin, zunächst den Vater, Pastor Valentin Früchtenicht, der seine Erlaubnis zu geben hatte, zu benachrichtigen, dass sein Sohn als Missionar „vorläufig angenommen“ worden sei. Der Direktor habe des Kandidaten „Festigkeit in dieser Sache mit Vergnügen bemerket“. Schulze hoffe nun, die Unterstützung des Vaters, der ja zu den schriftlichen Befürwortern seines Sohnes gehört hatte, bleibe bestehen. Auch in der Kopie dieses Briefes findet sich ein nachträglich eingefügter, reichlich brüskiert klingender Kommentar: „Herr Past. Früchtenicht hat auf diesen Brief mit keiner Zeile geantwortet, und überhaupt kein einziges mal nach Halle geschrieben.“271 Das Originalmanuskript hatte Schulze Früchtenicht zur Übergabe an dessen Vater mit nach Hohenwestedt gegeben, das der Missionarskandidat auf der Durchreise nach Kopenhagen noch einmal kurz zur Abschiednahme von seinen Eltern besuchte. Aufgrund der bald manifest werdenden Probleme mit Früchtenichts Zuverlässigkeit erscheint es möglich, ohne dass dies wirklich belegbar wäre, dass das Schreiben gar nicht ausgehändigt wurde. Angesichts der Bedeutung der expliziten Zustimmung durch die Eltern in anderen Fällen wie bei den Kandidaten J. Christoph Drosky und Hans Hinrich Vent, die beide aufgrund der – zumindest bei Drosky entscheidenden – Ablehnung der Entsendung durch die Mutter nicht nach Indien geschickt worden waren, überrascht, dass Früchtenicht später überhaupt angenommen wurde.272 Für Drosky war immerhin schon ein Platz an Bord eines Schiffes gebucht worden, was durch das Missionskollegium dann hatte storniert werden müssen.273 Die Begründung für die Annahme Früchtenichts ohne die Bestätigung durch dessen Vater mag einmal mehr in dem immer drängender werdenden Nachwuchsmangel der Mission gelegen haben. Außerdem hatte Valentin Früchtenicht

271 Schulze an V. Früchtenicht, 20.02.1798, AFSt/M 4 E 5: 15. 272 Vgl. zu Drosky beispielsweise Freylinghausen an Missionskollegium, 30.11.1776, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 273 Vgl. Freylinghausen an Missionskollegium, 27.08.1776, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780.

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ja zu Beginn des Bewerbungsverfahrens ein Empfehlungsschreiben für seinen Sohn verfasst, so dass von seiner Zustimmung auszugehen war. Wie auch in Indien Besucher, Schiffskapitäne und andere zugleich als Boten für Briefe und mündliche Informationen genutzt wurden, so geschah dies genauso in Europa im Falle von Früchtenicht, der nicht nur ein solches Schriftstück für seinen Vater bei sich trug, sondern auch für den Sekretär des Missionskollegiums in Kopenhagen, Jacob Gude, den Postsekretär Richers in Hamburg sowie den Buchbinder Rathje in Rendsburg. Das Notwendige wurde also mit dem Nützlichen, das als Gelegenheit auf dem Wege lag, verbunden. Für die Reise bekam Früchtenicht überdies den Auftrag, ein Reisetagebuch zu verfassen und dieses vor der eigentlichen Indienreise nach Halle zu senden, damit Schulze es in den Missionsberichten verwenden konnte – ebenfalls ein typisches Vorgehen. In Kopenhagen sollte er dann beim Missionskollegium vorstellig werden, welches der Entscheidung Schulzes geschlossen zuzustimmen hatte.274 Zu diesem Zwecke hatte der Direktor Empfehlungsschreiben an die einzelnen Mitglieder des Kollegiums mit der Bitte um Unterstützung für Früchtenicht geschickt.275 In einem dieser Briefe an den durchaus eine einflussreiche Funktion ausfüllenden Sekretär heißt es dementsprechend: Schulze habe den „Wunsch, daß er [= Früchtenicht, TD] den völligen Beifall erhalte“,276 was dann auch eintreten sollte. Obwohl Früchtenicht Probepredigten zu vollziehen und jedes der Mitglieder des Missionskollegiums einzeln zu besuchen hatte, um sich vorzustellen, schien dies nur noch eine Formsache zu sein. So antwortete der Kollegiumssekretär Gude nur wenig später, er habe Früchtenicht zwar lediglich zweimal getroffen, habe jedoch keine Zweifel, dass dieser den in ihn gesetzten Hoffnungen und den „Attesten“ gerecht werden werde. Der Holsteiner werde alles Erforderliche erhalten und Gude selbst werde dazu beitragen, dass der Kandidat die Zustimmung des Kollegiums bekomme.277 Das Missionskollegium verließ sich also weitgehend auf Früchtenichts Referenzen und das Urteil des Direktors in Halle. Die offenbar noch immer latent vorhandenen Zweifel, die wohl hauptsächlich der Kopenhagener Verbindungsmann Chemnitz bei Schulze gesät hatte, manifestierten sich in einem Brief vom 5. April 1798, in dem der Direktor sich gegenüber dem Kollegiumssekretär Gude verwundert zeigte, dass er noch kein Schreiben von Früchtenicht erhalten habe, obwohl das Schiff doch schon bald gen Indien ablege. Gude solle den Kandidaten an seine „ihm mitgegebene[n] Instruction, noch an mich zu schreiben“ erinnern. Als Anhang enthielt der Brief an den Sekretär zudem die neu ausgearbeitete „Instruction für einen angehenden Missionarium in Trankenbar“ zur Vorlage im Missionskollegium. Schulze hatte diese noch ergänzt um den Hinweis, dass man das

274 Vgl. Schulze an Lorentzen, 20.02.1798, AFSt/M 4 E 5: 13. 275 Vgl. etwa Schulze an Gude, 20.02.1798, AFSt/M 4 E 5: 10; Schulze an Manthey, 27.02.1798, AFSt/M 4 E 5: 11; Schulze an Chemnitz, 27.02.1798, AFSt/M 4 E 5: 18. 276 Schulze an Gude, 27.02.1798, AFSt/M 4 E 5: 17. 277 Vgl. Gude an Schulze, 10.03.1798, AFSt/M 4 E 5: 19.

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neue Regelwerk doch schon bei Früchtenicht zur Anwendung bringen könnte, der, wie auch zukünftige Missionare, ein Exemplar erhalten und unterschreiben solle.278 Gerade diese letzte Anmerkung macht Schulzes unterschwellige Unsicherheit deutlich, schien er sich doch durch die Instruktion zusätzlich absichern und die Missionare präventiv disziplinieren zu wollen. Hierfür spricht der von Schulze ohne Wissen der Missionare eingefügte, sich später noch als so verhängnisvoll erweisende § 8 der Instruktion, nach dem allein das Missionskollegium über die Suspendierung eines Missionars zu entscheiden habe. Das erwartete Schreiben Früchtenichts erhielt er erst elf Tage später – allerdings ohne den gewünschten Reisebericht, den der Kandidat nach eigener Aussage aus zeitlichen Gründen, vor allem wegen der Probepredigten vor den Kollegiumsmitgliedern, noch nicht hatte verfassen können. Die Vokation durch den dänischen König habe er nun aber erhalten.279 Schulze nutzte seine Antwort für einen weiteren Appell an Früchtenichts Gewissen: „Mein Wünschen und Flehen zu Gott ist, daß er Sie immer tüchtig mache, das Amt eines Missionarii mit Eifer und Treue auszurichten.“280 Die DEHM konnte sich ein weiteres Versagen eines Missionars angesichts nachlassender Unterstützung durch das Missionskollegium und der Kosten der Überfahrt bzw. des Aufenthaltes, unter bestimmten Umständen auch der Heimreise, einfach nicht leisten. In Kopenhagen stand Früchtenicht indessen noch immer unter misstrauischer Beobachtung durch Chemnitz, der nach Vokation und Ordination des Kandidaten an seiner ablehnenden Haltung weiterhin festhielt, sich verschiedentlich bestätigt fühlte und dies offensiv nach Halle kommunizierte. So berichtete der Pastor im August 1798, er habe Früchtenicht in dessen Herberge besuchen wollen, jedoch: „Es war 11 Uhr vormittags, man wolte mich aber nicht hinauflaßen weil er gemeiniglich bis so lange noch im Bette liege, und alles gar zu unordentl. halte.“ Dies mögen erste Hinweise auf Alkoholmissbrauch gewesen sein, die allerdings in den Quellen nicht als solche benannt wurden. Sie reichten jedoch aus, Chemnitz zu dem Fazit zu führen: „Ob HErr Früchtenicht der Mann seyn werde, um Heiden das sel Evangelium Jesu Christi bekannt zu machen, und den redlichen Missionarien einen Theil ihrer Amtslast abzunehmen daran zweifle ich sehr.“ Anschließend führte er erneut seine bereits bekannte Argumentation an. Offensichtlich hatte er Erkundigungen in der Heimat Früchtenichts eingezogen, denn er behauptete, er sei nicht einmal allein mit seiner negativen Meinung über den Kandidaten. Sie werde von jedem, „[i]n Holstein und hier“, der Früchtenicht und die „verfallenen Umstände der Mission“ kenne, geteilt und führe dazu, dass Chemnitz Schulzes Entscheidung häufig mit dem Hinweis auf einen vorherrschenden allgemeinen Mangel an geeigneten Kandidaten für die Mission entschuldigen müsse. Derselbe Brief erwähnte überdies, dass Stegmann ebenfalls beabsichtige, zusammen mit dem 278 Vgl. inkl. der Zitate Schulze an Gude, 05.04.1798, AFSt/M 4 E 5: 20 und 21. 279 Vgl. Früchtenicht an Schulze, 07.04.1798 (präsentiert am 14.04.), AFSt/M 1 C 39a: 54. 280 Schulze an Früchtenicht, 30.04.1798, AFSt/M 4 E 5: 28.

Herkunft, Auswahl und Ablehnung von Missionarskandidaten

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dänischen Residenten Ole Bie nach Indien, in diesem Fall ins bengalische Serampore, zurückzukehren, um dort, dieses Mal im Auftrage des Kommerzkollegiums, nicht des Missionskollegiums, Prediger für die Dänische Kirche, nicht die Missionskirche, zu werden. Chemnitz, einmal mehr die Referenz Stegmanns für Früchtenicht anzweifelnd, merkte sarkastisch an, dies zeige doch, „wie zuverläßig seine Atteste gewesen, daß er das dortige Clima nicht vertragen könne.“281 Chemnitz nahm demnach auf Seiten Stegmanns die strategische Vortäuschung einer Krankheit und die diesbezügliche Nutzung des Klimas für dessen Heimkehr an. Zudem verwendete Chemnitz dies, um seine ablehnende Argumentation hinsichtlich Früchtenicht noch zu bestärken, indem er die Zuverlässigkeit Stegmanns als Referenz für den Kandidaten in Zweifel zog. Es ist mit ziemlicher Sicherheit davon auszugehen, dass das Kommerzkollegium um die Schwierigkeiten Stegmanns wusste. Als umso überraschender ist seine erneute Entsendung nach Indien zu bewerten282 – selbst wenn der ehemalige Missionar sich nun gesundheitlich erholt hatte und von seiner Frau geschieden war. Die Annahme seiner Person mag mit einigen persönlichen Kontakten Stegmanns in die höchsten Staatskreise Dänemarks zu tun gehabt haben, so beispielsweise zum Königshaus und zum Kommerzkollegium. Diese Verbindungen hoben ihn von den anderen Missionaren merklich ab.283 Letztlich wurde Stegmann dann nicht in Serampore dänischer Pre-

281 Vgl. inkl. der Zitate Chemnitz an Schulze, 01.08.1798, AFSt/M 4 E 5: 35. 282 Vgl. bereits die Verwunderung bei Schreber an Nebe, 07.06.1800, AFSt/M 1 C 41: 58. 283 Vgl. zu diesen Kontakten Stegmann an Schulze, 03.11.1795, AFSt/M 1 K 12: 72; Schulze an Stegmann, 12.11.1795, AFSt/M 1 K 12: 56 und Stegmann an Schulze, 02.12.1795, AFSt/M 1 K 12: 59. Die Namen Carl Landgraf von Hessen-Kassel (1744–1836), seit 1766 verheiratet mit der dänischen Prinzessin Louise und Statthalter der Herzogtümer Schleswig und Holstein, und Andreas Peter von Bernstorff (1735–1797), der zeitweise u. a. Mitglied des Kommerzkollegium und Außenminister war, erscheinen in der Datenbank der Franckeschen Stiftungen lediglich in Bezug auf Stegmann, waren also etwas Besonderes. Vgl. http://192.124.243.55/cgi-bin/gkdb.pl (zuletzt eingesehen am 08.01.2013). Vgl. zu den beiden Personen mit weiterer Literatur beispielsweise Jens Ahlers (Hg.): Landgraf Carl von Hessen 1744–1836. Statthalter in den Herzogtümern Schleswig und Holstein, Schleswig 1996 sowie Ole Feldbæk: Andreas Peter Bernstorff als Staatsmann des dänischen Gesamtstaats, in: Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Geschichte 111 (1986), S. 93–103. Dieter Lohmeier: Der Erfolg der Moral in der Politik. Andreas Peter Bernstorff im zeitgenössischen Urteil, in: Hartmut Lehmann, Dieter Lohmeier (Hg.): Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat 1770–1820, Neumünster 1983, S. 37–53 bezeichnet Bernstorff gar als „die beherrschende Gestalt der Außen- und Innenpolitik des Gesamtstaats“ (S. 37). Die Kontakte zu den hessischen Landgrafen könnten einerseits von Stegmanns Vater, Johann Gottlieb (1725–1795), herrühren, der die Waisenhausschule in Halle und die dortige Universität besucht hatte, dann Professor am Collegium Carolinum in Kassel und später in Marburg wurde. Von ihm sind verschiedene Festschriften für die Landgrafen erhalten. Vgl. Art. Stegmann, Johann Gottlieb, in: Hessische Biografie, unter: http://www.lagis-hessen.de/pnd/12995926X (Stand: 25.11.2012) (zuletzt eingesehen am 31.01.2012). Andererseits bestand aber auch eine Querverbindung zwischen Bernstorff und dem Landgrafen, die beide Teil eines schwärmerischen Zirkels in Kopenhagen waren und glaubten direkt mit Jesus kommunizieren zu können. Jesus antworte ihnen insbesondere über Lichtzeichen. Vgl. zum sogenannten Kopenhagener Orakel Horst Weigelt: Lavater und Julia Reventlow. Ein Beitrag zu den Beziehungen Lavaters nach Emkendorf, in: Hartmut Lehmann, Dieter Lohmeier

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diger, sondern in der Zionskirche von Tranquebar und der Nachfolger des zwischenzeitlich verstorbenen Schulze, Direktor Knapp, bat die dortigen Missionare inständig, Stegmann doch versöhnlich aufzunehmen. Mehr noch, „das, was ehemals Unangenehmes vorgefallen ist, bey seinem jetzo zu erwartenden besseren Verhalten, ganz zu vergessen.“284 In der Gewichtung des neuen Direktors überwog also der hoffnungsvoll nach vorne gewandte Blick auf das ‚große Ganze‘, nämlich die Ausbreitung des Christentums, gegenüber der Erinnerung an bereits Vorgefallenes. Da Stegmann in Europa schon mit einer Pastorenstelle versorgt war, schien es ihm nun jedenfalls, anders als Früchtenicht, nicht um die Karriere zu gehen, als er zum zweiten Mal Richtung Indien aufbrach, zumal er die dort auf ihn wartenden Probleme bereits von seinem ersten Aufenthalt her kannte. Es scheint vielmehr, als wollte er etwas wieder gutmachen und seine zumindest angekratzte Ehre wiederherstellen – eine ständische Kategorie, mit der er noch während seines ersten Aufenthaltes in seinen Briefen im Vergleich zu anderen Missionaren sehr häufig argumentiert hatte. Doch auch Stegmanns zweiter Versuch, in Indien Fuß zu fassen, scheiterte ganz ähnlich wie schon sein erster. Schon während seiner Überfahrt war er unverschuldet durch den Untergang seines Schiffes bei Kapstadt und dem damit einhergehenden Verlust seines Gepäcks und der von ihm mitgeführten Waren im Wert von 2.000 bis 4.000 Reichstalern in Schulden geraten.285 Der Missionar Päzold, bekannt für seine impulsiv wütenden Briefe, berichtete überdies schon im Oktober 1801 aus Indien über die erneut fragile Verfassung des Pastors: Stegmann „lebt im Dunkeln – er laborirt beydes unter leiblichem und geistlichen Miserere – […] er kann weder rückwärts noch vorwärts! – […] Er ist schon in Unsinn und Verrücktheit verfallen! – Hat seit vilen Monathen nicht in der Kirche erscheinen können“.286 Päzolds Kollege Cämmerer unterstellte Stegmann, der „Seeleelend“ sei, gar, zeitweise zu simulieren. Der Pastor stelle sich krank, wenn er eigentlich etwas tun könne, „welches seine Gemeine weiß und ihn verachtet“.287 Stegmann tauge schon aufgrund seiner schwachen Stimme nicht zum Prediger, heißt es bei Päzold. Ihm werde in Tranquebar einfach kein Respekt entgegengebracht, was sich auch nicht mehr ändern werde, wie der Missionar prophezeite. Der Prediger habe nun folgerichtig um seine Demission angehalten. Wegen der Einnahme Tranquebars durch die Engländer habe Stegmann nur noch nicht die Gelegenheit gehabt nach Europa zurückzufahren, sonst wäre er wohl – so jedenfalls Päzolds Einschätzung – schon längst wieder dort.288

284 285 286 287 288

(Hg.): Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat 1770–1820, Neumünster 1983, S. 249– 267, hier: S. 251 f. Knapp an Missionare, 14.10.1799, AFSt/M 1 C 40b: 22. Vgl. zum Schiffsuntergang vor dem Vorgebirge Schreber an Nebe, 07.06.1800, AFSt/M 1 C 41: 58. Päzold an Nebe, 05.10.1801, AFSt/M 1 C 42b: 24. Cämmerer an Knapp, 18.07.1802, AFSt/M 1 C 43b: 59. Vgl. inkl. des Zitats Päzold an Nebe, 05.10.1801, AFSt/M 1 C 42b: 24.

Die Indienreise: Devianz im ‚Zwischenraum‘

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Päzold sollte zumindest bezüglich der Heimfahrt Recht behalten: Nach einer kurzen, erstaunlicherweise trotz seiner vermeintlichen Kränklichkeit ausgeübten Tätigkeit als Kaufmann und als Portraitmaler in Bengalen, vermutlich um sich die Reisekosten zu verdienen, kehrte Stegmann schließlich erneut zurück nach Europa.289 Dort wurde er 1808 Pastor in Jütland und Fyen290 hatte also wieder, trotz seines zweimaligen ‚Versagens‘, keine Probleme in Europa eine Anstellung zu finden. Auch dies deutet auf seine guten sozialen Verbindungen in Dänemark hin, die ihm diesen Posten verschafft haben werden. Demnach zeigt sich zumindest in diesem Einzelfall die trotz aller Reformversuche und pietistischer Kritik nach wie vor durch Klientelismus geprägte kirchliche Ämtervergabe.291 Auch Früchtenicht blieb seiner Unzuverlässigkeit bis zur Abreise aus Kopenhagen treu und schickte weder einen Brief mit den Details zu seiner Indienreise noch ein Diarium seiner Kopenhagenreise an Schulze, was dieser indigniert zur Kenntnis nahm: Er sei sehr verwundert, dass „HE. Früchtenicht sein mir gegebenes Versprechen auf die Art nicht erfüllt hat.“292 Dennoch musste der Direktor auch weiterhin zu seiner Entscheidung stehen, die nun einmal getroffen worden und nicht so einfach, ohne Kosten auszulösen, wieder rückgängig zu machen war. So äußerte Schulze zeitnah etwa gegenüber dem Missionar Rottler seine großen Hoffnungen, die er mit Früchtenicht verband,293 und die womöglich als zusätzliche Motivation für die übrigen Missionare dienen sollten. Offenbar wussten die Missionare zu diesem Zeitpunkt noch nichts von den Vorbehalten, die gegenüber Früchtenicht bestanden. Sie sollten wohl vielmehr nichts davon wissen, um eine unnötige Beunruhigung zu vermeiden. Die Unterrichtung Schulzes über die Reisedetails Früchtenichts übernahmen seine altbewährten Informationsquellen in Kopenhagen Chemnitz und Gude.294 II.4 Die Indienreise: Devianz im ‚Zwischenraum‘ Die wohl größte Hürde, die es schon früh zu bewältigen galt, stellte sich den Missionaren auf der strapaziösen Überfahrt nach Indien, die entweder auf englischen oder dänischen Schiffen von London oder Kopenhagen aus erfolgte. Je nach Abfahrts- und Zielhafen, Zwischenstopps sowie den Reisebedingungen konnte die Passage zwischen 289 Vgl. John an Knapp, 09.02.1805, AFSt/M 1 C 46: 121; Päzold an Knapp, 03.04.1804, AFSt/M 1 C 45: 98. 290 Vgl. die Datenbank der Franckeschen Stiftungen unter http://192.124.243.55/cgi-bin/gkdb.pl (zuletzt eingesehen am 07.01.2013). 291 Vgl. ohne Bezug zu Stegmann Jakubowski-Tiessen, Wege. 292 Schulze an Gude, 09.10.1798, AFSt/M 4 E 5: 39. 293 Vgl. Schulze an Rottler, 01.10.1798, AFSt/M 1 C 38b: 65. 294 Vgl. Gude an Schulze, 08.09.1798, AFSt/M 4 E 5: 38; Chemnitz an Schulze, 01.08.1798, AFSt/M 4 E 5: 35.

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einem halben und einem Jahr (teilweise auch noch länger) dauern. Dänische Schiffe, die nach Bengalen zu gelangen hatten, mussten etwa zusätzlich den langen Weg über den Hugli nach Serampore in Kauf nehmen.295 Die Missionare versuchten den direkten Weg möglichst nah an die Zielgebiete, also die Koromandelküste oder Bengalen, zu nehmen. Dies gelang jedoch nicht immer. Der Hallesche Missionar Diemer musste auf seiner Reise nach Kalkutta den langen Umweg über Bombay nutzen, da die übrigen von London nach Indien auslaufenden Schiffe bereits vollständig besetzt waren. Von Bombay aus hatte er dann einmal um den gesamten indischen Subkontinent herum zu fahren, um nach Bengalen zu gelangen.296 Insgesamt kam es auf der Passage nach Indien nur zu vergleichsweise wenigen Landberührungen, die freiwillig zwecks Vorratsaufnahme oder unfreiwillig aufgrund von widrigen Wetterbedingungen erfolgen konnten. Nach und nach wurde die Passage wegen der technologischen und medizinischen Fortschritte des 18. Jahrhunderts zwar ein wenig sicherer und komfortabler, nach wie vor blieb sie jedoch riskant, wobei die Wahrnehmung der Zeitgenossen die eigentliche Gefahr wohl übertraf, obwohl zu konstatieren ist, dass die Todesraten zumindest der Crew an Bord deutlich höher waren als die der vergleichbaren Altersgruppen in Dänemark.297 Zu diesen und anderen Reisen liegen zahlreiche mehr oder weniger detaillierte Reiseberichte der Missionare Hallescher oder Herrnhuter Provenienz vor. Hinzu kommen die Schiffsprotokolle und Schiffsjournale des jeweiligen Schiffes und andere Reiseberichte. Vorherrschend in all diesen Quellen sind die Schilderungen gefährlicher Situationen, die ihrerseits verschiedene Ursachen haben konnten. Zahlreiche Unglücks-, Todes- bzw. Krankheitsfälle wurden notiert: ins Meer gefallene oder vom Mast gestürzte Seeleute oder Passagiere und andere Unfälle,298 Fieberschübe, regelmäßig wiederkehrende Seekrankheit, Geschwüre, Typhus, die Pocken, Skorbut und andere Infektionsbeziehungsweise Mangelerkrankungen.299 Erik Gøbel, der die Schiffsbücher der dänischen Chinafahrer zu einzelnen Perioden zwischen 1732 und 1833 untersucht hat,

295 Vgl. die Tabelle über die Reisedauer einzelner Fahrten von Dänemark nach Indien Tim Velschow: Voyages of the Danish Asiatic Company to India and China 1772–1792, in: SEHR 20 (1972), S. 133– 152, hier: S. 151. 296 Vgl. NHB, 8. St. S. 197. 297 Vgl. zu Fortschritten und Risiken Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 94–96. Zur Relativierung einiger Gefahren, wie etwa der des Skorbuts vgl. Erik Gøbel: Sygdom og Død under hundrede Års Kinafart, in: Handels- og Søfartsmuseets Årbog 1979, S. 75–130. 298 Vgl. Merckwürdige Nachricht aus Ost-Indien […], Leipzig und Frankfurt am Main 1708, S. 3. Vgl. Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 47 f. 299 Vgl. Gründler an Lütkens und Lange, 29.04.1709, AFSt/M 1 C 2: 6a-b und Christian Ludwig Schumann: In acht Monaten nach Ostindien, in: Hartmut Beck (Hg.): Wege in die Welt. Reiseberichte aus 250 Jahren Brüdermission, Erlangen 1992, S. 46–60, hier: S. 56. Letzterer berichtet von einer Quarantäne vor Kapstadt wegen dreier Fälle von Blattern.

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führt an, dass Krankheit als die mit Abstand häufigste Todesursache an Bord zu sehen sei, gefolgt von Todesfällen durch Unfälle, wobei der Routenabschnitt zwischen der Sundastraße und China gemessen anhand der Todesfälle offenbar doppelt so gefährlich gewesen sei wie die Strecke zwischen den Kapverdischen Inseln und der Sundastraße.300 Hinzu kamen zuweilen Vorfälle wie Feuer oder Brände etwa „nahe bey der Pulver-Cammer“301 oder am Branntweinfass mit Übergriff auf die Pulverkammer.302 Um diesem vorzubeugen, sah sich beispielsweise die dänische Asiatische Kompanie gezwungen, die Missionare zu warnen, brennbares Material zu verschicken, denn zuvor hatte sich eine Kiste der Herrnhuter an Bord eines dänischen Schiffes offenbar selbst entzündet. In ihr war hochprozentiger Alkohol enthalten gewesen. Der Sekretär des Missionskollegiums Gude musste der Kompanie gar schriftlich versichern, nichts Brennbares nach Indien zu schicken,303 was später bei den naturforschenden Missionaren für Schwierigkeiten bei der Konservierung ihrer nach Europa zu schickenden Präparate sorgte.304 Weiterhin waren die Indienfahrer von Seeräuberei,305 dem Beschuss durch fremde Schiffe,306 im Sturm oder Orkan verloren gegangene oder durch Salzwasser verdorbene Nahrung und Fäulnis, auch der Kleidung,307 und selbstverständlich Schiffsunglücke verschiedenster Ursache betroffen.308 Aufgrund dieser und anderer Risiken fuhren

300 Vgl. Gøbel, Sygdom og Død. 301 HB, 55. Cont. S. 1231. 302 Vgl. Reise des Br. Joh Sam Voigt nach Bengalen 1783, UAH R 15 Ta 10o am 18. April. Bei diesem Unglück sollen mehrere hundert Tote zu verzeichnen gewesen sein. Vgl. auch die Warnungen vor dem Rauchen und vor Kerzen im Bett im Ratgeber für Indienreisende vom Captain in der bengalischen Armee Thomas Williamson: The East India Vade-Mecum; or Complete Guide to Gentlemen intended for the Civil, Military, or Naval Service of the Hon. East India Company in two Volumes, Vol. I, London 1810, S. 42–44. Solcherlei Vorfälle gab es durchaus auch an Land. So berichteten die Missionare der DEHM im Jahre 1772 von der eine Kettenreaktion auslösenden Explosion eines „Pulver=Magazin[s]“ in Tiruchinapalli, bei der ebenfalls hunderte Menschen zu Schaden kamen. Vgl. NHB, 8. St. S. 1062. 303 Gude an Schulze, 12.12.1795, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1765–1854, F 34, Ostindisk missions brevbog, S. 113 (Warnung) sowie Gude an Asiatische Kompanie, 04.02.1796, S. 115 (Versicherung). 304 Vgl. Vgl. RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808, F 39–8, Indkomne sager ang. den ostindiske mission, 1800–1808, „Allgemeine Nachricht an die Naturhistorischen Gesellschaften, Gönner und Freunde, mit denen ich in Verbindung stehe“ (C. S. John), 1805. 305 Vgl. das Beispiel bei Römer, Brüdermission, S. 40 sowie die allgemeine Erwähnung der Seeräuberei als Gefahr einer Seereise in HB, 12. Cont. S. 966. 306 Vgl. Reise des Br. Joh Sam Voigt nach Bengalen 1783, UAH R 15 Ta 10o. Voigts Schiff wurde mehrfach von den Franzosen beschossen, die gegen die Engländer vorgehen wollten. 307 Vgl. Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 159. 308 Vgl. z. B. das Reisetagebuch von Schwartz, Poltzenhagen und Hüttemann, 21.01.1750–28.02.1750, AFSt/M 1 K 10: 79; Missionare an Freylinghausen, 05.02.1784, AFSt/M 1 B 74: 4 oder die Reise des Br. Urbans von Serampore nach Patna vom 12. Jun. bis 6. Jul. 1784, UAH R 15 Ta 10r, der am 16. Juni von einem gesunkenen Schiff im Ganges spricht. Man selbst sei zwischendurch ebenfalls auf Grund gelaufen.

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zeitweise keine Schiffe, was Versorgung und Kommunikation der Missionare oftmals erschwerte.309 Da schwedische oder dänische Indienfahrer ihre jeweiligen Heimathäfen in der Regel während des Winters verließen, um später im Indischen Ozean noch den Sommermonsun nutzen zu können, gestaltete sich die Befahrung der nordeuropäischen Meere und insbesondere die Umrundung Schottlands ebenfalls als risikoreich. Beide Kompanien verloren dort Schiffe.310 Während der teils heftigen Stürme mussten zudem sämtliche Schiffsluken vollständig geschlossen werden, so dass die Passagiere auf komplett verdunkeltem, engem und stickigem Raum unter Deck bangend wartend auszuharren hatten, bis sich das Wetter beruhigt hatte. Auch wurde die Bilge, der tiefste Teil des Schiffes, an dem sich das Wasser zusammen mit Schiffsabfällen sammelte, während der Stürme als Latrine benutzt.311 Dies mag zusammen mit mangelnder Hygiene die Ausbreitung von Krankheiten unter Mensch und Tier noch befördert haben, wie zudem Kakerlaken dazu beigetragen haben mögen, deren Plage etwa der Herrnhuter Grasmann auf seiner Heimreise nach Europa am zweiten März 1792 mit dem fast schon kapitulierenden Fazit beschrieb: „sie auszurotten ist unmöglich“. Am 22. Februar hatte er bereits beschrieben, dass die als Nahrung mitgeführten Gänse und Hühner aufgrund verdorbenen Reises verstorben seien.312 Die Halleschen Missionare Klein und Breithaupt berichteten von ihrer Batavia-Reise 1745 dann auch über die Menschen: „Wir hatten etliche 50, und folglich über die Hälfte Krancke.“313 Und Gericke erwähnte 1766 auf dem Weg von London nach Indien vierzig Kranke, „unter welchen verschiedene sind, die der Doctor aufgegeben hat.“314 Letztlich starben auf Gerickes Reise, die er auf Ceylon zunächst abbrechen musste, ‚nur‘ vierzehn Menschen aus der Besatzung des Schiffes, wobei unklar bleibt, wie viele Menschen sich überhaupt an Bord befanden. Es dürften weniger als 150, eher um die 100 Personen gewesen sein.315 Auf der Indienfahrt des dänischen Schiffes ‚Heinrich Carl‘, das 1783/84 von Kopenhagen nach Tranquebar und dann weiter nach Bengalen fuhr, sahen die Zahlen deutlich schlechter aus: von den anfänglich 75 Mann der Besatzung, in die 309 Vgl. etwa Gude an Schulze, 21.12.1793, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1765–1854, F 34, Ostindisk missions brevbog, S. 78: Im Herbst sei kein Schiff ausgelaufen, weil die Fahrt nach Tranquebar zu teuer und zu unsicher geworden sei. Erst im März werde wieder eines nach Tranquebar fahren. 310 Vgl. hierzu Eberhard Schmitt (Hg.): Indienfahrer 2. Seeleute und Leben an Bord im Ersten Kolonialzeitalter, Wiesbaden 2008, S. 322. Vgl. zur Route der dänischen China- und Indienfahrer Ole Feldbæk, Ole Justesen: Kolonierne i Asien og Afrika. Politikens Danmarkshistorie, Kopenhagen 1980, S. 244. 311 Vgl. Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 142 und häufiger. Vgl. auch Schmitt (Hg.), Indienfahrer 2, S. 5 f. (Sturm) sowie S. 254, 256 f. (Bilge). 312 Diarien von Bengalen 1776–92, UAH R 15 Tb 3. 313 HB, 62. Cont. S. 364. 314 Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 53. 315 Vgl. zu den dänischen Schiffen dieser Zeit, die um die 150 Personen transportierten Gøbel, Sygdom og Død, S. 78. Die dänischen Schiffe besaßen zumeist eine größere Besatzung als die anderer Länder.

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vorweg ‚menschliche Reserven‘ einkalkuliert wurden, waren es dann schon 29, die die Überfahrt nicht überlebten, lediglich 28 Individuen kehrten später nach Kopenhagen zurück, die restlichen blieben entweder in Bengalen (2) oder desertierten unterwegs.316 Die Mortalitätsraten konnten also sehr unterschiedlich sein. Auf VOC-Schiffen lag sie im 17. Jahrhundert im Durchschnitt bei sechs bis 15 %, Ende des 18. Jahrhunderts stieg sie jedoch – trotz der Zurückdrängung von Skorbut – vor allem aufgrund des Auftretens von Flecktyphus-Epidemien auf 20 % an. In der österreichisch-niederländischen Oostende-Kompanie Anfang des 18. Jahrhunderts hingegen ließ sie sich auf ‚nur‘ durchschnittlich acht Prozent beziffern, weil man keine Soldaten mitführte und die Schiffe selbst nicht so überfüllt waren.317 Ähnliches galt für die Schwedische Ostindienkompanie. Dort starben in den Jahren zwischen 1731 und 1766 im Durchschnitt 12,2 % der Menschen an Bord,318 während die Todesrate bei den Franzosen in den Jahren 1725 bis 1770 bei durchschnittlich 14 % lag.319 Für die Engländer verweisen die Daten für die Jahre 1680 bis 1688 auf eine durchschnittliche Mortalität von 13 %,320 die sich – einigen Stichproben nach – im 18. Jahrhundert auf etwa fünf bis sieben Prozent reduzierte.321 Die teilweise sehr hohen Sterberaten betrafen freilich vornehmlich die hart arbeitende, schlecht ausgebildete und ebenso schlecht versorgte rangniedere, zuweilen zum Dienst gepresste Besatzung und weniger die höher gestellten und besser untergebrachten Passagiere der Schiffe.322 Doch von Stürmen, Unfällen, Schiffsunglücken und ansteckenden Krankheiten konnten auch letztere nicht immer verschont bleiben: So starb etwa der ehemalige britische Gouveneur von Bengalen Henry Vansittart 1770 bei einem Schiffsunglück,323 während zum Beispiel der Missionar Gericke über einen Großteil seiner Seereise fürchten musste, von seinem schwerkranken Schlafnachbarn angesteckt zu werden. Für die dänischen Chinafahrer muss jedoch angemerkt werden, dass Schiffsoffiziere eine höhere Todesrate als die einfache Besatzung an Bord hatten. Erik Gøbel führt dies auf ihr höheres Alter und die Strapazen ihrer vielen vorherigen Fahrten zurück.324

316

Vgl. Christian Degn: Mit „Heinrich Carl“ nach Ostindien, in: Nordelbingen 41 (1972), S. 213–234, hier: S. 215–217. 317 Vgl. Schmitt (Hg.), Indienfahrer 2, S. 255 f. (VOC), 257 (Oostende-Kompanie). 318 Vgl. Iris Bruijn: Ship’s Surgeons of the Dutch East India Company. Commerce and the Progress of Medicine in the Eighteenth Century, Leiden 2009, S. 79. 319 Vgl. Bruijn, Surgeons, S. 78. 320 Vgl. die vergleichende Tabelle zu den europäischen Reisen bei Abhay Kumar Singh: Modern World System and Indian Proto-Industrialization: Bengal 1650–1800, New Delhi 2006, S. 688. 321 Vgl. Gøbel, Sygdom og Død, S. 99. 322 Vgl. bereits Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, 3. Aufl., München 2004, S. 23. 323 Hierüber berichtete bereits der deutsche Indienreisende Imhoff, vgl. Gerhard Koch (Hg.): Imhoff Indienfahrer: Ein Reisebericht aus dem 18. Jahrhundert in Briefen und Bildern, Göttingen 2001, S. 137, 147. 324 Vgl. Gøbel, Sygdom og Død, S. 92 f.

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Die Beschwernisse einer solchen Überfahrt ein wenig relativierend, schrieb dennoch Maria Dorothea Ziegenbalg bereits 1716, abgesehen von der Seekrankheit und der Furcht vor Seeräuberei und Stürmen, sei es „mehr ein plaisir als eine Beschwerde auf der See zu seyn“.325 Diese Bewertung überrascht und mag Ausdruck einer ungewöhnlich glücklichen Fahrt gewesen oder aber als Rechtfertigungsstrategie vor dem Hintergrund zu sehen sein, dass die Missionszentrale in Halle aufgrund der gefahrvollen und beschwerlichen Reise Bedenken hatte, überhaupt Frauen nach Indien zu schicken.326 Mit ihrer Aussage konnte Ziegenbalg belegen, dass Frauen genauso wie Männer geeignet waren, nach Indien entsandt zu werden. Anders als bei ihr heißt es aber etwa 1786 zum Abschluss seines Berichtes bei dem Herrnhuter Schumann nach Ankunft in Tranquebar mit spürbarer Erleichterung: „Wie sehr man sich über das Ende einer so weiten und langen Reise freut, ist gar nicht zu beschreiben.“327 Um die lange Zeit der Passage sinnvoll zu nutzen, übten sich bereits die beiden ersten Halleschen Missionare Bartholomäus Ziegenbalg und Heinrich Plütschau 1706 ganz im Sinne des Pietismus im Lesen, Predigen „beten/singen und loben Gottes“ zur Erbauung von Besatzung und Passagieren sowie in „erbaulichen Gesprächen / mit Anschauung der grossen Wunder GOttes“, wobei das Gefühl, mehrfach dem Tode nahe gewesen zu sein, die Erfahrung dieser Tätigkeiten auf Seiten der Missionare laut eigener Aussage noch intensivierte.328 Dem pietistischen Prinzip der ‚Transgression‘ entsprechend wurden Alltagsereignisse, ob gefahrvoll oder nicht, oftmals direkt in religiöse Gedanken umgedeutet.329 Bartholomäus Ziegenbalg verglich beispielsweise seine Schiffsreise im Sinne pietistischer Fömmigkeit emphatisch mit „dem Lauffe des Christenthums“ als metaphorische „Reise zur Seligkeit“ voller Gelegenheiten zur Bewährung.330 Von dieser pietistischen Warte aus betrachtet, musste der Missionar Schwierigkeiten fast schon begrüßen – was eine weitere Erklärung für die oben zitierte Einstellung von Maria Dorothea Ziegenbalg sein könnte. Zugleich sollte der Leser der Missionsberichte mittels solcher Berichte erbaut und unterhalten werden. Insofern sind hier stilisierte oder zuweilen übertriebene Darstellungen zu erwarten. Frömmigkeit half dennoch entscheidend bei der Bewältigung des zweifellos vorhan325 326 327 328

HB, 12. Cont. S. 983. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 358 f. Schumann, Ostindien, S. 60. Merckwürdige Nachricht aus Ost-Indien […], Leipzig und Frankfurt am Main 1708, S. 4 f. Vgl. auch Arno Lehmann (Hg.): Alte Briefe aus Indien. Unveröffentlichte Briefe von Bartholomäus Ziegenbalg 1706–1719, Berlin 1957, S. 22–24, Ziegenbalg an Francke, 30.04.1706. (Im Folgenden zitiert als AB.) 329 Vgl. allgemein zur Transgression im Pietismus Ulrike Gleixner: Familie öffentlich und privat. Pietistische Kommunikation und die Korrespondenz der Familie Bengel, in: Udo Sträter u. a. (Hg.): Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005, Tübingen 2009, Bd. 1, S. 469–478, hier: S. 472. Zu einer zusammenfassenden Begriffsgeschichte vgl. Scharfe, Religion des Volkes, S. 97–102. 330 Vgl. HB, 12. Cont. S. 964–967, 965 (Zitate).

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denen physischen und psychischen Stresses einer solchen Überfahrt, mit der nur die wenigsten Missionare schon zuvor die Gelegenheit hatten Erfahrungen zu sammeln. Die missionarische Frömmigkeit stiftete Sinn, gab Sicherheit in einer unsicheren Lage und bot so stabilisierende „Lebenshilfe“331; jedwede Rettung beziehungsweise jedweder glimpfliche Ausgang einer bedrohlichen Situation wurde als eine Offenbarung der Gnade Gottes, als Zeichen oder Wunder wahrgenommen, die das eigene fromme, also ‚richtige‘ Verhalten guthieß oder belohnte:332 „War es nicht ein Zeichen, daß JEsus bey uns war, und nach seiner ehemaligen Weise den Wind bedräuete, daß es ganz stille wurde?“333 Ganz ähnlich wie schon bei dem ersten Hallenser Ziegenbalg sah der Tagesablauf bei dem späteren Missionar Gericke aus, der 1766/67, wie von einem Pietisten zu erwarten, das Bibelstudium (hebräisch und griechisch)334, den Gesang aus dem „hallischen Gesangbuche“335 und der Vollzug seiner Gebete noch durch das Schreiben seines Tagebuches und das Lesen von Arndts „wahrem Christenthum“336, ein pietistisches Standardwerk, ergänzte.337 Außerdem gab er einem mitreisenden dreizehnjährigen Jungen, dem Sohn des dänischen Konsuls in London, Deutsch- und – ganz Missionar – bei der Gelegenheit Bibelunterricht.338 Auf seiner zweiten Indienreise im Jahre 1716, dann zusammen mit seiner Ehefrau Maria Dorothea, lernte Ziegenbalg Englisch, soll noch dazu „in Malabarischer Sprache ein Vocabularium geschrieben“ haben, während seine Frau sich im Portugiesischen und im Tamil geübt haben will, eine Praxis, die später fortgeführt wurde.339 Dies entsprach ganz der Forderung, die bereits in der bis 1797 unveränderte Gültigkeit besitzenden ersten Instruktion für die Missionare an prominenter Stelle, nämlich als § 1, auftaucht.340 Dort heißt es: „Soll er auf der gantzen 331 332 333 334

Scharfe, Religion, S. 28. Vgl. Scharfe, Religion, S. 41, 28–32 („Wunder und Zeichen“). Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 152. Zur lange Zeit zu wenig beachteten „Mittelpunktstellung der Bibel“ im Pietismus vgl. etwa Johannes Wallmann: Was ist Pietismus?, in: Ders.: Pietismus-Studien, Tübingen 2008, S. 211–227, hier: S. 222 (Zitat). Vgl. ebenda auch Wallmann: Vom Katechismuschristentum zum Bibelchristentum, S. 228–257. Vgl. zudem Helmut Obst: Bekehrung – Mission – Weltreformation im Halleschen Pietismus, in: Heike Liebau (Hg.): Geliebtes Europa – Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission. Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 7. Mai – 3. Oktober 2006, Halle 2006, S. 35–41, der den Pietismus als „Bibelbewegung“ (S. 35) bezeichnet. 335 Gemeint ist wohl das erst 2004 im Auftrag der Franckeschen Stiftungen neu edierte und kommentierte Buch (in zwei Büchern erstmals 1704 und 1714 in Halle erschienen) von Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739): Vgl. Dianne Marie McMullen, Wolfgang Miersemann (Hg.): Geistreiches Gesangbuch. Edition und Kommentar, 4 Bde. Tübingen 2004. 336 Vgl. Johann Arndt: Vom wahren Christenthum, Frankfurt am Main 1605. 337 Vgl. Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 8, 10 und häufiger (Arndt), 19 (Gesangbuch). Zur weiten Verbreitung von Arndts Werken im Pietismus vgl. Scharfe, Religion, S. 34. 338 Vgl. Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 3 f., 39. 339 Vgl. inkl. der Zitate HB, 12. Cont. S. 983. 340 Vgl. Nørgaard, Mission, S. 274, En. 34.

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Hinreise sich fleißig zu solchen Leuten halten, welche bereits zuvor in Ost=Indien gewesen, und der Sprache des Landes etwas kundig sind, um solcher gestalt diese Sprache einiger massen von selbigen zu lernen.“341 Hier wird die große Bedeutung, wenn nicht gar Abhängigkeit vor allem von der sprachlichen Kommunikation für die Mission deutlich,342 konnten doch bei unzulänglicher Verständigung verhängnisvolle oder zumindest kontraproduktive kulturelle Missverständnisse entstehen, die im für die Missionare schlimmsten Falle bis zu Unruhen und einem Missionsverbot, im harmloseren Falle zu Belustigung beim Gegenüber und damit eventuell zum missionarischen Misserfolg führen konnten. Trotzdem brachte man – wie gezeigt – auch aus zeitlichen Gründen den Missionaren nicht schon in Europa systematisch die nötigen Sprachen bei. Zugleich dürfte dahinter schlicht lutherische Tradition gesteckt haben. Wie die genannten Beispiele belegen, ging es jedoch nicht allein um die einheimischen Sprachen, deren Kenntnis unverzichtbar war für das unmittelbare Missionieren und die Übersetzung christlicher Schriften. Europäische Sprachen wie Deutsch, Englisch, Portugiesisch oder Niederländisch und Dänisch waren in den ‚multinationalen‘ kolonialen Kontaktzonen von genauso großer Bedeutung für die Missionare – so in Verhandlungen mit den jeweiligen Obrigkeiten, beim Gewinnen von Unterstützern, beim Abhalten von Gottesdiensten an unterschiedlichen Orten, angepasst an das jeweilige Publikum oder um sich schlicht die eigenen Lebensumstände zu erleichtern und Informationsdefizite auszugleichen. Je früher eine Sprache erlernt wurde, desto besser für ein einigermaßen effektives Missionieren wie auch für den missionarischen Alltag. Das zuweilen an Bord erfolgende gemeinschaftliche Lesen der Missionsberichte bot zusätzliche Orientierung.343 Bereits in den frühen Reisetagebüchern der Missionare spielten die Umweltbedingungen in Diskurs und Praxis eine zentrale Rolle. Sehr genau notierten schon die ersten Missionare an Bord die Windverhältnisse und deren Auswirkungen auf das Schiff,344 was einerseits auf gute Kontakte zu Kapitän345 und Führungsmannschaft (die

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HB, 2. Cont., S. 379, (hier abgedruckt: Instruktion aus dem Jahre 1724). Vgl. Royal Appointment and Instructions to the First Missionaries, Appendix I, 1, in: Andreas Gross, Y. Vincent Kumaradoss and Heike Liebau (Hg.): Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India, Vol. III: Communication between India and Europe, Halle 2006, S. 1337–1339 sowie den Kommentar von Anders Nørgaard, The Mission Instruction, ebda, S. 1277–1281. Derartiges galt selbstverständlich nicht allein für die DEHM oder die Herrnhuter in Indien, sondern auch in anderen Kontexten. Vgl. etwa Häberlein, Kulturelle Vermittler, S. 181–183. Vgl. nur HB, 48. Cont. S. 1602. Systematisch in Tabellenform und doch mit Verwunderung über die zeitgleich „gantz contrair“ gehenden Winde (S. 602) gar bei Christian Friedrich Pressier unter dem Titel: Die Veraenderung der Winde zur See / angemerckt auf einer Reise nach Ost-Indien Anno 1725, in HB, 21. Cont. S. 595–602. Vgl. das Zitat des Halleschen Missionars Schöllkopf zu den Auskünften des Kapitäns auf seiner Überfahrt 1776/77 bei Wolfgang Schöllkopf: „Gott eilet mit dir aus Würt[t]emberg, aber wohin?“ Johann Jakob Schöllkopf (1748–1777) als Missionar auf dem Weg nach Indien, in: Christian Peters,

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„Seeverständigen“, wie Gericke sie nannte, insbesondere die Steuerleute meinend346) und damit einhergehende Informationen verweist, zum anderen auf die gute Ausbildung der Missionare der DEHM und ihr traditionell begründetes Interesse an der Naturgeschichte bzw. deren Stellenwert in der schulischen und theologischen Ausbildung. Schon der Begründer der Franckeschen Stiftungen August Hermann Francke (1663–1727) hatte in einer Schrift über die Pädagogik für naturwissenschaftlichen Unterricht plädiert, der „mit Hydrostatik, Aerometrie und Hydrologie zu beginnen“ habe – nach Manfred Büttner „also mit Fächern, die noch bis heute die Grundlage für Meteorologie und Klimatologie bilden.“347 Bevor der Hallesche Missionar Johann Wilhelm Gerlach (1738–1791), seit 1767 Informator am Pädagogium in Halle, 1776 nach Tranquebar (und einige Jahre später nach Kalkutta) fuhr, hatte er sich in Kopenhagen verschiedenen theologischen Prüfungen zu unterziehen. Er traf dort jedoch nicht allein Teile des Klerus, des Adels und der Verwaltung, sondern auch andere bedeutende Persönlichkeiten wie zum Beispiel Christian Gottlieb Kratzenstein (1723–1795), der in Kopenhagen eine Professur für Experimentalphysik innehatte, sich aber auch vielfältig mit Medizin und der Naturgeschichte beschäftigte.348 Der in Halle ausgebildete, promovierte und an der dortigen Universität als Dozent tätig gewesene Kratzenstein schenkte dem Missionar 1775 zu dessen freudiger Überraschung einen Quadranten, einen Kompass, eine Seekarte sowie eine von ihm eigenhändig zusammengestellte Anleitung zur „Steuer=Kunst“.349 Insofern war Gerlach, der sich in Indien insbesondere um das missionarische Schulwesen kümmern sollte und wohl hauptsächlich für diesen Zweck die Geschenke von Kratzenstein erhielt, gut vorbereitet auf seine Reise und konnte überdies mit diesen Instrumenten eigene naturgeschichtliche Beobachtungen anstellen, ohne hierbei alleine auf die Informationen der Schiffsmannschaft angewiesen zu sein.350

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Jürgen Kampmann (Hrsg.): Fides et Pietas. Festschrift Martin Brecht zum 70. Geburtstag, Münster 2003, S. 119–137, hier: S. 134. Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 62. Manfred Büttner: Theologie und Klimatologie im 18. Jahrhundert, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 6 (1964), S. 154–192, hier: S. 181. Vgl. zu ihm und seiner Bedeutung ausführlich Susan Splinter: Zwischen Nützlichkeit und Nachahmung. Eine Biographie des Gelehrten Christian Gottlob Kratzenstein (1723–1795), Frankfurt u. a. 2007 sowie Wolf D. Kühnelt: Kratzenstein, Christian Gottlieb, in: Neue Deutsche Biographie 12 (1979), S. 677 f. Vgl. allgemein zu den Kontakten und Netzwerken der in Kopenhagen verweilenden Missionare Ruhland, Pietistische Konkurrenz, S. 294 f. Vgl. inkl. des Zitats NHB, 12. St. S. 308. Bei dem Buch dürfte es sich um sein Werk Theoriam Cursus Oceani. Eumque Practice Determinandi Methodum Exponit […], Kopenhagen 1766, gehandelt haben. Später tat Kratzenstein sich mit dem Angebot hervor, eine Mineraliensammlung für die neue Schule nach Tranquebar zu senden. Vgl. „Ueber die Anlegung einer Schule für Sprachen und Wissenschaften in Ostindien“ ( Johann Wilhelm Gerlach), 20.02.1778, AFSt/M 1 B 67: 24. Kontakte zu ihm blieben also genauso bestehen wie Kratzensteins schulisches Engagement.

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Vor allem waren Dauer, sicheres Gelingen und Komfort der Reisen stets entscheidend vom Wetter abhängig, das geradezu eine existenzielle Bedeutung für Besatzung wie Passagiere besaß. Es konnte die Schiffspassage zu einer von Ängsten und Stress geprägten Extremsituation machen und war schon deshalb von besonderem Interesse: Auf seiner Überfahrt nach Indien berichtete beispielsweise der Hallesche Missionar Olaf Maderup im Juni 1742 vom Wassermangel an Bord. Als schließlich der ersehnte Regen kam, begannen die Matrosen Wasser zu schöpfen und es bei den Missionaren gegen Wein oder Branntwein einzutauschen.351 Der spätere Kollege Christian Wilhelm Gericke verwies 1766 auf die schier unerträgliche Hitze während seiner Überfahrt, die einen seiner Mitreisenden „dürre und kraftlos“ gemacht und dazu gebracht habe, sich „wegen des starken Schweisses manche Nacht viermal und öfter“ umzuziehen, so dass Gericke gar glaubte, „die Hitze würde ihn töten“.352 Häufig sind auch die Schilderungen von Stürmen und damit einhergehenden Risiken bis hin zu Schiffbrüchen, wie im Diarium des Herrnhuters Schumann von 1785, der von der schwedischen Küste berichtete: „Wir bekamen aber heute noch mehr Gelegenheit, unserm guten Herrn für seine uns bisher bewiesene gnädige Bewahrung zu danken, als wir hörten, daß alle die Schiffe, 17 an der Zahl, […] in dem Sturm am 26ten […] verunglückt sind“.353 Später auf dieser Reise gab es noch einen schlimmeren Sturm, der das Schiff massiv beschädigte und fast für einen Bruch des Hauptmastes sorgte.354 Auf Ziegenbalgs Indienreise brach während tagelanger Stürme tatsächlich „der große Mastbaum auf drei Stücken […], welchem der forderste in wenig Tagen nachfolgte.“355 Angesichts solcher Gefahren auf der Reise darf die zum Teil minutiöse Beobachtung des Wetters also nicht verwundern, zumal der Leser spannend unterhalten werden wollte, belehrt wurde und es manchmal schlicht nichts anderes zu berichten gab als auch weniger spektakuläre Wetterereignisse. So mancher Missionar führte seine Beobachtungen in Indien noch fort. Wie geschildert, glaubte man so das Wirken Gottes und damit auch seine eigene Frömmigkeit beweisen zu können.356 351 352

Vgl. HB, 55. Cont., S. 1237, Eintrag vom 6. Juni 1742. Vgl. Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise von London nach Ceylon und Cudelur in den Jahren 1766 und 1767, Halle 1773, S. 40. 353 Schumann, Ostindien, S. 48. 354 Vgl. Schumann, Ostindien, S. 52 f. 355 AB, S. 38, Ziegenbalg an ?, 25.09.1706. 356 Vgl. Johann Ernst Geister, Wind- und Wetterbeobachtungen von 1732–1737, AFSt/M 2 B 2: 2 sowie die anonym verfassten „Meteorologische Observationen vom Jahr 1789“, AFSt/M 2 B 2: 14a; „Vergleichungs-Tafel“ mit Luftdruckangaben für die Jahre 1789–1803, AFSt/M 2 B 2: 9 und 11 (allerdings ohne Daten für die Jahre 1792–1803); „Vergleichungs-Tafel“ mit Luftdruckangaben für die Jahre 1789–1804, AFSt/M 2 B 2: 10 und 8 (ohne Eintragungen für die Jahre 1792–1804); weitere Tabellen zu den Jahren 1789–1791 finden sich unter der Signatur AFSt/M 2 B 2. Sie wurden allesamt nicht in die Halleschen Missionsberichte aufgenommen. Die Angaben dieser Jahre sind systematischer gehalten als diejenigen Geisters. Vgl. zudem die Veröffentlichung der Beobachtungen der Missionare Pressier und Walther (beide ebenfalls ehemalige Informatoren am Pädagogium in Halle) in „Einige Witterungsbeobachtungen aus Ostindien“, in: Neues Hamburgisches Magazin 16.

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Als Zwischenstopp der Indienfahrer diente oftmals das Kap der Guten Hoffnung. Kapstadt war zu dieser Zeit ganz ähnlich wie die Kolonialstützpunkte Indiens mehrheitlich von den einen sozialen Aufstieg suchenden Soldaten und Seeleuten bevölkert,357 „drawn from the lowest ranks of European society“, die dort oftmals ebenfalls unter schweren Lebensumständen lebten, und häufig mit Alkohol in Berührung kamen oder bereits gekommen waren.358 Über ihren Kollegen Früchtenicht erreichten die Missionare in Tranquebar ebenfalls entsprechende Nachrichten aus der berüchtigten Stadt. So warf der Missionar John Früchtenicht später schriftlich vor, sich während seines Abschiedsessens in Kapstadt so sehr betrunken zu haben, dass er habe nach Hause getragen werden müssen.359 Obgleich Früchtenicht den Klagen über sein Verhalten in Kapstadt wie auf der weiteren Seereise vehement entgegentrat und sich als verleumdet darstellte, so waren Kontakte zu den genannten Bevölkerungsgruppen wie auch ein leichter Zugang zu alkoholischen Getränken in Kapstadt und in der Enge des Schiffes doch sehr wahrscheinlich, wenn nicht gar unumgänglich.360 Dies war den Missionaren bewusst, die die Gerüchte über Früchtenicht offensichtlich für einigermaßen glaubwürdig hielten. Früchtenicht dürfte nicht zuletzt aufgrund der vielen Hinweise Schulzes von den Zweifeln des Direktors und anderer an seiner Person gewusst haben. Wohl hauptsächlich deshalb schrieb er einen Brief an das Missionskollegium in Kopenhagen, in dem er besonders betonte, dass er bei den Niederländern in Kapstadt sieben Mal gepredigt, 35 Personen konfirmiert, „mehrere getauft und das heilige Abendmahl ausgetheilt“ und nun dort das Angebot einer Pastorenstelle erhalten habe, da der eigentliche Inhaber gestorben sei. Allein „um seiner Bestimmung“ in Indien „zu folgen“, habe er diese „ansehnliche Offerte“ jedoch ausgeschlagen.361 Mit dieser Aussage verwies er einerseits auf seine Fähigkeiten, andererseits auf seinen Fleiß und sein besonderes Engagement für die Mission. Zugleich wies er indirekt die gleichsam noch immer über ihm schwebenden ‚Karrierevorwürfe‘ entschieden von sich.

Bd., 91. St. (1775), S. 284–288. Dazu auch Karsten Hommel: Naturwissenschaftliche Forschungen, in: Heike Liebau (Hg.): Geliebtes Europa – Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission. Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 7. Mai – 3. Oktober 2006, Halle 2006, S. 163–179, hier: S. 167. 357 Vgl. zu Indien, der dortigen Realität und der schwierigen sozialen Situation in der Heimat als Reisemotivationen für bestimmte europäische Bevölkerungsgruppen Mann, Indien ist eine Karriere, S. 289. 358 Vgl. Nigel Worden u. a.: Cape Town. The Making of a City. An Illustrated Social History, Hilversum 1998, 49–70, zu den schwierigen Lebensumständen der Soldaten und Seeleute insbesondere S. 49–55, 51 (Zitat), 78 f. 359 Vgl. John an Früchtenicht, 04.10.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808. 360 Vgl. Früchtenicht an Missionare, 09.10.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808. 361 Gude über den Brief von Früchtenicht an Knapp, 05.11.1799, AFSt/M 4 E 5: 57. Vgl. zu Früchtenicht in Kapstadt Delfs, ‚What shall become‘, S. 73.

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Wie andere Missionare vielfach vor und nach ihm äußerte sich der Hallesche Missionar Gericke bereits während seiner Indienfahrt 1766 recht skeptisch über das Verhalten der Besatzung seines Schiffes, deren rauen Umgang untereinander oder ihm gegenüber, und die anderen europäischen Passagiere an Bord.362 Seine Folgerung daraus: „In Absicht der Gemüthsart meiner Gefährten hielt ich für gut, so wenig Gemeinschaft mit ihnen zu haben als möglich.“363 Deshalb versuchte Gericke morgens schon vor seinen „Gefährten“ auf den Beinen zu sein und am Abend erst nach ihnen zu Bett zu gehen, um seinen „Seelenzustand“ zu erhalten.364 Dieses Vorgehen ist sicherlich auf die erhöhte Empfindsamkeit eines eher genussfeindlichen Pietisten mit eigenen Moralvorstellungen und dessen niedrigere Toleranzschwelle sowie auf allgemein unter Europäern höherer Schichten verbreitete Abgrenzungsdiskurse zurückzuführen, die Gericke überdies dem Leser gegenüber pädagogisch zum Ausdruck bringen wollte. Daneben verweist es auf die Realitäten an Bord, die beispielsweise von Provokationen dem Missionar gegenüber geprägt waren. Insofern bestanden Gerickes Vorbehalte nicht gänzlich zu Unrecht, wie sich später (und genauso in anderen Berichten) zeigen sollte, wurden er und zu seiner besonderen Empörung noch dazu einige Schiffsjungen doch mit dem Gesang aus einem Buch konfrontiert, das die „schändlichsten Lieder“ enthielt und spöttisch gefragt, ob er nicht auch dergleichen Bücher hätte, die gerade vor einem Landgang gut zu lesen seien. Während ihn einer seiner „Gefährten“ noch verteidigt habe, habe ein anderer mit provozierendem Gelächter gesagt: „In der Bibel kommt dergleichen auch vor.“ Gericke selbst habe nur den Kopf geschüttelt und das Buch sei nie wieder gesehen worden. Dennoch zog er seine Konsequenzen aus dem Vorfall: „Ich war aber hierüber den ganzen Tag sehr betrübt, und nahm mir vor, nie zu Tische zu gehen, ohne vorher zu GOtt zu beten, unsere Gesellschaft vor dergleichen Verunreinigung zu bewahren.“365 Gericke sprach in seinem Reisebericht im Gegensatz zu Ziegenbalg weder von den Christen und ihrem Fehlverhalten noch von den Europäern an Bord, sondern zumeist speziell von seinen „Gefährten“. In diesem Falle ging es nicht um eine Vorbildfunktion gegenüber ‚Heiden‘, sondern vielmehr um die individuelle Störung seiner pietistischen Frömmigkeit und seiner bürgerlichen Werte

362 Für andere Beispiele vgl. den Bericht des Missionars Diemer aus dem Jahre 1774: NHB, 12. St. S. 317, 319 oder den des Herrnhuters Grasmann am 26. Februar 1792, Diarien von Bengalen 1776– 92, UAH R 15 Tb 3. Vgl. Diarium der Reise der Brüder Grasmann u. Schmidt nach Bengalen, UAH R 15 Ta 10 g, Eintrag vom 14. September 1776: „Abends ging es wieder sehr lustig auf dem Schiff zu mit Sauffen u. tanzen, so daß uns auch 2 die sehr betrunken waren, u in unserer Nähe logirten, eine sehr unruhige Nacht machten, so daß wir erst um 4 Uhr zu Bette gehen konten.“ 363 Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 7. 364 Vgl. Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 7 f. (inkl. der Zitate). 365 Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 19 f.

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durch ein solches Verhalten.366 Frömmigkeit diente einmal mehr als das pietistische „Unterscheidungsmerkmal von den ‚Kindern der Welt‘“.367 Wie stark aber auch Stereotype seine Wahrnehmung prägten, zeigt Gerickes Verwunderung in einem anderen Fall: Denn der Hallenser Missionar pflegte guten Kontakt zum englischen Steuermann seines Schiffes, ein gewisser „Mons. Allen“, mit dem er regelmäßig musizierte. Dessen „Wesen ist auch gar nicht so“, betonte Gericke beinahe rechtfertigend, zumindest jedoch erstaunt, „wie es den andern Seeleuten eigen ist.“368 Deshalb bezeichnete der Missionar ihn sogar ausdrücklich als „Freund“. Wenn Freundschaft als „freiwillige Assoziation Gleicher oder Gleichgesinnter“369 definiert werden kann, überrascht diese Einordnung umso mehr, denn wie Gerickes bisherige Anmerkungen über die Seeleute zeigen, ging er bei ihnen eigentlich nicht von gesellschaftlicher Gleichheit mit ihm aus. Rollentheoretisch gesprochen entsprach der Steuermann in seinem Handeln so gar nicht den Verhaltens- oder Rollenerwartungen Gerickes, die der Missionar von einem Inhaber der sozialen Position eines Seemannes besaß.370 Gerickes Erklärung hierfür lautete: „Er [Allen, TD] scheinet etwas von der Gnade erfahren zu haben.“371 Hierbei spielt sicherlich die im Pietismus häufig vertretene Konzeption einer gemeinsamen ‚Gottesfreundschaft‘, also einer besonderen mystischen Verbindung zu Gott, eine Rolle, die nicht unbedingt weltliche Gleichheit oder Ebenbürtigkeit voraussetzte und doch Unterschiede zu einem gewissen Maße einebnen konnte. Oder wie Ulrike Gleixner zum pietistischen Verhältnis von Frau und Mann ausführt: „Macht, Ungleichheit und Freundschaft werden harmonisiert.“372 Es blieb also durchaus zuweilen Raum für Differenzierungen, die jedoch auch bei Gericke mit Verwunderung und dem traditionell negativen Wahrnehmungsstereotyp ‚Seeleute‘ verbunden wurden.373

366 Zur ausdrücklichen Betonung von Bürgerlichkeit in Bezug auf seinen Wunsch nach neuen Missionarskandidaten vgl. John an Niemeyer, 12.03.1781, AFSt/M 1 B 72: 36. In dieser Zeit wurden die Missionsberichte zunehmend vom Bürgertum gelesen, während im frühen 18. Jahrhundert noch der Adel als Leserschaft dominierte. Vgl. Ulrike Gleixner, Expansive Frömmigkeit. Das hallische Netzwerk der Indienmission im 18. Jahrhundert, in: Heike Liebau u. a. (Hg.): Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert, Halle 2010, S. 57–67, hier: S. 64 f. 367 Fischer, Fleischkonsum, S. 183. 368 Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 176. 369 Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815), Göttingen 1996, S. 305. 370 Zu den theoretischen Voraussetzungen vgl. Burkart, Kommunikationswissenschaft, S. 150–152. 371 Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 176. 372 Vgl. inkl. des Zitats Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Göttingen 2005, S. 80. 373 Vgl. zu diesen Bildern Kverndal, Seamen’s Missions, S. 42–51, der aber auch auf positive Zuschreibungen wie Großzügigkeit, Mut, Loyalität und Ehrlichkeit hinweist (S. 44 f.).

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Ausgangspunkt Europa und der pietistisch-religiöse Raum

Wie ein anderes Beispiel noch anschaulicher zeigt, ging es dabei insgesamt weniger um das konkrete Verhalten dieser Seeleute, als vielmehr um die verinnerlichte, selbstverständlich gewordene Erwartungshaltung an die eigentliche Gruppen- bzw. Schichtenzugehörigkeit, also die soziale Position, und um gesellschaftliche Inklusion und Exklusion, kurzum die Abgrenzung nach ‚unten‘.374 So schrieb der Sekretär des Missionskollegiums in Kopenhagen Jacob Gude (1754–1810) 1797 an den Direktor des Waisenhauses in Halle August Hermann Niemeyer (1754–1828) in Bezug auf den „2ten Tisch“ an Bord, die dort speisenden „Bothsmann, Zimmermann u. s. w.“ könnten zwar durchaus „brave Leute seyn“, für die „gesitteten Menschen“ schicke sich deren Gesellschaft jedoch nicht. Völlig inakzeptabel war für beide freilich der Tisch der einfachen Matrosen.375 Eine solche Einstellung wurde etwa im Konflikt zwischen der mehrheitlich von Laien getragenen Mission der Herrnhuter, deren Gemeine hauptsächlich aus Handwerkern bestand, und der (zumeist) theologisch-studierten DEHM deutlich, wie im Kapitel zur Konkurrenz zwischen einzelnen Missionarsgruppierungen noch zu zeigen sein wird (Kapitel III.1.2). Eine wie im Pietismus angenommene Gleichheit der Gläubigen vor Gott musste jedenfalls nicht unbedingt deckungsgleich mit gesellschaftlicher Egalität sein. Dass sich jedoch auch Missionare an Bord nicht immer konform zu den eigenen pietistischen und anderen sozialen Normen verhielten, belegt einmal mehr das Beispiel des Missionars Früchtenicht, der mit dem dänischen, von Kapitän Schulz geleiteten Schiff Norge von Kopenhagen aus nach Bengalen reisen sollte. Von dort – so jedenfalls der schon vor der Abfahrt feststehende Plan – sollten er und sein Begleiter Gilbert nach einem viermonatigen Aufenthalt mit der Norge weiter nach Tranquebar segeln.376 Obwohl sich auch weitere Passagiere an Bord befanden, sind es gerade Gilbert und Früchtenicht, die in den Schiffsprotokollen noch mehrfach Erwähnung finden. Neben einer Trauerpredigt für einen verstorbenen Matrosen durch Früchtenicht ging es in der Hauptsache darum, dass sich später beide – auf sehr ausführliche Weise und in gegenseitiger Unterstützung, wie die Abschriften der Briefe in den Protokollen belegen – weigerten, ihre Rechnungen für eine längere Überfahrt, die Schiffskost und den Früchtenicht begleitenden „schwarzen Diener“377 (im dänischen Original „Sorte

374 Vgl. zum theoretischen Fundament Burkart, Kommunikationswissenschaft, S. 152. 375 Vgl. inkl. der Zitate Gude an Niemeyer, 30.12.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1765–1854, F 34, Ostindisk missions brevbog, S. 160 f. 376 Vgl. RAK Asiatisk Kompagni, Afdelingen i København, 1733–1820, Skibsprotokol for Skibe til Indien, „Norge“ 1798 Maj 10–1799 Oktober 7, Eintrag vom 23.05.1798. Dort wird Früchtenicht unter den „kongelige Passageren“ geführt. 377 RAK Asiatisk Kompagni, Afdelingen i København, 1733–1820, Skibsprotokol for Skibe til Indien, „Norge“ 1798 Maj 10–1799 Oktober 7, Einträge vom 13.02.1799 und vom 23.05.1798, hier die Übersetzung aus dem dänischen Original.

Die Indienreise: Devianz im ‚Zwischenraum‘

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Serviteur“ oder „sorte Tiener“) zu bezahlen.378 Sie begründeten dies unter anderem damit, dass sie ja – obwohl dies von vornherein ausdrücklich so ausgemacht war – zunächst nach Bengalen und nicht direkt nach Tranquebar kommen sollten. Für die Weiterfahrt wollten sie aber die Norge nicht mehr nutzen. Stattdessen verwiesen sie auf das Missionskollegium zur Kostenbegleichung.379 Und zumindest Früchtenicht verwendete später, sehr zum Missfallen seiner Kollegen, die teurere Möglichkeit über Land nach Tranquebar zu reisen. Zu diesen Vorwürfen eines übermäßigen Luxus bzw. der Geldverschwendung kam jedoch auch die noch schwerwiegendere Vorhaltung, sich auch an Bord der Norge zusammen mit einigen Seeleuten dem Alkohol zugewandt zu haben.380

378 Vgl. RAK Asiatisk Kompagni, Afdelingen i København, 1733–1820, Skibsprotokol for Skibe til Indien, „Norge“ 1798 Maj 10–1799 Oktober 7, Eintrag vom 10.06.1798 (Trauerpredigt). Vgl. RAK Asiatisk Kompagni, Afdelingen i København, 1733–1820, Skibsprotokol for Skibe til Indien, „Norge“ 1798 Maj 10–1799 Oktober 7, Eintrag vom 16.03.1799. Hier übernahm Früchtenicht zusammen mit dem sich ebenfalls an Bord befindlichen Kopisten Johann Friedrich Wilhelm von Jessen die Beglaubigung des Schreibens von Gilbert. Zu Jessen vgl. Kay Larsens Dansk Ostindiske Personalia og Data in der Dansk Demografisk Database auf der Internetseite ddd.dda.dk (letzter Zugriff am 14.02.2012). 379 Vgl. RAK Asiatisk Kompagni, Afdelingen i København, 1733–1820, Skibsprotokol for Skibe til Indien, „Norge“ 1798 Maj 10–1799 Oktober 7, Einträge vom 13.02., 27.02., 16.03.1799. Die Kosten sind später nach einigem Hinundher vom Missionskollegium übernommen worden. Vgl. Gude an Bach, 08.07.1800, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1789–1835: Ostindisk missionsbrevbog, S. 225. 380 Vgl. John an Früchtenicht, 04.10.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808 sowie Cämmerer an Gude, 22.06.1799, zitierend aus den nicht überlieferten Briefen Ewaldt an Missionare, 26.04.1799 und 03.06.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808.

III. Einflussfaktoren in Indien: Soziale Umwelt und Norm im kolonialen Raum

III.1 Der kolonialgesellschaftliche Raum Das Verhältnis der Missionare gegenüber anderen Europäern ist auch abseits von der „schwimmenden Klassengesellschaft“381 der Schiffspassage in der kolonialen Gesellschaft als durchaus ambivalent zu bezeichnen und verweist auf das grundsätzliche, ebenso in Europa vorherrschende pietistische Dilemma im Spannungsfeld von Innerlichkeit, Weltentsagung und „Arrangement mit dem Weltmäßigen“382 bzw. die Nutzung desselben. Schon bei Bartholomäus Ziegenbalg findet sich unter Hinweis auf die aus Missionarsperspektive mangelnde Vorbildfunktion gegenüber den Einheimischen eine starke Kritik an der Lebensweise der Europäer in Indien: „Wir haben offtmals gewünschet, daß wir an einem solchen Orte unter diesen Heyden uns aufhalten, und das Evangelium verkündigen könten, alwo niemals Christen gewesen, und wohin niemals das Gerücht vom ärgerlichen Leben der Christen hinkommen wäre“. Die Europäer, Ziegenbalg nennt sie hier durchweg Christen, weil sie vornehmlich als solche von den Einheimischen wahrgenommen wurden, seien schlechte „Exempel“ und müssten ebenso bekehrt werden wie die „Heiden“, um letztere besser bekehren zu können.383 Die älteren Missionsberichte von 1717 führten demgemäß einen Einheimischen als Kronzeugen an, den man angeblich zu den größten Sünden der Europäer befragt hatte.

381

Osterhammel, Entzauberung, S. 95. Passender wäre möglicherweise für diese Zeit noch „Ständegesellschaft“, weil „Klasse“ stärker ökonomisch geprägt ist als der weitgehend von „Ehre“ bestimmte „Stand“, wenngleich auch in letzterem der Besitz eine Rolle spielte und man sich etwa seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zeitlich in einer Übergangsphase befand. Vgl. die Ausführungen bei Paul Münch: Lebensformen in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1998, S. 66 f. Vgl. zum Übergangscharakter dieser Phase: Hans-Werner Hahn, Dieter Hein: Bürgerliche Werte um 1800. Zur Einführung, in: Dies. (Hg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Köln 2005, S. 9–30, hier: S. 17 f. 382 Scharfe, Religion, S. 50. 383 Vgl. inkl. der Zitate HB, 8. Cont. S. 640.

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Seine Antwort war ernüchternd: Die Europäer seien ganz allgemein, hier wurde nicht differenziert, der Völlerei zugeneigt, sie würden huren, stark trinken, Glücksspiel betreiben, dabei in Streit geraten, sich schlagen und sich sogar gegenseitig töten. Sie würden auf ihren Gott Meineide schwören, Kühe töten und den Pilgern, Reisenden und Armen keine Almosen geben.384 Während die letztgenannten Aspekte vornehmlich die einheimischen religiösen Gepflogenheiten betrafen, stehen die erstgenannten Punkte darüber hinaus deutlich in Widerspruch zu den im Christentum und speziell im Pietismus bestehenden Geboten. Und gerade der Pietismus nahm ja für sich und gegenüber anderen besonders hochstehende moralisch-religiöse Maßstäbe in Anspruch. Die Europäer würden demnach ihren eigenen Geboten, die sie anderen predigten, nicht folgen. Warum sollte dann ein Einheimischer zum Christentum übertreten? Die Antwort brachte die Missionare als Europäer und Christen somit gegenüber den Einheimischen in ein großes Dilemma, das in der Lage war, die gesamte Mission zu verhindern. Solch ein Bericht betonte freilich gegenüber dem Leser und dem potentiellen Spender die Notwendigkeit von der zusätzlichen ‚Missionierung‘ der Europäer, wenn nicht gar den Schutz der als ‚hilflos‘ dargestellten Einheimischen vor den Europäern durch die Mission.385 Die Herrnhuter warnten ebenfalls mehrfach ganz allgemein davor, in Indien in zu engen Kontakt zu „Europäern“386 zu treten, „denn ein Geist, der gewiß nicht von Gott ist, regiert die meisten Europaer in diesem Lande.“ Hierin bestand offenbar auch eine Versuchung, denn für einen jeden, „der sich seiner Sache nicht gewiß ist“, sei es in Bengalen gefährlich.387 Diese Einstellung darf nicht überraschen, schilderten die Tagebücher aus Bengalen doch mehrfach unliebsame Erfahrungen mit zumeist betrunkenen ‚weißen Subalternen‘, im Falle der Herrnhuter insbesondere mit Seeleuten und Soldaten. So „kam“ etwa am 4. Januar 1789 gegen vier Uhr „ein besoffener Engl. Matrose vor uns. Thor, rief man solte aufmachen, u. damnede ganz fürchterl. […] Endl. nach etwa einer halben Stunde ging er weg. Wir konnten aber vor Furcht nicht so bald wieder einschlafen.“ Ähnliches geschah offenbar am 18. März desselben Jahres. Ein wenig kryptischer fallen die Schilderungen Johannes Grasmanns über die Vorfälle während eines großen Essens, dem er am 7. Januar 1792 beiwohnte, aus: „Ich wurde durch e. gewißen Umstand der mich nach dem Essen betraf, sehr aufgebracht, so daß ich resolvirte nicht mehr in gr. Company zu gehn.“ Am 10. Februar 1786 berichteten die Tagebücher, dass einige Tage zuvor eine wohl von englischen Matrosen verletzte Frau zum Missionar Voigt gebracht worden war.388

384 385 386 387 388

Vgl. HB, 11. Cont. S. 942–945. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 63. Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 69. Grasmann an Reichel, 05.11.1789, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. Grasmann an Reichel, 16.12.1788, UAH R 15 Tb 9 Nr. 57. Vgl. inkl. der Zitate die Diarien von Bengalen 1776–92, UAH R 15 Tb 3.

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Der in Kalkutta für die DEHM tätige Schwede Kiernander bestätigte den schlechten Ruf der dortigen Europäer, sorgte jedoch zugleich für einige Differenzierungen: Die Europaer von diesem Ort sind übel berufen, das kann ich aber nach der Wahrheit sagen, daß solches mit Unterscheid zu verstehen. Es sind doch hier verschiedene Familien, wo es nicht nur ordentl. zugehet, sondern wo auch ein Verlangen ist nach Gottes Wort; aber daß ist die große Miserie daß die bisherigen Englischen Prediger recht gottlose Leute gewesen und noch solche sind.389

Neben dieser durchaus für den Pietismus charakteristischen Kritik an der Kirche an sich, die es zu reformieren galt, spricht aus diesem Zitat, wie aus anderen Aussagen der Missionare, eine große Skepsis gerade gegenüber den europäischen Unterschichten. III.1.1 Die Einbindung in die koloniale Gesellschaft: soziale Netze Während die Missionare also Kontakte zu Unterschichtseuropäern wie insbesondere Soldaten und Seeleuten eher versuchten zu meiden, vermeldeten vor allem ihre Tagebücher und Briefe nahezu täglich und nicht ohne Stolz ihre freundschaftlichen Kontakte zu den einflussreichen Ober- und Mittelschichten, auf deren Hilfe man schlichtweg angewiesen war und die bis zu einem gewissen Maße Sicherheit und Orientierung bieten konnten.390 Dies scheint bei den zumeist aus niedrigeren sozialen Schichten stammenden handwerklich orientierten Herrnhutern sehr viel ausgeprägter, aber auch weiter gefasst als bei der bürgerlich und studierten DEHM gewesen zu sein. So betonte die DEHM vor allem ihre Kontakte zu den jeweiligen lokalen Gouvernements und zu den Geistlichen, andere europäische Gruppen wurden – abgesehen von den Kapitänen und zuweilen Offizieren – deutlich seltener genannt als bei den Herrnhutern. Bei der Brüdergemeine gehörten zusätzlich Kaufleute, Handwerker, Steuermänner, andere Missionare, Chirurgen und Ärzte dazu, die häufiger als bei der DEHM erwähnt werden und von denen die Missionare ebenfalls oftmals verschiedenste Vorteile zu erwarten hatten.391 Der Herrnhuter Grasmann nennt in seinen Diarien – soweit identifizierbar – beispielsweise oft den Chirurgen Carl Gottlieb Nichterlein, den Reserveassistenten Arnoldus Heinrich Kruse, den Volontär Gerhard Andreas van Deurs oder den Händler Peter West.392 389 Kiernander an Francke, 04.11.1758, AFSt/M 1 B 48: 23. 390 Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 69 und zum Beitrag von sozialen Netzwerken zum ‚Erfolg‘ eines ‚globalen Lebenslaufs‘ Hausberger, Globalgeschichte als Lebensgeschichte(n), S. 18 f. 391 Vgl. zu diesen Vorteilen Krieger, „Brüdergarten“, S. 226 f. 392 Vgl. Diarien von Bengalen 1776–92, UAH R 15 Tb 3. Die Namen werden oft abgekürzt und zumeist ohne Nachnamen genannt. Auch werden die Namen häufig verballhornt. Die genannten Personen konnten online anhand Kay Larsens Dansk Ostindiske Personalia og Data in der Dansk Demografisk Database identifiziert werden. Vgl. die website ddd.dda.dk (letzter Zugriff am 05.12.2012).

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Der von 1773 bis 1782 und wieder 1790 als dänischer Handelsfaktor im indischen Patna tätige Jørgen Berner, eine durchaus einflussreiche Person, bot den Herrnhuter Missionaren an, nachdem der Missionar Carl Friedrich Schmidt (1746–1783) ihn kurz zuvor ärztlich behandelt hatte, doch bei ihm eine Missionsstation aufzubauen.393 Er würde ihnen dazu unentgeltlich ein Grundstück zur Verfügung stellen und zudem Fenster und Türen schenken, da er wisse, „wie elend sichs in einem heißen Lande, in einer Strohhütte wohnen läßt.“394 Das großzügige Angebot mag als Gegenleistung für die ärztliche Hilfe gedient und/oder schlicht auf Sympathie beruht haben, also nicht unbedingt kalkulierend gewesen sein. Sehr wahrscheinlich ist, dass Berner die Herrnhuter als nutzbringende Handwerker oder den studierten Arzt und Chirurgen Schmidt für den Ausbau des Stützpunktes nach Patna holen wollte, was bereits ein Motiv der Handelskompanie für die Ansiedlung der Herrnhuter auf den Nikobaren war.395 Das eigene Seelenheil mag ebenso eine Rolle gespielt haben. Der Einschätzung des Herrnhuters Schmidt nach würde Berner jedenfalls für die Missionare alles in seiner Macht stehende tun.396 Wie auch immer die Motivlage Berners zu bewerten ist, die zur Steigerung der Attraktivität des Standortes mit Geschenken verbundene Offerte zeigt, dass die Missionare gefragt waren und engere Kontakte zur kolonialen Führungselite besaßen. Solcherlei Geschenke sind demnach als Akte der Kommunikation zu verstehen, die symbolisch etwa den Wert des Beschenkten für den Schenkenden ausdrücken können. Noch darüber hinaus können sie die soziale Stellung der Beteiligten aufzeigen:397 Berner erwies sich mit seiner großzügigen Spende als guter Christ, wodurch sich zugleich sein Prestige in der Gesellschaft erhöht haben mag. Das Angebot jedenfalls wurde von den Brüdern sehr positiv bewertet, denn das Grundstück sei, obwohl bei der Faktorei gelegen, ein „einsame[r] Ort“ „entfernt von allen Europäern außer H. Berner mit seiner Familie“. „Die dänische Factory“, so der Missionar Schmidt 1782 weiter, „liegt außen von der Stadt, und hat wenig gemeinschaft mit denen in und bey Patna wohnenden Europäern, deren auch überhaupt wenige sind.“398 Zwischen dem Faktor und den übrigen Europäern wurde hier also deutlich unterschieden, ohne die Gründe dafür jedoch näher auszuführen. Aus Angst vor Unruhen innerhalb der einheimischen Bevölkerung wurde der Missionsstützpunkt

393 Vgl. Römer, Brüdermission, S. 61. Zu Schmidt, der vor seinem Eintritt in die Brüdergemeine in Zürich Anatomie und Chirurgie studiert hatte, vgl. UAH, „Dienerblätter“. Ab 1783 war er im Hospital von Kalkutta tätig. 394 Schmidt an Grasmann, 22.05.1782, UAH R 15 Tb 12 (1782). 395 Vgl. Krieger, „Brüdergarten“. 396 Vgl. Schmidt an Grasmann, 22.05.1782, UAH R 15 Tb 12 (1782). 397 Vgl. zu solchen Zusammenhängen des Gabentausches beispielsweise Holger Schwaiger: Schenken. Entwurf einer sozialen Morphologie aus der Perspektive der Kommunikationstheorie, Konstanz 2011, S. 117–119. 398 Schmidt an Grasmann, 22.05.1782, UAH R 15 Tb 12 (1782). Zur Bedeutung für den dänischen Handel und zu den wenigen Europäern in Patna vgl. Krieger, Kaufleute, S.164 f.

