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German Pages 142 [144] Year 2020
Birger Petersen
Die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts
MUSIKWISSEN KOMPAKT Birger Petersen (*1972) ist seit 2011 Universitätsprofessor für Musiktheorie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Publikationsschwerpunkte: Geschichte der Musiktheorie vom 17. bis 19. Jahrhundert, Musiktheorie bei Adorno, Orgelmusik des 19. und 20. Jahrhunderts. Zahlreiche Kompositionspreise. Er ist Senior Fellow der Gutenberg Akademie und war 2014 Prorektor, 2015 bis 2017 Rektor der Hochschule für Musik Mainz. Im Studienjahr 2017/ 2018 forschte Petersen als Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. Herausgegeben von Christian Berger und Ludwig Holtmeier
MUSIKWISSEN KOMPAKT
Birger Petersen
Die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. i 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Einbandabbildung: Johannes Voorhout (1647–1723): »Häusliche Musikszene« i akg-images i Wikimedia Commons i Bibliothèque nationale de France Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27139-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74524-1 eBook (epub): 978-3-534-74525-8
Inhaltsverzeichnis 1 Vorwort: Die Geburt der Oper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Zahl und Affekt. Musik bei René Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zahl: Monochord und Senario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zahl und Affekt: Der cartesianische Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Affekt: Von Descartes zu Mattheson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Die Entwicklung der musikalischen Gattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Grundzüge der Gattungslehre bei Johann Mattheson . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Stil und Gattung: Beispiel Buxtehude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Buxtehude in Lübeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Der liturgische Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Der gattungsgeschichtliche Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Form und Satztechnik in Buxtehudes Passionszyklus . . . . . . . . 3.3 Ausblick: Concerto und Aria beim jungen Bach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 29 36 37 39 41 44 48
4 Generalbass und Partimento . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Kontrapunkt und Generalbasslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Von der Intavolierung zum Generalbass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Kritik am Generalbassspiel bei Heinrich Schütz . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die Partimento-Tradition des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Partimento und Fuge: Händels Fuge B-Dur HWV 607. . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Wege zur tonalen Harmonik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der Traité de l’harmonie Jean-Philippe Rameaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Rezitativ und Modulation: Jean Baptiste Lully – Armide . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Lullys Armide als nationales Opernereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Rameaus Analysen zu Lullys Armide. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Rameau antwortet Rousseau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 Formbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 6.1 ,Tactordnung‘ als Tonordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 6.1.1 Die Incisionslehre bei Mattheson. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 6.1.2 Zur Anwendung der Incisionslehre bei Mattheson . . . . . . . . . . . 94 6.1.3 Die Incisionslehre bei Mattheson und Koch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 6.2 Incisionen und Absätze: Der Kopfsatz von Haydns Streichquartett h-Moll. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 6.2.1 Varianten des Sonatensatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 6.2.2 Incisionen – galant und gelehrt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
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Inhaltsverzeichnis
7 Sonate und Konzert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Joseph Riepels Tonordnung und der Wandel der musikalischen Sprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Ritornell und Sonate: Der Kopfsatz von Beethovens Konzert op. 19. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Zum Verständnis der Gattung Concert zur Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Beethovens Klavierkonzert op. 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8 Epilog: „Gründliche Theorien“ über das 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Abbildungsnachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
1 Vorwort: Die Geburt der Oper Am 24. Februar 1607 fand im Palazzo Ducale von Mantua die Uraufführung der Favola d’Orfeo statt. Das Libretto der Komposition, eine Auftragsarbeit zum Karneval und zum 21. Geburtstag des Herzogs, stammte von Alessandro Striggio (1573–1630), der den antiken Stoff über den legendären Sänger auf dem Weg in die Unterwelt in einen Prolog und fünf Akte neu gefasst und mit einem alternativen Ende versehen hatte – bei Striggio entkommt Orfeo; im Druck der Partitur erscheint (abweichend vom Libretto) am Ende Apoll, der Gott des Lichts, der Orpheus im Sternbild der Leier am Himmel verewigt. Die Komposition des Orfeo stammt von Claudio Monteverdi – und der Tag der Uraufführung ist als Geburtsstunde der Oper, der Druck der Partitur zwei Jahre später als „Gründungsdokument der Oper“ zu verstehen (vgl. HEINEMANN 2017, S. 11–12): Ursprünglich handelte es sich bei der Drucklegung um die Dokumentation eines besonderen Ereignisses aus Anlass des Geburtstags von Francesco IV. Zum Zeitpunkt der Komposition war Monteverdi am Hof des Herzogs Vincenzo I. Gonzaga als Sänger und Kantor tätig und bereits knapp vierzig Jahre alt – und konnte auf eine beeindruckende musikalische Karriere zurückblicken. Stichwort
Claudio Monteverdi Der 1567 als Sohn eines Wundarztes geborene Monteverdi erhielt bereits früh eine gründliche musikalische Ausbildung, vermutlich unter anderem beim Cremoneser Domkapellmeister Marc’ Antonio Ingegneri (1535–1592). Er veröffentlichte bereits 1583 die Madrigali spirituali, ein (nur fragmentarisch erhaltenes) Madrigalbuch, dem 1587 eine erste, rein weltliche Sammlung und bis 1638 noch weitere sieben folgen sollten. 1590 wurde Monteverdi zunächst als Sänger und Violinist, 1594 als „Cantore“ und 1601 als Kapellmeister am Hof des Herzogs von Mantua angestellt. L’Orfeo folgte ein weiteres Musiktheaterwerk mit L’Arianna (1608), das bis auf ein „Lamento“ nicht erhalten ist, und mit der Vespro della Beata Vergine (1610) eine Marienvesper. Nach einem kurzen Aufenthalt in Cremona nach dem Tod des Herzogs, der die Entlassung Monteverdis aus den Diensten Mantuas nach sich zog, wurde Monteverdi 1613 zum Kapellmeister am Markusdom in Venedig ernannt. Die Eröffnung eines Opernhauses in Venedig zeitigte eine erneute Hinwendung zum Musiktheater, unter anderem mit der Komposition von Il ritorno d’Ulisse in patria (1641) und L’incoronazione di Poppea (1642). Monteverdi starb 1643 in Venedig.
Die „Favola in musica“ – so lautet der Untertitel, den der Komponist in Ermangelung einer bereits geprägten Gattungsbezeichnung seinem Werk ge-
„Favola in musica“
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Abb. 1.1 Claudio Monteverdi: Favola d’Orfeo (1609), Titelblatt
1
Vorwort: Die Geburt der Oper
geben hatte; auch den Titel L’Orfeo trägt die Oper erst im Erstdruck (vgl. LEOPOLD 2017, S. 98) – greift zwar (als „Favola pastorale“, als Schäferspiel) durchaus auf das antike Vorbild der griechischen Tragödie zurück, sollte aber wegweisend für die Entwicklung des Musiktheaters werden: Monteverdi und Striggio stellten eben keine zufällige Folge von unverbundenen Nummern unterschiedlichster Besetzung zusammen, sondern präsentierten mit dem Werk eine abgeschlossene Komposition mit einem einheitlichen Handlungsstrang, ohne gesprochene Zwischentexte, wenngleich mit aufeinander abgestimmten Tänzen, Instrumental- und Chorsätzen (vgl. HEINEMANN 2017, S. 11) – und damit grundsätzlich anders gestaltet als die um die Jahrhundertwende vielfach konzipierten Verbindungen von Musik und Theater wie etwa vermutlich auch in der 1598 uraufgeführten Dafne aus dem Kreis der Florentiner Camerata auf einen Text von Ottavio Rinuccini (1562–1621), unter anderem mit der Musik Giulio Caccinis, die bis auf wenige Fragmente nicht erhalten ist, und in zwei Werken mit dem Namen Euridice von Giacomo Peri (1561–1533) beziehungsweise Caccini. Stichwort
Giulio Caccini Der 1551 in Rom geborene – daher von seinen Zeitgenossen „Romano“ genannte – Caccini wurde früh in der Capella Giulia gefördert; ab 1566 ist er als Instrumentalist am Hof des Großherzogs Ferdinando I. de’ Medici in Florenz und damit in einem der kulturellen Zentren Italiens nachweisbar (vgl. HILL 2000). Caccini hatte entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Monodie – und diese wiederum ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Oper als Gattung. Zu seinen Schülern gehört unter anderem seine zweite Tochter Francesca Caccini (1587–1645), die solistische Rollen in den Werken ihres Vaters übernahm, seit
Vorwort: Die Geburt der Oper
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1607 als Hofmusikerin am Hof der Medici geführt wurde und selbst als eine der ersten Komponistinnen unter anderem mit einer Oper – La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina (Florenz 1625) – hervortrat (vgl. ROSTER 1998). Eng verbunden ist der Name Caccinis mit der Entwicklung des Musiktheaters an der Jahrhundertwende: Er hintertrieb die Uraufführung der Oper Euridice Peris (1600), indem er die Sänger die Passagen seiner eigenen Vertonung des Stoffes singen ließ; seine Euridice (1602) gab er noch vor Peri in den Druck. Caccini starb 1618 in Florenz.
Die Partitur des Orfeo Claudio Monteverdis weist einige Besonderheiten auf – die von großem Interesse auch für die Aufführungspraxis sind: Von besonderer Bedeutung für die dramatische Konzeption der Oper ist die Form der Monodie als Nachahmung menschlichen Sprechens – der Gestik des Redenden, das Bild seiner Erregung, nur unterlegt von Akkorden. Monteverdi greift damit den „stile recitativo“, den „erzählenden Gesang“ auf, der sich vor allem in den Kompositionen Caccinis findet. In dessen monodischen Kompositionen wird der solistische Gesang nur von einem Akkord-Instrument, also mit einer festen harmonischen Stütze durch ein Tasten- oder Lauteninstrument begleitet (Caccini spielte selbst Laute, Chitarrone, Theorbe und Harfe) – eine Kompositionsweise, die sich bereits im Werk Emilio de’ Cavalieris (1550–1602) findet. Besonders gepflegt wurde diese neue Art zu musizieren im Haus des Giovanni de’ Bardi, in dessen Palazzo sich aus dem „bardischen Kreis“ die „Camerata Fiorentina“ entwickelte, eine Gruppe von kunstsinnigen Dichtern, Musikern, Philosophen und Adligen. Das Hauptwerk Caccinis, Le nuove Musiche (Florenz 1601), weist eine ganze Reihe von Sologesängen mit Basso continuo auf: Seine Solomadrigale verwenden Liebeslyrik wie im mehrstimmigen – zumeist fünfstimmigen – Madrigal des 16. Jahrhunderts. Teile der Sammlung wurden im Verlauf des 17. Jahrhunderts vielfach auch instrumental bearbeitet, darunter von Peter Philips für das weit verbreitete Fitzwilliam Virginal Book oder von Jacob van Eyck. Monteverdi notiert darüber hinaus die Beschwörungsarie des Orfeo „Possente spirto“ in zwei Varianten – einer schlichten und einer höchst kunstvoll verzierten Version. Der Komponist dokumentiert hier also neben dem Gerüstsatz der Komposition als Basis für die Aufführung einen Vorschlag für die Realisierung für die besondere Szene – nicht als Ideallösung, sondern gemessen an den stimmlichen Fähigkeiten des jeweils Nachschaffenden (vgl. HEINEMANN 2017, S. 20). Mit Francesco Rasi stand für die Uraufführung ein wohl hervorragender, sogar namentlich überlieferter Sänger zu Verfügung. Zugleich entspricht Monteverdi den Anforderungen der zeitgenössischen Musiktheorie – der Gerüstsatz stellt den regelgerechten Satz Monteverdis unter Beweis. Erst die Interpretation gestattet dem Aufführenden Freiheiten, deren sich der regelhafte Kontrapunkt des Komponisten augenscheinlich verweigert. So ist aber
Monodie
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1 Prima und Seconda prattica
Leidenschaft
Vorwort: Die Geburt der Oper
nunmehr auch nicht mehr aus dem Notentext die Qualität einer Komposition zu bewerten, weil ihm entscheidende Merkmale des musikalischen Kunstwerks – so seine reale klangliche Oberfläche – fehlen (vgl. HEINEMANN 2017, S. 22–24). In diesem Kontext bemerkenswert ist der Umstand, dass die Kontroverse, die Monteverdi ab 1600 mit Giovanni Maria Artusi (1540–1613) – einem Schüler Gioseffo Zarlinos (1517–1590), dem Autor von L’istitutioni harmoniche (Erstauflage 1558), der wegweisenden Kontrapunktlehre seiner Zeit – ausfechten sollte, eben diese Differenz betrifft: Artusi kritisierte in seinem Dialog L’Artusi, overo Delle imperfettioni della moderna musica ragionamenti dui (Bologna 1600) nicht die klangliche Oberfläche, sondern die Satztechnik Monteverdis. In einer „Dichiaratione“ überschriebenen Darstellung seines Bruders Giulio Cesare in den Scherzi musicali a tre voci von 1607 lässt Monteverdi den Venezianischen Kapellmeister Adrian Willaert (1490–1562) als einen der Hauptvertreter einer „Prima prattica“ gelten, die von Ockeghem, Josquin oder de la Rue bis hin zu Gombert und Willaert entwickelt und zur Perfektion gebracht worden sei – unter Verweis auf ihre Darstellung eben bei Zarlino. Damit seien nicht die Grundlagen der Theoriebildung gefährdet – doch könne man in der Praxis, einer „Seconda Prattica“ eben, anders verfahren. Von einer „Seconda pratica, ovvero perfettione della moderna musica“ schreibt Monteverdi bereits im Vorwort zu seinem fünften Madrigalbuch (1605) – die „Perfektion der modernen Musik“: In ihr werden die Regeln der Vergangenheit nicht außer Kraft gesetzt, sondern nur überformt (vgl. EHRMANN 1989, S. 129–143). Kunst bestand für Artusi noch daraus, Regeln einzuhalten – sie ist Handwerk auf höchstem Niveau, angeleitet von der Theorie. Für Monteverdi hingegen besteht Kunst darin, die Regeln zu überschreiten (vgl. L EOPOLD 2017, S. 89–92). L’Orfeo markiert so in mehrfacher Hinsicht einen bedeutenden Einschnitt: Zum einen handelt es sich bei diesem Werk um eine erste Komposition, die der Gattung „Oper“ zuzuordnen ist, zum anderen wird ihr besondere Aufmerksamkeit durch die Umstände ihrer aufwändigen Publikation zuteil. Darüber hinaus finden in dieser Komposition – überaus modern – Leidenschaften einen musikalischen Ausdruck: Die Musik soll bewegen und erschüttern (vgl. LEOPOLD 2017, S. 91–92). Dies erreicht Monteverdi auch mit den Äußerlichkeiten seiner Komposition (vgl. LEOPOLD 2017, S. 99–106): Die ohnehin sehr üppig instrumentierte Komposition differenziert so zwischen einem Instrumentarium, das mit dem Leben und der Musik verbunden ist und von Streichern und Flöten sowie mit einem mit dem Cembalo besetzten Basso continuo geprägt wird, und einer Gruppe von Instrumenten – Blasinstrumente, vor allem Zinken und Posaunen, sowie der Orgel bzw. dem Regal als Continuo-Instrument –, die den Hades symbolisieren. Mit Monteverdis Orfeo beginnt so ein neues Kapitel in der Geschichte der musikalischen Gattungen, eine neue Haltung in der Rezeption von Musik, die
Literaturhinweise
erschüttern kann und darf, ein Umbruch der herrschenden Zustände auf musikalischer wie musiktheoretischer und dazu musiksoziologischer Ebene – und die Geschichte der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts. * In der Regel beansprucht das Außergewöhnliche die Aufmerksamkeit der Musikgeschichte, nicht die Norm – und das macht eine Historiographie der Musik (oder einer anderen Kunst) so schwierig (vgl. R OSEN 1983, S. 20): Den Personalstil eines Komponisten machen nicht die für seine Zeit oder nicht einmal für ihn gewöhnlichen Verfahrensweisen aus, sondern seine Individualität. Eine allgemeingültige Musikgeschichte ist also auszuschließen, wenn es nur unabhängige Einzelwerke gibt, die ihre eigenen Normen aufstellen. Entsprechend folgt diese Publikation der Idee, die jeweiligen musikhistorisch relevanten Fragestellungen der Einzelkapitel zunächst im Kontext der zeitgenössischen Musiktheorie – also übergeordnet – darzustellen, bevor in einem zweiten Schritt ein konkretes Beispiel in seiner individuellen Ausprägung herangezogen wird: Dem Reihengedanken entsprechend, werden in diesem Band musikhistorische wie musiktheoretische Grundzüge der Musik im 17. und 18. Jahrhundert dargestellt. Carl Dahlhaus hält die primäre Orientierung der Musiktheorie am musikalischen Kunstwerk und damit den Blick auf Strukturprinzipien des Tonsatzes für den avanciertesten Aspekt der Musiklehre im frühen 18. Jahrhundert: Die Orientierung am Kunstwerk selbst ist kompositions- und ideengeschichtlich im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts „an der Zeit“ (DAHLHAUS 1989a, S. 2). Ausgehend von einem für das jeweilige Thema des Kapitels relevanten historischen Text, der Anknüpfungspunkte für eine Kontextualisierung bietet, steht im Mittelpunkt entsprechend immer das musikalische Kunstwerk in seinem kulturund sozialhistorischen Umfeld – beginnend mit dem 24. Februar 1607 und endend mit dem 29. März 1795, dem Tag der Uraufführung des Klavierkonzerts B-Dur op. 19 mit dem Komponisten am Klavier: Ludwig van Beethoven.
Literaturhinweise HEINEMANN, Michael (2017): Claudio Monteverdi. Die Entdeckung der Leidenschaft, Mainz. Der Autor liest Leben und Werk Monteverdis nicht ausschließlich chronologisch: Er entwickelt Zugänge aus dem Schaffen des Komponisten heraus, indem er eine ganze Reihe unterschiedlicher Analyse-Zugänge unter Berücksichtigung des kunst-, kultur- und geistesgeschichtlichen Kontexts erschließt. LEOPOLD, Silke (2017): Claudio Monteverdi. Biografie, Stuttgart und München. Die Autorin zeichnet ein spannend verfasstes Bild des Komponisten, seiner Zeit und seiner Musik; musikalische Fachbegriffe von „Basso seguente“ über „Madrigal“ bis zum „Regal“ werden auch für Laien klar und verständlich erklärt. METZGER, Heinz-Klaus und RIEHN, Rainer (Hg.) (1994): Claudio Monteverdi: Vom Madrigal zur Monodie, München (= Musik-Konzepte Bd. 83/84). Der Band ist eine Sammlung von hervorragenden, sowohl einführenden als auch vertiefenden Studien zum Schaffen Monteverdis.