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Patna 1787 endgültig aufgegeben und die Missionare auf Tranquebar und Serampore verteilt.399 Der Herrnhuter Grasmann nannte 1789 in einem Brief jedoch einige Unterscheidungsmerkmale des ersten „CompanysFaktor[s]“ von Serampore zu den übrigen Europäern: „Er ist ein verständiger Mann, der auch so ordentlich lebt, als vielleicht kein anderer Europäer hier, u. ist mein guter Freund.“400 Die guten Kontakte blieben auch später noch bestehen und bezogen nach dem Tode Berners am 8. August 1790 genauso seine Frau ein. So stattete Grasmann Frau Berner noch am 31. Oktober 1790 einen Besuch ab, der bereits am 10. November erwidert wurde. Dies wiederholte sich in den folgenden Jahren noch häufig.401 Vom späteren dänischen Gouverneur Jacob Krefting bekamen die Herrnhuter am 10. Januar 1789 willkommenen Besuch. Er riet dazu, die Ufer am Hugli zu befestigen, die „königl. Caße“ könne Geld beisteuern. Am 23. Januar schaute er sich den Missionsgarten an, ein attraktives Ausflugsziel, denn auch andere ranghohe Besucher wurden in den Diarien verzeichnet, so der niederländische „Commandant von Sinzura“, der französische Gouverneur von Chandanagore François Emmanuel Ernest Dehaies de Montigny (1743–1819) sowie der britische Major Nicholl aus Barrackpore.402 Am 7. Februar waren die Missionare bei Gouverneur Krefting zum Essen eingeladen, wie verschiedentlich bei Friedrich Ludwig Le Fevre und bei „unserm guten Freund“403 Johann Leonhard Fix – beide ihres Zeichens Vorgänger von Krefting. Am 29. Januar 1788 war man beispielsweise Teil einer großen Gesellschaft bei Le Fevre, „darunter“, wie in den Diarien mit Standesbewusstsein ausdrücklich notiert, „der franz. u. holl. Chief “. 1784 hatten sich die Herrnhuter bereits für den Bau eines Hauses beim damaligen dänischen Justizrat Ole Bie 1.000 Rupien geliehen, später, als letzterer Gouverneur geworden war, besuchte man sich gegenseitig häufiger. Schon in der Instruktion für die beiden ersten Herrnhuter in Bengalen Grasmann und Schmidt aus dem Jahre 1776 wurde Bie genannt. Man solle sich „im Notfall“ an ihn „und andere Freunde“ wenden, um sich Notwendiges zu borgen.404 So suchten die Herrnhuter Grasmann und Schmidt schon 1776 auf ihrer Reise nach Bengalen aktiv Kontakt zu dem auf demselben Schiff reisenden Bie und betonten, dass man immer mit ihm gegessen habe. Und schließlich heißt es beim Eintreffen in Serampore am 25. September: „Wir begleiteten […] Bie, nebst einem großen Gefolge bis in sein Haus, u. gratulirten zur glückl. Ankunft.“405

399 400 401 402

Vgl. Römer, Brüdermission, S. 63. Grasmann an Reichel, 05.11.1789, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. Diarien von Bengalen 1776–92, UAH R 15 Tb 3. Vgl. beispielsweise die Diarien von Bengalen 1776–92, UAH R 15 Tb 3, Einträge vom 27. Mai 1790, dem 5. Dezember 1790 (Zitat) und dem 6. Dezember 1790. 403 Grasmann an Reichel, 04.01.1788, UAH R 15 Tb 9 Nr. 55. 404 Pro Memoria, 26.08.1776, UAH R 15 Tb 9 Nr. 3. 405 Diarium der Reise der Brüder Grasmann u. Schmidt nach Bengalen, UAH R 15 Ta 10 g.

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Nicht allein den Herrnhutern sondern auch der baptistischen Mission in Serampore rund um William Carey gegenüber erwies sich Bie später als großer Förderer. So schrieben die Baptisten 1800 ganz ähnlich wie zuvor bereits die Herrnhuter über ihn: „He has again and again declared that he would do every thing in his power to promote our Welfare. We hope the Society will never forget in their Prayers, the Man who shows so much kindness to us.“406 Auf seine Initiative hin wurde in Serampore für die Baptisten eine protestantische Kirche erbaut,407 die wohl nicht zufällig nach St. Olav benannt wurde, „a saint canonized in his native country Norway“. Überdies ist Olav die norwegische Version des Namens Ole.408 Der Gedanke an Memoria, der über den Tod hinausgehenden Erinnerung, dürfte auch im Falle von Bies Unterstützung für die Missionen eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben. Gute Beziehungen der Missionare konnten sich umgekehrt für sie auszahlen, gerade wenn sich beispielsweise der Gouverneur persönlich für sie engagierte. Enttäuscht zeigten sich die Herrnhuter Missionare dann allerdings, als Anfang 1788 zum Antrittsbesuch von General-Gouverneur Lord Cornwallis bei Bie „alle hiesige im Settlement angeseßnen, außer wir, invitiert wurden“, was einmal mehr die große soziale Bedeutung von Einladungen oder Besuchen hervorhebt, die in den Diarien viel Platz einnahmen. Wie etwa der deutsche Indienreisende Imhoff 1769 in seiner Beschreibung der europäischen Lebensweise in Madras hervorhob, erfolgten täglich „Visiten“ zum Tee, „denn ohne solche kann man nicht leben, wie ich sehe.“409 Der Grund für die unterlassene Einladung der Herrnhuter ist wohl in der damals zumindest offiziell vorherrschenden Missionsfeindlichkeit der englischen Kompanie zu sehen.410 Hinzu kommt der Versuch Bies, diesbezügliche diplomatische Verwicklungen zu vermeiden. Ihrem Grundsatz politischer Neutralität, der sich aus ihrer Weltentsagung ergab, folgend, hielt die Enttäuschung auf Seiten der Missionare nicht lange an:411 Die gegenseitigen Besuche jedenfalls wurden nicht beendet, am 5. Januar 1789 schenkten die Herrnhuter Ole Bie „50 getrocknete Kräuter u. e. Kästge, die er sich von mir ausgebeten um nach Europa zu schicken“ und am 29. Januar 1790 war dann das „ganze Settlement“ – dieses Mal inklusive der Missionare – zum Geburtstag des dänischen Königs 406 Missionare an Brethren, 25.04.1800, in: Williams (Hg.), Serampore Letters, S. 50. Auf Seite 49 findet sich ebenda der Abdruck eines Dankesbriefes an Bie. 407 Vgl. PA BMS I, S. 34. 408 Vgl. inkl. des Zitats Flemming Aalund und Simon Rastén: Indo-Danish Heritage Buildings of Serampore. Survey report by the Serampore Initiative of the National Museum of Denmark, Kopenhagen 2010, S. 11. 409 Koch (Hg.), Imhoff, S. 114. 410 Vgl. zusammenfassend etwa Tilmann Frasch: „Deliver their land from error’s chain.“ Mission und Kolonialherrschaft in Indien, 1793–1857, in: Michael Mann (Hg.): Aufgeklärter Geist und evangelische Missionen in Indien, Heidelberg 2008, S. 103–118. Zu Cornwallis Haltung bezüglich der Mission speziell Marshman, Life and Times, I, S. 32 f. 411 Vgl. zur Neutralität Mettele, Weltbürgertum, S. 85. Zu den Kontakten der Herrnhuter zu den Mitgliedern des „Geheimen Rates“ in Tranquebar vgl. Krieger, „Brüdergarten“, S. 226 f.

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auch wieder bei Bie zum Mittagessen eingeladen und traf dort auf die französischen Gouverneure und den niederländischen Amtsinhaber. Bei dem Abendessen zum gleichen Anlass im Jahre 1792 waren zwar Engländer und Niederländer anwesend, wie die Diarien ausdrücklich feststellten, „aber keiner von den fremden Gouverneurs“. Und schließlich hielt es Grasmann kurz vor seiner Heimreise nach Europa für besonders erwähnenswert, dass Ole Bie ihm am 7. Februar 1792 während einer großen Gesellschaft eine glückliche Reise zugetrunken habe.412 1790 antwortete Grasmann überdies Bischof Reichel, der Bie seine Grüße ausrichten ließ, Bie „continuirt in Freundschaft gegen die Brüder, gegen die er jederzeit Respect bezeugt.“413 Trotz ihrer offiziellen politischen Enthaltung war der jeweilige politische Kontext freilich elementar für die Brüdergemeine, ergab sich aus ihm doch der Rahmen der Mission, der seinerseits fördernd, wie im Falle der angeführten dänischen Gouverneure, oder aber eher behindernd, wie im Falle so mancher Engländer, wirken konnte. Die Mission war auf gesellschaftliche Akzeptanz geradezu angewiesen. Schon insofern musste man also Interesse an strategischen Kontakten zur Politik haben und versuchte dort intensive ‚Lobbyarbeit‘ zu betreiben.414 Dazu verwiesen einige Missionare der DEHM aktiv auf ihren Nutzen und die vielen politischen Vorteile in der Erziehung, der Bildung, den Wissenschaften oder der „Aufklärung der Nation“ sowie deren „moralische und physische Glückseligkeit“ für Tranquebar.415 Dass innerhalb der europäischen Führungsgruppen moralisches Fehlverhalten im Sinne pietistischer Wertvorstellungen durchaus nicht selten war, wurde dabei zumeist geflissentlich übersehen. Diesbezüglich konzentrierte man sich eher auf die ‚weißen Subalternen‘ und kritisierte bei der DEHM den dänischen und zunächst missionskritischen Gouverneur Peter Anker zum Beispiel nur sehr vorsichtig und mit der Andeutung, dass er keine Ehefrau aus Europa, sondern eine „Gesellschafterin“ mitgebracht habe.416 Als Beispiel für die Kontakte der DEHM zu den kolonialen Eliten, die sich in dieser Hinsicht ähnlich wie die Herrnhuter Mission verhielt, mag ein Brief der Missionare aus dem Jahre 1779 dienen, der anlässlich der Ankunft des neuen dänischen Gouver-

412 Vgl. für diesen Abschnitt inkl. der Zitate UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. Zu den Geburtstagsfeierlichkeiten zu Ehren des dänischen Königs in Tranquebar vgl. den Brief aus dem Jahre 1790 von Gouverneur Peter Anker: Finn Arnesen (red.): Brevet fra Trankebar : 7.–10. juni 1790 fra Peter Anker til Peder Anker, Oslo 2007, S. 23 f., der eine Vorstellung vom Ablauf solcher Feierlichkeiten bietet: Zum Mittagessen waren 60 bis 70 Personen bei Anker zu Gast, darunter der französische Gouverneur von Karikal, die Residenten von Nagore und Negapatnam sowie zahlreiche englische und französische Offiziere. 413 Grasmann an Reichel, 12.08.1790, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 62, Hervorhebung im Original. 414 Vgl. Mettele, Weltbürgertum, S. 83 f. 415 Vgl. inkl. der Zitate John an Missionskollegium, 23.01.1790, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792. 416 Vgl. inkl. des Zitates John an Missionskollegium, 12.10.1789, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792.

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neurs Peter Hermann Abbestée (1728–1794) in Tranquebar die Wichtigkeit einer guten Beziehung zu dem jeweilig amtierenden Gouverneur einmal mehr bestätigt: Sonst müssen wir den vorigen Herrn Gouverneur Brown [= David Brown (1735–1804), TD] zum Ruhme nachsagen, dass er sich […] allezeit gütig gegen die Mission und Missionarien bewiesen, und wir haben Grund eben dieses von dem jetzigen königl. Gouvernement zu hoffen, da es uns gleich Anfangs Versicherungen und Proben einer geneigten Gesinnung gegen die Mission gegeben. Gott erfülle unsere Wünsche und Hoffnung und lasse die Veränderungen des Gouvernements zum besten seines Werkes gedeihen.417

Die Ankunft Abbestées, die sich deutlich verspätet hatte, so dass man ein Schiffsunglück befürchten musste, wurde offenbar von vielen Bewohnern, darunter die Missionare, sehnlichst erwartet. Dies hatte mit einer gewissen Rechtsunsicherheit zu tun, denn man bemerkte zu einem vorherigen Schiff: „Mit Capitain Bagge ist zwar die dritte Stimme in dem Neuen königlichen Gouvernement, ein Ingenieur und Adjudant angekommen; allein sie haben keine Copien von den königlichen Instruktionen für das Gouvernement mitgebracht; daher alles in Ungewissheit ist.“ So musste Brown als Interims-Gouverneur solange im Amte bleiben, bis entweder das Schiff Abbestées käme oder aber eine neue Order aus Kopenhagen vorläge.418 Auf Seiten der sich nach wie vor als königlich definierenden Missionare dürften die Erinnerungen an verschiedentliche Konflikte, die man in früheren Zeiten mit dem dänischen Gouvernement auszutragen hatte, eine wichtige Rolle gespielt haben. Auch mussten die Missionare ihre Privilegien zumindest zum Teil bei jedem Gouvernementswechsel erneut aushandeln. Als „Preis“ für eine solche, in diesem Falle durch ein fragiles und wenig verlässliches obrigkeitliches Rollengefüge und mangelhafte Kommunikationsmöglichkeiten hervorgerufene Unsicherheit spricht Dietmar Rothermund treffend von „Transaktionskosten“, die über die Schaffung von verlässlichen Institutionen reduzierbar seien.419 Die Kommunikation der Missionare mit Europa und innerhalb Asiens erfolgte zumeist auf dem Wasserweg, manchmal gar über von Schiff zu Schiff weitergegebene Briefe.420 Schon allein deshalb waren die Schiffskapitäne und Kaufleute für die Missionare als Boten überaus wichtig, auch wenn die Weitergabe von Briefen nicht immer von Erfolg gekrönt war.421 Dies zeigt das Beispiel des Herrnhuters Voigt, der

417 418 419 420

Missionare an Freylinghausen, 15.03.1779, AFSt/M 1 B 69: 7. Vgl. inkl. des Zitats Kohlhoff an Freylinghausen, 08.10.1778, AFSt/M 1 B 69 : 3. Vgl. inkl. der Zitate Rothermund, Unsichere Transaktionen, S. 283. Vgl. etwa NHB, 50. St. S. 158 zur umfangreichen Korrespondenz Johns, der 1797 von Tranquebar aus „mit den Schiffen nach Europa, Batavia, Malacca und Cochin viele nothwendige Briefe schreiben mußte.“ 421 Vgl. zur Bedeutung der Schiffe für die Kommunikation der DEHM beispielsweise die verschiedenen Erwähnungen aus dem Jahre 1799/1800 in NHB, 58. St. S. 834 oder S. 851, wo bezüglich des Transportes von Post durch bestimmte Privatkapitäne von „Liebesdienste[n]“ gesprochen wird. Vgl. zu den Herrnhutern mit Beispielen aus Amerika Mettele, Weltbürgertum, S. 135 f.

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dieses Mittel während seiner Reise nach Bengalen mehrfach nutzen wollte, um mit seinen bereits dort sesshaften Brüdern zu kommunizieren. Voigt musste schließlich ernüchtert feststellen: „es ist aber keiner meiner Briefe angekommen biß ich selbst schon bey den brüdern war.“422 Doch auch in anderer Hinsicht scheinen die Kapitäne von herausragender Bedeutung für die europäisch-koloniale Gesellschaft allgemein, aber insbesondere auch für die Missionare gewesen zu sein: „Denn die meisten der Capitains, die hierher kommen“, so der Herrnhuter Grasmann aus Serampore, „sind Freunde der Brüder und würden einen Bruder gern ganz umsonst nach Copenhagen nehmen, ja haben sich manchmal selber dazu offerirt.“423 Der mitgenommene Missionar sollte nach Grasmann dabei – ähnlich wie die zahlreichen mit der Seefahrt assoziierten Schutzheiligen, abergläubischen Rituale und Vorstellungen, die ebenfalls auf die Gefahren auf See und die Ängste der Seeleute verweisen424 – offenbar als eine Art Glücksbringer für eine reibungslose Überfahrt fungieren: „Verschiedene haben sich geäußert, daß sie glauben eine glückliche Fahrt zu bekommen, wenn ein Bruder auf dem Schiff wäre.“425 Der Nutzen war also durchaus wechselseitig. Auf diese Weise sah sich der Herrnhuter in Serampore in der Lage, selbst für seinen trunksüchtigen Kollegen Beck eine kostenlose Heimfahrt nach Kopenhagen zu organisieren, die letzterer dann jedoch ausschlug.426 Ihrer Wichtigkeit für die Missionare entsprechend oft waren Kapitäne zu Gast bei ihnen und umgekehrt,427 darunter unter anderem am 10. Oktober 1781 Kapitän Peter Dahl – ein anpassungsfähiger, nachhaltig reich gewordener und überaus einflussreicher Privathändler, der von 1781 bis 1783 in Indien lebte, und unter anderem für Ole Bie Handel betrieb.428 Häufig genannt wurde zudem der englische, aber über Kopenhagen handelnde Kapitän Robert Holford, der Briefe überbrachte und entgegennahm, den die Brüder häufiger besuchten, was er auch umgekehrt tat, und der die – für die Missionare unerschwinglichen – Reisekosten von Serampore nach Tranquebar für eini422 Reise des Br. Joh Sam Voigt nach Bengalen 1783, UAH R 15 Ta 10o, Eintrag vom 3. Mai 1783. 423 Grasmann an Reichel, 05.11.1789, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. Angebote wie diese kamen offenbar nicht nur von Kapitänen, sondern auch von anderen Personenkreisen und dies unabhängig von der ‚Nationalität‘. So erwähnte Grasmann 1788 diesbezüglich einige Engländer, „gute[n] Freunde[n] von uns“, darunter einen Reverend Johnson. Vgl. inkl. des Zitats Grasmann an Reichel, 04.01.1788, UAH R 15 Tb 9, Nr. 55. Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 69. 424 Zu „Glauben und Aberglauben an Bord“ vgl. Schmitt, Indienfahrer 2, S. 185–195 und Gerhard Fouquet, Gabriel Zeilinger: Katastrophen im Spätmittelalter, Mainz, Darmstadt 2011, S. 48. 425 Grasmann an Reichel, 05.11.1789, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. 426 Vgl. Grasmann an Reichel, 05.02.1790, UAH R 15 Tb 9 Nr. 61. 427 Vgl. stellvertretend für weitere Beispiele das Reise Diarium der Brüder Latrobe, Blaschke u. Staal vom Brüder Garten bei Tranquebar bis Serampore in Bengalen d. 11. Aug. 1781, UAH R 15 Ta 10 l, Einträge vom 09.09.1781, vom 11.09.1781, vom 10.10.1781, vom 27.10.1781 und vom 09.11.1781. 428 Zu ihm und seinem Leben vgl. Finn-Einar Eliassen: Peter Dahl (1747–1789) in the Oldenburg Empire: The Life, Career and Interests of a Norwegian Shipmaster and Merchant in the 1770s and 1780s, in: Eva Heinzelmann u. a. (Hg.): Der dänische Gesamtstaat. Ein unterschätztes Weltreich?, Kiel 2006, S. 51–72, zu seiner Zeit in Serampore vgl. insbesondere S. 55–58.

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ge Brüder übernahm.429 Einen weiteren bedeutenden dänischen Kaufmann, nämlich Christian Wilhelm Duntzfelt (1762–1809), bezeichnete der Herrnhuter Urban gar als „gute[n] Freund“.430 Zu ihm hatte auch der nun in Chinsurah ansässige Kiernander (DEHM) zumindest mehrfachen Briefkontakt, wie ein Brief an die Herrnhuter aus dem Jahre 1792 bezeugt.431 Der Schwede wurde überdies 1770 von einem englischen Kapitän in dessen Testament zu seinem Erben bestimmt.432 Häufige Kontakte bestanden auf Seiten der Brüdergemeine weiterhin zu Jacob Brønnum Scavenius (1749–1820), seines Zeichens Hauptfaktor in Serampore, der den chronisch unter Geldnot leidenden Herrnhuter Missionaren mehrfach aushalf und sogar Geld schenkte.433 Der Hallesche Missionar Gericke seinerseits wurde bereits vor seiner Abreise von London nach Indien von seinem zukünftigen Kapitän besucht. Jener wurde dabei vom dänischen Konsul begleitet, der „verschiedene Jahre in dänischen Diensten zu Tranckenbar gewesen, und alle Herren Missionarien auf der Küste Coromandel kennet“.434 Sein Sohn befand sich später ebenfalls an Bord und erhielt dort – wie erwähnt – von Gericke Sprachunterricht. Es wurden also schon frühzeitig potenziell nützliche Kontakte vermittelt, um die Transaktionskosten zu verringern. Nicht ganz eindeutig ist in diesem Fall allerdings, ob der Kapitän hier aktiv als Vermittler wirkte, der den Kontakt zum Konsul hergestellt, oder ob nicht Letzterer Gericke die persönliche Bekanntschaft zu Ersterem ermöglicht hatte. Neben ihrer Funktion in der Kontaktvermittlung und dem Briefversand waren zudem vor allem auf dem Subkontinent die häufig und weit gereisten Kapitäne als Informanten sehr gefragt, um möglichst zeitnah wertvolle und weniger wertvolle Neuigkeiten, etwa aus anderen Missionsstützpunkten oder aus Europa, zu erfahren,435 die ansonsten nur verspätet und unregelmäßig aus selektiv berichtenden Zeitungen und

429 Vgl. Reise Diarium der Brüder Latrobe, Blaschke u. Staal vom Brüder Garten bei Tranquebar bis Serampore in Bengalen d. 11. Aug. 1781, UAH R 15 Ta 10 l, Einträge vom 27.10.1781 (Besuch, Briefe), 12.11.1781 (Besuche), 02.12.1781 (Kostenübernahme). Vgl. auch den Brief Holford an Grasmann, 04.03.1785, UAH R 15 Tb 12 (1785). Zu Holford und seinen Geschäften, deren Gewinne er über Kopenhagen nach Europa schaffte, weil die EIC dies seit 1770 nicht mehr erlaubte, vgl. ausführlich Benny Christensen: Den Gode Hensigt, in: Handels- og Søfaartsmusset på Kronborg Årbog (1992), S. 6–28. 430 Reise des Br. Urbans von Serampore nach Patna vom 12. Jun. bis 6. Jul. 1784, UAH R 15 Ta 10r. Vgl. ebenso die freundschaftlichen Worte bei Grasmann an Reichel, 12.08.1791, UAH R 15 Tb 9 Nr. 62. Zu Duntzfelt vgl. Aage Rasch: Dansk Ostindien, 1777–1845. Storhedstid og hensygnen, Kopenhagen 1966, S. 113. 431 Vgl. Kiernander an [Grasmann?], 31.01.1792, UAH R 15 Tb 12 (1789). 432 Vgl. NHB, 6. St. S. 775. 433 Vgl. etwa UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 31. März 1790 (Geschenk einer eigentlichen Leihgabe), 2. April 1790 (Zusammen mit Duntzfelt bei Scavenius zum Mittagessen), 4. April 1790 (Besuch durch Scavenius), 6. April 1790 (Mittagessen bei Scavenius) und viel häufiger. Zu Scavenius allgemein vgl. Feldbæk, Justesen, Kolonierne, S. 163. 434 Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 3 f. 435 Vgl. zum Beispiel die zwei Treffen eines Kapitäns mit dem Missionar John: NHB, 63. St. S. 248 f.

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Zeitschriften zu erhalten warenaber auch darüber hinausgingen, wenn es um Gerüchte oder persönliche Informationen ging.436 Wie schon der Aufbau von Institutionen so ist der Erwerb von Kontakten und Informationen, kurzum Kommunikation, ebenfalls dazu geeignet die ‚Kosten‘ unsicherer Transaktionen zu reduzieren.437 Dies wollten freilich auch die Missionare erreichen. Andere Vorteile der Verbindungen zu Kapitänen betrafen zum Beispiel eine komfortablere Unterbringung und bessere Versorgung an Bord: Die Hallenser Klein und Breithaupt bekamen etwa aufgrund ihres guten Verhältnisses zum Kapitän auf ihrer Bataviareise trotz einer eigentlich strengen Rationierung eine Extraportion Wasser und später gar eine eigene Kabine zugeteilt, für die ein gewöhnlicher Passagier ansonsten hätte zahlen müssen.438 Maria Dorothea Ziegenbalg schrieb bereits 1716: „Wir hatten unter allen Passagirern das größte und beste Logiment.“439 Der britische Baptist William Carey, der auf einem dänischen Schiff nach Indien reiste, bemerkte 1793 ebenfalls: „The captain behaved to us with the politest attention, and as we were a large family, he allotted us the best place in the ship, by ordering his own great cabin to be parted into two.“440 Ähnliches galt 1781 für die Herrnhuter Brüder Latrobe, Blaschke und Staal auf ihrer Reise von Tranquebar nach Serampore, die, da der Kapitän seine Familie dabei hatte, in die Kammer des zweiten Steuermannes umzogen, „wo wir allein seyn konnten“.441 In diesem Falle nahm die Führungsmannschaft an Bord also explizit Rücksicht auf das missionarische Bedürfnis von Abstand zum ‚einfachen Schiffsvolk‘. So überrascht die Aussage des Hallensers Diemer nicht, der nach einem sturmbedingten, aber vorübergehenden Abbruch seiner Überfahrt sichtlich erleichtert bemerkte: „ich war sehr vergnügt, da der Capitain nach einigen Tagen wieder an das Schiff kam.“ Zuvor hatte sich Diemer – ohne nähere Spezifizierungen – beschwert, dass es

436 Vgl. RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808, F 39–8, Indkomne sager ang. den ostindiske mission, 1800–1808, „Allgemeine Nachricht der Königl Dän Mission in Trankenbar im verfloßenen Jahr 1800“, S. 16, worin sich die Missionare bei verschiedenen Kapitänen bedankten und zugleich um die häufigere und schnellere Zusendung von Zeitungen wie dem aufklärerisch geprägten, sich nach 1789 gegen die Französische Revolution wendenden Hamburgischen Politischen Journal von Gottlob Benedict von Schirach (1743–1804) baten, da die in Indien erhältlichen englischen Zeitungen oft nur unvollständig erschienen und nur selten über andere Länder berichteten. Vgl. zur Einordnung dieses speziellen Journals Rudolf Stöber: Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Konstanz 2005, S. 97. 437 Vgl. Rothermund, Unsichere Transaktionen, S. 283. 438 Vgl. HB, 62. Cont. S. 337. Vgl. Williamson, Vade-Mecum, Vol. I, S. 28 f. 439 HB, 12. Cont. S. 983. Angesichts der wiederkehrenden und sich verstärkenden Geldprobleme innerhalb der Mission erscheint es zumindest für spätere Zeiten unwahrscheinlich, dass man mehr Geld für eine bessere (oder gar die beste) Unterkunft an Bord ausgegeben hatte. Zu Zeiten Ziegenbalgs könnte dies aber durchaus noch der Fall gewesen sein. 440 PA BMS I, S. 61. 441 Reise Diarium der Brüder Latrobe, Blaschke u. Staal vom Brüder Garten bei Tranquebar bis Serampore in Bengalen d. 11. Aug. 1781, UAH R 15 Ta 10 l, Eintrag vom 12.08.1781

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auf dem Schiff ohne den Kapitän „sehr unordentlich“ zugegangen sei.442 Aufgrund der Verwendung des Wortes ‚Unordnung‘ von anderen Missionaren ist anzunehmen, dass es auch in diesem Falle um alkoholbedingte Exzesse an Bord ging. Wenn der 1781 von den Herrnhutern erwähnte Kapitän nicht in Begleitung seiner Familie gewesen wäre, hätten die Missionare wohl sogar deren Raum erhalten. Während dieser Reise besuchten die Brüder einmal mehr verschiedene Kapitäne oder erhielten umgekehrt Besuch von diesen.443 Der Hallesche Missionar Christoph Samuel John, der seit dem erwähnten Verbot brennbarer Flüssigkeiten in den zu versendenden Paketen an Bord der regulären dänischen Schiffe Schwierigkeiten hatte, seine zwecks Konservierung in Alkohol eingelegten naturhistorischen Präparate nach Europa zu schicken, rühmte seinerseits 1805 „dankbar“ die „Güte einiger Schiffs-Capitains“, „ohne deren Hülfe noch weniger bisher nach Europa gekommen seyn würde.“444 Auf dem Weg nach Bengalen schenkten die Missionare Grasmann und Schmidt dem bereits erwähnten Kaufmann Peter Dahl am zweiten September 1776 einen Beutel ihres Schnupftabaks, auf den der Kapitän ein interessiertes Auge geworfen hatte,445 während der Missionar Schumann 1785/86 auf seiner Indienreise mitsamt seiner Brüder am Kapitänstisch – der „erste Tisch“, wie er gesondert hervorhob – speisen durfte, an dem es „alle Tage wenigstens ein Gericht frisches Fleisch“ gab. Am „zweiten Tisch“ gab es demgegenüber nur zweimal die Woche frisches Fleisch, in der herkömmlichen Schiffskost für die einfachen Matrosen war allein der Sonntag für Fleisch vorgesehen.446 Wie sehr die Missionare auf solche Zeichen von Rang achteten, zeigt die Beschreibung der Sitzordnung am Kapitänstisch in den Diarien von Grasmann, der ausdrücklich betonte, er habe auf seiner Reise direkt neben Kapitän Winter sitzen dürfen.447 Ähnliche Äußerungen finden sich bei dem Baptisten John Thomas, der 1793 nach Indien reiste, und wider Erwarten mit dem Kapitän speisen durfte.448 Der deutsche Indienreisende Imhoff bemerkte 1768 vor seiner Abreise aus London, dass allein das Speisen 442 Vgl. inkl. der Zitate NHB, 12. St. S. 317. 443 Vgl. nur das Reise Diarium der Brüder Latrobe, Blaschke u. Staal vom Brüder Garten bei Tranquebar bis Serampore in Bengalen d. 11. Aug. 1781, UAH R 15 Ta 10 l, Einträge vom 09.09., 10.10., 12.10., 09.11., 02.12.1781. 444 Vgl. Vgl. RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808, F 39–8, Indkomne sager ang. den ostindiske mission, 1800–1808, „Allgemeine Nachricht an die Naturhistorischen Gesellschaften, Gönner und Freunde, mit denen ich in Verbindung stehe“ (C. S. John), 1805. Seit der Einrichtung „königlicher Paketboote“ sei der Transport zwar leichter geworden, jedoch auch sehr teuer. 445 Vgl. Diarium der Reise der Brüder Grasmann u. Schmidt nach Bengalen, UAH R 15 Ta 10 g. 446 Vgl. Schumann, Ostindien, S. 49 (inkl. der Zitate). Auch der Hallenser Kiernander berichtete 1740 vom Essen am Kapitänstisch. Vgl. HB, 48. Cont. S. 1595. Vgl. zudem das Diarium der Reise der Brüder Grasmann u. Schmidt nach Bengalen, UAH R 15 Ta 10 g, Eintrag vom 27.08.1776, über das Mittagessen in der „Ober Cajute“ und die Dankbarkeit der Missionare. 447 Vgl. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 15.02.1792. 448 Vgl. PA BMS I, S. 76.

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an der Tafel des Kapitäns bei einer Fahrtdauer von sechs Monaten den stolzen Preis von 500 Goldgulden pro Person kosten würde.449 Zur besseren Einordnung dieser Zahlen: er selbst habe während seines bisherigen achtmonatigen Londonaufenthaltes 300 Goldgulden für sein Quartier und 400 für Essen und Trinken bezahlt.450 Alle diese geschilderten Situationen verweisen also auf die gegenseitige Wertschätzung von Kapitänen und Missionaren, auf deren Sonderstatus, und auf einer allgemeineren Ebene auf die gesellschaftlichen Distinktionen an Bord, aber auch das Bewusstsein derselben unter der Besatzung und den Passagieren.451 „Es sind auf unserm Schiffe“, bemerkten die Herrnhuter 1781 auf ihrem Weg von Tranquebar nach Serampore, „mehr dann 10rley Nationen, als Mohren, Malabarn, Portugiesen, Griechen, teutsche, Engeländer, Dänen ppp.“452 Ähnliches berichtete der britische Baptist Carey über seine Überfahrt nach Indien 1793. Teil seiner Gesellschaft an Bord seien Norweger, Holsteiner, Dänen, Engländer, Flamen und Franzosen gewesen. Mit Lutheranern, Calvinisten, sogar mit Katholiken habe man gemeinsam den Gottesdienst gefeiert.453 Was für die einzelnen Schiffe galt, galt ebenso für die einzelnen europäischen Indienstützpunkte. Sie waren im zeitgenössischen Sinne ‚multinational‘,454 multikonfessionell und multiethnisch strukturiert. Dennoch – oder gerade deshalb – waren Gastfreundschaft unter Europäern und europäischer Zusammenhalt in der kolonialen Gesellschaft Werte an sich, die zumeist konfessions- bzw. denominations- und ‚nationsübergreifend‘ wirkten und dementsprechend in den missionarischen Quellen erkennbar werden.455

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Vgl. Koch (Hg.), Imhoff, S. 77 f., Brief vom 02.08.1768. Vgl. Koch (Hg.), Imhoff, S. 70, Brief vom 22.02.1768. Zu diesen Distinktionen vgl. Osterhammel, Entzauberung, S. 95. Reise Diarium der Brüder Latrobe, Blaschke u. Staal vom Brüder Garten bei Tranquebar bis Serampore in Bengalen d. 11. Aug. 1781, UAH R 15 Ta 10 l, Eintrag vom 22.08.1781. 453 Vgl. Carey an Society for Propagation of the Gospel among the Heathen, 17.10.1793, Leighton and Mornay Williams (Hg.): Serampore Letters. Being the Unpublished Correspondence of William Carey and Others with John Williams 1800–1816, London 1892, S. 33. 454 Vgl. zu Kalkutta Peter J. Marshall: East Indian Fortunes. The British in Bengal in the 18th Century, Oxford 1976, S. 23, sich auf eine Liste des Jahres 1766 berufend. Als Indiz für die ‚Multinationalität‘ von Tranquebar vgl. nur die Grabinschriften der dortigen Friedhöfe in Karin Kryger, Lisbeth Gasperski: Tranquebar. Kirkegårde og gravminder, Kopenhagen 2002. ‚Nation‘ bezieht sich in der zeitgenössischen Verwendung auf die jeweilig gesprochene Sprache, besaß also einen anderen Sinn als in späteren Zeiten. 455 Vgl. zu Madras Williamson, Vade-Mecum, Vol. I, S. 134: „Few people […] are more hospitable than the Europeans residing at Madras.“ Zugleich warnte Williamson aber auch vor zu hohen Erwartungen angesichts der vielen Besucher. Vgl. zu Kalkutta Hodges, Travels in India, S. 14 f. Vgl. Martin Krieger: „Transnationalität“ in vornationaler Zeit? Ein Plädoyer für eine erweiterte Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 30,1 (2004), S. 125–136; zur „Pan-European Community“ in Tranquebar Louise Sebro: Navigating International Relations. A Pan-European Community, in: Esther Fihl (Hg.): The Governor’s Residence in Tranquebar. The House and the Daily Life of Ist People, 1770–1845, Kopenhagen 2017, S. 184–213.

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Ein Grund für den europäischen Zusammenhalt mag darin zu sehen sein, dass sich die Anzahl der Europäer im Indien des 18. Jahrhunderts insgesamt in Grenzen hielt: Die Gesamteinwohnerzahlen und die Bevölkerungsstrukturen für Bengalen und Kalkutta selbst sind nur schwerlich exakt zu ermitteln. Der deutsche Indienreisende Imhoff berichtete grob im Jahre 1770: „Wir haben hier viele 100 000 Seelen und alle Nationen […]. Eine Menge Persianer, Armenianer, Arabianer, Chineser, Engelländer, Franzosen, Holländer und Teutsche.“456 Erst ab 1794 begannen die Briten offizielle Listen zu führen – allerdings nur über die Europäer. Um 1800 lebten nach einer solchen Auflistung bezüglich der nicht bei der EIC beschäftigten Europäer 526 britische und 53 nicht-britische Europäer in Kalkutta und in ganz Bengalen zusammen etwa 1.000 solcher Europäer. Aufgrund der Europäer ohne EIC-Lizenz, die statistisch nicht erfasst werden konnten, dürften die Zahlen vermutlich ein wenig höher gelegen haben. Hinzu kamen zu dieser Zeit für ganz Bengalen etwa 5.000 beim EIC-Militär Beschäftigte und einige hundert Zivilangestellte der EIC.457 Eine 1790 im südindischen Tranquebar durchgeführte Volkszählung zeigte etwas detaillierter als die Daten zu Kalkutta, dass von den 3721 gezählten Einwohnern des Stadtgebietes 3482, also 94 %, als Einheimische und 62 als ‚Indoportugiesen‘ registriert waren. Hinzu kamen insgesamt nur 157 Dänen und zwanzig übrige Europäer, von denen lediglich elf als erwachsen galten, davon kamen fünf aus England, fünf aus Frankreich und einer aus den Niederlanden. Da in diesem Zensus Soldaten, die keinen eigenen Haushalt besaßen, nicht mitgezählt wurden, dürften sich insgesamt zwischen 200 und 250 Dänen in Tranquebar aufgehalten haben.458 Zu ergänzen wären zusätzlich die Gäste und Seeleute von den anlegenden Schiffen und angeheuerte Soldaten verschiedenster Herkunft, zum Beispiel aus Deutschland oder der Schweiz.459 Hinsichtlich des engen Zusammenhalts unter den wenigen Europäern in Südasien schrieb der Hallenser Missionar Immanuel Gottlieb Holzberg 1800 in einem Brief, dass die Europäer, die er über die weiße Hautfarbe definierte und von denen er wohl aufgrund des Zweiten Koalitionskrieges ausdrücklich die katholischen Franzosen ausnahm, eine einzige Familie seien. Man gehe miteinander freundschaftlich um.460 456 Koch (Hg.), Imhoff, S. 147, Brief vom 25.12.1770. 457 Vgl. Suresh Chandra Ghosh: The Social Condition of the British Community in Bengal 1757–1800, Leiden 1970, S. 60 sowie Marshall, East Indian Fortunes, S. 15–17, 22 f. 458 Vgl. RAK Det kgl. Ostindiske Guvernement, 1747a, Mandtal over Indbyggerne i Tranquebar og Landsbyrne, 1790; vgl. hierzu auch die Auswertung bei Karl Peder Pedersen: Tranquebars Historie, in: Architectura. Arkitekturhistorisk Årsskrift 9 (1987), S. 11–49, hier: S. 33 f. 459 Zu deutschen und schweizer Soldaten bzw. Söldnern im Indien des 18. Jahrhunderts vgl. etwa Theon Wilkinson: Two Monsoons. The Life and Death of Europeans in India, London 1987, S. 140–143. Die Schweizer waren vornehmlich für die Niederländer tätig, vgl. hierzu weitere Literatur zusammenfassend Andreas Zangger: Koloniale Schweiz. Ein Stück Globalgeschichte zwischen Europa und Südostasien (1860–1930), Bielefeld 2011, S. 33 f. Zu deutschen Soldaten vgl. auch Mann, Indien ist eine Karriere, S. 249–290. 460 Vgl. Holzberg an Freund in London, 18.07.1800, AFSt/M 1 H 4: 80a.

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Insbesondere die Gastfreundschaft der Engländer wurde von den Missionaren der DEHM gerühmt – sie sei ja „allgemein bekannt“.461 Dass diese Aussagen ein wenig übertrieben sein könnten, zumindest aber nicht in jedem Falle zutrafen, deutet Williamson in seinem Indienhandbuch von 1810 an, denn „[n]othing can be more forelorn than the situation of a mere adventurer, on his arrival in India! […] without some friend to introduce him into society, he may remain for years without being noticed.“462 Dies konnte durchaus auch für Missionare gelten. So bat etwa der Herrnhuter Voigt am 5. Mai 1783 seinen Mitbruder Schmidt per Brief, ihn in Kalkutta abzuholen, „weil ich hier nicht bekant sey“. Schon in Bezug auf Madras hatte er zuvor betont, wie schwer es doch sei, dort jemanden zu finden, wenn man unbekannt sei.463 Deshalb erhielten die Herrnhuter Missionare, die nach Bengalen geschickt wurden, in ihrer Instruktion konkrete Anweisungen, an wen sie sich vor Ort zu wenden und mit wem sie möglichst freundschaftliche Kontakte aufzubauen hätten.464 Williamson und Voigt spielten einerseits auf die Wichtigkeit von persönlichen Kontakten mit Ortskenntnis, andererseits auf die große Bedeutung von Empfehlungsschreiben („Rekommandation“) an,465 die nicht nur in der kolonialen Gesellschaft der Zeit, sondern überhaupt auch im generell weitgehend von Klientelstrukturen geformten frühneuzeitlichen Europa nur schwer zu überschätzen war466 und unter anderem von dem Indienreisenden William Hodges 1781 bei seiner Ankunft in Kalkutta besonders hervorgehoben wurde: „The hospitality which a stranger experiences from the inhabitants, and particularly from those to whom he is recommended, corresponds exactly with the freedom of his admission into the city“.467 Der Jurist William Hickey (1749–1809) berichtete ebenfalls aus Kalkutta, ein Freund habe ihm einen Umschlag mit immerhin dreizehn Empfehlungsschreiben hinterlegt, für den Fall „of his not being upon the spot when I arrived, to ensure me a kind and hospitable reception“.468 Missionare hatten es jedoch offenbar leichter als andere Reisende, wenn letztere nicht gerade der Oberschicht entstammten oder besonders gute persönliche Verbindungen und Empfehlungsschreiben besaßen – wie der deutsche Indienreisende Im-

461 462 463 464 465

NHB, 58. St. S. 831. Williamson, Vade-Mecum, Vol. I, S. 162. Vgl. inkl. des Zitats die Reise des Br. Joh Sam Voigt nach Bengalen 1783, UAH R 15 Ta 10o. Vgl. Pro Memoria, 26.08.1776, UAH R 15 Tb 9 Nr. 3. Vgl. als ein Beispiel das Imhoff im September 1770 nach Kalkutta mitgegebene Schreiben von Warren Hastings an Tysoe Saul Hancock: Koch (Hg.), Imhoff, S. 136. Imhoff selbst spricht in diesem Zusammenhang von „Rekommandation“ (S. 137). 466 So auch bei der Auswahl von Kandidaten für die DEHM. Vgl. als ein Beispiel Stegmann an Schulze, 12.12.1797, AFSt/M 4 E 5: 5, der sich für den späteren Missionar Früchtenicht einsetzte. Vgl. nur zur bereits erwähnten, zuweilen mit Korruption verbundenen Ämtervergabe in der frühneuzeitlichen norddeutschen Kirche beispielsweise Jakubowski-Tiessen, Wege, S. 97–115. 467 Hodges, Travels in India, S. 14 f. 468 Alfred Spencer (Hg.): Memoirs of William Hickey, 4 Vols., Vol. II (1775–1782), 7th Edition, London n. d., S. 123.

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hoff, der sich bereits während der Überfahrt mit Warren Hastings, ab 1772 Gouverneur von Bengalen und ab 1773 Generalgouverneur der drei presidencies, angefreundet hatte. Hastings versorgte den Deutschen und seine Familie, insbesondere Imhoffs Lebensgefährtin, daraufhin überaus großzügig, ließ sie kostenlos bei sich wohnen und speisen und ihnen noch allerlei andere Vorteile zuteilwerden.469 Dass wiederum Missionare nicht allein von Kapitänen eine Sonderbehandlung erfahren konnten, wird deutlich in einem Beschwerdeschreiben des Missionars John an seinen neu in Indien angekommenen Kollegen Früchtenicht, der gleich nach seiner Ankunft in Serampore 1799 zu Lasten der Missionskasse über seine Verhältnisse lebte, sich eine große Summe Geld lieh und sich dafür unter anderem gleich einen persönlichen Palanquin leistete. Die Vorstellung von Seiten seiner immer wieder unter finanzieller Not leidenden Kollegen war eine andere: Früchtenicht hätte auf die durchaus zahlreich vorhandenen Angebote von Gönnern der Mission eingehen sollen und diese nicht ausschlagen dürfen, denn ein „Missionarius braucht gar keine Rekommendation ausser seinen Charakter, er ist überall willkommen, geschätzt, nöthig und wird reichlich versorget, welches alle bisher erfahren haben.“ Hierfür führte John die Beispiele der Missionare Cämmerer, Klein und König an. Es sei überhaupt „kein einziger Missionarius je gewesen“, bemerkte er gegenüber Früchtenicht vorwurfsvoll, „der bey allen zufälligen Aufenthalt auf der Reise der Mission die geringsten Kosten verursacht hätte.“470 Dies findet in den Quellen in der Tat vielfältige Bestätigung. Solches gilt genauso für Anmerkungen zum gesellschaftlichen Ansehen eines Missionars. Hierzu äußerte sich etwa Henrietta Clives Tochter Charlotte Florentia (1787– 1866), die ihre Mutter auf deren Indienreise begleitete. Sie beschrieb die Halleschen Missionare in Tranquebar im Jahre 1800 als „excellent people, but do little in the way of conversation, though their piety, humility, and charity, make them universally respected.“471 Demnach sorgte die pietistische Zurückhaltung zwar einerseits für gesellschaftliches Ansehen, andererseits aber erschwerte die mangelnde Konversation der Missionare das Knüpfen neuer Kontakte. Sicherlich spielte immer die jeweilige individuelle Persönlichkeit des Missionars, seine Sozialkompetenz und seine Kommunikationsfähigkeiten, hierbei eine Rolle, die nicht nur förderlich, sondern durchaus auch hinderlich sein konnte. So bemerkte der deutsche Verbindungsmann der Hallenser zur SPCK in London Ubele beispielsweise in Bezug auf den hochangesehenen, vielfältig von den Engländern geförderten und somit ganz im Gegensatz zu seinem häufig eher aufbrausend und undiplomatisch auftretenden Kollegen Päzold stehenden Missionar

469 Vgl. die vielen Beispiele und Lobpreisungen bei Koch (Hg.), Imhoff, S. 113, 118, 122. Die Sonderbehandlung hatte wohl auch damit zu tun, dass Imhoff seine Lebensgefährtin Marian gewissermaßen an Hastings ‚abgegeben‘ hatte. 470 RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808, F 39–8, Indkomne sager ang. den ostindiske mission, 1800–1808, 1800, John an Früchtenicht, 4. Oktober 1799. 471 Shields (Hg.), Bird’s of Passage, S. 244.

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Gericke: „Solche […] emolumenta zu erlangen erfordert Verbindungen, welche Päzold nicht hat. Und so lange ein Gericke in Madras steht, werden sie ihm zu theile werden und nicht dem Hrn Päzold, der auch nicht die Gabe hat, Verbindungen zu machen.“472 Wie oben gezeigt, konnte die entgegengebrachte Gastfreundschaft zudem entscheidend von der jeweiligen sozialen Schichtzugehörigkeit und dem Vorhandensein von Verbindungen zu wichtigen Personen abhängen, war also auch hierarchisch geprägt, wobei eine geistliche Tätigkeit jedoch sicherlich von Vorteil sein konnte – und das nicht allein in der Behandlung durch Schiffskapitäne. Wenn möglich suchte man bevorzugt die Nähe zu den eigenen Landsleuten, denen man besonders gerne half – manchmal sogar, wenn man sich unbekannt war und die Landsleute eher den Unterschichten zuzurechnen waren. Hier konnte ‚Nationalität‘ höher gewichtet sein als Stand. Dies gilt zum Beispiel für den schon mehrfach erwähnten Missionar Gericke, der auf seiner Indienreise 1766 Santiago, eine der Kapverdischen Inseln,473 besuchte. Dort seien ihm am Strand zwei Europäer aufgefallen, die zu seinem Schiff herüberstarrten. Als er näher herangekommen sei, habe er die beiden sich auf Deutsch unterhalten gehört. Daraus ergab sich ein Gespräch („Sie freueten sich, als ich sie in Teutscher Sprache anredete“474), in dem Gericke erfahren habe, dass der eine, ein deutscher Goldschmied, ausgeraubt und der andere, ein deutscher Matrose, angeblich – schon Gericke zog dieses in Zweifel und vermutete Schlimmeres – wegen der auf eine Erkrankung zurückgehenden Arbeitsunfähigkeit von seinem Kapitän auf der Insel zurückgelassen worden sei.475 Der Missionar vermittelte den beiden Verzweifelten jedenfalls auf ihre Bitte hin Arbeit auf seinem Schiff – dem einen als Soldat und dem anderen als Seemann.476 Anschließend versorgte er seine „Landsleute“ mit Literatur, Kleidung und mehrfach mit geistlichen Ratschlägen, die diese seiner Aussage nach dankbar annahmen.477 Einerseits transportieren Gerickes Eintragungen also ein insgesamt eher negatives Bild bezüglich der Seemänner, andererseits aber half er ihnen auch und ermahnte oder belehrte sie religiös. Damit lag er ganz auf einer Linie mit den Bemühungen anderer geistlicher, nicht allein pietistischer Institutionen oder Einzelpersonen, die sich schon früher, wie auch später besonders um Seeleute kümmerten und etwa Diaspora-Kirchen in Hafenstädten begründeten, religiöse Schriften 472 Ubele an Knapp, 05.03.1802, AFSt/M 1 C 43a: 66 (Hervorhebung im Original). 473 Diese Inseln wurde oft für einen Zwischenstopp genutzt, um Früchte und andere Vorräte aufzunehmen. Vgl. Williamson, Vade-Mecum, Vol. I, S. 61 f. 474 Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 25. Auch hier wird eine ‚deutsche Nation‘ über die Sprache definiert. 475 Möglicherweise handelte es sich bei dem Matrosen auch um einen Deserteur. Zu den Möglichkeiten und Grenzen eines Kapitäns im Falle von Konflikten an Bord vgl. Jann M. Witt: Die Meuterei auf der „L’Espérance“. Konflikte an Bord deutscher und dänischer Schiffe im 18. und 19. Jahrhundert, in: Martin Rheinheimer (Hg.): Mensch und Meer in der Geschichte Schleswig-Holsteins und Süddänemarks, Neumünster 2010, S. 203–231, hier: S. 204–211, 209 (zur Desertion). 476 Vgl. Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 25–30. 477 Vgl. Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 31–33, 35, 38, 84.

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für die fremden Seeleute übersetzen und verteilen ließen oder spezielle Gesellschaften wie die Naval and Military Society aufbauten.478 Solcherlei soziale Bemühungen waren Teil einer Form der ‚inneren Mission‘, die sich um alle Menschen kümmern sollte. Während der Missionar jedoch den Kontakt zu den übrigen „Gefährten“ an Bord eher mied, suchte er im Falle der beiden Deutschen gezielt und mehrfach den Kontakt. Gericke handelte also gewiss nicht allein aus christlicher Nächstenliebe oder missionarischem Eifer, betrachtet man etwa die häufigen Betonungen von allem „Teutschen“ und der Tatsache, dass es sich um seine „Landsleute“ handele in diesen Abschnitten seines Tagebuches. Mehr noch: Nachdem er auf Ceylon das Schiff verlassen und sich nicht mehr von ihnen hatte verabschieden können, ließ er ihnen und nicht den anderen Teilen der Besatzung noch seine Hängematte, weitere Kleidung, eine kleine Summe Geld und Salat zukommen und ermahnte andere, vor allem englische Mannschaftsteile, die ihn zwecks Verabschiedung besuchten, „sich gegen die beyden Teutschen von St. Jago (= Santiago, TD) wohl [zu] verhalten.“479 Sicher spielte auch die leichtere Kommunikation unter den Deutschen bei dieser bevorzugten Behandlung eine Rolle, wie ein Beispiel der Halleschen Missionare Fabricius, Kiernander und Zeglin aus dem Jahre 1740 zeigt, denn an Bord ihres Schiffes befand sich ein ehemaliger Kapitän der East India Company. „Derselbe spricht teutsch“, notierte man freudig, „ob er gleich von Geburt ein Engländer ist, und weil er gleich neben uns logiret, so werden wir […] mit ihm in einige Bekanntschaft und nähere Conversation zu kommen suchen.“480 Doch schon um 1730 hatte man in den Halleschen Berichten darauf hingewiesen, dass es wohl „unter allen Nationen so“ sei, „daß ein ieder zu seinen Landsleuten mehr Vertrauen hat, als zu fremden“.481 Das Gewohnte konnte also Unsicherheiten überbrücken, sorgte für Solidaritäten und erleichterte den gerade in der Ferne so wichtigen Informationsaustausch, der auch Nachrichten aus der Heimat beinhaltete. Jedoch gab es hierbei durchaus Abstufungen. Deutlich wird die ‚nationale‘ bzw. ‚landsmannschaftliche‘ und zugleich konfessionelle Orientierung in einem konkreten Fall: Obwohl die Hallenser Klein und Breithaupt 1746 in Batavia das Angebot bekamen, bei ihrem und anderen englischen Kapitänen unterzukommen, „hielten wir es doch für besser, wenn wir Evangelische und zugleich Hochteutsche antreffen könnten“.482 Schließlich logierten die beiden bei einem der Vorsteher der lutherischen Gemeinde, dem ‚deutschen‘ Johann Friedrich Heinsius von Heinzenberg, der ihnen als Verbindungsmann dann aber weitere Kontakte – auch anderer Nationalität und Konfession – vermittelte, sie also gemäß dem Rat von Captain Williamson und seinem EIC-Handbuch in die Gesellschaft einführte.

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Vgl. hierzu umfassend Kverndal, Seamen’s Missions. Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 175. HB, 48 Cont. S. 1595 (Hervorhebungen im Original). HB, 27. Cont. S. 195. HB, 62. Cont. S. 374.

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Gerade den Missionaren musste es letztlich auch darum gehen, weitere und noch dazu möglichst einflussreiche Förderer für die Mission zu gewinnen – egal welcher ‚Nationalität‘ und Konfession –, um so eventuell auch ihr Missionsgebiet und damit das ‚Reich Gottes‘ auszuweiten: „Im Vertrauen auf den Allmächtigen müssen wir auch das Mittel gebrauchen, die hiesigen Regenten, Collectoren, Residenten und Standespersonen von gutem Charakter und Einfluß uns zu Freunden zu machen“.483 Die Nennung der „Collectoren“ vom Hallenser John mag verwundern, doch wie schon Michael Mann verschiedentlich betont hat, war ein britischer „Revenue Collector“ weit bedeutsamer als ein einfacher „Steuereintreiber“, denn er konnte in seinem Distrikt oftmals „nach eigenem Ermessen Entscheidungen treffen“,484 beispielsweise bei Rechtsstreitigkeiten.485 Hieraus erklärt sich auch die Wichtigkeit dieser Personengruppe für die Missionare. Konkret berichtete etwa ein Missionsbericht aus dem Jahre 1804 von einer Nachricht über angebliche „Verfolgungen der Christen“ im südindischen Pallayamkottai, „nachdem der wohlgesinnte Collector […] versetzt worden sey“. In Anschluss an diese Meldung beschlossen die Missionare der DEHM, einen der ihren dorthin zu senden, um die Angelegenheit zu untersuchen. In der Zwischenzeit wolle man „dem neuen Collector die Christen empfehlen“.486 Der Collector Harris, dem Teile Tanjores unterstellt waren, wurde 1800 von den Missionaren besonders hervorgehoben,487 da jener den Landkatecheten eigene Grundstücke zugewiesen und für seinen gesamten Distrikt den Befehl ausgegeben hatte, dass Christen nicht „bedrückt“ werden dürften, beispielsweise durch das Fernhalten vom Gottesdienst mittels Feldarbeit oder der Mithilfe an ‚heidnischen‘ Zeremonien.488 Der zutiefst dankbar klingende Kommentar der Missionare hierzu lautete: Eine solche Hülfe ist seit dem Anfange der Mission an den Christen noch nie geschehen, und es ist nicht zu zweifeln, daß dieses einen für die Ausbreitung des Christenthums gar vortheilhaften Eindruck auf die Heiden machen werde, da dieselben bisher geglaubt haben, daß die Mission von den hiesigen Europäern mehr geduldet, als geschützt und befördert würde.489

Dies war zugleich eine Anspielung auf die offizielle Ablehnung christlicher Mission durch die Engländer. Ein der Mission freundlich gesonnener Collector konnte also 483 NHB, 58. St. S. 896, Fußnote (Erwähnung eines Briefes von John an Ubele). 484 Michael Mann: Geschichte Indiens. Vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Paderborn u. a. 2005, S. 58 sowie Ders.: Bengalen im Umbruch: Die Herausbildung des britischen Kolonialstaates 1754–1793, Stuttgart 2000, S. 31. 485 Vgl. NHB, 63. St. S. 262. 486 NHB, 63. St. S. 249. 487 Vgl. zu ihm bereits Nehring, Orientalismus und Mission, S. 73. 488 Vgl. NHB, 58. St. S. 841. 489 NHB, 58. St. S. 841.

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gerade in entfernteren Regionen ohne ständig anwesendem Missionar von großem Nutzen für die Missionsunternehmen sein, wie er auch umgekehrt aus der Mission seinen Gewinn ziehen konnte, wenn etwa der Missionar John ihm von der Missachtung seiner Anordnungen oder von Klagen der Christen, die John verschiedentlich zugetragen worden waren, erzählte.490 Solcherlei Informationen erleichterten es dem Collector, den ‚sozialen Frieden‘ aufrecht zu erhalten. Dass die Briten überhaupt christlicher Mission nicht immer gänzlich abgeneigt gegenüberstanden bzw. Missionare trotz ihrer Tätigkeit zuweilen begünstigten, deuten andere Beispiele ebenfalls an. So verwiesen die Missionare der DEHM 1799/1800 darauf, dass die englischen Residenten sich „von jeher bey den Reisen der Missionarien […] [als] sehr gütig gegen sie bewiesen“ hätten.491 Große Hoffnung schöpften die Missionare dementsprechend aus der zunehmenden territorialen Expansion der Engländer seit 1757: „Sehr aufmunternd sind die erwünschten Aussichten, die sich jetzt, besonders seit der Eroberung des Mysorischen Reichs, in mehrern Provinzen Indiens zur Ausbreitung des Evangeliums unter den Heiden zeigen“.492 Das von Tipu Sultan (1750–1799) beherrschte südindische Mysore (oder Maisur) war nach drei vorangegangenen Kriegen 1799 von den Briten endgültig besiegt worden.493 Bedenkt man, dass die Berichte der Missionare vor allem über die SPCK auch in England wahrgenommen wurden, waren diese Bemerkungen sicher zugleich politischer Natur, dienten also neben der Mobilisierung von Spendern ebenso der Einflussnahme auf die englische Politik. In der Praxis machten sich offenbar ebenfalls positive Entwicklungen für die Missionare bemerkbar, denn noch im gleichen Bericht erwähnten die Missionare den britischen Gouverneur von Ceylon Frederick North (1766–1827), der die südindische Mission auf der Durchreise nach Madras besucht und von seinen Plänen berichtet habe, „Anstalten für die Jugend“ auf Ceylon zu errichten. Um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, wünschte er sich als Hilfe einen der Missionare, was ihm allerdings aufgrund des vorherrschenden Mangels an Personal nicht gewährt werden konnte, sowie zahlreiche von den Missionaren ausgebildete Schulmeister. Ein Lehrer wurde daraufhin nach Ceylon entsandt. Auch versorgten die Missionare den Gouverneur auf seine Bitte hin mit Büchern aus der Missionsdruckerei.494 Demgemäß hatte schon Kiernander 1758 bei seiner Ankunft in Kalkutta unmittelbaren Kontakt zur englischen Führung gesucht: „I waited on Colonel Clive [Robert (1725–1774)], who is now the 490 Vgl. NHB, 63. St. S. 257, 264. 491 NHB, 58. St. S. 831. 492 So der Direktor der Franckeschen Stiftungen Knapp in seiner Vorrede zu den Missionsberichten: NHB, 58. St. S. III. 493 Vgl. zu Mysore zusammenfassend Mann, Geschichte Indiens, S. 62–66 sowie jüngst zur ‚deutschen‘ Perspektive auf diese Kriege die Quellensammlung: Ravi Ahuja, Martin Christof-Füchsle (Hg.): A Great War in South India: German Accounts of the Anglo-Mysore Wars, 1766–1799, Berlin 2019. Hierin finden sich auch kommentierte Missionsquellen zu den Kriegen. 494 Vgl. inkl. des Zitats NHB, 58. St. S. 832.

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Governor of the Place, and the other Gentelmen in council, who all expressed much Kindness, and promised me all the assistance possible.“495 Schon 1746 waren Klein und Breithaupt beim holländischen General-Gouverneur in Ost-Indien Gustaaf Willem Baron van Imhoff (1705–1751) zum Essen eingeladen – wie auch bei seinem Vorgänger, dem Friedrichstädter Johannes Thedens (1680–1748) und Imhoffs Nachfolger in diesem Amt Jacob Mossel (1704–1761), die allesamt große „Gönner der Mission“ seien.496 So habe Imhoff „sich um die Universität in Halle, also besonders um unsere und der Herren Missionarie Umstände“ erkundigt und „dabey uns Dero Gunst gegen uns und das ganze Missions=Werck“ versichert.497 Mossel stehe „auch gegenwärtig noch in Correspondentz mit den Herren Missionarien“, nachdem er bereits 1736 zu Besuch in Tranquebar gewesen sei.498 In einem Brief von seiner Ceylon-Reise 1778 erwähnte Jacob Klein später Ähnliches bezüglich des dortigen holländischen Gouverneurs Iman Willem Falck (1736–1785), der zudem missionspraktische Hilfe anbot: Ich habe das beste der Mission bey vielen Gönnern und Freunden derselben besonders bey dem recht edelgesinnten Herrn Gouverneur zu suchen und zu befördern manche gute Gelegenheit gefunden. Unter andern hat dieser grosse Gönner von unsrer Mission und von den Missionarien, sich selbst angeboten unsrer Buchdruckerei zur Aufhelfung alles mögliche beyzutragen. […] Er hat sich sehr genau erkundiget nach den Umständen der Mission, unsers Seminarii, der Art der Zubereitung der Seminaristen, und der weiteren Bearbeitung der Schulmeister und Catecheten, u. dieser ihrer Arbeitung.499

Mit Falck tauschte man zudem verschiedentlich Geschenke aus. Während er den Missionaren regelmäßig „so viel“ Kaffee und Zimt „als wir gebrauchen“ zuschicke, würden die Missionare ihm Bittermandeln, die seine „Haupt Medicin“ seien, zukommen lassen. Dass es sich hierbei um mehr als einfache Tauschgeschäfte handelte, deutet die folgende Aussage an: Einmal habe man auf Bitte der Missionare von Falck auch 300 der „grösten u besten“ Palmen erhalten. Dabei hatten die Missionare sogar noch zu-

495 Kiernander an Broughton, 29.12.1758, AFSt/M 1 B 48: 24. 496 Vgl. HB, 62. Cont. S. 379, 381 (Zitat). Die holländischen Gouverneure wurden auch andernorts regelmäßig besucht. Vgl. das Reise-Diarium einer Nagapatnam-Reise von Wiedebrock und Zeglin aus dem Jahre 1748: HB, 67. Cont. S. 1673. Es ging bei den Besuchen laut eigener Aussage darum, „unsere bisherige gute Freundschaft zu erneuren“. Vgl. als weiteres Beispiel: Missionare an Friedrich V., 31.12.1742, AFSt/M 2 D 19: 3: „Die Holländischen Gouverneurs […] haben uns auch in diesem Jahre merckl. Proben von ihrer Geneigtheit gegen dieses Missions-Werck sehen lassen.“ Vgl. insgesamt Liebau, Mitarbeiter, S. 273–275, die auf die ausgeprägte Spendentätigkeit verschiedener Holländer verweist, darunter Imhoff und vor allem Mossel. Letzterer vererbte der Mission 10 000 Holländische Gulden. 497 HB, 62. Cont. S. 376. 498 Vgl. HB, 62. Cont. S. 381 (inkl. Zitat). 499 Klein an Freylinghausen, 21.01.1778, AFSt/M 1 B 69: 16. Weitere Beispiele praktischer Hilfe der Holländer bietet Liebau, Mitarbeiter, S. 275.

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sätzlichen Gewinn machen können.500 Der Niederländer ging also über das von den Missionaren Gewünschte hinaus. Der Missionar Gericke hatte 1766 ebenfalls schon mit Gouverneur Falck zu tun gehabt, als er eher ungewollt wegen seines beschädigten Schiffes auf Ceylon notlanden musste. Falck stellte nach einem Gespräch mit ihm den Kontakt zu den Lutheranern in Colombo her, die schon lange nach einem Missionar aus Tranquebar verlangt hatten und diesbezüglich auch schon den Gouverneur um Unterstützung gebeten hatten. Die lutherische Gemeinde besorgte Gericke nur wenig später eine „Wohnstube“.501 Innerhalb der zahlenmäßig kleinen sozialen Untergruppe der Lutheraner, wie schon das Beispiel des von Heinzenberg in Batavia zeigte, war die Solidarität noch größer als zwischen verschiedenen Europäern unterschiedlicher Konfession. Um weitere Personen von Einfluss als Multiplikatoren missionarischer Tätigkeit zu erreichen, könne man sich, so John 1801, durch vorbildliches moralisches Verhalten, aber auch „eine Nebensache“, wie die „Naturgeschichte, Mathematik und chemische Wissenschaften […] unter Europäern beliebt machen“.502 An anderer Stelle ergänzte er dies noch durch andere „Nebenkenntnisse“ der Historie, Ökonomie und der Geographie, „die sonderlich dieses Land betreffen“ und „die im gesellschaftlichen Leben brauchbar“ seien.503 Gegenüber der Gesellschaft Naturforschender Freunde (GNF) sprach er von der „Ausdehnung ihres [gemeint: die Mission, TD] Nutzens auch auf die Wissenschaften“.504 Für „Ungelehrte“ empfahl er zum gleichen sozialen Zweck zudem, hier auch an die andernorts diesbezüglich ausdrücklich erwähnten Herrnhuter denkend, die Ausübung eines Handwerks wie der Tischlerei oder der Uhrmacherei.505 Dass diese Strategie zur Kontaktaufnahme oder -festigung durchaus erfolgreich sein konnte, zeigen verschiedentliche Beispiele, zu denen unter anderem die erwähnte, auch von naturwissenschaftlichen Interessen geleitete Besuchsreise von Henrietta Clive gehörte oder ein Briefwechsel der naturkundlich interessierten Missionare Rottler und John mit William Roxburgh (1751–1815) im Botanischen Gaten von Kalkutta. Roxburgh, der überdies verwandtschaftliche Beziehungen zur DEHM aufwies, wurde nach Tranquebar eingeladen zusammen mit dem energischen Angebot, bei John

500 Vgl. inkl. der Zitate Klein an Freylinghausen, 15.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 18. 501 Vgl. Hrn Missionarii Gerickens merkwürdige Seereise, S. 169–171. Schon Ziegenbalg und Gründler hatten 1713 die Holländer für deren Missionsbestrebungen gelobt, vgl. Ziegenbalg und Gründler an Liebenroth, 07.11.1713, AFSt/M 1 C 6: 10. 502 Vgl. inkl. der Zitate NHB, 58. St. S. 895 f. 503 Vgl. inkl. der Zitate NHB, 58. St. S. 831. 504 Vgl. John an GNF, 10.02.1797, Museum für Naturkunde, Berlin (Mf N), HBSB, GNF S John, Ch. S. 505 Vgl. NHB, 58. St. S. 896. Es fällt auf, dass gerade dies die Tätigkeitsfelder der beiden letzten Herrnhuter Missionare in Tranquebar waren. Im Missionsbericht werden die Herrnhuter wahrscheinlich mit Absicht nicht angesprochen, anhand eines Briefes an die Berliner Gesellschaft Naturforschender Freunde (GNF) wird jedoch deutlich, dass sie gemeint waren. Ihre Handwerker seien „unentbehrlich“ und „nützl“ so: John an GNF, 10.02.1797, Mf N, HBSB, GNF S John, Ch. S.

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wohnen zu können, den Missionsgarten und die Bibliothek nutzen zu dürfen.506 John wirkte überdies tatkräftig an der Abwerbung des Herrnhuter Missionsarztes Benjamin Heyne mit, der die Nachfolge Roxburghs als Naturkundler in der EIC übernahm, als Roxburgh zum neuen Leiter des Botanischen Gartens von Kalkutta berufen wurde.507 Nicht ganz so enge Kontakte bestanden in Kalkutta zu Roxburghs späterem Nachfolger Nathaniel Wallich (1786–1854).508 Die Herrnhuter, die sich zudem in Indien weitgehend selbst versorgen mussten, belegen zusätzlich die Bedeutung des Handwerks, das für Interesse an ihnen sorgte und einer der Hauptgründe dafür war, sie überhaupt auf den Subkontinent und in bestimmte Niederlassungen zu holen.509 Diese Nachfrage wurde offenbar von den Missionaren selbst als solche erkannt und auch angesichts knapper Kassen strategisch genutzt: Nachdem die Herrnhuter etwa das Angebot erhalten hatten, sich in Patna niederzulassen, schrieb Schmidt an Grasmann in Serampore, Tischler seien dort am Gefragtesten, Ärzte würden jedoch am meisten verdienen, hingegen gebe es schon einen deutschen Chirurgen in Diensten von Berner. Den Naturalienhandel erwähnte er nicht, obwohl dieser, wie Thomas Ruhland für die Herrnhuter in Indien nachweisen konnte, ebenfalls eine große Rolle für die Gemeineökonomie und die Netzwerkbildung spielte. Er ließ sich zudem gut mit der handwerklichen Praxis kombinieren, wenn es um Präparationen, Konservierungen oder Transportbehältnisse ging.510 Der in Kalkutta ansässige Reverend David Brown (1763–1812), nach Aussage von Grasmann „ein wahrer u. lieber Freund“,511 der sich sehr eifrig für verschiedenste Missionsunternehmungen einsetzte, vielfältige nützliche Verbindungen besaß und noch gesondert zu behandeln sein wird, hatte zum 28. Februar 1787 Schränke bei den Herrnhutern bestellt. Und am 27. November desselben Jahres führte man in seinem Auftrag verschiedene Reparaturen im Waisenhaus von Kalkutta durch. Für die dänischen Kaufleute Duntzfelt und Scavenius stimmte und reparierte Grasmann wiederholt die Klaviere, etwa am 8. und am 16. Mai 1790 sowie am 11. März 1791. Dasselbe tat er

506 Vgl. aus dem Central National Herbarium (CNH) in Kalkutta unter zahlreichen Briefen aus Tranquebar z. B. John an Roxburgh, 19.05.1792, CNH Kalkutta; John an Roxburgh, 02.02.1793, CNH Kalkutta mit der Einladung Roxburghs nach Tranquebar. Zu den Verwandtschaftsbeziehungen und sonstigen Kontakten zur DEHM vgl. Ruhland, Pietistische Konkurrenz, S. 213, Fn. 1045 unter Berufung auf Tim Robinson: William Roxburgh. The Founding Father of Indian Botany, Chichester 2008, S. 63 f., 236–239. 507 Vgl. Ruhland, Pietistische Konkurrenz, S. 380 f. 508 Vgl. Martin Krieger: Nathaniel Wallich. Ein Botaniker zwischen Kopenhagen und Kalkutta, Kiel, Hamburg 2017, S. 22, 40 f., 51, 84, 89 f., 106. 509 Vgl. Römer, Brüdermission, S. 71 f. 510 Vgl. Schmidt an Grasmann, 22.05.1782, UAH R 15 Tb 12. Vgl. Ruhland, Pietistische Konkurrenz, S. 262 f., 267, der als die einkommensstärksten Gebiete im Brüdergarten von Tranquebar der Jahre 1774–1785 die Medizin, den Naturalienverkauf sowie die Tischlerei im Verhältnis 10 : 7,5 : 5 identifiziert. 511 Grasmann an Reichel, 04.01.1788, UAH R 15 Tb 9 Nr. 55.

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mehrfach für den britischen Major Nicholl und dessen Frau in Barrackpore,512 so am 6. Dezember 1790 und am 5. Januar 1791.513 Über ihre jeweilige, vor allem handwerkliche Ausbildung verdienten die Herrnhuter nicht nur dringend benötigtes Geld für den Lebensunterhalt, sie erhielten auf diese Weise überdies die Chance auf leichteren Zugang zu einflussreichen Personen, die ihnen nützlich sein konnten.514 Darüber hinaus ‚verankerten‘ sie sich über ihre Fähigkeiten weiter in der kolonialen Gesellschaft, insbesondere bei den Oberschichten.515 Freilich bedeuten ‚bloße‘ soziale Interaktionen, zumal geschäftlicher Art etwa zwischen Auftraggeber und Handwerker, noch nicht zwingend, dass intensivere Verflechtungen, Förderungen oder gar Freundschaften vorliegen mussten. So sah auch der Herrnhuter Grasmann hierin durchaus Gefahren der Versuchung zur Devianz, denn ein Br. [= Bruder, TD] der vermöge seiner Geschäfte mit diesem u. jenem Menschen zu thun haben muß, kan sehr leicht, wenn er nicht auf sich acht hat, u. sich nicht in allen Stücken am Hld [= Heiland, TD] hält, durch Discourse oder Handelweise inficirt und auf Neben-Wege gebracht werden.516

Außerdem konnte es sich bei diesen Interaktionen schlicht um oberflächliche oder flüchtige Bekanntschaften handeln, die nicht einmal von Sympathie begleitet sein mussten und somit nicht unbedingt Unterstützung erwarten ließen. Dies beklagte außerhalb der Mission etwa der französische Offizier in englischen Diensten Claude Martin 1789: Er glaube zwar, er habe einige gute Freunde in Indien gefunden, er könne

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Auch wenn die Herrnhuter Diarien, die nie seinen Vornamen nennen, ihn zuweilen als Nicholls und schon 1791 als Colonel (zuvor aber noch als Major) bezeichnen, dürfte sich bei ihm um den 1812 in England gestorbenen Thomas Nicholl gehandelt haben, der seit dem 26. Januar 1781 Major war. Colonel wurde er erst 1797. Vgl. Alphabetical List of the Officers of the Bengal Army with the Dates of their Respective Promotion, Retirement, Resignation, or Death, whether in India or in Europe; From the Year 1760, to the Year 1834 Inclusive, Corrected to September 30, 1837. Compiled and Edited by Messrs. Dodwell and Miles, London 1848, S. 196 f. Die Annahme eines Irrtums auf Seiten der Herrnhuter entspricht dem Tagebucheintrag vom 1. November 1790, in dem der Herrnhuter Grasmann die Bezeichnung „Col.“ durchstreicht und durch „Major“ ersetzt. Vgl. Diarien von Bengalen 1776–92, UAH R 15 Tb 3. Vgl. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. Vgl. zur Bedeutung des Handwerks für die Herrnhuter in Tranquebar Martin Krieger: Material Culture, Knowledge, and European Society in Colonial Indiaaround 1800: Danish Tranquebar, in: Michael North (Hg.): Artistic and Cultural Exchanges between Europe and Asia, 1400–1900, Farnham 2010, S. 53–72, hier: S. 59 sowie zur dortigen großen Nachfrage nach Handwerkern bereits Römer, Brüdermission, S. 66, dort außerdem: Die Menschen seien von weit her in den Brüdergarten in Tranquebar gekommen, um sich vom Missionsarzt Andreas Betschler behandeln zu lassen, was „erhebliche Einkünfte“ gebracht hätte. Zu ihm und der Nachfrage nach ihm vgl. Krieger, „Brüdergarten“, S. 226. So ließ sich etwa der dänische Gouverneur Hermann Jacob Forch 1760 von ihm behandeln. Vgl. zu diesem Vorteil auch Wessel, „Es ist also des Heilands sein Predigtstuhl so weit und groß wie die Welt.“, S. 166. Vgl. hierzu ebenfalls Krieger, ‚Brüdergarten‘, S. 241. Grasmann an Reichel, 16.12.1788, UAH R 15 Tb 9 Nr. 57 (Hervorhebungen im Original).

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aber nicht generell sagen, „that there is great deal of sincerity“ unter den Europäern, „and much worse among the amicable fair.“517 Solcherlei lässt sich sehr anschaulich in dem Bericht des deutschen Indienreisenden Christoph Adam Carl von Imhoff feststellen, der im November 1771 am Abend bei dem dänischen Gouverneur Fix in Serampore zu Gast war. Imhoffs Beurteilung von Fix als Person und Gastgeber fiel geradezu vernichtend aus, denn letzterer glaube „ein großer, mächtiger Herr zu sein, ob er schon nichts weniger und ein dummer Teufel dazu ist.“ Und weiter heißt es spöttisch: „über der Tafel sprach der Gouverneur mit niemand als mit seiner Frau, als ob er nicht Zeit genug hätte, wann er allein bei ihr ist. Ich wollte wetten, daß er sie nicht lieb hat, weil er so zärtlich in der Leute Augen ist.“518 Imhoff besuchte Fix nie wieder. Seine negative Einstellung gegenüber dem Dänen mag nicht nur persönlicher Natur gewesen sein, sondern auch mit Imhoffs großer Bewunderung für die Engländer zu tun gehabt haben, zu denen er über Warren Hastings gute Kontakte hatte und in deren Diensten er zeitweise stand. Schließlich hatte Imhoff schon 1770, als die Territorialisierung britischer Herrschaft schon lange eingesetzt hatte, über die damaligen Machtverhältnisse in Indien geschrieben: „Die Franzosen sind gar nichts, die Dänen haben nur alles in Miniatur, die Englländer aber werden täglich größer“.519 Er fühlte sich eher den Engländern und damit den ‚Siegern‘ zugehörig, zumal er ja nach Indien gefahren war, um möglichst viel Geld zu verdienen. Gastfreundschaft und die Annahme derselben wurden demnach in der kolonialen Gesellschaft zwar erwartet, waren aber nicht zwangsläufig Anzeichen einer engeren Verbundenheit und auch nicht notwendigerweise mit Hilfeleistungen verbunden. Die oben in Bezug auf die Missionen geschilderten Fälle sind jedoch anders gelagert als der Ausfall des deutschen Reisenden gegenüber dem dänischen Gouverneur: Verschiedentlich half man sich gegenseitig (auch mit finanziellen Mitteln), setzte sich gegenüber Dritten füreinander ein oder bevorzugte den Anderen in bestimmten Situationen. Man tauschte wechselseitig Geschenke aus, vermittelte weitere Kontakte, traf sich nicht nur einmal, sondern zumeist wiederholt, suchte also bewusst die Gesellschaft des jeweils anderen, korrespondierte gehäuft miteinander und äußerte sich – jedenfalls in den Briefen und Tagebüchern – überaus respektvoll über das Gegenüber, während man sich ansonsten mit harter Kritik etwa an den Missionarskollegen, für die sicher andere Wertmaßstäbe galten, nicht unbedingt zurückhielt. Wenn auch anzunehmen ist, dass in persönlichen Gesprächen sicherlich ab und an gemeinschaftsstiftendes Gerede und Gerüchte über Andere verbreitet wurden, so sind dies doch zumindest Indizien für stabilisierende Verflechtungsstrukturen, deren Nachweis und Bewertung

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Rosie Llewellyn-Jones (Hg.): Man of the Enlightenment in Eighteenth-Century India: The Letters of Claude Martin, 1766–1800, New Delhi 2003, S. 174, Brief an Ozias Humphrey, 11.05.1789. Koch (Hg.), Imhoff, S. 177 f. Koch (Hg.), Imhoff, S. 134.

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jedoch selbstverständlich entscheidend von der jeweiligen Überlieferungslage konkreter Interaktionen abhängt. III.1.2 Andere Missionsgruppen: Konkurrenz oder Ökumene? Einen Sonderfall sozialer Vernetzung im Alltag wie auch abweichenden Verhaltens, der durchaus in der Lage war, die DEHM in zwei getrennte Teile zu sprengen, bildeten Kontakte zu anderen Missionsgruppen, die der DEHM religiös und funktionell durchaus nahestanden, mit denen die Mission aber um Gelder und Seelen konkurrierte und die zunehmend nach Indien drängten. Zugleich fehlte es an klaren Anweisungen für die Missionare aus den Missionszentralen, die ihrerseits jeweils unterschiedliche Interessen zu vertreten hatten. Auf diese organisationsinterne Sonderform devianten (oder auch konformen) Verhaltens in Zeiten des Umbruchs hin zur Freigabe der Mission durch die Engländer lohnt ein ausführlicherer Blick, da sie Rückschlüsse auf verschiedene Zwangs- wie Motivationslagen ermöglicht. Es war der Dänisch-Englisch-Hallesche Missionar Christoph Samuel John, der am 3. Februar 1803 aus Tranquebar nach Europa an den Direktor der Franckeschen Stiftungen Knapp schrieb, nachdem er zuvor über zwei englische baptistische Missionare in Serampore bei Kalkutta Bericht erstattet hatte: „Wie traurig ist es doch, dass noch soviel Sektiergeist auch unter sonst so redlichen Freunden Christi u. seines Reiches herrschet! Was könnte nicht für Ghutes durch die Einigkeit des Geistes ausgerichtet werden!“ Und später heißt es klagend: „Wir sind hier so ganz isoliert und möchten gern unsere Brüder in der Entfernung nahe kommen lassen.“520 Diese Aussagen verweisen einerseits auf die aus dieser Studie bereits bekannten Probleme einer generell geringen Zahl an Missionaren der DEHM in Indien, deren weit gestreuter Verteilung und Einsamkeit, auch bedingt durch die Wahrnehmung von Devianz unter den übrigen Europäern, die Kommunikationsschwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert waren, und die mangelnden Missionserfolge. Andererseits deuten sie auf die Konflikte und Rivalitäten zwischen den verschiedenen Missionsgruppierungen, die gerade Ende des 18. Jahrhunderts nach Indien kamen. Mit dem in Halle ausgebildeten Schweden Johann Zacharias Kiernander, der nach der Einnahme des südindischen Cuddalores durch die Franzosen von dort nach Bengalen hatte fliehen müssen, begann im Jahre 1758 die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission in Kalkutta. Die Missionszentralen Halle und London und die Missionare selbst hatten Bengalen schon seit spätestens 1723 verschiedentlich im Blick, scheiterten mit ihren diesbezüglichen Plänen jedoch vornehmlich an Personalmangel und kurzfristi-

520 John an Knapp, 03.02.1803, AFSt/M 1 C 44a: 74.

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gen Überlegungen.521 Kiernander war bis zu seinem Tode 1799 tätig, predigte, eröffnete eine Schule und gründete eine Kirche in Kalkutta. Außerdem trieb er Handel, was ihm Kritik von Seiten anderer Missionare einbrachte, über weite Teil aber seine Missionsarbeit finanzierte. Dies wird noch zu behandeln sein. Zu den im übrigen Indien verteilten Missionaren der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission hatte er offenbar nur wenig Kontakt522 – abgesehen von Christian Wilhelm Gericke. Neben Kiernander bzw. nach ihm arbeiteten in Kalkutta unter anderem noch zeitweise Karl Wilhelm Päzold, Johann Wilhelm Gerlach, Kiernanders Sohn Robert William, Johann Christmann Diemer sowie der zur evangelisch-lutherischen Konfession konvertierte römisch-katholische Priester Bento da Souza. Kiernander taufte und predigte bereits seit 1758 wiederholt „auf Verlangen des Herrn Ziegenbalgs [= Bartholomäus Leberecht Ziegenbalg (geb. 1719), TD]“,523 einem nun als Kaufmann tätigen Sohn des ersten Halleschen Missionars Bartholomäus Ziegenbalg, in dem dänischen Handelsstützpunkt Serampore bzw. Friedrichsnagore nahe Kalkutta. Dort hielt sich später – wie gezeigt – für kurze Zeit der Missionar der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission Lambert Christian Früchtenicht auf und predigte ebenfalls, wie auch 1777 der Missionar König im nahegelegenen niederländischen Chinsurah.524 Ab 1784 begann eine Diskussion unter den südindischen Missionaren der DEHM, die sich aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen rund um Tranquebar noch weiter beschleunigte, in Serampore eine zusätzliche Missionsstation zu errichten.525 Denn, so der eingangs bereits zitierte Missionar Christoph Samuel John in einem Brief an den Direktor des Waisenhauses in Halle Gottlieb Anastasius Freylinghausen: Mit der Bengal und Madras Mission steht es sehr bedenklich, da ein Missionarius in Calcutta u Madras von seinem Salario nimmer mehr leben kan, wenn es auch verdreyfacht würde, er müsste denn Neben Einkünfte haben. […] Nach menschl Ansehen kan auf keine andre Weise als auf diese in Bengalen eine Mission mehr existiren.

Mehr noch: „die Calcutische könte dahin gleichsam verleget, oder da diese wahrscheinl eingehet an ihrer Stelle eine neue und bessere errichtet werden.“526 1796 schloss die Dänische Asiatische Kompanie ihre Faktorei in Tranquebar, da der Handel aufgrund 521

Vgl. Andreas Gross: The First Protestant Missionaries at Calcutta (1758–1798), in: Ders., Y Vincent Kumaradoss and Heike Liebau (Hg.): Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India, Vol. I: The Danish-Halle and the English-Halle Mission, Halle 2006, S. 421–440, hier: S. 421 f. 522 Dies hatte wohl auch mit seiner zunehmenden Blindheit zu tun, die ihn nach eigener Aussage am Schreiben von langen Briefen hinderte. Vgl. NHB, 6. St. S. 772. 523 Kiernander an Francke, 04.11.1758, AFSt/M 1 B 48: 23. Vgl. auch Kiernander an Francke und Ziegenhagen, 19.01.1759, AFSt/M 1 B 48: 25 und Kiernander an Broughton, 29.12.1758, AFSt/M 1 B 48: 24. Zu den Lebensumständen Ziegenbalgs, der mit einer französischen Katholikin verheiratet war, und seiner Kaufmannstätigkeit vgl. Missionare an Francke, 01.10.1763, AFSt/M 1 B 53: 6. 524 Vgl. Missionare an Missionskollegium, 22.03.1787, AFSt/M 1 C 29b: 12. 525 Vgl. etwa Schulze an Missionskollegium, 23.08.1785, AFSt/M 4 E3: 5 526 John an Freylinghausen, 18.10.1784, AFSt/M 1 B 75: 18.

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der häufigen Kriege unrentabel geworden war. Sie wurde nach Serampore verlegt – ein weiteres Argument zusätzlich zu den finanziellen Missionsproblemen, dort eine Mission einzurichten, zumal sich die Schiffswege zunehmend nach Serampore und damit weg von Tranquebar verlagerten.527 Somit erschwerte und verteuerte sich die Kommunikation zwischen den südindischen Missionsstationen und der europäischen Zentrale maßgeblich, wie die Missionare beklagten. Lange Umwege über Bengalen sorgten etwa dafür, dass das von der SPCK für die Missionare in Tranquebar vorgesehene Druckpapier und „andere angenehme Artikel vernichtet wurden.“528 Für Serampore sprach 1787 in den Augen der Missionare zudem der Mangel an protestantischen Geistlichen: „In vorigen Zeiten sandte die Compagnie mit den Bengaleschen Schiffen einen Schifs Prediger, der jährl in Friedrichsnagor Taufe, Confirmation u. Abend Mahl halten konte. Aber dieses fält seit 12 Jahren auch weg.“ Dies führte dazu, dass „viel Protestanten ihre Kinder von dem Roemischen Pater in Friedrichsnagor müssen tauffen lassen.“ Da ähnliches offenbar für Chinsurah galt, war die Nähe der beiden Orte ein weiteres Argument für die Errichtung einer neuen Missionsstation.529 Das dänische Missionskollegium teilte bereits im Jahre 1785 mit, es begrüße den Aufbau einer neuen Station in Serampore, die Missionare sollten nur selbst entscheiden, wen sie aus Tranquebar dorthin schicken wollten.530 Es lassen sich jedoch keinerlei Belege dafür finden, dass eine solche Mission in Serampore wirklich errichtet wurde. Von Seiten der Missionare gab es verschiedentliche Vorschläge und Forderungen, etwa nach einem zusätzlichen Missionar.531 Dann aber bricht die diesbezügliche Diskussion nach einem letzten Brief 1787 plötzlich ab.532 Auch äußerten sich die Missionare in Kalkutta zu dieser Thematik offenbar gar nicht, obwohl es sie ja unmittelbar und existenziell betreffen musste. Eine Erklärung hierfür findet sich in einem Pro Memoria des Sekretärs des Missionskollegiums in Kopenhagen Christen Hee Wadum an Johann Ludwig Schulze. Darin berichtet Wadum, dass nur Krankheit und die „verminderte Anzahl“ der Missionare „die Anlage einer neuen Mission auf Fridrichsnagor [= Serampore, TD] bis jetzt verhindert hat.“533 Der Aufwand und die hohen Kosten dürften ebenfalls eine Rolle gespielt haben, forderten die Missionare doch nicht nur 527 Vgl. zur Verlegung der Hauptfaktorei: Krieger, Kaufleute, S. 144 f. sowie die Missionare selbst in einer „Allgemeinen Nachricht“ von 1798, 30.01.1798, AFSt/M 1 C 39a: 16. 528 RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808, F 39–8, Indkomne sager ang. den ostindiske mission, 1800–1808, „Allgemeine Nachricht von dem gegenwärtigen Zustand der Königlich Dänischen Mission in Trankenbar d. 1. Januar 1800“. 529 Vgl. inkl. der Zitate Missionare an Missionskollegium, 22.03.1787, AFSt/M 1 C 29b: 12. 530 Vgl. Wadum an Schulze, 18.10.1785, AFSt/M 4 E 3: 7. Vgl. auch Wadum an Schulze, 18.10.1785, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1765–1854, F 34, Ostindisk missions brevbog, F 34, S. 431. 531 Missionare an Missionskollegium, 22.03.1787, AFSt/M 1 C 29b: 12. 532 Vgl. Missionare an Schulze, 08.10.1787, AFSt/M 1 C 29b: 31. 533 Wadum an Schulze, 06.07.1790, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1765–1854, F 34, Ostindisk missions brevbog, S. 23.

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zusätzliches Personal, sondern ein Missionshaus und wegen der starken Inflation in Bengalen eine beträchtliche Erhöhung des Gehaltes für den künftigen Missionar von 300 auf 400 Reichstaler im Jahr. Zudem hätte der neue Kollege zunächst in Tranquebar die notwendigen Sprach- und Missionskenntnisse erwerben müssen, um dann „zur Einrichtung der Mission“ von einem der erfahrenen Missionare nach Serampore begleitet zu werden. Letzterer hätte nach einem Aufenthalt von drei bis vier Monaten nach Tranquebar zurückkehren müssen.534 Darüber hinaus waren – wie geschildert – zu Zeiten dieser Diskussion bereits die Herrnhuter Brüder in wechselnder Konstellation mit bis zu vier Missionaren in Serampore sowie in Kalkutta und Patna missionarisch aktiv.535 Erstaunlicherweise werden in den Quellen zur DEHM in Kalkutta die Herrnhuter Brüder jedoch mit keinem Wort erwähnt. Und das, obwohl beide Gruppen dort zeitgleich tätig waren und schon in Tranquebar einen Konflikt ausgetragen hatten. Es heißt sogar ausdrücklich in der DEHM-Korrespondenz, in Serampore gebe es überhaupt keine Mission, eine solche Station sei dort aber dringend nötig, nicht nur für den einheimischen Bevölkerungsteil, sondern auch für den europäischen, speziell für die Seelsorge in dem nahe gelegenen holländischen Stützpunkt Chinsurah,536 der häufiger als Argument für die Serampore-Mission angeführt wurde, denn: „Nicht nur für die dän Colonisten, sondern auch für viel Holländer auf Sinsura würde es eine willkommene Sache seyn und ihnen ein Segen werden.“537 Es bleiben zwei Möglichkeiten für die unterbliebene Erwähnung der Herrnhuter: Entweder man verschwieg die Mission der Herrnhuter bewusst538 oder man wusste schlichtweg nichts von ihr. Ersteres ist insbesondere deshalb wahrscheinlich, weil das Verhältnis der beiden Gruppierungen in Indien durchaus konfliktbeladen gewesen war und die DEHM auf diejenige der Herrnhuter häufig als Mission unausgebildeter Laien herabsah. Zudem wollten die Hallenser ja das Missionskollegium überzeugen, die DEHM nach Serampore zu entsenden. Hätte man die Herrnhuter erwähnt, hätte das Kollegium argumentieren können, dass eine solche Mission gar nicht mehr nötig sei, da die Brüdergemeine bereits dort vertreten sei. Dass man nichts von den Herrnhutern in und um Kalkutta wusste, wird überdies sehr unwahrscheinlich, wenn man sich die in und um Kalkutta geknüpften Kontakte der Herrnhuter und der DEHM anschaut, die zahlreiche personelle Überschneidungen aufweisen. Engere Kontakte, die sich unter anderem in vielen gegenseitigen Besuchen äußerten, bestanden auf Seiten der Herrnhuter im geistlichen Bereich insbesondere zu dem er534 Vgl. inkl. des Zitates Missionare an Missionskollegium, 22.03.1787, AFSt/M 1 C 29b: 12. 535 Das Angebot, auch nach Kalkutta zu gehen, hatten die Herrnhuter bereits 1763 erhalten, es jedoch nach eigener Aussage aus Treue gegenüber dem dänischen König ausgeschlagen. Vgl. Krieger, „Brüdergarten“, S. 227. 536 Vgl. Missionare an Missionskollegium, 22.03.1787, AFSt/M 1 C 29b: 12. 537 John an Freylinghausen, 18.10.1784, AFSt/M 1 B 75: 18. Vgl. auch Gude an Knapp, 05.11.1799, AFSt/M 4 E 5: 57. 538 Vgl. hierzu allgemein Ruhland, Pietistische Konkurrenz, S. 252.

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wähnten Reverend David Brown,539 explizit „ein wahrer und lieber freund“540 genannt, der in Kalkutta zunächst ein Waisenhaus leitete, dann Kaplan der East India Company und 1800 Leiter des Fort William College wurde, großes Interesse am Druck eines englisch-bengalischen „Dictionary“541 von Grasmann hatte, sehr viel Einsatz zeigte, den 1792 noch nicht vollkommen von seinem Werk überzeugten Herrnhuter zur Veröffentlichung zu bewegen und sich etwa als motivierender Korrekturleser für den Herrnhuter betätigte. Weiterhin bestanden Verbindungen zu George Livius (1743–1816), einem englischen Herrnhuter,542 der dem bengalischen Gouvernement angehörte und den Missionaren ein Grundstück nahe Kalkutta verschaffen konnte,543 und zu dem politisch aktiven EIC-Kaufmann und einflussreichen evangelikalen Missionsverfechter Charles Grant,544 bei dem man etwa am 29. Dezember 1788, am 03. Juli 1789 und häufiger zum Mittagessen verabredet war.545 Livius war bereits in der Instruktion für die beiden nach Bengalen geschickten Herrnhuter Schmidt und Grasmann aus dem Jahre 1776 namentlich als Kontaktperson in Kalkutta empfohlen worden: Man solle ihn „so bald möglich“ treffen und – so die Anweisung aus Herrnhut – versuchen in „freund539 Zu ihm hatten auch die britischen Baptisten Kontakt, vgl. etwa PA BMS I, S. 17. Vgl. seinen Lebenslauf in The Bengal Obituary; or, a record to perpetuate the memory of departed worth […], London 1851, S. 39 f. Dort heißt es über seine Transkonfessionalität: „he laboured himself and aided Ministers and Missionaries both of the Church of England and other denominations“ (S. 39). 540 Grasmann an Reichel, 04.01.1788, UAH R 15 Tb 9, Nr. 55. Vgl. John C. S. Mason: The Moravian Church and the Missionary Awakening in England, Suffolk 2001, S. 83. 541 Dieses schon sehr weit gediehene Wörterbuch ging nach der Pleite der Druckerei leider verloren. Vgl. Römer, Brüdermission, S. 65. Der Vertrag mit dem Drucker war bereits abgeschlossen. Vgl. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 27. Januar 1792. Zum Bankrott des Druckers Aaron Upjohn in Kalkutta, den Ursachen dafür und zur Rolle von freundschaftlichen Beziehungen vgl. die erhellende online-Publikation von Peter Robb: Mr. Upjohn’s Debts. Money and Friendship in Early Colonial Calcutta, http://eprints.soas.ac.uk/13392/1/Robb_Upjohns_debts. pdf. In Upjohns Druckerei entstanden insgesamt etwa 27 Druckwerke, womit er an vierter Stelle von den 27 Druckereien in Kalkutta stand (im Zeitraum 1778–1799). Vgl. zu den Zahlen Sunil Kumar Chatterjee: History of Printing in Bengal and Serampore Press, in: B. M. Gupta (Hg.): Handbook of Libraries, Archives & Information Centres in India, Vol. 15: Indian Languages, Reference Sources, Bibliographical Control & Publishing Industry, New Delhi 1996, S. 271–303, hier: S. 276. 542 Vgl. zu ihm kurz Deryck W. Lovegrove: Established Church, Sectarian People. Itinerancy and the Transformation of English Dissent, 1780–1830, Cambridge u. a. 2004, S. 35 sowie UAH, „Dienerblätter“ und seinen Lebenslauf UAH R 22 140 3. Vgl. zu ihm Römer, Brüdermission, S. 60 f. und Mason, Moravian Church, S. 81 f. Im Namensindex von Hegner, Fortsetzung von David Cranzens Brüder-Historie, wird Livius fälschlicherweise mit dem Vornamen ‚Thomas‘ belegt. 543 Zu Livius und dem Grundstück vgl. das Protocoll des Missions-Departements in der Unitäts-Ältesten-Conferenz (1789, 1790, 1791), Eintrag vom 20.05.1790, S. 125. Vgl. Hegner, Fortsetzung von David Cranzens Brüder-Historie, S. 354 f. 544 Auch zu ihm hatten die britischen Baptisten schon früh Kontakt, vgl. PA BMS I, S. 17 (Bericht von John Thomas, der später zusammen mit William Carey von der Baptist Missionary Society als Missionar nach Indien geschickt wurde). 545 Vgl. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. Vgl. zu den britischen Verbindungen Mason, Moravian Church, S. 81–84 und allgemeiner Cornelia Witz: Religionspolitik in Britisch-Indien 1793–1813. Christliches Sendungsbewusstsein und Achtung hinduistischer Tradition im Widerstreit, Wiesbaden 1985, S. 43–61.

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schaftliche Connexion“ zu ihm zu kommen.546 Brown und Grant hatten zusammen mit William Chambers nach der Zwangsversteigerung von Kiernanders Kirche treuhänderisch die Tätigkeiten des Schweden in Kalkutta übernommen.547 Überhaupt zeigte sich Grant verschiedentlich sehr interessiert an der DEHM. So verwies er in seiner Schrift Observations auf das Buch Defence of Missions von Christian Friedrich Schwartz (1726–1798), das im Grunde lediglich eine Sammlung einiger Briefe von und an Schwartz aus den Reports der SPCK darstellte,548 und bat dessen Missionarskollegen Gericke um einen Lebenslauf von Schwartz nach dessen Tod.549 In England erschien später eine Übersetzung einiger Schriften des verstorbenen Missionars verbunden mit einem Lebenslauf.550 William Chambers (1747–1793), zunächst Dolmetscher, dann Schreiber am Obersten Gerichtshof in Kalkutta, soll unter eben jenem C. F. Schwartz ein Erweckungserlebnis gehabt haben. Grant und Chambers waren zudem verwandtschaftlich verbunden, hatte Chambers doch die Schwester von Grants Frau geheiratet. Letztere soll ihrerseits eine Rolle bei der religiösen Erweckung Grants gespielt haben.551 In den Archivbeständen der Franckeschen Stiftungen in Halle finden sich verschiedentlich Briefe, die schon früher auf Kontakte sowohl von William als auch, wenn auch weniger intensiv, seinem Bruder Robert Chambers (1737–1803), dem späteren Präsidenten des Obersten Gerichtshofes von Bengalen, zur DEHM hinweisen. Diese Briefe berichten unter anderem von Besuchen, Bücher- und Medikamentenbestellungen sowie Bibelübersetzungen.552 Überdies wechselte der Missionsschul546 Vgl. inkl. der Zitate: Pro Memoria, 26.08.1776, UAH R 15 Tb 9 Nr. 3. 547 Vgl. u. a. Kiernander an Brown, 21.04.1788, AFSt/M 2 E 47: 6. Vgl. die verschiedenen Berichte und Briefe zu diesem Thema bei Charles Simeon (Hg.): Memorial Sketches of the Rev. David Brown: with a selection of his sermons, preached at Calcutta, London 1816, S. 284–290. 548 Vgl. Defence of Missions in India, by the Late Venerable Mr. Swartz, Published by The Society for Promoting Christian Knowledge in Their Report for 1795, London o. J. 549 Vgl. Charles Grant: Observations on the State of Society among the Asiatic Subjects of Great Britain, Particularly with Respect to Morals; and on the Means of Improving It, London 1813, S. 113–116. Vgl. die Hinweise bei Daniel Jeyaraj: Mission Reports from South India and Their Impact on the Western Mind. The Tranquebar Mission of the Eighteenth Century, in: Dana Lee Robert (Hg.): Converting Colonialism. Visions and Realities in Mission History, 1706–1914, Grand Rapids 2008, S. 21–43, hier: S. 31 f. Zum Lebenslauf vgl. Gericke an Schulze, 23.05.1799, AFSt/M 1 C 40a: 12. 550 Vgl. Remains of the Rev. C. F. Schwartz, Missionary in India, consisting of his letters and journals; with a sketch of his life, the second edition, London 1826. Es handelt sich um Übersetzungen aus den deutschen Missionsberichten. Wann die erste Auflage erschienen ist, ist leider nicht bekannt. In der Ankündigung dieses Buches heißt es, es habe zuvor schon verschiedene Versuche einer Biographie gegeben, so von den Missionaren Gericke, Kohlhoff und Jänicke sowie von Claudius Buchanan (Church Missionary Society) und anderen, doch über Ansätze sei man dabei bedauerlicherweise nie hinausgekommen (S. iii). 551 Vgl. zu diesen Verflechtungen die Biographie über Williams Bruder Robert, den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes von Bengalen, Thomas M. Curley: Sir Robert Chambers. Law, Literature, and Empire in the Age of Johnson, Madison 1998, S. 182–184, 518. Vgl. Mason, Moravian Church, S. 81 zu den engen Verbindungen von Livius, Grant und Chambers und anderen. 552 Vgl. Schwartz an Francke, 06.10.1768, AFSt/M 1 B 58: 40 (Bücherbestellung für William); Liste der von Christian Friedrich Schwartz für Robert Chambers an Friedrich Michael Ziegenhagen

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meister Johann Christoph Obeck (geb. 1731) zu William Chambers nach Bengalen.553 Die Herrnhuter von Serampore besaßen ebenfalls persönliche Kontakte zu Chambers, die sich in verschiedenen Besuchen äußerten.554 Die dritte an der Kirchenübernahme beteiligte Person David Brown hatte den neuen Missionar der DEHM Ringeltaube 1797 in Kalkutta nach Aussage des Missionars „liebreich aufgenommen“.555 Die Herrnhuter kamen ebenfalls mehrfach mit Christian Daniel Öhme zusammen, den deutschen Organisten aus Kiernanders Kirche in Kalkutta.556 Öhme wohnte unter anderem zusammen mit Brown 1788 dem Essen bei Grant bei. Die Herrnhuter wussten am 11. März 1784 überdies von den anderen Hallensern in Kalkutta, Diemer und Gerlach, zu berichten, die man persönlich getroffen hatte.557 Mit Kiernander standen die Herrnhuter in mehrmaligem Briefkontakt. In einem dieser Briefe verabschiedete der Schwede von Chinsura aus den Herrnhuter Johannes Grasmann vor dessen Rückgesandten Bücher, [1770], AFSt/M 1 B 59: 29; Knapp an Schwartz, 24.09.1770, AFSt/M 1 B 59: 41 (Sendung einer Schrift an Robert); Reisetagebuch von Jacob Klein, 22.02.1775, AFSt/M 2 E 20: 3 (Besuch bei Robert, Bericht über dessen Bibliothek); J. P. Fabricius an S. A. Fabricius, 24.06.1777, AFSt/M 1 B 67: 51 (Gebrüder Chambers); Kiernander an Freylinghausen, 16.03.1780, AFSt/M 1 C 23: 20 (Medikamentenbestellung für William); R. W. Kiernander an S. A. Fabricius, 30.08.1780, AFSt/M 1 C 23: 72 (Bericht über die Übersetzungen des Neuen Testaments durch William). Es finden sich in Halle lediglich fünf Briefe, die Robert Chambers betreffen bzw. erwähnen, keiner jedoch wurde von ihm selbst verfasst. Auf William beziehen sich acht Briefe, von denen nur einer von ihm selbst verfasst wurde. Vgl. die Online-Datenbank zur Mission in den Franckeschen Stiftungen. Aufgrund seiner Nähe zu Schwartz und der Übernahme der Kirche Kiernanders zusammen mit Brown sind jedoch nähere Kontakte der DEHM zumindest zu William sehr wahrscheinlich. Dies bestätigt Hugh Pearson: Memoirs of the Life and Correspondence of the Reverend Christian Frederick Swartz. To Which Is Prefixed a Sketch of the History of Christianity in India, Vol. I, 3rd Ed., London 1839, S. X und passim, der auf eine ihm von der Witwe Williams überlassene Serie von Briefen aus den Jahren 1769–1793 verweist. Er bezeichnet Schwartz als Freund von William (S. 196). Verbindungen Roberts zu den Missionaren erwähnt Pearson nicht. Vgl. Vol. II der Biographie Pearsons (London 1834). Zum Ansehen der Familie Chambers vgl. Alexander Drost: Tod und Erinnerung in der kolonialen Gesellschaft. Koloniale Sepulkralkultur in Bengalen (17.–19. Jahrhundert), Jena 2011, S. 143–149: In seinem 1802 verfassten Testament vermachte Robert Chambers Charles Grant den „Thesaurus Linguarum Orientalum“ von Memuski (S. 148), der offenbar eine Rarität war, wurde er doch explizit erwähnt. Vgl. bei Alexander Drost auch die Betonung Roberts umfangreicher Bibliothek, „die mehrere tausend Bände umfasste und zahlreiche Werke in arabischer, persischer, malaiischer Sprache und Sanskrit enthielt.“ Zumindest einige dieser Bücher waren Robert also von der DEHM geschickt worden. Ab 1784 war er – wie auch William und später einige Missionare der DEHM – Mitglied in der „Asiatick Society“. Zum Wert der Sanskrit-Bibliothek und den umfangreichen Sammelaktivitäten Roberts vgl. Curley, Sir Robert Chambers, S. 415–418. 553 Vgl. J. P. Fabricius an Freylinghausen, 28.01.1778, AFSt/M 1 B 67: 46. 554 Vgl. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 5. Mai und vom 21. Mai 1790 und häufiger. 555 Ringeltaube an Schulze, 04.03.1798, AFSt/M 1 C 39a : 40. Vgl. Simeon (Hg.), David Brown, S. 291. 556 Er wurde 1779 nach Bengalen entsandt. Vgl. Freylinghausen an Missionare, 19.11.1779, AFSt/M 1 B 69: 91. 557 Vgl. zu all diesen Kontakten inkl. der Zitate, wenn nicht anders angegeben UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. Am 25. Juni 1791 traf Grasmann zudem Diemer während eines Abendessens bei Major Nicholl in Barrackpore.

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kehr nach Europa, wünschte ihm eine sichere und gute Überfahrt, bat ihn um seine Adresse, weitere Briefe und bot ihm im Gegenzug als zukünftiger Informant „News from this country“ an. Zudem hatten sich die Herrnhuter offenbar von ihm Geld geliehen.558 Besuche bei Vater und Sohn Kiernander und Gegenbesuche fanden ebenfalls statt, wie einer von beiden auch eine Pflanzensendung von den Herrnhutern erhielt.559 Trotz aller früheren Konflikte zwischen Herrnhutern und Hallensern hatten erstere also sowohl mittelbar über Grant, Chambers und Brown als auch unmittelbar vor allem über Vater und Sohn Kiernander zur DEHM Kontakt, sporadisch zudem über Gerlach und Diemer, wenngleich umgekehrt die Herrnhuter von Bengalen und Patna weder in den Briefen und Diarien der Hallenser Missionare noch in deren offiziellen Missionsberichten Berücksichtigung fanden.560 Dieses Ungleichgewicht mag auf die alten, aus Europa importierten, sich in Indien noch verstärkenden Rivalitäten der 1760er Jahre zurückzuführen sein, obwohl man sich in der Zwischenzeit in Tranquebar miteinander arrangiert hatte.561 Im Jahre 1793 kam außerdem der Schuhmacher und Mitbegründer der Londoner Baptist Missionary Society William Carey auf einem dänischen Schiff nach Kalkutta.562 Er predigte zunächst illegal auf britischem Territorium. Daneben begann er, nachdem er sich intensiv mit dem Sanskrit beschäftigt hatte, mit Bibelübersetzungen in verschiedene indische Sprachen. Ihm folgte 1799 William Ward, bevor beide 1800, wie schon die Herrnhuter mit tatkräftiger Unterstützung des dänischen Residenten Ole Bie, nach Serampore zu den Missionaren Joshua and Hannah Marshman und einigen anderen übersiedeln konnten. Dort etablierten sie eine Druckerpresse, begannen mit dem Druck sowie der Verbreitung der angefertigten Übersetzungen und anderer Schriften und gründeten eine Schule. Später wurde Carey in Kalkutta Lehrer für Bengali und Sanskrit, betrieb botanische Studien, weitete seine Übersetzungsarbeiten noch weiter aus, sendete Missionare in andere Regionen und begründete mit Unterstützung der dänischen Residenten und dem dänischen König die St. Olavs Church (1805) sowie das Serampore College (1818), das 1827 vom dänischen König das Privileg erhielt, Abschlüsse in Theologie und den „Künsten“ zu vergeben. Hierzu war Joshua Marshman persönlich nach Dänemark gereist, um vor dem König vorzusprechen. Das College war nach Kopenhagen, Kiel und Oslo die vierte Universität der dänischen Monarchie und zugleich die erste europäische Universität in Asien. Noch heute lassen sich in Serampore – abgesehen von den damals errichteten Gebäuden – zahlreiche dänische 558 Vgl. inkl. des Zitats Kiernander an [Grasmann?], 31.01.1792, UAH R 15 Tb 12 (1789). 559 Vgl. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Einträge vom 4. März 1789, 21. Februar 1790, 19. Januar 1791. 560 Schon ihre Ankunft in Tranquebar im Jahre 1760 wurde in den Missionsberichten übergangen. Vgl. Krieger, „Brüdergarten“, S. 229. 561 Vgl. umfassend zu den Rivalitäten und Kontakten Ruhland, Pietistische Konkurrenz. 562 Zu den Baptisten um Carey immer noch Standard: E. Daniel Potts: British Baptist Missionaries in India 1793–1837. The History of Serampore and its Missions, Cambridge 1967.

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Spuren entdecken, so befindet sich auf der Kirche ein Monogramm des dänischen Königs Christian VII., das Tor zum College wurde von ihm gestiftet und ist noch immer vorhanden, wie überdies das Treppenhaus im Hauptgebäude des Colleges. Außerdem existiert ein dänischer Friedhof, auf dem z. B. William Carey und Ole Bie bestattet sind, wie auch die Gouverneursresidenz und das Gefängnis weitgehend erhalten geblieben sind.563 Die Baptisten waren, obwohl denominationell gebunden, außerordentlich offen gegenüber anderen Konfessionen ausgerichtet. Ein diese Aussage ein wenig differenzierender Streitpunkt bestand allerdings in der Frage, ob bei der Kommunion Menschen anderer Denomination zugelassen seien. Zwischen 1805 und 1811 bejahte man diese Frage in Serampore, wenngleich noch immer viele Baptisten anderer Meinung waren. Diese Kritiker setzten sich 1811 durch.564 Dennoch: bereits in ihrem ersten Periodical Account aus dem Jahre 1800 verwiesen die Baptisten verschiedentlich begeistert auf andere Missionsgruppierungen und deren vermeintliche weltweite Missionserfolge: Besonders ausführlich erwähnte man die Herrnhuter Brüdergemeine, daneben, wenn auch negativ wegen ihrer „very defective and corrupt kind of christianity“ die Jesuiten und andere Katholiken, sehr positiv die Methodisten und die DEHM.565 Unter ausdrücklicher Berufung auf die pietistische ‚Reich-Gottes-Idee‘ wurden zumindest die protestantischen Gruppen konfessionsübergreifend als Inspiration für die eigene Missionstätigkeit benannt, denn „various as the different opinions of christians may be with respect to particular parts of the gospel scheme, all will agree in this, That the sacred scriptures assure us of the universal conquests of the Redeemer“: „Who that realizes the value of one immortal soul, but must be stimulated by these brilliant successes to assist in extending the kingdom of God?“566 Dementsprechend begrüßte 1796 etwa der baptistische Missionar Fountain gegenüber der Baptist Missionary Society die Gründung der ebenfalls überkonfessionell orientierten, von den Baptisten beeinflussten, aber nicht denominationell gebundenen London Missonary Society und forderte seine Missionszentrale in London auf, ihm und seinen Kollegen in Indien doch die Publikationen der LMS zu schicken.567 Umgekehrt schrieben auch die Missionare der LMS an die Baptisten in Serampore.568 Zudem fanden Treffen statt. So mit Nathaniel Forsyth von der LMS, der sich in Chinsurah, also nicht weit von Serampore, niedergelassen hatte. 1803 versorgten die Baptisten ihn überdies mit ihren Schriften für seine Missionsschule.569

563 564 565 566 567 568 569

Vgl. Drost, Tod und Erinnerung, S. 39 f. Vgl. Potts, Baptist Missionaries, S. 49 f. Vgl. PA BMS I, S. 10–12, 10 (Zitat) und häufiger. PA BMS I, S. 12. Vgl. PA BMS I, S. 318. Vgl. etwa LMS, Transactions, II, S. 259 f., 365. Vgl. Potts, Baptist Missionaries, S. 52.

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Wie der Historiker John C. S. Mason umfassend nachgewiesen hat, spielten gerade die Herrnhuter bei den sich seit etwa 1770 in England andeutenden Vorgängen, die man gemeinhin als „missionary awakening“ bezeichnet, und die in die Gründung verschiedener Missionsgesellschaften seit 1792 mündeten, eine große Rolle – und zwar einerseits durch ihre Publikationen, wie im Übrigen auch diejenigen der Halleschen Pietisten bedeutsam waren, und andererseits durch ihre persönlichen Verbindungen in England.570 Die Herrnhuter waren ebenfalls konfessionsübergreifend orientiert,571 wie bereits gezeigt an ihren Kontakten in Kalkutta zu Charles Grant, zu David Brown und zu einigen Mitarbeitern der DEHM. Ähnliches lässt sich über ihren Brüdergarten in Tranquebar berichten, wo man – einmal abgesehen von den Problemen mit der DEHM – gute Kontakte zum dänischen Pastor der Zionskirche und sogar zum katholischen Pater besaß, der offenbar als Portugiesischlehrer diente.572 Direkte Verbindungen zu den Herrnhutern sind jedoch für die Baptisten um Carey zumindest in Bengalen auszuschließen, waren doch die dortigen Missionsstützpunkte der Herrnhuter bei Ankunft der Baptisten schon aufgegeben. Immerhin aber sollte sich später überraschend herausstellen, dass der erste Konvertit der Baptisten, Krishna Pal, schon für den Herrnhuter Grasmann in Serampore gearbeitet hatte.573 Ebenso hatte John Thomas, ein früher Vorläufer der Baptisten, der sich seit 1783 schon als Missionar in Bengalen aufgehalten hatte, daher später auf diese Region als Missionsfeld der BMS hinarbeitete und Carey 1793 nach Indien begleitete, schon früher vereinzelte Kontakte zu Grasmann unterhalten.574 Diese Verbindungen wurden von Thomas jedoch eher negativ bewertet, da der Herrnhuter, der im Auftrag von Charles Grant das Manuskript einer bengalischen Bibelübersetzung von John Thomas begutachtet hatte, dasselbe aber als mangelhaft bewertete. Nachdem Thomas bei ei570 Vgl. Mason, Moravian Church. Vgl. zu den Halleschen Einflüssen auf die englischen Methodisten Daniel L. Brunner: Halle Pietists in England. Anthony William Boehm and the Society for Promoting Christian Knowledge, Göttingen 1993, S. 186–197. 571 Vgl. hierzu auch Peter Vogt: Die Mission der Herrnhuter Brüdergemeine und ihre Bedeutung für den Neubeginn der protestantischen Missionen am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Pietismus und Neuzeit 35 (2009), S. 204–236, hier: 223–233; Hermann Wellenreuther: Mission, Obrigkeit und Netzwerke. Staatliches Interesse und Missionarisches Wollen vom 15. bis ins 19. Jahrhundert, in: Pietismus und Neuzeit 33 (2007), S. 193–213, hier v. a.: S. 206–213 und Mettele, Weltbürgertum. Die Herrnhuter unterstützten die gerade gegründete BMS 1793 beispielsweise auch materiell. Vgl. PA BMS I, S. 49. Dies geschah auch umgekehrt. Vgl. PA BMS I, S. 523. 572 Vgl. Krieger, „Brüdergarten“, S. 227 f. 573 Vgl. die Hinweise bei Mason, Moravian Church, S. 84 und Potts, Baptist Missionaries, S. 35. 574 Vgl. seine Berichte über Bengalen in PA BMS I, S. 14–32. Auch John Thomas war eingebunden in den Zirkel um Grant, Brown und William Chambers, die ihn später jedoch wegen seines eher schwierigen Charakters fallen ließen. Vgl. bereits Marshman, Life and Times, I, S. 28–30. Fälschlicherweise führt Marshman auf S. 28 Robert Chambers, den Bruder von William, an. Er beschreibt Thomas als „extravagant and mystical“, „irascible“ und „intemperate“, was auf viele seiner Kontakte befremdlich gewirkt habe. Zudem habe er Spekulationsgeschäfte betrieben, die ihn in die Verschuldung brachten und dazu führten, dass Grant seine finanzielle Unterstützung für ihn einstellte (S. 31). Vgl. auch Spear, Nabobs, S. 120.

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nem Besuch in Serampore mit einem Einheimischen gesprochen hatte, der bereits seit einigen Jahren für Grasmann arbeitete und sagte, er habe sich in dieser Zeit fast nur auf Portugiesisch mit dem Herrnhuter unterhalten, begann der in seinem Stolz getroffene Engländer Grasmann für völlig unqualifiziert in dieser Frage zu halten.575 Trotz der fehlenden Kontakte zu den Herrnhutern und der Erlebnisse von John Thomas mit Grasmann zeigte sich der Einfluss der Brüdergemeine eindeutig in Careys Vorstellungen einer in Subsistenzwirtschaft lebenden, sich (zumindest formell) politisch enthaltenden Gemeinschaft von verheirateten Missionaren (bestehend aus sieben bis acht Paaren) mit gemeinsamem Besitz und einem von der Gemeinschaft selbst geregelten Leben.576 Es war William Carey, der schon am 21. November 1797 den direkten Kontakt zu Missionaren der DEHM suchte. In einem Brief wandte er sich unmittelbar an Christian Friedrich Schwartz,577 der in Halle studiert hatte, seit 1750 Missionar in Tranquebar war und verschiedene Missionsstationen gründete, unter anderem in Tanjore, wo er seit 1772 wirkte. Seit 1767 befand er sich im Dienste der SPCK. Seine engen Kontakte nach Tranquebar und Halle blieben jedoch weiterhin, genauso wie bei den anderen SPCK-Missionaren, bestehen. Interessant ist der leider unbelegte Hinweis, Ole Bie, der dänische Resident und große Förderer von Careys Arbeit in Serampore, sei ein Schüler oder sogar Freund von Schwartz gewesen.578 Fest steht beispielsweise Bies Tätigkeit in Diensten der Asiatischen Kompanie in Tranquebar von 1757 bis 1762,579 insofern dürfte er zumindest Kontakte zu den Missionaren in und um Tranquebar gehabt haben, wie auch einige wenige Erwähnungen in der Korrespondenz der DEHM andeuten, obwohl er selbst – jedenfalls im Archiv der Franckeschen Stiftungen – weder als Adressat noch als Empfänger von Briefen in Erscheinung tritt.580 Carey stellte sich Schwartz in dem Brief vor, schilderte die Umstände seiner Ankunft in Indien, verwies auf die Gründung der Baptist Missionary Society in London und auf seine bisherige Arbeit: „I have long wished to open a correspondence with you, but have deferred writing on various accounts: at last, however my own desires, 575 576

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Vgl. Charles Bennett Lewis: The Life of John Thomas, Surgeon of the Earl of Oxford East Indiaman, and first Baptist Missionary to Bengal, London 1873, 140 („Mr. Grassman“). Vgl. zu den Herrnhuter Einflüssen auf die Baptisten etwa PA BMS I, 95 f., 151, 403; bereits frühzeitig: William Carey: An Enquiry into the Obligations of Christians, to Use Means for the Conversion of the Heathens. In which the Religious State of the Different Nations of the World, the Success of Former Undertakings, and the Practicability of Further Undertakings, are Considered, Leicester 1792, S. 11. Der Frage nach den Kontakten zwischen Baptisten und Herrnhutern in England geht Mason, Moravian Church, S. 84–89 nach. Vgl. PA BMS I, S. 428–433. Vgl. bereits die kurze Erwähnung bei Potts, Baptist Missionaries, S. 4. Zu Bartholomäus Ziegenbalg hatte sich Carey schon 1792 geäußert, vgl. Carey, Enquiry, S. 36. Vgl. Jeyaraj, Mission Reports, S. 31, Fn. 30 sowie bereits Lehmann, Es begann in Tranquebar, S. 190. Vgl. Smith, William Carey, S. 121 und Rasch, Dansk Ostindien, S. 236. Vgl. Feldbæk, Justesen, Kolonierne, S. 165. Vgl. Klein an Kiernander, 07.08.1773, AFSt/M 1 B 63: 35 oder Kohlhoff an Kiernander, 29.07.1773, AFSt/M 1 B 63: 36. In beiden Briefen wird Ole Bie als Übermittler der Todesnachricht von Johann Zacharias Kiernanders Frau, Ann Kiernander, geb. Wooley, an die Missionare genannt.

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and the solicitations of many christian friends who long to know the state of your mission, have prevailed over all excuses.“ Dem schließt sich ein detaillierter Fragenkatalog an, bestehend aus sieben Fragen, die unterschiedliche Aspekte der praktischen Missionsarbeit betreffen. So geht es beispielsweise um die Anzahl der Missionare und deren Vorgaben, um die Frage nach Stations- bzw. Reisemission, um die Rolle einheimischer Mitarbeiter, um eine Einschätzung des bisherigen Missionserfolges und um das ‚Kastenproblem‘. Zudem erwähnte der Baptist seine Übersetzungen und bot Schwartz an, ihm einige davon zukommen zu lassen.581 Carey wirkte also sehr entschieden und zielgerichtet auf einen Erfahrungsaustausch hin und schien bereit, sich von der DEHM beeinflussen zu lassen: „I hope it may be esteemed as the introduction to a useful correspondence.“582 Er sah sie offensichtlich nicht als Konkurrenzunternehmen an, sondern schien sie vielmehr geradezu zu verehren. Leider ist der Adressat Schwartz 1798 nach einer schweren Krankheit verstorben, so dass er nicht mehr hat antworten können. Dies übernahm in demselben Jahr noch sein Kollege Christian Wilhelm Gericke aus Vepery bei Madras, der gleich eingangs darauf verwies, er hoffe, Carey erhalte noch eine weitere Antwort aus Tanjore. Außerdem habe er Careys Brief nach Tranquebar weitergeleitet. Anschließend beantwortete er ausführlich und offen die von Carey gestellten Fragen und zeigte sich interessiert an Schriften aus Serampore. Carey solle letztere an den Reverend David Brown in Kalkutta übergeben, der sie dann an ihn weiterleiten werde.583 In dieser Aussage zeigt sich einmal mehr die zentrale interkonfessionelle Schnittstellenfunktion, die der bereits behandelte Brown zwischen den verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen in und um Kalkutta (und darüber hinaus584) ausfüllte, seien es die Herrnhuter, die Baptisten, die DEHM oder andere wie der EIC-Kaplan, Mitbegründer der Church Mission Society (CMS), Vize-Direktor des Fort William Colleges und dortige Professor für Griechisch und Latein Claudius Buchanan (1766–1815) und der zeitweise in Aldeen bei Serampore als Gast Browns ansässige Kaplan der EIC und spätere Missionar Henry Martyn (1781–1812).585 Brown hatte in Aldeen unmittelbar am Ufer des Hoogly einen verlassenen Hindu-Tempel übernommen und restaurieren lassen, der ihm nun einerseits als Kapelle, andererseits als Gasthaus diente. In diesem (Gebets-)Haus lebte Martyn fünf Monate lang. Dort traf sich zudem eine informelle ‚Clique‘586 um Carey, Martyn,

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Vgl. PA BMS I, S. 428–430. PA BMS I, S. 421 (Carey an Pearce, 29. April 1798). Vgl. PA BMS I, S. 430–433. Brown stand in Briefkontakt mit C. F. Schwartz und den anderen Missionaren im Süden des Subkontinents. Vgl. Simeon (Hg.), David Brown, S. 210 f. Der Name des Missionars wird dort – wie überhaupt häufig in englischsprachigen Schriften – verballhornt zu Swartz. 585 Vgl. zu den Kontakten zu Martyn beispielsweise Simeon (Hg.), David Brown, S. 137. 586 Dieser Begriff entstammt der Netzwerkforschung und bezeichnet „Zonen vergleichsweise starker Verflechtung im Netzwerk“, die etwa durch häufige „gegenseitige Erwähnungen der Korrespondenten“ entstehen können und/oder durch – wie in diesem Fall – regelmäßige Treffen über einen

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Brown und Buchanan regelmäßig, zu der auch immer wieder auswärtige Gäste stießen wie die Missionare der LMS.587 Es war nicht allein dem gemeinsamen Gebet vorbehalten, sondern auch dem Austausch untereinander. Wie im Grunde alle anderen Geistlichen und Missionare zeigte sich Martyn ebenso – zumindest in seinen Schriften – voller Bewunderung für die Missionare der DEHM, insbesondere für Schwartz.588 Intensivere direkte Verbindungen seiner Person zur DEHM sind jedoch nicht überliefert. Immerhin aber war Martyn über die Bibelübersetzungen von Fabricius informiert und zitiert in seiner Schrift Christian India (1811) einen Brief der DEHM an David Brown. Auch hätten die DEHMissionare Horst und Kohlhoff 1810 in einem anderen Schreiben, dessen Empfänger – möglicherweise Martyn – leider nicht genannt wird, den Eingang verschiedener Bibelübersetzungen bestätigt.589 Claudius Buchanan besaß zum Teil sogar persönliche Kontakte zu den Mitarbeitern und Missionaren der DEHM, so zu Kohlhoff, Pohle, John, Rottler, Horst, Schreyvogel, Obeck und über das Fort William College – so ist anzunehmen – wohl auch zu Päzold. 1806 hatte Buchanan auf einer Reise durch Südindien zudem die Briefe des verstorbenen Schwartz durchsehen dürfen, da vor allem auf Seiten der neuen Missionsgesellschaften in England ein großes Interesse an einem gedruckten Lebenslauf des so sehr verehrten Missionars bestanden.590 Die Erlaubnis, die Korrespondenz

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längeren Zeitraum. Vgl. für das Zitat die sich auf Briefkommunikation beziehenden Klara Decke, Ingrid Gabel: Der Hartlib-Kreis im südlichen Ostseeraum, in: Martin Krieger, Michael North (Hg.): Land und Meer. Kultureller Austausch zwischen Westeuropa und dem Ostseeraum in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2004, S. 221–253, hier: S. 224. Zu Brown und Buchanan vgl. Hugh Pearson: Memoirs of the life and writings of the Rev. Claudius Buchanan, D. D., Late Vice-Provost of the College of Fort William in Bengal, Philadelphia 1817, S. 109–112. Vgl. zu den – nicht von Anfang an unproblematischen – britischen Kontakten der Baptisten zu den Anglikanern Potts, Baptist Missionaries, v. a. S. 50 f., 169–182. Der Baptist William Carey berichtet von mehrfachen Treffen mit den LMS-Missionaren Des Granges und Taylor, die in „Martyn’s Pagoda“ stattgefunden hatten. Offenbar hatte sich dieses Haus zu einem bedeutenden Treffpunkt für Missionare und protestantische Geistliche entwickelt. Vgl. ausführlich George Smith: The Life of William Carey, D. D.: Shoemaker and Missionary, Cambridge 2011 (1885), S. 188–195. Vgl. Samuel Wilberforce (Hg.): Journals and letters of the Rev. Henry Martyn, B. D., late fellow of St John’s College, Cambridge and chaplain to the honourable East India Company, Vol. II, London 1837, S. 4, 151, 329–332 and Vol. I, S. 419. Vgl. Henry Martyn: Christian India, Or an appeal on behalf of 900 000 Christians in India, who want the Bible. A sermon, preached at Calcutta, on Tuesday, January 1 1811, for promoting the objects of the British and Foreign Bible Society, Calcutta 1811, S. 23–28. Vgl. mit ausführlichen Quellenauszügen Pearson, Memoirs Buchanan, S. 123–126, 138, 194, 305, 424, 494, v. a. aber 289–300 über Buchanans Besuch im Jahre 1806 in Tranquebar, Tanjore, Madras und Umgebung. Hierbei schaute er sich u. a. das Grab Ziegenbalgs, sein Wohnhaus, seine Bibliothek und den Garten Rottlers an und ließ sich vom dänischen Gouverneur den übrigen Missionaren vorstellen. Die Missionare seien „ashamed“ gewesen, „at my notice of the former glory of the mission compared with its present state“ (S. 293). Verschiedentlich gab er den Missionaren Geld. Vgl. zu Buchanan die Archivalien in Halle, etwa: Pohle an Knapp, 11.09.1806, AFSt/M 1 C 47: 86; Horst an Ubele, 14.10.1806, AFSt/M 1 C 47: 66; Schreyvogel an Knapp, 20.10.1806, AFSt/M 1 C 47: 57;

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von Schwartz einzusehen, kann als Vertrauensbeweis gedeutet werden und verweist auf die guten Verbindungen Buchanans zur DEHM, die sich überdies durch eine englischsprachige Biographie des angesehenen Missionars Werbung in eigener Sache und politische Einflussnahme in England zugunsten der Mission erhofft haben dürfte. Die genannten Briefe Careys an Schwartz wurden in den Periodical Accounts der Baptist Missionary Society vollständig abgedruckt, in Halle lassen sich bedauerlicherweise weder die Originale noch Kopien finden. Sie sind offenbar verloren gegangen oder nicht nach Halle weitergeleitet worden. Eine weitere Antwort aus Tanjore ist nicht mehr erfolgt oder ebenfalls verschwunden. Dies scheint schon insofern möglich, weil Buchanan bei seiner Durchsicht der Briefe von Schwartz bemerkte, dass jener lediglich die empfangene Korrespondenz aufbewahrt und die Kopien seiner eigenen Briefe vernichtet habe.591 Die gedruckten Missionsberichte dieser Zeit erwähnen diese Korrespondenz mit keinem Wort. Zumindest aber in einem Brief des Missionars Päzold an den Verbindungsmann der DEHM bei der SPCK in London, Pastor Johann Christian Christoph Ubele (1767-nach 1846) wird sie kurz angesprochen: „Diese Herren fingen einen Briefwechsel nach Tanschure an, da der Herr Schwarz schon todt war.“592 Die Initiative Careys zur Kontaktaufnahme führte also – soweit belegbar – nur zu einem einzigen Briefaustausch. Auf beiden Seiten finden sich jedoch kleinere Hinweise auf weiterhin bestehendes Interesse, genaue Beobachtungen und sogar auf direkte Besuche. Im Falle der Baptisten sind diese Hinweise verstreut in den Periodical Accounts und anderen Schriften zu entdecken, im Falle der DEHM lassen sich diesbezüglich zwölf Briefe anführen, die sich mal mehr mal weniger ausführlich mit den Baptisten beschäftigen. In der von Carey herausgegebenen Zeitung Friend of India beispielsweise, die in Form von The Statesman bis zum heutigen Tage existiert, ist 1818 ein Artikel zu lesen, der sich mit Johann Zacharias Kiernander und seinem Wirken in Calcutta beschäftigt. Dieser Artikel behauptet gar, Carey habe den bereits greisen Kiernander 1793 in Chinsura persönlich getroffen.593 Im Quellenmaterial der DEHM lässt sich solches zwar nicht belegen, es erscheint aber nicht unwahrscheinlich, wenn man etwa die gemeinsamen Verbindungen zu Brown, das Interesse Careys an anderen Missionsunternehmungen und die räumliche Nähe zueinander bedenkt. Ebenso sind Verbindungen zwischen dem Baptisten und dem Missionar Päzold anzunehmen, der 1802 nach Kalkutta reiste, um – nach einer Empfehlung durch Gericke – an dem John an Ubele, 05.03.1807, AFSt/M 3 L 11: 35; Cämmerer an Ubele, 30.09.1807, AFSt/M 3 L 11: 33; Ubele an Knapp, 16.09.1819, AFSt/M 1 C 53: 20. 591 Vgl. Pearson, Memoirs Buchanan, S. 299. 592 Päzold an Ubele, 27.10.1800, AFSt/M 1 C 41: 25a. 593 Vgl. Friend of India, Containing Information Relative to the State of Religion and Literature in India, with Occasional Intelligence from Europe and America, from May to December 1818, Vol. I, No. I, Serampore 1818. Vgl. auch Smith, William Carey, S. 81. Bei Witz, Religionspolitik, S. 33, Fn. 71 wird ein solches Treffen verneint.

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von Brown und Buchanan geleiteten Fort William College Tamil zu lehren.594 Seit 1801 war William Carey dort bereits als Lehrer für Bengali (und später für Marathi und Sanskrit) angestellt,595 was Christoph Samuel John in einem seiner Briefe ebenfalls erwähnte, sicherlich um den Baptisten gegenüber seinen Kritikern innerhalb der DEHM aufzuwerten.596 Die Statuten des anglikanischen Colleges sahen für seine Professoren eine religiöse Prüfung vor – im Unterschied zu seinen „Lecturers“ und „teachers“. Nur so konnten der Baptist Carey und der Lutheraner Päzold überhaupt angestellt werden.597 Aufgrund ihrer sich zeitlich überschneidenden Tätigkeit im College liegen also zwischen den lehrenden Kollegen Päzold und Carey persönliche Kontakte nahe. Ein baptistischer Periodical Account aus dem Jahre 1801 zitiert aus den Journals of the missionaries vom 21. Juni: „This day a christian from Madras arrived at our house. I obtained from him a very interesting account of the mission in that quarter. I have now the particulars of Tranquebar, and of the whole mission along the coast.“598 An mehreren Stellen werden sowohl Schwartz599 als auch Gericke lobend erwähnt, vor allem in Bezug auf vermeintlich spektakuläre Missionserfolge, wie derjenige über den William Ward 1802 berichtet: „We hear that Mr. Gericke […] has been on a journey into the Mysore country and near to Cape Comarin. Whole villages, it seems, are agreed to throw their idols out of their temples, and fit them up for the worship of the true God.“ Darüber hinaus nahm man bestürzt Anteil am Tode Gerickes.600 Am 29. April 1798 schrieb Carey von der Ankunft des Missionars Ringeltaube („Ringletube“) „whom I hope to see at this place in a few days“.601 Überhaupt konnte Carey bereits im Jahre 1799 in einem Brief genau die Namen der in Vepery, Tranquebar, Tanjore und anderen Orten lebenden Missionare aufzählen, zusammen mit der jeweiligen exakten örtlichen 594 Vgl. William Taylor: A Memoir of the First Centenary of the Earliest Protestant Mission at Madras, Madras 1847, S. 90, xxiii (Appendix D: Brief von Gericke an Brown u. a. über die Entsendung Päzolds und dessen allgemeine Unzufriedenheit als Missionar). Vgl. auch Päzold an Knapp, 27.03.1802, AFSt/M 1 C 43a: 54. 595 Vgl. John Clark Marshman: The Life and Times of Carey, Marshman, and Ward. Embracing the History of the Serampore Mission, Vol. I, Serampore 2005 (1859), S. 148 und Potts, Baptist Missionaries, S. 175. 596 Vgl. John an Knapp, 03.02.1803, AFSt/M 1 C 44a: 74: „Zwey baptistische Missionarien sind in Serampore, von denen der eine, W. Carrey, auch mit im Collegio die Bengal Sprache lehret.“ Dass die prestigeträchtige Anstellung im Fort William College dem „Dissenter“ und ehemaligen Schuhmacher Carey bzw. seiner Mission neue gesellschaftliche Kreise erschloss, erwähnt bereits Witz, Religionspolitik, S. 64. Zudem war die Anstellung mit einem beträchtlichen Gehalt verbunden. Vgl. NHB, 58. St. S. 838. Dort heißt es, die DEHM in Südindien habe ein Angebot erhalten, an dieser „Academie“ Tamil zu lehren. Als jährliches Gehalt werden 12.000 Rupien genannt. Nach sieben Jahren stünde dem Professor zudem eine Pension von 6.000 Rupien zu. 597 Vgl. zu Carey Andrew Porter: Religion versus Empire? British Protestant Missionaries and Overseas Expansion, 1700–1914, Manchester 2004, S. 69. 598 PA BMS II, S. 183. 599 Vgl. etwa PA BMS II, S. 115 f. (Extracts from Mr. Ward’s journal, 2. November 1800). 600 Carey an Williams, 15.11.1803, in: Williams (Hg.): Serampore Letters, S. 88 f. 601 PA BMS I, S. 422 (Carey an Pearce).

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Zuordnung.602 Die Baptisten zeigten sich also überaus gut informiert und nahmen lebhaften Anteil an der Arbeit der DEHM. Die Briefe der DEHM fallen allerdings nicht so rundum positiv aus wie die auf Vernetzung ausgerichteten Berichte der Baptisten. Der Inhalt der Halleschen Briefe ist weitaus disparater, deckt eine große Spannbreite ab: er reicht von heller Begeisterung über nüchterne Analyse und beobachtende neutrale Distanz bis zu scharfer Kritik oder deutlichem Konkurrenzdenken. Immer aber geht es auch darum, von den anderen zu lernen, was ja durchaus ein wechselseitiges Interesse gewesen zu sein scheint, denkt man an den erwähnten Fragenkatalog Careys zurück. Die erste Erwähnung der Baptisten findet sich in einem Brief Johann Christian Christoph Ubeles aus London, der 1799 noch sehr sachlich schrieb: Die Baptisten in England unterhalten eine Mission in Bengalen und ohngefähr 5 Missionarien. Einer unter ihnen übersetzt die Bibel in die bengalische Sprache. Mit dem N. T. ist er fertig. Die Baptisten lassen 2000 Exemplare in Calcutta drucken, und haben dazu 1000 Pf. Subscribirt. Ein Römischer Geistlicher aus Europa soll dort vor kurzem die evangelische Lehre angenommen haben, und baut in Bengalen ein Bethaus. Über diese Mission kommen hier heraus periodical accounts relative to the Baptist Society for propagating the Gospel among the Heathen.

Anschließend äußerte er sich ähnlich neutral über die LMS. Besonders bemerkenswert erschien ihm jedoch, dass diese Gesellschaft – wie im Übrigen die Herrnhuter – Handwerker zur Mission entsende. Überdies: „Diese Societät läßt sich nicht durch die weniger bedeutenden Unterschiede in Religionsmeinungen und gottesdienstlichen Verfassungen christlicher Parteyen und Secten abhalten, alle mit einzuschließen, die sie zur thätigen Beförderung ihrer Zwecke brauchbar findet.“ Mehr noch: „Sie rechnet es sich zum Ruhm, aus Anhängern der Hohen Kirche, aus Schottischen Presbyterianern von allen Denominationen, aus Seceders, Methodisten und anderen Parteyen zu bestehen.“603 Der Missionar Johann Peter Rottler aus Vepery ist neben dem eingangs zitierten John ein weiteres Beispiel für die Begeisterung eines Missionars für diese Gruppen. Er schrieb, nachdem er von den vier Baptisten William Moore, Joshua Rowe, John Biss und John Mardon604 auf dem Wege nach Serampore besucht worden war, 1805 in einem Brief an den Direktor der Franckeschen Stiftungen Georg Christian Knapp: „Ich halte sie für freunde des Herrn Jesu u. liebe sie, und habe manche angenehme u. ermunternde Unterhaltung mit ihnen. O, dass Eur. Hochw. solche redlichen Männer

602 Vgl. PA BMS I, S. 27 (Carey an Ryland, 1. April 1799). 603 Ubele an Schulze, 01.04.1799, AFSt/M 1 C 40a: 28. Dieser Brief ist auszugsweise abgedruckt in NHB 55 St. S. 658–662, zu den neuen Gesellschaften: S. 661 f. 604 Namentlich identifiziert nach Marshman, Life and Times, S. 212. Im Brief von Rottler werden keine Namen genannt.

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auch für unsere Mission finden u. suchen möge.“605 Auch berichtete er von der Ankunft methodistischer Missionare der London Missionary Society (zunächst noch Missionary Society), die offenbar eine Zeitlang bei ihm wohnten und verschiedentlich mit John, ihm und den anderen Missionaren speisten.606 Die in dem Brief von Rottler genannten Gründe für den Aufenthalt der Baptisten bestanden darin, dass die Frau des einen Missionars hochschwanger gewesen sei und so aufgrund des Risikos nicht habe weiterreisen dürfen, so dass zwei Baptisten in Vepery blieben, während die anderen zwei schon nach Serampore weiterreisten.607 Der zu dieser Zeit ebenfalls in Vepery ansässige, von der SPCK getragene Missionar Karl Wilhelm Päzold beschrieb in einem Brief von 1800 die Ankunft der Baptisten in Bengalen zunächst noch eher nüchtern, wenn auch schon mit negativen Vorzeichen. So betonte er etwa ihre Misserfolge („Die Versuche der Anabaptisten Missionarien in Bengalen entsprechen dem erwünschten Erfolg ganz und gar nicht.“) und vor allem die politischen Schwierigkeiten mit den Engländern: Die englische Regierung mag diese Herrn Missionarien gar nicht im englischen Gebiete lassen. Die ältern, welche etliche Jahre in Malda gewesen sind, wurden, wie man sagt, geheimer Weise von den dortigen Residenten geduldet und geschützt, allein drei Jahr ersuchen diese den […] Staatsmann Lord Mornington und plötzlich wurde ihnen befohlen, das fragliche Gebiet zu räumen. Sie werden nun wohl bald nach England zurückkehren. […] Die neue Missionssocietät scheint es zu wissen, dass die Regierung der Fortpflanzung des Evangelii nicht forthelfen und diesen Herren Them und Buchern öfnen will, wenigstens nicht unter der gegenwärtigen politischen Crisis.608

Diese Aussagen verweisen einerseits auf den Umstand, dass die Missionare auf englischem Territorium eigentlich – offiziell – nicht erwünscht waren, gerade in Revolutionszeiten, und sich ohne Lizenz – und deshalb illegal – dort aufhielten. Andererseits zeigen sie die bedeutende Rolle von einflussreichen Einzelpersonen bei der Duldung von Missionaren auf und verweisen auf die bereits angelaufenen englischen Diskussionen über das Für und Wider von Mission insgesamt in Indien.609 Wohl wegen der angenommenen Rückkehr nach England, ihrer Misserfolge und ihres Aufenthaltes im von Vepery und Tranquebar weit entfernten Bengalen sowie des Vorsprungs der schon etablierten DEHM nahm Päzold die Baptisten hier jedoch noch nicht als ernst605 Rottler an Knapp, 21.02.1805, AFSt/M 1 C 46: 106. 606 Vgl. die Hinweise in LMS, Transactions, II, S. 353 f. (Cran und Des Granges, Brief vom 8. März 1805). Die Rede ist von „Dr. R.“ und „Dr. J.“ Von Ersterem bekamen sie Sprachunterricht. Von Letzterem erhielten die Missionare überdies Bücher, die sie nach Europa schickten, um sie zur Ausbildung von zukünftigen Missionaren einzusetzen. 607 Dies findet Bestätigung in LMS, Transactions, II, S. 354. 608 Päzold an Ubele, 27.10.1800, AFSt/M 1 C 41: 25a. 609 Zu diesen Diskussionen vgl. Jörg Fisch: A Pamphlet War on Christian Missions in India 1807–1809, in: Journal of Asian History 19 (1985), S. 22–70.

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zunehmende Konkurrenz wahr, obwohl sich durchaus schon ablehnende Tendenzen andeuteten. Letztere erklären möglicherweise den Umstand, dass er während seiner Tätigkeit im Fort William College von Kalkutta seinen dortigen baptistischen Kollegen Carey in seiner Korrespondenz mit Halle nicht näher erwähnt.610 1805 begann er dann aber, sich gegenüber Direktor Knapp über die aus seiner Sicht leichtfertige Haltung des Missionars John (und anderer Missionare) zu beschweren: Die Baptisten halten sich noch in Vepery auf – und 2 von den in Trankebar arrivierten Methodisten werden auch hier erwartet! Was sie hier wollen, weiß ich nicht! Das ist gar nicht ihre Destination! Sie sollten sich in die, von der Society for Promoting xan Knowledge etablierten, Missionen gar nicht mischen – sondern sollten selbst (im Lande) neue Gemeinden anzulegen suchen, falls sie sich dazu berufen fühlen und Gaben und Muth dazu besitzen!

Und endlich zu John kommend heißt es weiter: „Der alte Herr John (welcher die Haupt-Direction bei dieser Sache hat) verfährt, wie mir vorkommt, zu begierig und unüberlegt bei der Sache – auch bemerken alle, welche ihn genau kennen, etwas Eitelkeit und Ruhmsucht bei seinem Verfahren.“611 Zwar richtete sich Päzolds mit moralischen Wertungen belegte Kritik hauptsächlich gegen die bei ihm als methodistisch wahrgenommene LMS, deren Missionare George Cran und Augustus Des Granges zusammen mit dem ehemaligen Missionar der DEHM Ringeltaube den Subkontinent gerade erreichten.612 Ringeltaube hatte sich nach seiner Rückkehr aus Indien in England zunächst der Brüdergemeine und dann der LMS angeschlossen.613 Doch scheint Päzold ebenfalls die Baptisten zu meinen. Dahinter steht eine entschiedene und aggressive Verteidigung des Missionsterritoriums der DEHM (hier vor allem des englischen Teils), die sich zudem legal auf dem Subkontinent aufhielt – nach Päzolds Argumentation ganz im Gegensatz zu den neuen Missionaren: „Alle diese neuen Missionarien haben keine Erlaubnis vom Court of Directors, noch vom Gouvernement, 610 Erst 1806 schreibt Päzold: „Hr Carey ist nun auch ein Professor der Bengalischen Sprache und des Sanskrits geworden.“ – Päzold an Knapp, 18.08.1806, AFSt/M 1 C 47: 88. 611 Päzold an Knapp, 05.03.1805, AFSt/M 1 C 46: 92 (Hervorhebungen im Originial). Zum Folgenden vgl. – wenn nicht anders angegeben – diesen Brief. 612 Der Katechet Daniel Schreyvogel (1777–1840, seit 1803 in Indien, ab 1813 Missionar) schreibt in seinem Tagebuch am 4. Dezember 1804, dass sechs Missionare der LMS angekommen seien. Neben Ringeltaube, Des Granges und Cran erwähnt er noch Read, Voss und Erhardt. Drei von ihnen würden weiter nach Ceylon reisen, die übrigen zunächst „Malabarisch“ lernen, um sich dann einen „guten Ort im Land“ zu suchen. Über Erhardt freute er sich besonders, handelte es sich doch bei ihm um einen „alten Freund“, den er aus dem Missionsseminar in Berlin kannte. Vgl. RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808, F 39–8, Indkomne sager ang. den ostindiske mission, 1800–1808, 1805. Vgl. ebenda den Brief John an Gude vom 12. Februar 1805, in dem der Missionar bemerkt, dass Voss, Erhardt und Read weiter nach Ceylon gereist seien. 613 Zu diesen Missionaren und ihrer Ankunft in Südasien vgl. Susan Visvanathan: Ringeltaube in the Midst of the Natives. 1813 and the Narratives of Distress, in: Andreas Gross, Y. Vincent Kumarados und Heike Liebau (Hg.): Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India, Vol. II: Christian Mission in the Indian Context, Halle 2006, S. 645–658.

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noch andere zu gehen“. Deshalb glaube er, dass wenn sie sich in den von „Englischen“ Missionaren besetzten Territorien niederließen, „das Gouvernement nach ihrer Indenture fragen wird, und diese Indenture kann keiner von ihnen aufweisen: – denn sie haben vom Court keine bekommen.“ Mit dieser Aussage lag Päzold paradoxerweise ganz auf einer Argumentationslinie mit den zeitgenössischen britischen Missionskritikern, die eine christliche Mission in Indien, von wem auch immer, gänzlich ablehnten und sich etwa bezüglich der Baptisten auf deren illegalen Aufenthalt ganz ohne Lizenz beriefen,614 so dass letztere schließlich ins dänische Serampore unter den Schutzmantel des Residenten Ole Bie ausweichen mussten. Die erwähnte Schwangerschaft, die zu dem verlängerten Aufenthalt zweier Baptisten in Südindien geführt haben soll, hielt Päzold entweder für einen Vorwand oder er wusste nichts von ihr. Die Gefahr einer Konkurrenz wertete er höher als die generell gerühmte Gastfreundschaft unter Europäern in Indien. Ohne freilich Päzold namentlich zu nennen, während die ihnen freundlich gesonnenen Missionare der DEHM von der LMS ja aufgeführt wurden, finden sich auch in den Missionsberichten der LMS versteckte Hinweise auf diese Probleme: „The catholic spirit which unites christians of various denominations in England, has not yet manifested itself in an equal degree in every other country. These, and other circumstances of a delicate nature, make us much at a loss to know how to act“. Diesbezüglich wolle man den Missionar Rottler der DEHM um Rat fragen.615 Mit seinen Befürchtungen schien Päzold jedoch nicht gänzlich falsch zu liegen. Hierauf deuten ebenfalls die publizierten Missionsberichte der LMS hin. Darin ist ein Brief Ringeltaubes vom 29. Januar 1805 abgedruckt, in dem der Missionar die klimatischen und wirtschaftlichen Vorzüge Tranquebars beschrieb und zugleich unter Anspielung auf die DEHM fragte, ob der Ort, where they will meet with real friends in all the persons attached to the Mission; where German Brethren […] will find teachers willing and able to instruct them to their advantage from the purest motives; and from whence they will have an easy access to any part of the country where Tamul is spoken,

nicht gerade deshalb vorteilhaft „for the preparation of young missionaries“ sei. Die Londoner Zentrale solle doch, wenn sie denn einverstanden sei, diesbezügliche Briefe an das Kommerzkollegium sowie das Missionskollegium in Kopenhagen schreiben und um Erlaubnis für diesen Plan bitten.616 Derselbe Band der Transactions der LMS enthält einen ausführlichen Brief der Missionare John, Rottler und Cämmerer aus dem

614 Vgl. Fisch, Pamphlet War, v. a. S. 61. 615 Vgl. inkl. des Zitats LMS, Transactions, II, S. 365 f. 616 Vgl. inklusive der Zitate LMS, Transactions of the Missionary Society, Vol. II, London 1804, S. 405–408 (Hervorhebungen im Original). Im Reichsarchiv Kopenhagen sind solcherlei Briefe offenbar nicht überliefert.

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Jahre 1799, der auf ein dem Brief Careys an Schwartz nicht unähnliches Schreiben antwortete und über Aufbau und Probleme der DEHM berichtete. Im Postskriptum dieses Briefes verwiesen die Missionare sogar darauf, dass nördlich von Tranquebar noch niemand missioniert habe, und dass dies ein durchaus geeignetes Gebiet für die LMS sein könnte.617 Und die neuangekommenen Missionare der BMS planten offenbar, in Madras eine eigene Mission einzurichten, hatten hierzu auch in der Bevölkerung einige Unterstützung.618 Hinzu kamen die Beschreibungen von Päzold, dem es nicht allein um die territoriale Konkurrenz und diejenige um die zu Missionierenden ging, sondern auch um die Denomination seiner Konvertiten. So findet sich in einem seiner Briefe die empörte Randbemerkung: „Die Baptisten in Serampore haben würklich eine alte Holländerin, die schon in ihrer Kindheit getaufft worden, anabaptisiert.“619 Solcherlei Berichte wurden zeitnah von der SPCK in London wahrgenommen und sorgten dort ebenfalls für Beunruhigung,620 zumal der deutsche Vertreter der SPCK Ubele schon 1800 unter Bezugnahme auf die inzwischen komplexe denominationelle Situation in England die Exklusivität der SPCK klargestellt hatte: sie sei „eine freywillige Religions Gesellschaft, zu welcher aber keine Methodisten, Dissenters, Socinianer und Presbyterianer Zutritt haben.“621 In früheren Zeiten war dies freilich noch anders. Erst ab den 1740er Jahren wurde die SPCK zunehmend von Männern der Hochkirche dominiert, damit einhergehend zudem konservativer hinsichtlich liturgischer Tradition, orthodoxer Doktrin und der Position des Bischofs und vor allem methodismusfeindlicher eingestellt.622 Auf Seiten der Pietisten in Halle waren es in den 1730er und 1740er Jahren insbesondere die Beziehungen der Methodisten zu den Herrnhutern in Europa, die für Misstrauen sorgten. Die Initiativen zur Kontaktaufnahme gingen zumeist allein von den Methodisten aus. Man stand ihnen – Daniel L. Brunner folgend – „polite but cool“ gegenüber. Ihre Werke wurden in Halle zudem nicht gedruckt, wobei hier zu differenzieren ist zwischen einerseits den beiden Mitbegründern des Methodismus John Wesley (1703–1791) und George Whitefield (1714–1770) und andererseits dem Methodisten Isaac Watts (1674–1748), der im Gegensatz zu den Genannten in wechselseitigem Briefkontakt mit Halle stand und dessen Schriften dort auch publiziert wurden.623 617 618 619 620

Vgl. LMS, Transactions, Vol. II, S. 180–187. Vgl. Marshman, Life and Times, S. 212 und Potts, Baptist Missionaries, S. 52. Päzold an Knapp, 05.03.1805, AFSt/M 1 C 46: 92. Vgl. den Bericht von Ubele an Knapp, 06.06.1806, AFSt/M 1 C 47: 91 und darin die vielen in Übersetzung wiedergegebenen Zitate. 621 Ubele an Knapp, 31.10.1800, AFSt/M 1 C 41: 27. 622 Vgl. Eamon Duffy: The Society of [sic] Promoting Christian Knowledge and Europe. The Background to the Founding of the Christentumsgesellschaft, in: Pietismus und Neuzeit 7 (1981), S. 28– 42, hier: 40 f. sowie Brunner, Halle Pietists in England, S. 192 und Kverndal, Seamen’s Mission, S. 23 (SPCK um 1800); N. 6, Fn. 103 (Hochkirchenpositionen). 623 Vgl. Brunner, Halle Pietists in England, S. 194, dort auch das Zitat. Überdies wurde das Waisenhaus von Watts in seinem Legat bedacht. Vgl. hierzu Albinus an S. A. Fabricius, 17.04.1749, AFSt/M 1 E 9: 62.

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Zu Beginn des Jahres 1806 verschärfte der Indienmissionar Päzold seinen Ton noch einmal: Kurz, die Trankebar Herrn Missionarien, seit dem sie sich mit den Methodisten und Baptisten eingelassen haben, sind ganz andere Leute geworden und halten weder von mir noch von Herr Ubele [Vertreter der DEHM bei der SPCK in London, TD] noch von unserer Societät etwas! [mit „Societät“ ist die SPCK gemeint, TD] […]Es scheint aber, die Ehr- und Ruhmsüchtigen Herrn, finden die alte Ordnung nicht mehr für gut?624

Päzold nahm also die Offenheit seiner Missionarskollegen gegenüber den neuen Gruppen als eindeutiges ‚Fehlverhalten‘ wahr und schien bereit, die DEHM in eine Dänisch-Hallesche und eine Englische (SPCK) Mission zu teilen, sollten die Halleschen Missionare sich, wie er offensichtlich befürchtete, mit der LMS verbinden: „allein sie sollten dann die methodistischen Missionarien für sich selbst behalten und sie nicht unserer Societät (ohne den Willen der letzteren) aufbürden!“625 Er sei jedenfalls strikt dagegen: „In ihre Confederation zutreten, kann ich unmöglich!“ Päzold deutete gar implizit an, die dänisch-halleschen Missionare unterschlügen bzw. verheimlichten inzwischen die deutschen „Wohlthaten“ (also Spenden) von Gönnern der Mission, die ihm als ‚englischem‘ Missionar doch ebenfalls zustünden.626 Es entstand also ein massiver Konflikt rund um die neuen Missionen. Nachfolgend beschwerte sich Missionar John bei Direktor Knapp in Halle darüber, dass die Briefe des SPCK-Vertreters Ubele in letzter Zeit „kalt, trocken und kränkend“ seien, dass „[s] elbst der unvergessl. Gericke wurde angetastet u. die letzten Tage seines thätigen Lebens noch sehr getrübt, weil er mit anderen gottsel. Gesellschaften u. Freunden korrespondiert hatte“,627 und dass Pastor Ubele in London darüber hinaus das Weitersenden von Briefen bewusst verzögere und ihnen das Druckpapier entzogen habe. Auch sei ein Originalbrief unterschlagen worden, denn – so John – „[m]it unserer Antwort auf einen herzl Brief von der Missionary Society scheinen wir uns bey unserer Societät nicht empfohlen zu haben“. Deshalb sahen die Missionare sich gezwungen, ein Duplikat zu versenden.628 Eine weitere Zusammenarbeit mit der SPCK und insbesondere 624 625 626 627 628

Päzold an Knapp, 31.01.1806, AFSt/M 1 C 47: 109 (Hervorhebungen im Original). Päzold an Knapp, 05.03.1805, AFSt/M 1 C 46: 92 (Hervorhebungen im Originial). Vgl. inkl. des Zitats Päzold an Knapp, 31.01.1806, AFSt/M 1 C 47: 109 (Hervorhebungen im Original). John an Knapp, 12.10.1805, AFSt/M 1 C 46: 50. Vgl. inkl. des Zitats John an Knapp, 03.02.1803, AFSt/M 1 C 44a: 74. Vgl. auch die Anmerkung zu dem von der LMS abgedruckten und oben bereits angeführten Antwortbrief der Halleschen Missionare, in dem darauf hingewiesen wird, dass der Brief „by various circumstances“ erst 1804 angekommen sei, obwohl er bereits 1799 verschickt worden war. LMS, Transactions, Vol. II, S. 180. Vgl. Ubele an Knapp, 31.10.1800, AFSt/M 1 C 41: 27, der aus London darauf hinwies, dass die Missionare sich nicht in die „Verhältnisse und Lage der Hochkirche gegen andere Seiten“ hineinversetzen könnten. Auch ließe die LMS „gleich alles was wohl von Ihnen spricht“ drucken und würden doch dabei sehr selektiv vorgehen. Aus diesen Gründen müsse man sehr behutsam sein, wenn man mit ihnen kommuniziere.

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mit Ubele sei unter diesen Umständen nur noch schwerlich möglich. Ähnlich wie Päzold scheint John eine Teilung der DEHM nicht mehr auszuschließen: Freylich werden wir viel verliehren, wenn die bisherigen Präsente aufhören sollten. Kommen sie aber nicht aus guten Herzen und werden durch Gleichgültigkeit und Geringschätzigkeit der Hauptsache verbittert, oder soll man ihret wegen jede Correspondenz u. Verbindung mit andern gottsel. Gesellschaften aufgeben, so will ich wenigstens lieber meinen Antheil an jedem Geschenk entbehren.

Demgegenüber „freue ich mich doch innig über den gesegneten Fortgang der neuen Missions Gesellschaften und über die Anzahl ihrer Missionarien, die so willig sich finden lassen“. Und noch darüber hinaus: „Mögen wir doch gerne abnehmen, wenn nur andere destomehr zunehmen und das Licht in andere Gegenden desto heller scheinet.“629 Sehr ähnlich heißt es bei Johns Kollegen Rottler: „Ich kann wol sagen, ich freue mich, wenn nur Christus der gekreuzigte gepredigt wird.“630 Aus diesen Aussagen spricht deutlich die Erkenntnis der eigenen Defizite und des Niederganges der Mission und die Hoffnung, dass wenn schon nicht die DEHM so doch wenigstens andere Gesellschaften die Mission weitertragen würden. Für das große Ganze waren zumindest einige Missionare also bereit, selbst zurückzustehen. Dementsprechend vereinbarte John 1805 mit Ringeltaube, dass letzterer doch die südlichen Gemeinden Managar und Palayankottai übernehmen möge, wofür er die Zustimmung Direktor Knapps erhielt, der sich jedoch insgesamt eher diplomatisch vermittelnd verhielt,631 um die SPCK nicht zu verschrecken und gleichzeitig das sich in Schwierigkeiten befindende Missionsunternehmen am Leben zu erhalten. Das Missionskollegium in Kopenhagen äußerte sich ebenfalls positiv zu den Missionaren der LMS und begrüßte zumindest die Unterstützung bei der „Besorgung“ der christlichen Gemeinde durch Ringeltaube dankbar – wohl auch angesichts fehlender personeller Alternativen.632 Für Beobachter von außen schien der Niedergang der DEHM und die Verschiebung hin zu anderen Missionsgruppierungen ebenfalls klar ersichtlich zu sein. So schrieb der durchaus mit der DEHM sympathisierende, der CMS nahestehende Claudius Buchanan 1806 bei seinem Besuch in Tanjore unter Bezugnahme auf die derzeitige Anwesenheit der LMS über die DEHM: „it appears as if the glory had now departed from Germany, and was given to England.“ Die Missionare der DEHM seien gar beschämt gewesen, „at my notice of the former glory of the mission compared with its present 629 John an Knapp, 12.10.1805, AFSt/M 1 C 46: 50. 630 Rottler an Knapp, 21.02.1805, AFSt/M 1 C 46: 106. 631 Vgl. John an Knapp, 12.10.1805, AFSt/M 1 C 46: 50 und die Antwort Knapp an John, 16.09.1806, AFSt/M 1 C 47: 78, der darin zudem die Hoffnung äußerte, SPCK und LMS würden sich doch noch vertragen. 632 Vgl. Missionskollegium an Missionare, 31.10.1805, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1765–1854, F 34, Ostindisk missions brevbog, S. 286 f.

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state“.633 Dass die Verbindungen zur von evangelikalen Anglikanern in Reaktion auf die ökumenische LMS und deren „offenkundige[r] Geringschätzung von Bekenntnis und Kirchenordnung“634 gegründeten CMS nicht nur begrüßt wurden, bezeugt ein sehr viel späterer Brief Päzolds, der 1817 einmal mehr befürchtete, dass die Mission gänzlich von den Methodisten und der CMS übernommen werde, was in Teilen ja auch geschah oder noch geschehen sollte.635 So übernahm die CMS etwa die Missionsschulen außerhalb Tranquebars.636 Die Wogen des oben beschriebenen Konfliktes glätteten sich für die DEHM (vor) erst, als der so stark kritisierte Ubele von London aus reagierte und 1806 ebenfalls einen Brief an Knapp in Halle schickte.637 Darin erläuterte er unter teilweise wörtlich zitierter Bezugnahme auf die Berichte der beiden anderen Missionsgesellschaften seine und die Position der SPCK, lobte die Einsicht Careys, der seine Missionare nach Serampore abberufen habe und wertete dies als positiv für die gesamte Indienmission:638 „Unsere Societät ist nun beruhigt, und unter den Europäischen Gesellschaften und ihren Missionarien wird diese Trennung, einen nützlichen Wetteifer hervorbringen können, welcher die Ausbreitung der göttlichen Lehre Jesu in Indien, mächtig befördern kann.“ Wie sich im weiteren Verlaufe des Schreibens herausstellt, ist mit dem Hinweis auf den ‚Wetteifer‘, der Wettbewerb um die ohnehin zu dieser Zeit rar werdende finanzielle Förderung und Spenden an die Mission gemeint, denn: „Nun behalten unsere Missionarien die ungetheilte Zuneigung der Gönner in Ostindien, welche bisher unsere Mission unterstützt haben, und neue Europäische Societäten werden sich in Zukunft nur das zuschreiben können, was ihnen zukommt.“639 Zugleich bemühte Ubele aber auch theologische Kritik an den beiden jungen Missionsgruppierungen, die die Polemiken von „High Churchmen“ und der SPCK in England durchaus treffend wiedergab:640 „Die zwey Missionarien Cran & Des Gran-

633 Zit. nach Pearson, Memoirs Buchanan, S. 293. 634 Ulrich Gäbler: Evangelikalismus und Réveil, in: Ders. (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 27–84, hier: S. 31. 635 Vgl. Päzold an Schwabe, 21.06.1817, AFSt/M 1 C 52: 44. 636 Vgl. Schreyvogel an Knapp, 01.01.1822, AFSt/M 1 C 64: 11. Vgl. The Missionary Register for the Year 1815: Containing an Abstract of the Proceedings of the Principal Missionary and Bible Societies throughout the World, Vol. III, London 1815, S. 79–81. 637 Vgl. Ubele an Knapp, 06.06.1806, AFSt/M 1 C 47: 91. 638 Vgl. zur Abberufung aus Sicht Careys auch Marshman, Life and Times, S. 212 f. und Potts, Baptist Missionaries, S. 52 f. Letzterer zitiert allerdings Archivmaterial, das belegt, dass es Carey hierbei wohl eher um die LMS und nicht um die DEHM ging. 1806 schlug Carey gar eine Konferenz aller protestantischen Missionsgesellschaften vor, die der Koordinierung der Aktivitäten dienen sollte. Auch dieser Vorschlag könnte mit den Problemen mit der DEHM zusammenhängen, was allein schon aus Gründen des Zeitpunktes naheliegt. 639 Ubele an Knapp, 06.06.1806, AFSt/M 1 C 47: 91. 640 Vgl. hierzu Lovegrove, Established Church, S. 122 f., 123 (Zitat): Lovegrove nennt, sich vor allem auf die Wanderprediger beziehend, als wesentliche Kritikpunkte der Hochkirche: „the ignorance, lack of social standing and the apparent absence of preparation“. Diesem Befund Lovegroves ent-

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ges, auch Dr Taylor [ John, TD] und Loveless [William Charles, TD], Calvinscher Lehre ergeben, die in Serampore sind auch Prädestinationer und Wiedertäufer, – dies würde keinen Segen unter den Tamulern gebracht haben.“ Zwar besäßen diese Missionare durchaus „Missions Geist“, wie er ihnen freimütig zugesteht, doch „allein so viele ihrer mir bekannten Brüder, Prediger, welche auf eben die Art ins Predigtamt gekommen sind, wie sie zu dem apostolischen Amte, eines Missionarii, kommen, lassen mich nicht von ihnen vermuthen, dass sie vorurtheilsfrey und gelehrt genug, und redlich sind“, das Wesentliche in der Religion vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Ubele sprach ihnen somit ihre fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, kurzum ihre theologische Qualifikation ab und kritisierte ihre Lehren wie die Prädestinationslehre.641 Dass sich in der Unübersichtlichkeit dieser komplexen Situation durchaus Konfliktund Verwirrungspotential verbarg, war wohl auch dem energischen Befürworter der neuen Missionen John bewusst, der nach Ankunft der Missionare eine Versammlung einberief, um die einheimischen Mitarbeiter der DEHM zu ermahnen, „keinen Anstoß zu nehmen, wenn sie hörten, daß einige von den neuen Missionarien Baptisten, Reformirte und Lutheraner genennet würden, indem sie in den wesentlichen Lehren des Christenthums nicht unterschieden wären.“ Ergänzend bemühte er gar den Vergleich zu den immerhin einig missionierenden Katholiken,642 eine Gegenüberstellung, die schon 1698 von August Hermann Francke in Bezug auf die eine Weltmission behindernden innerprotestantischen Streitereien zwischen Lutheranern und Reformierten herangezogen worden war.643 Einen Bogen zum Nachwuchsmangel der DEHM und den Vorschlägen einiger Missionare und Direktor Knapps schlagend, doch vermehrt Katecheten und Landprediger, überhaupt Unstudierte, zu ordinieren, bemerkte Ubele, dass es für studier-

sprechend bringt Ubele just an dieser Stelle seines Briefes das Beispiel des von der Methodistin Selina Hastings, Countess of Huntingdon (1707–1791) gesponsorten Buchbinders und populären Wanderpredigers William Cooper, der „keine theologische Kenntniss“ besäße. Vgl. inkl. des Zitats Ubele an Knapp, 06.06.1806, AFSt/M 1 C 47: 91 (Hervorhebung im Original). Die von Ubele namentlich genannte Selina Hastings, eine der wenigen Aristokraten im Umfeld der englischen Bewegungen, förderte durch die Ausbildung in ihrem Seminar (Trevecca College) sowie durch finanzielle Mittel vor allem die Wanderpredigerschaft. Vgl. zu ihrer Person Lovegrove, Established Church, S. 62–64, 68–70. 641 Dies wurde bereits früher kritisiert, so im Jahre 1750, als ein Vertrauter des Hofpredigers Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776) aus London nach Halle schrieb, er könne „little difference in doctrine between the Methodists and Pietism except Whitefield’s belief in predestination“ erkennen. Zit. n. Brunner, Halle Pietists in England, S. 193. Die Prädestinationslehre war auch ein Grund dafür, dass Whitefield sich schließlich von den Anhängern der Brüder Wesley abspaltete und einen calvinistisch orientierten Methodismus begründete. Vgl. Patrick Streiff: Der Methodismus bis 1784/1791, in: Martin Brecht, Klaus Deppermann (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 617–665, hier: S. 627 f. 642 Vgl. inkl. des Zitates NHB, 63. St. S. 273. 643 Vgl. Obst, Bekehrung, S. 39.