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2 Zahl und Affekt. Musik bei René Descartes Überblick
D
as Musicæ Compendium des noch jungen René Descartes beginnt mit den Sätzen „Hujus objectum est Sonus. Finis ut delectet, variosque in nobis moveat affectus“ – „Der Zweck des Tones ist letzten Endes, zu erfreuen und in uns verschiedene Gemütsbewegungen hervorzurufen“ (DESCARTES 1656, S. 5): Descartes geht als erster Autor in der Geschichte des Musikschrifttums nicht von der Musik selbst aus, sondern vom Hörer. „Der Anfangssatz des ‚Compendium‘ […] formuliert als den neuen Blickpunkt das im Gemüt vorhandene Wohlgefallen, die Ergötzung (delecta-
Zeitgenössische Rezeption
tio)“ (BESSELER 1959, S. 30); der Blick des Autors richtet sich auf das empfindende und schließlich urteilende „Gemüt“ (animus). Musikhören bedeutet für Descartes bereits eine geistige Tätigkeit: „Die Einbildungskraft (imaginatio) ist es, die nach seiner Anschauung beim Hören jedes neue Glied mit den vorangehenden zusammenschließt, außerdem eine Korrespondenz mit früheren Gliedern herstellt und so das Musikstück als eine Einheit vieler zusammengehörender Glieder erfasst (concipit)“ (BESSELER 1959, S. 40; vgl. MORENO 2004, S. 50–84, bzw. JORGENSEN 2012).
Der an der Jesuitenschule La Flèche erzogene Descartes gehört nicht nur zu den wirkmächtigsten Philosophen seiner Zeit: Obgleich sein musiktheoretisches Schrifttum nicht sonderlich umfangreich ist, war es doch prägend für die nachfolgenden Generationen – als Musiktheoretiker tatsächlich auch außerhalb Frankeichs bekannt geworden sind im 17. Jahrhundert nur Descartes und Mersenne (vgl. SEIDEL 1986, S. 5). Die Musikanschauung des 17. und 18. Jahrhunderts stützt sich insbesondere auf Descartes’ rationalistische Affektenlehre. Auch der Einfluss auf Johann Mattheson ist groß, und die Bedeutung der Philosophie Descartes’ für das musiktheoretische Schaffen Rameaus lässt sich kaum überschätzen. Berühmt geworden ist das Bekenntnis Rameaus zu Beginn der Démonstration du principe de l’harmonie von 1750 – der bereits hochbetagte Komponist versucht, den methodischen Zweifel des Philosophen nachzuahmen, gibt vor allem aber zu, dass er durch die Lektüre des Discours de la méthode von Descartes stark geprägt worden sei (vgl. CHRISTENSEN 1993, S. 31–35 bzw. KINTZLER 1983, S. 45–46) – gleichwohl aber auch ein Stück biographischer Konstruktion zur Nobilitierung der eigenen Vita. Seine in musiktheoretischer Hinsicht bedeutendste Schrift, das Musicæ Compendium, stellte Descartes bereits 1618 – also als sehr junger Mann – fertig, veröffentlichte sie aber nicht mehr zu Lebzeiten: Es war vermutlich gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen (vgl. SEIDEL 1986, S. 46), auch wenn die Textsorte „Compendium“ sich als handliche Überblicksdarstellung vor allem an
Zahl und Affekt. Musik bei René Descartes
Schüler richtete (vgl. WALD-FUHRMANN 2017, S. 119). Das in lateinischer Sprache verfasste ‚Werk‘ erschien erst 1650 im Druck, wurde aber dann wiederholt aufgelegt und schon 1653 von Walter Charleton ins Englische übersetzt, 1668 auch ins Französische und noch vor der Jahrhundertwende ins Niederländische; das Compendium regte etwa Nicolaus Mercator und Isaac Newton zu vergleichbaren Publikationen an (vgl. WARDAUGH 2013). Tatsächlich enthält das Buch kaum neue Erkenntnisse oder Ergebnisse aus der Experimentierpraxis, ganz im Gegensatz zu den musiktheoretischen Schriften seines Zeitgenossen Mersenne (vgl. C HRISTENSEN 1993, S. 77): Descartes arbeitet mit Rhythmus, Intervallehre, Tonsystem und den fundamentalen Regeln des einfachen und diminuierten Kontrapunkts die gängigen Elemente der zeitgenössischen Musiklehre auf. Gleichwohl gehören Descartes’ Arbeiten in die Zeit der Entstehung der modernen musikalischen Akustik: Descartes ist Zeitgenosse von Isaak Beeckman oder Christian Huygens und gewinnt seine Arbeitsergebnisse wie diese durch empirische Experimente, vorzugsweise am Monochord. Das Compendium soll „keine detaillierten Kenntnisse vermitteln, sondern ‚montrer comment, en général, la musique est composée‘“ (SCHNEIDER 1972, S. 172). Allerdings ist die Grundlage, auf der das nicht sehr umfangreiche Werk basiert, eine vollkommen neuartige und originelle. Descartes geht in allen Lehrsätzen und Beurteilungen in erster Linie von der Einbildungskraft und der Sinneswahrnehmung des Menschen aus – insbesondere von der akustischen: Er versucht, Musiktheorie erkenntnistheoretisch zu fundieren. Descartes verbindet ästhetische Prinzipien in der Musik mit der einfachen Zahlenbeziehung der Töne, denn die mathematische und akustische Seite interessiert ihn nicht weniger als die psychologischphysiologische Seite der Musik. Im Folgenden sollen zunächst anhand einiger Aspekte des musiktheoretischen Denkens bei Descartes vor allem im Musicæ Compendium aufgezeigt werden, inwiefern Descartes sich diesen neuen Zugang zu seinem Gegenstand erschließt.
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Empirie
Abb. 2.1 René Descartes (Portrait von Frans Hals, 1648)
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Zahl und Affekt. Musik bei René Descartes
Neben einer Kontextualisierung des cartesianischen Materialismus soll es schließlich um eine Verortung der Rolle Descartes’ in der Entwicklung der Affektenlehre gehen, insbesondere in Hinblick auf die Wirkung des Traité des passions de l’âme (1649) auf die musiktheoretischen Texte Johann Matthesons.
2.1 Zahl: Monochord und Senario Descartes und Zarlino
Methode
In Descartes’ Musicæ Compendium gibt es nur wenig neue empirische Erkenntnisse. So baut – wie seit dem Altertum üblich und wie vor ihm Gioseffo Zarlino – auch Descartes sein Tonsystem auf dem ‚senario‘ auf, der Zahl Sechs als Fundament aller Intervalle. Überhaupt lehnt sich Descartes an Zarlinos Istitutioni harmoniche an – allerdings ohne wichtige Aspekte der Intervallehre Zarlinos zu übernehmen (vgl. SCHNEIDER 1972, S. 172–173). Es ist davon auszugehen, dass Descartes die Schrift bereits in der Jesuitenschule La Flèche kennenlernte (GAUKROGER 1995, S. 58). Besonders deutlich wird der Einfluss von Zarlinos Denken bei der Behandlung der Konsonanzen, auch wenn Descartes auf die Intervallspezies und die für Zarlino wesentliche Einteilung der Konsonanzen in „semplici“ und „composti“, also „einfach“ und „zusammengesetzt“ verzichtet; die einzige Erwähnung Zarlinos findet sich im Kontext der Kadenzlehre – als Verweis auf dessen Kataloge (DESCARTES 1656, S. 50). Allerdings berücksichtigt Descartes – anders als Zarlino – ausdrücklich weder die griechische Musiklehre noch die Ideenwelt der Humanisten (vgl. S CHNEIDER 1972, S. 173). Dabei enthält sich Descartes auch nicht der Kritik an Zarlino: So wirft er diesem vor, Kadenzen aller Art zu umständlich aufgezählt zu haben – Descartes ist der Auffassung, selbst bessere Begründungen für seine fundamentalen Überlegungen vorbringen zu können. Die Methode Descartes’ verlangt eine auf Ordnung und Unterscheidung fußende Vorgehensweise auf der Basis einer präzisen gedanklichen Grundlage – jenseits der im frühen 17. Jahrhundert üblichen Analogien. Diese Methode ist im Keim bereits im Musicæ Compendium von 1618 enthalten: Seine Verwendung des Monochords als Darstellungsmedium für die Tonhöhenordnung unterstreicht die von ihm verwendeten traditionellen Methoden, aber indem Descartes diese aus dem ihnen innewohnenden traditionellen metaphysischen, vor allem theologischen Diskurs löst, schafft er etwas radikal Neues: „Allein durch die Kraft der Logik, unterstützt von Erfahrungswerten entwirft Descartes seinen Traktat über die Musik.“ (vAN WYMEERSCH 2001, Sp. 859). Sein neues Fundament wird von Descartes in acht Leitsätzen, Vorbemerkungen („Praenotanda“) dem Traktat vorangestellt, in denen – auf den Punkt gebracht – die Bedingungen bestimmt werden, unter denen Tonbeziehungen das Ziel erreichen, „Menschen zu erfreuen“. Musiktheorie wird von Descartes also nicht auf der Basis von Zahlen und Proportionen (die allerdings auch in
2.1 Zahl: Monochord und Senario
Descartes’ System ihren Platz zugewiesen bekommen) betrieben, sondern auf der Basis der Ästhetik. Und wie Mersennes Hauptwerke enthält auch Descartes’ Compendium Stellungnahmen zur Instrumentalstimmung, zur Intervallehre und zur Satztechnik seiner Zeit; hierbei prägt Descartes übrigens als erster den Begriff der „Quinta falsa“, definiert als „Quinta uno schismate defectiva 27:40“ (DESCARTES 1656, S. 45) für die verminderte Quinte als Sonderfall – also durchaus mathematisch-physikalisch, allerdings weist der Begriff „Quinta falsa“ auf die ästhetisch zu verstehende Komponente seiner Terminologie hin. Alle Konsonanzen werden von Descartes aus den ersten sechs Zahlen abgeleitet (ein trotz ernster wissenschaftlicher Einwände tatsächlich bis hin zu Hindemiths Unterweisung im Tonsatz von 1937 üblicher Brauch), allerdings mit einer sehr unzureichenden Begründung: „weil in der Tat die Aufnahmefähigkeit der Ohren nur mit Mühe die größeren Differenzen der Töne unterscheiden könnte“ (DESCARTES 1656, S. 10: „quia, scilicet, aurium imbecillitas sine labore majores sonorum differentiam non posset distinguere“). Diese Begründung ist sogar offensichtlich falsch (insbesondere in Hinblick auf die Zahl Sieben!), auch wenn später etwa Hugo Riemann (in Hinblick auf von Rameau an Descartes gerichtete Vorwürfe) Descartes in Schutz nehmen sollte – mit der Begründung, Descartes denke „an die kleinen Stimmungsunterschiede […], welche die durch weitere Teilungen zu findenden Töne gegenüber den durch die Teilungen bis 6 bestimmten ergeben würden“. (R IEMANN 1898, S. 476). Das mag vielleicht auf Stimmungen nach Werckmeister und später zutreffen, aber an welche zeitgenössischen Stimmungssysteme Descartes bei der Ausführung dieser Begründung hätte denken können, muss hier offenbleiben. Stichwort
Stimmungen nach Werckmeister Der Musiktheoretiker Andreas Werckmeister (1645–1706) – Hoforganist in Quedlinburg, später Organist in Halberstadt – veröffentlichte 1681 und 1691 die ersten Beschreibungen von wohltemperierten Stimmungen, die die gegen Ende des 17. Jahrhunderts noch immer verbreitete mitteltönige Stimmung ersetzen und so Musikern auch an Tasteninstrumenten das Spiel in allen verfügbaren Tonarten ermöglichen sollten. In seiner Publikation von 1691 (Musicalische Temperatur) beginnt er die Zählung seiner Stimmungsvorschläge mit der Ordnungszahl III – der reinen (I) und der mitteltönigen (II) Stimmung folgend. Das pythagoreische Komma, das in der reinen Stimmung den Zusammenhang des Tonsystems in Frage stellt und in allen mitteltönigen Stimmungen nur bedingt aufgehoben erscheint, wird im Fall der Werckmeister-III-Stimmung in vier gleiche Teile zerlegt, die vier der zentralen Quinten verkleinern; alle anderen Quinten bleiben im Verhältnis 2:3. Johann Sebastian Bachs Sammlungstitel Das Wohltemperirte Clavier kann als Anspielung auf Werckmeisters Titel von 1681 OrgelProbe oder kurtze Beschreibung […] wie […] ein Clavier wohl zu temperiren […] sey verstanden werden.
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Konsonanzen
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Zahl und Affekt. Musik bei René Descartes
Vollkommen neu allerdings und zudem außerordentlich empirisch, da experimentell, ist der von Descartes im Compendium angewendete Ansatz, die diatonischen Intervalle mittels eines Saitenteilungsprinzips zu bestimmen – bei dem er tatsächlich nur vier Schritte benötigt, um nacheinander Oktave, Quinte, große Terz und alle anderen diatonischen Intervalle inklusive syntonischem Komma zu gewinnen (Vgl. die ausführliche Versuchsbeschreibung bei PLOEGER, 2002, S. 83–84 bzw. CHRISTENSEN 1993, S. 77–80). Das Saitenteilungsprinzip ist ein arithmetisches: Wie Descartes schon im sechsten Satz seiner Vorbemerkungen feststellte, kann der menschliche Sinn nur arithmetische, nicht aber geometrische Verhältnisse mühelos wahrnehmen. Dieser Darstellung wurde allerdings kaum Beachtung geschenkt, was vermutlich der nahezu gleichzeitigen Darstellung des Obertonphänomens bei Marin Mersenne geschuldet ist. Der Unisonus, der Einklang, ist für Descartes keine Konsonanz (bei ihm definiert als Töne, die gleichzeitig von unterschiedlichen Klangkörpern hervorgebracht werden können) – er ist nichts als die Basis für die Teilungsprozesse, aus denen alle höheren Konsonanzen erwachsen. Hierbei fällt der Oktave als größter Konsonanz eine besondere Rolle zu – die Abhandlung dieses Terminus ist im Wesentlichen eine der griechischen Bezeichnung Diapason (griech. „durch alle“): Die Oktave enthält alle anderen Konsonanzen; ihre Geschlossenheit stellt Descartes mithilfe eines Kreises dar (DESCARTES 1656, S. 19–20). Abb. 2.2 René Descartes, Musicæ Compendium, S. 19
2.1 Zahl: Monochord und Senario
An dieser Stelle ist auf die Bedeutung der Sympathieschwingung, die Descartes beobachtet, hinzuweisen: Descartes erkennt – hier durchaus als Vordenker Mersennes – bereits die Möglichkeit des Mitschwingens von Dreiklangstönen und ihren Oktavverdoppelungen (vgl. auch RIEMANN 1898, S. 398): Quelle Renatus [René] Descartes, Musicæ Compendium, Amsterdam 1656, S. 14; deutsch Leitfaden der Musik, hg. und übersetzt von Johannes Brockt, Darmstadt 1978, S. 16:
„Id enim experientia compertum habeo in nervis testudinis vel alterius cujuslibet instrumenti, quorum unus si pulsetur, vis ipsius soni concutiet omnes nervos qui aliquo generae quintae vel ditoni erunt acutiores.“ – „dass kein Ton gehört wird, dessen höhere Oktave nicht irgendwie dem Ohr mitzuklingen scheint.“