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te englische Theologen, „welche 4 bis 6, und nach mehreren Jahren, in Oxford und Cambridge studiert haben, und sich auf der Universität zu wirklichen Gelehrten, bey dem Gebrauche der herrlichsten Hülfsmittel gebildet haben“, schwer sei, sich in eine solche „Sinnesart“ hineinzudenken, nach der es ausreiche, jemanden zwei Jahre in einer Missionsschule („in dem Jänickesche Institute“644) auszubilden. Die Einstellung der Engländer gelte wohl ebenso für deutsche Theologen aus Jena, Halle oder Leipzig.645 „Der Englische Hochkirchenlehrer“ in der anglikanischen SPCK jedenfalls habe – so schrieb Ubele bereits im Jahre 1800 aus London – „eine große Abneigung gegen unstudierte Prediger welche nicht von einem Bischofe ordiniert worden sind, weil so viele hier Kirchenstürmer sind.“ Ohne Probleme könnte man in England zahlreiche unstudierte methodistisch Erweckte für die Mission finden, aber „keine würdige Engländer […], welche in O. [Oxford, TD] oder C. [Cambridge, TD] studiert haben.“ Die Befürchtung sei nun, dass die „Societät sich erniedrige oder wol gar den Tadel ihrer Mitglieder aussetze, wenn sie nun die Maxime der von denselben nicht geachteten, neuen syncretistischen Missions Societät [gemeint ist die London Missionary Society, TD] annähme.“646 Wie Eli Daniel Potts ausführlich schildert, deuten sich Ressentiments, vergleichbar denen der SPCK, auch bei den zwar evangelikalen aber immer noch anglikanischen Kaplanen der EIC gegenüber den unstudierten und aus niedrigen Schichten stammenden, nicht mehr der Kirche angehörenden Baptisten an, die schon allein aufgrund ihres Glaubens nicht an den großen englischen Universitäten zugelassen worden wären.647 Mit ihnen arbeitete man zwar einerseits intensiv zusammen, unterstützte sie häufig, wie man nur konnte und kritisierte, wie etwa 1806 der Kaplan Henry Martyn, die Konkurrenzsituationen zwischen den einzelnen Missionarsgruppen: Attended Marshman [ Joshua, einer der Baptisten in Serampore, TD] in the evening; he talked to me a good deal of the jealousies and envies of the different missionary societies, till I was quite harassed, and even disgusted with the accounts. Oh what mischief to the cause of God will Satan produce from this!648 644 Hier bezieht Ubele sich auf das 1800 gegründete Missionsseminar des Johannes Jänicke (1748– 1827), einem den Herrnhutern nahestehender Bruder des Indienmissionars Joseph Daniel Jänicke (1759–1800, DEHM). J. Jänicke bildete in Berlin für verschiedene Missionsgesellschaften Missionare aus, darunter unter anderem Daniel Schreyvogel (DEHM). Gefördert wurde die Schule u. a. von der LMS. Vgl. Karl Friedrich Ledderhose: Art. Jänicke, Johann, in: ADB 13 (1889), S. 699 f., Wellenreuther, Pietismus und Mission, S. 173 sowie als Auswahl aus zahlreichen in Halle überlieferten Archivalien J. Jänicke an Knapp, 31.08.1802, AFSt/M 1 C 43b: 52 (LMS), Ders. an Knapp, 26.08.1800, AFSt/M 1 C 41: 46 (Kandidatenvorschläge, darunter Schreyvogel) und Ders. an Stoppelberg, 17.12.1793, AFSt/M 1 C 34c: 110 (Bruder). 645 Vgl. inkl. der Zitate Ubele an Knapp, 06.06.1806, AFSt/M 1 C 47: 91. 646 Ubele an Knapp, 31.10.1800, AFSt/M 1 C 41: 27. 647 Vgl. zur anfänglichen und wiederkehrenden Skepsis von Brown und Buchanan Potts, Baptist Missionaries, S. 50 f., 54 f. 648 Wilberforce (Hg.), Journal and Letters, Vol. I, S. 491.

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Andererseits aber forderte eben dieser Martyn noch im gleichen Jahr seine in Cambridge ausgebildeten Kollegen auf, nach Indien zu kommen und sich um Bibelübersetzungen zu kümmern, denn sie seien „so much more fit in point of learning than any of the Dissenters are“. Letztere „cannot in ten years supply the want of what we gain by a classical education.“649 Dementsprechend engagierten Brown und Buchanan auch Henry Martyn für Bibelübersetzungen ins Hindi und ins Persische – unter Umgehung des brüskierten Carey, der eigentlich schon seit Jahren an diesen Projekten gearbeitet hatte. Weiterhin gründeten sie eine neue Society for Aiding the British and Foreign Bible Society, die der Spendeneinwerbung dienen sollte, obwohl es zuvor schon ein solches Komitee unter Mitarbeit der Baptisten gegeben hatte. Aus diesem Komitee hatten die beiden anglikanischen Evangelikalen Gelder in ihre neue Gesellschaft umgeleitet. Zudem warben die Kaplane einen arabischen Mitarbeiter der Baptisten ab. Diese Unstimmigkeiten und die Verteilung der Gelder konnten erst 1810 geklärt werden, kehrten jedoch 1818 wieder, so dass Carey endgültig die Bible Society verließ, die umgekehrt aber immerhin ihre Förderung der Baptisten nicht einstellte.650 Trotz aller vorhandenen Konflikte waren Kontakte von Methodisten und Baptisten zu den evangelikalen Kaplanen ungemein wichtig – schon allein wegen deren Verbindungen zu den politischen Eliten in Europa, die den Missionaren bisher aufgrund ihrer sozialen Herkunft weitgehend verbaut waren.651 Die einflussreiche Clapham Sect, eine evangelikale Bruderschaft, benannt nach einem Ort südwestlich von London, ist hier vor allem zu nennen. In ihr waren neben verschiedenen Parlamentsmitgliedern wie William Wilberforce (1759–1833), Missionsverfechter und Mitbegründer der Church Mission Society,652 auch Personen mit direktem Indienbezug vertreten, so Charles Grant und John Shore, erster Baron Teignmouth (1751–1834),653 der von 1793 bis 1798 Generalgouverneur von Fort William und zudem erster Präsident der genannten Bible Society war. Freiwilligengesellschaften wie diese, die auf die Teilnahme individueller Personen, nicht aber kirchlicher Körperschaften abstellten, boten den evangelikalen Anglikanern dabei Möglichkeiten der Überwindung kirchlicher Grenzen, ohne die Kirche zu verlassen und/oder sich den Gruppen der Methodisten oder Baptisten anzuschließen.654 Zur Konfliktvermeidung wurde die Kooperation ausgelagert in neue Organisationsformen. Anhand des geschilderten Konfliktes zwischen der DEHM (beziehungsweise innerhalb derselben) und den jungen Missionen lassen sich Unterschiede der verschie649 Wilberforce (Hg.), Journal and Letters, Vol. I, S. 460, 494. Vgl. hierzu bereits Potts, Baptist Missionaries, S. 54. 650 Vgl. Potts, Baptist Missionaries, S. 55 f. 651 Vgl. ebenso Kverndal, Seamen’s Missions, S. 22 f. 652 Vgl. Mason, Moravian Church, S. 176. 653 Zu den bereits aus Indien stammenden Verbindungen zwischen Grant und Shore vgl. etwa Mason, Moravian Church, S. 81. 654 Vgl. Kverndal, Seamen’s Missions, S. 24.

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denen Missionsgesellschaften beziehungsweise -anstalten aufzeigen, die zumindest in Teilen in der Lage sein können, auch die unterschiedliche Überlieferungssituation zu erklären. Es fällt nämlich auf, dass die in Halle gelagerten und zitierten Briefe bezüglich der baptistischen Mission in Serampore zumeist nicht in die für die Öffentlichkeit, insbesondere die Gönner der Mission, bestimmten Halleschen Missionsberichte aufgenommen wurden. Offenbar sah man zumindest die Streitigkeiten über sie in der Zentrale als Bedrohung für die eigenen Ambitionen an. Schließlich hatte die DEHM bereits in dieser Zeit mit verschiedenen Schwierigkeiten finanzieller und personeller Art zu kämpfen. Für das Spendenaufkommen wäre eine solche interne Uneinigkeit sicher nicht von Vorteil gewesen. Hierin könnte der Grund dafür liegen, dass man die Herrnhuter Brüder in Serampore nicht erwähnte, da man in direkter Konkurrenz vor Ort miteinander stand und mögliche Geldgeber nicht noch auf zusätzliche Unternehmungen aufmerksam machen wollte. Nicht zuletzt bargen solcherlei Berichte, zumal wenn sie positiv waren, zusätzliches Konfliktpotential mit der hochkirchlich dominierten SPCK in London, die sich massiv gegen eine Mission durch Laien aussprach und deren Vertreter auch die Verhältnisse in England, das heißt vor allem die Einigkeit der Kirche, zu beachten hatten. Genau das Gegenteil aber ist bei den Baptisten wie auch der LMS, die sich beide noch zu etablieren hatten, der Fall. Sie verweisen in ihren publizierten Berichten wann immer möglich hellauf begeistert auf andere Missionsgruppierungen und sind diesbezüglich weitaus offener und kooperativer als die „alte Mission“655 – wenngleich auch bei ihnen Einschränkungen zu verzeichnen sind. So befürchtete die baptistische Zentrale in London etwa 1806, unter Benutzung eines pietistischen Weltbegriffes, der „dem Ideal pietistischer Lebensführung in langer Tradition zum Gegenbild geworden ist“,656 dass die Missionare über ihre engen Kontakte zu den nach wie vor der Kirche Englands angehörenden Buchanan, Martyn und Brown in Gefahr gerieten, „of being drawn into this worldly, political religion“,657 von der man sich als „Dissenter“ ja losgesagt hatte. In einem Brief von Carey aus dem Jahre 1819 heißt es: „Families must be independent of each other; and stations must be independent of each other; but if the Mission is (to be) of any use, missionaries must be spread through the country, and must not act in hostility to each other.“658 Dies mag eine Anspielung auf die Probleme mit der DEHM gewesen sein.

655 Ein Ausdruck, den Ubele gebraucht, Ubele an Knapp, 06.06.1806, AFSt/M 1 C 47: 91 (Hervorhebung im Original). 656 Martin Scharfe: Über die Religion. Glaube und Zweifel in der Volkskultur, Köln 2004, S. 115. 657 Fuller an Marshman, 8. November 1806, zit. nach Potts, Baptist Missionaries, S. 53 f. (Hervorhebung im Original). 658 Letters from the Rev. Dr. Carey, relative to certain statements contained in three pamphlets lately published by the Rev. John Dyer, Secretary to the Baptist Missionary Society: W. Johns, M. D. and the Rev. E. Carey and W. Yates. The Third Edition, Enlarged from seventeen to Thirty-two Letters,

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Deren Missionare (und auch die Kritiker einer Zusammenarbeit) beobachteten jedoch trotz der Streitigkeiten weiterhin aufmerksam die anderen Missionsgesellschaften. So berichtete Päzold im August 1806 in einem Brief an Ubele über die Bibelübersetzungen der Baptisten, aus deren Schriften er zitierte. Dabei lässt er sogar Erfolge nicht unerwähnt: „Die Baptisten nennen sich in der Unterschrift, Protestant Missionaries. Durch den Hrn Carey, dem ältesten Missionarius unter ihnen, stehen sie mit der Societät und dem Collegium in Calcutta und selbst der Regierung einigermaßen in Verbindung.“659 Nicht zufällig verweist Päzold hier auf ihre Selbstbezeichnung als „Protestant Missionaries“, war dies doch Teil einer sich langsam entwickelnden, zwar von Rückschlägen begleiteten aber dennoch zumindest begrenzten Anerkennung durch die britische Kolonialregierung, die diesen Ausdruck mit Signalwirkung im März 1806 für die Baptisten öffentlich gebraucht und ihnen versprochen hatte, eine Erweiterung der Mission zu dulden.660 Doch schon im Juli 1806 folgte mit dem Aufstand von Sepoys in Vellore einer der angedeuteten Rückschläge, der sich in verschärften die Mission betreffenden Regeln, verstärkter Kontrolle, der Deportation von einigen Missionaren und massiver öffentlicher Kritik ausdrückte, weil sich Gerüchte verbreitet hatten, die EIC hätte beabsichtigt, alle Einheimischen zum Christentum zu bekehren und so maßgeblich den Aufstand ausgelöst.661 1808 benannte Päzold die neuen Missionsgesellschaften noch über die Erfolgsmeldungen hinaus gar als Vorbild für die Praxis der DEHM, denn es waren zuvor zwei Schiffe mit den Missionarsgehältern der DEHM verlorengegangen. Zudem sei der Wechselkurs oftmals sehr ungünstig gewesen. „Die Methodistische und Baptistische Societäten“, so der Missionar weiter, aber „halten es anders mit ihren Missionarien in Ostindien“, denn: „Diese haben Credit-Briefe und können Geld bekommen, wann und wie viel sie wollen und nöthig ist.“662 Vordergründige Gegnerschaft bewahrte also nicht zwangsläufig vor hintergründigen Lernprozessen. Doch erst als die baptistische Mission in Bengalen unübersehbar erfolgreicher und bekannter wurde, also ab etwa 1816,663 und man feststellte, dass man sich gegenseitig keine Konkurrenz (mehr) machte, dass man vielleicht gar von ihr profitieren konnte, ging man auch in den Halleschen Missionsberichten dazu über, sehr ausführlich, bemerkenswerterweise in aller Öffentlichkeit und vergleichsweise positiv über sie zu berichten. In den „Nachrichten von der Wirksamkeit der Missionarien der Baptis-

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containing Dr. Carey’s ideas respecting the Mission from the year 1815 to the present time, London 1828, Letter VI: To the Rev. Dr. Ryland (18.09.1819), S. 19. Päzold an Ubele, 18.08.1806, AFSt/M 1 C 47: 88. Vgl. Potts, Baptist Missionaries, S. 177. Vgl. Witz, Religionspolitik, S. 65. Vgl. hierzu etwa Fisch, Pamphlet War, S. 28 f. und Porter, Religion versus Empire?, S. 69 f. Päzold an Ubele, 30.09.1808, AFSt/M 1 C 47: 67. Vgl. NHB 66. St. S. 547 f. Anschließend findet sich ein Bericht über die London Missionary Society (S. 548–551). Die erste kürzere Erwähnung der Baptisten findet sich 1799 in NHB 55 St. S. 660 in Form eines Briefes von Ubele an Schulze.

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tengemeinde zu Serampore“ (1821) sprach man beispielsweise von den „herrliche[n] Druckanstalten“, vom „gelehrte[n] Dr. Carey“ und vom „gesegneten Zustand“ der Schulen mit ihrem „wohl berechnete[n]“ System. Kurzum: „Es ist dieses eine Unternehmung, von der man sich für die Zukunft sehr segensreiche Folgen versprechen kann.“664 Man druckte außerdem in den Missionsberichten auszugsweise verschiedene Pamphlete in Übersetzung ab, wie etwa zum Schulwesen der baptistischen Mission.665 Dies lag wohl an einer sich langsam wandelnden Einstellung der SPCK, denn sogar der vormals noch so kritische Ubele ließ sich 1821 bezüglich des Serampore College dazu hinreißen, aus London zu schreiben: „Ich bewunder ihren Eifer, Wahrheitsliebe und philologische Kenntnisse und bedauer, daß an unsern Missionarien niemals eine ähnliche Anstalt vereint gearbeitet wurde.“666 Im Unterschied zu Berichten über die Baptisten hatten die Halleschen Missionsberichte jedoch schon früh keinen Hehl aus der Begeisterung so mancher Missionare für die LMS gemacht, was womöglich mit dem ehemaligen Missionar der DEHM Ringeltaube zu tun hatte, der nun zwar für die LMS tätig war, den man aus seiner – wenn auch als wenig ruhmreich wahrgenommenen – DEHM-Zeit aber noch kannte und mit dem man auf Deutsch kommunizieren konnte. So publizierte man, dass die LMS Kontakt zu den Missionaren aufgenommen habe und vielleicht vorhabe, Missionare „in unsere Nachbarschaft zu senden.“667 Direktor Knapp verwies gar – wenn auch eher neutral, zumindest aber nicht abgeneigt – in seiner Vorrede, die auf den 20. April 1802 datiert ist, ausdrücklich, inklusive der Seitenangaben auf diese und weitere Bezugnahmen der Missionare, so zur Niederländischen Missionsgesellschaft in Rotterdam, die 1797 gegründet worden war und von der er ein Schreiben in sein Vorwort einfügte.668 Offenbar war die Größe des Konfliktpotenzials einer solchen Veröffentlichung zu diesem frühen Zeitpunkt für die Missionsleitung in Halle noch nicht unmittelbar ersichtlich bzw. zu vernachlässigen, erreichte der Konflikt doch erst 1805/06 seinen eigentlichen Höhepunkt. Doch selbst in dieser Zeit druckte man zumindest die positiven Bemerkungen der Missionare selbst in den Missionsberichten ab, ohne allerdings im Vorwort gesondert darauf hinzuweisen.669 Eine gewisse Vorsicht wird also erkennbar. 664 NHB 70. St. S. 938 f. Vgl. NHB 69. St. S. 878–913 („Aus dem zweyten Berichte des Herrn Missionarius Deocar Schmid an den Herausgeber 10. August 1818“), darin einiges zu Carey, der Asiatic Society etc. 665 Vgl. NHB 67. St. S. 597 f. (1818) und NHB 68. St. S. 757 f. 666 Ubele an Knapp, 01.02.1821, AFSt/M 2 C 17: 1 (Hervorhebung im Original). Hier fasst Ubele verschiedene Pamphlete der Baptisten für Knapp zusammen, verweist auch auf den darin gebrauchten Vergleich des neuen Colleges mit den Franckeschen Anstalten in Halle und schlägt vor, bestimmte Abschnitte in die Missionsberichte aufzunehmen. Vgl. dazu die Anlage: Auszug eines Textes von John Ryland und John Dyer das „Missionary College Serampore“ betreffend, AFSt/M 2 C 17: 2. 667 NHB 58. St. S. 828 („Allgemeine Nachricht von dem Zustande der Mission in Trankenbar, vom 1sten Januar 1800“). 668 Vgl. NHB 58. St. S. III–VIII. Vgl. früher schon (1799): NHB 55. St. S. XVI. 669 Vgl. nur NHB, 63. St. S. 273.

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Vor Ort in Indien scheint die Lage jedenfalls ein wenig anders gewesen zu sein als bei den Gesellschaften in Europa, wie ebenfalls aus dem Konflikt ersichtlich wird. Offenbar hing es hier eher von der jeweiligen Missionarspersönlichkeit ab, inwieweit man die neuen Missionare und ihre Arbeit begrüßte bzw. ihnen eher wohlwollend oder sogar begeistert gegenüberstand, wie Gericke, John und Rottler, oder sie ablehnte, wie Päzold, der Rücksicht auf die SPCK nehmen musste, von der er schließlich maßgeblich finanziell getragen wurde, und somit einige seiner Einstellungen aus England importiert hatte: „Ich habe dazu [zur Zusammenarbeit mit den neuen Missionen, TD] keine Erlaubnis von meinen Oberen erhalten – auch würde es mir höchst sonderbar und übel ausgelegt werden, wenn ich es täte.“670 Für ihn galt wie auch in geringerem Maße für die anglikanischen evangelikalen Kaplane in Indien zudem ein Zitat Ulrich Gäblers: „Das im Evangelikalismus angelegte Ziel, bestehende kirchliche Barrieren niederzureißen, wurde nicht erreicht. Gerade durch die Mobilisierung der Gläubigen erhöhte sich vielmehr deren Selbstbewußtsein, das auf die Wahrung eigener Identität zu verzichten nicht bereit war.“671 Das Aufkommen neuer Missionsunternehmungen verstärkte demnach noch die Bindung, die Päzold zur hochkirchlich ausgerichteten SPCK besaß. Es existierte aber auf der anderen Seite das Extrembeispiel des überaus flexiblen Indienmissionars Wilhelm Tobias Ringeltaube, der, obwohl nun der LMS zugehörig, auch Aufgaben seiner ehemaligen Muttergesellschaft DEHM übernahm und nach einem Treffen mit den eigentlich offiziell und allgemein sogar eher verhassten Katholiken 1806 in sein nach Halle geschicktes Tagebuch über die indische Sondersituation schrieb: „The opposition & distance between the different denominations is not so great, as it is in Europe“.672 Seine Identifikation mit der jeweiligen ihn entsendenden Gesellschaft nahm durch die neuen Möglichkeiten und Kontakte eher ab zugunsten einer allgemeinen Offenheit oder Flexibilität zugunsten der ‚Sache‘. Für das von ihm „eingesogene sectirische Wesen“ (Schulze) und die Absicht einer „gänzl. Reformation“ (so der Verdacht von Chemnitz) war er schon während seiner Zeit in der DEHM vor allem in den europäischen Zentralen kritisiert worden.673 Konflikte zwischen den einzelnen Missionsunternehmungen sind dem vorangegangenen nach nicht zu bestreiten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nicht auch Befürworter einer Ökumene und praktische Ansätze zu einer solchen gegeben hätte. Hier gilt es zu differenzieren. Aufgrund des Konfliktpotentials und schon bestehender Konflikte verhielten die Missionen sich zum Teil vorsichtiger und beteuerten in ihren Publikationen häufiger, dass man nicht bestrebt sei, sich gegenseitig Konkurrenz

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Päzold an Knapp, 31.01.1806, AFSt/M 1 C 47: 109 (Hervorhebungen im Original). Gäbler, Evangelikalismus, S. 36. Auszüge aus dem Tagebuch Ringeltaubes, 19.06.1806, AFSt/M 1 C 47: 84. Vgl. Chemnitz an Schulze, 01.08.1798, AFSt/M 4 E 5: 35 und Schulze an Chemnitz, 30.08.1798, AFSt/M 4 E 5: 36.

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zu machen. Wie gezeigt, lässt sich solches etwa in den Schriften Careys nachweisen, aber auch in denen der Herrnhuter. So schrieb der Bischof August Gottlieb Spangenberg 1782 unter Rückgriff auf seine in Visitationen gesammelten Erfahrungen eine Art „Lehrbuch“ für angehende Herrnhuter Missionare,674 in dem es heißt: Wenn sie aber zu solchen Heiden, unter welchen vor ihnen Mißionarii gewesen, einen Ruf bekommen solten; so war ihr vester Entschluß, sich an die Seelen, die unter der Pflege derselben stünden, mit ihrer Predigt nicht zu wenden, und noch viel weniger sie von ihnen ab, und an sich zu ziehen.675

Dies war jedoch nicht gleichbedeutend damit, dass man nicht auf einer persönlichen Ebene Umgang miteinander pflegen konnte und sich dabei auch über Missionsthemen austauschte. III.2 Die Familie in der Mission Ein noch wichtigerer potenzieller Stabilisierungsfaktor als die ambivalenten sozialen Vernetzungen mit anderen Europäern, der den Missionaren einerseits Hilfe und Sicherheit geben, sie aber andererseits auch erst in Versuchung zu ‚Fehlverhaltensweisen‘ führen konnte, könnte die Familie gewesen sein. Die Familienverhältnisse in den Indienmissionen sind bisher jedoch noch nicht umfassend untersucht worden.676 Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Missionarsfrauen selbst allenfalls vereinzelt in dieser Hinsicht aussagekräftige Quellen hinterlassen haben, Kinder offenbar gar nicht, während die männlichen Missionare den Ablauf ihres Familienlebens in den Schriften eher selten erwähnen und wenn dann zumeist lediglich im Falle von außerordentlichen Problemen.677 Dennoch lassen sich aus den eher spärlich zu findenden Informationen einige aufschlussreiche Rückschlüsse über das Missionsleben in den Kolonien und die damit verbundenen Handlungsspielräume für die Missionare wie auch zur Devianz ziehen.

674 Vgl. hierzu und zur Benennung als „Lehrbuch“ Meyer, Zinzendorf und Herrnhut, S. 69. 675 August Gottlieb Spangenberg: Von der Arbeit der evangelischen Brüder unter den Heiden, Barby 1782, S. 60. 676 Rühmliche Ausnahmen sind der Aufsatz von Erika Pabst: The Wives of the Missionaries: Their Experiences in India, in: Andreas Gross, Y. Vincent Kumaradoss, Heike Liebau (Hg.): Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India, Vol. II: Christian Mission in the Indian Context, Halle 2006, S. 685–704 sowie Liebau, Mitarbeiter, S. 358–364. 677 Vgl. zur Quellenproblematik ausführlich Liebau, Mitarbeiter, 354–356, 362.

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III.2.1 Frau und Mann Im Falle der DEHM sind für den Zeitraum 1715 bis 1838 39 Missionarsfrauen feststellbar, im Falle der Herrnhuter während der gesamten Zeit ihrer Indienmission demgegenüber lediglich zehn. Diese auffallend starke Diskrepanz ist zu einem großen Teil aus den relativ strikten Vorschriften bezüglich des Heiratens in der Herrnhuter Brüdergemeine erklärbar, sollten die in Frage kommenden Frauen doch möglichst ebenfalls Mitglied der Gemeine sein. Noch dazu wurden sie den Missionaren zuweilen (im ‚Missionsfeld‘ bis 1789678) gewissermaßen ‚von oben‘ zugelost. Es war den Herrnhutern in Indien aufgrund dieser Mitbestimmung aus der Ferne häufig also schlicht nicht möglich, sich vor Ort eine Ehefrau zu suchen – zumindest nicht, solange sie Missionare blieben. Das Streben nach einer Separierung von der ‚Welt‘ war bei ihnen ein wenig stärker ausgeprägt als bei den Hallensern. Aufgrund der in dieser Angelegenheit entscheidenden Einschränkung ihrer Handlungsspielräume waren die Brüder in Bengalen – im Unterschied zu denen in Tranquebar – allesamt ledig. Wie problematisch dies offenbar für den Einzelnen sein konnte, belegt der drastische Schritt des Missionars Raabs in Form seines Austrittes aus der Brüdergemeine. Zu ihm heißt es in den Diarien der bengalischen Brüder im Dezember 1788 bedauernd und nicht ohne Verständnis: „Er erklärte, daß er es in diesem Lande nicht ohne Frau schaffen könne, u. sey dafür entschloßen zu heyrathen“.679 Aus diesem Grunde werde Raabs nun nach Kalkutta gehen, „um zu sehn, ob er aus dem dortigen Orphan-hause ein Mädgen zur Frau bekommen könne.“680 Das besagte Waisenhaus diente vor allem der Unterbringung und Versorgung der vielen Waisen oder zurückgelassener Kinder von britischen Soldaten und indigenen Frauen. Regelmäßig fanden dort aber regelrechte ‚Heiratsmärkte‘ in Form von Bällen statt.681 Die Teilnahme an einem solchen Ball, wie auch schon der bloße Besuch eines solchen Ortes zwecks Partnersuche, entsprach nicht im Geringsten pietistischen Werten. Trotzdem blieben die Herrnhuter von Bengalen in Kontakt mit Raabs und äußerten sich nicht negativ über seine Person. Im Unterschied zu anderen Fehlverhaltensweisen, wie die Trunksucht des Bruders Beck, wurde sein Fall nicht einmal besonders ausführlich diskutiert. Daraus lässt sich auf ein gewisses Einfühlungsvermögen oder Verständnis unter den Mitbrüdern für seine Situation schließen. Anders als die Hallenser reflektierten die Herrnhuter in Bengalen mit der Ehelosigkeit einhergehende Probleme der Missionare in ihren Schriften kaum.

678 Vgl. Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine: 1700–2000, Göttingen 2011, S. 70. 679 UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 01.12.1788. 680 UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 02.12.1788. 681 Vgl. Jeremiah P. Losty: Calcutta. City of Palaces. A Survey in the Days of the East India Company 1690–1858, London 1990, S. 64–66.

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Dass die Probleme von Raabs nicht allein subjektiver Art und nicht nur auf Bengalen und die Herrnhuter beschränkt blieben, belegt ein Schreiben des Missionars John (DEHM), der kurz nach seiner Hochzeit auf die vorherige Behinderung seiner Missionsarbeit durch das Fehlen einer Ehefrau hinwies, denn: Seit meiner Verheyrathung verrichte ich meine Geschäfte mit doppelter Munterkeit, weniger Hindernissen und genieße eine bessere Gesundheit. Vorher machte mich die Einsamkeit, die eigne Besorgung oeconomischer Umstände öfters hypochondrisch, kräncklich und hinderte mich nicht selten an meinen Geschäften.682

Es handelte sich hierbei um Argumente, die, wie zu zeigen sein wird, seit Beginn der Mission genauso von anderen Missionaren immer wieder vorgebracht wurden. Mit dem Missionar Jänicke (DEHM) gab es umgekehrt aber auch das einzelne Beispiel eines wohl aus bewusster Erwägung und kritischer Reflexion ledig bleibenden Missionars. Dabei argumentierte Jänicke sehr pragmatisch: er brauche – noch in Deutschland – Zeit, die er nicht habe, um sich zu entscheiden. Für eine Frau sei es darüber hinaus nicht leicht nach Indien zu gehen, eventuell würde sie ihm deshalb dort aus Unzufriedenheit das Leben unnötig schwer machen. Eine Ehe wurde von den Missionaren also nicht zwangsläufig als Sicherheit bietender Faktor angesehen, im Falle Jänickes eher im Gegenteil. Zudem müssten ihre Eltern die Erlaubnis für die gefahrvolle Seereise erteilen, so Jänicke weiter. In Indien müsse er zunächst bei einem anderen Missionar unterkommen. Zudem sei eine Frau eine große Ablenkung. Hinzu käme noch der Mangel an vornehmlich finanziellen Mitteln.683 Die Junggesellen in der DEHM wurden von den Familien der verheirateten Missionare mitversorgt und durften dort zum Beispiel essen. Sie mussten jedoch monatlich dafür bezahlen, genauso wie für den eigens für sie zuständigen Diener, der sich um den Haushalt kümmerte.684 Eine zusätzlich zu den vergleichsweise strikten Heiratsregelungen der Brüdergemeine plausible Erklärung für die Unterschiede zwischen den Herrnhutern und den Hallensern hinsichtlich des Heiratens findet sich in den im Vergleich zur DEHM noch größeren wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Herrnhuter, denen es deutlich schwerer gefallen sein dürfte als der DEHM, zusätzlich zu sich selbst noch eine Frau oder gar eine Familie zu ernähren. Die Probleme deutete der Herrnhuter Raabs – ähnlich wie John und andere Halleschen Missionare – ja schon an, indem er darauf verwies, dass er angesichts der ‚indischen‘ Umstände auf die Hilfe einer Frau angewiesen sei. Die Missionare der DEHM erhielten im Unterschied zu denen der Brüdergemeine

682 John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24. 683 Vgl. Jänicke an Pasche, 29.01.1789, AFSt/M 1 30c: 35. 684 Vgl. John, Rottler an Missionskollegium, „Pro Memoria für neue Missionarien“, 20.01.1784, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1738–1808. Vgl. dazu Liebau, Mitarbeiter, S. 157.

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finanzielle Unterstützung und ein Gehalt aus Europa. Johns Schilderungen deuten jedoch darauf hin, dass diese Förderung nicht hinreichend war, das insgesamt prekäre Leben eines Missionars mitsamt seiner Familie entscheidend zu erleichtern: Vor seiner Hochzeit habe er 250 Reichstaler erhalten, was nicht einmal für einen Missionar allein ausreiche. Diese Probleme der Mission erkennend habe das Missionskollegium die Summe für Verheiratete zwar um fünfzig Reichstaler erhöht, trotzdem habe John Schulden machen müssen, um seinen Haushalt einrichten und führen zu können und seine Familie zu ernähren. Nicht einmal 350 Reichstaler würden „zur Erhaltung einer Familie in Tranquebar […] zureichen, sonderl da mein Töchterlein mir auch was kostet.“ Seine Schulden betrügen nun 300 Reichstaler „und ich will froh seyn, wenn sie sich nicht vergrößern.“685 Doch trotz aller finanziellen Probleme waren die Missionare der DEHM insgesamt im Gegensatz zu den Herrnhutern häufig sogar mehrfach verheiratet, wenn frühere Frauen verstorben waren. Dies gilt als Extrembeispiele etwa für Johann Zacharias Kiernander, der genauso wie sein Kollege Oluf Maderup686 drei Mal geheiratet hatte. Umgekehrt waren die betreffenden Frauen selbst oft Witwen. In der DEHM war dies bei mindestens zehn Ehefrauen der Fall. Zum Teil handelte es sich schon um mehrfache Witwen.687 Gerade aus Sicht dieser Witwen dürften zumeist Versorgungsaspekte im Vordergrund gestanden haben. Solches galt jedoch nicht immer, waren darunter doch ebenso vergleichsweise reiche Frauen (im Falle Kiernanders oder Gründlers etwa). Immerhin konkurrierten sie mit weitaus jüngeren Frauen. Insgesamt gesehen ermöglichte die DEHM bezüglich einer Familiengründung dem einzelnen Missionar größere Handlungsspielräume, als dies bei den Herrnhutern der Fall war – wenngleich offenbar auf einem niedrigen finanziellen Gesamtniveau, das die Missionare der DEHM oftmals geradezu zu Nebentätigkeiten zwang. Aufschlussreich ist die soziale und ‚nationale‘ Herkunft der Ehefrauen in der DEHM, die den gesellschaftlichen Aufbau der Kolonien, die hohe Mortalität und den generellen Mangel an europäischen Frauen widerspiegelt.688 Letzteres betonte John 1778 ausdrücklich:

685 Vgl. inkl. der Zitate John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24. 686 Vgl. zu ihm ausführlich Jobst Reller: Oluf Maderup. A Danish Missionary in Tranquebar, in: Andreas Gross, Y. Vincent Kumaradoss, Heike Liebau (Hg.): Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India, Vol. II: Christian Mission in the Indian Context, Halle 2006, S. 595–610. 687 Vgl. Erika Pabst: The Wives of Missionaries 1715–1838, in: Andreas Gross, Y. Vincent Kumaradoss, Heike Liebau (Hg.): Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India, Vol. III: Communication between India and Europa, Halle 2006, S. 1529–1541, zu den beiden Beispielen vgl. S. 1533–1535. 688 Vgl. hierzu bereits Ghosh, Condition, S. 132–134, der ebenfalls einen „shortage of [European, TD] women“ (S. 134) feststellt und die damit einhergehenden Probleme bei Bällen in Kalkutta beschreibt. Diesbezüglich gilt es jedoch ein wenig zu differenzieren: Tranquebar etwa war offenbar

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Ofte reute es mich, dass ich aus unzeitiger Scham mir nicht bey der guten Gelegenheit in Copenhagen schon eine Gehülfin ausersehen hatte und selbst Brüder frugen mich, warum ich es nicht gethan? da hier die Gelegenheit dazu so rar sey eine rechtschaffene und fleisige Gehülfhin anzutreffen.689

Konsequenterweise formulierten John und Rottler 1784 in einem Pro Memoria für neue Missionarien, dass es für einen angehenden Missionar vorteilhaft sei, „wenn er vor seiner Abreise sich eine fromme, geschickte und gesellschaftliche Gehülfin erwählet und mitbringet.“690 In Indien müsste er sehr lange und wahrscheinlich vergebens suchen. Er würde wohl keine finden. Der Frauenmangel hatte Rückwirkungen auf ‚Fehlverhaltensweisen‘ nicht nur der Missionare, worauf beispielsweise die vielen Hinweise auf die von den Missionaren in den Quellen so genannte, aber im Sinne einer gewissen Tabuisierung von sexuellen und körperlichen Themen nicht näher definierte „Hurerey“ hindeuten.691 Der Begriff dürfte ebenso auf als illegitim wahrgenommene Beziehungen Anwendung gefunden haben. So hatte etwa der ehemalige dänische Gouverneur Hans Diderich Brinck-Seidelin (1750–1831) mit seiner „quasi-femme“ zusammengelebt, wie ein Brief von Adèle Mourier (1803–1855), der Schwester des damaligen Gouverneurs Konrad Emile Mourier (1795–1865), 1833 wörtlich feststellte. Mit dieser gewissen Madame Søborg war der Ex-Gouverneur aber nicht verheiratet gewesen, was dafür sorgte, dass sie von den anderen europäischen Frauen und manchen Männern in Tranquebar regelrecht ausgegrenzt wurde. Die Quelle stellte diesen Fall (nicht die Reaktion) als unerwünschten Rückfall in alte Zeiten dar, als zum Beispiel Gouverneur Peter Anker mit seiner sogenannten Gesellschafterin zusammenlebte, ohne verheiratet gewesen zu sein.692

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zumindest für eine kurze Zeit von einem Männermangel betroffen, weil die europäischen Söhne oftmals nach Europa zur weiteren Ausbildung entsendet wurden. Vgl. „Staat von Trankenbar nebst einer Application auf die Missionarien“, 20.12.1737, Nikolaus Dal, AFSt/M 2 E 46: 59. Zudem musste ein Mann eine Familie versorgen und eine Aussteuer bereitstellen können. Für eine Mehrheit der Männer dürfte dies nicht möglich gewesen sein, denkt man etwa an die ‚weißen Subalternen‘. Für Missionare war solches ebenfalls oftmals schwierig, wie zu zeigen sein wird. Somit relativiert sich der Begriff des Frauenmangels ein wenig, wenngleich er im Großen und Ganzen sicher galt. John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24. John, Rottler an Missionskollegium, „Pro Memoria für neue Missionarien“, 20.01.1784, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1738– 1808. So in HB 11. Cont, S. 944. Vgl. Hüttemann an Francke über die unverheirateten Europäer, 18.08.1751, AFSt/M 1 B 41: 52. Vgl. zur Tabuisierung Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Das Haus und seine Menschen. 16.–18. Jahrhundert, München 2005, S. 191. Vgl. Louise Sebro: Everyday Life between Private and Public. Governor Families and Their Servants, in: Esther Fihl (Hg.): The Governor’s Residence in Tranquebar. The House and the Daily Life of Its People, 1770–1845, Kopenhagen 2017, S. 114–151, hier: S. 139.

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In vielen Fällen ist die soziale Herkunft, das genaue Lebensalter693 oder der Geburtsort der jeweiligen Ehefrau eines Missionars leider unbekannt.694 Dennoch zeigt sich, dass die Bräute verhältnismäßig oft Töchter von Militäroffizieren (5) oder – noch häufiger – von anderen Missionaren (7) waren. Nur wenig seltener waren ihre Väter Teil der obrigkeitlichen Verwaltung (4) oder in der Dänischen Ostindienkompanie (2) tätig. Hinzu kamen zwei Händler und ein Uhrmacher, der gleich zwei Töchter mit Missionaren verheiratete, sowie ein Kopenhagener Professor und ein Tabakinspektor. Hieran werden die bürgerliche Standesorientierung der Missionare und ihre Kontakte sowie ihr gehobener gesellschaftlicher Status innerhalb der Kolonie erkennbar. Auf pragmatische, mindestens genauso aber auf religiös-pietistische Kriterien deuten die nicht wenigen Hochzeiten mit den Töchtern von Missionarskollegen oder von Missionarskindern untereinander hin.695 Immerhin war auf diese Weise eine gewisse Anpassung gleichzeitig an indische wie europäische Verhältnisse schon gewährleistet, sei es sprachlich, klimatisch oder kulturell. Für die Mission konnte dies nicht zuletzt aus Kostengründen nur vorteilhaft sein.696 Ein pietistischer Anspruch lässt sich in Aussagen der Missionare selbst entdecken, etwa wenn der Missionar Breithaupt 1753 erwähnte, dass er allein eine „gottesfürchtige Person Evangelischer Religion“ zu heiraten wünsche. Darum bitte er Gott.697 Ähnliche und andere Kriterien finden sich bei seinem Kollegen John: Was erstlich meine Verheyrathung betrifft, so kan ich Gott nicht genug danken, dass er mir an meiner Frau eine treue, häussliche wahre Gehülfin und Gesellschafterin geschenket, bey welcher sonderlich die erste Anlage zum rechtschaffenen Christenthum immer mehr Ernst wird.698

Und: Irgendwann sei die Zeit gekommen, da mir Gott meine jetzige Gehülfin anwies, welches ich als eine besondere Providenz Gottes erkante, die mir auch dadurch sehr offenbar wurde, da ich an ebendem Tage als ich das nächste mahl zu ihr gehen wolte, in der ordinären Biebel Lection den Spruch hatte: Es ist nicht gut dass der Mensch allein sey; ich will ihm eine Gehülfin schaffen.699

693 Aufgrund des Mangels an Daten sind die Zahlen zum Heiratsalter wenig aussagekräftig. Die jüngste Braut war vierzehn, die älteste 48. Die meisten Frauen waren zum Zeitpunkt der Hochzeit mit dem jeweiligen Missionar zwischen vierzehn und 25 Jahren alt. Die älteren Frauen waren zumeist Witwen. 694 Die folgenden Auswertungen beruhen, wenn nicht anders angegeben, auf den Kurzbiographien zu den Missionarsfrauen der DEHM bei Pabst, Wives 1715–1838. 695 Vgl. die Beispiele bei Pabst, Wives Experiences, S. 694. 696 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 360. 697 Vgl. inkl. des Zitats Breithaupt an G. A. Francke, 02.10.1753, AFSt/M 1 B 43: 37. 698 John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24. 699 John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24.

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John bewertete das Zusammentreffen mit der zukünftigen Ehefrau in seiner damaligen verzweifelten Situation also als ein besonderes Zeichen Gottes und lag so ganz auf der Linie pietistischer Frömmigkeit.700 Zudem war die Partnerwahl damit für die Missionszentrale quasi unangreifbar, war sie doch von Gott als letzte Instanz herbeigeführt und damit umfassend legitimiert worden. John bestätigend und ergänzend können die frühen Missionare herangezogen werden: Bei dem ohne Frau nach Indien gereisten Ziegenbalg heißt es bereits 1709 in einem Brief an seinen Lehrer Joachim Lange: „Alleine wenn ich in hohe Familie und nach Geld heiraten wollte, so hätte ich allhier vielfältige Gelegenheit dazu gehabt, sintemal mir sowohl von den Dänen als auch von den Holländern dergleichen Personen angetragen worden.“701 Ihm, wie seinen ledigen Kollegen Plütschau und Gründler ebenso, ginge es jedoch nicht um finanzielle oder sonstige Vorteile einer Heirat, die in der ‚weltlichen‘ kolonialen Gesellschaft von großer Bedeutung waren, sondern vielmehr um ein „sehr demütiges, frommes, gottgelassenes, unter allerlei Versuchungen wohlgerüstetes und in den Wegen des Herrn wohlerfahrenes Kind“.702 Die Missionare wollten möglichst Frauen aus dem deutschsprachigen Raum (oder Dänemark) und noch dazu einem pietistisch geprägten Milieu heiraten.703 Zu diesem Zweck machten sie namentliche Vorschläge im besagten Brief. Lange sollte ihnen hierbei als Vermittler in Europa dienen. Zugleich zeigen die Zitate, dass andere Europäer in den Kolonialstützpunkten aktiv versuchten, die Missionare mit anderen Europäern aus ihrem sozialen Umfeld zu ‚verkuppeln‘, dass also bei der Partnerwahl auch von ‚außen‘, das heißt von außerhalb der Mission, durchaus eine gewisse Lenkung versucht wurde. Eine solche Vermittlung diente neben den Versorgungsaspekten zugleich dem Aufbau oder der Festigung von nutzbringenden Beziehungsgeflechten. So sollen die übrigen Europäer den Missionaren bestimmte Verbindungen nahegelegt haben, um dadurch „in große Freundschaft [zu] kommen“. Und weiter heißt es bei Ziegenbalg gar: „wenn man sich dessen geweigert, so hats geheißen, man verachte ihre Freundschaft.“704 Die Ablehnung eines solchen Angebots war also sogar gesellschaftlich negativ sanktioniert und konnte eventuell als Beleidigung aufgefasst werden. Verständlich wird dieser Standpunkt durch den Umstand, dass eine angemessene Ehe in der frühen

700 701 702 703

Vgl. das Beispiel Franckes bei van Dülmen, Kultur und Alltag, Bd. 1, S. 168. Lehmann (Hg.), Alte Briefe, S. 123. Lehmann (Hg.), Alte Briefe, S. 123 f. Vgl. hierzu und zu den Zitaten bereits Andreas Gross: Maria Dorothea Ziegenbalg and Utilia Elisabeth Gründler. The First Two Wives of Missionaries in Tranquebar, in: Ders., Y. Vincent Kumaradoss, Heike Liebau (Hg.): Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India, Vol. II: Christian Mission in the Indian Context, Halle 2006, S. 705–718, hier v. a. S. 706 f. Vgl. zu den Pietisten in Europa Andreas Gestrich: Ehe, Familie, Kinder im Pietismus. ‚Der gezähmte Teufel‘, in: Martin Brecht u. a. (Hg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004, S. 498–522, hier: S. 504 f. 704 Lehmann (Hg.), Alte Briefe, S. 123.

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Neuzeit als essentiell für den jeweiligen gesellschaftlichen Status betrachtet wurde.705 Hierauf mögen John und Rottler 1784 angespielt haben, als sie davon sprachen, der angehende Missionar solle sich doch in Europa nicht nur eine „fromme“ und „geschickte“, sondern auch „gesellschaftliche“ Frau suchen.706 Trotzdem und offenbar unverständlich für andere soziale Gruppen lehnten die Missionare zumindest offiziell und dabei ganz dem pietistischen Wertekosmos folgend, eine ‚weltlich‘ – oder konkreter: eine finanziell – motivierte Heirat ab, die dennoch immer wieder als Vorwurf, so bei Kiernander und Gründler, auftauchte. Überdies wurde in der Zentrale der frühen Halleschen Mission und innerhalb des Missionskollegiums die Heirat generell eher kritisch und als Ablenkung von der missionarischen Pflichterfüllung gesehen. Später – wohl auch aufgrund der zahlreich und umfangreich überlieferten Problemschilderungen der Missionare – änderte sich diese Einstellung weitgehend. Die in der Basler Mission des 19. Jahrhunderts von der Zentrale organisiert stattfindende Suche nach Ehefrauen in Europa, um diese als ‚Missionsbräute‘ in die Ferne zu entsenden, war in der DEHM weitgehend unüblich.707 Dennoch existiert das Beispiel des einigermaßen empörten Missionars Schwartz, dem man offenbar wider Wissen eine noch dazu als unschicklich wahrgenommene, ältere Frau nach Indien schickte, die er dann letztlich nicht heiratete, obwohl er durchaus nichts Grundsätzliches gegen eine Ehe einzuwenden hatte.708 Denkt man an die weitgehenden Mitsprachebefugnisse der deutschen Zentrale, entsprach ein solches Vorgehen eher noch dem der Herrnhuter Brüdergemeine. Innerhalb der DEHM kam es jedoch häufiger – und dies vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – vor, in einem Schreiben nach Europa um das Arrangieren einer Ehe zu bitten. Gerade für Witwer schien dies das oftmals einzig verbliebene Mittel, eine passende Frau zu finden, gewesen zu sein.709 Im Falle von Schwartz nahm man in Europa irrtümlicherweise an, er habe schriftlich darum gebeten, ihm eine Frau zu vermitteln,710 einmal mehr ein Beleg für die entfernungsbedingten Kommunikationsschwierigkeiten, die zu solch schwerwiegenden Missverständnissen führen konnten. Die meisten näher identifizierbaren Ehefrauen der Missionare der DEHM waren dänischer und norwegischer Abstammung (10), neun stammten von ‚Deutschen‘ und sieben waren Töchter von Engländern, während lediglich eine Niederländerin

705 Vgl. van Dülmen, Kultur und Alltag, Bd. 1, S. 138. 706 John, Rottler an Missionskollegium, „Pro Memoria für neue Missionarien“, 20.01.1784, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1738– 1808. 707 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 359 f. Vgl. zur Basler Mission Dagmar Konrad: Missionsbräute. Pietistinnen des 19. Jahrhunderts in der Basler Mission, 2. Aufl., Münster u. a. 2001, S. 18 (Definition). 708 Vgl. Lehmann, Es begann, S. 264 f. 709 Vgl. zum Beispiel des Missionars Hüttemann Pabst, Wives Experiences, S. 690 f. 710 Vgl. Lehmann, Es begann, S. 264.

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vertreten war.711 Mindestens siebzehn der späteren Ehefrauen – und damit eine deutliche Mehrheit – hatten auf dem Subkontinent das Licht der Welt erblickt. Lediglich neun waren in Europa geboren worden und dann nach Indien gereist oder dorthin geholt worden. In diesen Zahlen kommen die schon behandelten hohen Kosten der Überfahrt, die Erschwernisse von Reise und Aufenthalt und mangelndes Zutrauen in die weibliche Anpassungsfähigkeit von Seiten der Männer in den Missionszentralen zum Ausdruck. Auch die letztlich von John und seinen Kollegen ins Auge gefasste und schon von Ziegenbalg praktizierte Variante, nach Europa zurück zu fahren, um dann verheiratet nach Indien zurückzukehren, hatte sich nicht durchgesetzt.712 Die ‚nationale‘ Aufteilung der Frauen entsprach weitgehend den Mehrheitsverhältnissen der europäischen ‚communities‘ in den dänischen Stützpunkten. Im Unterschied zu den Missionaren von Tranquebar, aber ähnlich denen der zeitweisen englischen Stützpunkte Vepery und Cuddalore, waren jedoch die wenigen in Bengalen tätigen Missionare, wie der Schwede Kiernander, zumeist mit Engländerinnen verheiratet. Solches erklärt sich aus der Zusammenarbeit mit der englischen SPCK und aus den regionalen Schwerpunkten der einzelnen Mächte: Zwar besaßen die Engländer mit Madras einen sehr bedeutenden Stützpunkt im Süden, dieser war aber mit einer groben Entfernung von 250 km vom missionarischen Hauptstützpunkt Tranquebar aus relativ schwer zu erreichen – noch dazu, wenn kein Schiff zur Verfügung stand oder man sich zu Fuß bzw. in einer Sänfte fortbewegte. Das missionarische Zentrum in Bengalen war die Gegend rund um das von den Engländern dominierte Kalkutta. Dementsprechend war die Wahrscheinlichkeit, hier eine aus einer als angemessen wahrgenommenen Schicht stammende Engländerin kennenzulernen, höher als etwa im dänischen Tranquebar, das von englischen Schiffen seltener besucht wurde. Dennoch wurde die Heirat mit einer Engländerin zumindest in der europäischen Missionszentrale nicht nur begrüßt. So befürchtete Gotthilf August Francke in Halle Probleme durch die unterschiedliche Konfessions- oder Denominationszugehörigkeit oder durch den hier explizit den Engländern zugeschriebenen Hang zum Luxus.713 Möglicherweise deuten sich in dieser letzten Aussage bereits frühe Formen moralisch wertenden Nabob-Diskurses an,714 zumindest aber spiegeln sich hierin die zu dieser Zeit zahlreich nach Indien kommenden, nach persönlichen ‚fortunes‘ suchenden ‚Glücksritter‘ und die besonders kritische Empfänglichkeit der Pietisten mit ihrem Ideal innerweltlicher Askese für dieses Thema wider. Der betroffene Kiernander, der seinen Oberen Francke direkt um Rat und Anleitung in einer solchen Angelegenheit 711 712

Vgl. als Grundlage der folgenden Zahlen – wenn nicht anders angegeben – Pabst, Wives 1715–1838. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 358 f. Vgl. zu den Schwierigkeiten die Sicht des Missionars Dal: „Staat von Trankenbar nebst einer Application auf die Missionarien“, 20.12.1737, AFSt/M 2 E 46: 59. 713 Vgl. die umfassenden Zitate aus den Briefen G. A. Franckes, der seine Bedenken Kiernander mitteilte, bei Pabst, Wives Experiences, S. 692 f. 714 Das Zitat stammt aus einem Brief des Jahres 1744. Die eigentlichen öffentlichen Diskurse begannen jedoch erst in den 1750er Jahren. Vgl. Sramek, Gender, Morality and Race, S. 21.

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gebeten hatte, versuchte dessen Bedenken schon 1746 zu zerstreuen, indem er auf die Hilfe in Gottesdienst und Haushalt durch seine neue englische Ehefrau verwies. Sie nehme zudem an den täglichen Gebetsstunden teil, lese dort in der – englischen – Bibel, wie sie auch täglich die englische Version von Johann Arndts Wahrem Christenthum studiere. Da sie erst vierzehn Jahre alt sei, sei sie überdies noch ‚formbarer‘ als eine ältere Frau. Und schließlich bleibe sie nun zu Hause und meide den Kontakt zu ihrem früheren weltlichen Umfeld.715 Er betonte also insbesondere ihre nun geradezu pietistische Frömmigkeit und den großen Nutzen, den sie ihm – und damit der konkreten Missionsarbeit – bot. Es steht zu vermuten, dass gerade dies Argumente und Werte waren, für die die pietistische Missionszentrale in Halle besonders zugänglich war, ähnelten sie doch sehr stark dem bereits von Ziegenbalg in dem zitierten Brief an Lange aufgestellten Argumentenkatalog. Ebenjener bot insgesamt 13 ausführlich dargelegte Gründe („rationes“) für eine Heirat, die auch später noch gegolten haben mögen. Jedenfalls war es noch 1784 für John und Rottler klar, dass die Gegenargumente gegen eine frühe Heirat, es sei „unschicklich, erschwere die Reisekosten, hindere die Aufmerksamkeit auf Erlernung der Sprachen im Anfang u. s. w.“ von den „Gründen dafür sehr überwogen“ würden.716 Zu letzteren gehörten für Ziegenbalg neben „Erleichterung und Trost“ angesichts „vielfältige[r] Beschwernisse[n]“ (Argument 12) die aufgrund häufiger Krankheiten benötigte Pflege des Missionars (Argument 1) genauso wie das Kochen eines „für den Körper […] gedeihlich[en]“ Essens (Argument 2) oder die durch die Haushaltsführung erfolgende Ablenkung von der eigentlichen Aufgabe (Argument 3). Zudem hätten die Ehefrauen besseren Zugang zu den weiblichen Einheimischen inklusive deren Familien und könnten dabei eine Vorbildfunktion erfüllen (Argumente 7 bis 9). Nicht zuletzt könnten sie die Korrespondenz der Missionare übernehmen, die hierzu kaum Zeit fänden (Argument 13). Letzteres sprach für eine deutschsprachige Frau.717 Kiernander hatte in seinem Schreiben zusätzlich die altersbedingte Formbarkeit seiner jungen Auserwählten betont. Mit diesem Argument widersprach er in Teilen der Ansicht seines Kollegen John, der 1778 formulierte, dass „man hier durch eine im Lande Gebohren, die mehrentheils als ungezogene und unerzogene Kinder im 15tn u 16tn Jahre verheyrathet werden, unglücklich werden kan.“718 John sah die zu dieser Zeit in Europa durchaus unübliche Jugendlichkeit einer Braut demnach eher aus einem negativen Blickwinkel, wobei er sich mehrfach explizit auf die indische Situation und begrenzte ökonomische Ressourcen bezog. Es muss sich also nicht zwangsläufig um

715 716 717 718

Vgl. Pabst, Wives Experiences, S. 694. John, Rottler an Missionskollegium, „Pro Memoria für neue Missionarien“, 20.01.1784, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1738– 1808. Vgl. inkl. der Zitate Ziegenbalg an Lange, 07.10.1709, in: Lehmann (Hg.), Alte Briefe, S. 122 f. John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24.

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eine grundsätzliche Kritik an großen Altersunterschieden von Ehepartnern gehandelt haben.719 Ähnlich den Argumenten Ziegenbalgs und wie schon Kiernander betonte aber auch John mit einigem Stolz die ausgesprochene „Häußlichkeit“,720 für die seine Frau in ganz Tranquebar bekannt sei. Das Tätigkeitsfeld der Ehefrauen war demnach weitgehend auf den Haushalt (inklusive der Angestellten), die Familie und einige traditionelle Arbeiten, wie die Krankenversorgung und das Kochen, beschränkt. Allenfalls wenn es um die Zuarbeit für den Mann im Gottesdienst, in der Schule oder die Betreuung einheimischer Frauen und Waisen ging, erweiterte sich – jedenfalls den ‚männlichen‘ Quellen nach – ihr Arbeitsbereich über das ‚Private‘ hinaus. In vielerlei Hinsicht entsprachen sie dennoch dem europäischen Frauenbild des 18. und 19. Jahrhunderts.721 Indem sie jedoch in der Praxis zuweilen auch für den Haushalt lediger Missionarskollegen und vor allem deren Verköstigung am eigenen Familientisch sorgten,722 frisch eingereiste Missionare in ihrer Familie betreuten oder sich ebenda um einheimische Kinder kümmerten, erweiterten sie das europäische Bild beträchtlich. Hinzu kam noch die aktive Hilfe durch die Missionarsfrau bei der Korrespondenz und der Verwaltung ihres Mannes. Beides erforderte Kenntnisse in mehreren Sprachen, die zum Teil noch erworben werden mussten. Rar sind aber die Fälle der als Lehrerin oder gar Katechetin tätigen Frauen. Häufiger lassen sich erst im 19. Jahrhundert Beispiele dafür finden.723 Inwieweit die Männer ihren Frauen in schwierigen Situationen oder generell innerhalb des Haushaltes halfen, lässt sich den Quellen – wie Erika Pabst bereits dargestellt hat – genauso schwer entnehmen724 wie die indirekten Einflussmöglichkeiten der Frauen, etwa über Gespräche, auf ihre Männer, deren Meinungsbildung und die Missionsarbeit. Immerhin gibt es aber für solche Einflüsse durchaus Indizien in den Quellen: So beschwerte sich der selbst vielfach stark kritisierte Missionar Päzold (DEHM) vehement über die vermeintliche Faulheit seines Kollegen Holzberg und berücksichtigte dabei ausdrücklich, wenn auch als Ausnahme, dessen Frau: „Und sein dolles Weib, die wohl die einzige in ihrer Art ist – lässt es auch gar nicht zu, daß er Fleiß anwenden und ein wenig in sauren Apfel beissen solle!“725 Wenngleich es sich hierbei um ein mit 719 720 721 722 723 724 725

Eine moralische Kritik setzte jedoch auch im Europa des 18. Jahrhunderts ein. Zuvor wurden zuweilen allenfalls Erbschaftsfragen problematisiert. Vgl. van Dülmen, Kultur und Alltag, Bd. 1, S. 189 f. John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24. Vgl. Gross, Maria Dorothea Ziegenbalg, S. 707 sowie Pabst, Wives Experiences, S. 702 f. Vgl. John, Rottler an Missionskollegium, „Pro Memoria für neue Missionarien“, 20.01.1784, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1738–1808. Die Junggesellen hatten monatlich für das Essen zu bezahlen. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 362–364. Zu pietistischen Frauen in Europa vgl. etwa van Dülmen, Kultur und Alltag, Bd. 1, S. 162 f. Vgl. Pabst. Wives Experiences, S. 702. Päzold an Nebe, 26.05.1801, AFSt/M 1 C 42b: 74 (Hervorhebungen im Original).

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Vorsicht zu verwendendes Beispiel handelt, das nicht näher erläutert wird und wohl eher einem Einzelfall entspricht, so zeigt es doch, dass Missionarsehefrauen durchaus in der Lage und willens gewesen sein konnten, ihren Mann und dessen Arbeit aktiv zu beeinflussen oder, um die Formulierung Kiernanders aufzugreifen und auf die Männer umzukehren, ihn zu ‚formen‘. Im konkreten Fall ist auch nicht auszuschließen, dass besagte Frau Holzberg ihren Mann gegen die verbalen Attacken der Missionarskollegen verteidigte. Eine andere Form indirekten Einflusses übte die zweite Frau Kiernanders aus, indem sie ihrem Ehemann wohl zusätzlich zu seinen eigenen Geschäften finanzielle Mittel verschaffte, die er für den Ausbau der Mission in Kalkutta einsetzen konnte.726 Es ist anzunehmen, dass Einflussnahmen, egal ob nun positiver, neutraler oder wie im Falle Holzbergs, zumindest in der Wahrnehmung Päzolds, negativer Art, häufiger vorkamen, als in den zu diesem Thema eher schweigsamen Quellen überliefert. Dementsprechend werden die Handlungsspielräume der Missionarsfrauen im Einzelfall größer gewesen sein, als in der Forschung gemeinhin angenommen. Verpönt waren jedenfalls Beziehungen und Liebschaften der Missionare und ihrer Mitarbeiter zu einheimischen Frauen – wie auch das eingangs dargestellte Beispiel um den Herrnhuter Raabs aus dem Jahre 1788 zeigt. Im Waisenhaus von Kalkutta, wo er sich eine Frau suchen wollte, waren hauptsächlich indo-europäische oder aber einheimische Kinder vertreten. Mit ihrer Einstellung unterschieden die Missionare sich von den übrigen Europäern, die regelmäßig einheimische Geliebte hatten, nicht allein weil europäische Frauen so rar waren.727 Hierzu gehörte etwa der verheiratete dänische Gouverneur Abbestée, der eine illegitime Tochter mit einer „female Catholic slave“ hatte.728 Der Missionar Kohlhoff schrieb diesbezüglich 1761, Abbestée suche lediglich das Geld und lebe in fortwährender Immoralität.729 1784 bemerkten die Missionare John und Rottler: „Mit gebornen Europäerinnen sich aber zu verheirathen, sind hier nur selten Fälle.“730 Über Liebschaften zwischen Missionaren und Einheimischen berichtete die DEHM nur wenig, vornehmlich aus Zeiten der frühen Mission und wenn dann eher negativ: Der Student und Missionsgehilfe Polycarp Jordan war etwa 1714 gezwungen, zurück nach Europa zu fahren, da er vorhatte, die Hochzeit mit einer Einheimischen zu vollziehen. Der Missionar Nicolaus Dal sorgte 1725 für einen ähnlich gelagerten Konflikt mit seiner Missionszentrale wie auch den europäischen Bevölke-

726 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 363 f. 727 Vgl. nur Peter Robb: Sex and Sensibility. Richard Blechynden’s Calcutta Diaries, 1791–1822, New Delhi 2011, S. 10–14 und passim. 728 Vgl. inkl. des Zitats Sebro, Everyday Life, S. 140. 729 Vgl. Karin Kryger: The Governor’s Daughter, in: Esther Fihl (Hg.): The Governor’s Residence in Tranquebar. The House and the Daily Life of Its People, 1770–1845, Kopenhagen 2017, S. 82 f., hier: S. 82. 730 Rottler an Missionskollegium, 20.01.1784, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792.

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rungsteilen Tranquebars. Er protestierte zwar schriftlich bei seinen Oberen in Halle und Kopenhagen, erhielt darauf jedoch nicht einmal eine Reaktion.731 Umgekehrt sollten – nach Heike Liebau – europäische Frauen eine geradezu moralische Funktion erfüllen,732 denn „weil wir keine eigenen Weiber halten“, so schon Ziegenbalg sich in seinem vierten Argument auf die indischen Mitarbeiterinnen im Schuldienst beziehend, „können wir […] keine fremden Weiber halten aus der Ursache, der Satan möchte leichtlich durch das viele Manns-Volk im Hause eine Weibs-Person zur Sünde der Unkeuschheit reizen“.733 Auch diese einem frühen orientalistischen Frauenbild nahestehende Argumentation, die die Schuld beinahe allein bei der Frau suchte, wiederholte sich in verschiedener Variation. So bemerkte Missionar John mehrfach bedauernd, dass es sich im Gegensatz zu einem verheirateten für einen ledigen Missionar nicht gehöre, sich um einheimische Kinder in seinem Haus zu kümmern.734 Anders herum wertete dieses Denken die europäische Ehefrau und ihre Hausfrauenrolle aber auch zusätzlich auf, indem ihr ein moralischer Wert zugesprochen wurde.735 III.2.2 Kinder Noch weit weniger Informationen als über die Missionarsfrauen geben die Quellen über die Kinder und deren spezifische Rolle im Familienleben der Missionare preis. Wie eng war die emotionale Bindung zu ihren Eltern? Wie wurden sie konkret erzogen? Wie, womit und mit wem spielten sie? Durften sie zu einheimischen Kindern in Kontakt treten? Waren sie in die Missionsarbeit eingebunden? Wie nahmen sie die besondere Situation in Indien wahr? Solcherlei alltags- und erfahrungsgeschichtliche Fragen müssen, so interessant sie auch sind, mangels Quellen leider weitgehend unbeantwortet bleiben. Die folgende Beschreibung muss sich demnach auf andere Aspekte konzentrieren. Sie wird sich den Kindern vornehmlich über die Sichtweisen ihrer Eltern annähern. Die Kinderanzahl pro Missionar (in der DEHM) schwankte stark und reicht von einigen (zumindest in Indien) kinderlos gebliebenen Missionaren bis zum Ausnahmefall Hüttemann, der mit seinen zwei Ehefrauen nicht weniger als siebzehn Kinder zu versorgen hatte, die zum Teil allerdings schon sehr früh verstarben. Kinderlosigkeit konnte verschiedene Gründe haben: Sie konnte etwa auf einem frühen Tod des Missionars oder seiner Frau beruhen, auf freiwilliger wie unfreiwilliger Ehelosigkeit,

731 Vgl. zu den beiden Fällen bereits Nørgaard, Mission, S. 71 f. 732 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 364. 733 Ziegenbalg an Lange, 07.10.1709, in: Lehmann (Hg.), Alte Briefe, S. 122, hierzu bereits Liebau, Mitarbeiter, S. 364 f. 734 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 363 f. 735 Vgl. hierzu auch van Dülmen, Kultur und Alltag, Bd. 1, S. 162 f.

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oder aber auf der verfrühten Rückkehr wie in den Fällen Bosse, des sich später von seiner Frau scheiden lassenden Stegmann oder des überhaupt ledig gebliebenen Früchtenicht.736 Über mögliche Gründe lässt sich nur spekulieren. In den meisten Fällen lag die Anzahl an Missionarskindern jedoch bei einem bis drei, nur selten bei über fünf Kindern und damit eher im europäischen Schnitt der Zeit. Nicht immer lässt sich feststellen, was aus den, für ganz Indien gesehen, mindestens 61 Kindern der DEHM (1715–1838) geworden ist.737 Wie schon erwähnt sind viele von ihnen bereits frühzeitig verstorben, wobei in einigen Fällen Geburts- und/oder Sterbejahr nicht überliefert sind. Für mindestens achtzehn gilt, dass sie nicht älter als sechs Jahre alt geworden sind. Zudem wurde bereits behandelt, dass Missionarskinder später gerne mit anderen Missionaren oder deren Kindern verheiratet wurden. Gerade diese Fälle und deren Entwicklung lassen sich freilich vergleichsweise leicht in den Quellen nachvollziehen. Anders verhält es sich aber mit der Spurensuche nach den sich außerhalb der Mission betätigenden oder verheiratenden Missionarskindern. Sie werden zumeist lediglich kurz und weit verstreut in den Missionsbriefen erwähnt. Dabei ist der Werdegang der Söhne leichter zu verfolgen als derjenige der Töchter, von denen häufig allenfalls die Heirat angeführt wird. Ihre weiteren Lebenswege verlieren sich in den missionarischen Überlieferungen zumeist genauso wie diejenigen ihrer missionsfernen Ehemänner. Manchmal helfen Kirchenbücher weiter. In Bezug auf die Erziehung der Töchter war es – besonders in Indien und ganz in Übereinstimmung mit dem damaligen Rollenverständnis von Frau und Mann – offenbar wichtiger, die Frauen oder Mädchen angemessen unter die Haube zu bringen, als sie ausbilden zu lassen. Sicherlich spielte hierbei die Kostenfrage eine Rolle. Zwar gingen auch Töchter in Indien zur Schule, eine weitere Ausbildung auf einer höheren Schule oder gar Universität in Europa kam im Falle der Missionare jedoch allein den Söhnen zugute. Dies entsprach der Praxis in Europa. Als deutlich überwiegender Anlass der Erwähnung in den Quellen lassen sich neben der Geburt, der Heirat oder dem Tod (des Partners oder des Kindes) die Erziehung und Ausbildung der Kinder feststellen – ohne dass aber auf spezifische Erziehungsmethoden rekurriert würde. Ganz ähnlich dem Verhalten der übrigen Europäer bürgerlicher oder höherer gesellschaftlicher Herkunft schickten nämlich auch viele Missionare zwecks Erziehung und Ausbildung zumindest ihre Söhne nach Europa. So galt solches etwa für mindestens einen Sohn Ziegenbalgs (Gottlieb Ernst), der in Tübingen und Jena Mathematik studierte738 und für zwei Söhne des Missionars Cämmerer, die im Waisenhaus in Halle erzogen wurden und später in Halle, Wittenberg und Jena Theologie und Medizin studierten. Hüttemann schickte ebenfalls zwei seiner Söhne 736 Vgl. zu Stegmann Schwartz an Schulze, 09.01.1797, AFSt/M 1 C 38a: 3. 737 Die angegebenen Zahlen beruhen auf einer Auswertung der Zusammenstellung bei Pabst, Wives 1715–1838. 738 Vgl. Pabst, Wives 1715–1838, S. 1529.

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zum Waisenhaus in Halle,739 während Kiernander seinen Sprössling Robert William im dortigen Pädagogium unterbrachte.740 Nach dem Tode seiner Frau ersuchte Daniel Schreyvogel ebenfalls darum, seinen Sohn ins Hallesche Waisenhaus aufzunehmen.741 Missionarstöchter wurden offenbar gar nicht nach Europa geschickt. Im Falle der übrigen Europäer wurde dies durchaus anders gehandhabt, wie Peter Robb bezüglich der Engländer in Kalkutta zeigen konnte. Die Entsendung von Töchtern war jedoch insofern schwieriger, als sich so mancher Kapitän weigerte, diese an Bord zu lassen – aus Angst, die sie begleitenden einheimischen Kindermädchen oder ältere Töchter selbst würden möglicherweise eine zu große Versuchung für die Seeleute sein.742 Derartige Erwägungen und die diesbezügliche Sorge um ihre Töchter wie auch die hohen Kosten einer Überfahrt mögen gerade bei den pietistischen Missionaren ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Wenngleich sich offenbar Halle als das für die Missionare begehrteste (oder schlicht naheliegendste) Ziel darstellte, was mit den bereits bestehenden guten Kontakten dorthin oder der eigenen dortigen Vergangenheit und der religiösen Orientierung am Halleschen Pietismus743 zu tun haben mag, finden sich auch einige Beispiele von Missionaren, die ihre Söhne zur Ausbildung nach England schickten. Beispielsweise sorgte die Ankunft von R. W. Kiernander und Andreas Moos, Kiernanders Ziehsohn, dessen Vater als Deserteur in der Dänischen Ostindienkompanie hingerichtet worden war, für Überraschung bei der SPCK in London, die zudem Probleme hatte, diese bei einer ihrem Anspruch entsprechenden Einrichtung unterzubringen. Deshalb schlug man von Seiten der SPCK schließlich vor, doch beide in das Waisenhaus in Halle zu übernehmen.744 Hüttemann entsandte ebenfalls drei seiner Söhne nach England zur Ausbildung.745 Gleiches widerfuhr zwei Söhnen Diemers, wobei einer der beiden die britische Insel nicht erreichen sollte, da er auf der Reise zwischen Kalkutta und London verstarb.746 Auffälligerweise handelte es sich sowohl bei Kiernander, als auch bei Hüttemann und Diemer um Missionare, die in englischen Stützpunkten tätig und zum Teil mit aus England stammenden oder von Engländern abstammenden Frauen verheiratet waren. Insofern wird es verständlich, dass sich bei diesen Missionaren stärker als bei den übrigen englischer Einfluss bemerkbar machte.

739 Vgl. Missionare an Freylinghausen und Ziegenhagen, 28.09.1773, AFSt/M 1 B 63: 24. 740 Vgl. J. Z. Kiernander an G. A. Francke, 09.02.1752, AFSt/M 1 B 41: 56. 741 Auszug eines Briefes von Daniel Schreyvogel an den „Herausgeber“ [Georg Christian Knapp], 06.06.1820, AFSt/M 1 C 54b: 71. 742 Vgl. Peter Robb: Sentiment and Self. Richard Blechynden’s Calcutta Diaries, 1791–1822, New Delhi 2011, S. 123 f. 743 Vgl. auch Liebau, Mitarbeiter, S. 293. 744 Vgl. Broughton an G. A. Francke, 21.04.1764, AFSt/M 1 B 53: 49. Zu Moos vgl. Pabst, Wives 1715– 1838, S. 1534. 745 Vgl. etwa Missionare an Freylinghausen und Ziegenhagen, 28.09.1773, AFSt/M 1 B 63: 24. 746 Vgl. Pabst, Wives 1715–1838, S. 1538.

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Auf einige diesbezügliche Motive und Schwierigkeiten verwies Hüttemann in einem Brief, den er kurz nach dem Tode seiner Frau Elisabeth (eine geborene Evans) an Gottlieb Anatasius Freylinghausen, seines Zeichens Direktor des Waisenhauses in Halle, und Friedrich Michael Ziegenhagen, deutscher Hofprediger in London und Verbindungsmann zur SPCK,747 schrieb. Demnach war es vor allem seine Frau, die noch kurz vor ihrem Tode als treibende Kraft darauf hingewirkt hatte, ihre Söhne zur Ausbildung nach Europa zu schicken. Hüttemann benannte als ein Motiv die schwierigen Bedingungen in Indien, ohne diese näher auszuführen. Er deutete jedoch an, dass es nun für ihn als Alleinerziehenden immer schwieriger werde, seine Kinder zu versorgen.748 Ganz ähnlich verhielt es sich bei seinem späteren Kollegen Schreyvogel, der zudem die zu diesem Zeitpunkt in Indien epidemisch grassierende Cholera anführte. Mit der Entsendung nach Halle wollte er offenbar seinen Sohn vor dieser und anderen Krankheiten schützen.749 Für die aus den Oberschichten stammenden Engländer ging es wohl auch um das Erlernen ‚zivilisatorischer Errungenschaften‘, was ihnen in Indien selbst nicht möglich erschien. In den Worten Peter Robbs ausgedrückt: „England was countering the moral influence of Calcutta.“750 Hinsichtlich der Kindererziehung und der bereits erläuterten Vorteile der aus Europa mitgebrachten europäischen Missionarsfrauen heißt es sehr ähnlich bei John und Rottler 1784 aus Tranquebar: „Wer die gewöhnliche Kinderzucht hier kennet, wird nicht viel Vortheilhaftes unter den hier gebornen erwarten.“751 Wie bereits zitiert bemerkten beide anschließend, dass es nur wenige Fälle der Heirat mit Europäerinnen gebe. In diesen Aussagen verstecken sich moralische Wertungen, die Europa moralisch und zivilisatorisch höher bewerteten als das Indien der Einheimischen und der dort lebenden Europäer. Zurück zu Hüttemann, bei dem sich in seiner Kritik an den Tamilen ähnliches andeutet:752 Sein Sohn Charles (oder – je nach Quellenbezeichnung – Carl), zum Zeitpunkt des zitierten Briefes seines Vaters (nämlich 1773) bereits dreizehn, sei zwar vorbereitet gewesen, das Schiff jedoch nicht abgefahren, so dass er nun auf die nächste Gelegenheit warten müsse. Wie so oft, so zeigten sich auch hier die Unsicherheiten der Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen mit Europa. Der innigste Wunsch des Vaters sei die Aufnahme seines Sohnes in das Waisenhaus in Halle gewesen. Aus-

747 Vgl. zu ihm die hervorragende Dissertation von Christina Jetter-Staib: Halle, England und das Reich Gottes weltweit – Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776). Hallescher Pietist und Londoner Hofprediger, Halle/Saale 2013. 748 Vgl. Hüttemann und Gericke an Freylinghausen und Ziegenhagen, 28.09.1773, AFSt/M 1 B 63: 24. 749 Vgl. Auszug eines Briefes von Daniel Schreyvogel an den „Herausgeber“ [Georg Christian Knapp], 06.06.1820, AFSt/M 1 C 54b: 71. 750 Robb, Sentiment, S. 127. 751 John, Rottler an Missionskollegium, „Pro Memoria für neue Missionarien“, 20.01.1784, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1738–1808. 752 Vgl. John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24.

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schlaggebend für die Entscheidung für England seien aber letztlich die mangelnden Deutschkenntnisse von Charles sowie dessen – zumindest nach Meinung des Vaters – fehlende Disziplin für ein Theologiestudium gewesen.753 Hüttemanns Hinweis auf die deutsche Sprache mag überraschen – immerhin stammte Charles Vater als Westfale doch aus Deutschland. Hieran, wie auch an den zuweilen englischen Namen der Kinder,754 lässt sich eventuell die starke Rolle der – in diesem Falle englischsprachigen Mutter – in der Erziehung der Kinder ablesen. Hinzu kam, dass der größte Teil des sozialen Umfeldes von Charles im englischen Stützpunkt eben englischsprachig war und ihn somit auch ‚englisch‘ sozialisierte. Offenbar hätte er mangels anderer Deutschsprachiger höchstens von seinem Vater Deutsch lernen können, der möglicherweise gar nicht dazu bereit war. Wenigstens bemerkte sein Kollege Kohlhoff 1778 überaus kritisch, dass bei Hüttemann immer „alles Englisch seyn muss“.755 Dies bezog er allerdings auf die entschiedene Kritik Hüttemanns an den aus seiner Sicht erfolglosen Methoden der DEHM. Nimmt man Kohlhoff beim Wort, war Hüttemann also bereits ‚anglisiert‘. Und in der Tat plädierte Hüttemann wiederholt – in Verbindung mit seiner massiven Missionskritik, die über Arbeitsverweigerung bis zum Bruch mit der Mission reichte – für die Einrichtung einer Schule in Madras oder Kalkutta statt in Tranquebar,756 für die englische Sprache, etwa im Schulunterricht, aber auch im Umgang mit den Einheimischen, bezog er sich dabei unter anderem auf den aufklärerischen englischen Philosophen George Berkeley (1685–1753)757 und bezeichnete wie viele gemäßigte Aufklärer dieser Zeit Deutschland, das er der „freien bürgerlichen Gesellschaft“ Englands gegenüberstellte, als despotisch.758 Inwieweit die Entscheidung bei dem Transfer seines Sohnes zugunsten von England wirklich allein äußeren Zwängen folgte, wie Hüttemann dies gegenüber seinem Oberen zu verdeutlichen versuchte, kann also mit guter Begründung in Zweifel gezogen werden. Hierfür sprechen seine zahlreichen positiven Äußerungen bezüglich Englands. Sicherlich hatte der Missionar dabei die zunehmend starke Stellung des Empire im Hinterkopf und daraus bessere Karrierechancen für seine Söhne abgeleitet.759 Dennoch muss Hüttemanns Haltung zumindest als ambivalent

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Vgl. Hüttemann und Gericke an Freylinghausen und Ziegenhagen, 28.09.1773, AFSt/M 1 B 63: 24. Vgl. auch Pabst, Wives Experiences, S. 699. Neben Charles, der manchmal Carl genannt wurde, findet sich noch Gracy Dorothea Hüttemann. Der Name Samuel könnte englischen oder deutschen Ursprungs gewesen sein. Eine Mehrheit der Kinder Elisabeths trug allerdings deutsche Namen. Es sind jedoch lediglich sieben namentlich bekannt. Kohlhoff an Freylinghausen, 08.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 3. Vgl. Hüttemann an Freylinghausen, 11.05.1777, AFSt/M 1 B 68: 38. Vgl. nur Hüttemann an Freylinghausen, 05.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 44; Hüttemann an Broughton, 22.01.1778, AFSt/M 1 B 69: 73 sowie John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24. Vgl. Hüttemann an Broughton, 23.01.1778, AFSt/M 1 B 69: 73a. Vgl. allgemein Robb, Sentiment, S. 116, bei dem es heißt: „Sending the children to England was a third reflection of parental care and also a mark of the children’s expected status. Knowledge of English and English background obviously would aid employment in a British colony.“

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bezeichnet werden, hatte er doch noch 1777 Freylinghausen um die Aufnahme seines Sohnes Christian Friedrich in die lateinische Schule in Halle gebeten.760 Vielleicht musste er auch nur versuchen, für seine Söhne alle sich ihm bietenden Möglichkeiten der Finanzierung und der persönlichen Kontakte auszuschöpfen. Von seiner Warte aus gesehen war trotz aller seiner Konflikte mit den übrigen Missionaren eine Ausbildung in Halle immer noch besser für seinen Sohn als gar keine oder eine schlechtere in Indien – wenn er auch England bevorzugt hätte. Bei einigen anderen Missionaren ist lediglich bekannt, dass sie Söhne nach Europa schickten, jedoch wird nicht deutlich, wohin genau. Dies gilt für einen Sohn Johns und für J. G. Klein.761 Es ist anzunehmen, dass auch diese über die entsprechenden Kontakte nach Deutschland, Dänemark oder England kamen, zumal Klein später in Halle studierte. Zielorte in anderen Ländern wie – angesichts der im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmenden Nähe der Mission zu England762 nicht verwunderlich – Frankreich oder die Niederlande tauchen in den Quellen nicht auf. Umgekehrt erkannte man für Tranquebar jedoch die Niederländer auf Ceylon und deren Kinder als potenzielle Zielgruppe für Schulgründungen, für Bengalen hingegen vor allem die Engländer. Es bestand offenbar eine Nachfrage – genauso von Seiten der dänischen Kolonialverwaltung, die auf das Kopenhagener Missionskollegium diesbezüglich Druck ausübte.763 In jedem Falle zeigen die genannten Beispiele, dass nicht nur in der Verwaltung oder der Ostindienkompanie tätige Europäer, sondern auch die Missionare selbst die Erziehung und Ausbildung ihrer Söhne in Europa oftmals für besser und chancenreicher hielten als eine solche in Indien. Damit setzten sie sich sozial von den Einheimischen und von den europäischen Unterschichten ab, die sich eine Ausbildung ihrer Kinder in Europa zumeist nicht leisten konnten bzw. nicht die geeigneten Kontakte besaßen, um ihren Kindern eine solche zu ermöglichen und damit als Ausdruck einer gesellschaftlichen Differenzierung auf eine Ebene mit den Einheimischen gesetzt wurden. Deshalb beabsichtigten die Missionare, das Schulwesen in Indien nicht nur für missionarische Zwecke unter den Indern, sondern auch unter den Europäern zu nutzen, deren angeblich verwerfliche, den Missionsauftrag erschwerende Verhaltensweisen ja nicht selten von ihnen und vielen Einheimischen gescholten wurden.764 Auf dem Subkontinent mangelte es den Missionaren – wie genauso den Europäern zumindest einer wohlhabenderen gesellschaftlichen Schicht – vor allem an einer von ihnen als für ihre älteren Kinder angemessen empfundenen schulischen Infrastruktur. Dies galt gerade für die höhere Schulbildung. Dabei spielten die erwähnten sozialen Distinktionen eine Rolle. Deutlich wird dieses nicht zuletzt in den von den Missiona-

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Vgl. Hüttemann an Freylinghausen, 11.05.1777, AFSt/M 1 B 68: 38. Vgl. J. Klein an Freylinghausen, 01.06.1776, AFSt/M 1 B 66: 13. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 262. Vgl. etwa John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24. Vgl. zu Ceylon etwa Klein an Freylinghausen, 15.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 18.

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ren beherzt geführten Schuldebatten, in denen es unter anderem um die Frage nach der bevorzugten Sprache und dem gemeinsamen Unterricht von Einheimischen und Europäern ging. Während sich so mancher Missionar wie John oder Rottler überaus aufgeschlossen zeigte,765 war dies bei vielen Europäern und insbesondere deren Eliten offenbar anders. Der 1779 in Kalkutta weilende Missionar Gerlach arbeitete dort an einem Kalender, dessen Einnahmen einer avisierten Schule in Bengalen zugute kommen sollten. Er war bereits 1775 vom Missionskollegium in Kopenhagen mit dem Auftrag nach Indien geschickt worden, sich speziell um die Ausbildung der Europäer und ‚Indo-Europäer‘ zu kümmern. Seine noch aufzubauende „höhere“ Schule sollte der Instruktion nach aber auch besonders talentierten Einheimischen zu gute kommen.766 Einige Schwierigkeiten beim Aufbau einer gemeinschaftlichen Einrichtung in Tranquebar stellte Gerlach nun folgendermaßen dar: Ich sehe auch keine Unmöglichkeit, dass das Vorhaben auf die Weise eingerichtet eine Schule zu weiterem Unterricht für Schwartze angeleget und hernachmahls auch auf Europäer extendiert würde. Doch […] Hochwürden erlauben mir folgende Bedenklichkeiten und Schwierigkeiten anzuführen, die mich von dem abgehalten haben für meine Person in diesen Vorschlag zu willigen. 1.) Hält es viel schwehrer Kinder der Europäer einer schon mit schwartzen Kindern besetzten Schule einzuverleiben, als umgekehrt. Im einen Fall glauben Europäer ihre Kinder zu sehr zu erniedrigen. Im andern Fall würde sich der Europ. stoltz durch einen Schein von Großmuth besänftiget finden. Es würde den Europäern leichter seyn, die Theilnehmung an dem Unterricht als eine Wohlthat einzugestehen.767

Neben diesen Hinweisen auf frühen Rassismus kam Gerlach auf die Kosten und Gebühren zu sprechen, die von Einheimischen wie ‚Indo-Europäern‘ nicht zu tragen seien. Dies entsprach der allgemeinen missionarischen Praxis, nach der zumindest einige der europäischen oder indo-europäischen Eltern Schulgelder zu entrichten hatten, während den Einheimischen keine Gelder abverlangt wurden.768 Drittens verwies der Missionar auf die „Gegner einer Schulanstalt“, wohl vor allem innerhalb der Mission, die „Materie genug finden [könnten, TD], die Schulanstalt als ein leeres und im practicables Project zuzuklagen.“ Und „wenn er [der Gegner, TD] die Sache mit einiger Hitze betriebe, die übrigen votierenden aber zum Nachgeben geneigt wären, würde die Sache aufgegeben, und der heylsamsten Anstalt auf nur allzulange Zeit das gröste Vorurtheil und Hinderniss im Wege seyn.“769 In der Argumentation Gerlachs ist die orientalistische Wahrnehmung europäischer Überlegenheit zentral. Der eigent-

765 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 309 f. 766 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 309. Vgl. die Angaben bei R. W. Kiernander an Halling, 09.12.1778, AFSt/M 1 B 69: 52. 767 Gerlach an Freylinghausen, 10.02.1779, AFSt/M 1 B 69: 57. 768 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 308. 769 Gerlach an Freylinghausen, 10.02.1779, AFSt/M 1 B 69: 57.