– eine Formulierung, die Rameau im Traité aufgreifen sollte (vgl. RAMEAU 1722, S. 11). Damit berührt Descartes das Obertonphänomen – parallel zur Erschließung der Tonhöhenverhältnisse durch die Teilung eines „tönenden Rahmens“ (SEIDEL 1986, S. 50): eines Grundtons. Das Phänomen der Obertöne wird von Marin Mersenne mit seiner Formulierung des Zusammenhangs von Tonhöhe und Schwingungszahl 1636/37 dargestellt und Anfang des 18. Jahrhunderts überzeugend nachgewiesen (vgl. SCHNEIDER 1972, S. 54–60), wurde allerdings lange als empirisches Phänomen missverstanden (vgl. PETERSEN 2017c, S. 393). So erwähnt Rameau in den ersten Sätzen seines Traktats Nouveau système de musique théorique von 1726 das Prinzip des „Corps Sonore“, die Konstruktion schwingender Systeme, die die als Grundlage für die Generation von Akkorden notwendigen Obertonschwingungen hervorbringen können, führt diese Theorie aber erst in der Ge´ne´ration harmonique von 1737 vollständig aus. Vom Nouveau système an ist Rameau allerdings damit in der Lage, seine Theorie einer „basse fondamentale“ als natürlich gegeben darzustellen zu können – als Naturphänomen, nicht als mathematische oder pädagogische Konstruktion: Dieser „fundamentale Bass“ ist eine abstrakte, rekonstruierte Stimme, die die Zentral- bzw. Grundtöne der erklingenden Akkorde darstellt; sie vermittelt so den Zusammenhang, den Fortgang von Akkord zu Akkord. Der Fortgang der Abhandlung aller weiteren Konsonanzen bei Descartes steht unter einem anderen Aspekt, nämlich dem ästhetischen: Die Quinte nennt Descartes das anmutigste und schönste musikalische Intervall (DESCARTES 1656, S. 21: „omnium gratissima atque auribus acceptissima“), die Quarte bezeichnet er als einen „Schatten der Quinte“ (D ESCARTES 1656, S. 22–23: „unde sit ut illa quasi umbra quintæ […] possit appellari“) – eine Formulierung, die auch bei Mersenne wiederkehrt und schließlich von Rameau übernommen werden soll: das unglücklichste Intervall – „infelicissima conso-
17 Obertöne
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Dreiklang
Zahl und Affekt. Musik bei René Descartes
nantiarum“ –, das niemals um seiner selbst willen gebraucht wird. Eine besondere Rolle spielt bei Descartes – ebenfalls ähnlich wie bei Mersenne und später bei Rameau – die Terz: Die kleine Terz gilt als Umkehrung der großen Terz, und beide konstituieren gemeinsam die Quinte; sie gelten bei Descartes als durchaus gleichwertig. Die enge Beziehung zwischen Terzen und Sexten erklärt er mit dem von ihm aufgezeigten Mitklingen der Oktave. Schließlich bemüht Descartes sich um eine Theorie des Dreiklangs – basierend auf dem Gedanken, dass im Rahmen der Oktave bereits alle Intervalle enthalten sind; Oktave, Quinte und große Terz erweisen sich als primäre Intervalle, Quarte und kleine Terz als Konsonanzen „per accidens“ (S EIDEL 1986, S. 9). Für den Zusammenhang mit dem späteren Harmoniebegriff Rameaus wird von Bedeutung sein, dass Descartes den Quartsextakkord (in enger Bezugnahme zu seiner problematischen Quartdefinition) nicht gelten lässt: Quelle Renatus [René] Descartes, Musicæ Compendium, Amsterdam 1656, S. 23; deutsch Leitfaden der Musik, hg. und übersetzt von Johannes Brockt, Darmstadt 1978, S. 24:
„[…] atque inde jam patet quare illa in cantilenis primo & per se, hoc est inter bassum & aliam partem, non possit reponi: cum enim dixerimus cæteras consonantias duntaxat ad variandam quintam esse utiles in Musica, certe evidens est illam fore inutilem; cum quintam non variet, quod patet, quia si illa poneretur in graviore parte, quinta acutior semper resonaret, ubi facillime auditus adverteret illam a sede propria ad inferiorem esse deturbatam , ideoque maxime quarta illi discipleret, quasi tantum umbra pro corpore, vel imago pro ipsa re foret objecta.“ – „Daraus allein wird klar, warum die Quarte in den Melodien nicht vorwiegend und allein, das ist zwischen Baß und einer andern Stimme, verwendet werden kann. Denn wie wir schon gesagt haben, dass die übrigen Konsonanzen in der Musik nützlich sind, nur um die Quinte abwechslungsreich zu machen, so ist es sicher einleuchtend, dass sie unnütz ist, weil sie die Quinte nicht variiert. Folglich würde, legte man sie in eine tiefere Stimme, die höhere Quinte immer mitklingen, wobei das Gehör leicht bemerken würde, dass sie von ihrem eigentlichen Platz auf einen unteren herabgedrückt wäre, so dass die Quart ihm äußerst mißfallen würde, gleichsam wie etwa nur der Schatten anstatt des Körpers oder die Einbildung an Stelle des Gegenstandes selbst.“
Dissonanzen
Descartes meint damit die Positionierung einer Quarte zur tiefsten Stimme eines mehrstimmigen Klangs – und lehnt diese ab mit dem Verweis auf den Charakter des problematischen Intervalls als „Schatten“ seines Komplementärintervalls. Descartes rezipiert darüber hinaus wie Mersenne den revolutionären Dissonanzbegriff Vincenzo Galileis. Demnach soll die Dissonanz „nicht mehr nur dem Eintritt der Konsonanz größere ‚Süße‘ verleihen, sondern einem Bedürfnis nach musikalischer Herbigkeit Rechnung tragen und somit eine positive Ausdrucksfunktion erfüllen“ (PALISCA 1958, Sp. 1538). Entsprechend betrach-
2.1 Zahl: Monochord und Senario
ten Descartes und Mersenne die Dissonanz als Reizfaktor, „der die Konzentration des Hörers verstärkt und die Spannung des musikalischen Verlaufs erhöht“ (SCHNEIDER 1972, S. 246). Bislang hat allein Herbert Schneider darauf verwiesen, dass bei Descartes die Dissonanz in der Kadenz und die verschiedenen Arten der von Zarlino übernommenen „Fuga“-Formen als „Ornamenta musicae“, als ‚Figuren‘ aufgefasst werden (SCHNEIDER 1972, S. 175). Später, vor allem in seinen Briefen an Mersenne, sollte Descartes physikalisch orientierte Ansätze übernehmen – er katalogisiert Konsonanzen nicht mehr über Zahlenverhältnisse, sondern anhand ihrer relativen Frequenz, der Anzahl ihrer gemeinsamen „tours et retours“, d.h. der Vergleichbarkeit der Frequenzen (vgl. vAN WYMEERSCH 2001, Sp. 860). Letztlich ist Descartes’ Verweis auf die aristotelische Beschreibung des Hörvorgangs als Wahrnehmung physikalisch messbarer Schwingungen gemäß seiner Korpuskeltheorie im Traité de l’homme, aber auch schon im Musicæ compendium eine Brücke zur Kompositionslehre, wenn er die Frage nach dem Umgang mit Konsonanzen und Dissonanzen an die Ästhetik gleichsam weiterreicht (vgl. WISSMANN 2010, S. 23; zur Korpuskeltheorie vgl. HIRSCHMANN 2005, S. 123–124). Quelle René Descartes 1630 an Marin Mersenne (Œuvres Bd. 1, S. 126):
„Toutefois il a des endroits où la tierce mineure plaira plus que la quinte, mesme où vne dissonance se trouuera plus agreable qu’vne consonance. Ie ne connois point de qualitez aux consonances qui répondent aux passions. Vous m’empeschez autant de me demander de combien vne consonance est plus agreable qu’vne autre, que si vous me demandiez de combien les fruits me sonst plus agreables à manger que les poissons.“ – „Vielfach gibt es Stellen, wo die kleine Terz besser gefallen wird als die Quinte, oder eine Dissonanz angenehmer befunden wird als eine Konsonanz. Ich kenne überhaupt keine Qualitäten der Konsonanzen, die den Gefühlen korrespondieren würden. Sie [Mersenne, Anm. des Verf.] wollen doch sicher genausowenig, dass ich mich frage, um wieviel eine Konsonanz angenehmer ist als eine andere, wie Sie mich fragen wollten, um wieviel es mir angenehmer sei Früchte zu essen als Fisch.“ (vgl. HIRSCHMANN 2005, S. 114–115).
Schon die Einordnung der Terz als Konsonanz von höherem Vollkommenheitsgrad als die Quarte – trotz des einfacheren Zahlenverhältnisses – dokumentiert Descartes’ Neigung zu musikästhetischer Wertung. Die – persönliche – sinnliche Wahrnehmung überwiegt das Kalkül – ganz wie bei Alexander Gottlieb Baumgarten gut hundert Jahre später; anders als Baumgarten spricht Descartes aber nicht von einer sinnlichen Erkenntnis, sondern unmittelbar vom sinnlichen Vergnügen – und dessen Ursache liegt im Objekt der sinnlichen Wahrnehmung.
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Zahl und Affekt. Musik bei René Descartes
2.2 Zahl und Affekt: Der cartesianische Materialismus Metaphysik
Philosophie und Praxis
Die Metaphysik Descartes’ war schon früh – um 1700, also nur ein halbes Jahrhundert nach Descartes’ Tod – überwunden und hatte einen sehr zurückhaltenden Einfluss auf Philosophie und Kultur im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Ganz entgegengesetzt ist der Einfluss des sogenannten cartesianischen Materialismus einzuschätzen – obwohl oder gerade weil die cartesianische Philosophie 1693 von der Sorbonne und dem Königlichen Rat als gemeingefährlich eingestuft und verboten wurde; die cartesianische Physik hingegen wird später auch von der Geistlichkeit anerkannt und zum Dogma erhoben (vgl. PISCHNER 1967, S. 85). Der cartesianische Materialismus zeigt sich schon im Hinblick auf die Musiktheorie im Musicaæ Compendium in einer frühen Ausprägung, zieht aber noch weitaus größere Kreise nach sich. Descartes als bedeutendster Fürsprecher einer mechanistischen Weltanschauung beschreibt die Natur als aus unendlichem Raum bestehend, der von Substanz in nur zwei verschiedenen Zuständen gefüllt wird – Bewegung oder Trägheit; jedes erfahrbare Phänomen könne nach Descartes auf die mechanische Gleichung der auf eine andere Materie einwirkende Materie reduziert werden. Qualitäten wie Farbe, Klang oder Geschmack sind als sekundär einzuschätzen, soweit sie nicht essentieller Bestandteil der Materie sind, sondern ausschließlich Sinneswahrnehmung (vgl. C HRISTENSEN 1993, S. 103). Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Compendiums für die Entstehung einer neuen Musikästhetik – einer Art „rationalisierter Affektenlehre“ (STEPHAN 1954, Sp. 210). Die Sinneswahrnehmung versucht Descartes auf eine mechanische Funktion zu reduzieren, wobei er auch auf den Subjektivismus der sinnlichen Wahrnehmung hinweist: Das Objekt der Betrachtung ist umso leichter aufzunehmen, je einheitlicher und proportionierter seine Teile untereinander sind. Diese Stellungnahme ist keine Entdeckung des 17. Jahrhunderts – verwiesen sei hier nur auf Demokrit oder Lucretius –, aber erst die Philosophie dieser Epoche setzte den Materialismus als Naturinterpretation in einen radikal neuen metaphysischen Rahmen: Die Naturwissenschaften werden zum ‚Schlüssel zur Natur‘. Marin Mersenne sollte schließlich die Aufgabe zufallen, zu beweisen, dass auch Platonischer Idealismus mit der mechanistischen Auffassung harmonisiert werden kann. Descartes postuliert, dass die Wissenschaften praxisorientiert arbeiten sollen – so dass sie ein enzyklopädisches Gesicht erhalten können. Diese Forderung findet sich insbesondere in seinem Discours de la Méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, auf deutsch Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, der 1637 anonym erschien. Diese Schrift enthält eine autobiographische Skizze, provisorische Grundsätze der Moral, einen Gottesbeweis, naturwissenschaftliche Fragen und Anwendungen, um uns „zu
2.2 Zahl und Affekt: Der cartesianische Materialismus
Herren und Eigentümern der Natur zu machen“, und das berühmt gewordene erste Prinzip der Philosophie: „Ich denke, also bin ich“. Descartes’ Forderung nach praxisorientierter Wissenschaft impliziert ein Denkverfahren, das alle wissenschaftlichen Ergebnisse in erster Linie durch Beobachtung und Analyse der in den Dingen selbst erhaltenen Ordnung sucht; die Methode entspricht der John Lockes, die d’Alembert auch im Vorwort zur Encyclopédie beschreibt. Es geht Descartes um eine der realen Welt zugewandte, methodisch zuverlässige Philosophie, die das allgemeine Wohl aller Menschen durch Steigerung ihrer Macht über die Natur fördert: Quelle Descartes, Discours de la Méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, Paris [anonym] 1637, S. 58:
„Il est possible de parvenir à des connaissances qui soient fort utiles à la vie; et qu’au lieu de cette philosophie spéculative qu’on enseigne dans les écoles, on en peut trouver une practique, par laquelle, connaissant la force et les actions du feu, de l’eau, de l’air, des astres, des cieux et de tous les autres corps qui nous environnent, aussi distinctement que nous connaissons les divers métiers de nos artisans, nous les pourrions employer en mÞme façon à tout les usages auxquels ils sont propres, et ainsi nous rendre comme maîtres et possesseurs de la nature.“ deutsch Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, übersetzt von Kuno von Fischer, Stuttgart 1863 / 1973:
„[Es ist möglich,] Ansichten zu gewinnen, die für das Leben sehr fruchtbringend sein würden, und statt jener theoretischen Schulphilosophie eine praktische zu erreichen, wodurch wir die Kraft und die Tätigkeiten des Feuers, des Wassers, der Luft, der Gestirne, der Himmel und aller übrigen uns umgebenden Körper ebenso deutlich wie die Geschäfte unserer Handwerker kennenlernen und also imstande sein würden, sie ebenso praktisch zu allem möglichen Gebrauch zu verwerten und uns auf diese Weise zu Herrn und Eigentümern der Natur zu machen.“
Wie Mersenne vertritt Descartes in seinem Compendium die Auffassung, dass die Beziehungen zwischen den Empfindungen der menschlichen Seele nicht feststellbar sind. Diese Ansicht wird von Descartes (und später auch von Rameau in der Génération harmonique) auf die Tonbeziehungen übertragen: Töne haben zueinander die gleichen Beziehungen wie ihre Ursachen – also wie die Zahlenverhältnisse, die sie hervorbringen. Dieses sehr deutliche Bekenntnis zur Tradition, bewiesen auch anhand der Experimente am Monochord, wird von Rameau fraglos übernommen. D’Alembert sollte später in dieser Hinsicht zu den heftigsten Kritikern Descartes’ gehören: Er verbannt aus seinen Elémens de musique théorique et pratique, suivant les principes de M. Rameau (Paris 1752) sämtliche Betrachtungen über geometrische, harmonische und auch arithmetische Proportionen und Teilungen. D’Alemberts Evidenzbegriff ist ein von dem cartesianischen wesentlich verschiedener (vgl. P ISCHNER 1967, S. 156).
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Zahl und Affekt. Musik bei René Descartes
2.3 Affekt: Von Descartes zu Mattheson Les Passions de l’âme
Affekt und Tugend
Während Descartes einen großen Teil seines Musicæ Compendium der rationalistischen Begründung der Musik widmet, verweist er auf die Zusammenhänge von Musik und Affekt nur sehr knapp. Dabei äußert sich der Rationalismus auch hier, nämlich in einer mechanistischen Auffassung der affektiven Wirkung von Musik: Bestimmte Affekte werden spezifischen musikalischen Mitteln bis hin zur Theorie der korrespondierenden Taktordnung zugeordnet. Das richtungsweisende ‚Hauptwerk‘ ist in diesem Zusammenhang Descartes’ Traktat De passionibus animae oder Les Passions de l’âme von 1649, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert äußerst intensiv rezipiert wurde und eine enorme Wirkung auf die Entwicklung von Philosophie und Musiktheorie hatte. Descartes unternimmt annähernd zeitgleich mit dem Erscheinen der Musurgia universalis Kirchers in Rom (wenngleich vollkommen unabhängig) den Versuch einer groß angelegten, systematisch ausgebauten Abhandlung von sechs Grundaffekten. So beschreibt er als einer der ersten die physischen Fundamente der Emotionen, entwirft eine „Theorie der Leidenschaften“ bzw. eine „Lehre de Affectibus“ – oder eben „Affektenlehre“, zu der dann schließlich Johann Mattheson vordringen sollte. Bereits Gioseffo Zarlino forderte in seinen Istitutioni harmoniche 1558, also über ein Dreivierteljahrhundert vor Descartes, die Bewegung der menschlichen Seele durch die Musik. Seitdem steht im Mittelpunkt des musiktheoretischen Diskurses der differenzierte Einsatz musikalischer Mittel zur Hervorbringung von Gemütsregungen. Descartes entwickelte in Les Passions de l’âme einen auf Liebe, Hass, Freude, Traurigkeit, Begehren und Bewunderung reduzierten Katalog der Leidenschaften. Seine Reduktion erklärt sich aus dem Descartes’ Überlegungen zugrundeliegenden Rationalismus: Bereits in den Prinzipien der Philosophie (1644) hatte er die Funktion der Seele als Steuerung der Emotionalität wie des Denkvermögens ausgemacht und ihren Sitz im Gehirn, mithin also den Verstand als Regulativ für die Leidenschaften verortet. Descartes’ Katalog wird von Athanasius Kircher in der Musurgia universalis (Schwäbisch Hall 1650) auf acht, von Friedrich Wilhelm Marpurg (in den Kritischen Briefen über die Tonkunst mit kleinen Klavierstücken und Singoden von 1759/1760) schließlich auf sogar 27 Affekte erweitert (vgl. WISSMANN 2010, S. 24). Die Musik spielt in Les passions de l’âme nur ganz am Rande eine Rolle; auch die im Musicæ Compendium entwickelten Überlegungen werden nicht noch einmal aufgegriffen. Johann Mattheson bezieht sich schon im zweiten Teil der Critica musica von 1725 besonders deutlich auf Descartes’ Lehre mit dem Ausdruck „Lehre de Affectibus“ im Zusammenhang mit der Kritik an Benedetto Marcellos Psalmkompositionen (vgl. BUELOW 1983, S. 399); von Bedeutung ist in diesem
2.3 Affekt: Von Descartes zu Mattheson
Kontext bereits Mathesons Forschendes Orchestre von 1717 mit erweiterten Bemerkungen zur philosophischen Basis eines rationalen Systems von Emotionen (vgl. CANNON 1947, S. 84). Mattheson beruft sich schließlich selbst in seinem musiktheoretischen Hauptwerk, dem Vollkommenen Capellmeister von 1739, ausdrücklich auf Descartes (MATTHESON 1739, S. 15, vgl. PETERSEN 2002, S. 42–77). Eine Systematik in den auf eine Affektenlehre abzielenden Passagen ist aber trotz des enzyklopädischen Anspruchs des Capellmeisters nicht erkennbar. Für Mattheson verbinden sich „Affect“ und „Tugend“ miteinander (vgl. FEES 1991, S. 110–111): „Wo keine Leidenschafft, kein Affect zu finden, da ist auch keine Tugend. Sind unsere Passiones kranck, so muss man sie heilen, nicht ermorden“ (MATTHESON 1739, S. 15) – die Affekte erhalten eine kathartische Funktion. Tugend wird bei Mattheson definiert als „eine wol-eingerichtete und klüglich-gemäßigte Gemüths-Neigung“ (ebd.). Wer keine Leidenschaften in sich trage, könne keine Tugend erwerben. Stichwort
Johann Mattheson Der 1681 als Sohn eines reichen Kaufmanns in Hamburg geborene Mattheson erhielt eine umfassende Ausbildung, unter anderem beim Gottorfer Hofkapellmeister Johann Nicolaus Hanff (1663–1711). Er sang früh als Solist an der neugegründeten Hamburger Oper und komponierte 1699 sein erstes eigenes Musiktheaterwerk. Ab 1704 übte er eine Position als Hofmeister, Sekretär und Korrespondent des englischen Gesandten aus, den er zunächst (bis 1709) neben seiner Tätigkeit als Opernsänger und -komponist sowie bis ins hohe Alter beibehielt; 1718–1728 wurde er darüber hinaus Musikdirektor am Hamburger Dom. Der Großteil seiner musiktheoretischen Schriften entstand in den zwanziger und dreißiger Jahren, darunter sowohl praktische Schriften wie die Generalbaßschule (1731), aber auch ein großer Umfang an Musikkritiken, zum Teil in selbst herausgegebenen Zeitschriften. Er komponierte sechs Opern sowie über 30 Oratorien und Kammermusik, übersetzte Romane und Fachliteratur ins Deutsche. Mattheson starb 1764 (vgl. BÖNING 2011). In seinem Hauptwerk, dem Vollkommenen Capellmeister (1739), versucht Mattheson der Kontrapunktlehre auf der Basis mathematischer Erwägungen – der Substanz der traditionellen „musica poetica“ – eine ästhetisch begründete Melodielehre entgegenzusetzen und die ältere Disziplin zwar nicht außer Geltung zu setzen (ablesbar an einer Kompositionslehre im dritten Teil des Vollkommenen Capellmeisters), aber doch durch die neuere aus der Position einer Grundlehre der Musiktheorie oder der musikalischen Satzlehre zu verdrängen. Im Vollkommenen Capellmeister ist darüber hinaus eine intensive Beschäftigung mit der Historie zu konstatieren: Nicht nur durch die ständige Bezugnahme auf historische Autoritäten, sondern auch durch eine Betrachtung von Satzlehre vor dem Hintergrund eines entstehenden Geschichtsbewusstseins wird der Vollkommene Capellmeister zu einem ersten Scheitelpunkt in der Entwicklung der Musikgeschichte als Wissenschaft (vgl. PETERSEN 2017a, S. 321–323).