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liche, gemeinschaftliche Unterricht, der im Übrigen auch Mädchen einbezog, stand hier gar nicht so sehr im Mittelpunkt. Vielmehr ging es darum, wie er begründet wurde und in welcher Reihen- und Rangfolge die Zusammenführung erfolgte: Wer war aktiv, wer passiv? Entsprach dies den europäischen Rollenerwartungen? Konkret: Wurden die Europäer zu den Einheimischen überführt oder duldeten umgekehrt die ‚aktiven‘ Europäer gewissermaßen in ihrer Mildtätigkeit das Hinzukommen der ‚passiven‘ Einheimischen? Strategische Überlegungen bildeten für Gerlach offenbar den Rahmen einer Entscheidung für oder gegen die zeitnahe Einrichtung einer gemeinschaftlichen Schule. Aufgrund der starken Vorbehalte in der europäischen Bevölkerung und unter einigen Missionaren plädierte er für ein vorsichtigeres Vorgehen und war – trotz des ihm vom Missionskollegium ausdrücklich gegebenen Auftrages zunächst jedenfalls – eher gegen die Einrichtung dieser Schulform.770 Offensichtlich schien sie ihm zu diesem Zeitpunkt schlicht nicht durchsetzbar. Die Schwierigkeiten in der Etablierung eines einheitlichen Schulsystems nach Halleschem Vorbild in den Missionsgebieten bilden sich auch in der Anzahl an von der Mission initiierten oder aufgegriffenen Schultypen ab, die Heike Liebau aufzählt: So verwendeten die Missionare etwa schon bestehende indigene Schulen, es fand Unterricht in Haushalten von Missionsmitarbeitern wie auch in Armenschulen statt. Lokale Herrscher unterstützten übergreifende Provinzial-, Internats- und Integrationsschulen. In Reaktion auf neue Situationen und Erfordernisse änderten sich die missionarischen Herangehensweisen an das Schulwesen, das zum Beispiel, wie die Missionare bemerkten, einheimische Kastenunterschiede zu berücksichtigen hatte, immer wieder.771 Einige der nach Europa geschickten Missionarssöhne kehrten später in unterschiedlichen Funktionen nach Indien zurück, so Johann Gottlieb Klein, der in Halle Medizin studiert hatte, und sich dann als Missionsarzt in Tranquebar betätigte. Auch R. W. Kiernander fuhr zurück nach Indien und assistierte seinem Vater und den anderen Missionaren in Kalkutta. Sein Tod kam offenbar einer geplanten Ordination zum Missionar der DEHM zuvor. August John volontierte unbezahlt im Sekretariat des Gouvernements von Tranquebar. Zwei Söhne Cämmerers arbeiteten nach ihrer Rückkehr 1837 und 1844 als Missionare für die SPG und die Norddeutsche Missionsgesellschaft in Madras. Es fällt – trotz der schlechten Überlieferungslage – auf, dass die genannten Söhne missionsnah tätig wurden. Offensichtlich konnten hier bestehende soziale Verbindungen wie auch die bereits bestehenden Indienerfahrungen der Söhne nutzbar gemacht werden.

770 Vgl. etwa Kohlhoff an Freylinghausen, 08.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 3 oder die durchaus selbstkritische Zusammenfassung Johns an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24. 771 Vgl. Heike Liebau: Die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission (Tranquebarmission), in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 201012-03, http://www.ieg-ego.eu/liebauh-2010-de.

Die Familie in der Mission

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Die in Indien verbliebenen Missionarssöhne schlugen unterschiedliche Laufbahnen ein. Bartholomäus Leberecht Ziegenbalg betätigte sich etwa als Direktor der Dänischen Ostindienkompanie in Serampore, um anschließend dort weiterhin als Kaufmann tätig zu sein.772 Christoph Breithaupt arbeitete ebenfalls als Kaufmann in Madras. A. D. Klein wurde Schulmeister in Thanjavur und Tranquebar, während der von seinem Vater zwecks Ausbildung zu den Missionarskollegen Christian Friedrich Schwartz und Christian Pohle geschickte Johann Kaspar Kohlhoff sich ab 1787 ebenfalls als Missionar betätigte. Die Tätigkeitsfelder der Söhne waren also vielfältiger Natur und konnten durchaus auch auf einem durch und durch ‚weltlichem‘ Gebiet wie der Kaufmannschaft liegen, das unter Missionaren zumindest als Nebentätigkeit als verpönt galt.

772 Vgl. Pabst, Wives 1715–1838, S. 1529.

IV. Physische Konstitution und Devianz: Individuelle Erfahrung und Norm

IV.1 Krankheit und Tod Für alle europäischen Indienreisenden der frühen Neuzeit waren Krankheit und Tod zentrale Themen. Dies war einerseits Teil eines spezifischen Indienbildes, wie besonders David Arnold hervorgehoben hat,773 besaß andererseits aber auch eine realitätsnahe, zuweilen mit Normverletzungen verbundene Grundlage. Wie gezeigt konnte schon die Überfahrt nach Indien verhängnisvoll enden. Hinzu kamen die schwierigen klimatischen Bedingungen mit verschiedensten, nicht nur für die Tropen typischen Krankheiten vor Ort.774 Wenngleich bisher von der Forschung nur wenig beachtet und zuweilen schwer nachweisbar, dürfte aufgrund der neuartigen, nicht unproblematischen, zumindest aber ungewohnten Lebensumstände fernab der Heimat Suizid unter den Europäern auf dem Subkontinent nicht selten vorgekommen sein. Es gilt jedoch auch hier zu differenzieren: So unterschieden sich die aus den Quellen nicht immer verlässlich herauszuarbeitenden Mortalitätsraten775 durchaus von Region zu Region, von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt und von sozialer Gruppe zu sozialer Gruppe. Relativ und absolut gesehen waren die – vergleichsweise zahlreich vorhandenen – europäischen Soldaten und Seeleute besonders betroffen. Dies konnte mit ihrer mangelhaften Ernährung, mit der schlechten Unterbringung und ihren strapaziösen und risikoreichen Aufgaben zusammenhängen – oder aber mit mangelnder Beschäftigung, 773 Vgl. David Arnold: The Tropics and the Traveling Gaze. India, Landscape, and Science, 1800–1856, Seattle 2006, S. 76. 774 Viele der heutigen Tropenkrankheiten waren auch im frühneuzeitlichen Europa keine Unbekannten, so etwa Typhus, Cholera oder Malaria. Vgl. Reinhold Reith: Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit, München 2011, S. 23. Sie wurden allerdings von den Europäern zumeist in Bezug auf Indien als einzigartig oder eben ‚anders‘ wahrgenommen und beschrieben. Vgl. hierzu Mark Harrison: Public Health in British India. Anglo-Indian Preventive Medicine 1859–1914, Cambridge 1994, S. 36 f. 775 Vgl. hierzu Martin Krieger: European Cemeteries in South India (Seventeenth to Nineteenth Centuries), Neu Delhi 2013, S. 23–30.

Krankheit und Tod

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damit einhergehender Langeweile und der Zuwendung zum Alkohol und/oder zur Prostitution.776 Im Kalkutta des Jahres 1773 beispielsweise wurden 216 Beerdigungen registriert. Dabei entstammten 86 der Toten dem Militär und dreißig der Seefahrt, im Jahre 1776 waren es dann 48 dem Militär angehörende und 23 Seeleute von insgesamt 245 Toten. Die Todesrate dieser beiden Gruppen, wie auch insgesamt diejenige der Europäer, nahm im Laufe der Zeit durch allerlei Anpassungen und Gegenmaßnahmen zwar ab, blieb jedoch noch immer höher als die Sterberate in Europa.777 Bei den in Bengalen zwischen 1707 und 1775 tätigen Zivilangestellten der britischen East India Company lag die Sterberate bei deutlich mehr als die Hälfte.778 Nur knapp 13 % der in Bombay tätigen Mitarbeiter der EIC konnten nach Europa zurückkehren.779 Eine von Martin Krieger vorgenommene Analyse der Monumente des britischen St. Mary Cemetery in Madras (1800–1849) konnte bei aller gebotenen Vorsicht überdies zeigen, dass die Kindersterblichkeit der unter zehnjährigen sehr hoch war, und dass Erwachsene häufig bereits zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr starben. Dabei hatten Männer offenbar die besseren Chancen älter zu werden als Frauen, die wohl oftmals bereits während der Geburt ihrer Kinder das Leben verloren. Im England des 18. Jahrhunderts starben die meisten Menschen in ihrem sechzigsten, fünfzigsten und siebzigsten Lebensjahrzehnt. Es ergab sich also eine deutliche Diskrepanz hinsichtlich der Sterblichkeit zwischen Indien und Europa.780 Ein Grund für diesen signifikanten Unterschied könnte schlicht darin liegen, dass die Indienreisenden insgesamt eher jüngeren Alters waren, reisten doch viele jüngere Männer nach Indien, um dort ihr Glück und insbesondere Reichtum zu suchen.781 Ein anderer Grund dürfte in mangelnder medizinischer Kenntnis der örtlichen Verhältnisse, einer Ärzteknappheit und dementsprechend schlechter medizinischer Versorgung gelegen haben. Dies änderte sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, was an den Kirchenbüchern ablesbar ist, die sich nun detaillierter über bestimmte Todesursachen äußerten.782 Für die Zeit davor lassen sie sich mangels Quellen zumeist nur im Einzelfall bestimmen. Wie verhielt es sich nun mit den Missionaren und ihren Familien? Auch sie waren den geschilderten Faktoren ausgesetzt. Sie waren zwar auf der einen Seite oftmals 776 Vgl. zum Alkohol etwa Delfs, ‚What shall become‘, S.68–71. 777 Vgl. Mann, Indien ist eine Karriere, S. 251. Zu einer detaillierten sozialen Einordnung der Toten der Jahre 1773 und 1776 in Kalkutta vgl. Drost, Tod, S. 273–275, 276–278. Zur Abnahme der Todesrate unter britischen Soldaten seit Ende des 18. Jahrhunderts anhand des Beispiels Madras vgl. Philip D. Curtin: Death by Migration. Europe’s Encounter with the Tropical World in the Nineteenth Century, Cambridge u. a. 1989, S. 20–25. 778 Vgl. Peter J. Marshall: East Indian Fortunes. The British in Bengal in the Eighteenth Century, Oxford 1976, S. 217–219 und Mann, Indien, S. 251, Anm. 9. 779 Vgl. Mann, Indien, S. 252, Anm. 11 verweisend auf Holden Furber: John Company at Work. A Study of European Expansion in India in the Late Eighteenth Century, Harvard 1948, S. 27. 780 Vgl. Krieger, Cemeteries, S. 26–28, 30. 781 Vgl. Mann, Indien. 782 Vgl. Krieger, Cemeteries, S. 31.

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Physische Konstitution und Devianz: Individuelle Erfahrung und Norm

in mehrfacher Hinsicht privilegierter als die europäischen Unterschichten, waren zumindest (universitär oder handwerklich) gebildeter und hatten so zusammen mit der Unterstützung durch die jeweilige Missionszentrale oftmals finanziell (wenn auch nicht immer ausreichend) einen größeren Handlungsspielraum. Gleiches gilt für die Möglichkeit, gerade in Notlagen soziale Verbindungen nicht zuletzt aufgrund ihres Ansehens nutzen zu können. Darüber hinaus hatten ihr pietistischer Habitus, die damit verbundenen Normen und Werte sowie die besondere soziale Kontrolle auf bestimmte gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen wie eine schlechte Ernährung, übermäßigen Alkoholkonsum oder die Prostitution durchaus einen hemmenden Einfluss. Zudem besaßen die Missionare die meiste Zeit über einen eigenen Missionsarzt und waren im Unterschied zu vielen anderen Europäern im kolonialen Indien des 18. Jahrhunderts häufig selbst an medizinischen Themen und den diesbezüglichen Kenntnissen der Einheimischen interessiert.783 Zusätzlich bekamen sie Medikamente aus der Waisenhaus-Apotheke in Halle zugeschickt und erwiderten diese Sendungen durch indigenes Material.784 Dadurch waren die Missionare, egal ob Hallescher oder Herrnhuter Herkunft, auch für die übrige Bevölkerung von großer Bedeutung. Wie den Halleschen Pastoralmedizinern in Nordamerika wurde ihnen nicht zuletzt aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Sprache und der europäischen Medikamente großes Vertrauen entgegengebracht. Die Medikamente waren überdies ein bedeutender Wirtschaftsfaktor.785 Auf der anderen Seite waren die Missionare aber von besonderen Schwierigkeiten betroffen, waren von den Kommunikationsmöglichkeiten mit Europa und dem Wohlwollen der kolonialen Führungsschichten vor Ort abhängig und konnten sich sogar selbst zu ‚weißen Subalternen‘ entwickeln, was das Risiko zu sterben deutlich erhöhte. Von den insgesamt 73 Missionaren der Herrnhuter Brüdergemeine jedenfalls ließen 47,786 also knapp 64 %, in Indien ihr Leben, von den 56 Missionaren der DEHM im gesamten Missionszeitraum von 1706 bis 1844 starben dort, auf dem Weg dorthin oder auf dem Heimweg nach Europa 49, also etwa 88 %. Das Todes- bzw. Geburtsjahr ist nicht bei allen Missionaren bekannt. In einem solchen Falle wurde der betroffene Mis-

783 Vgl. u. a. Gericke über seine Gelbsucht und die Behandlung durch tamilische Ärzte an Freylinghausen, 29.09.1781, AFSt/M 1 B 72: 54 sowie Rottler an John mit der Empfehlung einer einheimischen Wurzel, möglicherweise Kurkuma, gegen die Erkrankung, 26.07.1785, AFSt/M 1 B 75: 18a. Vgl. zur Medizin in Tranquebar Niklas Thode Jensen: The Medical Skills of the Malabar Doctors in Tranquebar, India, as Recorded by Surgeon T. L. F. Folly, 1798, in: Medical History 49, 4 (2005), S. 489–515. 784 Vgl. nur Knoll an Francke, 07.09.1738, AFSt/M 1 B 11: 51. 785 Vgl. zu Nordamerika Renate Wilson: Pious Traders in Medicine. A German Pharmaceutical Network in Eighteenth-Century North America, Philadelphia 2000. 786 Vgl. Römer, Brüdermission, S. 74–77 sowie Beck, Brüder, S. 143. Ob die in den Zahlen enthaltenen sechs Aussteiger ebenfalls in Indien verstorben sind, ist anzunehmen aber nicht gesichert.

Krankheit und Tod

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sionar in der folgenden Rechnung nicht berücksichtigt.787 Die meisten, das heißt etwa ein Viertel der in der DEHM tätigen Missionare, verstarben demnach zwischen ihrem dreißigsten und vierzigsten Lebensjahr (12), gefolgt von den Lebensjahren zwischen 51 und sechzig (9) und 41 und fünfzig (8), sowie 61 und siebzig (7) und 71 und achtzig (immerhin noch sechs). Drei Missionare übertrafen gar das 81ste Lebensjahr (6,1 %), während vier (8,2 %) bereits zwischen ihrem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr verstarben. Letztere Angabe erklärt sich dadurch, dass jüngere Missionare seltener nach Indien gesandt wurden. Was auffällt, ist demgegenüber jedoch der relativ hohe Anteil an älteren Missionaren über sechzig (sechzehn aus einer zugegebenermaßen relativ geringen Fallzahl). Die Höhe dieses Anteils steht beispielsweise in Kontrast zu den Daten von St. Mary’s Cemetery in Madras (1800–1849), wo nur geringe Prozentzahlen für die sechziger (3,7 %), siebziger (1,8 %) und achtziger (0,5 %) Lebensjahre zu verzeichnen sind.788 Die Missionare wurden im Schnitt also deutlich älter. Nur wenig anders als bei der DEHM verhielt es sich bei den Herrnhutern,789 von denen die meisten zwischen ihrem 41. und 50. Lebensjahr verstarben (11), knapp gefolgt von den Spannen 31 bis vierzig und 51 bis sechzig (jeweils zehn). Lediglich vier Missionare erreichten jedoch die Jahre 61 bis siebzig und niemand aus den überlieferten Fällen wurde älter. Letzteres lässt sich sicher mit der im Vergleich zur DEHM kurzen Dauer der Mission und den besonders schwierigen Umständen auf den Nikobaren erklären. Einzuräumen ist zudem die hohe Zahl an unbekannten Lebensdaten. Trotzdem ist auch bei den Herrnhutern noch tendenziell ein höheres Lebensalter festzustellen als bei den Verstorbenen des St. Martin’s Cemetery von Madras, zumal im Falle der Brüdergemeine im Gegensatz zur DEHM, aber wie auf dem Friedhof von Madras auch die zumeist jünger sterbenden Frauen berücksichtigt wurden. Obwohl die Krankheiten und Todesursachen der Missionare nicht immer eindeutig zu identifizieren sind, weil bestimmte Krankheiten noch nicht bekannt waren, es keine oder mehrere Begriffe für sie gab oder die verwendeten Termini nicht mit den heutigen übereinstimmen,790 so lässt sich sagen, dass die meisten Missionare, wie auch die übri787 Dies erklärt vielleicht die Unterschiede zu den Berechnungen bei Lehmann, Es begann, S. 213. Die folgenden Berechnungen richten sich nach den Angaben in den Kurzbiographien bei Jürgen Gröschl: Missionaries of the Danish-Halle and English-Halle Mission in India 1706–1844, in: Andreas Gross u. a. (Hg.): Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India, Volume III: Communication between India and Europe, Halle 2006, S. 1497–1528 sowie Andreas Gross: Missionaries of the Danish-Halle Mission, in: ebd., S.1571 f. sowie ders.: Missionaries of the English-Halle Mission, in: ebd., S. 1573 f. Im Unterschied zu den Zahlen der Herrnhuter wurden hier die Frauen nicht mitgezählt. 788 Vgl. Krieger, Cemeteries, S. 24. 789 Die folgenden Berechnungen beruhen auf dem Verzeichnis bei Römer, Brüdermission, S. 74–77. 790 Vgl. zu diesen Problemen am Beispiel der Depression Karl-Heinz Reger: „Dann sprang er über Bord“: Alltagspsychologie und psychische Erkrankung an Bord britischer Schiffe im 19. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 361.

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gen Europäer, aufgrund von Erkrankungen starben.791 Nicht immer werden jedoch die genauen Umstände beschrieben oder gar Krankheiten nach damaligem Wissensstand benannt. Einige Fälle lassen sich aber doch finden: So starb der Missionar Schöllkopf (DEHM) bereits kurz nach seiner Ankunft in Madras wohl an einer Lebererkrankung,792 John (DEHM) litt ebenfalls mehrfach an ‚Gelbsucht‘ und ‚Gallenfieber‘,793 von Europäern häufig genannte Erkrankungen,794 wie auch möglicherweise verschiedene Durchfallerkrankungen (Ruhr, Cholera etc.),795 an einer solchen starb etwa der Missionsarzt Schlegelmilch (DEHM).796 Häufig waren weiterhin allgemeine Fiebererkrankungen.797 Daran starb der Missionar Richtsteig (DEHM).798 Klein (DEHM) hatte die Pocken,799 während sein Kollege Maderup nach einem Schlaganfall rechtseitig gelähmt war und nur zwei Jahre später starb.800 Nicht alle diese Krankheiten waren klimaspezifisch, sondern traten auch in Europa auf. Wie in Europa wurde oft Alkohol als Medizin eingesetzt. Während jedoch die Pietisten in Europa Alkohol zunehmend verdammten, agierte man hinsichtlich der Missionare in Indien flexibel, riet ihnen lediglich zu einer Mäßigung im Konsum und glaubte somit, den besonderen Lebensbedingungen in Indien, wie schlechtem Wasser, Rechnung tragen zu können.801 Aufgrund der ausgeprägten Reisetätigkeiten der Missionare und des zahlenmäßigen Ungleichgewichts zwischen den einzelnen Missionsstationen fällt es schwer, regionale Spezifika etwa von Bengalen oder Südindien festzustellen. Insgesamt dürften sich die Erkrankungen in den jeweiligen Regionen wohl weitgehend geähnelt haben. Eine Besonderheit waren aber die Nikobarischen Inseln, weit im Golf von Bengalen gelegen und mit einem ganz eigenen Klima und Ökosystem ausgestattet. Gerade die günstige geographische Lage als vor allem wirtschaftlicher Brückenkopf nach Südostasien 791 Vgl. die Liste für das 19. Jahrhundert bei Krieger, Cemeteries, S. 31. 792 Vgl. Schöllkopf, Schöllkopf, S. 136 f. Vgl. Freylinghausen an Missionskollegium, 14.07.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 793 Vgl. John an Freylinghausen, 18.10.1784, AFSt/M 1 B 75: 18. 794 Vgl. Gericke über seine Gelbsucht an Freylinghausen, 29.09.1781, AFSt/M 1 B 72: 54 sowie Rottler an John 26.07.1785, AFSt/M 1 B 75: 18a. 795 Vgl. etwa über Obuchs Durchfallerkrankung Kohlhoff an Freylinghausen, 11.09.1737, AFSt/M 1 B 24: 11. Vgl. zu den Herrnhutern Krieger, ‚Brüdergarten‘, S. 224. 796 Vgl. Bitte von Gotthilf August Francke an die Ärzte in Europa um Ratschläge für die Behandlung der in Indien grassierenden Dysenterie, um 1731, AFSt/M 1 K 2: 9. 797 Vgl. nur das Tagebuch von Kiernander, AFSt/M 2 L 4: 2. Kiernander sowie die meisten Kinder der Schule bekamen Fieber. Vgl. Hüttemann an Ziegenhagen, 24.02.1767, AFSt/M 1 B 56: 34 mit einem Bericht über die Fieberanfälle Obecks, die jenen fast drei Monate an das Bett gefesselt hätten. 798 Vgl. Tagebuchaufzeichnungen von Nikolaus Dal, 29.01.1735–11.08.1735, AFSt/M 2 E 46: 41. 799 Vgl. Klein an Freylinghausen, 07.02.1779, AFSt/M 1 B 69: 20. 800 Vgl. Jobst Reller: Missionarischer Alltag – eine Generation nach Ziegenbalg und Plütschau, in: Henning Wrogemann (Hg.): Indien – Schmelztiegel der Religionen oder Konkurrenz der Missionen? Protestantische Mission in Indien seit ihren Anfängen in Tranquebar (1706) und die Sendung anderer Konfessionen und Religionen, Münster u. a. 2008, S. 43–67, hier: S. 50. 801 Vgl. Delfs, ‚What shall become‘.

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machte die Inseln immer wieder für die Europäer interessant. Aufgrund des heißen und feuchten Klimas, der eher feindlich gesinnten Bevölkerung und insbesondere der dort wahrscheinlich vorherrschenden Malaria (‚Nikobarisches Fieber‘) missglückten verschiedene europäische Ansiedlungsversuche, u. a. der Dänen, immer wieder. Letztere sahen schließlich die Herrnhuter Brüdergemeine dafür vor.802 Doch auch sie scheiterte an den geschilderten Bedingungen: Von 22 dorthin gereisten Missionaren starben auf den Nikobaren dreizehn (59 %), häufig sogar schon nach zwei bis drei Monaten.803 Die übrigen Herrnhuter gaben ihre Station schließlich frustriert auf.804 Seltener als Krankheiten haben hingegen die übrigen potenziellen Todesursachen für die Missionare eine Rolle gespielt. Dies lag freilich auch an den unterschiedlich riskanten Tätigkeiten der unterschiedlichen Gruppen: So kamen Unfälle unter Soldaten und Seeleuten vergleichsweise häufig vor.805 Wenngleich hiervon zuweilen andere Schichten oder Berufsgruppen ebenfalls betroffen waren,806 sind bei den Missionaren – soweit ersichtlich – keine Unfälle überliefert. IV.2 Suizid, Sucht und Tod Als besonders interessant erweist sich die Frage nach (potenziellen) Suizidkandidaten in der Mission. Dieses Thema war für Missionare besonders heikel, ging es doch um den Ruf der Mission und als Teil einer grundsätzlichen religiös-moralischen Bewertung u. a. um die christliche Beerdigung auf dem Friedhof, denn eine ‚gewöhnliche‘ Selbsttötung konnte bei oder nach der Bestattung bestraft werden, während ein unter geistiger Unzurechnungsfähigkeit verübter Suizid, etwa unter Alkoholeinfluss oder aufgrund einer Krankheit, nicht unbedingt diesen Sanktionen unterliegen musste.807 Zwei Missionare der DEHM kommen diesbezüglich in den Blick: Einmal der bereits mehrfach erwähnte Lambert Christian Früchtenicht mit seinen gescheiterten Versuchen und einer (wahrscheinlich) zu einem Ende geführten Selbsttötung und dann Wilhelm Jacob Müller, bei dem der Suizid zwar nicht vollständig zweifelsfrei zu belegen ist, sich aber deutliche Indizien für einen solchen entdecken lassen.

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Vgl. Krieger, ‚Brüdergarten‘, S. 215 f. Vgl. zu den Zahlen Römer, Brüdergarten, S. 76. Vgl. Krieger, ‚Brüdergarten‘, S. 239. Vgl. hauptsächlich für britische Seeleute und das 19. Jahrhundert Reger, ‚Dann sprang er über Bord‘, S. 279–296, v. a. S. 282 f. 806 Vgl. Krieger, Cemeteries, S. 39. 807 Vgl. Krieger, Cemeteries, S. 39 f.

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IV.2.1 Der Suizidfall Müller Gerade dieser letztere Fall verdient eine nähere Betrachtung: Müller fuhr 1771 nach Indien und starb dort bereits nach nur einigen wenigen Monaten. Von ihm selbst sind keine Quellen aus Indien überliefert. Die Missionare berichteten dem Missionskollegium jedoch, dass er schon am ersten Tag nach seiner Ankunft in einen „schwere[n] Grad der Melancholie“ und eine „Schwäche an Gemüts-kraften“ verfallen sei. Noch im gleichen Brief deuteten sie seine Suizidgedanken und zugleich die geistlichen und weltlichen Sanktionsmöglichkeiten für eine solche Normverletzung an, denn seine Kollegen hätten sich „bisher alle nur mögliche Mühe gegeben, vornehmlich mit evangelischen, zuweilen auch mit gesetzlichen Vorstellungen ihn einzulencken.“ Dies bleibt die einzige normativ geprägte Stelle des Schreibens. Ihre Ermahnungen hätten jedoch keine Besserung bewirkt. Weder wolle noch könne er ein Lehrer sein, so Müller nach den Schilderungen seiner Missionarskollegen, zudem weigere er sich die Schreiben der Missionare zu unterschreiben. Letztere hätten nun gar „Furcht vor einigen gefährlichen Unternehmungen dieses lieben Bruders“ und würden ihn deshalb „beständig beobachten“.808 Gemeint sind hier für ihn selbst „gefährliche Unternehmungen“, also Suizidversuche. Die ständige Aufsicht war auf Anweisung des Arztes begleitet von gemeinsamen Spaziergängen im Missionsgarten, um Müller „Motion und Recreation zu verschaffen“.809 Dem Brief selbst war ein Gutachten des Missionsarztes Johann Gerhard König beigefügt, der von Hypochondrie und einer sich anschließenden Melancholie, die sich bis zur Manie steigerte, sprach. Medikamente hätten nur kurzzeitig eine Besserung bewirkt, dann habe der Patient dieselben abgelehnt. Und schließlich habe die Regenzeit eine weitere Verschlechterung bewirkt.810 All dieses deutet sehr stark auf eine Depression hin. In der heutigen Psychologie würde man anhand der von König festgestellten Symptome wohl genauer von einer ‚bipolaren affektiven Störung‘ sprechen. Eine solche ist gekennzeichnet durch ebenjene Schwankungen zwischen den beiden Polen „manischer Hochstimmung“ und „depressiver Bedrückung“.811 Sie scheint jedoch frühestens bei der Überfahrt zum Tragen gekommen zu sein, denn immerhin wurde Müller für die Indienmission ausgewählt und somit als geeignet betrachtet. Einen dermaßen labilen Kandidaten hätte die Leitung sicher nicht nach Indien geschickt.

808 Missionare an Missionskollegium, 15.10.1771, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 809 Auszug aus dem Conferenz-Buch vom October 1770 bis wieder dem October 1771, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 810 Gutachten König, 14. und 18.10.1771, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 811 Reger, ‚Dann sprang er über Bord‘, S. 362.

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Als Auslöser einer bipolaren Störung werden heutzutage neben genetischen psychosoziale Faktoren diskutiert. Zu letzteren gehört insbesondere Stress812 zum Beispiel durch Schlafstörungen oder Alkoholmissbrauch. Wenngleich eine solche Interpretation bei Müller angesichts der Quellenlage in den Bereich der retrospektiven Spekulation gehört,813 erscheint sie doch plausibel, bedenkt man die ungewohnte Stresssituation von Überfahrt und Landaufenthalt und die dort lauernden Unsicherheiten. Hier kommt die persönliche Konstitution ins Spiel, die dem einen Missionar eine bessere Anpassung an genannte Unsicherheitsquellen ermöglichte als dem anderen, denn Müller wurde bei seiner Überfahrt immerhin von seinem gesund bleibenden Kollegen John begleitet. Schon am 30. Dezember 1771 verstarb Müller. Die Quellen schweigen über die genaueren Vorkommnisse. Es heißt lediglich, er sei von seinen „betrübten Umständen durch einen baldigen Tod erlößt“ worden.814 Die veröffentlichten Missionsberichte äußern sich ebenfalls nicht genauer. Übermäßiger Alkoholkonsum wird in den Schilderungen nicht erwähnt. Angesichts anderer Fälle ist es unwahrscheinlich, dass ein solcher in den Briefen geheim gehalten worden wäre. Möglicherweise hat Müller einen Schlaganfall erlitten, wie an anderer Stelle leider ohne Quellenbelege berichtet wird.815 Es könnte durchaus eine organische Vorerkrankung vorgelegen haben, die zu den besagten depressiven Symptomen geführt hatte. Reger nennt als mögliche Ursachen für Depressionen bei britischen Seeleuten des 19. Jahrhunderts etwa Vitaminmangel, Colitis ulcerosa, Tuberkulose und eben Alkoholismus.816 Wahrscheinlicher als eine körperliche Erkrankung erscheint jedoch angesichts der unauffälligen Vorgeschichte Müllers, dem weiteren Verlauf und seinem schnellen Tod ein Suizid, der ein Tabu darstellte und durch Verweise auf Krankheiten oder zumindest das Verschweigen von weiteren Einzelheiten entschuldigt, von seiner Sündhaftigkeit befreit oder verdeckt werden sollte.817 Dies war für die Mission der einfachere Weg, denn so war die in der Tat erfolgte ordnungsgemäße und ehrliche, also stille Bestattung Müllers auf dem Friedhof der Neuen Jerusalemskirche gewährleistet.818 Obwohl solches den eigentlichen Normen nicht entsprach, folgte dieses Vorgehen wohl einer 812

Vgl. Claus Normann: Zur Neurobiologie bipolarer Störungen, in: Hans-Jörg Assion, Wolfgang Vollmöller (Hrsg.): Handbuch bipolare Störungen. Grundlagen – Diagnostik – Therapie, Stuttgart 2006, S. 35–44, hier v. a.: S. 42 f. 813 Vgl. die Mahnung zur Vorsicht bei Kästner, Tödliche Geschichte(n), S. 53–55. Man solle zumindest „die erzählten Geschichten nicht gegenüber alternativen Deutungen verschließen“ (S. 53). 814 Freylinghausen an Ursin, 20.10.1772, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 815 Vgl. Kryger, Gasparski, Tranquebar, S. 117. 816 Vgl. Reger, ‚Dann sprang er über Bord‘, S. 362. 817 Vgl. zur Rolle des Pietismus im Wandel von der Sünde zur Krankheit des Suizids Hans-Martin Kirn: ‚Ich sterbe als büßende Christin …‘. Zum Suizidverständnis von Spätaufklärung und Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit 24 (1998), S. 252–270. 818 Vgl. die Beschreibung der Grabstelle von Müller bei Kryger, Gasparski, Tranquebar, S. 116 f.

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inzwischen weitgehend anerkannten Praxis, wie Vera Lind zumindest für die Herzogtümer Schleswig und Holstein nachweisen konnte.819 Zudem wurde der Ruf der Mission damit in diesem Fall nicht weiter beschädigt. Eine ausführliche Schilderung in den Missionsberichten hätte eventuell Spender, Berichterstatter und Missionskandidaten auf die potenziell schwierige Lage in Indien aufmerksam gemacht und so weiter abgeschreckt. IV.2.2 Devianz, Sucht und Tod Weit häufiger als die Selbsttötung eines Missionars kamen der Alkoholkonsum und damit einhergehende Normverstöße in der Mission zum Tragen.820 Sowohl für die DEHM wie auch für die Herrnhuter Brüdergemeine sind einige solcher Problemfälle überliefert, die wie in den Fällen Beck und Früchtenicht bis zum Tode führen konnten:821 Der DEHMissionar Benjamin Schultze soll ähnlich wie sein Kollege Kiernander illegalerweise mit Bier, Wein und selbstgebranntem Alkohol gehandelt haben.822 Überdies musste bereits der Missionar Martin Bosse 1749 als Alkoholiker wieder nach Europa zurückkehren,823 wie man auch Johann Heinrich Hutter 1750 Alkoholmissbrauch unterstellte.824 Das gleiche gilt für den Missionsdrucker Johann Gottlieb Adler.825 Und in der hier vornehmlich behandelten Niedergangsphase der DEHM waren mindestens drei der zehn verbliebenen Missionare in unterschiedlichem Ausmaß von solchen Vorwürfen betroffen: Päzold und Holzberg, die sich zeitgleich mit dem Alkoholiker Früchtenicht in Indien aufhielten, wurde ebenso Trunksucht zugeschrieben826 wie dem Missionsschulmeister Christian Daniel Klein – pikanterweise seines Zeichens Sohn des Missionars Jacob Klein.827 Fälle von Trunkenheit sind außerdem von einheimischen Mitarbeitern der DEHM überliefert.828 Die zentrale sich daraus er819 820 821 822 823 824 825 826 827 828

Vgl. Vera Lind: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein, Göttingen 1999. Vgl. Delfs, ‚What shall become‘. Vgl. zu diesen und anderen Fällen bereits Delfs, ‚What shall become‘. Vgl. hierzu die Anmerkung bei Liebau, Mitarbeiter, S. 156, Anm. 49 und Nørgaard, Mission, S. 138 f. Vgl. Schultzes Verteidigung gegen diese Vorwürfe in Schultze an Francke, 21.01.1737, AFSt/M 2 G 15: 8. Vgl. Kohlhoff an Francke, 24.09.1739, AFSt/M 1 B 26: 28. Vgl. ebenfalls Gröschl, Missionaries, S. 1503 f. Vgl. Missionare an Francke, 30.12.1750, AFSt/M 1 B 40: 10. Vgl. die Datenbank zu den Einzelhandschriften in den historischen Archivabteilungen der Franckeschen Stiftungen unter http://192.124.243.55/cgi-bin/gkdb.pl und dort die biographischen Angaben. Vgl. John an Knapp, 27.03.1800, AFSt/M 1 C 41: 94: „Fruchtenicht übertrift an Faulheit, Störrigkeit und elender Aufführung noch jene beyde im hohen Grade.“ Vgl. Rottler an Schulze, 20.01.1798, AFSt/M 1 C 39a: 8. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 154.

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gebende Frage lautete: Wie sollte man überzeugend missionieren, wenn die eigenen Missionare und Mitarbeiter sich in diesem Ausmaß nicht an die eigenen Gebote hielten und sich somit auf eine Ebene mit den ‚weißen Subalternen‘ begaben? Dass beim Alkoholkonsum durchaus nach Schichten differenziert wurde, belegt die bereits zitierte angebliche Antwort eines Einheimischen auf die Frage der Missionare nach den Sünden der Europäer und die Anmerkungen der Missionare hierzu in den Fußnoten. Zwar tränken alle europäischen Gesellschaftsschichten Alkohol, doch die unteren und mittleren Schichten bevorzugten die einheimischen Alkoholsorten Arrak und einen aus Reis gebrannten Schnaps, während die Oberschichten sich auf die aus Europa importierten Weine, Biere und Branntweine konzentrierten.829 Einerseits hatte dies mit dem Preis zu tun, andererseits steckte dahinter eine Wertung, indem die Unter- und Mittelschichten den einheimischen Alkohol mit der vermeintlich schlechteren Qualität zugesprochen bekamen. Ziegenbalg fühlte sich, trotz seines belegbaren Konsums beispielsweise von Bier, demgemäß bemüßigt zu schreiben, er habe weder Arrak noch Reisschnaps jemals probiert. Er wollte sich von den besagten niedrigen Schichten und den Einheimischen abgrenzen.830 Schon vor den Skandalen um die beiden sogleich ausführlicher zu schildernden Missionare Früchtenicht und Beck gab es sowohl bei der DEHM als auch bei den Herrnhutern vor allem in den aus Europa von den Missionszentralen erteilten Instruktionen explizite Warnungen vor verschiedenen Formen des Fehlverhaltens bzw. dessen was als Fehlverhalten angesehen wurde und Regulierungsversuche. Während die bis 1797 unverändert gültige Instruktion831 für Missionare der DEHM noch sehr allgemein gehalten ist, ändert sich dies bei den Anweisungen, die in Bezug auf Früchtenicht erstmalig Anwendung finden sollten. So enthält die erste Instruktion in § 6 zwar schon allgemeinere Ermahnungen hinsichtlich vorbildlichen Verhaltens wie: „Damit auch die armen wahnwitzigen Menschen sehen mögen, daß er der Missionarius selbst in seiner Seele findet, was er lehret, so soll er allenthalben sich zum Exempel guter Wercke stellen, damit jene auch durch seinen Wandel mögen gewonnen werden.“ Ergänzend heißt es in § 7: „Soll er sich genügen lassen, was wir ihm zum jährlichen Lohn und Unterhalt allergnädigst haben zugelegt: Und bey seinen Amts=Verrichtungen nicht das geringste Geld von den Leuten fordern.“832 Früchtenichts Instruktion jedoch ist in ihren Formulierungen schon deutlich expliziter und ausführlicher gehalten und verurteilt beispielsweise ausdrücklich Alkoholmissbrauch, Handelstätigkeit und andere als Laster oder auf sonstige Weise als problematisch wahrgenommene Verhaltensweisen.

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Vgl. HB, 11. Cont. S. 944. Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 70. Vgl. Nørgaard, Mission, S. 206. Vgl. HB II, S. 379–381, 380 (Zitate). Eine englische Übersetzung findet sich in: Gross, Kumaradoss, Liebau, Halle and the Beginning, Vol. III, 1337–1341. Vgl. ebenda den Kommentar von Anders Nørgaard: The Mission Instruction, S. 1277–1281.

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Anders als in Europa wurde Alkoholkonsum als Ganzes in Indien jedoch nicht angegriffen. In mäßiger Form eingenommen, wurde Alkohol, wie erwähnt, auch von den in dieser Hinsicht strengen Pietisten, vor allem aus gesundheitlichen Gründen für Indien weiterhin als notwendig erachtet.833 Die Herrnhuter in Serampore bekamen offenbar erstmalig 1784 diesbezügliche Anweisungen, denn am ersten August desselben Jahres erwähnen die Diarien aus Bengalen: Nachher lasen wir das Schreiben der U. A. C. [= Unitäts-Ältestenkonferenz, TD] wegen Trinkens starker Getränke, es diente uns diese treue Ermahnunge zum Segen, u. ob wir gleich durch Gottes Gnade der Mißbrauch derselben sich unter uns bisher noch nicht gezeigt, so nahmen wir doch die Warnung vor demselben zu Herzen.834

Beide Befunde sprechen dafür, dass sich möglicherweise die Wahrnehmung von derartigen Verhaltensweisen geändert hat und/oder dass es schon kurz zuvor ähnlich gelagerte Fälle gegeben haben muss – vielleicht auch auf anderen Missionsfeldern wie in Nordamerika oder von anderen Gruppen.835 Es handelt sich um eine Vermutung, die in einer „Allgemeinen Nachricht“ der Indienmissionare aus dem Jahre 1800 ihre Bestätigung findet, denn nach einem Bericht über einige Eskapaden Früchtenichts heißt es darin: „Gerne ließen wir einen Vorhang über diese traurige Scene fallen und würden diese kränkenden Vorfälle, wie bisher viele andere, mit Stillschweigen übergehen, um niemand zum Schaden dem Publicum blos zu stellen“. Der Hallesche Missionar Päzold, der sich seit 1793 in Indien aufhielt, könnte ein Beispiel für solch ein ‚Stillschweigen‘ gewesen sein. Die Begründung für die dennoch vorgenommene Berichterstattung über Früchtenicht lieferten die Missionare im Anschluss gleich mit. Die Vorfälle hätten schlicht dermaßen „öffentlich“ stattgefunden, dass eine Verheimlichung nicht mehr zu gewährleisten war. Mehr noch: sie „verbreiteten sich zu sehr durch die vielen Fremden über die europäischen Besitzungen in Indien und selbst durch Seefahrende nach Europa“.836 Wie Hermann Wellenreuther im Falle des trunksüchtigen Pastors Brunnholtz zeigen konnte, spielten in den 1750er Jahren in solchen Erwägungen ‚Feinde‘ der Mission eine große Rolle, von denen man befürchtete, dass sie die Probleme publizistisch ausschlachten könnten. Erst als der Pfarrer Mühlenberg in Amerika erfahren hatte, dass der Drucker Saur von der Trunksucht seines Kollegen 833 Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 79. 834 UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. Vgl. auch Delfs, ‚What shall become‘, S. 75. 835 Vgl. zum Beispiel die Vorkommnisse rund um den trunksüchtigen Militärgeistlichen Langstedt aus den 1780er Jahren in Hummel (Hg.), Hannoversche Truppen. Langstedt bewarb sich trotz dieser Vorfälle später in Halle, um Indienmissionar zu werden. Er wurde jedoch nicht angenommen. Vgl. Knapp an Langstedt, 11.08.1802, AFSt/M 1 C 43b: 53b. 836 „Allgemeine Nachricht von dem Zustande der königl Dän Mission in Trankenbar im verfloßenen Jahre 1800“, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808 (meine Hervorhebung).

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wusste, rückte er von seiner nach Europa geschickten „Fiktion“ ab, dass Brunnholtz lediglich ein wenig krank sei.837 Gerüchte hatten demnach einen großen Einfluss auf die Regulierung des Konfliktes. Dass derartiges Gerede überhaupt wirksam werden konnte, wurde durch die generellen Kommunikationsdefizite maßgeblich begünstigt, denn ein „System, das Meldungen erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand transportierte, in das Informationen aus unterschiedlichsten Quellen eingespeist wurden und das geheime Informationen als besonders begehrenswert betrachtete, war zwangsläufig anfällig für Gerüchte.“838 Was Susanne Friedrich und zuvor Andreas Gestrich839 für Herrschaft allgemein und den Reichstag im Speziellen untersucht haben, galt ebenso und womöglich noch stärker in und zwischen den Kolonialstützpunkten (in Indien wie in Nordamerika840) mit deren schwachen normativen und politischen Strukturen und deren Kommunikation, zumal wenn, wie im Falle Früchtenicht, mit Europa, Afrika, Asien und Amerika mehrere Kontinente und noch dazu ‚multinationale‘ Regionen betroffen waren. Um Schlimmerem, also möglichen Fehlurteilen und sich verselbständigenden Gerüchten über die Mission, vorzubeugen und ein Informationsmonopol zu schaffen, wählten die Missionare das kleinere Übel und entschieden sich für ein offensives Vorgehen und kommunizierten die relativ detaillierten Interna selbst nach Europa. Man halte es sich zudem offen, „wenn ungerechte Klagen und unbillige Urtheile über unser Verfahren erscheinen solten, durch öffentliche Bekanntmachung der gerichtlichen Akten dieses zu widerlegen“.841 Dies sollte jedoch nicht nötig werden und die gedruckten Missionsberichte erwähnten Früchtenichts Eskapaden allenfalls am Rande, ohne sie aber vollständig zu verschweigen. Wie zuvor schon – im wohl dabei nicht einzubeziehenden Fall Müller – erwähnt, kann Suizidalität zu den Folgen von Alkoholmissbrauch zählen.842 Mit dem Missionar Früchtenicht zählt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Fall in diese Kategorie. Überhaupt lässt sich mit dem Herrnhuter Missionar Grasmann formulieren, dass das „Laster der Trunkenheit nicht leicht ohne Begleitung anderer Laster ist“.843 Zwei besonders gut überlieferte Fälle vom Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts stützen diese 837 Vgl. Wellenreuther, Mühlenberg und die deutschen Lutheraner, S. 332–335, 335 (Zitat). 838 Susanne Friedrich: Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700, Berlin 2007, S. 245. Vgl. zur Funktion von Gerüchten etwa Jakob Vogel: Die Politik des Gerüchts. Soziale Kommunikation und Herrschaftspraxis in Frühneuzeit und Moderne, in: WerkstattGeschichte 15 (1996), S. 3–10. 839 Vgl. Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994 sowie Friedrich, Drehscheibe Regensburg. 840 Vgl. Wellenreuther, Mühlenberg und die deutschen Lutheraner. 841 „Allgemeine Nachricht von dem Zustande der königl Dän Mission in Trankenbar im verfloßenen Jahre 1800“, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808. 842 Vgl. Reger, ‚Dann sprang er über Bord‘, S. 323. 843 Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60.

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Behauptung stark und werden deshalb im Folgenden als Fallstudien ausführlicher behandelt: einmal der des Hallensers Früchtenicht, dann der des Herrnhuters Beck. In beiden Fällen lassen sich die Erkenntnisse der vorangegangenen Kapitel, ergänzt um die Alkohol- und Suizidthematik, gut exemplifizieren und anwenden. IV.2.2.1 Der Fall Früchtenicht844 1801 erschien der Bericht über die heldenhafte Tat eines Missionars vom 23. Juni 1799 im Asiatic Annual Register. Darin hieß es, nachdem zuvor über einen schweren, für diese Region während der Regenzeit nicht untypischen Sturm in Barrackpore und Serampore845 und damit einhergehend einen Schiffbruch im Hugli berichtet worden war: only the top-masts and yards remained above water – on which the crew were clinging, and looking earnestly for relief to the shore, from whence no one durst venture off to their aid – till the Rev. Mr. Fruchtenicht, a Danish missionary, sprung into a boat, and, by the offer of reward, seasonably reinforced with menaces and a vigorous application of his cane, prevailed on the Mangy and Dandies to carry him to the wreck and carry the trembling wretches to the shore.846

Bei dem hier einerseits als so heroisch-entschlossen zupackend, andererseits aber bereits als ein wenig jähzornig oder zumindest draufgängerisch dargestellten Missionar handelte es sich um den Hallenser Missionar Lambert Christian Früchtenicht kurz nach seiner Ankunft in Bengalen. Der zitierte Bericht sollte, abgesehen von den eingangs bereits analysierten Empfehlungsschreiben und Zeugnissen seiner Bewerbung und einigen von Früchtenicht in Indien veranlassten Zeugenaussagen zu seiner späteren Verteidigung, eine der wenigen überwiegend positiven Stimmen zu dem Missionar bleiben. Sein Leben kann geradezu als Paradebeispiel für einen ‚globalen Lebenslauf ‘ gelten, berührte er doch während seiner kurzen und tragischen Lebensspanne mit Europa, Asien, (Nord-)Amerika und Afrika, gleich vier der Kontinente. Seine auf jedem dieser Erdteile gescheiterte ‚Gratwanderung‘ im Sinne des einleitend zitierten

844 Eine stark gekürzte Fassung dieses Abschnittes findet sich bei Delfs, ‚What shall become‘, S. 72–79. Kurz behandelt wird der Fall, v. a. in rechtlicher Perspektive, auch bei Nørgaard, Mission und Obrigkeit, S. 206–208. 845 Vgl. Krieger, Serampore, S. 68. 846 The Asiatic Annual Register, or, a View of the History of Hindustan, and of the Politics, Commerce, and Literature of Asia, for the Year 1800, London 1801, S. 5 f. Mit dem „Mangy“ (manjhee) und den „Dandies“ sind die vornehmlich für den Ganges angeheuerten einheimischen Bootsleute gemeint. Der manjhee war dabei der Aufseher der Übrigen. Vgl. hierzu inkl. der zeitgenössischen Abbildung eines Dandy Nitin Sinha: Communication and Colonialism in Eastern India: Bihar, 1760s-1880s, London 2012, S. 187. Vgl. Henry Yule, Arthur Coke Burnell: The Concise Hobson-Jobson: An Anglo-Indian Dictionary, Hertfortshire 1996 (1886), S. 296.

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Dietmar Rothermund weist durch eine Fülle an aus den verschiedenen Konfliktregulierungsversuchen hervorgegangenen oder eben gerade wegen dieser Konflikte aufbewahrten Quellen eine einzigartige Überlieferungssituation auf. Ganz im Gegensatz zum noch zu schildernden Fall des Herrnhuters Beck kommen in den Quellen neben der eher unwillig einbezogenen Obrigkeit und den Missionszentralen nicht allein die Missionarskollegen, sondern der betroffene Missionar sogar häufig selbst zu Wort. Wie in Kapitel II.4 schon geschildert waren Früchtenicht und Jan Gilbert am 25. Mai 1798 mit dem dänischen, von Kapitän Schulz geleiteten Schiff Norge von Kopenhagen aus über Kapstadt nach Indien gereist. Die sich bereits an Bord zeigenden Probleme sollten auch in Indien immer wieder ein Gegenstand des Vorwurfs durch die anderen Missionare sein, der nicht nur Früchtenicht, sondern ebenso Gilbert betraf. So schrieb bereits der Missionar Cämmerer kurz nach Ankunft der beiden in Bengalen über Gilbert, dieser sei wie viele junge Leute, die „gleich große Herren spielen“ und „mit den Geldern […] nicht umgehen können“.847 Das Verhalten Gilberts ähnelte demnach dem bereits geschilderten Gebaren Früchtenichts, der sich gleich in Serampore einen Palanquin nahm und sich verschuldete. Es erscheint möglich, dass Cämmerer zusätzlich zu seinen pietistischen Wertvorstellungen durch britische Diskurse über die ‚Nabobs‘ beeinflusst war. Als zentrale Merkmale dieser vor allem in der Heimatgesellschaft verpönten Aufsteiger der EIC tauchen immer wieder Gier, Egoismus und insgesamt deren Hybris auf. Ihnen wurden unter anderem und ähnlich wie später Früchtenicht Spielsucht oder das Nutzen einer Hooka-Pfeife848 und anderer traditionell einheimischer Dinge wie der jeweiligen Kleidung vorgeworfen.849 Wenngleich das Wort ‚Nabob‘ in den missionarischen Quellen in diesem Zusammenhang nicht erscheint, so ist doch nicht zuletzt aufgrund vieler Kontakte zu Briten und des Lesens der britischen Zeitungen anzunehmen, dass den Missionaren die zugehörigen Diskurse nicht unbekannt waren. Die Kritik reichte noch weiter: Der Rechnungsführer des Königlichen Pädagogiums in Halle Johann Carl Bach (1737–1813) zeigte sich nur wenig später, vermutlich auf Nachfrage Jacob Gudes, ebenso wie der Sekretär des Missionskollegiums selbst, enttäuscht, wenn nicht gar beleidigt, über die Tatsache, dass er noch nichts von den Gebrüdern Gilbert nach deren Ankunft in Indien gehört habe. „Die großen Dienste“, die Gude den beiden erwiesen habe, „werden von ihnen [den Gilberts, TD] vergessen,

847 Cämmerer an Nebe, 23.10.1799, AFSt/M 1 C 40b: 29. 848 Hierbei handelte es sich um eine Wasserpfeife, in der man eine Mischung aus Tabak, Gewürzen, Zucker und Früchten rauchte. Dazu gehörte ein spezieller Diener, der Hooka-Burdar. Vgl. Yule, Bernell, Hobson-Jobson, S. 423 f. Im Unterschied zu den ‚Nabobs‘ wurde Früchtenicht gar nicht so sehr das Rauchen an sich vorgeworfen, sondern die Nutzung eines solchen Dieners, der ja bezahlt werden musste. Vgl. John an Früchtenicht, 04.10.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1793–1799. 849 Vgl. Nechtman, Nabobs, S. 129, 150–152, 175.

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und an mich denkt auch keiner von beiden.“850 Dies erinnert doch sehr an die pikierten Beschwerden über ausbleibende Briefe Früchtenichts. Der Holsteiner und Gilbert schienen wechselseitig Einfluss aufeinander auszuüben und sich gegenseitig in ihrem Handeln zu bestärken, zumindest aber auf manchen Gebieten eine ähnliche Einstellung zu besitzen. Dies äußerte sich etwa in ihrem laxen Umgang mit den Finanzen, und dann, wenn es darum ging, Abmachungen oder Konventionen einzuhalten bzw. nicht einzuhalten. Früchtenicht erreichte Bengalen im Februar 1799 und hielt sich dort knapp sieben Monate lang auf. Noch bevor er die Missionare im Süden des Subkontinents kennengelernt hatte, waren schon die ersten Beschwerden und Gerüchte über sein Benehmen auf der Seereise, in Kapstadt (Siehe Kapitel II.4) und in Bengalen zu den Missionaren nach Tranquebar gedrungen. Sein Ruf eilte ihm also voraus. Er selbst hatte sich unter apologetischer Anführung einer während der Reise zugezogenen Krankheit erst einen Monat nach seiner Ankunft bei den Missionaren in Tranquebar gemeldet, und das, wie der Missionar Cämmerer ausdrücklich anmerkte, obwohl schon „manche Briefe aus Friedericksnagur [= Serampore, TD] mit der Post hier angekommen“.851 Früchtenicht hätte also Postgelegenheiten gehabt. Daraufhin hatte Christoph Samuel John an Früchtenicht geschrieben und diesen bereits vorsichtig ermahnt, vor allem hinsichtlich des Umganges mit den Finanzen. Denn die Missionare wunderten sich, wie es möglich sei, dass Früchtenicht schon kurz nach seiner Ankunft einen Wechsel über 500 Sicca Rupien – es sollte sich später herausstellen, dass es sich um etwas weniger, nämlich etwa 470 Rupien handelte – bei der „Regierung“ zu Lasten der Missionskasse habe aufnehmen können, obschon er doch in Kapstadt bei den Niederländern gepredigt habe, die, „wie wir alle aus Erfahrung wißen“, meinte zumindest Cämmerer, „auf eine reelle Art werden dankbar gewesen sein.“ Auch hätte er freie Logis beim in Serampore ansässigen Faktor Johann C. Pingel gehabt852– einmal mehr ein Hinweis auf die missionarische Sonderstellung in der kolonialen Gesellschaft. Um dem Wahrheitsgehalt der Gerüchte um Früchtenicht nachzugehen, aktivierten die Missionare überdies in Serampore eine ihnen aus Tranquebar bekannte Person namens Ewaldt, der sie offensichtlich sehr vertrauten. Dieser Ewaldt, der wohl Zimmermann war,853 belegt, dass die Missionare auch engere Kontakte außerhalb der Ober-

850 Bach an Unbekannt, vermutlich Gude, 06.10.1801, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808. 851 Cämmerer an Gude, 20.04.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738– 1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808. 852 Vgl. inkl. des Zitats Cämmerer an Gude, 20.04.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808. 853 Vgl. die Angaben im Zensus zu Tranquebar von 1790 RAK Det kgl. Ostindiske Guvernement, 1747a, Mandtal over Indbyggerne i Tranquebar og Landsbyrne, 1790. Der Zimmermann Marcus Ewaldt ist in den Kirchenbüchern der Zionskirche in Tranquebar verzeichnet. Die sich in den Tamil Nadu State Archives befindlichen Kirchenbücher finden sich transkribiert auf der websi-

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schicht pflegten, wenngleich sie Letztere, zumindest in ihrer Kommunikation, immer noch bevorzugten. Ewaldt holte in Serampore Erkundigungen über Früchtenicht ein und erstattete den südindischen Missionaren in April und Juni 1799 schriftlich Bericht. Aus Ewaldts Darstellung referierte der Missionar Cämmerer noch im gleichen Jahr Gude in Kopenhagen. Demnach habe Früchtenicht in der Tat in Kapstadt gepredigt, die dafür von den Niederländern vorgesehene entgeltliche Belohnung jedoch abgelehnt und stattdessen Wein und „allerhand Provision“ erhalten. So erzählten es Ewaldt jedenfalls die von ihm befragten Schiffleute in Serampore, wobei unklar bleibt, ob es sich um diejenigen der Norge handelte oder bereits um Informanten zweiter Hand. Auf der anschließenden Weiterreise nach Bengalen habe der Holsteiner sich mit einem Perückenmacher angefreundet und „schrecklich mit ihm getrunken“, jedenfalls „solange etwas da war“. Des Nachts soll er zudem mit den Schiffleuten „gesoffen“ haben, „so daß er einen Schlag854 bekommen“. In Serampore habe der Missionar ebenfalls gepredigt – jedoch nur einmal, denn nach einem Besuch bei englischen Offizieren in Kalkutta sei er „doll und voll zurückgekommen, und einige Tage krank gelegen.“ Seitdem habe er nicht mehr gepredigt. Den Informationen des Zimmermanns zufolge sei Früchtenicht weiterhin im Mai bei Krefting zu einer Gesellschaft eingeladen gewesen, habe dort Streit angefangen und dem Neffen von Ole Bie, Otto, „ins Angesicht“ geschlagen „daß die Augen schwarz wurden“. Der betrunkene Missionar sei daraufhin in einen Palanquin geladen worden, um ihn in seine Herberge zu bringen. Die Trage habe er jedoch „in Stücken“ geschlagen und „ausgefordert auf Pistolen“. Gemeint ist hier wohl die Herausforderung zum Duell. Auch habe er verlauten lassen, er wolle gar nicht zu seinen Kollegen nach Tranquebar gehen, sondern ins ehemals niederländische, seit 1795 während des 1. Koalitionskrieges aber von den Briten eingenommene Chinsurah.855 Letztere Anmerkung erhärtet den Verdacht, dass Früchtenicht, wie so viele andere Europäer seiner Zeit, versuchte, den Indienaufenthalt dafür zu nutzen, zu Reichtum zu gelangen oder eben Karriere zu machen, waren die Niederländer doch te des dänischen Nationalmuseums unter: http://natmus.dk/fileadmin/user_upload/natmus/ etnografisksamling/dokumenter/Tranquebar_Registers__Ramanujam_2013.pdf (letzter Zugriff: 19.01.2015), S. 129 (Ewaldts Hochzeit 1795). 854 Hier könnte nach zeitnahen Beschreibungen sowohl der Schlaganfall (Apoplexie) als auch die Epilepsie gemeint sein, die John später Früchtenicht zuschrieb. Vgl. den Art. Apoplexie, in: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Bd. 2, Sp. 905–911, zur Unterscheidung von Apoplexie und Epilepsie: Sp. 907, von der Bayerischen Staatsbibliothek digitalisiert einsehbar unter: http://www.zedler-lexikon.de (zuletzt eingesehen am 08.01.2013). Da keine genauen Schilderungen über die Symptome Früchtenichts überliefert sind, ist dies hier nicht zu entscheiden. Es könnte sich auch schlicht um einen Ohnmachtsanfall nach übermäßigem Alkoholkonsum gehandelt haben, der im Zedler zusammen mit dem Schlag und der Epilepsie behandelt wird (Ebda, Sp. 907). 855 Vgl. inkl. der Zitate Cämmerer an Gude, 22.06.1799, zitierend aus den nicht überlieferten Briefen Ewaldt an Missionare, 26.04.1799 und 03.06.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808 (Hervorhebungen im Original von Cämmerer).

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unter den Missionaren dafür bekannt, Prediger sehr großzügig zu behandeln. Wie die Quellen weiterhin zeigen, befanden sich unter den Bekanntschaften des devianten Missionars zumindest zu diesem frühen Zeitpunkt noch Personen aus den verschiedensten Schichten: Neben den ihm noch von der Überfahrt bekannten Seeleuten und dem Perückenmacher werden englische Offiziere und die dänischen Führungsschichten von Serampore wie Bie, Krefting und Pingel genannt. Wenn es sich bei den Aussagen Ewaldts auch lediglich um gerüchteweise verbreitete Geschichten handelte, so waren diese doch geeignet, selbst wenn oder gerade weil sie nicht in jeder Einzelheit wahr gewesen sein sollten oder waren, den Ruf der ohnehin zu diesem Zeitpunkt geschwächten Mission zu schädigen und die Missionare im Süden, die ja aus der Ferne nicht unmittelbar eingreifen konnten, massiv zu beunruhigen. Interessant ist, dass die Missionare sich offenbar gezielt einen Handwerker als Informanten suchten und nicht auf ebenfalls vorhandene anderweitige Kontakte zum Gouvernement, zu den anderen Missionaren in Kalkutta oder den häufig gut informierten Schiffskapitänen zurückgriffen. Wahrscheinlich trauten sie es dem Zimmermann eher zu, Verbindungen zu den zumeist illiteraten ‚weißen Subalternen‘ aufzubauen, mit denen er vielleicht auch zusammenarbeitete, und somit mündliche Informationen aus nächster Nähe zu Früchtenicht zu erhalten. Weitere Bestätigung kam jedoch nur kurze Zeit später von ranghöherer Seite, vermutlich von Faktor Pingel, dessen Namen die Missionare in ihrem Schreiben an das Missionskollegium zwar nicht nannten, bei dem Früchtenicht in Serampore aber kostenlos wohnte, und der deshalb eigentlich nur gemeint gewesen sein kann, da sie ihn als „geschätzt[en] Freund der Mission“ bezeichneten, „in dessen Hause er [= Früchtenicht, TD] frei logiert“. Pingel soll den Missionaren am 15. Juni 1799 explizit und aus erster Hand geschrieben haben, dass Früchtenicht ein Alkoholproblem habe. Er sei „einem Laster ergeben“, wie die Missionare Pingel zitierten, „nemlich der Trunkenheit, welches für einen jeden Menschen schändlich ist, wie vielmehr nicht für einen Lehrer der Religion.“ Hier ging es um die besondere „Schande“, die der deviante Missionar auch in der Perspektive Pingels der Mission und dem gesellschaftlichen Status der Missionare insgesamt bereitete: Schlimm genug, wenn ein Europäer trank, schlimmer aber noch, wenn dies auf einen europäischen Geistlichen zutraf, auf den besondere gesellschaftliche Erwartungen gerichtet waren, die sich aus seiner selbstgestellten Vorbildfunktion ergaben, nämlich so zu handeln, wie er es der Gemeinde und potenziellen Konvertiten predigte. In diesem Zusammenhang bedauerten die Missionare sehr, dass die Norge nicht direkt nach Tranquebar sondern zunächst nach Bengalen gesegelt sei, wo Früchtenicht „sich allein überlassen“, zumindest ohne „Leitung“ der übrigen Missionare war.856 Auch dies ähnelte schon sehr den Gedanken der Herrnhuter über

856 Vgl. inkl. der Zitate Missionare an Missionskollegium, 01.08.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808.

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ihren trunksüchtigen Bruder Beck – hier wie dort: fehlende Brüder und damit eine fehlende Möglichkeit zur gegenseitigen sozialen Kontrolle und Disziplinierung. Anders als die Herrnhuter hatten die Halleschen Missionare die englische Partnermission zu berücksichtigen. Dies war auch der Grund, warum der Missionar Carl Wilhelm Päzold einen Brief nach Halle schickte, in dem er eindringlich davor warnte, die Einzelheiten des Falles in den Missionsberichten zu publizieren, denn dies „möchte leicht auf die ganze Mission ein dunkles Licht werfen.“857 Die SPCK zeigte zunehmend Bedenken, weiter mit solcherlei Missionaren kooperieren zu können. Diesbezüglich gab es Diskussionen zwischen Halle und den Missionaren, ob man die Probleme mit Früchtenicht, Päzold und Immanuel Gottfried Holzberg nicht besser gänzlich geheim gehalten hätte, um das Risiko einer Untersuchung durch die Engländer zu vermeiden, „die nothwendig so wohl den Angeklagten selbst, als auch der ganzen Mission zum großen Nachtheil gereichen müßte.“858 Auch im Namen aller anderen Missionare teilte John seinem Kollegen Früchtenicht am 4. Oktober 1799 mit, dass man zur Vermeidung von Missverständnissen ihm gegenüber schon vor dem ersten Treffen in Tranquebar aufrichtig und „offenherzig“ sein wolle. Demgemäß erwähnte John den „Kummer“, „in dem wir durch häufige und detailirte schriftliche und mündliche Nachrichten von Ihren Betragen auf Cap, auf der Seereise von da, und auf Bengalen und von Ihren gemachten Aufwande sind versetzet worden.“ Und weiter heißt es: „Wären Sie gleich von Bengalen nach Tranquebar unmittelbar gekommen, so würden wir uns darüber mündlich mit Ihnen besprochen haben, wobey vielleicht manches Unangenehme hätte können vorfallen.“ Deshalb tue John dieses nun schriftlich, „damit Sie und wir über die obigen Materien desto weniger zu sprechen nöthig haben.“ Es sei besser, „wir melden es Ihnen vorher, als daß Sie selbe erst in Tranquebar erfahren, wo das meiste schon allgemein bekant ist.“859 Wenngleich dieser Brief in der Tat inhaltlich recht „offenherzig“ gehalten ist, indem er etwa die einzelnen ‚Vergehen‘ Früchtenichts relativ genau aufzählt, um ihm die Möglichkeit zur Verteidigung zu geben, so zeugt er doch zugleich von einer gewissen Vorsicht, wenn nicht gar Furcht vor Früchtenichts Jähzorn und diente wohl dem Schutz der Missionare und nicht allein der Vorbereitung auf mögliche Reaktionen in Tranquebar und dem Schutz Früchtenichts. Dies erklärt sich im weiteren Verlauf des Briefes, denn die Missionare hatten aus Bengalen erfahren, dass der Holsteiner ein „lustiger Bruder“ wäre „und selbst mit Pistolen und Degen wohl umzugehen“ wüsste. Dem schloss sich eine weitgehende Wiedergabe der von dem Informanten Ewaldt gemachten Angaben an,

857 Päzold an Knapp, 24.09.1800, AFSt/M 1 C 41: 35 (Hervorhebungen im Original). 858 Ubele an Knapp, 05.03.1802 (Präsentationsdatum), AFSt/M 1 C 43a: 66 (SPCK); Knapp an Gericke, 04.04.1802, AFSt/M 1 C 43b: 28a (Geheimhaltung, Kritik an Johns offenherziger Berichterstattung; Zitat). Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 73. 859 John an Früchtenicht, 04.10.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738– 1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1793–1799 (Hervorhebungen im Original).

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noch ergänzt durch die Schilderung weiterer unter Alkoholeinfluss vorgenommener Herausforderungen zum Pistolenduell durch Früchtenicht. Die Furcht der Missionare vor einer Überreaktion im Einzelgespräch war aus ihrer Sicht also durchaus nicht unbegründet. Angesichts dessen war es nicht unklug, den devianten Missionar zunächst nur schriftlich mit den Vorwürfen zu konfrontieren und ihm dadurch Zeit zu geben, sich damit in Ruhe auseinanderzusetzen, ohne unmittelbar und möglicherweise gewalttätig reagieren zu können. Ein wenig überraschend ist allerdings die Bemerkung der Missionare, ausdrücklich die eingangs geschilderte Rettungsaktion durch Früchtenicht auf dem Hugli ausnehmend, es „würde uns alles dieses nicht in einem so hohen Grade beunruhiget haben, wenn es nur nicht in Bengalen ein solches Aufsehen gemacht hätte, daß auch sogar Engländer von Ihnen gar nicht vortheilhaft geschrieben“.860 Hier wurde offensichtlich die Außenwirkung des in seiner Massivität gerade für einen pietistischen Missionar unvergleichlichen Fehlverhaltens sehr viel höher bewertet als der eigentliche moralische Inhalt und die finanziellen Folgen desselben. Die Devianz wäre demnach, trotz ihrer Außerordentlichkeit, eher zu tolerieren gewesen, wenn es nicht solch ein Aufsehen gemacht hätte. Die explizite Erwähnung der Engländer in diesem Zusammenhang verweist dabei auf deren inzwischen erlangte besondere Bedeutung in der Region und auf dem Subkontinent insgesamt. Wollte man die Mission ausweiten oder vielleicht sogar lediglich erhalten, so war man sehr stark von ihnen abhängig und konnte eine schlechte Nachrichtenlage bei ihnen gar nicht gebrauchen – zumal die Förderung durch die in England besonders gut vernetzte SPCK hätte beeinträchtigt werden können. Wie gezeigt, galten jedoch die Engländer rund um Kalkutta nicht unbedingt als moralisch vorbildlich. In diesem Sinne könnte das zitierte „sogar“ interpretiert werden: Sogar den sich ebenfalls schlecht verhaltenden Engländern war Früchtenichts Verhalten aufgefallen. Es muss also besonders schlimm gewesen sein. All dieses verweist überdies auf die Relativität von ‚Fehlverhalten‘, dessen Einschätzung entscheidend von der jeweiligen Sichtweise des Beobachters und der Gruppenzugehörigkeit von Beobachter und Beobachtetem abhing. Die von John im Namen der Missionare getroffene Aussage zeigt weiterhin die überaus prekäre Lage, in der sich die DEHM zu diesem Zeitpunkt befand und die geradezu zu waghalsigen Kompromissen, wie in diesem Fall, zwingen konnte. Was wären realistische Alternativen für die Missionare gewesen? Disziplinarmaßnahmen waren aufgrund der Entfernung der südindischen Missionare, der nur noch wenigen verbliebenen Missionare in Bengalen (noch dazu in Kalkutta und nicht in Serampore) und des möglicherweise bedrohlichen Verhaltens Früchtenichts nur schwer möglich. Das Zurücksenden nach Europa wäre zu teuer gewesen, hätte von den Missionaren al-

860 John an Früchtenicht, 04.10.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738– 1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1793–1799 (Hervorhebung im Original).

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leine nicht beschlossen werden können und ebenfalls für Aufsehen gesorgt. So blieb es allein bei einem relativ verständnisvoll klingenden Appell an den Holsteiner und der Hoffnung auf eine grundsätzliche Besserung von Früchtenichts Verhalten, auch durch die in Tranquebar leichter zu bewerkstelligende Kontrolle durch die „Amtsbrüder“: Ich will Ihnen hierdurch gar nicht bittere Vorwürfe machen und wir hoffen auch nicht Anlaß zu finden Ihnen hier welche zu machen, sondern wollen gerne alles in Vergessenheit begraben, was etwa aus Unvorsichtigkeit und Jugend Hitze möge vorgefallen seyn. Ich bitte aber sehr diese historische Nachricht zu desto mehrerer Vorsicht bey Ihrer Ankunft in Trankenbar anzuwenden und den Versuchungen zum Trinken und Spielen, die Sie auch hier finden, sorgfältig auszuweichen, da beyde sonderlich unserer Gemeine äusserst anstößig seyn würde.861

Dieser Absatz des Briefes lieferte mögliche Erklärungs- und Entschuldigungsansätze, wie Unerfahrenheit und Jugend, gleich mit, auf die Früchtenicht noch zurückgreifen sollte. Ganz ähnlich wie im Falle des Herrnhuters Beck wurde auch bei Früchtenicht erstaunlich wenig religiös sondern eher rational argumentiert und appelliert. Und ganz wie in dem noch zu schildernden Fall Beck dessen Kollege Grasmann, so warnten die Missionare Früchtenicht vor dem falschen Umgang und mahnten zur Vorsicht. Er solle „mit niemand vertraut“ sein, „noch nehmen zuverlässig an was Sie hören und von Aussen sehen, bis erst ein längerer Umgang und Erfahrung Sie in den Stand setzet richtig zu urtheilen.“862 Als Früchtenicht den Brief erhielt, befand er sich schon im südindischen Vepery bei dem Missionar Gericke und konnte dementsprechend rasch, nämlich nur fünf Tage später, nach Tranquebar antworten. In seinem hochinteressanten Schreiben ging er recht ausführlich, vergleichsweise höflich und teilweise erstaunlich offen auf jede einzelne Klage über ihn ein:863 Einiges entschuldigte er damit, dass er mit den „Einrichtungen der Mission zum Theil noch ganz unbekant“ sei und gelobte Besserung, anderes stritt er gänzlich ab, so die Verwendung eines zusätzlichen Dieners beim Rauchen der Hooka-Pfeife. Den Palanquin habe er aus gesundheitlichen Gründen nutzen müssen. Als Beispiele für andere Palanquinnutzer führte er verschiedene Ärzte, Schiffsoffiziere und Kompanieassistenten an, in deren Reihe und Gesellschaft er sich offenbar sah und wohlfühlte. Das Spielen empfand er ebenfalls nicht als Problem, überraschenderweise weder als religiöses noch als ökonomisches, denn „der Gewinn hat […] doch größten theils dem Verlust das Gleichgewicht gehalten.“ An die Herausforderungen zum Duell 861 John an Früchtenicht, 04.10.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738– 1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1793–1799 (Hervorhebung im Original). 862 John an Früchtenicht, 04.10.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738– 1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1793–1799. 863 Vgl. zum Folgenden inkl. der Zitate, wenn nicht anders angegeben, Früchtenicht an Missionare, 09.10.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1793–1799.

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könne er sich nicht erinnern. Womöglich habe er dem einen oder anderen erzählt, er habe „das Fechten auf Academien gelernt“, der Vorwurf insgesamt erscheine ihm jedoch „lächerlich“. Vermutlich stamme er von einem gewissen Herrn Berner „oder dessen Consorten“. Gemeint dürfte hier der 1776 geborene und studierte Jurist Peter Vilhelm, Sohn des schon erwähnten dänischen Faktors von Patna Jørgen Berner, gewesen sein, der 1800 in Batavia verstarb.864 Früchtenicht habe, wie viele andere ebenso, diesen sich nun in Batavia befindlichen Berner nicht „ausstehen können“ und er „verachte ihn auch noch im Herzen“. Es habe lediglich „Wortwechsel“ zwischen den beiden gegeben, woraufhin Berner gedroht habe, „Anzeige“ in Tranquebar zu erstatten. Hierfür gebe es Zeugen. In Kapstadt habe es gar kein Abschiedsessen gegeben und „nie wird mich jemand betrunken gesehen haben“. Derartige Berichte stammten ebenso wie andere von „Verläumdern“. Er werde ein Zeugnis vom dortigen „Kirchen Collegio“ erbitten, um seine Unschuld zu beweisen. Mit Otto Bie, den Früchtenicht in Serampore während eines Essens geschlagen haben soll, habe er sich nie entzweit. Bie sei nach wie vor einer seiner besten Freunde. Hierfür werde er um einen bezeugenden Brief bitten. Nie habe er Genever verkauft, insofern könne er dabei niemanden betrogen haben, wie der Vorwurf eines Schiffskapitäns lautete. Seinen eigenen Alkoholkonsum gab der Missionar hingegen zu, wenn er auch entschieden darauf bestand, nicht trunksüchtig zu sein: So habe er „in guter Gesellschaft mit andern vielleicht“ – wie er gesondert betonte – ab und zu etwas Grog oder Wein mehr getrunken, „als für mich dienlich gewesen […], daß ich mich aber dem Trunke ergeben hätte oder dem Laster nur im geringsten zugethan sey, ist höchst unwahr und verlogen.“ Gekränkt fühle Früchtenicht sich allerdings besonders ob des Umstandes, dass seine „Amtsbrüder alles dieses zum Theil als ausgemachte Tathsache anzusehen scheinen“. Auch kehrte er in diesem Zusammenhang den ihm von den Missionaren erteilten, oben zitierten Ratschlag bezüglich eines zu schnell vertraulichen Kontaktes zu Fremden auf nicht ungeschickte Weise gegen die Missionare selbst um: „Beobachten Sie mich, lernen Sie mich kennen! und dann urtheilen Sie!“ Es fällt auf, dass sich Früchtenicht in seiner Verteidigungsstrategie häufig auf andere Personen und die ihn umgebende weltliche Kolonialgesellschaft, nicht aber die Mission bezog. So heißt es bezüglich des Hooka-Pfeifen-Vorwurfs schlicht, dies täten andere doch ebenfalls. Und zum Palanquin äußerte Früchtenicht: „ein jeder hält Palanquin“. Die von ihm gewählten Beispiele zeigen jedoch, dass es tatsächlich nicht „ein jeder“ Europäer war, sondern eher die wohlhabenderen Bevölkerungsschichten, die eine solche Sänfte mit ihren sechs bis zehn Trägern entweder ausliehen oder besaßen. Der Palanquin galt wie ein Pferd oder eine Kutsche schon unter den Indern als tradi-

864 Vgl. zu ihm Kay Larsens Dansk Ostindiske Personalia og Data in der Dansk Demografisk Database auf der Internetseite ddd.dda.dk (letzter Zugriff am 27.01.2012).

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tionelles Statussymbol für höhere Kasten, was von den Europäern gerne aufgegriffen wurde. Derartiges ließ der Missionar Benjamin Schultze in einem fiktiven Dialogbuch über das Leben in Madras einen Inder einem Europäer erklären, der mit diesem Versuch ‚kultureller Übersetzung‘ dazu aufgefordert wurde, ebenfalls einen Palanquin zu nutzen.865 Die besonderen Erwartungen an einen pietistischen Missionar schien Früchtenicht nicht zur Kenntnis genommen, die eigentlichen Inhalte der Vorwürfe zum Teil nicht erkannt zu haben. Dies zeigt sich ebenso in der erstaunlichen Anmerkung, Gewinne und Verluste beim Glücksspiel hätten sich doch schließlich die Waage gehalten – als ginge es den Kollegen hierbei allein um finanzielle Einbußen, Mäßigung und nicht auch um eine pietistisch-moralische Bewertung des Glückspiels an sich. All dies passt sehr gut in das Bild eines nach einer Karriere strebenden und nicht unbedingt aus religiöser Überzeugung handelnden Missionars. Statt diese Verhaltensweisen als Geistlicher grundsätzlich kritisch zu reflektieren oder in Frage zu stellen, wie zumindest einige seiner Kollegen dies augenscheinlich taten, orientierte Früchtenicht sich in seinem Brief an der übrigen europäisch-kolonialen Gesellschaft und deren Verhaltensweisen. Dies geschah jedoch auf andere Weise als bei seinen Missionarskollegen, die sich zumeist mehr nolens volens und zweckgerichtet in das weltliche Leben einbanden. Früchtenicht hingegen ordnete sich und sein Verhalten nach den zumindest oftmals ebenfalls karriere- und statusorientierten Maßstäben dieser Gesellschaft als vergleichsweise ‚normal‘, als üblich, ein und fühlte sich offenkundig auch als Missionar einigermaßen wohl dabei. Jedenfalls schien es für ihn kein großer Widerspruch zu sein, als Missionar und – vielleicht sogar vornehmlich – ‚normales‘ Gesellschaftsmitglied zu wirken. Die Mitgliedschaft in der europäisch-kolonialen Gesellschaft, von der er sich, anders als seine Kollegen, kaum abgrenzte, schien er sogar stärker zu gewichten. Ein pietistisch geprägtes Unrechtsbewusstsein fehlte ihm nahezu vollständig. Sein Maßstab war nicht der eines pietistischen Missionars. So scheint es für ihn beispielsweise in Ordnung gewesen zu sein, sich in der ‚richtigen‘ Gesellschaft ab und zu zu betrinken. Aus seiner Sicht hatte er sich dabei also gar nicht deviant verhalten. Allein die auch kolonialgesellschaftlich zumindest diskursiv nicht tolerierte Trunksucht und damit Unmäßigkeit verurteilte er dann aber doch. Weiterhin fallen seine Ankündigungen von Zeugnissen oder Gutachten ins Auge. Sie wurden offenbar allesamt nicht in die Tat umgesetzt. Weder lässt sich ein solches Schreiben von Otto Bie noch eines vom Kollegium in Kapstadt in den gesammelten Akten zum Fall Früchtenicht entdecken. Auch der angebliche Vorfall mit dem jungen Berner wurde letztlich doch nicht bezeugt, obwohl sich Früchtenicht in seiner Verteidigung ausdrücklich auf den Kompanieassistenten Peter Kall866 berief. Die An865 Vgl. Liebau, „Alle Dinge, die zu wissen nöthig sind“, S. 259. Vgl. die Erläuterungen zu einer Palanquin-Abbildung in Sebro, Everyday Life, S. 114 (Abb. 114). 866 Identifiziert nach Kay Larsens Dansk Ostindiske Personalia og Data in der Dansk Demografisk Database auf der Internetseite ddd.dda.dk (letzter Zugriff am 16.02.2012).

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kündigungen dienten wohl eher der kurzfristigen Beruhigung seiner Kollegen und der zusätzlichen Unterstützung seiner eigenen Aussagen. Hinsichtlich der ernsteren Vorwürfe, die er gänzlich bestritt, gab er einem Aspekt der kolonialen Gesellschaft die Schuld und stellte sich als unschuldiges Opfer dar: Er sei halt nicht in der Lage, in der gleichen Weise zu schmeicheln wie andere Personen, was vor allem in Bengalen von größter Wichtigkeit sei. Aus diesem Grunde habe er so viele Feinde, die ihn nun verleumdeten und bösartige Gerüchte über ihn verbreiteten.867 Bei aller gebotenen Vorsicht erinnert einiges in seinem Verhalten an studentische Devianz und die Fortführung eines spezifisch studentischen Lebensstils mit eigenem Rechtsstatus und Standesbewusstsein, eigenen Privilegien und eigenem Verständnis von Ehre.868 Früchtenicht hatte sein Studium 1796 in Kiel beendet und war schon zwei Jahre später nach Indien gelangt. Er hatte im Zusammenhang mit der vermeintlichen Herausforderung zum Duell zugegeben, dass er das Fechten an der Universität gelernt hatte. Damit stellte er also sogar selbst eine Verbindung zwischen dem studentischem Leben und dem Duell her. Zudem ging es bei seinen Streitigkeiten offensichtlich immer um die Ehre, was allerdings ebenfalls auf andere Konflikte der Gesellschaft zutraf. Schon deshalb lässt sich der Fall Früchtenicht nicht eindeutig einordnen. Die Beschwerden endeten nach der Ankunft Früchtenichts in Südindien und Tranquebar nicht. Sie wurden stattdessen nach weiteren Eskapaden im Laufe der Zeit immer massiver. Wohl kein Missionar vor oder nach ihm wurde von seinen Kollegen mit deutlicheren Vokabeln belegt als Früchtenicht: Christian Pohle nannte ihn einen „Taugenicht“, „Säuffer und Schläger“. Er habe sich nach seiner Ankunft in Madras „im Besauffen auch schon hervorgethan“. „Die armen Brüder zu Trqbr [= Tranquebar, TD] erwarten ihn mit Schrecken.“869 Nur kurz danach wurde Früchtenicht von den Missionaren zum „Schandfleck der Mission“870 erklärt. John bezeichnete ihn später in Tranquebar als „Plagegeist“. Er wirke wie „in der Schenke […] erzogen“.871 Päzold meinte noch später in ihm einen „Bösewicht“ zu erkennen, mehr noch, der Kollege sei „vom Beelzebub“ besessen.872 Zurück zur Chronologie: Der sehr ausführlichen Darstellung Früchtenichts aus dem Februar 1800873 zufolge warfen die übrigen Missionare ihm bereits kurz nach sei867 Vgl. auch Delfs, ‚What shall become‘, S. 73 f. 868 Vgl. Marian Füssel: Devianz als Norm? Studentische Gewalt und akademische Freiheit in Köln im 17. und 18. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen. Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landesverbandes Westfalen-Lippe 54 (2004), S. 145–166. 869 Pohle an Schulze, 17.10.1799, AFSt/M 1 C 40b: 16. Vgl. hierzu wie auch zu den folgenden Zitaten Delfs, ‚What shall become‘, S. 73. 870 Missionare an Früchtenicht, 21.06.1800, RAK Kommercekollegiets Ostindiske Sager 1777–1848: Ostindisk Journalsager 1777–1845, Beilage zu Anker an Kommerzkollegium, 12.02.1802. 871 John an Knapp, 27.03.1800, AFSt/M 1 C 41: 94. 872 Päzold an Nebe, 26.05.1801, AFSt/M 1 C 42b: 74. 873 Vgl. zum Folgenden inkl. der Zitate, wenn nicht anders angegeben, Früchtenicht an Missionare, 28.02.1800, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808.