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2 „Affektenlehre“
Abb. 2.3 Johann Mattheson (Kupferstich von Johann Jakob Haid)
Zahl und Affekt. Musik bei René Descartes
Die barocke Theorie kennt den Begriff „Affektenlehre“ nicht, er wird auch nicht von den zeitgenössischen Schreibern benutzt. Offensichtlich ist dieser Terminus unbekannt in der Musikliteratur des 17. Jahrhunderts, und noch im 19. Jahrhundert wird ihm keinerlei Stellenwert beigemessen (vgl. B UELOW 1983, S. 397). Er ist eine Erfindung der deutschen Musikwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts: Erstmals erscheint der Begriff bei Arnold Schering 1907 und wird 1911 ausführlich von Herrmann Kretzschmar aufgegriffen (vgl. ebd., S. 403). Wenn aber der Terminus für die zeitgenössische musikalische Praxis demnach gar nicht existiert, ist einerseits zu fragen, inwieweit diese als Kompositionsprinzip für die schaffenden Musiker gelten konnte, andererseits aber vor allem, wie dieser Terminus in den Schriften Matthesons zu verstehen ist – insbesondere unter Berücksichtigung der von Mattheson selbst hergestellten Beziehung zu Descartes’ Arbeiten. Der Begriff „Affektenlehre“ erscheint insgesamt dreimal in den Schriften Matthesons, erstmals im zweiten Teil der Critica musica von 1725 im Zusammenhang mit der Erörterung von zu vertonenden Texten. Quelle Johann Mattheson,
Critica Musica. D.i. Grundrichtige Untersuch- und Beurtheilung / Vieler / theils vorgefassten / theils einfältigen Meinungen / Argumenten und Einwürffe / so in alten und neuen / gedruckten und ungedruckten / Musicalischen Schriften zu finden. Zur müglichsten Ausräutung aller groben Irrthümer / und zur Beförderung eines bessern Wachsthums der reinen harmonischen Wissenschaft / in verschiedene Theile abgefasset / Und Stück-weise heraus gegeben Von Mattheson […], Hamburg / im May 1722. (Band II:) CRITICAE MUSICAE Tomus Secundus. d.i. Zweyter Band der grund-richtigen Untersuch- und Beurtheilung vieler, theils guten, theils bösen, Meynungen, Argumen-
2.3 Affekt: Von Descartes zu Mattheson ten, und Einwürffe, so in alten und neuen, gedruckten und ungedruckten musikalischen Schriften befindlich: zur Ausräutung grober Irrthümer, und zur Beförderung bessern Wachsthums der reinen Harmonischen Wissenschaft, in verschiedene Theile verfasset, und Stückweise herausgegeben von Mattheson […], Hamburg 1725, Reprint beider Bände in einem Band Amsterdam 1964, hier: Band II, S. 324. „Um Vergebung! Es kommen keine wiedrige Affecten zusammen in den Worten: Die Reichen müssen darben und hungern; aber die den HErrn suchen, haben keinen Mangel. Es ist eine blosse Betrachtung der Freundlichkeit Gottes, und eine Vergnügung über seiner Gerechtigkeit, dass er die Reichen hungern, und es den Gottesfürchtigen an nichts fehlen läßt. Diese antitheses geben gute Doppel-Fugen ab, weil sie, ob gleich mit verschiedenen Ausdrückungen, doch zu einerley Ende, concurriren. In der Affecten-Lehre muss also vorher eine viel grössere Insicht [sic] erhalten werden, wenn man hievon gesund urtheilen will.“
Der Terminus kann zunächst hier den Sinn eines „echten“ Kompositums haben – Affekten-Lehre als die Lehre von den Affekten, ganz ohne didaktische Bezüge oder (wie man bei Mattheson vermuten könnte) rhetorische Implikationen. Sachlich geht es hier um die Vertonung von Psalm 34,10 und um eine Auseinandersetzung mit Bokemeyers Schrift Der melodische Vorhoff – Bokemeyer hatte zu den Psalmversen bemerkt, hier stieße „wiedrige Affection“ zusammen. Das zweite Auftreten dieses Begriffs findet sich in seinem Musicalischen Patrioten von 1728, ist aber nur verständlich im Zusammenhang mit der dritten Erscheinung des Terminus „Affektenlehre“. Am Ende des dritten Kapitels des Ersten Theils im Vollkommenen Capellmeister, „Vom Klange an sich selbst, und von der musicalischen Natur-Lehre“ überschrieben, heißt es: Quelle Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Das ist gründliche Anzeige aller derjeniger Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen innehaben muss, der einer Capelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will: zum Versuch entworfen von Mattheson, Hamburg 1739, Reprint Kassel 1954, 61995 (= Documenta Musicologica. Erste Reihe: Druckschriften-Faksimiles V, hg. von Margarete Reimann); Neusatz hg. von Friederike Ramm, Kassel 1999, S. 72
„Mein weniger Rath gehet zum Beschlusse dieses Haupt-Stückes, welches die Natur-Lehre des Klanges mit der Affecten-Lehre einiger und nöthiger Maassen verknüpfet, dahin: Man suche sich eine oder andre gute, recht gute poetische Arbeit aus, in welcher die Natur lebhafft abgemahlet ist, und trachte die darin enthaltene Leidenschafften zu unterscheiden. Denn es würden manchem Setzer und KlangRichter seine Sachen ohne Zweifel besser gerathen, wenn er nur bisweilen selbst wüste, was er eigentlich haben wollte.“
Mattheson setzt diesen Passus hinter eine Zusammenstellung von Erklärungen, die die „Natur-Lehre“ und eben die Affekte betreffen. Offensichtlich meint er mit dem Terminus „Affecten-Lehre“ ein (Lehr-)Konzept, das der Na-
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2 Descartes-Rezeption
Zahl und Affekt. Musik bei René Descartes
tur-Lehre, der Physik, entspricht (vgl. BUELOW 1983, S. 399); die Passage aus dem Patrioten lässt in diesem Sinn eine komplementäre Zugehörigkeit der Affektenlehre zu ebendieser Natur-Lehre vermuten. In allen drei Fällen bezieht sich Mattheson auf die cartesische Theorie, menschliche Emotionen auf die Basis physischer bzw. physikalischer Gesetzmäßigkeiten zu stellen; So ist auch die Aufstellung einer Reihe von Affekten im Vollkommenen Capellmeister (S. 17–19) als Descartes-Rezeption zu verstehen: In De passionibus animae werden die Affekte in die den menschlichen Körpersäften (wo Descartes den Sitz der Leidenschaften vermutete) zugeordnete Klassen eingeteilt. Die Ausführungen Matthesons lesen sich dabei zum größten Teil wie eine Zusammenfassung des Traktats von Descartes – auch wenn dessen Definitionen sicherlich nicht als doktrinäre Affektenlehre verstanden werden können (vgl. BUELOW 1983, S. 402–403). Das Missverständnis, Mattheson eine endgültig ausformulierte Affektenlehre auf der Basis der Arbeiten etwa Descartes zuzuschreiben, basiert nicht zuletzt auf der 1713 im Neu-Eröffneten Orchestre veröffentlichten Tonartencharakteristik (MATTHESON 1713, S. 232–253), vermutlich die am häufigsten zitierte Stellungnahme Matthesons zu den Affekten: Mattheson beschreibt charakteristische Affekte für die siebzehn gebräuchlichsten Tonarten. Auch diese systematisch anmutende Reihung wird durch die sich anschließende Äußerung Matthesons konterkariert, wenn er – trotz eventueller Ergänzungsmöglichkeiten – bemerkt, dass „wir uns hierbey auch nicht länger auffhalten / sondern einem jeden nochmahls die Freyheit gerne lassen wollen / dass er einem oder andern Tohn solche Eigenschafften beylege / die mit seiner natürlichen Zueignung am besten übereinkommen / da man denn finden wird / dass der liebste LeibThon gar offte einer Abdanckung unterworffen seyn müsse“ (M ATTHESON 1713, S. 253): Die Gemütsbewegung des Musikers gilt es zu vermitteln, und die Auflistung der Affekte in Hinsicht auf die siebzehn Tonarten korrespondieren ausschließlich mit Matthesons Temperament (vgl. CANNON 1947, S. 127)! Die Vorstellung der Affektenlehre als ein didaktisches Modell neben der Natur-Lehre wird von Mattheson nicht wieder aufgegriffen; der Begriff erscheint auch nicht bei den Mattheson historisch nahestehenden Theoretikern wie Scheibe, Marpurg oder C. Ph. E. Bach (vgl. BUELOW 1983, S. 400). So ist es Matthesons Ziel, mit der Einbindung der Affekte als notwendiges Element seiner Lehre der Frage nach der Natur des musikalischen Ausdrucks nachzugehen; seine Hinweise, inwieweit der Komponist sich die Qualitäten der Affekte zunutze machen kann, sind elementare Bestandteile der späteren Inventionslehre (vgl. wbd., S. 404). Vor allem aber entscheidend ist Matthesons Haltung, dass ein musikalischer Gedanke sowohl syntaktisch als auch semantisch einen Affekt verkörpert – ablesbar aus der oben zitierten Bestimmung insbesondere mit der Melodie als Affektträger.