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ner Ankunft in Tranquebar in der Missionskonferenz erneut die seinetwegen in Bengalen entstandenen finanziellen Unkosten zu Lasten der Missionskasse vor. Dabei habe er diese Auslagen doch gar nicht verschuldet. Zudem habe er sich in der Zwischenzeit sehr bemüht, sich an die Regeln und Ermahnungen der Missionare zu halten. Dennoch werde ihm nun von Seiten der Missionare unter Berufung auf die ihm mitgegebene Instruktion das ihm seiner Meinung nach eigentlich zustehende Wohnhaus, in dem eine gewisse Madame Knie wohne,874 vorenthalten. Zwar könne er verstehen, dass den älteren, sich schon seit längerer Zeit in Indien befindlichen Missionaren bestimmte Vorrechte zustünden, doch: „Warum ich aber von allen Europäern die in Diensten der Mission sind, mich mit dem schlechtesten Hause behelfen soll, da sogar vordem der Catechet HE. Klein das von mir verlangte Haus bewohnt hat, sehe ich wahrlich nicht ein.“ Er fühlte sich durch und durch ungerecht und nicht seinem Status als Missionar entsprechend behandelt. Dabei sei er doch ohnehin derjenige, „der am wenigsten hat, und dessen Leben ohnehin durch andere Umstände so sehr verbittert wird“. Deshalb trage er seine Bitte oder besser: das, was ihm rechtmäßig zustehe, jetzt zusätzlich schriftlich vor. Bemerkenswerterweise war Früchtenicht sogar bewusst, dass die Mieten in Tranquebar zu dieser Zeit sehr hoch und angemessene Häuser knapp waren – er erwähnte es ausdrücklich. Trotz dieser für die verwitwete Madame Knie875 möglicherweise besonders schwierigen Lage forderte er vehement deren Haus und berief sich – wenig einfühlsam und ganz unpietistisch gegen das neunte und/oder das zehnte Gebot – auf das frühere Beispiel einer „Madame Colbiornsen“ [= Colbiørnsen,876 TD], der es ähnlich ergangen sei. Anschließend erbat er sich eine Gehaltserhöhung, denn er müsse sich sogar von seinem Diener Geld leihen. Angesichts seines bisherigen Betragens, seiner Finanzprobleme und derjenigen der Mission war eine Erhöhung freilich völlig illusorisch. Sollte diese – für Früchtenicht: „wider Verhoffen“ – nicht zu gewähren sein, so bat der Missionar darum, nach Europa zurückkehren zu dürfen. Dieser Brief Früchtenichts lässt bereits einige später noch bedeutsamer werdende Elemente seiner Verteidigungsstrategie deutlich werden: So berief er sich verschiedentlich auf die ihm mitgegebene Instruktion877 und die darin enthaltenen Paragraphen und pochte mit Nachdruck auf die ihm vermeintlich zustehenden Rechte, wie 874 Dem Zensus von 1790 nach könnte es sich um ein Haus in der Printz Jörgens Gade gehandelt haben. Vgl. RAK Det kgl. Ostindiske Guvernement, 1747a, Mandtal over Indbyggerne i Tranquebar og Landsbyrne, 1790. 875 Vgl.http://natmus.dk/fileadmin/user_upload/natmus/etnografisksamling/dokumenter/Tran quebar_Registers_Ramanujam_2013.pdf (letzter Zugriff: 19.01.2015), S. 211. Den Kirchenbüchern der Zionskirche in Tranquebar nach war Madame Knie die Witwe eines möglicherweise 1784 verstorbenen Kapitäns. Sie selbst starb 1811 85jährig. 876 Es dürfte sich um Maria Geneieve gehandelt haben, die seit 1792 mit dem Ratsmitglied Jacob Edvard Colbiørnsen verheiratet war. Vgl. Karin Kryger, Lisbeth Gasparski: Tranquebar. Kirkegårde og gravminder, Kopenhagen 2002, S. 147. 877 Ein weiteres Exemplar blieb im Archiv, ein anderes ging den Missionaren in Tranquebar zu. Vgl. Gude an Schulze, 15.05.1798, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1789–1835:

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auch umgekehrt seine Missionarskollegen damit argumentierten – etwa als sie seine Forderung nach dem Haus ablehnten. Durchaus bewusst war dem Missionar offensichtlich dabei die lange Reaktionszeit des Missionskollegiums, die durch die „zeitliche Verschiebung“878 der schlechten Schiffsverbindungen verursacht war,879 und von Früchtenicht selbst realistisch auf zwei Jahre geschätzt wurde. Um diesen Umstand und die damit verbundenen Unsicherheiten zu nutzen, wendete er sich mit seinen Forderungen unmittelbar an die Missionare880 und nicht an die für solcherlei Fragen zuständige Missionsleitung in Europa. Die Selbststilisierung zum Opfer aus seinem vorherigen Schreiben an die Missionare behielt Früchtenicht in diesem Brief konsequent bei. Zudem setzten sich in Südindien die bereits aus Bengalen wie auch aus Kopenhagen bekannten Geldprobleme und Bitten um Vorschüsse beziehungsweise Gehaltserhöhungen fort. Der Wunsch nach einer Rückkehr nach Europa deutet auf nachwirkende Einflüsse des ebenfalls verfrüht heimgekehrten Missionars Stegmann und die Karriereambitionen Früchtenichts hin. Immerhin verwies der deviante Missionar explizit darauf, dass er dann dort sein „Glück anderweitig zu versuchen“ trachtete. Der Umstand, dass Früchtenicht mit seinen Kollegen schriftlich kommunizierte, deutet auf die bereits gestörte Beziehung hin.881 Die Antwort der übrigen Missionare ließ nicht lange auf sich warten882 und begann mit der Bitte, das Schreiben von weiteren Briefen zu unterlassen, da man für Antworten darauf keine Zeit habe. Stattdessen solle Früchtenicht sich lieber mündlich in der regelmäßig stattfindenden Missionskonferenz zu Wort melden, was er bisher aber nur unzureichend getan habe. Die Missionare teilten dem Holsteiner nun auf eine sehr direkte Art und Weise mit, dass man sein Betragen in Bengalen von sehr zuverlässigen Quellen geschildert bekommen habe und auch durch seine Erklärungen „nicht beruhigt“ sei. Außerdem bestätigte sein bisheriges Verhalten in Tranquebar eher noch die Vorwürfe aus Bengalen: So habe Früchtenicht sich zu „unserem Verdruß“, zum „Anstoß der ganzen Gemeine“ und zum „Spott und Gelächter aller vernünftigen Europä-

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Ostindisk missionsbrevbog, S. 177. Zur Rolle der Instruktion im Falle Früchtenicht vgl. Nørgaard, Mission und Obrigkeit, S. 206–208. Hiervon spricht Wellenreuther, Mühlenberg und die deutschen Lutheraner, S. 333 in Bezug auf das vergleichbare „Grundproblem atlantischer Kommunikation“ (S. 332). Vgl. Gude an Ubele, 31.01.1801, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1789–1835: Ostindisk missionsbrevbog, S. 232. In diesem Brief verwies Gude ausdrücklich darauf, dass er auch an Ubele in London schreibe, damit dieser gegebenenfalls angesichts der problematischen Kommunikationssituation die Missionare über die Bestätigung der Suspendierung Früchtenichts durch das Missionskollegium informiere. Vgl. Früchtenicht an Missionare, 28.02.1800, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808. Vgl. Früchtenicht an Missionare, 28.02.1800, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808. Vgl. zum Folgenden, wenn nicht anders angegeben Missionare an Früchtenicht, 04.03.1800, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mis-sion, 1800–1808.

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er“ einen „auf eine ungewohnliche und unschickliche Art gekleidet[en]“, nicht näher definierten Peon883 engagiert, der nun hinter ihm herlaufe. Als verhängnisvoll sollte sich vor allem der achte Paragraph der Dänisch-Englisch-Halleschen Instruktion für junge Missionare erweisen: Ein sich aus Sicht der Mission unehrenhaft verhaltender Missionar könne zwar gerügt werden, die letztentscheidende Instanz für eine Suspendierung sei jedoch das Missionskollegium in Kopenhagen.884 Früchtenicht hatte auf die vielen Anklagen mit wüsten Beschimpfungen, schlichter Missachtung, dem Hinweis auf seine Unerfahrenheit und auf Verleumdungen oder mit einfacher Leugnung reagiert.885 Seine Missionarskollegen schlossen ihn daraufhin von ihren Treffen aus, forderten seine Suspendierung und seine Rückkehr nach Europa.886 Schließlich suspendierten sie ihn eigenmächtig, was er allerdings nicht akzeptierte.887 Sie argumentierten später nicht nur mit dem Ruf der Mission, sondern auch mit den Geldern, die an Früchtenicht verschwendet würden.888 Letzterer verteidigte sich unter Bezugnahme auf eine mysteriöse Krankheit, die er sich bereits bei seiner Ankunft in Bengalen zugezogen habe. Um diese Erkrankung zu beweisen, präsentierte er zwei „höchst falsche“ Zertifikate, die ganz im Gegensatz zu der Meinung des Missionsarztes standen und ihm von einigen Seeleuten ausgestellt worden waren.889 In einem Bericht des Arztes heißt es: „Was die Ursache der von ihm an den beyden Tagen begangenen […] Ausschweifungen betrifft, so muß ich als Arzt und Augenzeuge bekennen daß sie der Trunkenheit allein zugeschrieben werden müssen […]“.890 Und endlich berief Früchtenicht sich auf besagten § 8 der Instruktion und die alleinige Zuständigkeit des Missionskollegiums in Kopenhagen. Dessen Entscheidung hätte schon allein aufgrund der Distanz, geschweige denn der Seltenheit ablegender Schiffe und den Nachwuchssorgen in Europa sehr lange gedauert – „zu langwierig“ für die Missionare, „sonderlich da sein Haus so nahe an der Kirche lieget, und sogar

883 Das Wort konnte sich im Indien dieser Zeit auf Angestellte unterschiedlichster Art beziehen. 884 Zu diesem Aspekt vgl. bereits Nørgaard, Mission, S. 206; Delfs, ‚What shall become‘, S. 76 f. 885 Früchtenicht an Missionare, 22.06.1800, RAK Kommercekollegiets Ostindiske Sager 1777–1848: Ostindisk Journalsager 1777–1845, Beilage zu Anker an Kommerzkollegium, 12.02.1802; Früchtenicht an Missionare, 09.10.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808. Gude an Knapp, 17.01.1801, AFSt/M 4 E 5: 67. 886 Gude an Knapp, 27.01.1801, AFSt/M 4 E 5: 68. 887 Früchtenicht an Missionare, 27.07.1800, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808; Früchtenicht an Gouvernement, Juli 1800, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808. 888 Cämmerer, John, Rottler an Missionskollegium, 18.03.1801, AFSt/M 1 C 42a: 11. 889 Gude an Knapp, 27.01.1801, AFSt/M 4 E 5: 68. 890 Klein an Missionskollegium, 25.08.1800, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808, 1801. Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 74.

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die öffentliche Ruhe dadurch gestöret wird“. Weiterhin hätte man sich in Kopenhagen zuvörderst mit dem Kommerzkollegium über die Zuständigkeit einigen müssen. Aufgrund der weiteren Eskalation des Konfliktes wandten sich die Missionare mehrfach mit der Bitte um Hilfe an die lokale dänische Obrigkeit.891 Obgleich der dänische Gouverneur in Tranquebar Peter Anker ebenfalls persönlich betroffen war – Früchtenicht soll ihn eines Abends betrunken in seinen Missionskleidern besucht und, wohl wissend um die rechtlichen Unklarheiten und Kompetenzstreitigkeiten, herausfordernd gerufen haben: „Man bringe mich auf die Festung in diesem Rock, den mir der König gegeben“ –, zögerte Anker merklich einzugreifen.892 Das Tragen der Missionskleidung während der Eskapaden des Missionars wurde von seinen Kollegen – wie in diesem konkreten Fall auch von ihm selbst – ausdrücklich erwähnt und von den Missionaren wohl ebenfalls als Provokation betrachtet. Schließlich brachte er, indem er seine Gruppenzugehörigkeit zur Schau stellte, so die Mission insgesamt unmittelbar in Misskredit.893 Zwar befanden sich die dänischen Stützpunkte seit 1777 offiziell unter der staatlichen Administration des dänischen Kommerzkollegiums, jedoch bestanden die Missionare weiterhin in Teilen auf ihre eigene Jurisdiktion,894 die direkte Unterordnung unter das Kopenhagener Missionskollegium und damit auf ihren traditionellen Sonderstatus gleichsam als „Staat im Staate“895. Dies brachte ihnen in Kombination mit § 8 zusätzliche Schwierigkeiten ein. Verschiedene Sanktionsversuche, wie die Kürzung von Früchtenichts Missionarsgehalt oder seine Suspendierung, wurden zunächst von der Lokalregierung ignoriert oder unterbunden – immer mit dem Hinweis auf einen fehlenden Befehl des Missionskollegiums und auf die Tatsache, daß die Missionare ja nicht bereit seien, sich der lokalen Obrigkeit vollständig unterzuordnen.896 Sogar Versuche informeller ‚Lobbyarbeit‘ konnten nicht helfen – der Handlungsspielraum der Missionare vor Ort blieb unter diesen Umständen stark eingeschränkt. In einigen verzweifelten Schreiben gaben die Missionare der Lokalregierung die Schuld, daß Früchtenicht immer noch unterstützt werden mußte.897 Zudem äußerten 891 892 893 894

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Vgl. Missionare an Anker, 21.06.1800, RAK Kommercekollegiets Ostindiske Sager 1777–1848: Ostindisk Journalsager 1777–1845, Beilage zu Anker an Kommerzkollegium, 12.02.1802. Cämmerer, John, Rottler an Missionskollegium, 18.03.1801, AFSt/M 1 C 42a: 11. Zum zögerlichen Verhalten Ankers auch Nørgaard, Mission, S. 207; Delfs, ‚What shall become‘, S. 76–78. Ohne Bezug zu diesem Fall nehmend allgemein zur Wichtigkeit der Missionarskleidung: Liebau, Mitarbeiter, S. 172 f. Dies betraf vornehmlich indische Christen und Mitarbeiter, während es bei den Missionaren unteinander zumeist bei schlichten Appellen oder einfachen Ermahnungen blieb. Vgl. hierzu Liebau, Mitarbeiter, S. 152–155. Vgl. ebenfalls Nørgaard, Mission, S. 204–206, 209–214: Gouverneur Anker hatte 1792 einen Bericht über die Methoden des missionarischen Strafrechts, das zeitweise körperliche Züchtigung umfasste, erstellen und diesen dem Kommerzkollegium zukommen lassen mit der Folge, dass das Jurisdiktionsrecht innerhalb der Mission stark eingeschränkt worden war. In der Praxis wurde die Einschränkung jedoch in großen Teilen umgangen. Vgl. inkl. des Zitats Nørgaard, Mission, S. 207; Delfs, ‚What shall become‘, S. 76 f. Vgl. Nørgaard, Mission, S. 206 f. Zum Beispiel: Cämmerer, John, Rottler an Missionskollegium, 18.03.1801, AFSt/M 1 C 42a: 11.

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sie gegenüber dem neuen Direktor Georg Christian Knapp in Halle Kritik an seinem inzwischen verstorbenen Vorgänger Schulze für dessen Kandidatenauswahl und sein „Mißtrauen“, das dazu geführt habe, dass er eigenmächtig „jene unglückl[iche] Clausel“ (§ 8) in die Instruktion aufgenommen habe.898 Als die Situation sich noch weiter verschärfte, gab Gouverneur Anker schließlich nach und bestätigte die Suspendierung des devianten Missionars. Er rechtfertigte in einem Bericht an das Kommerzkollegium in Kopenhagen sein zumindest formal nicht rechtmäßiges Vorgehen und die mögliche Übertretung seiner Zuständigkeit mit dem Hinweis auf die Schwere des Falles und dem Bruch der öffentlichen Ordnung.899 Offensichtlich war Anker besorgter über die Situation in der Kolonie als über die rechtlichen Konsequenzen aus dem fernen Zentrum. Später sind ihm niemals juristische Probleme entstanden. Im Gegenteil, nach der Entscheidung verbesserten sich seine Beziehungen zum Missionskollegium sogar.900 Hier mussten Normen letztlich flexibel gehandhabt werden. Zweifelsohne engte seine Bestätigung der Suspendierung, die später vom Missionskollegium mit Früchtenichts Abberufung dankbar bestätigt wurde,901 den Handlungsspielraum Früchtenichts entscheidend ein. Inzwischen war Früchtenicht gesellschaftlich ziemlich isoliert in Tranquebar – mit der Ausnahme von einigen Soldaten und Matrosen, die ihm zuweilen sogar halfen, etwa beim Stören des Gottesdienstes oder beim Ausstellen der erwähnten Zertifikate. Den Angaben der Missionare zufolge, hatten andere Einwohner entweder Angst vor ihm oder sahen seine Ausfälle mit Belustigung. Spätestens jetzt müssten seine eigenen Zukunftshoffnungen komplett zerstört gewesen sein. Selbst § 8 konnte ihm nicht mehr helfen. Zusammen mit seinem Alkoholproblem mag dies zu seiner Entscheidung beigetragen haben, Suizid zu begehen. Der Versuch scheiterte.902 Nachdem man seinen kurzen Abschiedsbrief, adressiert an seine Familie,903 gefunden hatte, entdeckte man ihn, einmal mehr in seiner Missionarskleidung, am 23. Februar 1801 auf seinem Bett stehend, in einer Hand ein Messer, in der anderen eine Flasche. Nach heftigen Beleidigungen und Angriffen wurde er in Fort Dansborg904 inhaftiert und von einem Arzt

898 John an Knapp, 27.03.1800, AFSt/M 1 C 41: 94 (Kritik an Kandidatenauswahl, insbesondere Päzold, Holzberg und Früchtenicht betreffend); John an Knapp, 28.02.1801, AFSt/M 1 C 42a: 29; John an Knapp, 23.03.1801, AFSt/M 1 C 42a: 8 (Zitat). Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 77. 899 Vgl. Anker an Kommerzkollegium, 12.02.1802, RAK Kommercekollegiets Ostindiske Sager 1777– 1848: Ostindisk Journalsager 1777–1845, 1802. 900 Vgl. Nørgaard, Mission, S. 207 f.; Delfs, ‚What shall become‘, S. 77. 901 Vgl. Missionskollegium an Missionare, 27.01.1801, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1789–1835: Ostindisk missionsbrevbog, S. 231 f. 902 Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 77, insgesamt zu seinem Suizidversuch: S. 77 f. 903 Abschiedsbrief Früchtenicht, falsch datiert auf 23.02.1810 (richtig: 23.02.1801), RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808, 1801. 904 Vgl. zur Geschichte des Forts Torben Hjelm: Dansborg, in: Architectura. Architekturhistorisk Årsskrift 9 (1987), Themenheft „Tranquebar“, S. 89–120.

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untersucht, der keinerlei Anzeichen einer Krankheit feststellen konnte. Stattdessen bezeichnete dieser Früchtenicht als eine Gefahr für die Gesellschaft, sollte er freigelassen werden.905 Dem entsprach sein Abschiedsbrief, in dem Früchtenicht insbesondere auf seinen Kollegen John schimpfte: „Mit Schelmen und Schuften Menschen womit Tranquebar angefüllt ist […] kann ich nicht leben ( John! John! John!)“.906 Paradoxerweise kehrte er damit die ihm zugeschriebene Devianz auf seine Gegner um, die doch die eigentlichen ‚Schelme‘ und ‚Schufte‘ seien907. Sowohl der medizinische Umgang wie auch die Berichterstattung über diesen und einen weiteren Suizidversuch Früchtenichts sind – noch stärker als im etwas schlechter überlieferten Fall Müllers – von einer relativen Sachlichkeit geprägt. Beides unterstützt die These, dass Selbsttötung in der Frühen Neuzeit, selbst in der Geistlichkeit, immer stärker säkularisiert wurde: „from sin to insanity“,908 ohne dass dies bedeuten soll, dass das eine durch das andere ersetzt würde. Vielmehr geht es um eine „Pluralisierung von Weltbildern und –deutungen“909 mit beispielsweise zunehmender Fürsorge als um eine generelle Säkularisierung oder gar Entkriminalisierung.910 Zudem handelt es sich hier um lediglich einen, nicht unbedingt repräsentativen Fall mit einem speziellen Kontext. Wenngleich „Melancholie in der pietistischen Erneuerungsbewegung“, der die Missionare ja angehörten, „ein Teil der Buße wurde“ – freilich nur als „Anerkennung der eigenen Sündhaftigkeit“ ohne die Ausführung eines Suizides –,911 so bezieht sich dies allein auf eine „religiöse Melancholie“, also das Gefühl, „dem von Gott an ihren persönlichen Glauben gestellten Anspruch nicht gerecht werden zu können.“912 Eine solche Melancholie, die als eindeutigeres Indiz für eine Suizidgefährdung zu gelten hatte und vorsorgende Maßnahmen erforderte,913 ist, anders als bei dem im nächsten Abschnitt zu behandelnden Herrnhuter Beck, dessen Kollegen Grasmann und dem Hallenser Müller, im Falle des anklagenden und weithin aggressiven Früchtenicht zumindest in den überlieferten Quellen 905 Vgl. Cämmerer, John, Rottler an Missionskollegium, 18.03.1801, AFSt/M 1 C 42a: 11. 906 Abschiedsbrief Früchtenicht, falsch datiert auf 23.02.1810 (richtig: 23.02.1801), RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808, 1801. 907 In einem solchen Sinne sind Devianzetikettierungen „in beide Richtungen rückgekoppelte Prozesse“. Vgl. dazu inkl. des Zitats Kästner, Schwerhoff, Religiöse Devianz, S. 31. 908 Vgl. für das Zitat und exemplarische Fallstudien Jeffrey R. Watt (Hg.): From Sin to Insanity. Suicide in Early Modern Europe, Ithaca 2004. Vera Lind stellte in ihrer Untersuchung fest, dass 85 % der von ihr behandelten Suizidenten eine stille (also ehrliche) Bestattung erhalten hätten. Schon um 1740 könne man im Alltag eine Entkriminialisierung erkennen. Vgl. Lind, Selbstmord, S. 465; speziell zu Früchtenicht: Delfs, ‚What shall become‘, S. 78. 909 Vgl. Kästner, Tödliche Geschichte(n), S. 18 f., 19 (Zitat). 910 Vgl. Kästner, Tödliche Geschichte(n), passim. 911 Lind, Selbstmord, S. 172. 912 Vgl. mit weiteren Fallbeispielen Lind, Selbstmord, S. 170 (Zitat), 171–181 sowie Kästner, Tödliche Geschichte(n), S. 68 f. 913 Vgl. Käster, Tödliche Geschichte(n), S. 18.

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nicht erkennbar. Noch aus der Haft verschickte er Kurznachrichten wie: „Was wolt Ihr von mir? Wollt Ihr meinen Kopf haben? Er steht zu Euren Diensten Macht fort!!!“914 Die ganze Episode des Selbsttötungsversuches wurde der lokalen Obrigkeit in Tranquebar mitgeteilt. Schließlich stellte Gouverneur Peter Anker dem inzwischen doch freigelassenen Früchtenicht einen Pass nach Madras aus, von wo er nach Hause reisen sollte. Bevor er dies tat, forderte der Missionar jedoch von seinen Kollegen Geld und versicherte ihnen im Gegenzug schriftlich zu, nichts Weiteres von der Mission mehr einzufordern. Der schriftliche Verzicht verweist einmal mehr auf den rechtlichen Graubereich, in dem sich die Missionare und der Gouverneur bewegten. Da die Mission nach wie vor unter einem akuten Geldmangel litt, übernahm der Missionar Gericke zunächst privat die ihm später erstatteten Kosten für die Überfahrt Früchtenichts und beschleunigte so entscheidend das Verfahren.915 Dies geschah unter großem Beifall seiner Kollegen und später des Missionskollegiums und spiegelt die integrierende „Solidarisierungsfunktion“ von Devianz über einen gemeinsamen ‚Feind‘.916 Früchtenicht erreichte Europa 1802.917 Vier Jahre später berichtete ein um Auskunft bittender Brief aus Nordamerika,918 dass er 1805 nach Philadelphia gereist sei, wo die Franckeschen Stiftungen seit 1741 eine Gemeinschaft deutscher Lutheraner mit aufgebaut hatten.919 Da seine Geschichte in Europa und Indien zumindest in Missionskreisen bekannt gewesen sein durfte,920 ist es verständlich, dass er das ferne Amerika als Reiseziel auswählte. Allerdings erzählt der gleiche Brief von einer gewissen Wiederholung der Ereignisse: Wieder war Früchtenicht sozial sehr isoliert, mehrfach drängelte er sich betrunken in den Gottesdienst. Er verwickelte sich in seinen Erzählungen in Widersprüche und soll von „Miss914 Früchtenicht an Claus Andersen Borgen (Polizeimeister), 08.02.1801, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808, 1801. 915 Vgl. Missionskollegium an Missionare, 09.04.1803, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1789–1835: Ostindisk missionsbrevbog, S. 256. Vgl. das Dankesschreiben Missionskollegium an Gericke, ebenda, 09.04.1803, S. 257 f. 916 Vgl. inkl. des Zitats Peuckert, Abweichendes Verhalten, S. 107 f. 917 Vgl. John, Rottler, Cämmerer an Missionskollegium, 05.01.1802, ALMW/DHM 12/26b: 1f; Gude an Knapp, 10.07.1802, AFSt/M 1 C 43b: 72; Früchtenicht an Missionskollegium, 07.07.1802, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808, 1802. 918 Zusammengefasst und zitiert wird dieser Brief in Knapp an John, 16.09.1806, AFSt/M 1 C 47: 78. Vgl. zu Früchtenichts Folgegeschichte in Amerika und Europa bereits Delfs, ‚What shall become‘, S. 78 f. 919 Vgl. als Überblick zum Pietismus in Nordamerika Hermann Wellenreuther: Heinrich Melchior Mühlenberg and the Pietisms in Colonial America, in: Jonathan Strom u. a. (Hg.): Pietism in Germany and North America 1680–1820, Farnham 2009, S. 127–132 und ausführlich zu den Halleschen Amerikaverbindungen Hans-Jürgen Grabbe (Hg.): Halle Pietism, Colonial North America and the Young United States, Stuttgart 2008. 920 Eine Nachfrage im Kirchenarchiv von Philadelphia hat keine weiteren Dokumente aus den USA zu Früchtenicht zu Tage fördern können.

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verständnissen mit den Missionarien […], die so hoch gestiegen wären, so hätte er sich genöthiget gesehen nach Copenhag. zurückzukehren, u. bey dem Missions colleg. Hülfe zu suchen“ gesprochen haben. Dort sei ihm zwar Recht gegeben worden, zugleich sei ihm aber geraten worden „um des Friedens willen“ nachzugeben und seine Demission zu beantragen, wofür er Geld bekommen habe.921 Diese Darstellung ist, abgesehen von den vermeintlichen Missverständnissen, in Anbetracht des beschriebenen rechtlichen Graubereichs plausibel und findet in den Kopenhagener Akten von 1803 Bestätigung. Die Rechnungsbücher des Missionskollegiums belegen eine Zahlung von 500 Reichstalern,922 angesichts des normalen Jahresgehalts der Missionare von ca. 300 Reichstalern keine kleine Summe. Als Gegenleistung verzichtete er erneut auf jegliche zukünftige Ansprüche gegenüber der Mission. Für diesen Hergang spricht die bereits angeführte Angst vor dem Imageschaden für die Mission im Falle weiterer Untersuchungen anderer Fälle durch die SPCK. Als Grund seines Scheiterns führte Früchtenicht, wie auch schon Stegmann, der ‚Bürge‘ bei seiner Bewerbung, bezüglich seines eigenen Scheiterns, klimatische und gesundheitliche Argumente an, „denn das Clima in Ost-Indien äusserte auf meinem Körper und Geist einen so nachtheiligen Einfluß, daß ich eine gänzliche Verstandes-Verrückung befürchten mußte, wenn ich es wagen wollte, länger dort zu verweilen.“923 Früchtenicht folgte damit einem zentralen Topos europäischer Beschäftigung mit Indien,924 von dem er sich wohl eine erfolgreiche Verteidigung versprach: den gesundheitlichen Risiken. Laut dem Halleschen Brief soll Früchtenicht in Amerika von seiner bevorstehenden Rückkehr nach Tranquebar erzählt haben, später von einem Angebot der SPCK, nach Ceylon zu gehen. Schließlich gab er zu, er habe keinerlei Offerten erhalten und würde auf eigene Kosten nach Indien reisen, was aufgrund seiner weiterhin prekären finanziellen Verhältnisse und der gesamten Geschichte seines Falles zweifelsohne ebenfalls völlig illusorisch war. Am 1. Februar 1806 folgte sein zweiter Suizidversuch, der erneut scheiterte, woraufhin er in Philadelphia in ein Armenhaus gebracht wurde. Nachdem er sich erholt hatte, reiste er zurück nach Kopenhagen. Der Brief berichtet weiter, dass ein Zeitungsartikel desselben Jahres über den Suizid eines jungen ehemaligen Indienmissionares in Kopenhagen existiere. Wahrscheinlich

921

Früchtenicht an Missionskollegium, 11.03.1803 und 19.01.1803, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808, 1803. Knapp an John, 16.09.1806, AFSt/M 1 C 47: 78 (Zitat). 922 Vgl. Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset 1715–1854, Ostindiske missions regnskaber, 1777–1828, 1802/03, S. 11. 923 Früchtenicht an Missionskollegium, 11.03.1803, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808, 1803. Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 78. 924 Vgl. Mark Harrison: Climates & Constitutions. Health, Race, Environment and British Imperialism in India 1600–1850, New Delhi 1999, S. 110.

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handelte es sich um Lambert Christian Früchtenicht.925 Er hinterließ keine weiteren Spuren. Ein besonders hinsichtlich der Bedeutung von Alkohol ähnlicher Fall ist der des Herrnhuters Beck. Bei ihm kommen weitere Aspekte zum Tragen, die bei Früchtenicht gänzlich fehlen. IV.2.2.2 Der Fall des Herrnhuters Beck Der 1754 in Neuherrnhut auf Grönland geborene Tischler Christian Renatus Beck (1754–1793) segelte 1783 zunächst nach Tranquebar, um dann 1784 weiter nach Bengalen geschickt zu werden,926 wo er zusammen mit seinem Kollegen Urban am 27. April ankam. Er traf dort in einer Zeit des Überganges ein, denn zuvor waren die Brüder noch bei Kalkutta sesshaft gewesen. 1784 aber begannen sie, sich in Serampore niederzulassen, wo Beck später eine Tischlerei führte. In dieser Anfangsphase wechselten die Brüder noch regelmäßig ihren Aufenthaltsort zwischen Kalkutta und Serampore aber auch dem weiter nordwestlich gelegenen Patna.927 In den leider nur unvollständig überlieferten Diarien von Bengalen – es fehlen beispielsweise Eintragungen für das gesamte Jahr 1785 und für die zweite Hälfte des Jahres 1786 sowie für vereinzelte Monate in den übrigen Jahren –, erscheinen die ersten Andeutungen einer Beschwerde über das Verhalten Becks am 20. Dezember 1788: „Ich redte mit br. Beck wegen seines oftmaligen späten Ausbleibens.“928 Genauere Erläuterungen zu dieser Kritik, etwa zu Gründen oder Folgen seines Fernbleibens, finden sich an dieser Stelle noch nicht. Dafür, dass dies in der Tat eine der ersten Nennungen seiner Probleme ist, obwohl sie ja schon häufiger aufgetreten zu sein scheinen, spricht die Tatsache, dass der Herrnhuter Grasmann in einem, ein halbes Jahr zuvor geschriebenen Brief lediglich erwähnte, Beck sei wohlauf. Allenfalls die dortige Bemängelung von „Trieb u. Standfestigkeit“ beim Erlernen der bengalischen Sprache lässt eine Kritik an seiner Person durchblicken, die sich allerdings auf einen offensichtlich nicht allzu ungewöhnlichen Aspekt bezog, da, so jedenfalls Grasmann, „die Brr [= Brüder, TD], die Lust u. Geschick haben, Sprachen zu lernen, ohnehin so rar sind.“929 Am fünften 925 Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 79. 926 Vgl. zu Beruf, Herkunft und sonstigen Daten Becks Römer, Brüdermission, S. 76 f. (Nr. 57) sowie UAH Dienerblätter. 927 Vgl. Römer, Brüdermission, S. 60–63: Von 1777 bis 1782 waren die Herrnhuter bereits in Serampore vertreten, griffen dann ein Angebot von George Livius auf, sich bei Kalkutta niederzulassen, behielten aber zugleich ihr Grundstück in Serampore. 1788 stand ihr Grundstück „on the road from Cheringhee to the Burying Ground“ bei Kalkutta zum Verkauf. Vgl. inkl. des Zitats die Verkaufsanzeige bei W. S. Seton-Karr: Selections from Calcutta Gazettes of the Years 1784, 1785, 1786, 1787, and 1788, Showing the Political and Social Condition of the English in India Eighty Years Ago, London 1864, S. 282. 928 UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. 929 Grasmann an Reichel, 04.01.1788, UAH R 15 Tb 9, Nr. 55.

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November 1789 schrieb der Herrnhuter dann, dass die Vorfälle um Beck nun schon seit beinahe einem ganzen Jahr angedauert hätten.930 Grasmann scheint also zunächst versucht zu haben, die Probleme informell unter vier Augen mit Beck zu regeln, ohne sie seinen Oberen mitzuteilen, oder er sah zunächst darüber hinweg in der Hoffnung, sie mögen nur eine Phase von Becks Aufenthalt sein.931 Ab 1789 jedoch häufen sich die Beschwerden massiv, finden sich nahezu täglich und werden jetzt auch näher begründet. So schreibt Grasmann im Tagebuch verschiedentlich, dass aufgrund der Abwesenheit Becks die täglichen (Gebets-)„Versammlungen“ nicht möglich oder in der von Beck in Serampore geführten Tischlerei „seine Arbeitsleute ohne Aufsicht“ (so am siebten Januar) gewesen seien. Eine Auswertung der Einzelnennungen ergibt, dass sich allein an sechzehn von den 31 Tagen des Januars Anlässe für solcherlei Klagen finden, die nun explizit auf den exzessiven Gebrauch von Alkohol zurückgeführt wurden: „In der Nacht [vom achten auf den neunten Januar, TD] um 4 Uhr wachte ich auf, u. hörte B. in seiner Kammer schwäzen u. hausiren wie einen betrunkenen“. Einen Tag später gestand Beck dann seinem Mitbruder, zu viel getrunken zu haben, woraufhin Grasmann ihn einmal mehr deutlich ermahnte, er „sey ja kein Kind mehr u. könne wißen, wenn er genug habe.“ Hier appellierte der Missionar eindeutig an Becks Vernunft und nicht an dessen Religiosität. Am 25. Januar 1789 benannte er überdies einen der möglichen Gründe für Becks Verhalten, der in der Verdrängung wirtschaftlicher Schwierigkeiten lag, denn einen Tag zuvor hätte der Tischler versucht, offenbar noch ausstehendes Geld einzutreiben. Dies sei nicht gelungen, wie Beck seinem Bruder gegenüber beklagte. Dadurch sei Beck, in den Worten Grasmanns, „verdrießl. u. muthlos“ geworden, woraufhin Grasmann mit ihm besprochen habe, „sich die Sache nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen, noch weniger sich durch trinken sie aus dem Kopf schlagen zu wollen“. Anschließend rekurrierte er dann doch auf die Religion: Lieber solle Beck doch „beym Hld [Heiland, TD] Rath u Hülfe […] erbitten.“932 Hier deutet sich die typisch pietistische und bereits angesprochene religiöse Melancholie an, konnten doch beispielsweise wirtschaftliche Misserfolge als religiöse Strafe wahrgenommen werden. Dass es im Falle Becks nicht allein um Trunkenheit ging, deutet ein oben bereits verwendetes Zitat Grasmanns an, ohne jedoch nähere Details preiszugeben: Noch muß ich erwehnen, daß, weil das Laster der Trunkenheit nicht leicht ohne Begleitung anderer Laster ist, ich manchmal den Verdacht hatte, daß er sich mit anderen schlech-

930 Vgl. Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. Nach Römer, Brüdermission, S. 64 begann Beck sein „liederliches Leben“ „Anfang 1789“. 931 Ein ähnliches Vorgehen wählte zunächst Mühlenberg in Nordamerika im Umgang mit seinem trunksüchtigen Kollegen Brunnholtz. Vgl. Wellenreuther, Mühlenberg und die deutschen Lutheraner, S. 327–343. 932 Vgl. inkl. der Zitate UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. Vgl. Delfs, ‚What shall become‘, S. 78

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ten Dingen eingelaßen habe. Ich habe aber bisher nichts gehört, auch einmal in einer Unterredung mit ihm, ihn darum gefragt, aber gehört, daß er in Versuchung dazu war, jedoch es nicht zum Ausbruch gekommen sey.933

Es steht, nicht zuletzt weil Beck unverheiratet war, zu vermuten, dass sich diese vagen Andeutungen auf sexuelles ‚Fehlverhalten‘ bezogen. Zu spekulieren wäre etwa, dass Beck Verbindungen zu einheimischen Frauen, zu bibis, i. e. Konkubinen oder aber zu Prostituierten, aufgenommen haben könnte. Das wäre im damaligen Indien auch für andere europäische Männer (und nicht nur der unteren Schichten) ein nicht untypisches Verhalten gewesen,934 das von Missionaren u. a. als „Hurerey“ schon frühzeitig heftig kritisiert wurde.935 Eine derartige Wahrnehmung kommt auch in Grasmanns Tagebuch vor, als jener am 22. Februar 1789 mit kritischem Unterton erwähnte, Beck sei, nachdem er morgens ‚ausgegangen‘936 war, erst am Nachmittag in Begleitung des Chirurgen Johann Anton Silkenstedt,937 „Lieut. Müller“ und dessen „Girl“ nach Hause gekommen.938 Da andere ‚Vergehen‘ Becks durchaus explizit beim Namen genannt wurden, deutet die etwas kryptische Darstellung Grasmanns auf eine offensichtliche Tabuisierung des Themenkomplexes der als unbillig empfundenen Sexualität hin, obwohl er Beck direkt darauf angesprochen hatte. Wie gezeigt sind es gerade die Tagebücher der Herrnhuter, die über weite Strecken von gesellschaftlichen Kontakten geprägt sind: hier ein Mittag- oder Abendessen bei diesem oder jenem Kapitän, Pastor, Missionar, Chirurg oder Arzt, dort ein Tee oder Kaffee beim Gouverneur oder anderen Personen, der Besuch eines Gartens oder die Wahrnehmung einer Einladung zu einem Ball, einem Konzert und großen Gesellschaften oder die Teilnahme an Beerdigungen. Nicht selten bestand der gesamte (geschilderte) Tagesablauf aus solchen sozialen Anlässen, was einmal mehr die Wichtigkeit des Knüpfens sozialer Verbindungen betont. Sicherlich erleichterten diese Gelegenheiten – auch für teilnehmende Missionare – einerseits den Kontakt zu Menschen, denen man eigentlich eher aus dem Wege gehen wollte, andererseits auch maßgeblich den Zugriff auf alkoholische Getränke. Diese Annahme findet bei dem Juristen am Obersten Gerichtshof von Kalkutta William Hickey Bestätigung, der sich zu seinen Erfahrungen mit den dortigen besonderen Trinkkulturen folgendermaßen äußerte:

933 934 935 936

Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. Vgl. etwa Robb, Sex and Sensibility, S. 10–14 und passim. So in HB 11. Cont, S. 944. Siehe oben. An vielen Stellen heißt es in Grasmanns Tagebuch schlicht: „B. ging aus“. Vgl. als Beispiel UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 18. Januar 1789. 937 Identifiziert anhand von Kay Larsens Dansk Ostindiske Personalia og Data unter ddd.dda.dk (letzter Zugriff am 09.12.2012). Silkenstedt genoss dem Eintrag nach ebenfalls nicht den besten Ruf. 938 Vgl. inkl. der Zitate UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92.

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In consequence of my numerous acquaintances I had many invitations to large dinner parties, which often led me into excess, it being the custom in those days to drink freely. Having landed in Bengal with my blood in a ferment from the intemperance committed on board ship, the evil was not lessened by daily superabundant potations of champagne and claret, the serious effects of which I began to experience by severe headaches and other feverish symptoms.939

Der exzessive Gebrauch alkoholischer Getränke begann demnach nicht erst in Bengalen, sondern bereits während der Überfahrt. Der Jurist stellte darüber hinaus einen eindeutigen Bezug zwischen sozialen Verpflichtungen und dem leichten Zugang zu Alkohol her. Ohne Zweifel kam dabei ein sozialer Druck zum Tragen. Angesichts der bereits bezüglich der Mission gezeigten großen Bedeutung von sozialen Kontakten und der Wichtigkeit eines guten Rufes zeigte sich auch an diesem Punkt das grundsätzliche Dilemma der Missionare, die sich zwischen den beiden Polen der pietistischen Weltentsagung und der Teilnahme am kolonialgesellschaftlichen Leben, auf das sie in ihrer oftmals prekären und einsamen Situation ebenfalls angewiesen waren, bewegen mussten. Deshalb konnten diese sozialen Anlässe in den Tagebüchern auch nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Grasmann jedenfalls ging zumeist weiterhin dorthin, verließ allenfalls bei aus seiner Sicht allzu starken Ausschweifungen frühzeitig den jeweiligen Ort des Geschehens und beklagte sich schließlich sogar, dass das Verhalten Becks ihn daran hinderte, seine persönlichen Verbindungen mit Kalkutta, deren Bedeutung für das eigene Wohlbefinden das folgende Zitat verdeutlicht, aufrechtzuerhalten: Dann u. wann nach Calcutta zu gehn, um mir eine Veränderung zu machen, u. unsre werthen u. respectablen Freunde daselbst zu besuchen, mußte ich endlich auch einstellen, weil sich Beck in der Zeit mehr Freiheit zu Hause nahm, welches ich im Anfang nicht wußte noch vermuthete, sondern erst nach einiger Zeit hörte.940

Grasmann versuchte nicht, seinen trunksüchtigen Kollegen Beck generell davon abzuhalten, soziale Kontakte zu pflegen. Vielmehr warnte er ihn vor bestimmten besonders berüchtigten Personen – wie zum Beispiel einem gewissen Herrn Fenring, der bisher nicht näher identifiziert werden konnte – und versuchte, auf diese Weise mäßigend zu wirken und seinen Kollegen vor vermeintlich schlechtem Einfluss zu schützen.941 Einmal mehr ging es dabei in den Worten Grasmanns um Becks „Umgang“ und „Freundschaft“ zu „Europäern, so wol von Schiffen, als hier wohnenden“,

939 Spencer (Hg.), Memoirs, S. 130. 940 Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. 941 Vgl. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 23.07.1789: Bitte an Beck „sich besonders vor HE. Fenrings Gesellschaft, als wo er die Tage besonders viel getrunken, zu hüten.“ Am 26. Juli bezeichnete Grasmann Fenring ausdrücklich als „große[n] Säufer“.

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und das zum Bedauern Grasmanns „mehr, als seine Geschäfte erforderten“, „welches ich ihm etlichemal vorgehalten, u. ihn erinnert habe, wie unsere Brüder uns davor gewarnt haben.“942 Grasmann spezifizierte hier also die in den Quellen häufig sehr verallgemeinernde Warnung vor den Europäern, indem er die Seeleute namentlich als zu meidende Gruppe hervorhob und zugleich die Kategorie der für die Missionare und ihre Geschäfte ‚nützlichen‘ oder ‚notwendigen‘ Europäer einführte, zu denen nähere Kontakte unumgänglich waren. Zu solcherlei Verbindungen gehörten etwa die Kunden von Becks Tischlerei, auf deren Gelder die Missionare angewiesen waren, oder – wie geschildert – die kolonialen Ober- und Mittelschichten. Die Schutzmaßnahmen erfolgten auch, weil Grasmann schon verschiedentlich auf das rufschädigende Gerede der kolonialen Gesellschaft über Beck aufmerksam gemacht worden war, so von dem Chirurgen Nichterlein, der mit beiden Missionaren Umgang hatte und der gegenüber Grasmann geäußert haben soll: „Es ist doch eine große Schande für B. wenn man so hört was andere Leute über ihn reden.“943 Interessanterweise spricht Grasmann in seinen Diarien noch nicht über eine angebliche Schande, die Beck der Mission insgesamt oder dem Christentum an sich bereitete oder über das mangelhafte Vorbild, das er Europäern oder Einheimischen bot, vielmehr scheint das Individuum und dessen Ehre und nicht das Gruppenmitglied Beck in dieser Aussage im Vordergrund zu stehen. Womöglich hoffte Grasmann zu diesem Zeitpunkt noch auf eine Besserung aufgrund seines Eingreifens und der Einsicht Becks, derentwegen er die nächsthöheren Ebenen, also die Ältestenkonferenz in Tranquebar und die Zentrale in Herrnhut, dann nicht einzuschalten bräuchte. Erst einige Monate später jedenfalls schrieb Grasmann in einem Brief an seinen Bischof Reichel, der vor den Vorfällen mit Beck in seiner durch das Los bestimmten Funktion als Visitator944 1786 zusammen mit seiner Frau auch schon die Brüder in Tranquebar besucht hatte und sich von dort aus von Grasmann schriftlich über Serampore berichten ließ,945 von der „Schmach“ und der „Schande“ für den Heiland und „seine[r] Sache“.946 Dies mag neben der Position des Adressaten innerhalb der Brüdergemeine als Visitator mit einer weiteren Eskalation des Falles zu tun gehabt haben. So sah sich Grasmann beispielsweise am 4. Juni 1789 gezwungen, nachdem ihm aufgefallen war, dass Alkohol im Haus der Brüder fehlte, die „Getränke unter meine specielle Aufsicht“ zu nehmen. Zudem wurden einige Pflanzen im Garten vermisst, die Beck 942 943 944 945

Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 19.08.1789. Vgl. zur Losbefragung vor Visitationen Mettele, Weltbürgertum, S. 142. Vgl. Johann Conrad Hegner: Fortsetzung von David Cranzens Brüder=Historie, Barby 1791, S. 135– 137. Die Visitation Reichels sollte unter anderem die Gründe für das schleppende Fortkommen der Herrnhuter Indienmission ermitteln und dabei – wie alle Visitationen – zugleich die Einhaltung der Herrnhuter Regeln überprüfen. Vgl. zu dem Instrument der Visitation allgemein und in Bezug auf Amerika Mettele, Weltbürgertum, S. 139–145. 946 Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60.

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möglicherweise verkauft hatte, um seinen Alkoholkonsum zu finanzieren oder die fehlenden Einnahmen der Tischlerei auszugleichen. Am 22. Juni sei Beck betrunken unterwegs gefallen und musste „eingesammelt“ werden. Dabei hatte er sich verletzt, was sich mehrmals wiederholte. Diese und andere, sich oft öffentlich zutragende Vorfälle setzten sich auch nach dem zitierten Brief Grasmanns an Reichel fort. Am dritten Dezember hatte Beck dem Brief nach in einer der beiden Tavernen von Serampore,947 nämlich Meyers Taverne, „mit Dr. Nichterlein [= der Chirurg Carl Gottlieb, TD] im Trunk Händel gekriegt.“ Einen Tag später drangen, Grasmanns Tagebuch folgend, gar vier namentlich nicht genannte Seeleute in das gemeinsam von den beiden Missionaren bewohnte Haus ein, die Beck aus seinem Bett gezogen und „ihr Spectacle mit ihm“ gehabt hätten.948 Das Verhalten Becks und seine Verbindungen wohl vornehmlich zu – zumeist anonym bleibenden – ‚weißen Subalternen‘ hatten also konkret bedrohliche Auswirkungen für die Missionsarbeit, für Grasmann selbst und die finanzielle Situation der Gemeine in Bengalen. So heißt es in einem Brief vom Februar 1790, dass es eigentlich genug zu tun gebe, die Brüder jedoch schon seit Juli 1789 keinerlei Einnahmen mehr aus Becks Tischlerei gehabt hätten,949 „so daß wenn wir von deren Einkommen hätten leben sollen, wir Hungers gestorben wären.“950 Die finanziell ohnehin angespannte Lage der Missionare, die sich selbst zu versorgen hatten, wurde durch die Umtriebe Becks noch zusätzlich verschärft. Noch weiter erschwert wurde die Situation durch den Umstand, dass sich Grasmann zu diesem Zeitpunkt allein mit Beck in Serampore befand, da der Missionar Raabs nach Patna gegangen war und später die Brüdergemeine endgültig verließ.951 In den übrigen Gemeinorten außerhalb Indiens und bei größeren Gruppen der Herrnhuter, zum Beispiel auf Reisen, war es üblich, ‚Chöre‘ zu bilden, die nach Alter, Geschlecht und Familienstand geordnet waren und neben der religiösen Strukturgebung unter

947 Vgl. zur prominent am Fluss gelegenen sogenannten „Denmark tavern and hotel“, die zunächst von James Parr später von John Nichols geführt wurde, Aalund, Rastén, Indo-Danish Heritage Buildings, S. 54 f. Die zweite Taverne, die in den Diarien am 3. Dezember 1789 von Grasmann als „Meyers Taverne“, bei den Baptisten als „Myer’s tavern“ bezeichnet wird, findet bei Aalund und Rastén keine Erwähnung und konnte bislang nicht lokalisiert werden. Vgl. zu den Baptisten Eustace Carey: Memoir of William Carey, D. D. Late Missionary to Bengal; Professor of Oriental Languages in the College of Fort William, Calcutta, London 1836, S. 364, die sich bei dieser Gelegenheit über den Zustand der Einwohner Serampores beklagten, nachdem sie keinen Gottesdienst vollziehen konnten: „Openly to play at billiards is as common on this day here, as to go to church is in England.“ 948 Zu all diesen Beispielen und noch weiteren vgl. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. Vgl. auch Römer, Brüdermission, S. 64, der die Verletzungen Becks auf Schlägereien zurückführt, was in den Handschriften keine unmittelbare Bestätigung findet. 949 Vgl. Grasmann an Reichel, 05.02.1790, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 61. Vgl. ebenda auch Brief Nr. 60. 950 Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. 951 Vgl. Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. Vgl. auch Römer, Brüdermission, S. 62 f.

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anderem der Disziplinierung der Gemeinemitglieder dienen sollten. Neben den obligatorischen liturgischen Feierlichkeiten und dem täglich erfolgenden gemeinsamen Gebet gehörten regelmäßige Instruktionen und kontrollierende Einzelgespräche zu dieser spezifischen Organisationsform, die auch im 19. Jahrhundert nur wenig Raum für Privatheit zuließ und der Brüdergemeine weltweit einen gemeinschaftsstiftenden „Rhythmus“ gab.952 Durch die präventiven Kontrollinstanzen des Chorsystems sei zudem, so schon der Herrnhuter Grönlandmissionar und Geschichtsschreiber David Cranz (1723–1777) 1757, „alles möglichst darauf angestellt, daß niemand zu Vergehungen Gelegenheit finde.“953 Die Chöre waren also Instrumente antizipierender sozialer Kontrolle. Da aber Beck nur manchmal an den eigentlich täglich stattzufindenden „Versammlungen“ (als Ersatz für die nicht vorhandenen Chöre) mit Grasmann und dem monatlich zu vollziehenden Abendmahl teilnahm und überhaupt selten oder nur zu später Stunde nach Hause kam, war es für letzteren, der zusätzlich für die persönlichen Einzelgespräche und Instruktionen verantwortlich zeichnete,954 schwerer, ihn zu disziplinieren, zumal Beck „sehr leicht böse wird“ und Grasmann niemanden in seiner Nähe zur Unterstützung hatte. Grasmann durfte also nicht zu streng sein, denn „dabey befürchtete ich, er möchte einen unglücklichen Schritt thun.“ Trotz einer gewissen Furcht vor Becks unberechenbarem Verhalten ermahnten er und seine von ihm schriftlich zu Hilfe gerufenen Brüder aus Tranquebar Beck mehrfach: „Es half aber so wenig als meine übrigen Ermahnungen.“955 Die Missionare versuchten also weiterhin, Beck in die Gruppe zu integrieren. Dieses Vorgehen entsprach weitgehend dem herkömmlichen Ablauf in ähnlich gelagerten Fällen innerhalb der Brüdergemeine. Eine nächste Stufe vor dem Gemeineausschluss bei wiederkehrenden Vergehen wäre der vorübergehende Ausschluss vom Abendmahl gewesen,956 was aufgrund des ohnehin erfolgenden eigenmächtigen Fernbleibens von Beck vermutlich ebenfalls keine wirksame Strafe dargestellt hätte. Zeitweise hatte Grasmann zudem schlicht keine Gelegenheit, mit dem devianten Missionar, aufgrund von dessen ständiger Abwesenheit, zu sprechen. So heißt es bei Grasmann bereits zu den nicht sehr erfolgreichen Ermahnungen: „Solche Erinnerungen

952 Vgl. umfassend Mettele, Weltbürgertum, S. 51–55, 58 (Rhythmus). In Indien waren keine Chöre eingerichtet. Stattdessen gab es lediglich eine Unterteilung in Ehepaare und ledige Männer. Vgl. Ruhland, Pietistische Konkurrenz, S. 256. 953 David Cranz: Kurze, zuverläßige Nachricht Von der, unter dem Namen der Böhmisch=Mährischen Brüder bekanten, Kirche Unitas Fratrum Herkommen, Lehr=Begriff, äussern und innern Kirchen=Verfassung und Gebräuchen, aus richtigen Urkunden und Erzehlungen von einem Ihrer Christlich Unparteiischen Freunde heraus gegeben und mit sechzehn Vorstellungen in Kupfer erläutert, o. O. 1757, S. 30. Vgl. ebenso Mettele, Weltbürgertum, S. 54. 954 Vgl. Hegner, Fortsetzung von David Cranzens Brüder-Historie, S. 136 zu Organisation und Aufgabenteilung der Herrnhuter in Serampore. 955 Beide Zitate aus Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. 956 Vgl. zu diesen Disziplinarmaßnahmen insgesamt Mettele, Weltbürgertum, S. 54.

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halfen aber nur auf ein oder 2 Tage und dann war es wieder das alte.“957 Strafen und Mahnungen milderer Art waren also nur begrenzt wirksam. Aus diesem Grunde sah ein zunehmend resignierender Grasmann keine andere Lösung mehr, als die Exklusion aus der Gruppe, also seinen Kollegen „von der Gemeinschaft der Brüder [zu] entlaßen.“ Er könne, so urteilte Grasmann weiter, „ihn nicht [mehr] mit Recht einen Bruder nennen“.958 Der Ausschluss geschah jedoch noch nicht und hätte auch nicht allein von Grasmann beschlossen werden können. Vielmehr hätte die Ältesten-Konferenz das Los befragen und damit, in den Worten der Herrnhuter selbst gesprochen, der ‚Heiland‘ befragt werden müssen.959 Am 22. Februar 1789 sagte Grasmann zu Beck, er solle doch, „wenn es mit ihm hier nicht nicht gehen würde, lieber nach Trank. [=Tranquebar, TD] […] gehen, wozu ich ihm wolte behülfl. seyn.“960 Einerseits wollte Grasmann dem Kollegen damit aus seinem ‚schlechten‘ Umgang in Serampore heraushelfen, andererseits aber hielt er offenbar die Umgebung in Tranquebar, wo sich mehr Missionare aufhielten, die Stabilität, ein geregeltes Leben aber auch soziale Kontrolle hätten bieten können, für günstiger als die in Bengalen. Seine Geschwister in Tranquebar, mit denen Grasmann in dieser Angelegenheit als nächstgelegene Gemeinemitglieder korrespondierte und die ihre eigenen Probleme hatten, rieten ihm jedoch, zunächst noch abzuwarten und dann schließlich, Beck mit einem Schiff zurück nach Europa zu senden, „weil er doch nicht länger weder hier noch in Trankebar bleiben könne, u. vielleicht es noch eine Rettung für ihn wäre, wenn er nach Europa in eine Gemeine käme.“961 Die Heimsendung wurde also nicht unbedingt als Sanktionsmaßnahme verstanden, sondern sollte eine Hilfestellung für Beck durch die Gemeine bieten. Dies entsprach den zu dieser Zeit vielfach von Herrnhutern, unter anderem von Grasmann, geäußerten Wünschen, aufgrund der vielfältigen Belastungen nach Hause geschickt zu werden oder zumindest eine Art Heimaturlaub zwecks Erholung von den schwierigen Umständen in Indien gewährt zu bekommen.962 In der angeführten Aussage wird zudem deutlich, dass die Missionare das Umfeld in Indien insgesamt als Ursache für Becks Verhalten ansahen und dass ihnen klar war, dass auch in Tranquebar nicht genügend Brüder und Schwestern lebten, um auf den eigenwilligen Beck ausreichend aufpassen zu können, was in einer europäischen Gemeine mit einer Einwohnerzahl von 300 bis 1200 Geschwistern und einer allumfassenden Struktur von Chören freilich leichter möglich war. Noch dazu handelte es sich in Europa zumeist um „geschlossene Ortsgemeinden“ oder „exklu957 958 959 960 961 962

Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. Vgl. zum Losentscheid in der Brüdergemeine Mettele, Weltbürgertum, S. 139–141. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. Vgl. etwa das Protocoll des Missions-Departements in der Unitäts-Ältesten-Conferenz (1789, 1790, 1791), UAH R 15 A 65 I, S. 256–258, Eintrag vom 04.02.1791, in dem neben Grasmann die Brüder Staal und Voigt aus Tranquebar angeführt werden.

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sive Siedlungen“ im Unterschied zu den indischen Stützpunkten, wo die Herrnhuter als „Stadt- bzw. Landgemeinde“ einer zivilen Verwaltung unterstellt waren und inmitten oder am Rande der übrigen europäischen Einwohner leben mussten,963 denen im Falle Becks ja eine entscheidende Mitschuld an den Zuständen und deren Verschlimmerung gegeben wurde. Dabei war es offenbar keinesfalls so, dass Beck die bedenkliche Sachlage nicht erkannt hätte, denn Grasmann, den die Umstände ebenfalls stark belasteten, zuweilen gar deprimierten, schilderte verschiedentlich geradezu melancholisch wirkende Situationen des Selbstzweifels auf Seiten seines Bruders: Einmal war er auch darauf gestellt, von den Brrn abzugehn, weil er sehr konfus war. […] Der Hld [= Heiland, TD] kriegte ihn auch einmal so herum, daß er seinen elenden Zustand beweinte u. bereute. Nach u. nach aber kam er wieder in dasselbe Elend, u. bey einer abermaligen Unterredung gestand er, daß er sich viel trockner u. gleichgültiger fühle als vorher.964

Die Diarien berichteten ergänzend am 22. Februar 1789, Beck habe Grasmann während des Frühstückes gesagt, „er könne nicht den Namen eines Bruders haben u. hätte keinen Glauben.“ Letztere Aussage wiederholte Beck zum Entsetzen Grasmanns am neunten April desselben Jahres. All dies dürfte Grasmann eine Suizidgefährdung seines Bruders mehr als deutlich gemacht haben. Auch zeigte sich Beck zunächst einverstanden mit der Entscheidung, ihn zurück nach Europa zu schicken und „jammerte [am 27. August 1789], daß er in solche elende Umstände hineingerathen war.“965 Grasmann erklärte es jedoch in einem langen Brief an Reichel zum schlimmste[n] u. gefährlichste[n] bey Beck seinen Umständen […], daß er in den unter hiesigen Europäern im Schwang gehenden Unglauben gerathen ist, […], daher er auch keinen Trost beym Heiland finden, noch das Laster in dem Licht ansehen konnte, worin es einer sieht, der doch wünscht davon befreyt zu werden, ob er sich gleich nicht selber helfen kann.966

Einmal mehr verweist Grasmann hier indirekt auf den negativen Einfluss aus seinem europäischen Umfeld in Indien, das Beck seinen Glauben und zugleich seine Rationalität genommen hätte. Die individuelle Fähigkeit zu wirklicher Einsicht und Bewältigung der Probleme wurde ihm demnach gleich doppelt genommen, nämlich auf weltlicher wie auf geistlicher Ebene.

963 Zu den Einwohnerzahlen und den Siedlungstypen, ohne Indien einzubeziehen, vgl. inkl. der zitierten Begrifflichkeiten Mettele, Weltbürgertum, S. 49 f. 964 Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. 965 Vgl. inkl. der Zitate UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. 966 Grasmann an Reichel, 05.11.1789, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60.

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Physische Konstitution und Devianz: Individuelle Erfahrung und Norm

Die missliche Lage dauerte weiter an, denn obwohl Beck zweimal die Möglichkeit hatte, zurück nach Europa zu fahren und sogar mehrfach sein Interesse daran bekundet hatte, kam diese Überfahrt nicht zustande.967 Das erste Schiff, das Grasmann auf Becks Wunsch für ihn über seine guten Kontakte zu Kapitänen und Kaufleuten günstig organisiert und vorgesehen hatte, schlug Beck mit der Begründung aus, er habe zu viel zu tun. Den zweiten Abreisetermin mit einem anderen Schiff ließ er trotz einer durchaus erfreut vorgetragenen vorherigen Zusage mit einer von Grasmann beobachteten sich anschließenden Besserung im Januar 1790 durch sein Verschwinden nach Chinsura verstreichen, und das, „ohne mir etwas zu sagen“, so der inzwischen verärgerte Grasmann, der sich betrogen fühlte, zumal er zuvor noch teure Reisekleidung für den Mitbruder gekauft hatte. Nachdem er wieder aufgetaucht war, erklärte Beck schließlich, „daß es nun mit ihm vorbey sey bey den Brrn zu bleiben“.968 Zu den Motiven seiner Flucht vor der Heimfahrt machte er ebenfalls Angaben: „[E]r hätte gedacht, wenn er auch nach Europa käm, so müßte er da doch nur in einem Kloster leben, wo er niemals mehr heraus käme.“969 Für Beck wäre die Heimreise also anscheinend doch eine Strafe gewesen – zumindest wenn er an die Kontrollmechanismen, denen er dann unterworfen sein würde, überhaupt den beschwerlichen Entzug vom Alkohol und die weitgehende Isolation von Menschen außerhalb der Gemeine dachte. Demgegenüber hatte er sich in Serampore ja schon eingerichtet und war bereits in seine eigenen sozialen Verbindungen, weitgehend unabhängig von der Brüdergemeine, eingeflochten. Diese neuen Kontakte besaßen, wie die folgenden Anmerkungen Grasmanns zeigen, durchaus Bedeutung für Beck. Zumindest aber waren sie in der Lage, entscheidend Einfluss auf ihn zu nehmen. Folgerichtig blieb der Missionar in Serampore, wählte damit den leichteren Weg, mietete sich dort ein eigenes Haus und verließ Grasmann und die Brüdergemeine endgültig. Dies war ihm – in den Worten Grasmanns gesprochen – erst dadurch möglich geworden, „daß ihn andere dazu überredet hatten, nicht nach Europa zu gehen, wie auch, daß ihm gute [berufliche, TD] Versprechungen, besonders in Calcutta gemacht wären, um etwas vor sich zu bringen.“ Seine eigenen Verbindungen, die er nun endgültig den Herrnhutern vorzog, hatten Beck somit eine weitere Handlungsoption erschlossen, nämlich die, auch ohne brüdergemeinliche Unterstützung in Bengalen bleiben zu können. Erneut unterschied Grasmann seine eigenen ‚guten‘ Kontakte von den ‚schlechten‘ Becks zu vornehmlich den ‚weißen Subalternen‘: Diejenigen, so rechtschaffen denken, u. den Brüdern wohlwollen, sagten selber, daß es für ihn das beste gewesen wäre, wenn er wäre nach Europa gangen. Andere hingegen, die

967 Vgl. insgesamt kurz zu seinem Fall Römer, Brüdermission, S. 64. 968 Grasmann an Reichel, 05.02.1790, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 61. 969 UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 25.01.1790.

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selber ein unordentliches Leben führen, u. ihn zu manchen schlechten Dingen verleitet haben, überredten ihn zum da bleiben, denen er dann mehr Gehör gab als den Brüdern.970

Am 25. Januar 1790, dem Tag von Becks Austritt aus der Gemeine, hatte Grasmann noch mit einem Brahmanen in Serampore über die bisherigen Geschehnisse gesprochen – einer der seltenen Momente, in denen die Einheimischen in den bengalischen Quellen der Herrnhuter einmal ausführlicher zu Worte kamen.971 Hier zeigt sich einmal mehr die kommunikationsverdichtende und damit quellenproduzierende Kraft solcher Konflikte – auch wenn der Betroffene selbst keinerlei Selbstzeugnisse hinterlassen hat. Der Brahmane jedenfalls, der von Grasmann als zusätzlicher Zeuge angeführt wurde, habe zu ihm gesagt, daß B. durch seine Aufführung (im Saufen) diesem Hause Schande zugezogen hätte, daß vorher niemand in diesem Hause so gewesen wäre, daß er sich mit andern Europ. niedrigen Leuten u. Säufern so eingelaßen, daß es mit ihm nicht beßer geworden so lang er hier geblieben wäre.

Für Grasmann war diese Aussage anscheinend besonders bemerkenswert, denn er geht im Tagebuch weitaus ausführlicher auf sie ein als auf die europäischen Beurteilungen der Situation um Beck, die ihm demnach offensichtlich eher selbstverständlich erschienen: „Ich wunderte mich über die solide Denkweise dieses Heiden, u. muste ihm in seinen Aeußerungen Recht geben, da sie billig u. sehr gescheit waren.“972 Die Überraschung des Herrnhuters lässt hier zumindest den Brahmanen gegenüber, die als „heidnische Geistliche“ zuweilen als Hauptverantwortliche für Misserfolge in der Mission und als Unterdrücker der übrigen Einheimischen ausgemacht wurden,973 eine negative Einstellung durchblicken, denen er unverkennbar als ‚Heiden‘ eine solche Sicht nicht zugetraut hätte. Nur wenig später, nämlich 1792, sollte die Schrift Observations on the State of Society among the Asiatic Subjects of Great Britain von dem Evangelikalen Charles Grant erscheinen, der, wie bereits angeführt, zeitnah in Kontakt zur DEHM, den Herrnhutern und insbesondere Grasmann stand. In diesem Werk äußerte sich Grant auch über den Hinduismus, dessen „whole fabric“ in seiner Sicht „the work of a crafty and imperious priesthood“ sei, „who feigned a divine relation and appointment, to invest their own order in perpetuity with the most absolute empire over the civil state of the Hindoos, as well as over their minds.“974 Grant (und nicht nur ihm) folgend,975 war der 970 Hierzu und zu dem vorangegangenen Zitat Grasmann an Reichel, 05.02.1790, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 61. 971 Dies fiel schon Römer, Brüdermission, S. 64 auf. 972 UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. 973 Vgl. Hegner, Fortsetzung von David Cranzens Brüder-Historie, S. 137 (inkl. des Zitats). 974 Grant, Observations, S. 45. Vgl. Nechtman, Nabobs, S. 56. 975 Vgl. Nechtman, Nabobs, S. 56–59.

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Hinduismus ein politisches Kontrollsystem, das seit jeher allein der Herrschaftssicherung der Brahmanen dienen sollte und somit geradezu ein Gegenbild zum britischen parlamentarischen Regierungssystem repräsentierte. Despotismus sei dabei nicht nur „the principle of the Government of Hindostan, but an original, fundamental, and irreversible principle in the very frame of society“,976 das dem Einzelnen jedwede Möglichkeit zu eigenständigem Handeln und Denken verbaute, so dass den Hindus einzig die ‚zivilisierende‘ Hilfe der protestantischen Briten noch helfen könne.977 Hinzu kam Grants Charakterisierung der Einheimischen als unmoralisch und der Unwahrheit zugeneigt978 – eine Sicht, die andere Beobachter wie der zur DEHM in Kontakt stehende EIC-Kaplan Claudius Buchanan oder der Baptist Andrew Fuller teilten. Vor allem die Missionare und andere Geistliche machten für dieses ‚Defizit‘ das, was sie als Hinduismus wahrnahmen, und insbesondere die Brahmanen verantwortlich.979 Es ist anzunehmen, dass Grasmann, nicht zuletzt aufgrund seiner direkten Kontakte zu Grant, diese Argumentation kannte, aufgrund seiner vielen Verbindungen zu Briten vielleicht auch internalisiert hatte, zumindest aber bei den Lesern seiner Tagebücher voraussetzte. Dies würde seine Überraschung über die Einschätzung des Brahmanen erklären, denn der ‚Theorie‘ nach wäre letzterer gar nicht in der Lage gewesen, das Fehlverhalten Becks als solches zu erkennen. Möglicherweise trug all dies zu einer Beruhigung von Grasmanns Gewissen gegenüber der Gemeinschaft in der konkreten Situation bei: Wenn sogar einer dieser ‚moralisch unterlegenen‘, ‚despotischen‘, ‚selbstsüchtigen‘, kurzum ‚unzivilisierten‘ – Grasmann gebraucht all diese Wörter in seinen Diarien nicht – Einheimischen der Meinung war, dass Becks fast ebenso ‚unzivilisiertes‘ Benehmen nicht mehr zu tolerieren war, was konnte dann noch falsch an der Heimsendung oder gar am vollständigen Fallenlassen Becks durch die Brüdergemeine oder Grasmann persönlich sein? Die selbstvergewissernde Erwähnung zeigt aber überdies, für wie wichtig der Missionar die Außenwirkung von Becks Verhalten bezüglich der Einheimischen und des Missionserfolges erachtete. Das rollenabweichende Verhalten Becks schädigte nicht zuletzt über das dadurch entstandene Gerede bei Einheimischen wie bei Europäern den Ruf der Brüdergemeine, zumal lediglich zwei Herrnhuter vor Ort tätig waren, und musste dementsprechend sanktioniert werden. Da die Ermahnungen nicht den gewünschten Erfolg der Anpassung an die Rollenerwartungen gezeigt hatten und andere Sanktionsmöglichkeiten nicht zur Verfügung standen, griff man nun als ultima ratio auf den Gemeineausschluss zurück.980

976 977 978 979 980

Grant, Observations, S. 44. Vgl. Nechtman, Nabobs, S. 58. Vgl. zu Grants Annahmen Nechtman, Nabobs, S. 58 f. Vgl. zum Beispiel Grant, Observations, S. 26. Vgl. Sramek, Gender, Morality, and Race, S. 43–45. Vgl. Nehring, Natur und Gnade, S. 235 f. Allgemein zu Rollenerwartungen und gesellschaftlichen Sanktionen vgl. Burkart, Kommunikationswissenschaft, S. 152.

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Mit seinem Austritt aus der Brüdergemeine war Beck lediglich seinem von der Ältestenkonferenz in Tranquebar beschlossenen Ausschluss zuvorgekommen, für den sich Grasmann ja zuvor schon ausgesprochen hatte.981 Der Ausschluss geschah, wie in der Brüdergemeine üblich, im Losverfahren, als dem „zentrale[n] Mittel der Konfliktschlichtung“ „gewissermaßen durch göttliche Autorität“982. Wie Gisela Mettele anhand eines nordamerikanischen Falles gezeigt hat, konnte der Ausgang eines solchen Verfahrens jedoch entscheidend von der im Los formulierten Frage, also letztlich doch von menschlicher Autorität, abhängen.983 Den diesbezüglichen Brief aus Tranquebar hatte Grasmann erst am 11. Februar 1790 erhalten. Er wertete die voneinander unabhängige ‚Übereinstimmung‘ der beiden Entscheidungen als direktes Zeichen einer umfassenden Bestätigung durch Jesus: „so bemerkte ich bey diesem Umstand die accurate u. übereinstimmende Anweisung des Hlds [= Heilands, TD] mit der bereits geschehenen Sache, welches mein Glauben u. Zuversicht zu ihm stärkte.“984 Auch dies mag sein Gewissen beruhigt haben, lag nun doch die Verantwortung für den Austritt oder den Ausschluss bei Beck selbst bzw. beim Heiland und weniger bei ihm und seinen Geschwistern. Mit dem Auszug Becks endeten die bis dahin häufigen unerwünschten ‚Besuche‘ durch betrunkene und randalierende Zeitgenossen, wie der Missionar bereits am 14. Februar 1790 sichtlich erleichtert anmerkte.985 Hiermit insinuierte der Missionar freilich, dass es allein die sozialen Verbindungen Becks gewesen waren, die für diese Probleme gesorgt hatten. Grasmanns Annahme griff jedoch zu kurz, denn die Tagebucheinträge vom siebten, vom neunten und vom 17. November 1791 erzählen von „unangenehmen Besuch[en] von Mr. Bonnesen, der wahnsüchtig ist“. Am erstgenannten Tag habe Bonnesen lediglich Tee verlangt, dann sei er einfach zum Frühstück erschienen – „Wir liessen ihn aber allein sitzen.“ –, bevor er am 17. bei Abwesenheit der Brüder in deren Haus eingedrungen sei, um etwas zu essen, und einen einheimischen Diener der Herrnhuter, der ihn daran hindern wollte, die Treppe hinunter gestoßen habe. Am 19. November erteilte ein erboster Grasmann Bonnesen schließlich Hausverbot, das Bonnesen den Diarien nach einhielt.986 Der Unterschied zu den unerwünschten Gästen zu Zeiten als Beck noch in Serampore ansässig war, bestand darin, dass es sich bei Bonnesen nicht um einen Betrunkenen oder Trinker, sondern – zumindest aus Grasmanns Sicht – um einen psychisch Kranken handelte, über dessen Krankheit jedoch keine näheren Auskünfte gegeben wurden. Betrunkene erschienen laut Tagebuch in der Tat nach dem Abgang Becks von der Brüdergemeine nicht mehr im Hause der Herrnhuter.

981 982 983 984 985 986

Vgl. Grasmann an Reichel, 12.08.1790, Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9 Nr. 62. Mettele, Weltbürgertum, S. 139. Vgl. Mettele, Weltbürgertum, S. 140 f. Vgl. inkl. des Zitats UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. Vgl. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92. Vgl. inkl. der Zitate UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92.

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Physische Konstitution und Devianz: Individuelle Erfahrung und Norm

Christian Renatus Beck starb bereits im Juli 1793 in Kalkutta.987 Die näheren Umstände seines Todes sind unbekannt. Ein Suizid erscheint möglich, ist aber nicht belegbar. Es finden sich keine weiteren Spuren, etwa zu einer Beerdigung. Seine Beziehung zur Brüdergemeine blieb bis zu seinem Ende zerrüttet und wohl allein auf vereinzelte, sachorientierte, wenngleich nicht immer sachliche briefliche Kommunikation beschränkt.988 Im Unterschied zum Fall Früchtenicht hatte bei Beck keine weltliche Obrigkeit einzugreifen. Beck war weniger aggressiv nach außen, sein Fall war weniger extrem und konnte so von den Missionaren selbst geregelt werden. Dennoch spielten für die Missionspraxis beider Missionen auch die äußeren Rahmenbedingungen und formelle Normen, seien sie rechtlicher oder politischer Natur, eine große Rolle.

987 Vgl. Römer, Brüdermission, S. 64. 988 Vgl. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Einträge vom 19.06.1790 und vom 21.02.1791. Dabei ging es um Schulden, die Beck noch bei Grasmann hatte, und um Werkzeug, das Beck mit nach Kalkutta genommen hatte. Die Antwort Becks auf eine Rechnung Grasmanns befand jener am 19. Juni 1790 als „spöttisch“.

V. Missionspraxis, Norm und Devianz im institutionellen Raum

V.1 Recht und Politik in den Kolonien Nachdem 1772 das Monopol der dänischen Asienkompanie abgeschafft worden war, übernahm der dänische Staat in Gestalt des Kommerzkollegiums schließlich 1777 auf dem Papier und mit der Ankunft des königlichen Gouverneurs Abbestée 1779 auch praktisch die Verwaltung in ‚Dänisch-Ostindien‘. Da es nun neben der Kompanie auch privaten Händlern erlaubt war, Schiffe nach Asien zu schicken, erschien es sinnvoll, die Kolonien dem Staat direkt und nicht mehr der Handelskompanie zu unterstellen.989 Schon zuvor war die Rechtslage alles andere als eindeutig gewesen, wie immer wieder auftretende Konflikte und Verwirrungen bestätigen. Nicht für jeden Fall lagen überhaupt Normen vor oder es konkurrierten Interessen und Institutionen miteinander, was deviantes Verhalten insgesamt beförderte. Die dänischen Stützpunkte waren von merkantilen Interessen dominiert. Konsequenterweise hatte zunächst die Verwaltung bei den verschiedenen dänischen Handelskompanien gelegen, die über den Handel hinaus sowohl mit exekutiven als auch mit judikativen Kompetenzen ausgestattet waren. So war per Privileg festgelegt, dass die Obrigkeit in Tranquebar von der von den Anteilseignern gewählten Kompanieleitung zu ernennen war und auch nur letzterer unterstand. Die Obrigkeit wurde zunächst von einem Kommandanten, später einem Gouverneur geführt. Er selbst war Teil eines Geheimen Rates bestehend aus drei bis fünf Beamten der jeweiligen Handelskompanie.990 Zum Rat gehörten Ende des 18. Jahrhunderts neben dem Gouverneur ein Justitiarius, ein Finanzrat und der Kommandant der Festung Dansborg. Dem Gouvernement Tranquebars unterstanden die übrigen von Residenten geführten dänischen Stützpunkte. Von

989 Vgl. Ole Feldbæk: India Trade under the Danish Flag 1772–1808, Lund 1969, S. 10 und Nørgaard, Mission, S. 189. 990 Vgl. Nørgaard, Mission, S. 11–13.

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Missionspraxis, Norm und Devianz im institutionellen Raum

ihnen besaß einzig Serampore einen eigenen, aus drei Mitgliedern bestehenden Rat und eigene Gerichte.991 Vor allem um den Handel nicht zu stören, hatte die dänische Obrigkeit der indigenen Bevölkerung ihre eigene Rechtsprechung gelassen, während die europäischen Fälle je nach Sachverhalt vor den dänischen Gerichten verhandelt worden waren. Allein das oberste Gericht war für sogenannte ‚schwarze‘ und ‚weiße‘ Fälle zuständig. Berufung konnte beim kompanieeigenen Gericht in Kopenhagen eingelegt werden.992 Zusätzlich hatte die bereits dem dänischen König und seinem Missionskollegium, nicht aber der Handelsgesellschaft unterstellte DEHM eine eigene Rechtsprechung über die Missionschristen. Die Übernahme der Regierungsgewalt durch den Staat sorgte auf Seiten der Missionare für Probleme. Dies zeigte sich etwa in einem Schreiben aus dem Mai 1779 an das Missionskollegium in Kopenhagen. Darin sahen sich die königlichen Missionare aufgrund des Unterschiedes zwischen den beiden Formen des Gouvernements gezwungen, beim Kollegium nachzufragen, „da wir […] in Sachen, welche unsere Personen und Amt angehen, von dem ehemal Compag[nie, TD] Gouvernement nicht abhingen; sondern alleine von Einem Hochlöbl Missions Collegio, wie weit dieses bey dem jetzigen Königl Gouvernement gelte?“993 Man bitte um diesbezügliche Befehle aus Kopenhagen. Zuvor hatten sich die Missionare bereits an das neue Gouvernement selbst gewandt und ihre Sicht bezüglich der Sondergerichtsbarkeit gegenüber den Missionschristen dargestellt.994 Dabei ging es insbesondere um von den Missionaren zu untersuchende und zu bestrafende Vergehen wie „Ehebruch, Hurerey, Saufen, Schlägerey, Zank, Dieberey, Sabbat-Schänderey, Spielen, Widerspenstigkeit gegen ihre Vorgesetzten und andere die Religion entehrende und die öffentliche Ruhe und einer christlichen Gemeine anständige Ordnung störenden Lastern“. Falls „Ermahnungen und Warnungen“ keine Besserung bewirkt hätten, sähen sich die Missionare bisher berechtigt, Maßnahmen wie „Einsperrung und leibliche[r] Züchtigung“ zu ergreifen. Sie betonten jedoch auch gegenüber dem neuen Gouvernement beschwichtigend, dass sie diese Aufgabe eigentlich nur widerstrebend übernommen hätten, „da dergleichen gerichtliches Verfahren mit unserem Amte nicht eigentlich übereinkommt und dasselbe sehr erschweret“. Mehr noch, die Missionare hätten diese Aufgabe lediglich „aus Noth“ übernommen, allein um das Gouvernement nicht unnötig zu belasten und sich zeitaufwendige Verfahrensanträge, die sie von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten hätten, zu ersparen. Jedem einzelnen Gouvernement sei dieses Verfahren bekannt gewesen. 991 Vgl. Frederik Thaarup: Veiledning til det Danske Monarkies Statistik, 2den Udgave, Kopenhagen 1794, S. 401 f. 992 Vgl. Rasch, Dansk Ostindien, S. 92. 993 Missionare an Missionskollegium, 29.05.1779, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1738–1808. 994 Vgl. hierzu und dem Folgenden bereits Nørgaard, Mission, S. 193. Vgl. zu den durchaus vom einzelnen Missionar abhängenden Strafmaßnahmen auch Liebau, Mitarbeiter, S. 152–155.

Recht und Politik in den Kolonien

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Auch hätten die Missionare mit jedem neuen Gouverneur darüber gesprochen, woraufhin es jedes Mal „aus obigen Gründen zugelassen worden“. Seit der Neuregelung des Gouvernements hätten sich die Missionare „der sonst gewöhnlich körperlichen Züchtigungen mehrentheils enthalten“, um auf eine endgültige Klärung dieser Frage durch die Obrigkeit zu warten. Die statt einer Strafe vorgenommenen Ermahnungen hätten allerdings aufgrund mangelnder Abschreckung eher zu einer Verschlimmerung des lasterhaften Verhaltens unter den Missionschristen geführt. Deshalb bitte man nun um Antwort auf die Fragen, ob das Gouvernement die Bestrafungen übernehme oder ob es bei dem bisherigen Vorgehen und der allgemeinen Zuständigkeit der Mission bliebe oder ob das Gouvernement jemanden aus der Mission hierfür autorisiere.995 Eine erstaunlich kurze Antwort erfolgte prompt und zeigte sich ablehnend. Man sei nicht befugt, den Missionaren eine „weltliche Jurisdiction“ zuzugestehen. Etwaige Fälle sollten somit „nach geschehener Anmeldung bey uns“ durch die „Justice gehörig gehandhabet werden“.996 Die Quellen belegen, dass es sich zuvor um eher inoffizielle Absprachen und schweigende Duldungen zwischen Mission und Gouvernement gehandelt hatte. Es widersprach nun aber gerade dem Rechtsverständnis eines staatlichen und aufgeklärten Gouvernements, der Mission schriftlich und damit offiziell eine Sonderrechtsprechung zuzugestehen. Das oben bereits zitierte, sich anschließende Schreiben der Missionare an das Missionskollegium deutet stark darauf hin, dass es den Missionaren – entgegen aller Beteuerungen – eben doch darum ging, sich ihre Sonderjurisdiktion zu erhalten. Warum sonst hätten sie sich nach der abschlägigen Antwort des Gouvernements an das Missionskollegium wenden sollen? Andere Vorfälle und Schreiben deuten ebenfalls in diese Richtung. Nachdem Gouverneur Peter Anker beispielsweise darum gebeten hatte, sandten die Missionare ihm 1789 ihre Vorschläge zur Regelung von Rechtsfällen zwischen einheimischen Christen: Die missionarischen Vorschläge bestanden nun darin, über solcherlei Fälle informiert zu werden, vor Gericht allein Christen als Übersetzer zu beschäftigen, das für Einheimische zuständige ‚Schwarze Gericht‘ außen vor zu lassen und der Mission ein Recht zur Mitsprache bei der Bestrafung von Christen zuzugestehen. Hierdurch glaubten sie, wie sie dem Gouvernement jedenfalls mitteilten, einen größeren Einfluss auf die indigenen Christen ausüben zu können und sie etwa im Falle von Aufständen und ähnlich gelagerten Problemen zurückhalten zu können.997 Verschiedene nicht immer leicht zu trennende Rechtsprechungen und um ihre Rechte kämpfende Institutionen liefen also parallel nebeneinander her, konkurrierten

995 Vgl. inkl. der Zitate Missionare an Gouvernement, 12.04.1779, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1738–1808. 996 Gouvernement an Missionare, 22.04.1779, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1738–1808. 997 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 155.

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Missionspraxis, Norm und Devianz im institutionellen Raum

miteinander998 oder wurden gar gegeneinander ausgespielt, wenn etwa Zuständigkeiten und Kompetenzen nicht eindeutig geregelt waren. Hinzu kam das Problem (oder aber – je nach Standpunkt – der Vorteil) unregelmäßiger und zeitaufwendiger Schiffverbindungen nach Kopenhagen, wenn eine dortige Entscheidung schnell vonnöten war. Die Problemlage setzte sich dann auch nach der Freigabe des Handels und der Übernahme der Kolonien durch den Staat fort. Besonders eindrücklich hat der Fall Früchtenicht dies vorgeführt, standen sich dort doch Missionare, Missionskollegium und Gouverneur gegenüber, während Früchtenicht die Unklarheiten und Kommunikationsprobleme zumindest zeitweise zu seinen Gunsten zu nutzen wusste. Eine Justizverordnung des Jahres 1781, die 1789 ohne wesentliche Änderungen erneuert wurde, beschreibt das Justizwesen von Tranquebar nach der monopolistischen Kompaniezeit als grundsätzlich zweigeteilt. Neben der europäischen Rechtsprechung bestand immer noch eine einheimische Gerichtsbarkeit. Insgesamt gab es vier Untergerichte, ein Obergericht und schließlich das höchste Gericht in Kopenhagen.999 Die Untergerichtswesen wies eine Doppelstruktur auf, obwohl gerade zu Peter Ankers Zeiten immer wieder Reformen diskutiert wurden1000: zwei Stadtgerichte („Byetinget“) – jeweils eines in Tranquebar und in Serampore – waren für die Europäer zuständig. Die beiden nach dänischem Recht urteilenden Gerichte wurden aus dem Stadtvogt, der zugleich Testamentsvollstrecker und Polizeimeister war, dem Stadtschreiber und – je nach Einordnung des Falles – vier oder acht Gerichtsmännern gebildet. Dem standen zwei sogenannte ‚Schwarze Gerichte‘ gegenüber – in Tranquebar das sorteretten, in Serampore das katcheriretten. Diese Gerichte waren nur für die Einheimischen zuständig und bestanden allein aus Einheimischen – abgesehen von einem europäischen Beobachter, der keinerlei Befugnisse besaß. Im ‚Schwarzen Gericht‘ waren neben einem beisitzenden dubash ein Proveditor, der sich zugleich für die Lagerwirtschaft des dänischen Gouvernements verantwortlich zeigte, ein Sekretär und sechs paritätisch nach den drei Religionsgemeinschaften (von den Europäern definiert in ‚Hindus‘, Muslime, Christen) besetzte Assessoren vertreten. Der Proveditor saß dem Gericht vor und stellte das höchste zu erreichende Amt für Einheimische in der dänischen Verwaltung dar. Die Rechtsprechung sollte sich ausdrücklich nach den einheimischen Sitten und Traditionen und nach Recht und Vernunft richten. Fälle höherer Bedeutung konnten jedoch direkt an das Gouvernement und damit das Obergericht gerichtet werden. Das ‚Schwarze Gericht‘ wurde bei zeremoniellen Problemen, Erbschafts- oder Familienfragen nicht angerufen. Solcherlei Probleme soll-

998 Vgl. hierzu bereits Liebau, Mitarbeiter, S. 155. 999 Vgl. Thaarup, Veiledning, S. 402 f. 1000 Vgl. Kristoffer Edelgaard Christensen: Den koloniale stats globale genealogi. Stat og samfund i Tranquebar, 1788–1830, Kopenhagen 2014, S. 30–35.

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ten den Kasten selbst und ihren traditionellen Konfliktregulierungsmechanismen, wie dem panchayat, überlassen bleiben.1001 Wie Niels Brimnes zu Recht betont, entsprach die beschriebene Ordnung dem bereits zu Kompaniezeiten gepflegten, insbesondere von Handelsinteressen geprägten Ideal der Nichteinmischung, ließ sich jedoch nicht immer konsequent durchhalten.1002 In den in den 1790er Jahren geführten aufklärerischen Diskussionen über eine Justizreform ging es insbesondere um die einheimischen Gerichte, deren mangelnde Transparenz, die einer vermeintlichen Willkür Tür und Tor öffne, um Zentralisierungen dieses eher dezentralen Systems, um eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative oder die ‚Zivilisierungsmission‘ der in moralischer Hinsicht als zumeist negativ dargestellten einheimischen Bevölkerungteile. Die ‚heidnischen‘ Einheimischen seien intrigant, feige, korrupt, unaufgeklärt etc. Deshalb wurde im Gouvernement darüber diskutiert, ob eine ‚Aufklärung‘ und ‚Zivilisierung‘ überhaupt möglich und sinnvoll sei. Als moralisch noch ‚schlechtere Bürger‘ wurden 1792 lediglich die einheimischen Missionschristen bewertet, weil diese mehrheitlich aus den ‚untersten Klassen‘ stammten. Die Reformen scheiterten letztlich am Kommerzkollegium in Kopenhagen.1003 Zusätzlich zu den Untergerichten bestand als nächste Instanz das Obergericht, das sich aus allen Mitgliedern des dänischen Gouvernements zusammensetzte – wenn diese nicht selbst Teil der zu behandelnden Fälle waren oder durch Verwandtschaft oder Heirat befangen waren. In einem solchen Falle duften die übrigen Mitglieder einen Ersatz auswählen. Überstieg der Streitwert des jeweiligen Falles eine Summe von 200 Reichstalern, konnte das höchste Gericht in Kopenhagen angerufen werden. In Strafsachen, die ein Menschenleben, die Ehre, den Heiland oder die Kasse betrafen, war eine Klage vor dem höchsten Gericht sogar notwendig – es sei denn, es ging um die Todesstrafe eines Einheimischen für einen offenkundigen Mord oder eine angestiftete Rebellion. Ein solcher Fall sollte dem Obergericht in Tranquebar vorgelegt werden, das dann um zwei Geistliche, zwei Militärs sowie zwei einheimische Polizisten erwei-

1001 Vgl. Verordnung vom 8. Januar 1781, RAK Kommercekollegiet, Ostindiske Sekretariat 1777–1797, Ostindiske Forordninger 1777–1795. Vgl. hierzu bereits Niels Brimnes: Constructing the Colonial Encounter. Right and Left Hand Castes in Early Colonial South India, Richmond 1999, S. 109 f. Zum Proveditor vgl. ebenda S. 252, zum „panchayat“ vgl. ebenda, S. 251. Vgl. insgesamt Thaarup, Veiledning, S. 403; Rasch, Dansk Ostindien, S. 93. Vgl. die kurze Erwähnung des „Schwarzen Gerichtes“ bei den Missionaren in HB 102. Cont., S. 672 (Anmerkung). Der dortige Bericht wurde 1767 veröffentlicht, als neben den sechs Vertretern der übrigen Religionen noch zwei Katholiken im Gericht vertreten waren. Die Katholiken verloren jedoch zunehmend an Bedeutung, zumal der in Indien missionierende Jesuitenorden 1773 aufgelöst worden war. Auch waren die katholischen Pfarrer in Tranquebar bei der dänischen Asienkompanie angestellt. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 266 f. sowie Nørgaard, Mission, S. 176–178. 1002 Vgl. Brimnes, Constructing, S. 110. 1003 Vgl. Christensen, Den koloniale stats globale genealogi, S. 31 f.

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tert wurde. Dem Obergericht war es hingegen verboten, ein Urteil des ‚Schwarzen Gerichtes‘ noch zu verschärfen.1004 V.2 Recht und Politik in der Missionspraxis Die Missionare waren verschiedentlich direkt und indirekt von den angedeuteten Problemen betroffen. Sie konnten etwa als Vermittler für die Einheimischen dienen, sie konnten beklagt werden oder selbst als Kläger agieren. Es wendeten sich beispielsweise namentlich nicht genannte einheimische Christen 1797 in einem undatierten, aber mehrere Seiten umfassenden Bittschreiben an die Missionare und beklagten die weiterhin bestehende Unklarheit rechtlicher Zuständigkeiten in Tranquebar:1005 „wir wißen gar nicht, wer unsere Unordnungen verbeßern wird“, sei es nun „der Justitiarius Prahl“, das Gouvernement oder das „königl malabarische Gericht“? In ihrem Schreiben trugen sie in klaren Worten ihre Kritik an dem herrschenden Rechtssystem vor. Diese Kritik hatte mehrere inhaltliche, personelle und institutionelle Dimensionen zugleich: Sie betraf einerseits Sprachprobleme, also wörtliche Übersetzungsschwierigkeiten, denn die meisten Einheimischen könnten sich schlicht nicht mit dem Justitiarius unterhalten, der ihre Sprache nicht spreche. Der dubash andererseits, der eigentlich als Dolmetscher fungieren sollte, aber auch verschiedene Verwaltungsaufgaben übernahm1006 und somit eine „Deutungsmacht“ besaß, die sich aus seinem gleichzeitigen

1004 Vgl. Thaarup, Veiledning, S. 403 1005 Vgl. zum Folgenden, wenn nicht anders angegeben Unbekannt an Missionare, nicht datiert, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1006 Der dubash konnte sehr verschiedene Funktionen für die Europäer wie – zum Teil gleichzeitig – für einheimische Herrscher ausüben, die vom allgemeinen Hausdienst über die Justiz bis in die Diplomatie oder den Finanzbereich hineinreichten. Vgl. nur die Beispiele in S. K. Govindaswami: Some Unpublished Letters of Charles Bouchier and George Stratton (1771 to 1802), in: Madras Tercentenary Committee (Hg.): The Madras Tercentenary Commemoration Volume, New Delhi 1994 (first published: Madras 1939), S. 27–35. Vgl. Ravi Ahuja: Die Erzeugung kolonialer Staatlichkeit und das Problem der Arbeit. Eine Studie zur Sozialgeschichte der Stadt Madras und ihres Hinterlandes zwischen 1750 und 1800, Stuttgart 1999, S. 57. Seit muslimischer Zeit hatte sich in Südindien eine Art „system of dubashes“ entwickelt. Vgl. hierzu mit Bezug zur Mission Heike Liebau: Country Priests, Catechists, and Schoolmasters as Cultural, Religious, and Social Middlemen in the Context of the Tranquebar Mission, in: Robert Eric Frykenberg (Hg.): Christians and Missionaries in India. Cross-Cultural Communication since 1500, Grand Rapids 2003, S. 70–92, hier: S. 86 f. Zum dubash, der seit den 1780ern zunehmend an Wichtigkeit und Einfluss gewann und damit den Händler ablöste, vgl. Brimnes, Constructing, S. 92–94, 107: Gerade in Tranquebar waren die dubashs dominierend. Dem Zensus von 1790 folgend existierten dort 80, die in 66 europäischen Haushalten tätig waren. Vgl. dazu und zu den Definitionsschwierigkeiten Louise Sebro: Personal Encounters in a Colonial Space. European Seeing and Knowing, in: Esther Fihl, A. R. Venkatachalapathy (Hg.): Beyond Tranquebar: Grappling Across Cultural Borders in South India, Delhi 2014, S. 282–304, hier: S. 298.

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Zugang zu indigenem wie europäischem Wissen ergab,1007 zeige kaum wirkliches Engagement, um ihnen zu Hilfe zu kommen. Man müsse lange warten, werde oft auf später verwiesen. Würden die Klagen von ihm aufgenommen und vorgetragen, so fehlten beim Vortrag zuweilen beträchtliche Teile. Auch verfolge der dubash oftmals eigene Interessen. Sehr deutlich warfen die einheimischen Kritiker dem königlichen Gericht zudem massive Ungleichbehandlung und sogar systematisch betriebene Korruption vor: Der dubash, so die Schreiber in etwas ungelenker Sprache, schickt die arme Christen zu dem königlichen Gericht, dort wird die Sache nicht gleich ausgemacht sondern fünf Tage lang, jawohl zehn Tage lang, bis die Sache ausgemacht wird, müßen wir mit Hunger dort aufwarten, wenn jemand den Richtern bestechen kann, aber auch viel schuldig, so wird gleich ohne Straffe losgelaßen, der Unschuldigen wird hart bestrafft.

Diesen Aussagen nach waren die Richter oftmals bestechlich. Die gerichtlichen Institutionen delegitimierten sich zumindest in den Augen der einheimischen Christen selbst. Damit trugen die Gerichte zu einer allgemeinen Verbreitung von Korruption bei, denn anschließend heißt es – fast schon zynisch – zur geschilderten Ungleichheit der Mittel in einem geradezu zwangsläufig korrumpierenden System: „Wie können solche Armen den Richtern bestechen?“ Die eigentlich paradoxe Lösung für dieses Problem lag in der Sicht der sich übervorteilt fühlenden Petenten also darin, sich derselben korrumpierenden Mittel zu bedienen, um überhaupt eine Chance haben zu können.1008 Nur hatten sie zumeist schlicht die ökonomischen Ressourcen dazu nicht, so dass sie ausgeschlossen blieben. Dem Befund mangelnder Ressourcen der Missionschristen schließt sich eine ebenso vernichtende Kritik an den sogenannten „heidnischen“ Gerichten an, die kein Verständnis für Christen zeigten und mehr noch: „uns u. unsere Religion haßen“. Hierbei bezogen die Verfasser sich auf das sogenannte ‚Schwarze Gericht‘. Sie betonten, dass dort zwar auch christliche Richter vertreten seien, diese würden jedoch, wenn sie zugunsten der Missionschristen urteilten, von den „heidnischen Richter[n] u. die Dubaschen“ vor der dänischen Obrigkeit angeklagt, „immer auf Christen Seite“ zu sein. Die vorgebrachten Klagen der Missionschristen finden ihre Entsprechung in anderen Fällen der 1780er und 1790er Jahre: So beschreibt Niels Brimnes bezüglich der sich wiederholt zugetragenen Konflikte zwischen „right“ und „left hand castes“ in Madras und Tranquebar ähnlich gelagerte Beschwerden, in denen jeweils die eine Gruppe Funktionsträgern der anderen Gruppe einseitiges Verhalten und Einflussnahme vor-

1007 Vgl. Lässig, Übersetzungen, S. 201 f., 202 (Zitat). 1008 Vgl. zu diesem „Mechanismus“ Karsten Fischer: Korruption als Problem und Element politischer Ordnung. Zu der Geschichtlichkeit eines Skandalons und methodologischen Aspekten historischer Komparatistik, in: Jens Ivo Engels u. a. (Hrsg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa, München 2009, S. 49–65, hier: S. 54.

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warf.1009 Dies betraf insbesondere die dubashs und spricht für die Repräsentativität des durch die einheimischen Christen Vorgebrachten. Dass die dubashs selbstverständlich eine eigene Sicht der Dinge besaßen, belegt eindrucksvoll die autobiographische Erzählung des Daniel Pullei (1740–1802), seines Zeichens dubash verschiedener dänischer Gouverneure, Beisitzer im ‚Schwarzen Gericht‘ und enger Vertrauter des Missionars John. Pullei selbst war zum Christentum konvertiert, hatte die Missionsschule durchlaufen und John schließlich die Geschichte seines Lebens offenbart. Der Missionar hatte sie anschließend aufgeschrieben und veröffentlicht. Wie Pullei selbst bekundet hatte, zog er sich in seiner Position als dubash „bald von Europäern und noch mehr in der Nation öfters Verdruß und Verläumbdungen“ zu, „wenn er nicht nach eines jeden Intereße handeln konnte und wollte“.1010 Als ein Beispiel für Kritik aus der ‚Nation‘ kann das Schreiben der Missionschristen dienen. Doch von Gouverneur Anker ist ebenso überliefert, dass er Verschwörungen durch europäische Angestellte und den für die Europäer oftmals illegalen Handel ausführenden dubashs gegen ihn selbst befürchtete.1011 Aus Sicht von Pullei hatte der dubash somit den verschiedenen an ihn gestellten Erwartungen gar nicht entsprechen können und war in starke äußere und innere Interessenkonflikte verwoben.1012 Solches konnte ebenfalls für andere kulturelle Vermittler wie die einheimischen Katecheten der Mission, aber auch die Missionare selbst gelten, die in ihren jeweiligen Aufgaben zugleich eine „Herausforderung zu eigenständigem Handeln“ sahen und immer wieder in „Identitätsund Loyalitätskonflikte“ gerieten.1013 Mit ihrer ‚Justizsupplikation‘, die einen vergleichsweise seltenen Einblick in die Sichtweisen der ‚einfachen‘, aus den unteren gesellschaftlichen Schichten stammenden Missionschristen ermöglicht,1014 hätten die Petenten eigentlich vorgehabt, sich an das Missionskollegium oder den dänischen König zu wenden, da man sich aber gegenseitig unbekannt sei, hätten sie ihre Klagen nun lieber zunächst den Missionaren vorgebracht. Hier wirkten die Missionare quasi selbst als dubashs, indem sie vermittelnde Funktionen für die Missionschristen übernahmen, eine Interpretation, die bereits Robert Eric Frykenberg generell für Missionare vertreten hat.1015 Augenscheinlich hatten die Verfasser 1009 1010 1011 1012

Vgl. Brimnes, Constructing, S. 94. Zit. nach Liebau, Mitarbeiter, S. 1. Vgl. Sebro, Personal Encounters, S. 298 f. Vgl. ausführlich zu Daniel Pullei Liebau, Mitarbeiter, S. 1, 234–238. Vgl. zum Lebenslauf erzählt durch C. S. John NHB 62. St. (1806), S. 166–181. 1013 Liebau, Tamilische Christen, S. 19. 1014 Zur Sozialstruktur der Missionschristen vgl. etwa Nørgaard, Mission, S. 148. Vgl. zum Quellentyp der Supplikation vor allem Otto Ulbricht: Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, in: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 149–175, hier insbesondere: S. 151; zur Quellenproblematik vgl. ebenda, S. 155. 1015 Vgl. Robert Eric Frykenberg: Pietist Missionary Dubashis and Their Shishyas. Conduits of Cross-Cultural Communication, in: Heike Liebau u. a. (Hg.): Mission und Forschung. Trans-

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ihr Vertrauen in das Rechtssystem und die handelnden Personen aus Politik und Verwaltung vor Ort nahezu vollständig verloren. Demgemäß baten sie darum, ein Mittel zu finden, „damit nicht hinführo unsere Streitigkeiten zum königlichen Gericht geschickt wird“. Der König möge das Gouvernement zudem ermahnen. Als Lösung schlugen die Schreiber einerseits vor, das ‚Schwarze Gericht‘ durch einen weiteren christlichen Beisitzer zu ergänzen, und andererseits christliche „Schutzrichter“ zu ernennen und es den einheimischen Christen zu überlassen, „unsere Sachen unter uns selber […] aus zu machen“. Im Grunde ging es bei diesen Forderungen also darum neben einem eigenen dubash, eine weitere, eine einheimisch-christliche Rechtsprechung einzuführen. Am 26. Juli 1798 berichteten die Missionare endlich dem Missionskollegium von dem Schreiben der einheimischen Christen. Da ihnen die „Bittschrift“ zu weitläufig und speziell sowie „hier und da zu malabarisch“ erschien, hätten sie sie zunächst jedoch zurückgehalten. Dies und der zeitliche Abstand der Weiterleitung des Schreibens der Missionschristen sprechen dafür, dass es sich eher nicht um einen von den Missionaren fingierten Brief handelte, obwohl er deutlich ihren Interessen entsprach und sie durchaus auf Missionschristen und christliche dubashs wie Daniel Pullei zurückgriffen, wenn es um ihre Interessen in rechtlichen Fragen ging.1016 Auch wurde die Supplikation allenfalls geringfügig von den Missionaren überarbeitet, worauf Stil und die zahlreichen Fehler hindeuten. Offenbar hielten sie die geäußerten Bitten nicht eigentlich für realisierbar. Denn falls das Ersuchen der Einheimischen nicht erfüllbar sei, baten die Missionare darum, gegenüber dem Kommerzkollegium wenigstens darauf zu dringen, dass „uns jedes Gericht oder Richter für unpartheyische und Wahrheit liebende Männer erkenne“, auf deren Zeugenschaft man sich verlassen könne, ohne eine „neue gerichtliche und zeitverderbliche Untersuchung wieder anzustellen“.1017 An dieser Stelle verquicken sich verschiedene Konfliktebenen, denn hinter dieser Aussage steht, erstens, die immerwährende Furcht vor dem Verlust der missionarischen Glaubwürdigkeit vor der Gemeinde und den nicht konvertierten Einheimischen, hier zumindest wenn die missionarischen Aussagen vor Gericht nicht anerkannt und sogar in Zweifel gezogen würden. Zweitens zeigt sich hierin das offenbar nach wie vor vorhandene Misstrauen und Konfliktpotenzial zwischen den obrigkeitlichen Institutionen bzw. Gericht und Mission. Dabei ging es auch um die Frage einer eigenen missionarischen Jurisdiktion1018 – auch wenn die Missionare dies auffallend deutlich abstritten. Und drittens verdeutlicht der sich in dem Schreiben unmittelbar anschließende Punkt, dass nach wie

lokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert, Halle 2010, S. 67–92. 1016 Vgl. zu den Interessen der Missionare Liebau, Mitarbeiter, S. 234 f. 1017 Vgl. Missionare an Missionskollegium, 26.07.1798, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1018 Vgl. insbesondere Nørgaard, Mission, S. 203–205.

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vor eine Angst bestand, Missionsrechte zu verlieren, im konkreten Beispiel an den dänisch-orthodoxen Koloniepfarrer Fuglsang, denn die Missionare baten das Kollegium konkret, sie vor seinen Eingriffen in ihre Rechte zu schützen. Dabei beriefen sie sich insbesondere auf das Recht der Anciennität, also auf ihren Vorrang aufgrund eines höheren Dienstalters.1019 Die Koloniegeistlichkeit der Dänischen Kirche war von Beginn an eigentlich für die geistliche Betreuung der europäischen Bevölkerungsteile, aber nicht für Mission zuständig. Immer wieder gab es jedoch Konflikte mit der Mission, da die Arbeitsbereiche sich durchaus überschnitten. Insbesondere ging es um die missionarische Taufe von Sklavenkindern und das Durchführen deutscher Gottesdienste.1020 Die Bitten der Missionschristen um einen „Christlichen Gouvernements Tolk“, also einen eigenen Dolmetscher, wurden vom Missionskollegium letztlich, wie von den Missionaren schon erwartet, sogar ohne nähere Erläuterung abgelehnt. Hinsichtlich der von den Missionaren beklagten Parteilichkeit der Richter selbst bemerkte das Kollegium lediglich, dass ein solcher Richter die Glaubwürdigkeit seiner Zeugen selbst am besten beurteilen könne. Es scheint, als zweifelte das Kollegium sowohl generell am Inhalt der missionarischen Einwürfe als auch konkret an der Wirksamkeit einer wie auch immer gearteten Gegenmaßnahme. Deshalb sei – so heißt es weiter – die Klage erstens zum Teil „überflüßig“ und zweitens habe sie überhaupt „keinen Nutzen“, da eine diesbezügliche Regelung nur schwerlich praktikabel sei, denn: „der parteyische und zugleich schlaue Richter“ fände doch „allezeit Mitteln“, „ein solches Gesetz […] zu illudiren“. Immerhin betonte das Kollegium, wenn auch sehr allgemein, dass das Gouvernement, einen jeden in seinen Rechten – und somit auch die Missionare – zu beschützen hätte. Auf eine Grundsatzdiskussion über das Recht der Anciennität der Missionare gegenüber Fuglsang mit dem Kommerzkollegium wollte sich das in dieser Phase überhaupt sehr defensiv auftretende Missionskollegium jedoch nicht einlassen und riet den Missionaren ebenfalls davon ab. Als Begründung verwies es lediglich allgemein darauf, dass die Achtung vor einer geistlichen Person doch hauptsächlich aus deren Lebenswandel hervorginge.1021 Hinter dieser Aussage mag sich eine moralische Kritik an einzelnen Missionaren versteckt haben, ist es doch gerade diese Zeit, zu der sich Beschwerden in der und über die Mission häufen. In jedem Fall bezweifelte das Kollegium konkret den von Missionaren befürchteten Ansehensverlust in der eigenen Gemeinde, wenn etwa ein „jüngerer“ Pastor wie Fuglsang in einer Kommission über einen „älteren“ Missionar wie John befinden musste. Derartiges hatte nämlich 1797 im Fall um den Jungen Friedrich stattgefunden und stieß vor allem bei Missionar John auf großes Missfallen.1022 1019 Vgl. Missionare an Missionskollegium, 26.07.1798, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1020 Vgl. Nørgaard, Mission, S. 175. 1021 Vgl. inkl. der Zitate Missionskollegium an Missionare, 21.07.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1789–1835: Ostindisk missionsbrevbog, S. 194. 1022 Vgl. Missionskollegium an Kommerzkollegium, 29.10.1798, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1789–1835: Ostindisk missionsbrevbog, S. 198 f.

Der Fall des Friedrich

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V.3 Der Fall des Friedrich An Friedrich und senem Fall lassen sich einige repräsentative Aspekte aus Mission und kolonialem Rechtssystem aufzeigen. Denn dass Missionare beklagt werden konnten, wobei hier eher von wechselseitigen Klagen gesprochen werden muss, belegt ebenjener Fall des Friedrich, dem der besagte („Konkurrenz“-)Pastor Fuglsang Unterstützung gegen die Mission zukommen ließ. Friedrich, ursprünglich lautete sein Name Suttahamadanam, war offensichtlich als „Haus-Junge“ bei Missionar John acht Jahre lang großgezogen und unterrichtet worden. Er sei von seinem „armen alten Vater feyerlich und schriftlich zum Eigenthum und zu meiner Disposition übergeben worden, daß er nie die Freyheit haben sollte mich [= John, TD] ohne meine Erlaubniß nach eigenen Wollen zu verlassen“.1023 Hierbei handelte es sich um ein durchaus übliches Vorgehen. Schon seit 1735 forderten die Halleschen Missionare von den Eltern solcherlei schriftliche Erklärungen, um Schwierigkeiten zu vermeiden, wenn die Kinder die Missionsschule verließen und nicht mehr versorgt werden konnten.1024 Das besagte schriftliche Zeugnis des Vaters von Friedrich sei – so John – aber inzwischen verschwunden. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Missionare in Tranquebar zwar schon früh den Anstoß gegeben hatten, überhaupt über die Sklaverei zu diskutieren, was zunächst zu verschärften Regeln und dann 1744 zum Verbot des Sklavenhandels führte. Es ging den Missionaren jedoch lediglich um den Handel mit christlichen Sklaven, nicht um den Besitz von Sklaven als solchen, denn sie waren zum Teil selbst Besitzer, so noch 1790 der Missionar Kohlhoff und hier John. Sie stellten die Sklaverei also nicht gänzlich in Frage.1025 Ähnliches wurde unlängst für die Herrnhuter Missionsstationen in Britisch- und Dänisch-Westindien festgestellt.1026 Nach Aussage des Missionars John soll Friedrich ihm seltene Naturalien gestohlen und diese verkauft haben. Friedrich habe sogar ein Geständnis abgelegt und einige der Objekte zurückgegeben. Der Missionar bestand nun aber darauf, alle Naturalien zurückzubekommen. Daraufhin verließ der Junge das Haus Johns, erklärte sich unabhängig, unschuldig und suchte sich neue Dienste, die er bei dem Koloniepfarrer Fuglsang als Organist fand. John wendete sich anschließend an den Justitiarius Prahl und den Gouverneur Anker, der dem Missionar zunächst Recht gab und Friedrich unter Arrest stellen ließ, da dieser sich geweigert hatte, bis zu seiner Volljährigkeit zu John zurückzukehren.1027 1023 Missionare an Gouvernement, 30.10.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1024 Vgl. Nørgaard, Mission, S. 148. 1025 Vgl. Krieger, Sklavenhandel, Abschn. 4. 1026 Vgl. Jan Hüsgen: Mission und Sklaverei. Die Herrnhuter Brüdergemeine und die Sklavenemanzipation in Britisch- und Dänisch-Westindien, Stuttgart 2016. 1027 Vgl. Missionare an Gouvernement, 30.10.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799.

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Stattdessen plante Friedrich nun offenbar eine Klage gegen John, der seinerseits lediglich auf die Rückkehr Friedrichs und nicht mehr auf die Rückgabe der verschwundenen Güter bestand. Indessen hob Peter Anker seine Resolution, der Junge habe zum Missionar zurückzukehren, überraschenderweise wieder auf.1028 Aus Sicht Johns hatte der Gouverneur damit auf Beschwerden über eine mangelnde Zuständigkeit des Gouvernements reagiert: „aus der Ursache weil sie ihnen Beschwerde erregte und sie nicht qua Gouvernement darinnen geurtheilet hätten“. So verwies der Gouverneur den Fall an das einheimische „Untergericht zu einem förmlichen Prozeß“.1029 Der Fall sei „Landes-Gesetze[n] und Recht [zu] überlassen“.1030 John hatte ja sogar mit indigenen Sitten und Gewohnheiten argumentiert, ohne allerdings das Wort ‚Sklave‘ zu verwenden, als er davon sprach, dass Friedrich in der Küche mit den „übrigen Hausleuten von geringren Geschlecht“ gegessen habe, welches nach Malabarischen Rechten oder Landes Gewohnheit immer ein Beweiß ist, daß ein solcher nicht mehr sich selbst oder den Verwandten, sondern dem angehört, der ihn versorget und dieses Recht geniesen viele meiner hiesigen Mitbürger ungestört, die arme Kinder erziehen und versorgen.1031

Trotzdem hatte John sich zunächst an Anker und nicht an ein einheimisches Gericht gewandt. In der Argumentation Johns und dem Handeln des Gouvernements zeigen sich deutlich die Schwierigkeiten, diesen Fall einer eindeutigen Zuständigkeit zuzuordnen. Immerhin waren ein europäischer Missionar und ein einheimischer Missionschrist betroffen. Welche Institution besaß nun für einen solchen Fall die rechtlichen Kompetenzen? Die europäische oder die einheimische Gerichtsbarkeit in Tranquebar? Die beiden Kollegien in Kopenhagen? Wenn ja, welches der beiden: das Kommerz- oder das Missionskollegium? Oder hätte der Fall gar eine eigene Missionsgerichtsbarkeit beschäftigen müssen? Da John sich in dieser durchaus sensiblen Angelegenheit bislang immer mit dem Gouvernement als „Obergericht“ auseinandergesetzt hatte, wie er in einem Schreiben an dasselbe dargelegt hat, mochte er sich nicht mehr an ein einheimisches „Untergericht“ wenden. Nach Meinung des Gouvernements kam offensichtlich das dänische Untergericht nicht mehr in Frage, da der Fall ja schon explizit zum „schwarzen Gericht“ verwiesen wurde. Auch wollte der Missionar sich nicht an das „höchste Gericht“ in der europäischen Zentrale wenden – ohne dass er dies näher begründete. 1028 Vgl. Resolution des Gouvernements, 09.11.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1029 Missionare an Missionskollegium, 26.07.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1030 John an Gouvernement, 09.11.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1031 Missionare an Gouvernement, 30.10.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799.

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Möglicherweise ging es hierbei um die damit verbundene öffentliche negative Berichterstattung über die Mission in Kopenhagen. Stattdessen schrieb er, dass er den Fall dem dortigen Missionskollegium vorlegen werde, zumal er Bedenken habe, den widerspenstigen Friedrich, der lieber in das Gefängnis gehe als zurück zu John1032 und wohl auch schon gedroht habe, „sich den Hals abzuschneiden“,1033 überhaupt wieder aufnehmen zu können. In dem Vorhaben, das Missionskollegium anzurufen, zeigt sich, dass die Mission sich weiterhin einen rechtlichen Sonderstatus bewahren wollte und sich nicht unbedingt dem Gouvernement oder dem Kommerzkollegium untergeordnet sah – jedenfalls dann nicht, wenn den Missionaren die Entscheidungen der weltlichen Obrigkeit nicht gefielen. Gewiss versuchte der Missionar auf diese Weise zudem ein gewisses Drohpotential gegenüber dem Gouvernement aufzubauen, das sich ja daraufhin möglicherweise wieder umentschieden hätte. Zugleich spielte er damit die Institutionen gegeneinander aus. Einige Tage später, am 14. November 1797, baten die Missionare den Justitiarius um Rat: Solle man überhaupt einen Prozess in dieser Sache führen, oder besser nicht?1034 Der Justizrat Prahl riet vor allem wegen der langen Dauer einer gerichtlichen Untersuchung davon ab und verwies zudem auf den Willen des Jungen.1035 Die Missionare fürchteten schließlich die potenziell mit einem Prozess einhergehenden Rufschädigungen der Mission, die sich – je nach Verlauf, Dauer und Ausgang – freilich negativ auf die Missionspraxis auswirken könnten. In der Zwischenzeit war Friedrich nicht untätig geblieben und hatte sich verschiedentlich um Unterstützer bemüht: Er mobilisierte viele Menschen von Rang und Namen in Tranquebar, deren Einfluss möglicherweise – wie die Missionare ja bereits vermutet hatten – bei Gouverneur Anker für dessen Entscheidungsumschwung und den Verweis an das einheimische Untergericht geführt hatten. So schrieb Friedrich am 22. Oktober an Pastor Fuglsang, John könne ihn ohne Beweise nicht „für einen Schlawen erklären“ und sei allein von „Neyd und […] Abgunst“ getrieben.1036 Im Unterschied zu John benutzte Friedrich also selbst das Wort ‚Sklave‘ und bestritt die Rechtmäßigkeit des Besitzes durch John. Zuvor hatte er bereits Matthias Mühldorff, die dritte Stimme im Geheimen Rat, bemüht, wie er sich auch an den Regimentsarzt Theodor Folly

1032 Vgl. John an Gouvernement, 09.11.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1033 Missionare an Gouvernement, 13.11.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1034 Vgl. Missionare an Prahl, 14.11.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1035 Vgl. Prahl an Missionare, 15.11.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1036 Friedrich an Fuglsang, 22.10.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799.

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wandte.1037 Mühldorff hatte Friedrich offenbar die Stelle als Organist bei Fuglsang verschafft.1038 Es war dann Fuglsang, der sich am 1. Februar 1798 schriftlich bei Nikolaus Edinger Balle aus dem Missionskollegium – und das wohl erfolgreich – um Friedrich bemühte.1039 Das Kollegium hatte bereits im Sommer 1797 ausweichend erklärt, es handele sich bei dieser Angelegenheit um eine „Rechts und Policeysache worinnen wir uns nicht eigentlich einlaßen können“. Und weiter heißt es überaus vorsichtig: Man werde lediglich versuchen können, das für Gerichtssachen zuständige Kommerzkollegium auf diese Sache „auf die beste Art […] aufmerksam“ zu machen.1040 Ein anderer Weg mit solchen Konflikten umzugehen, der nach diesen Problemen offenbar bevorzugt eingeschlagen wurde, war der, die Angelegenheiten vorab informell unter Umgehung des formellen Rechtsweges zu regeln. Demgemäß berichteten die Missionare schon im Januar 1799 in ihrem Jahresbericht: Das angenehmste ist, das weder die weltliche Gerichte noch die Missionarien im vorigen Jahre so sehr wie vorher durch Streitigkeiten und Zänkereyen sind beschweret worden, und dasjenige was etwa vorgefallen ist meist durch die verständigsten und vornehmsten Glieder in der Gemeine selbst ist geschlichtet und beygeleget worden.1041

Der Fall Friedrich wirft nicht nur ein Licht auf unsichere Rechtslagen, er zeigt zudem das Bemühen der einzelnen Akteure, diese Lagen möglichst zu den jeweils eigenen Gunsten zu nutzen. Dies betraf Europäer wie Einheimische. Insbesondere ist es wichtig, auf die agency der indigenen Bevölkerung hinzuweisen, die trotz aller Sprachprobleme durchaus aktiv Systemschwächen für sich zu verwenden verstand. Für die Mission ging es nur vordergründig um die Person Friedrich, hintergründig ging es nicht zuletzt um die so raren und kostbaren Ressourcen und Investitionen, die drohten verschwendet zu werden. So bemerkte John etwa über seinen Widersacher Fuglsang in dieser Angelegenheit, als dieser Friedrich in seine Dienste aufnahm: „Er erntet also, wo er nicht gesäet hat.“1042 Schließlich war es doch John, von der Warte des Missionars aus gesprochen, der dem Jungen jahrelang das Klavierspielen und -stimmen beigebracht 1037 Vgl. Friedrich an Folly, 08.11.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1038 Vgl. Mühldorff an Fuglsang, 17.10.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1039 Vgl. Fuglsang an Balle, 01.02.1798, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1040 Vgl. Missionskollegium an Missionare, 21.07.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1789–1835: Ostindisk missionsbrevbog, S. 194 f. 1041 Missionare an Missionskollegium, „Kurtze Nachricht von dem jetzigen Zustand […]“, 01.01.1799, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1042 Missionare an Missionskollegium, 26.07.1798, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799.

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hatte. Er war es, der ihn in Sprachen, Zeichnen und Behandeln der Naturalien unterrichtet hatte. Und er war es, der ihn zu einem Organisten der Mission gemacht hatte.1043 Die Missionare fürchteten überdies einen Präzedenzfall zu schaffen für „Jungens und boshafte Glieder unserer Gemeine gegen uns Klagen ein[zu]geben und nach den Formalitäten des Gesetzes gegen ihre Lehrer und Wohlthäter Prozeße [zu] führen“. In diesem Zusammenhang verwies man auf einige Jungen, die die Missionsschule besucht hätten und davongelaufen seien oder von der Verwandtschaft weggeholt würden, sobald sie „auf Missions-Kosten“ Deutsch lesen, schreiben und sprechen gelernt hätten. Hieraus hätten die Missionare nun ihre Konsequenzen gezogen: „Wir nehmen zu diesem besonderen Unterricht keinen an ausser unter der Bedingung, daß er nach heranwachsenden Jahren erst zum Missions-Dienst sich brauchen lasse.“ Ansonsten bestünde die Gefahr, keine tüchtigen „Schulmeister, Catecheten und Landprediger mehr erziehen“ zu können. Dann sei man gezwungen, den Deutschunterricht einzustellen und nur noch „Malabarischen Unterricht“ anzubieten,1044 ein Vorschlag, den auch Direktor Schulze aus Halle den Missionaren – noch ausgeweitet auf andere europäische Sprachen – gemacht hatte, wie er 1798 in einem Brief dem Missionskollegium mitteilte, denn: „Es ist für die Mission kein Vortheil, daß die dort [= in Tranquebar, TD] zugezogenen jungen Leute sich so oft durch den Reiz eines bessern Gehalts bewegen laßen, andere Dienste anzunehmen“.1045 Die Mission konnte und wollte also – gerade angesichts knapper Mittel – nicht die Kosten für eine Ausbildung tragen, die dann anderen, außerhalb der Mission, zugutekam. Diese finanzielle Dimension zeigte sich auch gegenüber der Dänischen Kirche in Tranquebar. So beschwerte sich der Missionar John einmal mehr darüber, dass der Koloniepfarrer Fuglsang behauptet habe, die Europäer müssten sich an ihn und die Dänische Kirche und nicht an die Missionare halten. Die Missionare könnten zwar einige Tätigkeiten wie Taufen oder Hochzeiten übernehmen, hätten Fuglsang und der Kirche dafür aber die „Stolgebühren“ zu bezahlen.1046 Eigentlich ging es also um einen institutionellen Konkurrenzkampf zwischen pietistischer Mission und dänischer Kolonialkirche, deren Tätigkeitsbereiche nicht sauber abgegrenzt waren. Gerade Fuglsangs Beispiel widerspricht der These Nørgaards, dass die dänischen Pfarrer der Mission nie „entgegengearbeitet“ und sie immer unterstützt hätten.1047 Dies mag für andere Pfarrer

1043 Vgl. Missionare an Missionskollegium, 26.07.1798, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1044 Vgl. Missionare an Gouvernement, 30.10.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1045 Schulze an Missionskollegium, 25.01.1798, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. Vgl. hierzu auch Nørgaard, Mission, S. 200 f. 1046 Vgl. Missionare an Missionskollegium, 26.07.1798, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1047 Vgl. inkl. des Zitats Nørgaard, Mission, S. 176.

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gegolten haben, sicher jedoch nicht für Fuglsang – wie die vehementen Eingaben der Missionare gegen ihn bestätigen. Ihre Versuche, das Missionskollegium einzubeziehen, verweisen einmal mehr auf die weiterhin bestehenden Konkurrenzkämpfe zwischen Missionsjurisdiktion und derjenigen des Kommerzkollegiums beziehungsweise des Gouvernements. Die Probleme zwischen Kolonialkirche und DEHM sollten sich jedoch zunächst von selbst erledigen, denn als die Stelle des Koloniepfarrers für einige Zeit nicht besetzt war, schlug der Missionar Hagelund 1786 dem Gouvernement vor, die Mission doch mit der Kolonialgeistlichkeit zu vereinigen. Da in der Zwischenzeit bereits ein Pfarrer ernannt worden war, wurde die Idee zunächst noch nicht umgesetzt. Immerhin aber übernahm die Mission schon 1791/92 die Vertretung der Stelle und 1806 wurde eine Kommission eingesetzt, die sich mit der Idee auseinandersetzte, und grundsätzlich positiv beschied, da man hoffte mit der Zusammenlegung Gelder sparen zu können. Als eine Voraussetzung wurde jedoch die Unterstellung der dänischen Mission unter das Gouvernement betrachtet. Abgesehen von diesem letzten Punkt war auch die Mission nicht abgeneigt. Sie plädierte jedoch für eine Unterstellung unter das Missionskollegium. Letztlich erreichte man zumindest eine Gleichstellung der Missionare und Koloniepfarrer. Beiderlei Rang richtete sich nun nach der Anciennität, wie es die Missionare ja schon lange gefordert hatten.1048 V.4 Wirtschaft und Finanzen als Devianz in der Mission Die Konkurrenzkämpfe mit dem Koloniepfarrer wurden – wie so viele andere Devianzprobleme der DEHM und der Herrnhuter – durch die angespannte Finanzsituation noch verschärft, wenn nicht gar erst ausgelöst. Die einzelnen Missionsstützpunkte der Missionare der DEHM und der Brüdergemeine befanden sich zumeist in der Nähe von Madras und Kalkutta. Vor allem aufgrund der ausgedehnten Handelsaktivitäten und Geldgeschäfte der Briten, steigender Mieten und Grundstückspreise, aber auch einiger Kriege und schlechter Ernten waren es gerade diese kolonialen Zentren, die besonders von Preissteigerungen betroffen waren.1049 Demgemäß schrieb schon Christoph Samuel John 1784, es seien neben den genannten Faktoren insbesondere die 1048 Vgl. Nørgaard, Mission, S. 216–220. 1049 Vgl. zu Kalkutta etwa Peter Robb: Credit, Work and Race in 1790s Calcutta. Early Colonialism through a Contemporary European View, in: Indian Economic & Social History Review 37, 1 (2000), S. 1–25. Exemplarisch Gude an Knapp über die Inflation in Tranquebar und Madras, 27.01.1801, AFSt/M 4 E 5: 68; John an Freylinghausen, 18.10.1784, AFSt/M 1 B 75: 18 und in früheren Zeiten bereits Ziegenbalg an Gründler, Plütschau, 16.12.1713, ALMW/DHM 10/21: 52. Auch die Herrnhuter berichteten von der Teuerung. Zu Madras vgl. beispielsweise Reise der 2 Brr Urban und Beck von Tranquebar nach Bengalen vom 15. März bis 29. April 1784, Eintrag vom 19. März 1784, UAH R 15 Ta 10r.

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Engländer, „die alles theuer machen wo sie nur hinkommen“: Der Arbeitslohn steige anschließend wie auch die Preise für Geräte „und aller andern Nothwendigkeiten“.1050 Um die Mission zu erweitern oder auch nur aufrechtzuerhalten, waren immer höhere Geldsummen erforderlich: „ein Missionarius in Calcutta u Madras von seinem Salario nimmer mehr leben kan, wenn es auch verdreyfacht würde, er müsste denn Neben Einkünfte haben.“1051 Wie erwähnt führten solcherlei Diskussionen zu Umzugsüberlegungen nach Serampore. Die Gelder wurden einerseits für die Gehälter und Reiseaktivitäten benötigt, für die Missionare, ihre Familien, die Lehrer, Katecheten, Diener usf. andererseits aber auch für die Missionsgebäude, für Kirchen, Wohnhäuser, Schulen oder Waisenhäuser. Neben den vornehmlich aus Europa stammenden Spenden und Erbschaften erhielt die DEHM ihre Gelder und Sachspenden vom Missionskollegium und der SPCK. Die Londoner und Kopenhagener Zentralen zahlten allein die Missionarsgehälter, während sich die Schulen, die Missionsgebäude, die Gottesdienste, die Druckerei, das Almosenwesen und die einheimischen Mitarbeiter anderweitig finanzieren mussten. Dies konnte nur durch Spenden geschehen.1052 Anders als bei den deutschen Lutheranern in Nordamerika lassen sich in der DEHM keine Missionare finden, die bewusst, aus Glaubensgründen auf ein ‚irdisches‘ Gehalt verzichteten und allein von Gaben aus der Gemeinde lebten.1053 Europäische Zuwendungen wurden auf den Wasserweg nach Indien geschafft, wenn sie nicht unterwegs verloren gingen, wie 1791, als die transportierten „Geschenke“ für die Mission durch Seewasser beschädigt und deshalb bereits in Kapstadt – nach Meinung des Halleschen Direktors Schulze noch dazu zu einem zu niedrigen Preis – versteigert werden mussten.1054 Wenn die Sendungen ihr Ziel erreichten, gelangten sie zu einer zentralen Missionskasse und wurden anschließend an die einzelnen Stützpunkte weiterverteilt.1055 Heike Liebau konnte anhand von Missionsunterlagen nachweisen, dass die DEHM in den 1720er Jahren lediglich etwa 2.124 Reichstaler pro Jahr ausgegeben hatte, im Jahre 1780 waren es dann schon 9.000 Reichstaler. Die königlichen Zuwendungen betrugen nur 3.000 Reichstaler – dieser Fehlbetrag musste durch Spenden und andere Einnahmen ausgeglichen werden.1056 Dementsprechend prekär stellte sich die finanzielle Lage der Missionare oftmals dar, zumal gerade die europäische Spendenbereitschaft in der sogenannten Niedergangsphase der DEHM ungefähr ab den 1780er

1050 John an Missionskollegium, 20.02.1784, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792. 1051 John an Freylinghausen, 18.10.1784, AFSt/M 1 B 75: 18. 1052 Vgl. HB 107. Cont., Vorrede, S. 292. 1053 Vgl. zu solchen Fällen in Nordamerika Wellenreuther, Mühlenberg und die deutschen Lutheraner, S. 328 f. 1054 Vgl. inkl. des Zitats Schulze an Wadum, 28.07.1791, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792. 1055 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 155 f. 1056 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 157.

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Jahren deutlich abnahm. Es ist just diese Zeit, in der sich die diesbezüglichen Klagen der Missionare häufen, wobei es zuvor bereits genügend Beschwerden gegeben hatte. John berichtete beispielsweise 1784 von seiner Scham, wenn er von „einigen Reichen und Vornehmen“, die seine finanziellen Probleme bemerkt hatten, etwa weil er schmutzige Wäsche getragen hatte, „hier und da“ einige Artikel bekommen hatte, die ihm fehlten. Er würde als Christ und Pietist hingegen „viel lieber geben, als nehmen.“1057 Ganz ähnlich sind die Anmerkungen des Missionars Stegmann über seine Standesehre einzuordnen, die er aufgrund seiner Armut als gefährdet ansah. Die in seinem Falle vor allem materiell bestimmte Ehre war ihm demnach besonders wichtig, oder aber er hoffte, beim Missionskollegium mit dieser Kategorie einfach mehr erreichen zu können. So bat er das Kollegium zum Beispiel um gleich mehrere Gehaltsvorschüsse und begründete seine Bitte damit, dass er sonst „unverdienten, meinen Stand entehrenden drükenden Mangel ausgesetzt“ sein werde.1058 An anderer Stelle heißt es noch deutlicher, er „erröthe“ wenn er an seine Situation denke, er könne sie nicht mehr länger „verbergen“, da er nun zu „erschöpft“ sei, um „die Ehre meines Standes, und Nahmens aufrecht zu erhalten“.1059 Einmal mehr kommt hier ‚symbolische Kommunikation‘ oder das ‚symbolische Kapital der Ehre‘ im Sinne Bourdieus zum Tragen, das je nach Stand unterschiedlich verteilt war und soziale Distinktion gewährleistete.1060 Die finanzielle Mangelsituation reduzierte gewissermaßen Stegmanns Vorrat an Ehre, verringerte sein Prestige als studierter Theologe, Missionar und Professorensohn1061 gegenüber anderen in der kolonialen Gesellschaft (Europäern wie Einheimischen) und nahm ihm selbstverständlich Handlungsspielräume. Er glaubte sein Leben nicht mehr so führen, sich nicht mehr so repräsentieren zu können, wie es seinem Stand, seinem sozialen Rang und der Kolonialgesellschaft angemessen war.1062 Dies entspricht der von Durkheim beschriebenen „Deklassierung“1063 etwa in Wirtschaftskrisen, die zum ‚anomischen Selbstmord‘ führen könne und möglicherweise zu Stegmanns vermeintlicher Erkrankung beigetragen haben könnte. Es war gerade das ökonomische Kapital, das in der europäisch-kolonialen Gesellschaft mit den vielen nach Reichtum und sozialem Aufstieg strebenden Personen von 1057 John an Missionskollegium, 20.02.1784, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792. 1058 Stegmann an Missionskollegium, 14.09.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1059 Stegmann an Missionskollegium, 14.11.1797, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1060 Vgl. Boike Rehbein, Gernot Saalmann: Art. Kapital (capital), in: Gerhard Fröhlich, Boike Rehbein (Hg.): Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2009, S. 134–140, hier: S. 138. 1061 Bei Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1, S. 274 heißt es dementsprechend über den Landpfarrer: „Sein ganzes Standesbewußtsein hing geradezu an seiner akademischen Ausbildung.“ 1062 Vgl. zu den theoretischen Aspekten Münch, Lebensformen, S. 66. 1063 Durkheim, Selbstmord, S. 288.

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hervorragender Bedeutung war und deshalb noch stärker als in Europa selbst gesellschaftlich positiv oder negativ sanktioniert wurde. Hinzu kommt, ohne dass die Quellen explizit darauf verweisen, Stegmanns Zugehörigkeit zum Pietismus, der schon in Europa in einem „Anpassungsdilemma“1064 steckte und von so manchem Zeitgenossen sehr kritisch betrachtet wurde. Einerseits wollte der Pietist eine gewisse Distanz zur „Welt“ einhalten, auf der anderen Seite musste er sich mit dem „Weltmäßigen“ arrangieren, wollte er doch gesellschaftlich anerkannt werden.1065 Interessanterweise waren es hauptsächlich die beiden Missionare Stegmann und Früchtenicht, die ausdrücklich mit den Kategorien ‚Ehre‘ oder ‚Stand‘ argumentierten, während dies bei John eher implizit erfolgte. Abseits der unmittelbar ökonomischen hatte der Umstand des Geldmangels also auch eine soziale Dimension, die sich einerseits aus dem Status der Missionare andererseits aus ihrer pietistischen Frömmigkeit ergab. Bedenkt man diese Zusammenhänge verwundert es jedenfalls nicht, dass die Missionare einiges an Kreativität entwickelten oder entwickeln mussten, um die Beschwernisse zumindest ein wenig abzumildern. Während solches im Falle Früchtenichts oder Stegmanns insgesmt gesehen nicht gelang, fanden andere Missionare durchaus Wege des Umganges mit der Situation. Ein weitgehend anerkannter Lösungsweg konnte darin bestehen, Kinderbetreuung anzubieten. Dies ließ sich gut mit den Aufgaben eines Missionars verbinden. Schwartz etwa ließ seine Mitarbeiter von der englischen Ostindienkompanie bezahlen. Er selbst wirkte überdies als Garnisonspastor und erhielt dafür ein Gehalt.1066 Kritisch konnten solche Tätigkeiten jedoch gesehen werden, wenn sie nur den gut bezahlenden Europäern dienten, nicht aber den Einheimischen, die das eigentliche Missionsziel waren:1067 Wolte ich es mit Engl Kindern anfangen, so würde ich weit weniger Schwierigkeiten und mehr Vortheile finden. Dazu werde ich mich aber nicht leicht entschließen, weil wegen der Sprache die Verbindung mit Missions Kindern wegfallen müste, welche leztere mir doch am meisten am Herzen liegen.1068

Neben der Zielgruppe der Mission war ein weiteres wichtiges Kriterium, inwieweit die Tätigkeit von der eigentlichen Arbeit als Missionar ablenkte oder umgekehrt Synergieeffekte bot. So heißt es weiter bei John: Erst fiel ich auf die Naturkunde und Natural sondl Kräuter Samlungen, die hier sehr theuer bezahlt werden, um auch dadurch unser Diarium etwas fruchtbarer zu machen. Ich fieng an mit der Absicht nichts an meinem Amte zu versäumen. Allein ich fand solche Weitläu1064 1065 1066 1067 1068

Scharfe, Religion des Volkes, S. 52. Vgl. inkl. der Zitate Scharfe, Religion des Volkes, S. 50. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 164. Vgl. Nehring, Natur und Gnade, S. 232. John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24.

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figkeiten und Mangel an Hülfs Mitteln, dass ich fürchtete mein Amt würde leiden. Ich lies es also fahren.1069

Er dachte beim kommerziellen Sammeln (neben den dabei zu erzielenden Einnahmen) zunächst also auch an die Nutzbarkeit für das Füllen der Missionsberichte, bemerkte dann aber selbstkritisch, dass er Zeit für die Missionsarbeit verliere. Nichtsdestoweniger wurden das Sammeln und die Naturkunde später zu einer seiner Hauptbeschäftigungen, was durchaus für Kritik sorgte.1070 Berichtet und gesammelt wurden – nicht allein von John, sondern auch von Rottler, Kiernander und anderen – zahlreiche Kuriositäten aus Flora und Fauna. Sie sollten das Interesse des Lesers der Missionsberichte wecken und eine größere Leser- und damit Spenderschaft erschließen, zugleich aber als „geoffenbarte[n] Religion“1071 auch die Bewunderung für das Werk Gottes ausdrücken, und im Sinne der Physikotheologie geradezu als Gottesbeweis wirken. Die Natur ließ sich überdies als ‚Missionsstrategie‘ (Karsten Hommel) für die sonst so schwer erreichbaren höheren Kasten und als ‚Übersetzungsmedium‘ (Anne-Charlott Trepp) nutzen.1072 Wie bereits geschildert konnten die Missionare auf diese Weise zudem vor Ort Kontakte zu anderen Europäern, zu einheimischen Herrschern wie zu wissenschaftlichen Gesellschaften in Europa knüpfen1073 oder aber Förderern direkt einen Gefallen in Form eines Geschenkes tun und so für eine zusätzliche Bindung an die Mission sorgen.1074 Nicht zuletzt trug man überdies dem Umstand einer zunehmenden Verschiebung in der Leserschaft der Berichte weg vom Adel hin zum Bürgertum Rechnung.1075

1069 1070 1071 1072

John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24. Vgl. Nehring, Natur und Gnade, S. 228. John an GNF, 10.02.1797, Mf N, HBSB, GNF S, John, Ch. S. Vgl. Karsten Hommel: „Für solche [Theologen] wolle Gott seine Ost-Indische Kirche in Gnaden bewahren!“ Physikotheologie und Dänisch-Englisch-Hallesche Mission, in: Heike Liebau u. a. (Hg.): Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert, Halle 2010, S. 181–194. Zur frühen Mission vgl. Niklas Thode Jensen: Making it in Tranquebar: Science, Medicine and the Circulation of Knowledge in the Danish-Halle Mission, c. 1732–44, in: Esther Fihl, A. R. Venkatachalapathy (Hg.): Beyond Tranquebar: Grappling Across Cultural Borders in South India, Delhi 2014, S. 325–351. Zur späteren Mission vgl. Brigitte Hoppe: Von der Naturgeschichte zu den Naturwissenschaften – Die Dänisch-Halleschen Missionare als Naturforscher in Indien vom 18. bis 19. Jahrhundert, in: Heike Liebau u. a. (Hg.): Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert, Halle 2010, S. 141–167. Zum Übergang und zu den Änderungen vgl. Anne-Charlott Trepp: Von der Missionierung der Seelen zur Erforschung der Natur. Die Dänisch-Hallesche Südindienmission im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 36,2 (2010), S. 231–256, zum Übersetzungsmedium: S. 252–256. 1073 Vgl. Nehring, Natur und Gnade, S. 220 f. Vgl. zusammenfassend Karsten Hommel: Naturwissenschaftliche Forschungen, in: Heike Liebau (Hg.): Geliebtes Europa – Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission. Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 7. Mai – 3. Oktober 2006, Halle 2006, S. 163–179. 1074 Vgl. Ruhland, Pietistische Konkurrenz, S. 225, 228 f. und passim. 1075 Vgl. Gleixner, Expansive Frömmigkeit, S. 62 f. sowie Ruhland, Pietistische Konkurrenz, S. 239 f.

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Weitaus problematischer war es für die Mission, sich selbst als Händler zu betätigen und sich somit – wie John es ausdrückte – auf den „Abweg durch Kaufmannschaft“ zu begeben, um „sich vor dem Mangel zu schützen“. Dergleichen Exempel seien in der DEHM durchaus vorhanden.1076 Zur aufgewendeten Zeit und zu der Ablenkung von der Mission kamen hierbei manchmal moralische und rechtliche Probleme in den Blick: Der Missionar Benjamin Schultze soll beispielsweise illegalerweise und jeglichen pietistischen Moralvorstellungen widersprechend gar selbstgebrannten Alkohol vertrieben haben.1077 Früchtenicht und Kiernander sollen – wie gezeigt – ebenfalls mit Genever und Wein gehandelt haben. John selbst hatte in Tranquebar eine Kalkbrennerei aufgebaut, andere Missionare der DEHM hatten sich mit einer Webfabrik in Madras oder einer Kokosnussplantage in Vepery beschäftigt.1078 Der Missionar Gerlach hatte in Kalkutta einen Kalender zum Heiligen Land erstellt, gedruckt und in Subskription verkauft. Dabei seien 1.200 Rupien zusammengekommen, die eine gute Grundlage bildeten für die geplante Schulanstalt.1079 Eine andere Möglichkeit bestand darin, wie beschrieben, Naturfunde zu sammeln und dann lukrativ zu verkaufen.1080 Auf diese Weise konnte das Gehalt deutlich aufgebessert werden. Thomas Ruhland hat für die sich selbst versorgenden Herrnhuter ein durchschnittliches Jahreseinkommen von etwa 530 Reichstalern pro Person allein aus dem Naturalienhandel berechnet. Das gesamte Gehalt eines Missionars der DEHM lag demgegenüber bei lediglich 250–300 Reichstalern (je nach Familienstand) pro Jahr.1081 Der Hallesche Missionsarzt und Naturkundler Johann Gerhard König zeigte sich infolgedessen 1775 mit seinem regulären Gehalt in Tranquebar nicht zufrieden und wechselte in die Dienste des Nawab von Arcot, wo er 250 Reichstaler im Monat plus Spesen erhielt sowie die Möglichkeit zum Reisen und Forschungsliteratur. 1778 wurde König von der EIC als Naturhistoriker angestellt.1082 Naturkundliche Beschäftigungen blieben für die Missionare der DEHM immer eine Gratwanderung, konnten sie doch leicht in das eigentlich zu verurteilende Ansammeln von Reichtümern, kurzum in den Luxus, die Habgier oder in den Worten Johns formuliert in die „Sammelsucht“1083, ausarten. Hierfür griff John gegenüber dem 1076 Vgl. inkl. des Zitats John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24. 1077 Vgl. hierzu die Anmerkung bei Liebau, Mitarbeiter, S. 156, Anm. 49 und Nørgaard, Mission, S. 138 f. Vgl. Schultzes Verteidigung gegen diese Vorwürfe in Schultze an Francke, 21.01.1737, AFSt/M 2 G 15: 8. 1078 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 156, Anm. 48. 1079 Vgl. Gerlach an Freylinghausen, 10.02.1779, AFSt/M 1 B 69: 57. 1080 Vgl. z. B. über ein Schuppentier HB, 62. Cont., S. 366–374. 1081 Vgl. Thomas Ruhland: Zwischen Grassroots-Gelehrsamkeit und Kommerz. Der Naturalienhandel der Herrnhuter Südasienmission, in: Silke Förschler, Anne Mariss (Hg.): Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2017, S. 29–47, hier: S. 32. 1082 Vgl. Ruhland, Pietistische Konkurrenz, S. 212–215. 1083 John an Missionskollegium, 20.02.1784, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792.

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Missionskollegium in Kopenhagen seine Missionarskollegen Hüttemann und Kiernander sogar namentlich an. Beide würden lediglich versuchen, in Indien Geld zu machen, um später in Europa davon „ohne Amt bequem leben zu können.“ Er halte diesen „fast schon allgemeinen“ indisch-europäischen Gedanken für einen Missionar „jetzo noch für unschicklich“, obgleich er selbst schon genügend Gelegenheiten hierzu gehabt hätte – einmal mehr eine Anspielung auf die Nabob-Diskurse und die nach Indien strömenden ‚Glücksritter‘. John bleibe demgegenüber lieber bei der „anständigen Kinder Erziehung“.1084 Betrachtet man beispielsweise Kiernanders Vergangenheit und sein Verhalten in Indien, so erscheinen die Vorwürfe gegenüber seiner Person leichter erklärbar. Immerhin war der Schwede schon während seines Studiums in Uppsala einschlägig auffällig geworden: Er hatte in den 1730er Jahren Geld gefälscht und war dafür verurteilt worden.1085 Kiernander hielt sich insgesamt 59 Jahre in Indien auf, wurde 89 Jahre alt1086 und wäre somit Rekordhalter innerhalb der DEHM. Unter den Herrnhutern gab es ebenfalls niemanden, der ähnlich lange in Indien verweilt hätte. Von 1740 bis 1758 arbeitete der Schwede als Missionar im südindischen Cuddalore, bevor er, nachdem der Ort von den Franzosen eingenommen worden war,1087 über Tranquebar nach Kalkutta wechselte,1088 wo er sich bis zu seinem Bankrott im Jahre 1788 aufhielt. Er verstarb schließlich nach seiner Flucht ins niederländische Chinsurah 1799 in Kalkutta.1089 Als eigentlichen Grund schon für Kiernanders Flucht aus Cuddalore nahmen seine Kollegen eine massive Verschuldung an, die dazu geführt hätte, dass er sich habe verstecken müssen. Noch in Cuddalore hatte ihm sein Kollege Hüttemann die Verstrickung in Handelsgeschäfte vorgeworfen.1090 Dies findet Bestätigung in britischen, von der Mission unabhängigen Kaufmannsquellen, die Kiernanders Handel mit verschiedenen Sorten von Alkohol belegen.1091 Weiterhin ging es offenbar um vermeintlich manipulierte Missionsrechnungen und um die selbständige Erhöhung der Missionarsgehälter, die wohl auch Hüttemann betrafen1092 – all dieses verweist einmal mehr auf die insgesamt prekäre wirtschaftliche Situation der Missionare. Die Kritik führte zu

1084 John an Missionskollegium, 20.10.1784, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792. 1085 Vgl. Frédéric Elfver: En förfalskarhistoria från 1700-talets Uppsala, in: Svensk Numismatisk Tidskrift 1 (2006), S. 21. Ich danke Niklas Thode Jensen (Kopenhagen) für diesen Hinweis. 1086 Vgl. zu seinen Daten etwa die biographischen Angaben der Datenbank der Franckeschen Stiftungen unter http://192.124.243.55/cgi-bin/gkdb.pl. 1087 Vgl. zu den Umständen der Flucht das Tagebuch von Kiernander und Hüttemann, 02.01.1758-Mai 1758, AFSt/M 2 D 35: 5. 1088 Vgl. Missionare an Jäger, 25.09.1758, AFSt/M 1 B 48: 6. 1089 Vgl. die Biographie http://192.124.243.55/cgi-bin/gkdb.pl. 1090 Vgl. Hüttemann an Francke, 29.09.1752, AFSt/M 1 B 42: 51. 1091 Vgl. Stephen Conway: Britannia’s Auxiliaries. Continental Europeans and the British Empire, 1740–1800, Oxford 2017, S. 28 f. 1092 Vgl. Francke an Hüttemann, 06.01.1754, AFSt/M 1 B 42: 57.

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ernsten Ermahnungen aus der Zentrale durch Gotthilf August Francke an Kiernander selbst, aber auch an dessen Kollegen1093 und hielt noch bis zum Wegzug nach Kalkutta an,1094 obwohl sich Kiernander zwischenzeitig sogar einsichtig gezeigt hatte.1095 In Kalkutta setzten bald wieder Vorwürfe ein, die den sich auf Cuddalore beziehenden sehr ähnelten: Kiernander wurde wegen seines zusätzlichen Einkommens kritisiert,1096 später dann für seine hohen Schulden und den nahen Ruin, bis hin zum Verlust der erst durch seine Gewinne möglich gemachten Kirche, die seinem vorübergehenden Reichtum aus Geld- und Schmuggelgeschäften folgten.1097 Während die Kollegen anfangs noch annahmen (oder gerne annehmen wollten), die die Kirche finanzierenden Gelder stammten weitgehend von Kiernanders englischer Ehefrau aus reicheren Verhältnissen, schwante ihnen nach und nach, dass der Missionar doch wieder zu überaus volatilen Geldgeschäften übergegangen war. Schlimmer noch glaubten sie, er würde die Erträge aus seinem eigenwilligen Finanzgebaren nicht allein für die Mission, sondern für sein persönliches ‚Luxusleben‘ nutzen: Die Hallischen Freunde […] haben bis jetzo immer geglaubt, dass der Reichthum des Herrn Kiernanders von seiner Frau herkommen, welches nichts weniger als dieses ist, er es auch selbst gegen H. König gesagt, sondern seine Frau gibt nur den Namen dazu her. Von der Negotie hat er ihn nicht, denn er hat sich in Anfang kümmerlich in Bengalen behalten müssen. Der Krieg hat ihn dazu verholfen wie er gesagt, indem die Officier aller ihre Gelder bey ihm gegeben um sie in die Bank aus zu thun und die Fonds jährlich zu verneuern, da er denn von 100.5 Pf (?) gehabt und nach seiner eigenen Aussage in einem Jahr auch 30,000 Rup. dadurch verdienet hat. Er ist jetzo ein Mann von mehr den 8 Lack (Not: 1 Lack ist 100,000.) Rupie. Er zieht für Haus=Miethen, weil er die besten Häuser (Paläste) hat monathlich 1500 bis 2000 Rupie. Die Kirche und Missions=Haus (prächtige Gebäude) sollen ihn mehr den 130,000 Rup gekostet haben.1098

Die gewählten, gerade für einen Pietisten überaus kritischen Wörter „Paläste“ oder „prächtige Gebäude“ wie auch das genaue Benennen dieser für einen Missionar immens großen Summen deuten darauf hin, dass die Missionarskollegen ihn nun auch als ‚Nabob‘ wahrnahmen, der sich der vermeintlich moralisch niedrigen Stufe der unmäßigen und neureichen Engländer und anderer Europäer in Kalkutta gefährlich angenähert hatte. Sicherlich hatten zu den konkreten Problemen auch sein hohes Alter und

1093 Vgl. Francke an Kiernander, 18.12.1753, AFSt/M 1 B 42: 56a: Francke an Fabricius und Breithaupt, 30.01.1754, AFSt/M 1 B 42: 44. 1094 Vgl. Hüttemann an Albinius, 07.07.1756, AFSt/M 1 B 46: 26. 1095 Vgl. Kiernander an Francke, 15.10.1754, AFSt/M 1 B 44: 45. 1096 Vgl. Becker an Fabricius, 13.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 30. Vgl. exemplarisch die Kritik an Hüttemann in John an Freylinghausen, 06.07.1779, AFSt/M 1 B 69: 24. 1097 Vgl. Gröschl, Missionaries, S. 1508. Vgl. auch Nørgaard, Mission, S. 155. 1098 Becker an S. A. Fabricius, 13.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 30.

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ein gewisses Missmanagement seines Sohnes Robert William beigetragen.1099 Doch hieran lag es nicht allein: Nach Peter Robb waren komplexe und riskante Finanztransaktionen und -arrangements, wie die geschilderten Kiernanders, im Kalkutta dieser Zeit, „where there was an acute shortage of cash“, in der Tat sehr typisch.1100 Insofern hatte sich der Missionar lediglich angepasst an „die Englische Hauptstadt Calcutta“, wo, wie der Direktor der Franckeschen Stiftungen Schulze es 1785 gegenüber dem Kopenhagener Missionskollegium bereits ausdrückt hatte: der Luxus und alle Üppigkeit aufs höchste gestiegen, und wo die Theurung so groß sey, dass eine Mission gar zu viele Kosten erfordere (welche beyde Ursachen auch bisher gehindert haben, dass daselbst die Mission nicht in den Stand gesetzt werden können, als zu wünschen wäre […]).1101

Schulze leitete hieraus den geschilderten Gedanken ab, dass man doch lieber eine neue Missionsstation im nahegelegenen Serampore einrichten sollte, wo die Lebenshaltungskosten deutlich niedriger waren und man trotzdem von der Nähe zu Kalkutta hätte profitieren können. Schon vor Kiernanders Finanzproblemen im Kalkutta der späten 1780er Jahre hatten sich Ende der 1770er Jahre Gerüchte verdichtet, dass der in Madras ansässige Missionar Johann Philipp Fabricius (1711–1790) in massive finanzielle Schwierigkeiten geraten war. Da er zu diesem Zeitpunkt für die Finanzen der DEHM insgesamt verantwortlich zeichnete, waren diese Nachrichten für die übrigen Missionare von größter Bedeutung, ging es doch nicht allein um ihre ohnehin als zu gering erachteten Gehälter, sondern um die Handlungsfähigkeit der Mission insgesamt, die auf nach Indien gesendete Spenden und Erbschaften schlicht angewiesen war. Deshalb zeigten sich die Missionare höchst beunruhigt, als sie den ernüchternden Bericht der für eine Untersuchung beauftragten Kollegen Gericke und vor allem Schwartz hörten, der die Gerüchte, die keiner der Missionare hatte glauben wollen, weitgehend bestätigte:1102 Gericke und Schwartz können als die ‚grauen Eminenzen‘ der DEHM gelten, einerseits aufgrund ihrer langen Dienstzeit, ihres hohen Ansehens und ihrer in dieser Zeit gewonnenen guten Verbindungen insbesondere zu den Engländern, aber auch –

1099 Vgl. Dhrubajyoti Banerjea: European Calcutta. Images and Recollections of a Bygone Era, New Delhi u. a. 2008, S. 105. 1100 Vgl. Robb, Credit, Work and Race, S. 3f, 3 (Zitat). 1101 Schulze an Missionskollegium, 23.08.1785, AFSt/M 4 E 3: 5. 1102 Vgl. nur das entsetzte Schreiben Kohlhoff an Freylinghausen, 08.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 3: „Bey dem Hersagen dieser lieben Brüder [Gericke, Schwartz, TD] wurden wir erst völlig unterrichtet, in welches Labyrint Herr Fabricius in Madras selbst geraten und alle Missionen zugleich gestürtzet. Es war uns freilich ein und ander niederschlagende Nachricht schon vorher zu Ohren gekommen: allein wir konten und wolten dieselbe nicht völlig glauben. Nun aber erfuhren wir, dass nicht nur das was wir vorhin gehört, wahr, sondern noch furchterlichere Sachen passieret wären“.

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zumindest im Falle von Schwartz – zu einheimischen Herrschern,1103 andererseits weil sie immer wieder eingesetzt wurden, um Konflikte zu schlichten, wie Gericke im Falle Früchtenicht, und selbst kaum von Beanstandungen von Seiten der Kollegen betroffen waren, sich also weitgehend konform verhielten. Dem Bericht nach sei Fabricius „keine Pagode zu bezahlen in Stande“ und die Missionsgelder „so gut, als verlohren“.1104 Fabricius hatte – wie die Missionare verschiedentlich verächtlich schrieben – „auf Anraten der schwartzen Bedienten, des Canacappels1105 und des Catecheten“1106 unter anderem eine große Summe aus der Missionskasse an den Schwiegersohn von Muhammed Ali Wallajah, seinerzeit Nawab von Arcot, und „andere vornehme Schwartze ohne Ein königliche Hypotheque“1107 verliehen, „um nur dadurch Vortheile denen schwartzen Bedienten zu verschaffen.“1108 Er hatte also mit Geldern spekuliert, vermutlich um eigene Schulden auszugleichen. Interessanterweise sprachen die anderen Missionare, hier wie später, den „gewissenlosen“1109 Einheimischen und deren vermeintlichen Eigennutz einen großen Teil der Schuld zu – eine Sicht, die Fabricius selbst später zumindest für seinen Katecheten Curubadam bestritt und sich stattdessen die alleinige Schuld gab, um den Katecheten vor einem Ausschluss aus der Mission zu schützen.1110 Breithaupt, engster Kollege des Fabricius, verteidigte ihn, indem er darauf verwies, dass er, Breithaupt, nicht glaube, dass sein Kollege sich habe bereichern wollen, sondern dass er vielmehr versucht habe, mit neuen Geldgeschäften die älteren Verluste wieder auszugleichen. Fabricius sei vielmehr bestohlen worden.1111 Schwartz sprach zwar in seinem Bericht bestürzt davon, dass Fabricius zu einem „Geldwechsler“ und „Bankier“ geworden sei,1112 die Missionare fühlten sich dennoch verpflichtet vom „al-

1103 Vgl. zu Denkmalplänen für Schwartz Ubele an Schulze, 01.04.1799, AFSt/M 1 C 40a: 28; Sarfogee an SPCK, o. D., AFSt/M 1 C 43b: 3. Vgl. Heike Liebau: Serfoji II. und Vedanayakam Shastri, in: Dies. (Hg.): Geliebtes Europa – Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission. Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle 2006, Halle 2006, S. 157–159. Vgl. zu Gericke, dem die EIC in Fort St. George ein Denkmal setzen wollte, Falcke an Knapp, 01.08.1822, AFSt/M 1 C 64: 6. Vgl. Wilhelm Germann: Missionar Christian Friedrich Schwartz. Sein Leben und Wirken aus Briefen des Halleschen Missionsarchivs, Erlangen 1870. 1104 Missionare an Missionskollegium, 15.10.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 1105 Mit diesem Ausdruck ist ein Schreiber oder Buchhalter gemeint. Vgl. Brimnes, Constructing, S. 248. 1106 Kohlhoff an Freylinghausen, 08.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 3. 1107 Missionare an Missionskollegium, 15.10.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 1108 Kohlhoff an Freylinghausen, 08.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 3. 1109 Missionare an Fabricius, 05.08.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 1110 Vgl. Fabricius an Schulze, 05.10.1787, AFSt/M 1 C 29b: 28. Vgl. Klein an Schulze, 08.02.1788, AFSt/M 1 C 29b: 59. 1111 Vgl. die Zitate aus Briefen Breithaupts bei Germann, Fabricius, S. 243. 1112 Den Brief von Schwartz zitiert Wilhelm Germann: Johann Philipp Fabricius. Seine funfzigjährige Wirksamkeit im Tamulenlande und das Missionsleben des achtzehnten Jahrhunderts daheim und

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te[n], sonst treue[n] Hr. Missionair Fabricius“1113 zu sprechen oder entsetzt auszurufen: „O! in welches Labyrinth können auch redliche Gemüter kommen“.1114 Konkret ging es um die „Collecten Gelder aus Teutschland u England für alle Missionen“, die „Salarien für die englischen Missionairs“ und ein „große[s] Hallische[s] Legat“.1115 Unglücklicherweise war Cayordy Cawn, der besagte Schwiegersohn des Nawabs, mit dem Geld verschwunden und der Schwiegervater weigerte sich, für die Schulden seines inzwischen offenbar bei ihm in Ungnade gefallenen Schwiegersohns aufzukommen. Die Lage noch weiter verschärfend kam ein früherer Fall hinzu: Denn Fabricius hatte ebenso einem dem Nawab unterstehenden Landbesitzer eine beträchtliche Summe Geld geliehen, wofür er als Pfand ein Stück Land erhalten hatte. Als der Nawab nun Geld von dem Schuldner forderte, wurde auch diese Sache öffentlich bekannt.1116 Für die DHM bedeutete all dies einen beträchtlichen Schaden von 3.000 Pagoden – für den für die englischen Missionsteile tätigen Schwartz einen Verlust von allen für ihn bestimmten Geldern, inklusive seines eigenen Gehalts.1117 Nachdem sie von Gericke und Schwartz über die Umstände des Fabricius in Madras unterrichtet worden waren, wandten sich die Missionare am 5. August 1778 aus Tranquebar mit einem zutiefst vorwurfsvollen Schreiben („ernstlicher […], als noch nie geschehen“) direkt an Fabricius, der bisher auf ihre Anfragen nicht oder nur ausweichend oder beschwichtigend „mit einem Spruch aus der heil. Schrift“ reagiert hatte. Selbst seinem unmittelbaren „Special Collega“1118 Breithaupt, der ebenfalls vor Ort weilte, hatte er die Geldprobleme erfolgreich verheimlicht, „davon doch gleichsam alle Welt weiß und spricht“1119 – einmal mehr ein Hinweis auf die zumindest in Indien sich bereits im Umlauf befindlichen Gerüchte. Letzteres sorgte unter den Missionaren für besondere Sorgen, denn „da Familien in England u Teutschland [in diesen Fall, TD] impliciret sind“, „wird bey allen Ubelgesinneten ein großes Lästern entstehen über

1113 1114 1115 1116 1117 1118 1119

draußen nach handschriftlichen Quellen geschildert, Erlangen 1865, S. 234 (Zitate), 234 f. Germann behandelt den sich bis zum Tode des Missionars hinziehenden Fall hier ausführlich auf den Seiten 233–249. Missionare an Missionskollegium, 15.10.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. Klein an Freylinghausen, 15.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 18. Missionare an Missionskollegium, 15.10.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. Vgl. Germann, Fabricius, S. 234 f. Vgl. Missionare an Missionskollegium, 15.10.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. Missionare an Missionskollegium, 15.10.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. Missionare an Fabricius, 05.08.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. Vgl. Fabricius und Breithaupt an Freylinghausen, 11.10.1779, AFSt/M 1 B 70: 36. In diesem Schreiben wird die Schuldlosigkeit Breithaupts an der Finanzsache betont.

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alle Missionen u Missionarien.“1120 Eine solche sich auf Verschwendung wenn nicht gar Luxus beziehende Rufschädigung könnte dann für weiter sinkende Einnahmen der Mission sorgen. Um nicht noch weitere Gelder zu verlieren, schrieb der Missionar Kohlhoff einen Brief nach Halle mit der eindringlichen Bitte, keine Missionsgelder „für Tranquebar durch Assignation an Herrn Fabricius uns auszahlen zu lassen; sondern dagegen unsre Gelder lieber über Copenhagen uns zuzuführen; da wir am besten versichert seyn können, dass sie uns zu Händen kommen werden.“1121 Ähnliche Briefe erreichten die SPCK in London und das Missionskollegium in Kopenhagen.1122 Als Verbindungsmann in Madras sollte nunmehr Fabricius offenbar verlässlicherer Kollege Breithaupt dienen. Hinter den darin enthaltenen Aussagen stehen vor allem die Angst vor möglichen Pfändungen durch die Gläubiger von Fabricius sowie der grundsätzliche Zweifel an dessen finanzieller Vertrauenswürdigkeit. Da Fabricius ja dem englischen Zweig der Mission angehörte, stellte sich die Benachrichtigung der europäischen Zentralen im Nachhinein als problematisch heraus, denn zumindest Friedrich Wilhelm Pasche (1728–1792), zu diesem Zeitpunkt Lektor an der deutschen Hofkapelle in London, äußerte für die SPCK gegenüber dem Direktor Freylinghausen in Halle die Bitte, die Beschwerden über Fabricius dem Missionskollegium besser nicht mitzuteilen.1123 Die Benachrichtigung Kopenhagens war jedoch über die Missionare bereits geschehen und konnte somit nicht mehr verhindert werden. Dieser Umstand verweist auf die Problematik dreier, vergleichsweise weit voneinander entfernter Zentralen in Europa und, einmal mehr, auf die durch lange und nicht immer zuverlässige Wege erschwerte Kommunikation zwischen den Missionaren in Indien untereinander und mit den Zentralen in Europa. Hinzu kam, dass man jeweils auch eigene Interessen zu verfolgen hatte. Den Kommunikationsproblemen gemäß konnte eine Reaktion des Betroffenen, nämlich Fabricius selbst, der bereits geschriebenen und versiegelten Mitteilung an das Missionskollegium nur noch nachträglich beigefügt werden,1124 obwohl der Missionar darin noch eindringlich darum gebeten hatte, seine Umstände gar nicht erst in den europäischen Zentralen bekannt werden zu lassen. Doch auch dieses Schreiben, das Fabricius am 11. Oktober in Vepery bei Madras geschrieben hatte, und das die Missionare in Tranquebar aber erst am 16. desselben Monats erreicht hatte, teilte den Kollegen inhaltlich nur wenig Konkretes mit und be-

1120 Missionare an Missionskollegium, 15.10.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 1121 Vgl. Kohlhoff an Freylinghausen, 08.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 3. 1122 Vgl. den Hinweis in Missionare an Missionskollegium, 15.10.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 1123 Vgl. Freylinghausen an Missionare, 08.11.1779, AFSt/M 1 B 69: 92. 1124 Dies erwähnt der Missionar Klein ausdrücklich in einem vorangehenden Kommentar zu seiner Abschrift des Briefes von Fabricius. Vgl. Fabricius an Missionare, 11.10.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780 (Abschrift vom 16.10.1778).

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stätigte damit die von den Missionaren vorgetragenen Beschwerden über eine Hinhaltetaktik des Fabricius.1125 Insofern ist anzunehmen, dass die Missionarskollegen – auch wenn noch genug Zeit vorhanden gewesen wäre – die Zentralen trotzdem unterrichtet hätten. Es hätte zudem die Möglichkeit bestanden, den schon versiegelten Brief gar nicht mehr zu verschicken. Trotz aller Skepsis hatte Schwartz den Missionaren noch insofern ein wenig Hoffnung machen können, als dass er Verhandlungen mit dem sich zunächst als zugänglich erweisenden Sohn des Nawabs aufgenommen hatte. Diese schon von Schwartz selbst als gering angesehenen Hoffnungen – wie auch die Beteuerungen des verschuldeten Missionars, er werde seine Schulden noch zurückzahlen können1126 – zerstreuten sich schon bald. Anstatt dass sich die Lage des Fabricius verbesserte, verschlimmerte sie sich in den folgenden Jahren sogar noch: 1779 ging Fabricius in Konkurs, die Bekanntheit seines Falles hatte zu zusätzlichem Misstrauen unter seinen Gläubigern geführt, die nun verstärkt darauf drangen, ihr Geld zurückzuerhalten. Auch die Missionare entsendeten einen eigenen Vertreter, der ihre Interessen im Konkursverfahren vertreten sollte.1127 Fabricius wurde schließlich in Schuldhaft genommen, da er die inzwischen horrenden Zinsen nicht mehr bedienen konnte. Es wurde berichtet, dass er zwischenzeitlich 18 % Zinsen zu zahlen hatte. 1782 musste er dann aber doch wieder die Leitung der Mission übernehmen, da sein Kollege Breithaupt inzwischen verstorben war.1128 Der grundsätzliche Personalmangel der Mission kam auch hier zum Tragen. Doch schon 1788 wurde er abermals für kurze Zeit inhaftiert – im Gegensatz zu ihm selbst gaben die übrigen Missionare einmal mehr seinen einheimischen Mitarbeitern die Hauptschuld an den neuerlichen Schulden.1129 Da sich sein Alter vor allem in Form eines nachlassenden Gedächtnisses immer stärker bemerkbar machte, übergab er die Missionsleitung in Vepery/Madras an seinen Kollegen Gericke. Bevor Fabricius jedoch Madras verlassen konnte, wurde er, aufgrund seiner erneuten Zahlungsunfähigkeit, zum dritten Male inhaftiert und blieb für weitere zwei Jahre im Gefängnis. Während es im Falle Kiernanders vor allem aufgrund seiner Vorgeschichte in Europa und Cuddalore und der Begleitumstände für den Fall in Kalkutta sehr wahrscheinlich ist, dass die durch seine Kollegen sehr konkret geäußerten Vorwürfe, zumindest einen wahren Kern hatten, ist der Fall des Fabricius etwas komplexer. Er war deutlich höher angesehen bei seinen Kollegen als Kiernander. Dementsprechend groß scheint deren Schock ob der Probleme gewesen zu sein. Niemand warf Fabricius – im Un1125 Vgl. Fabricius an Missionare, 11.10.1778, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780 (Abschrift vom 16.10.1778 durch Missionar Klein). 1126 Vgl. etwa J. P. Fabricius an S. A. Fabricius, 11.07.1787, AFSt/M 1 C 29b: 21. 1127 Vgl. Missionare an Missionskollegium, 15.10.1779, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. 1128 Vgl. Germann, Fabricius, S. 242. 1129 Vgl. Klein an Schulze, 08.02.1788, AFSt/M 1 C 29b: 59.

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terschied zu Kiernander – ein angestrebtes Luxusleben, Verschwendungssucht oder persönliche Bereicherung vor. Es scheint, als habe Fabricius die Gewinne allein für die Mission einsetzen wollen – zumindest nicht für die eigene Person. Damit würde er zu denjenigen Missionaren gehören, die Jon Miller bei der Basler Mission als „strategic deviants“1130 bezeichnet, deren Dilemma Miller folgendermaßen formuliert: „The creative problem-solvers who were strategically essential for the Mission’s survival and progress were frequently, almost by definition, norm breakers.“1131 Andere Missionare, die nebenbei Handel betrieben, fielen ebenfalls in diese Kategorie. Solches galt ebenso für jesuitische Indienmissionare des 18. Jahrhunderts, deren weltweite Handelsaktivitäten allerdings weit größere Dimensionen annahmen als diejenigen der DEHM.1132 Die Missionare hatten sich mit ihrem Tun schlicht auf die schwierigen Umstände vor Ort eingestellt und die Mission war angewiesen auf ihr deviantes Verhalten. Sie hatte zeitweise, etwa beim Kirchbau, von Kiernanders Einnahmen massiv profitiert, zur Kritik ging sie zumeist erst über, wenn die Versuche gescheitert waren oder überhand nahmen. Der relativ milde Umgang mit Kiernander mag mit dem Respekt vor seinem Alter genauso zu tun gehabt haben wie mit seinen guten Kontakten zum englischen Gouvernement in Bengalen und dem Bewusstsein, dass die – zumindest zeitweilig – offensichtlichen Leistungen Kiernanders in Kalkutta ohne sein ‚Fehlverhalten‘ höchstwahrscheinlich gar nicht erst möglich gewesen wären. Weiterhin wäre zu spekulieren, dass er vermutlich eine ähnliche Verehrung erfahren hätte, wie seine südindischen Kollegen Schwartz und Gericke, wenn seine Finanzgeschäfte nicht solch ein unglückliches Ende genommen hätten und er es nicht so übertrieben hätte, wie offenbar auch schon in Cuddalore. V.5 Missionsmethode: Die lokale Bevölkerung, Devianz und Norm Wohl und Wehe der Mission war nicht allein von wirtschaftlichen Faktoren abhängig, sondern in vielerlei Hinsicht zudem vom Kontakt zur einheimischen Bevölkerung: Dies betraf zuvörderst die potenziellen Konvertiten als ‚Zielobjekte‘ der Mission, dann die bereits konvertierten Missionschristen und die einheimischen Mitarbeiter und Katecheten, aber auch die Verbindungen zu den möglicherweise für die Missionsarbeit nützlichen, nicht aber in jedem Fall notwendigerweise zu missionierenden einheimischen dubashs, Informanten, Sammlern, Schreibern oder indigenen Herrschern, auf deren Gunst, Zuarbeit oder Einfluss die Missionare angewiesen waren, um ihre missi-

1130 Miller, Missionary Zeal, S. 151. Vgl. zur Anwendung auf die DEHM Delfs, ‚What shall become‘. 1131 Miller, Missionary Zeal, S. 128 (Hervorhebung im Original). 1132 Vgl. Lederle, Mission und Ökonomie der Jesuiten, S. 211.

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onarischen Tätigkeiten überhaupt ausführen zu können und die somit in eine Mittlerposition gelangt waren.1133 Hermann Wellenreuther hat richtigerweise einen Zusammenhang hergestellt zwischen Ausbildung und Theologie der Missionare auf der einen Seite und Missionsmethode auf der anderen Seite: Die Herrnhuter Missionare hatten demnach zumeist nicht studiert, waren nicht „im Sinne der etablierten protestantischen Landeskirchen“ ordiniert, sondern entstammten häufig dem Handwerk. Sie besaßen eine tiefe persönliche Religiosität, die sie zur Mission trieb, waren aber zumeist theologische Laien. Demgegenüber waren die Missionare der DEHM – wie bereits erwähnt – fast immer studierte und ordinierte pietistisch-lutherische Theologen und Akademiker, die nach Wellenreuther vornehmlich auf „Abgrenzung und Erhaltung ihrer Amtswürde und ihres Amtsverständnisses bedacht“ waren. In ihrer Missionsmethodik führte dies dazu, dass sie sich weitgehend auf Tätigkeiten in ihrer Missionsstation wie Unterricht, Predigen und Wissenschaft beschränkten und die eigentliche Mission auf dem Land an die zumeist einheimischen Landprediger, Katecheten und Gehilfen delegierten. Als Theologen waren die Missionare der DEHM der Meinung, dass die Bekehrung nicht spontan, sondern über den Bußkampf und einen systematischen Unterricht zu erfolgen hatte. Die Herrnhuter lebten und arbeiteten mit und mitten unter den Einheimischen, wie Beck ursprünglich in seiner Tischlerei, standen also in ungleich engerer Verbindung zu ihnen. In der Brüdergemeine konnte die Bekehrung zudem spontan erfolgen, wenn die Schilderung für den jeweiligen Missionar nur glaubhaft genug war.1134 Dies bedeutete jedoch nicht, dass gar keine Unterweisung erfolgte. Sie fand improvisiert nebenher im Einzelgespräch statt, nicht über das öffentliche Predigen, war also weniger auf das Erreichen von Massen ausgerichtet und weniger systematisch als die schulisch orientierte Ausbildung in der DEHM.1135 Und dennoch wurde auch die DEHM in Europa noch um 1804 offenbar dafür kritisiert, Einheimische mit „blos […] irdischen Absichten“ „ohne weiteres“ zu Christen zu machen, „ohne auf Redlichkeit Rücksicht zu nehmen“.1136 Die Ausbildung ging so manchem Kritiker also nicht weit genug. Andere Kritikpunkte betrafen die Unterrichtsinhalte oder die vermeintlich zu starken wissenschaftlichen Beschäftigungen der Missionare. Die Missionsmethode war also schon auf das engste mit bestimmten, zuweilen umstrittenen Normen und Erwartungen verknüpft, die immer wieder unter Rechtfertigungsdruck gesetzt wur1133 Vgl. auch Liebau, Mitarbeiter, S. 121. 1134 Vgl. inkl. der Zitate Wellenreuther, Pietismus und Mission, S. 170 f. 1135 So berichteten die Diarien der Herrnhuter von einem Jungen, der Christ werden wollte, und den man nun unterrichtete. Vgl. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 06. April 1784. Vgl. zur Missionstheologie und -methodik der Herrnhuter Henning Wrogemann: Interkulturelle Theologie und Hermeneutik: Grundfragen, aktuelle Beispiele, theoretische Perspektiven, Gütersloh 2012, dort Abschnitte III.2.1 und III.2.2. 1136 Schreyvogel, „Fortsetzung meines Reisediariums“, 1804, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1800–1808.

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den, denkt man etwa an die in den Missionsberichten publizierten Jahreslisten, in denen die betreuten Schulkinder, die getauften Einheimischen u. a verzeichnet waren. Diese Listen spiegeln den von außen auf die Missionare ausgeübten Druck wider, der sicher ‚unsauberes‘ Missionieren begünstigte. Solch einem Stress waren die Herrnhuter jedenfalls nicht in gleichem Maße ausgesetzt. Dennoch findet sich auch bei ihnen – zumindest nachträglich – Kritik an nicht ausreichender Missionstätigkeit. So schrieb Römer über den ja in der Tat zunehmend resignierenden Herrnhuter Grasmann in Bengalen, es scheine, als habe dieser „den Gedanken, den Heiden das Evangelium zu predigen, ganz aufgegeben“.1137 Die beiden methodischen Zugänge wurden überdies durch die Praxis vor Ort geprägt und im Laufe der Zeit an die spezifischen Gegebenheiten angepasst. Hierbei spielten einerseits die missionsstrategische, aus eigenen Einsichten und persönlichen Interessen oder aus schlichten Zwängen geborene Berücksichtigung einheimischer Sitten und Gewohnheiten, andererseits die durch Europäer ausgelösten äußeren Umstände für die Mission eine Rolle. Zu Ersterem gehörte das Erlernen der einheimischen Sprache oder zumindest als Minimalanforderung des Englischen und/oder vor allem des Portugiesischen als lingua franca.1138 Das Erlernen von Fremdsprachen wurde – wie zuvor schon mehrfach an prominenter Stelle1139 – in der Instruktion der DEHM für angehende Missionare aus dem Jahre 1798 ausdrücklich erwähnt und stand insgesamt gesehen an vorderster Stelle in den Anforderungen an die Missionare.1140 Sprachen wurden unter anderem als „Hülfs=Mittel“ für ‚wörtliche wie kulturelle Übersetzungen‘ begriffen, die dazu dienten, „die Heyden ihres Irthums zu überführen und ihnen das Evangelium von CHristo zu verkündigen.“1141 Sicherlich förderte die Verständigung über die lokale Sprache das Vertrauen der Einheimischen zu den Missionaren1142 – ein Gesichtspunkt, der die Vorteile der Mission durch einheimische Mitarbeiter erhellt.1143 Entsprechend den jeweiligen Erfordernissen mussten Sprachkenntnisse angepasst werden. Das Erlernen einer Sprache während der Überfahrt (Kap. II.4) reichte zu-

1137 Römer, Brüdermission, S. 64. 1138 Vgl. zur Einrichtung einer Mission in Serampore und die erforderlichen Sprachkenntnisse: Missionare an Missionskollegium, 22.03.1787, AFSt/M 1 C 29b: 12. Dort heißt es, die portugiesische Sprache sei „zu dem Anfange der Mission in Bengalen gar reichend“. 1139 Vgl. nur HB, 7. Cont., Vorrede. 1140 Vgl. Instruction für einen angehenden Missionarium zu Trankenbar, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1793–1799, 1798. 1141 HB, 7. Cont., Vorrede. 1142 Vgl. zu diesem Aspekt Daniel Jeyaraj: Missionsalltag, in: Heike Liebau (Hg): Geliebtes Europa – Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission, Halle 2006, S. 76–88, hier: S. 77. 1143 Vgl. Heike Liebau: Reisen im Missionsalltag, in: Dies. (Hg.): Geliebtes Europa – Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission, Halle 2006, S. 94.

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meist nicht aus. So erhielten die 1784 gerade in Serampore eingetroffenen Herrnhuter Missionare Beck und Urban zwar beide Englischunterricht – wohl vornehmlich zur Erleichterung der Kommunikation mit den einflussreichen Engländern rund um das englische Kolonialzentrum Kalkutta. Daneben bekam Beck unmittelbar nach seiner Ankunft aber auch Lektionen in Bengali, da er als Missionar für Serampore vorgesehen war, während sein für Patna bestimmter Kollege im in dieser Region hilfreicheren Hindi unterrichtet wurde.1144 Manchmal entschied sich erst in Indien, an welchen Ort die Missionare dort geschickt wurden. Insofern war auch hier Flexibilität erforderlich. Sprachunterricht wurde in Indien entweder von erfahrenen Missionaren unter Zuhilfenahme zuweilen selbsterstellter (oder wohl eher mit Unterstützung indigener Informanten und Schreibern ausgearbeiteter) Hilfsmittel wie Grammatiken, Wörterbüchern o. ä. oder aber direkt von Einheimischen übernommen,1145 wobei sich letzteres aus Sicht der Missionare als sinnvoller erwies. Hierauf rekurrierte der Herrnhuter Grasmann 1789 gegenüber seinem Oberen aus Serampore: „Ich habe in der Sprache des Landes so viel vorgearbeitet, daß Brüder selbige mit wenig Hülfe eines Sprachmeisters, den jeder doch zu Anfang haben muß, leichter u. viel geschwinder erlernen können, als bey mir geschehen.“1146 Das Selbststudium an Bord eines Schiffes während der Passage nach Indien reichte nicht aus. Auch Direktor Schulze vermeldete 1792 aus Halle, dass insbesondere die Aussprache viel Übung erfordere, so dass es von den Missionaren vorgezogen werde, von einem Schulmeister oder Brahmanen vor Ort unterrichtet zu werden.1147 Nicht zuletzt stand dahinter die Angst, sich und damit die Mission und letztlich den Glauben gegenüber den ‚Heiden‘ über falsche Aussprache und andere Fehler lächerlich zu machen und so die Überzeugungskraft zu nehmen – ein Vorwurf, der vor allem von dem katholischen Missionar Abbé Dubois hinsichtlich der von ihm somit als sinnlos hingestellten Bibelübersetzungen vorgebracht worden war.1148 Die Bedeutung der Sprache für die Verkündigung und insbesondere die Predigt unterstrich Schreyvogel (DEHM), der 1806 an den Sekretär des Missionskollegiums berichtete, er habe bisher insgesamt zwölfmal gepredigt, davon achtmal auf Portugie1144 Vgl. UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 27. April 1784. 1145 Vgl. Heike Liebau: Buchdruck und Übersetzung, in: Dies. (Hg.): Geliebtes Europa – Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission, Halle 2006, S. 102–104, hier: 102. Der Missionar Früchtenicht etwa wurde zunächst von dem Katecheten Schawrirajen in Tamil unterrichtet. Vgl. Missionare an Missionskollegium, 06.08.1800, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission 1738–1808, 1800. 1146 Grasmann an Reichel, 05.11.1789, UAH R 15 Tb 9 Nr. 60. 1147 Schulze an Hee Wadum, 27.08.1792, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792. 1148 Vgl. etwa seine Antwort auf einen Artikel im Friend of India aus Serampore, der ihn selbst massiv kritisierte in The Asiatic Journal and Monthly Register for British and its Dependencies, Vol. XIX (1825), S. 764–766.

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sisch und viermal auf „malabr.“, also in einer südindischen Sprache, vermutlich in Tamil. Während er die „malabarische“ noch habe ablesen müssen, predige Schreyvogel die portugiesische nun vollkommen frei, das heißt ohne die Predigt ablesen zu müssen oder auswendig gelernt zu haben. Nicht ohne Stolz ergänzte der Missionar, dass die einheimischen Kinder seiner Predigt, „ohne meine Erinnerung mit Aufmerksamkeit zuhören.“1149 Er glaubte seine ‚Zielgruppe‘ also zu erreichen. Schreyvogel verwies jedoch nicht allein auf das mündliche, sondern auch das schriftliche Wort und damit indirekt auf die sowohl mit der DEHM als auch der Herrnhuter Mission, aber auch den Katholiken verbundenen Übersetzungen und den Druck christlicher Bücher: Seiner Meinung nach sei es generell ein Fehler gewesen, dass man die Bibel und andere Werke in „hoch Portugiesisch“ übersetzt habe, denn dieses könne der „gemeine Mann“ nur mit Schwierigkeiten verstehen. „[U]nd ein Buch fürs Volk“, so der Missionar ganz im Sinne Martin Luthers weiter, „sollte doch wohl so geschrieben seyn, daß es leicht zu verstehen ist.“1150 Dahinter steht zudem ein zentraler pietistischer Wert, nämlich derjenige Speners, der von jedem Christen einforderte, er solle die ganze Bibel lesen.1151 Die immense Bedeutung von Sprachkenntnissen zeigte sich auch an anderer Stelle, nämlich bezüglich missionarischen ‚Fehlverhaltens‘, denn: Immer wieder wurde einzelnen Missionaren vorgeworfen, sie würden sich nicht ausreichend um den entsprechenden Unterricht für sie selbst bemühen. Solches galt etwa für Stegmann,1152 für Früchtenicht, Päzold und Holzberg,1153 für Diemer1154 oder für Gerlach.1155 Während den einen in Person von Stegmann und Gerlach Unvermögen vorgehalten wurde, ging es bei den anderen um den Vorwurf der Faulheit oder der Sturheit oder der schlichten Weigerung, sich den Sprachen zu widmen. Wie gesehen war es im Falle Früchtenichts der für ihn zuständige Katechet, der sich aufgrund von dessen Verhalten geweigert hatte, den Missionar weiter zu unterrichten.1156 Praktische Folgen ausbleibenden Sprachunterrichts bestanden in der konkreten Behinderung der Mission, weil die Hauptzielgruppe nicht oder allenfalls begrenzt erreicht werden konnte. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Mission der DEHM um Kiernander in Kalkutta. Die wenigen überhaupt vorhandenen Missionare besaßen nicht die erforderlichen lokalen Sprachkenntnisse und kümmerten sich hauptsächlich um die Engländer 1149 Vgl. inkl. der Zitate Schreyvogel an Gude, 02.02.1806, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1800–1808. 1150 Schreyvogel an Gude, 02.02.1806, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1800–1808. 1151 Vgl. hierzu Johannes Wallmann: Pietismus-Studien, Tübingen 2008, S. 225. Vgl. speziell zur Mission Liebau, Buchdruck und Übersetzung, S. 102 f. 1152 Vgl. Missionare an Missionskollegium, 24.01.1797, ALMW/DHM 12/26b: 1b. 1153 Vgl. John an Knapp, 27.03.1800, AFSt/M 1 C 41: 94. 1154 Vgl. R. W. Kiernander an Halling, 09.12.1778, AFSt/M 1 B 69: 52. 1155 Vgl. John an Freylinghausen, 10.10.1778, AFSt/M 1 B 69: 24. 1156 Vgl. Missionare an Missionskollegium, 06.08.1800, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission 1738–1808, 1800.

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und europäische Kinder. Deshalb forderte man Unterstützung mittels neuer Missionare und Schulmeister aus Südenindien oder aus Europa, „the more as Brother Diemer thinks he hath work enough with the English congregation and will not apply himself to learn the Portugueez language.“1157 Dies war umso schwerwiegender, als es gerade das Portugiesische war, das aufgrund der anzunehmenden Lateinkenntnisse der Missionare als vergleichsweise leicht zu erlernen galt, während man für die Fähigkeit in einer Landessprache zu predigen mindestens sechs Monate veranschlagte.1158 Der zweite Aspekt, nämlich die durch die Europäer beeinflussten äußeren Umstände der Mission, wurde verschiedentlich bereits angesprochen und betraf etwa die Rechtsprechung über die Missionschristen, institutionelle Konflikte oder die generelle Einstellung der Obrigkeit, einzelner Europäer oder Institutionen zur Mission. Wie schon gezeigt lernten auch die Einheimischen in den Missionsschulen europäische Sprachen. Als problematisch erwies sich hierbei, dass die Kenntnisse, sobald ausreichend erworben, dazu führten, dass die eigentlich zur Mitarbeit in der Mission vorgesehenen Christen der Mission durch andere Europäer, bei denen sie mehr verdienen konnten, abspenstig gemacht wurden. Dieses Problem wurde ja im Falle des Jungen Friedrich deutlich. Nicht zuletzt mit dieser Ausbildung und Erziehung trugen Missionare zur „Festigung kolonialer Herrschaft“ bei.1159 Aus Sicht des Missionars John (DEHM) habe die Erfahrung überdies gelehrt, dass „einige der Hoffnungsvollsten Jünglinge verdorben worden, sobald sie Dubashen [in Diensten der Europäer, TD] geworden“.1160 Der Übertritt hatte aus Sicht der Mission also moralisch negative Auswirkungen. Dies beschreibt eine von den Einheimischen ausgehende oder ihnen zumindest von den Missionaren zugeschriebene Dimension normativer Art, waren doch die meisten Missionschristen in europäischen Haushalten oder Institutionen tätig. Somit hatten sie tiefere Einblicke in das Verhalten der Europäer außerhalb der Mission und bestätigten weitgehend die ebenso von nichtchristlichen Einheimischen, aber auch Europäern vorgebrachten Vorwürfe und Vorurteile gegenüber dem moralischen Verhalten der hauptsächlich als Christen definierten Europäer insgesamt, das offenbar auch Auswirkungen auf die Missionschristen hatte. So hieß es 1797 von Seiten der Missionschristen beispielsweise, dass die Europäer ein Vorbild für den „schlechten Wandel“ ihrer indigenen Mitarbeiter abgeben würden. Denn wenn letztere zur Kirche in den Gottesdienst gehen wollten, hätten ihre europäischen und ebenfalls christlichen Dienstherren verlauten lassen, sie selbst gingen doch ebenfalls nicht. Unter anderem damit verleiteten die Europäer ihre Mitarbeiter – aus Sicht der Missionschristen und

1157 R. W. Kiernander an Halling, 09.12.1778, AFSt/M 1 B 69: 52. 1158 Vgl. Schulze an Hee Wadum, 27.08.1792, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792. 1159 Häberlein, Kulturelle Vermittler, S. 182. 1160 John an Missionskollegium, 23.01.1790, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792.

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der Missionare – jedoch „zu versäumen die Kirche“, „zu verachten die Priester“ und die Katecheten und „zu saufen, zu huren u. zu anderen Unordnungen“. Mehr noch: „u. thun sie solches auch öffentlich“. Die Priester und Katecheten könnten ermahnen so viel sie wollten, „unsere Herren die wir dienen, sind auf unsere Parthey, wir können machen, was wir wollen, auf diese Art ist auch die Gemeinde sehr erbärmlich.“1161 Diese von den Missionschristen vorgebrachte Argumentation, die ihrerseits unbestreitbar missionarischen Einflüssen unterlag und über letztere dem Missionskollegium kundgetan wurde, lässt sich verschiedentlich begründen: Zunächst hatte sie sicherlich einen wahren Kern, der sich in verschiedensten Quellen nachvollziehen lässt und der ja Thema dieser Arbeit ist. Daneben diente sie aber sicherlich der Verteidigung gegen die zu dieser Zeit vorhandene Kritik aus europäischen Kreisen an den „moralischen“ Zuständen in der Mission.1162 Der unmittelbare Zusammenhang der Quelle verweist überdies auf den Kampf der DEHM um ihre eigenen Befugnisse, die man – wie gezeigt – schlicht nicht gewillt war, anderen Institutionen oder Entscheidungsträgern außerhalb der Mission zu überlassen, sei es den Gerichten, dem Gouvernement oder der dänischen Staatskirche.1163 Noch darüber hinaus konnte der Befund als Argument für mehr Mission genutzt werden, da die Einheimischen insgesamt – von einer solchen missionarischen Warte aus gesprochen – offensichtlich allein nicht in der Lage waren, sich gegen das Fehlverhalten ihrer europäischen Dienstherren zu verteidigen. Sie konnten somit als schutzbedürftig gegen die übrigen Europäer dargestellt werden, während es zugleich als nötig erscheinen konnte, dass eine ‚innere Mission‘ stattzufinden habe, die sich um die ‚verdorbenen‘ Europäer selbst zu kümmern hätte. Nicht nur unter Europäern und Missionschristen gab es Devianz. Auch einheimische Mitarbeiter der Mission waren hiervon betroffen – insbesondere Trunkenheit scheint ein Problem gewesen zu sein: Schon in den 1750er Jahren warfen die Missionare der DEHM ihrem Katecheten Rayanayakkan Trunksucht und, wohl damit zusammenhängend, Verschuldung vor.1164 Zwischen dem Missionar Klein und Direktor Schulze in Halle entspann sich in den 1780er Jahren ein Briefwechsel über die generelle Unbrauchbarkeit der Katecheten durch deren Trunkenheit. Insbesondere das Beispiel Sattinaden wurde dabei angesprochen, der – bevor er die Mission verließ – noch zum Landprediger ordiniert worden war.1165 Zeitgleich wurde die Verschuldungssache des Fabricius diskutiert und dabei – wohl unberechtigterweise – insbesondere dessen Ka1161 Unbekannt an Missionare, nicht datiert, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. 1162 Vgl. John an Missionskollegium, 23.01.1790, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792. 1163 Zu diesem Feld vgl. umfassend Nørgaard, Mission und Obrigkeit. 1164 Vgl. Missionare an Francke, 15.01.1753, AFSt/M 1 B 42: 7 und Klein an Francke, 16.10.1758, AFSt/M 1 B 48: 11. 1165 Vgl. Schulze an Klein, 19.12.1786, AFSt/M 1 C 26: 78 sowie Klein an Schulze, 02.02.1788, AFSt/M 1 C 29b: 68.

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techeten Curubadam die Schuld an der Finanzmisere des Missionars gegeben. Letzteres hatte Fabricius jedoch bestritten und die alleinige Schuld auf sich genommen, bevor Curubadam entlassen werden konnte.1166 Gerade dieses aus Kapitel V.4 bekannte Beispiel zeigt, dass die Missionare ihre einheimischen Mitarbeiter durchaus auch achteten. Demgemäß wurden einheimische Mitarbeiter mit Erbschaften von Missionaren bedacht – so etwa der Katechet David, dem Gericke in seinem Testament anerkennend bescheinigte, „der Mission, meiner Familie und Freunden“ „viel Gutes“ „erwiesen“ zu haben und der sich „viele Mühe gegeben hat“ „mit der Auswahl derer, welche bey mir Beyhilfe suchten“. Als Zeichen seiner Wertschätzung vermachte der Missionar dem Katecheten fünfzig Pagoden sowie ein Haus in Vepery auf Lebenszeit.1167 Der Alltag der Mission war durchzogen von einem „strenge[n] System von Disziplin und Gehorsam“,1168 das mit harten Strafen sanktioniert werden konnte. Im Unterschied zu den Missionaren selbst, die zwar vor Ort auch auf einige Institutionen wie die von den europäischen Missionaren selbst gebildete Missionarskonferenz und das Gouvernement zurückgreifen konnten, sich aber bei größeren Vergehen stets mit den eigenen europäischen Gremien und vor allem dem Missionskollegium auseinandersetzen zu hatten, waren die weisungsgebundenen und berichtspflichtigen einheimischen Mitarbeiter und die Missionschristen direkten Sanktionsmechanismen ausgesetzt. Während es unter den Missionaren und europäischen Mitarbeitern zumeist bei Ermahnungen blieb, wurden einheimische Mitarbeiter und Missionschristen – je nach Missionar und Tat – durchaus härter bestraft. Dies entspricht dem sich auf Europa beziehenden „Befund, dass frühneuzeitliche Gemeinschaften abweichendes Verhalten von Fremden anders beurteilten als das von eigenen Mitgliedern und die Gerichte hier auch sehr unterschiedlich urteilten.“1169 Aufsteigend begann es in der Mission mit Appellen und Ermahnungen, ging über zu öffentlichen Bußbekundungen, dem Ausschluss vom Abendmahl, dem (zeitweisen) Gemeindeausschluss oder schließlich der Verwehrung eines christlichen Begräbnisses und der Exkommunikation. Die Prügelstrafe wurde zuweilen ebenfalls angewendet, war aber schon innerhalb der Mission sehr umstritten, wie auch der Freiheitsentzug im missionseigenen Gefängnis der DEHM. Andere Sanktionen bestanden in der Versetzung, der Gehaltskürzung oder auch der Entbindung vom Amt.1170 Ganz ähnlich verhielt es sich mit den Herrnhutern,1171 die sich aller-

1166 Vgl. Fabricius an Schulze, 05.10.1787, AFSt/M 1 C 29b: 28. Vgl. Klein an Schulze, 08.02.1788, AFSt/ M 1 C 29b: 59. 1167 Vgl. inkl. der Zitate Testament Gericke, 05.04.1802, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1800–1802. 1168 Liebau, Mitarbeiter, S. 152. 1169 Kästner, Schwerhoff, Religiöse Devianz, S. 34. 1170 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 153 f. 1171 Vgl. nur das Kapitel zum Herrnhuter Beck sowie UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Eintrag vom 06. April 1784. An diesem Tag gab es eine „exemplarische Strafe“ durch den Herrnhuter Voigt für „unseren Jungen December“ wegen „Dieberey u. andrer liederl. Aufführung“.

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dings nicht an das Missionskollegium zu wenden hatten und insgesamt unabhängiger von europäischen Kolonialinstitutionen in ihrem spezifischen Disziplinierungssystem der Chöre oder aber, für Indien zutreffender, in ihren „Versammlungen“1172 agierten. Doch auch sie mussten für Maßnahmen, wie den Gemeineausschluss, zuvor die europäische Zentrale in Herrnhut befragen. Dies lässt sich etwa anhand des Falles Beck gut besichtigen, der einem solchen Ausschluss jedoch zuvor kam. All den genannten Einflussfaktoren entsprechend konnte die individuelle missionarische Bewertung der Kultur der Einheimischen durchaus unterschiedlich, zuweilen auch widersprüchlich sein und sich im Laufe des Indienaufenthaltes entscheidend wandeln. Als ein Beispiel hierfür wird gerne Bartholomäus Ziegenbalg angeführt, der anfänglich noch mit voller Überzeugung nach Halle berichtete, dass er die Inhalte indigener Tempel zerstört hatte, während er sich später in seinen Schriften als vergleichsweise respektvoll gegenüber der einheimischen Kultur erwies.1173 Auch spätere Missionare unterließen solcherlei aggressive Akte. Man beließ es in der konkreten Interaktion zumeist bei belehrenden Unterhaltungen mit den einheimischen Priestern. Hiervon berichtete etwa Daniel Schreyvogel (1777–1840), der zusammen mit seinem Kollegen Rottler 1804 einen Tempel besuchte. Man habe diesen zwar nicht betreten dürfen, was die beiden Missionare offenbar respektierten, konnte aber einen Blick hineinwerfen und versuchte, dem Priester klarzumachen, dass die „Götze“, also die angebetete indigene Gottheit, nicht dem „wahren Gott“, also dem christlichen Gott, entsprechen könne. Der „Götzendiener“ habe – so jedenfalls der Missionar – dies auch bald zugegeben, „meinte aber, es wäre nun einmal so“. Schreyvogel kommentierte die Begebenheit in europäischer Hinsicht relativierend, indem er auf die Katholiken verwies: Beim ersten Anblick ist einem die Dummheit, die Furcht und Hochachtung der Heiden vor ihren Götzen sehr auffallend, allein, wenn man sich an die religiöse Unwissenheit und den Aberglauben der Catholiken erinnert die mit nicht weniger devotion vor ihren Heiligenbildern auf die Kirche niederfallen, so mildert sich das erste Erstaunen.

Er glaube deshalb auch nicht an die Dummheit der „Heiden“ als Triebfeder, sondern gehe vielmehr davon aus, dass „Vorurtheil und natürliche Trägheit über diesen Gegenstand ernstlich nachzudenken die eigentliche Ursache ist“.1174 Hier – wie in anderen Tagebucheinträgen Schreyvogels – finden sich eine Menge Motive, die in der Aufklärung eine große Rolle spielten. Dies gilt für den Kampf gegen den Aberglauben, gegen das

1172 Vgl. etwa UAH R 15 Tb 3: Diarien von Bengalen 1776–92, Einträge vom 03. und 04. Januar 1784. 1173 Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 70 oder Wellenreuther, Pietismus und Mission, S. 170. 1174 Vgl. inkl. der Zitate Schreyvogel, „Fortsetzung meines Reisediariums“, 1804, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1800–1808.

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Vorurteil und die Motive der Trägheit, der Unwissenheit und der selbstverschuldeten Unmündigkeit.1175 Wie Heike Liebau schon hervorgehoben hat, kann Schreyvogel als ein weiteres Beispiel für die inneren Wandlungsprozesse von Missionaren gelten. So schrieb Schreyvogel schon zwei Jahre später über die Einheimischen: „Manche ihrer Gebräuche kamen mir im Anfang wunderlich und einfältig vor, als ich aber die Ursachen näher untersuchte, fand ich doch, daß sie gute Gründe hirzu haben.“1176 Und der Missionar John distanzierte sich entschieden von den Missionskritikern, denen er vorwarf, die Einheimischen lediglich als „unwürdige schwarze Canaillen“ zu betrachten und sich – im Unterschied zur DEHM – nicht um deren „physische und moralische Glückseligkeit“ zu scheren.1177 Derartige positive Äußerungen der Missionare über die Einheimischen bewegten sich jedoch immer auf dem Fundament des „letztendlichen Überlegenheitsanspruchs der christlichen Religion“1178 und dienten letztlich immer noch der Rechtfertigung der Missionierung. Noch als erst seit 1802 in Tranquebar ansässiger Missionsgehilfe hatte Daniel Scheyvogel bereits nach kurzer Zeit für Missstimmung unter den einheimischen Missionsmitarbeitern gesorgt, denn er sprach, wenig diplomatisch und bewusst provozierend, einige Katecheten auf die Spaltung der Sitzordnung in „Pariah“, also die kastenlosen dalits oder ‚Unberührbaren‘, und die übrigen „Malabaren“ unter den Missionschristen während des Gottesdienstes an. Er verurteile eine solche Trennung entschieden und wollte nun wissen, aus welchem Grunde sie überhaupt vollzogen wurde. Nachdem die Katecheten zunächst noch erstaunlich schroff und sehr selbstbewusst erwiderten, dies gehe ihn gar nichts an, erklärten sie ihm dann, die „Pariah“ seien „verachtete schlechte Leute, die die geringsten Arbeiten verrichteten, und das gefallene Vieh speisten“. Schreyvogel habe dem entgegnet, letzteres sei auch „für uns ekelhaft“, dies hätte jedoch keinen Einfluss auf ihren „moralischen Caracter“. Allein „böse Handlungen“ machten Menschen zu schlechten Menschen und deshalb sei der „Malabar nicht ein Haar besser als der Parreiar“. Der Missionar würde keinen Unterschied machen und halte dies überhaupt für eine große „Dummheit“. Und weiter heißt es in seinem Diarium: „Sie konnten mir darauf nichts einwenden, allein meine Moral gefiel ihnen nicht, wie ich wohl merkte.“ Da er nun „etwas aufgebracht“ war, „daß Christen und, noch mehr, Lehrer, noch so unaufgeklärt denken“, hatte er vor „gegen diese Thorheit zu eifern“, doch sein erfahrener Oberer John erklärte ihm desillusionierend, man könne nichts 1175 Vgl. zu diesen Begriffen und ihren Zusammenhängen umfassend Rainer Godel: Vorurteil – Anthropologie – Literatur, Tübingen 2007. 1176 Schreyvogel an Gude, 02.02.1806, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1800–1808. Vgl. zu diesem Zitat bereits Liebau, Mitarbeiter, S. 70 f. 1177 Vgl. inkl. des Zitats John an Missionskollegium, 23.01.1790, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792. 1178 Liebau, Mitarbeiter, S. 71.

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gegen solcherlei Unterschiede tun. Ansonsten würden die „heidnischen Malabaren, mit den christl. alle Verbindung aufheben“.1179 Hierin zeigt sich einerseits einmal mehr die manchmal pragmatische, in diesem Fall vielleicht gar erzwungene Anpassung der DEHM an die gesellschaftlichen Gegebenheiten in Indien und andererseits der bereits von Heike Liebau festgestellte Umstand, dass die Kaste auch nach dem Übertritt zum Christentum für die indigene Bevölkerung „ein wesentlicher identitätsbestimmender Faktor“ blieb.1180 Das Beispiel bezeugt darüber hinaus einmal mehr, dass es sich bei der Mission um einen „komplexe[n] Kommunikations- und Übersetzungsprozess“ und nicht um die einfache Übertragung von einer aktiv missionierenden Seite zu einem lediglich passiv agierenden Empfänger handelte.1181 In diesem konkreten Fall war eine ‚kulturelle Übersetzung‘ aufgrund des Eigensinnes, „den Akteure zuweilen entwickeln, wenn sie einem hegemonialen Diskurs beziehungsweise einem erzwungenen Transfer ausgesetzt sind“ schlicht gescheitert.1182

1179 Vgl. inkl. der Zitate Schreyvogel, „Fortsetzung meines Reisediariums“, Eintrag 1804, RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1800– 1808. 1180 Vgl. inkl. des Zitats Liebau, Mitarbeiter, S. 173 f. Vgl. hierzu Jeyaraj, Missionsalltag, S. 84. 1181 Vgl. Liebau, „Alle Dinge, die zu wissen nöthig sind“, S. 243 (Zitat). 1182 Vgl. inkl. des Zitats Lässig, Übersetzungen, S. 196.

VI. Schlussfolgerungen Die vorliegende Arbeit hat sich mit den globalen Lebensläufen der Indienmissionare der DEHM (und der Herrnhuter Brüdergemeine im Bengalen) des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts beschäftigt. Anders als in ihren veröffentlichten Quellen und in vielen späteren Darstellungen verlautbart, gehörte nicht allein die Beobachtung fremden abweichenden Verhaltens unter Einheimischen wie Europäern, sondern häufig auch zuweilen stark ausgeprägte eigene Devianz zu ihrem Alltag. Beides ist in Beziehung zueinander zu setzen. Auch Individuen aus der Mission und ihrem näheren Umfeld konnten durch schwere Normverletzungen gesellschaftlich zu ‚weißen Subalternen‘ im Sinne Fischer-Tinés absteigen und zu randständigen Personen werden, obwohl sie sich eigentlich eher an den oberen gesellschaftlichen Schichten und den europäischen Eliten orientierten und sich ihnen zugehörig fühlten. Die individuellen Sichtweisen der Missionare und ihre konkreten Verstöße gegen soziale Normen waren genauso Thema dieser Arbeit wie die damit verbundenen Verhandlungsprozesse und Interaktionen, die definierten, was eigentlich als Devianz zu werten war und was eher nicht. Es ging also auch um die Handlungsoptionen des Einzelnen, die Begleitumstände des Verstoßes und die Zuschreibung von außen, die vor Ort, aber auch zwischen ‚Peripherie‘ und ‚Zentrum‘ verhandelt wurde. Einen Ausgangspunkt bildete die sich weitgehend bestätigende Hypothese, dass der von den Missionaren (und anderen Europäern) nach Indien gebrachte Vorrat an Verhaltensmaßgaben oftmals nicht ausreichte, um auf bestimmte Situationen der Unsicherheit in ihrem Alltag angemessen reagieren zu können, so dass Normen vor Ort häufig angepasst, neu ausgehandelt oder sogar erst aus Verstößen heraus definiert wurden. Dabei hat sich gezeigt, dass Normverletzungen unter den Missionaren der DEHM (und der Herrnhuter), entgegen vieler traditioneller und auch zeitgenössischer Darstellungen in verschiedenen Schattierungen vom gerade noch tolerablen (vielleicht sogar für die Mission ‚notwendigen‘) Graubereich bis zum gesellschaftlich durch und durch zu verurteilenden ‚schwarzen‘ Extrembereich Teil missionarischen Alltags waren. Hierin bestätigt sich, dass es schwierig ist, in Bezug auf das koloniale Südasien in vereinfachenden Kategorien wie den Einheimischen und den Europäern zu sprechen. Vielmehr ist von dynamischen, teils miteinander verwobenen, teils

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durchlässigen und sich teils abgrenzenden sozialen und funktionalen Schichtungen zu sprechen, die sich auch in normativen Räumen und Kontaktzonen abbildeten. Die Missionare hatten in fünf solcher Räume oder Zonen mit je eigener normativer Ausstattung aber fließendem Übergang zu handeln. Diese Untersuchung hat dabei ausgehend von den Missionaren vereinfachend unterschieden zwischen (1) dem europäisch-pietistischen Herkunftsraum, in dem die Missionare sozialisiert wurden; (2) dem Raum der europäisch-kolonialen Gesellschaft in Indien; (3) dem der zu missionierenden einheimischen Zielgruppe(n); (4) dem der Missionschristen und (5) der globalen Kontaktzone vom europäischen ‚Zentrum‘ (der Missionsleitung) und der ‚Peripherie‘ (die übrigen Gruppen vor Ort in Indien), die die übrigen Räume, wenn auch zumeist unzulänglich, kommunikativ überlagerte und in sie eingreifen konnte. Die Werte und Normen der Missionare waren vor Reiseantritt pietistisch-europäisch geprägt. Häufig – und im Unterschied zu den zumeist handwerklich gebildeten theologischen Laien der Herrnhuter Mission – stammten die Missionare der DEHM aus Pastorenhaushalten, hatten lutherische Theologie studiert und waren als Hauslehrer oder Informator tätig gewesen. Vor allem zum Ende des 18. Jahrhunderts hin wurden Naturforschungen und Aufklärung für die Kandidaten immer wichtiger. Sie wurden in Europa nach den Maßgaben der Missionszentrale für die Mission ausgewählt. Gerade die gut überlieferten Bewerbungsverfahren sind in dieser Hinsicht außerordentlich aussagekräftig: Viele Missionare wurden von einzelnen Schlüsselpersonen des Halleschen Netzwerkes in Europa oder von unmittelbar der Mission nahestehenden Personen aus der Reihe des Klerus, von Universitätsprofessoren oder auch aus dem Adel mittels Empfehlungsschreiben vorgeschlagen, einige Missionare ergriffen zudem selbst die Initiative zur Bewerbung. Zumeist übernahm der Direktor der Franckeschen Stiftungen dann die Vorauswahl, führte erste fachlich-prüfende Gespräche und ließ den Bewerber probepredigen. Vor allem die abgelehnten Bewerbungen belegen, dass neben einer theologischen Ausbildung, einer gewissen Praxiserfahrung als Lehrer und einer guten körperlichen Konstitution für die möglichst lebenslange Tätigkeit als Missionar auch moralisch definierte Kriterien von großer Bedeutung waren, die in großen Teilen allerdings erst seit 1797 in einer Instruktion explizit formuliert wurden. Die bis dahin gültige Anleitung war noch eher allgemein gehalten und sprach allein von vorbildlichem Verhalten, ohne konkrete Beispiele zu geben. Über allem standen freilich die starke religiöse Überzeugung, der missionarische Eifer und das persönliche Engagement. Ausgeschlossen werden sollten jedoch die Lust auf Abenteuer und Exotik wie auch allzu weltliche, jedoch zu dieser Zeit weit verbreitete Motive des Strebens nach Ruhm und Reichtum beziehungsweise nach einer sich der Zeit als Missionar anschließenden Karriere innerhalb der Kirche in Europa. Bestimmte Indienwahrnehmungen verbunden mit einigen überaus schlechten Erfahrungen mit einzelnen Missionaren beziehungsweise Missionarskandidaten wie auch Vorschläge der Missionare vor Ort flossen in die Kriterien der Zentrale ein und trugen unter anderem zu der Änderung der von den zukünftigen Missionaren zu unterschreibenden Instruktion

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von 1797/98 entscheidend bei. Normen wurden also angepasst, entwickelten sich in Aushandlungsprozessen, an denen die Zentralen, aber auch auswärtige Ratgeber und die Missionare selbst beteiligt waren. Hierin bildet sich die „Innovationsfunktion“ von Devianz bezüglich eines Normwandels ab.1183 Wie beispielsweise der im Falle Früchtenichts so verhängnisvolle § 8 der Instruktion zeigte, mochte sich die Leitung, die diesen eigenmächtig eingefügt hatte, dabei nicht allein auf die Erfahrungen der Missionare aus dem ‚Feld‘ verlassen. Sie überließ die Entscheidung über die Suspendierung eines devianten Missionars lieber nicht den übrigen Missionaren und der Missionskonferenz, sondern dem von Indien so fernen und damit reaktionsschwachen Missionskollegium in Kopenhagen. Diese Regulierung, die eigentlich zu mehr Klarheit und Ordnung hatte beitragen sollen, führte also genau über dieses Bestreben zum Gegenteil, nämlich vor Ort zu weiteren Normverletzungen des sich abweichend verhaltenden Missionars, der sein ‚Recht‘ weidlich zu nutzen wusste. Ein weiteres Nebenprodukt war die damit einhergehende weitgehende Handlungsunfähigkeit der übrigen Missionare, die erst durch das zunächst zögerliche, dann nach weiterer Eskalation beherzte Eingreifen des dänischen Gouverneurs aufgelöst werden konnte. Verlief die Vorauswahl in Halle positiv, wurde der jeweilige Kandidat den Mitgliedern des Missionskollegiums in Kopenhagen, die ihrerseits zuzustimmen hatten, zusammen mit einem Empfehlungsschreiben zugeleitet. Wie das nahezu umfassend überlieferte Beispiel Früchtenicht zeigt, verließ man sich dort – trotz so mancher von außen herangetragener Bedenken – sehr auf das eindringlich formulierte Urteil des Schreibens aus Halle, die Vermittlung durch den ausführenden Sekretär und beließ es dann bei einfachen Gesprächen. Mit der Reise des Kandidaten nach Kopenhagen war dessen Annahme als Missionar nicht zuletzt aufgrund der Kosten des Kopenhagenaufenthaltes und der Reise dorthin im Grunde also schon entschieden – jedenfalls in Zeiten eines vorherrschenden Nachwuchsmangels im Bereich der Mission. Bevor der Kandidat schließlich nach Indien abreisen konnte, mussten jedoch noch dessen Eltern zustimmen, was – wie im Falle Vents – nicht immer gelingen sollte. Auf Seiten der Eltern spielten bestimmte Indienbilder ebenfalls eine Rolle. Dies wurde ersichtlich, wenn Eltern die Entsendung ihres Sohnes offenbar als zu gefahrvoll ablehnten. Die eigentliche Vokation der Kandidaten erfolgte durch den dänischen König, während die Ordination zuweilen erst in Indien stattfand. Die ausgewählten Kandidaten erhielten keine spezifisch angepasste Ausbildung hinsichtlich ihres ‚Missionsfeldes‘. Während der Überfahrt nach Indien, die eine Zwischenzone darstellte, noch nicht ‚Indien‘ aber auch nicht mehr ‚Europa‘ war, trafen die bürgerlichen Missionare der DEHM häufig bereits – wie unter anderem das Beispiel des Missionars Gericke eindrucksvoll belegt – auf erste soziale Verunsicherungen im Umgang mit Besatzung,

1183 Vgl. Peuckert, Abweichendes Verhalten, S. 107 f.

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Passagieren und den Regeln an Bord oder während verschiedener Landgänge. Aus moralischen wie Standesgründen und ihrer sozialen Rolle entsprechend hielten die Missionare sich zumeist während der Reise von den einfachen, sie manchmal wohl bewusst provozierenden Matrosen eher fern und übernahmen allenfalls klerikale Aufgaben wie Predigten und Seebestattungen. Äußerungen aus dem Missionskollegium belegen, dass eine auf der gehobeneren sozialen Position beruhende Distanz etwa bezüglich der Ordnung bei Tische generell von ihnen erwartet wurde. Schilderungen von Alkoholmissbrauch und anderen Verfehlungen vor allem auf Seiten der Besatzung sind in den veröffentlichten Missionsberichten und den Briefen der Missionare, wie auch anderen Quellen, nicht selten. Die wahrgenommene und kritisierte Devianz an Bord hielt so manchen Herrnhuter Missionar jedoch nicht davon ab, beispielsweise die Matrosen mit Alkoholika zu bezahlen. Obwohl sie eine generelle Gleichheit vor Gott annahmen, setzten die Missionare eine solche nicht mit gesellschaftlicher Gleichheit auf eine gemeinsame Ebene. Im Einzelfall konnte es zwar durchaus zu schichtenübergreifenden Verbrüderungen im Rahmen einer dem Pietismus eigenen ‚Gottesfreundschaft‘, das heißt einer über die gemeinsame Frömmigkeit hergestellten Verbindung, kommen. Einschlägige Stereotype, Rollenbilder und soziale Distinktionen blieben jedoch auch in einem solchen Falle bestehen: soziale Gleichheit und Gleichheit vor Gott waren aus dieser Perspektive also keineswegs identisch. Die für sie problematischen oder gefährlichen Situationen versuchten die Missionare – jedenfalls ihrer Selbstdarstellung nach – mit Frömmigkeit zu bewältigen und interpretierten das erfolgreiche Überstehen solcher Konstellationen entlang pietistischer Topoi als Zeichen und Belohnung Gottes. Mit Früchtenicht wurde mindestens ein Missionar bereits während der Überfahrt an Bord wie auch beim Zwischenhalt in Kapstadt auffällig. Ihm wurde unter anderem Trunkenheit vorgeworfen. Bei anderen Missionaren wie dem vermutlich bereits an Bord depressiven Müller, der später wohl Suizid begehen sollte, ist dieses nicht eindeutig nachweisbar. Wäre Müller zuvor bereits auffällig gewesen, hätte man ihn sicher nicht losgeschickt. Insofern muss an Bord etwas passiert sein, was ihn psychisch überforderte. In Indien selbst hatten die Missionare mit der europäisch-kolonialen Gesellschaft, den Einheimischen im Allgemeinen und den Missionschristen im Speziellen zu tun. Mit all diesen Gruppen, deren sozialen Schichtungen (wie den ‚Kasten‘) und deren Sichtweisen hatten die Missionare sich zu arrangieren, da ihr Missionswerk in vielfacher Hinsicht von ihnen abhängig war: insbesondere die Anzahl der Konvertiten bestimmte unmittelbar den Erfolg der Mission; gute Kontakte vor allem zu den Oberschichten und der europäischen wie der einheimischen Obrigkeit konnten die Arbeit der Mission entscheidend erleichtern und gaben persönlich ein Gefühl von Sicherheit; das Verhalten der Missionschristen und der Missionare definierte die Sicht der übrigen Europäer und der Einheimischen auf die Mission; das Benehmen der Europäer seinerseits stand für viele Einheimische stellvertretend für das Christentum insgesamt und damit auch für die Mission, die ihrerseits diesbezügliche Beschwerden nur zu gern für die eigenen

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Zwecke und die Rechtfertigung ihres Daseins einspannte. Alle Interaktionen der Missionare mit diesen Gruppen und ihren Schichtungen waren von einer sich zwischen der strengen pietistischen Anspruchshaltung und der ‚normativen Kraft des Faktischen‘ bewegenden Ambivalenz bestimmt, die auch schon die Attitüde der einzelnen Missionare während der Überfahrt nach Indien beeinflussen konnte. Über diesen Räumen oder Zonen ‚schwebte‘ zudem die normative Erwartungshaltung der nicht unbedingt immer gut informierten Missionszentrale im fernen Europa und deren Kommunikation mit der europäischen Öffentlichkeit vor allem mittels der Missionsberichte. Das Verhalten innerhalb der europäisch-kolonialen Gesellschaft in Indien sahen die Missionare der DEHM wie auch der Brüdergemeine schon seit Ziegenbalgs Zeiten überaus skeptisch. Gleichsam in einer Nussschale war diese Sicht bereits bei der Überfahrt festzustellen. Hier wie dort versuchten die Missionare sich von den Unterschichten fernzuhalten oder jene genauso wie die Einheimischen zu missionieren, während sie sich mit den oberen und anderen ‚nützlichen‘ gesellschaftlichen Schichten zu arrangieren hatten. Zu Letzteren gehörten neben Gouvernementsmitgliedern insbesondere Schiffskapitäne, Ärzte oder Offiziere und Kaufleute. Die Missionare übernahmen in den veröffentlichten Missionsberichten ein den Einheimischen zugeschriebenes Bild von den Europäern, das Letzteren schon frühzeitig und generell „Hurerey“, Trunkenheit, Glücksspiel und Gewalt vorgeworfen hatte. Solche Bilder dienten der Rechtfertigung der (Zivilisierungs-)Mission. Sie zeigen aber auch, dass Devianz nicht als ein isoliertes Phänomen einer Missions-, sondern vielmehr der Kolonialgeschichte insgesamt zu sehen ist. In den unveröffentlichten Briefen und Tagebucheinträgen der Missionare wurden die veröffentlichten Stereotypen in ihrer Allgemeinheit jedoch nur begrenzt bestätigt oder – wie bei Kiernanders Äußerungen über die „Familien“ von Kalkutta, unter denen es doch auch „gute“ gebe – weiter ausdifferenziert. Über Mitglieder des dänischen Gouvernements finden sich dementsprechend kaum Hinweise hinsichtlich von Normverstößen. Lediglich zweimal berichteten die Missionare in ihren Briefen mit einigermaßen kritischem Unterton darüber, dass Gouverneur Abbestée eine illegitime Tochter mit einer Sklavin und Gouverneur Anker eine „Gesellschafterin“ aus Europa mitgebracht habe, was in den kolonialen Führungsschichten, die häufig einheimische Geliebte hatten, und überhaupt unter den Europäern in Indien durchaus nicht unüblich war. Bezeichnenderweise erfolgte dieser Bericht in einer Phase, während der die Missionare in einem noch eher problematischen Verhältnis zu Anker standen. Nach dem Konflikt mit dem devianten Missionar Früchtenicht, in dem der Gouverneur in Tranquebar am Ende entscheidend zugunsten der Missionare eingegriffen hatte, findet sich kein schlechtes Wort mehr über ihn. Der Herrnhuter Grasmann beschwerte sich über nicht näher spezifizierte Vorgänge während eines vom Residenten in Serampore veranstalteten Festes, das der Missionar vorzeitig verließ. Umgekehrt wirkten die Herrnhuter jedoch auch beleidigt, wenn sie zu einem Empfang nicht eingeladen wurden. Einerseits verweisen diese Beispiele auf die generelle Abhängigkeit der Mission von bestimmten Funktionsträgern, die den

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Herrnhutern zum Beispiel in Patna kostenlos ein Grundstück zur Verfügung stellten, andererseits einmal mehr auf eine große Flexibilität im Umgang mit Normen auch aufgrund von bestimmten Rollenbildern. In den Missionsberichten konnte auf diese Weise die Notwendigkeit der Mission begründet werden. Nun galt es nicht nur die als naiv dargestellten Einheimischen über erste Ansätze einer Zivilisierungsmission vor den Europäern zu ‚beschützen‘, denn den Berichten nach tranken die Einheimischen beispielsweise gar keinen Alkohol und wurden erst von den Europäern dazu verleitet, sondern auch die selbst fehlgeleiteten Europäer zu missionieren, die ihrerseits das Ansehen der Christen insgesamt und insbesondere das Missionsprojekt unter den Einheimischen beschädigten. Trotz aller ‚going-native-Diskussionen‘, die zum Beispiel in der frühen Mission noch in Bezug auf das Tragen der einheimischen Kleidung durch Missionare geführt wurden,1184 bestand immer eine gewisse Separierung von den Einheimischen, die von den Missionaren – wie Heike Liebau dargestellt hat – entweder als „Heiden“, als „Mohren“ oder aber als lediglich als „indische Christen“ beziehungsweise „christliche Inder“1185 gesehen wurden: Bei Normverstößen etwa, die unter Missionschristen und einheimischen Mitarbeitern erfolgten, gab es deutlich härtere Strafen als unter den Missionaren selbst. Dies glich dem Verhalten der weltlichen kolonialen Obrigkeit, die ‚weiße Subalterne‘ ebenfalls weniger streng behandelte als einheimische. Offenbar – wie im Falle des Fabricius – gerieten Einheimische leichter unter Verdacht eines Normverstoßes, denn dessen Missionarskollegen betonten immer wieder die Schuld von dessen einheimischen Mitarbeitern an der Finanzmisere, obwohl Fabricius sich selbst häufig genug die alleinige Verantwortung an seinem finanziellen Fiasko zugeschrieben hatte und seine Mitarbeiter entschlossen verteidigte. So blieben auch Beziehungen der Missionare zu einheimischen Frauen verpönt – ein eher tabuisiertes Thema. Zwar errichteten die Missionare Schulen, ihre eigenen Kinder, vor allem ihre Söhne, schickten sie jedoch häufig zur teureren Erziehung nach Europa – einmal mehr ein Indikator für die Selbstverortung in der europäischen Oberschicht und Merkmal sozialer Distinktion nicht allein gegenüber den Einheimischen, sondern auch gegenüber den europäischen Unterschichten. Weiterhin ordinierte die DEHM immer mehr einheimische Mitarbeiter. Damit reagierten die Missionare jedoch hauptsächlich auf Notwendigkeiten und aus missionspraktischen Erwägungen heraus, die darauf hinausliefen, dass potenzielle Konvertiten auf diese Weise mehr Vertrauen zur Mission entwickeln konnten. Die einheimischen Mitarbeiter – obwohl formal nach dem Kirchenrecht gleichgestellt – arbeiteten dann auch weiterhin unter strenger Kontrolle durch die Missionare, die die gesamte Zeit über die eigentlichen „Entscheidungsträger“ blieben.1186 Dies bedeutete jedoch nicht, 1184 Vgl. Nørgaard, Mission und Obrigkeit, S. 134 f. Vgl. Liebau, Mitarbeiter, S. 71. 1185 Liebau, Mitarbeiter, S. 81 (Hervorhebungen im Original). 1186 Liebau, Mitarbeiter, S. 83.

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dass nicht auch Einheimische eigenständige Handlungsfähigkeit gegenüber Missionaren bewiesen und das fragile dänisch-koloniale Rechtswesen und seine Schwächen etwa im Verhältnis zur einheimischen Gerichtsbarkeit zu nutzen wussten. Hierfür ist der Fall des einheimischen Jungen Friedrich gegen den Missionar John ein gutes Beispiel: Missionare konnten genauso Kläger wie Beklagte sein. Überdies konnte Friedrich auf die Unterstützung des mit der Mission rivalisierenden dänischen Koloniepfarrers Fuglsang gegen die DEHM bauen. Der Junge (inklusive seiner Berater) kannte die institutionellen und normativen Schwächen und Konkurrenzsituationen in Tranquebar offenbar sehr genau und setzte diese und seine eigenen sozialen Vernetzungen mit Europäern wie Einheimischen gezielt für sich ein. Auch hatten die Missionare bestimmte Traditionen zu tolerieren und konnten es zum Beispiel nicht vermeiden, dass sich während des Gottesdienstes die unterschiedlichen Kasten voneinander separierten. Besonders bei dem jungen, sehr von der Aufklärung geprägten Missionar Schreyvogel führte dies zu starken Irritationen, die sich erst nach einem Gespräch mit seinem erfahreneren und in der Kastenfrage offenbar pragmatisch denkenden Kollegen John auflösten: Die Separierung war zu einem gewissen Maße schlicht hinzunehmen, wollte man weiter missionieren und keine Konvertiten verlieren. Wie lassen sich nun die festgestellten Normverstöße in Indien angemessen klassifizieren? Hierbei ist von den in den Quellen selbst gesetzten Schwerpunkten auszugehen. Am Sinnvollsten erscheint die Einordnung nach Eigenverstößen durch Missionare und nach von der Mission insgesamt (also inklusive der Zentrale in Europa) wahrgenommenen Fremdverstößen, begangen von Einheimischen oder Europäern außerhalb der Mission. Zudem ist inhaltlich nach Themen, nach Häufigkeit der Nennung in den Quellen und nach der Vehemenz der Vorwürfe zu klassifizieren. Zu bedenken sind hierbei allerdings die in der Einleitung dieser Studie vorgebrachten quellenkritischen Anmerkungen: Persönliche Differenzen, Interessen und hintergründige Konflikte könnten zu Übertreibungen und Lügen geführt habe. Gerüchte spielten ebenfalls oft eine Rolle, wie auch die jeweilige Persönlichkeit des Beschwerdeführers zu beachten ist – so etwa im Falle des in seinen Briefen oftmals cholerisch wirkenden Päzold, der geradezu einen Gegenpol zum eher vorsichtig-ausgleichend agierenden Gericke bildete. Aufgrund ihres Alters, ihres Ansehens und ihres wiederholten Einsatzes als Konfliktlöser können Gericke und Schwartz als graue Eminenzen der DEHM bezeichnet werden. Außer dass Gericke zum Schluss von so manchem Missionar die Kontakte zu fremden Missionsgruppen vorgeworfen wurden, waren beide von keinerlei Kritik hinsichtlich ihres Verhaltens betroffen. Beide waren allerdings insofern privilegiert, als sie für einheimische Herrscher oder die Engländer arbeiteten und somit finanziell weitgehend versorgt waren. So manche Themen, wie die Sexualität oder die Selbsttötung, erscheinen zudem als tabuisiert, wie der Fall des depressiven Missionars Müller zeigt, bei dem ein Suizid lediglich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, aber als solcher in den Quellen nicht explizit angesprochen wurde, wohl auch um ihm eine christliche

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Beerdigung ermöglichen zu können. Andere Fehlverhaltensweisen wurden als nicht gravierend genug oder gar als zu ‚nützlich‘, als ‚strategische Devianz‘ ( Jon Miller) eingestuft und wurden deshalb kaum kritisiert. Diese Unsicherheitsfaktoren lassen sich nur schwer vollständig vermeiden und konnten allenfalls über den Abgleich mit anderen Quellen gemindert werden. Betrachtet man die reine Zahl an Normverstößen, so muss in der Tat der umfangreiche Bereich der Ökonomie als erstes genannt werden, wobei jener den Äußerungen des Missionars John zufolge von einer großen Dunkelziffer begleitet wird und deshalb nur schwer zu beziffern ist. Im Untersuchungszeitraum hatten mindestens fünf Personen aus dem näheren Umfeld der DEHM mit aus diesem Bereich stammenden Vorwürfen zu kämpfen. Schon in früheren Zeiten der Mission finden sich hierfür Beispiele: Man denke nur an den sich im Handel und der Produktion von dem im Pietismus besonders verurteilten Alkohol betätigenden Schultze oder an Kiernander und dessen Alkoholhandel. Angesichts der starken Inflation und den häufigen Klagen über Geldmangel und ein zu geringes Gehalt, kurzum: sehr knapper Ressourcen, verwundert die Bedeutung ökonomischer Normverstöße nicht, insbesondere wenn es, wie bei John, eine Familie zu ernähren galt. Hier waren es eindeutig die besonderen äußeren Umstände in Indien, die solcherlei Devianz beförderten und die von vielen Missionaren, insbesondere von John, und in anderen Quellen klar benannt wurden und häufig zu Verhandlungen mit der Missionsleitung in Europa oder zu Misstrauen bei den Kaufleuten der Handelskompanien führten: einerseits die konkrete schwierige wirtschaftliche Situation, aber andererseits auch das ‚normale‘, zumindest weitverbreitet vorgelebte, oftmals finanziell riskante Verhalten von Teilen der kolonialen Gesellschaft in Reaktion auf den Mangel und die Teuerung oder in der eher unrealistischen Hoffnung zu Reichtum zu gelangen. Ein von den Missionszentralen durch häufiges Nachfragen oder durch eigene Ansprüche der Missionare aufgebrachter Leistungsdruck, nicht allein beim Missionieren, sondern beispielsweise auch bei der Füllung der Missionsberichte, hat ebenfalls seinen Teil dazu beigetragen. Im ökonomischen Bereich mischten sich verschiedene Formen von Werten und Normen, nämlich insbesondere organisationale mit pietistisch-religiösen und Standesnormen, aber auch allgemeine Rechtsnormen. Die Übergänge in diesen Unterscheidungen sind oftmals fließend. Die Vorwürfe von Luxus, Verschwendung und Spielsucht etwa betrafen vor allem pietistisch-religiöse Normen, die Bescheidenheit, Mäßigung, Emotionskontrolle (außer in religiösen Fragen) und die „Abwehr barocker Hofkultur wie auch der populären Festkultur“1187 einforderten. Der Fall um den Missionar Stegmann mit seinen Verweisen auf die Standesehre zeigt überdies, dass im ökonomischen Bereich auch Standesnormen und damit einhergehender sozialer Druck eine Rolle spielten. Nimmt man seine Aussagen beim Wort, hatte er schlicht Angst

1187 Gleixner, Pietismus und Bürgertum, S. 311.

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aufgrund seiner finanziellen Engpässe in der europäisch-kolonialen Gesellschaft an Ansehen zu verlieren und nicht mehr dazu zu gehören, was sicherlich ebenfalls nicht förderlich für die Mission gewesen wäre. Ähnliches deutete der Missionar John an, der zudem auf seine von ihm zu versorgende junge Familie verwies. Eine Handelstätigkeit und das Ausüben von Geldgeschäften berührten jedoch auch organisationale Interessen, da beide zur Vernachlässigung der eigentlichen Missionstätigkeit führen, aber auch ein finanzielles Risiko für die Mission insgesamt darstellen konnten. Immerhin traten die Missionare damit in Konkurrenz zu den Ostindienkompanien, die der Mission ohnehin eher skeptisch gegenüberstanden, und hätten sich so möglicherweise einflussreiche Feinde geschaffen. Auch das Sammeln und Verkaufen von Naturalien ist hier einzuordnen, wenngleich diesbezüglich auch immer wieder Aufklärungskritik durchscheint, was eher den pietistisch-religiösen Normenbereich betraf. Geldgeschäfte konnten das Vermögen der Mission insgesamt gefährden. Aufgrund ihrer spekulativen Natur könnte man sie ebenfalls zu dem pietistisch-religiösen Bereich und dort zur Spielsucht oder zum Luxus zählen, wenn sie etwa zum Selbstzweck wurden. Im Falle einer starken Verschuldung wie bei Fabricius und Kiernander waren überdies Rechtsnormen betroffen: Fabricius landete im Gefängnis, während Kiernander sich von Kalkutta aus gerade noch in das niederländische Chinsurah hatte absetzen können. Kurzum, eine eindeutige Kategorisierung der einzelnen Verstöße in unterschiedliche normative Bereiche gestaltet sich häufig schwierig und hängt auch vom jeweilig Betroffenen ab. Nahezu jeder Missionar war in der einen oder anderen Form mal mehr, mal weniger von Kritik und konkreten Verstößen aus dem ökonomischen Bereich tangiert, wenngleich zumeist in der tolerierbaren, das heißt, in der für die Mission ‚nützlichen‘ oder die Mission nicht gar zu sehr schädigenden Form. In kaum einem anderen Sektor wird der potenziell systemerhaltende oder -fördernde und normverdeutlichende prozessuale Charakter, aber auch die Relativität von abweichendem Verhalten deutlicher als auf diesem Gebiet. Gerade das Beispiel Fabricius, der gezielt Geschäfte machte, um die Mission zu erhalten und sogar zu erweitern, macht solches deutlich. Wirkliche Kritik kam erst auf, als Fabricius Finanztransaktionen in sich zusammenbrachen. Ähnliches gilt zeitweise für Kiernander in Kalkutta, dessen Umstände jedoch insgesamt eher dafür sprechen, dass sein Fall in Richtung Luxus und eigener Bereicherung geht. Wie bei vielen anderen Normverstößen ging auch in der Ökonomie oftmals ein Verstoß mit einem anderen einher. Wenn Geschäfte unglücklich ausgingen, könnten eine Verschuldung und die Veruntreuung von Missionsgeldern folgen. Nicht in jedem Einzelfall ist eine solche Reihenfolge oder gar Kausalität heute noch rekonstruierbar: Führten beispielsweise bei Früchtenicht die Risikogeschäfte oder die Spielsucht zu einer Verschuldung oder nicht umgekehrt die Verschuldung zu risikoreichen Geldgeschäften oder zu Spielsucht? Oder war nicht eher der Alkohol das bestimmende Element seines gesamten Verhaltens? Fest stehen jedoch die für die Missionare schwierigen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen in Indien, die ‚Fehl-

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verhaltensweisen‘ verschiedenster Form entscheidend beförderten. Auch stand das Missionskollegium in Kopenhagen nicht mehr so engagiert hinter der Mission, so dass Geldflüsse und Nachwuchssuche ins Stocken kamen. In den frühen Jahrzehnten der DEHM waren konkretere Regeln zum wirtschaftlichen Gebaren der Missionare noch nicht formuliert worden. Dies geschah (wie hinsichtlich anderer ‚Fehlverhaltensweisen‘ ebenso) erst in den 1790er Jahren mit der im Pietismus geradezu topischen Aufforderung zur Mäßigung, nachdem es verschiedene Vorfälle, aber auch Nachfragen und Vorschläge etwa von dem Missionar John gegeben hatte. In dieser von Nachwuchsmangel geprägten Zeit befürchteten die Missionsleitungen in Halle und Kopenhagen, wie unter anderem die Auswertung der Bewerbungsakten zeigt, Karrieristen anzulocken, die die Mission nicht allein aus christlicher Überzeugung oder missionarischem Eifer wählten, sondern sie auch aus ökonomischen Erwägungen als Sprungbrett für die eigene Karriere nutzen wollten – ein Motiv, das bereits aus den Ostindienkompanien bekannt war und insbesondere in den ärmeren Bevölkerungsschichten Europas für zahlreiche Indienreisende sorgte. Dass derartige Befürchtungen nicht unberechtigt waren, dürften vor allem die Beispiele der gescheiterten Missionare Früchtenicht und Stegmann, aber auch des abgelehnten Bewerbers Reimann vor Augen geführt haben. Deren Umstände schließen jedoch andere Motive nicht aus. Denn wahrscheinlich ist, dass so mancher Missionar gerade aus dem Grunde der normativen Unklarheit, der Ferne und einer gewissen Anonymität die Entsendung nach Indien gesucht hatte – etwa um den Folgen seiner bereits in Europa vorliegenden Devianz zu entfliehen. Hierfür war Kiernander ein gutes Beispiel, der schon in seiner Zeit an der Universität von Uppsala in Schweden Geldfälschung betrieben hatte, um sich, eigenem Bekunden nach, überhaupt ernähren zu können. Früchtenicht hatte in Kopenhagen und wohl auch in Halle wie ebenso während der Überfahrt gleichfalls schon Tendenzen zu abweichendem Verhalten gezeigt. Hatte also die schwierige, mit vielerlei Unsicherheiten sozialer, ökonomischer und institutioneller Art verbundene Situation in Indien ihr Verhalten bewirkt? Oder waren sie erst davon gleichsam angelockt worden? Diese Fragen lassen sich nicht abschließend beantworten. Zumindest hatten beide versucht, ihre persönliche ökonomische Situation in Europa mittels der neuen Aufgabe in Indien zu verbessern, womit sie auf einer Linie mit vielen anderen Zeitgenossen lagen, die dort ebenfalls ihr Glück suchten. Angesichts der nicht nur ökonomisch prekären Lage der Missionare vor Ort verwundert das Streben nach einem Aufstieg durch die Mission. Der Hauptgrund für die merkwürdige Motivlage mag darin bestanden haben, dass manche Kandidaten auch in ihrer Heimat große Schwierigkeiten hatten, auf eine Pastorenstelle zu kommen und sich häufig mehr schlecht als recht lediglich mit Hauslehrertätigkeiten versorgen konnten. Sie erhofften sich demnach nur einen kurzen Aufenthalt in Indien, um nach ihrer Rückkehr nach Europa aufgrund des neugewonnenen Ruhmes, ihrer Verdienste oder auch nur der neu erworbenen Kontakte in den Missionszentralen mit einer Pas-

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torenstelle versorgt zu werden. Tatsächlich gab es auch einige Beispiele hierfür. Ein anderer Grund könnte in bestimmten mit Reichtum und sozialem Aufstieg verbundenen Bildern vom kolonialen Indien zu finden sein, die auch andere ärmere Bevölkerungsgruppen dieser Zeit dazu brachten, ihr Glück in Indien zu suchen, was jedoch den wenigsten gelingen sollte. Die vorliegende Arbeit konnte zeigen, dass es entgegen einer weitverbreiteten Forschungsmeinung durchaus Karrieristen unter Missionaren gab. Dass so geartete Kandidaten eher dazu neigten, nicht genug Einsatz für die Mission zu zeigen, ihre missionarische Tätigkeit zu vernachlässigen oder sich vielleicht leichter Fehlverhaltensweisen hingaben als ein aus tiefer religiöser Überzeugung handelnder Missionar, liegt auf der Hand und war auch den Missionszentralen klar. Trotz des manifesten Nachwuchsmangels und der von den Missionaren massiv vorgetragenen Forderungen nach personeller Verstärkung war die Leitung in Halle deshalb nicht immer bereit, das Risiko einzugehen, einen Kandidaten um jeden Preis zu akzeptieren. Denn wie an den Beispielen Früchtenicht und Stegmann ersichtlich, konnte der Preis dafür sehr hoch sein. Einmal abgesehen von den Kosten von Hin- und Rückreise, der möglichen Verschwendung eines Gehaltes, von den Mühen und dem Zeitaufwand, einen neuen Kandidaten überhaupt erst zu finden und dem Ärger für die übrigen Missionare galt es eine Rufschädigung der Mission und damit einhergehende Verluste an Spenden zu vermeiden. In diesem Sinne waren für die Zentralen mit ihrem eigenen Informationsstand und ihren eigenen Sichtweisen andere Zwänge vorrangig als für die Missionare, die ihr tägliches Überleben und damit den Fortbestand der Mission vor Ort zu sichern hatten. Ganz ähnlich wie bei den ökonomischen Normverletzungen verhält es sich mit dem zweiten bedeutsamen Bereich, dem der Trunkenheit. Dieser Vorwurf kam vergleichsweise häufig vor und wurde zumindest in den für die Mission problematischeren Fällen, wie Beck bei den Herrnhutern, dem frühen Fall um Bosse und den späteren um Früchtenicht bei der DEHM, mit großer Vehemenz vorgetragen. Im Unterschied zu Europa, wo Pietisten in dieser Zeit häufig und verstärkt für vollständige Abstinenz plädierten, wurde mäßiger Alkoholkonsum gerade für die Europäer in Indien als notwendig vor allem zum Erhalt der Gesundheit erachtet. Die Norm war damit also raumabhängig und wurde dementsprechend angepasst. Übermäßiger Konsum von starkem Alkohol wurde jedoch von den europäischen Missionsleitungen auch für Indien entschieden abgelehnt. Sowohl die Missionszentralen der Herrnhuter als auch der DEHM sahen sich – wenn auch erst in den 1780er und in den 1790er Jahren – gezwungen, hierzu Instruktionen mit der ausdrücklichen Verurteilung von Alkoholmissbrauch an Missionare zu erteilen. Es ist nicht ganz klar, warum die Anweisungen gerade zu diesem Zeitpunkt erfolgten. Wenngleich die meisten diesbezüglichen Vorwürfe erst später auftraten, werden konkrete, eher verheimlichte Vorfälle genauso zu dieser schriftlichen ‚Normverdeutlichung‘ im Nachhinein geführt haben wie ein gewisses Bild, das man in Europa von den vermeintlichen Zuständen in Indien hatte. Einschlä-

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gige Begebenheiten in anderen Missionsgebieten wie Nordamerika mögen ebenfalls dazu beigetragen haben. Verschiedene Formen sozialen Druckes zwischen den normativen Räumen wirkten hinsichtlich des Alkohols auf die Missionare ein: auf der einen Seite die pietistisch-asketische Verurteilung von Alkohol und anderen Vergnügungen und in der Bibel nicht ausdrücklich geregelten ‚Mitteldingen‘ wie dem Tanz, auf der anderen Seite aber auch der missionsstrategisch gebotene Zwang, an den vielfältigen sozialen Veranstaltungen der europäisch-kolonialen Gesellschaft bzw. möglichst von deren Oberschicht teilzunehmen, in denen es häufig nicht mäßig oder gar abstinent zuging. Besonders deutlich äußerte sich der Herrnhuter Grasmann über diesen Zwiespalt zwischen pietistischen und gesellschaftlichen Erwartungen. Wie schon bei den ökonomischen Verfehlungen gingen mit dieser Form der Normverletzung ebenfalls oft andere Fehlverhaltensweisen einher: Alkoholismus konnte etwa zum Suizid, zur Verschuldung, zur Pflichtenvernachlässigung oder anderen abweichenden Verhaltensweisen führen, während eine Verschuldung sicherlich auch Trunksucht auslösen konnte. Es wurden überdies zwei Fälle identifiziert, in denen ausdrücklich Gewalt gegen andere oder die eigene Person möglicherweise als Folge von Alkoholkonsum Erwähnung fanden: Früchtenicht hatte im Rausch massive Drohungen gegen Missionare und andere Europäer ausgestoßen beziehungsweise mit einer Selbsttötung gedroht und in Serampore einen Europäer zum Duell aufgefordert bzw. geschlagen, während Holzberg offenbar unter Alkoholeinfluss gegenüber Einheimischen zur Gewalt gegriffen hatte.1188 Drei von zehn Missionaren wurde in den 1790er Jahren der Trunkenheitsvorwurf gemacht. Zuvor gab es jedoch auch schon einige, teils gravierende Fälle sowohl unter den einheimischen wie den europäischen Mitarbeitern der Mission oder unter den Missionaren selbst. Eher als Unterkategorie zu den genannten Verfehlungen dürften, die gleichwohl häufig vorkommenden Beschwerden über ‚Faulheit‘ und die Vernachlässigung missionarischer Pflichten zu werten sein, die unter Disziplinlosigkeit zusammenzufassen sein könnten. Die in den Quellen eher unbestimmte ‚Sturheit‘ ist hier ebenfalls einzugruppieren. Sehr oft ging es um das schwierige Erlernen fremder, vor allem einheimischer Sprachen – eine von Beginn des Missionsprojektes an zentrale und auch schon in der ersten Instruktion und anderen Quellen schriftlich fixierte Anforderung an die Missionare. In anderen Fällen ging es um die Weigerung zu unterrichten, ein Diarium zu schreiben oder ordnungsgemäß Rechnung zu führen. Vorhaltungen dieser Art erscheinen ebenfalls vergleichsweise häufig, werden tendenziell aber eher mit aus anderen Bereichen stammenden Vorwürfen begründet und zumeist nicht sehr vehement vorgetragen. Der Eindruck entsteht zum Beispiel beim Herrnhuter Beck wie auch bei Früchtenicht. Bei beiden scheint jedenfalls Alkoholmissbrauch für die Hintansetzung ihrer missionarischen Arbeit ursächlich gewesen zu sein. Eine gewisse Eigensinnigkeit,

1188 Vgl. zu Holzberg Cämmerer an Schulze, 06.02.1799, AFSt/M 1 C 40a: 47.

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eine grundsätzliche Unzufriedenheit oder gar Resignation hinsichtlich des Missionsprojektes oder aber Krankheiten konnten ebenfalls als Gründe zum Tragen kommen. Einen solchen Eindruck erwecken die weiteren Fälle Gerlach, Hagelund, Diemer und Hüttemann. Den Kritikern ging es vordergründig um den praktischen Fortgang und das ordnungsgemäße Funktionieren der Mission, hintergründig transportierten sie jedoch auch pietistische Normen der „Spiritualisierung des Alltags“1189, die jeglichen Beruf als Berufung und letztlich als verpflichtenden Dienst an Gott begriffen. Dies galt freilich gerade für einen Missionar. Mit dem Aufkommen neuer englischer Missionsgesellschaften wie der LMS, der CMS und der Ankunft der Baptisten erschien auch in der DEHM eine neue, interkonfessionelle Konfliktlinie, die frappierend an die schon zuvor aufgetretene Konkurrenzsituation der DEHM zu den Herrnhutern erinnerte und zeitweise – neben und nach den in der Mission eher solidarisierend wirkenden Vorgängen rund um Früchtenicht – zum bestimmenden und desintegrierenden Thema wurde. Auch hierzu existierten keine schriftlich festgelegten Normen. Dennoch wurden die Missionare der DEHM John, Rottler, Ringeltaube und Gericke für ihren offenen Umgang mit den Neuankömmlingen von einigen Kollegen und auch von der SPCK aus London massiv kritisiert. Organisationale Vorgaben bildeten sich erst langsam im Umgang mit der neuen Situation in Zeiten des Umbruchs heraus. Dementsprechend disparat war das Verhalten von Missionaren und Missionsleitung der DEHM gegenüber den neuen Missionaren und Gesellschaften. Auf Seiten der DEHM fühlten sich einige Missionare (mit großer Vehemenz einmal mehr Päzold) und insbesondere die Missionsleitung in Europa (und hier vor allem die anglikanisch-hochkirchliche Seite in Form der SPCK) schlichtweg bedroht, die einen eigentlich englischen Konflikt nach Indien exportierten und einen Zusammenschluss oder gar eine Übernahme durch die unstudierten englischen „Sektierer“ befürchteten, während die meisten Missionare der DEHM sehr offen und eher neugierig auf die neuen Kollegen agierten. Dieser Befund spiegelt einmal mehr die Unterschiede zwischen einem vor allem von den Zentralen vertretenen institutionellen Anspruch und den individuell-praktischen Umständen in Indien wider, mit denen die Missionare zu kämpfen hatten. Angesichts ihrer eigenen Schwierigkeiten in Zeiten des Niederganges der DEHM sahen Letztere die neuen Gesellschaften mehrheitlich eher als willkommene Hilfe, Ergänzung oder sogar als Ersatz für die eigenen Unzulänglichkeiten im ‚Missionsfeld‘, während Erstere (wie auch einige Missionare), weiterhin eher dem institutionell-organisatorischen Konkurrenzgedanken aus der Heimat frönten. In jedem Falle beobachtete die DEHM insgesamt die neuen Missionsunternehmungen sehr genau. Soweit ersichtlich stellten aber weder die Missionare der DEHM noch die Zentralen Normverstöße der neuen, ähnliche Werte teilenden Missionare fest oder behaupteten solche, was vielleicht an-

1189 Gleixner, Pietismus und Bürgertum, S. 311.

Schlussfolgerungen

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gesichts der Konkurrenzsituation naheliegen würde. Zumindest berichteten sie nicht darüber. Im Gegenteil gestanden sie den Neulingen sogar manchmal – im Unterschied zu so manchem eigenen Missionar – eine starke Frömmigkeit und einen großen Eifer zu. Dies stellte zugleich einen Versuch dar, die eigenen Missionare zu motivieren. Angesichts einer nicht selten auftretenden Resignation unter den Missionaren, für die der Herrnhuter Grasmann das eindrücklichste, aber nicht einzige Beispiel war, erschien zusätzliche Motivation dringend geboten. Immerhin wünschte der auch in der Einleitung dieser Arbeit zitierte Grasmann in Anbetracht ausbleibender Erfolge, sich deviant verhaltender Kollegen und der allgemeinen Lebensumstände aus Indien abberufen zu werden. Sein Kollege Raabs verließ gar die Brüdergemeine aus einem Grund, der ein weiteres Feld möglicher Devianz unter Missionaren freigab und die Geschlechterverhältnisse betraf: Raabs wollte sich wegen des allgemein vorherrschenden Mangels an europäischen und noch dazu als einem Missionar angemessen erscheinenden Frauen in Indien im Waisenhaus von Kalkutta eine wohl einheimische oder ‚indo-europäische‘ Frau suchen. Doch nicht allein hinsichtlich einheimischer Frauen gab es Probleme, stand die Missionsleitung der DEHM doch zeitweise der Verheiratung von Missionaren grundsätzlich ablehnend gegenüber, da solches als die Mission eher behindernder Kostenfaktor wahrgenommen wurde. Andere Vorbehalte bestanden bezüglich der ‚nationalen‘ oder religiösen Herkunft der wenigen überhaupt in Frage kommenden Frauen, die in frühen Phasen der Mission vorwiegend pietistisch geprägte ‚Deutsche‘ möglichst mit gehobenem sozialen Status sein sollten, später kamen insbesondere Däninnen und die ungleich häufiger in Indien vertretenen Engländerinnen in den Fokus der Missionare, bevor sogar über die Verheiratung von Missionarstöchtern mit Missionaren wahre „Missionarsdynastien“1190 entstehen sollten. Sexuelle Devianz wie Ehebruch oder die Inanspruchnahme von Prostitution durch Missionare oder Missionsmitarbeiter ist trotz der geschilderten Probleme allenfalls angedeutet überliefert. Wenige Andeutungen etwa im Falle Becks verweisen darauf, dass es sich dabei wohl um ein unter Missionaren weitgehend tabuisiertes Thema handelte, das von den Missionaren, wenn es die übrigen Europäer betraf, gleichwohl thematisiert und für die eigene Sache genutzt wurde. Gravierend abweichendes Verhalten von Missionarsfrauen ist in den Quellen ebenfalls nicht zu entdecken. Allenfalls kritisierten die Männer im Einzelfall eine zu große Dominanz gegenüber dem Missionar und sahen die Frau ansonsten allein in Familie, Haushalt und in der Unterstützung des missionierenden Mannes und seiner Kollegen, gegebenenfalls aber auch als vorübergehende Vertretung des Ehemannes. Von den Frauen selbst sind kaum Quellen vorhanden – geschweige denn solche, die sich mit dem Fehlverhalten in der Mission beschäftigen. 1190 Brigitte Klosterberg: Gedächtnisspeicher des Pietismus. Quellen zu Männer und Frauen in Archiv und Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle, in: Ulrike Gleixner, Erika Hebeisen (Hg.): Gendering Tradition. Erinnerungskultur und Geschlecht im Pietismus, Korb 2007, S. 253–269, hier: S. 262.

262

Schlussfolgerungen

Die Untersuchung missionarischer Devianz und der missionarischen Perspektive auf das abweichende Verhalten anderer gibt über die Mission hinaus den Blick frei auf die soziale Situation der Europäer insgesamt im kolonialen Indien. Sie ermöglicht Einblicke in die aus Europa importierte Sozialordnung, nun unter Einbeziehung der Einheimischen und der Missionare selbst, in die Aushandlung, Differenzierung und Hierarchisierung von Normen zwischen und innerhalb verschiedener Gruppen und der Rückwirkungen bis nach Europa. So war – wie schon Fischer-Tiné zeigen konnte – die koloniale europäische Elite eben kein monolithischer Block, sondern in sich in Schichten ausdifferenziert, wollte aber ihre vermeintliche Superiorität als Gesamtheit gegenüber den Einheimischen präsentieren. Dabei standen die europäisch-kolonialen Unterschichten ihnen jedoch im Wege und ‚mussten‘ ebenso diszipliniert und reguliert werden wie die Einheimischen.1191 Die Missionare selbst waren Teil dieser Diskurse, ergriffen selbst Maßnahmen und versuchten damit auch ihre Mission zu rechtfertigen. Umso schlimmer war es, wenn nun ein Missionar, dessen Kollegen sich als einer Oberschicht angehörig wahrnahmen, gleichsam zu den ‚Subalternen‘ abstieg. Hierin bilden sich einerseits die soziale Diversität, andererseits die Brüchigkeit der sich als herrschaftlich wahrnehmenden Personen, Gruppen und Institutionen im kolonialen Indien ab. Dass derartiges nicht allein für Indien und die DEHM oder die Herrnhuter Brüdergemeine galt, zeigen einzelne Beispiele zur Devianz aus anderen Untersuchungen und anderen ‚Missionsfeldern‘ wie zur Basler Mission im Afrika des 19. Jahrhunderts ( Jon Miller) oder zu den Lutheranern im Nordamerika des 18. Jahrhunderts (Hermann Wellenreuther). Eine vergleichende Studie zur Devianz im weiteren Rahmen der christlichen Mission wäre sicherlich ein gewinnbringendes Unterfangen.

1191 Vgl. Fischer-Tiné, Low and Licentious Europeans.

Abkürzungsverzeichnis BMS CMS DEHM DHM EIC GNF LMS SPCK SPG VOC

Baptist Missionary Society Church Missionary Society Dänisch-Englisch-Hallesche Mission Dänisch-Hallesche Mission East India Company Gesellschaft Naturforschender Freunde London Missionary Society Society for Promoting Christian Knowledge Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts Vereenigde Oostindische Compagnie

Quellen und Literatur Archivalische Quellen Archiv der Franckeschen Stiftungen (Halle/Saale) Briefe, Missionsarchiv mit der Indien- und der Amerikaabteilung (AFSt/M, ALMW/DHM). Central National Archives (Kalkutta), Botanic Garden Roxburgh’s Correspondence (CNH). Museum für Naturkunde (Berlin), Historische Bild- und Schriftgutsammlung (Mf N, HBSB) Gesellschaft Naturforschender Freunde (GNF). Unitätsarchiv der Evangelischen Brüder-Unität Herrnhut (UAH) Dienerblätter. Briefwechsel Bengalen, UAH R 15 Tb 9. Diarien von Bengalen 1776–92, UAH R 15 Tb 3. Diarium der Reise der Brüder Grasmann u. Schmidt nach Bengalen, UAH R 15 Ta 10 g. Reise des Br. Joh Sam Voigt nach Bengalen 1783, UAH R 15 Ta 10o. Reise des Br. Urbans von Serampore nach Patna vom 12. Jun. bis 6. Jul. 1784, UAH R 15 Ta 10r. Reise Diarium der Brüder Latrobe, Blaschke u. Staal vom Brüder Garten bei Tranquebar bis Serampore in Bengalen d. 11. Aug. 1781, UAH R 15 Ta 10 l. Reise der 2 Brr Urban und Beck von Tranquebar nach Bengalen vom 15. März bis 29. April 1784, Eintrag vom 19. März 1784, UAH R 15 Ta 10r. Protocoll des Missions-Departements in der Unitäts-Ältesten-Conferenz (1789, 1790, 1791), UAH R 15 A 65 I. Reichsarchiv Kopenhagen (RAK) RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1771–1780. RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1781–1792. RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, Indkomne Sager ang. den ostindiske Mission, 1793–1799. RAK Missionskollegiet og Direktionen for Vajsenhuset, 1738–1808: Indkomne Sager ang. den Ostindiske Mission, 1800–1808.

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