2.3 Affekt: Von Descartes zu Mattheson
Mattheson versucht mit seinem Entwurf einer Melodielehre im Vollkommenen Capellmeister nichts Geringeres, als der Kontrapunktlehre auf der Basis mathematischer Erwägungen – der Substanz der traditionellen ‚musica poetica‘ – eine ästhetisch begründete Melodielehre entgegenzusetzen und die ältere Disziplin zwar nicht außer Geltung zu setzen, aber doch weitgehend zu verdrängen. Matthesons Perspektive stützt sich allerdings notwendigerweise auf die Arbeiten René Descartes’ – explizit oder implizit, auch vermittelt über die Philosophie John Lockes (vgl. GJERDINGEN 2002, S. 958). Descartes hatte vermutlich schon 1646 seine Passions de l’âme abgeschlossen, allerdings wurde das Werk erst 1649 in Amsterdam und Paris veröffentlicht; Athanasius Kircher beendete 1647 seine monumentale Musurgia universalis in Rom – ohne Kenntnis der Schrift Descartes’, mit dem er offenbar auch keine Korrespondenz pflegte. Die voneinander unabhängig entstandenen Schriften Descartes’ und Kirchers stellen gleichermaßen die Bewegung der Gemüter als primäres Ziel der Musik heraus – wie Descartes schon zu Beginn seines Musicæ Compendium von 1618 (vgl. PALISCA 2006, S. 193): „Hujus objectum est Sonus. Finis ut delectet, variosque in nobis moveat affectus“ – „Der Zweck des Tones ist letzten Endes, zu erfreuen und in uns verschiedene Gemütsbewegungen hervorzurufen“. Heinrich Besseler hat bereits 1959 unter Verweis auf Martin HEIDEGGER (1950, S. 80–82) hervorgehoben, dass Descartes später ergänzend in den Meditationes de prima philosophia durch methodischen Zweifel die Erkenntnis »cogito, ergo sum« als das einzig Sichere herausstellt: „Wenn Descartes das Sichere ‚Subjekt‘ nennt, so bedeutet dieses Wort […] zugleich das Zugrundeliegende im Sinne der Metaphysik. So wird nun philosophisch der Mensch zur Bezugsmitte alles Seienden“ (BESSELER 1959, S. 41; vgl. LOHMANN 1979, S. 85–86) – in der Philosophie wie in der Musiktheorie: Hier beginnt die Neuzeit. Wissens-Check
– Welche Rolle spielt die Empirie in Descartes’ Musicæ Compendium? – Welches Ziel haben die acht Leitsätze Descartes’? – Wie bestimmt Descartes die diatonischen Intervalle? – Wie stellt Marin Mersenne das Phänomen der Obertöne dar – und welchen Zusammenhang mit der Darstellung bei Descartes gibt es? – Inwiefern bezieht sich Johann Mattheson noch 1739 auf Descartes?
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Zahl und Affekt. Musik bei René Descartes
Literaturhinweise DESCARTES, Renatus [René] (1656): Musicæ Compendium, Amsterdam 1656, deutsch Leitfaden der Musik, hg. und übersetzt von Johannes Brockt, Darmstadt 1978: Die Grundlage dieses Einleitungskapitels ist kurz – und gehaltvoll. BUELOW, George J. (1983): Johann Mattheson and the invention of the Affektenlehre, in: New Mattheson Studies, hg. von George J. Buelow und Hans Joachim Marx, Cambridge, S. 393–407: Eine geistreiche, nach wie vor nicht überholte Einführung zu den Anfängen der Affektenlehre. HIRSCHMANN, Wolfgang (2005): »Das 17. Jahrhundert: Desintegration und Diversifizierung«, in: Musiktheorie, hg. von Helga de la Motte-Haber und Oliver Schwab-Felisch, Laaber (= Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft Bd. 2), S. 93–126: Sehr dichter, aber nachvollziehbarer Einführungstext zu den musikphilosophischen und naturwissenschaftlichen Grundlagen der Musiktheorie. PALISCA, Claude V. (2006): Music and Ideas in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Chicago (=Studies in the History of Music Theory and Literature Vol. 1, hg. von Thomas J. Mathiesen): Ein Sammelband mit einem Querschnitt der – vor allem französischen und italienischen – Quellen der musikalischen Kultur- und Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. PETERSEN, Birger (2002): Die Melodielehre des Vollkommenen Capellmeisters von Johann Mattheson. Eine Studie zum Paradigmenwechsel in der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts, Eutin und Norderstedt (Eutiner Beiträge zur Musikforschung Bd. 1): Detaillierte Darstellung des musiktheoretischen Denkens Johann Matthesons. SCHNEIDER, Herbert (1972): Die französische Kompositionslehre in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Tutzing (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft Bd. 3): Nach wie vor gültiger Überblick über die Zeitgenossen Descartes’ in Frankreich und ihren Einfluss auf die Weiterentwicklung musiktheoretischen Denkens.
3 Die Entwicklung der musikalischen Gattungen Überblick
I
m 17. und 18. Jahrhundert entwickeln sich musikalische Gattungen zu einem Fundament, auf das auch die Musikschaffenden der folgenden Epochen Bezug nehmen – sei es in der Annäherung, sei es in der Überwindung der Normen der Vergangenheit. Eine erstmals im frühen 18. Jahrhundert greifbare und auf eine Taxonomie zielende Gattungslehre steht nur scheinbar der älteren Stillehre entgegen, sondern wird mit dieser verbunden zu einer Gattungspoetik: Zeitgenössische gattungstheoretische Schriften stehen im satztechnischen Kontext, sei es in der Kontrapunkt-
oder der moderneren Melodielehre. Die von Mattheson 1713 im Neu-Eröffneten Orchestre prädisponierte Gegenüberstellung von Stilund Gattungslehre (auch in der Vermittlung der Arbeiten Christoph Bernhards) kann als Ausgangspunkt für die Darstellung einer Entwicklung der Gattungen herangezogen werden. Anhand eines Fallbeispiels aus der Sammlung Membra Jesu nostri Dieterich Buxtehudes erweist sich die zeitgenössische Flexibilität der mit der Lehre Matthesons intendierten Gattungspoetik.
3.1 Grundzüge der Gattungslehre bei Johann Mattheson Zwei Jahre, bevor Johann Mattheson die Anwartschaft auf das Dom-Kantorat zugesichert wurde, erscheint seine erste Schrift, mit der er sein Interesse an „Musicam didacticam & theoricam“ bekundet: Das Neu-Eröffnete Orchestre veröffentlicht er 1713 als breit angelegte Offensive gegen konservative Musikausübende. Zu diesem Umstand tragen mehrere Faktoren bei, darunter der Schreibstil des Werks: Bereits mit dem ungewöhnlichen Titel dieses Buchs (den er modifiziert 1717 und 1721 wiederholt und so nominell eine „Orchestre“-Trias schafft) spielt Mattheson auf eine Vielzahl von Gesichtspunkten an, die für eine Arbeit dieses Ausmaßes neuartig, mindestens aber andersartig sind. Der Terminus „Orchestre“ wird als für dramatische, vokale und instrumentale Musik gemeinsamer Begriff gewählt, wie er selbst in der „Einleitung vom Verfall der Music und dessen Ursachen“ schreibt: Quelle Johann Mattheson, Das Neu-Eröffnete Orchestre Hamburg 1713, S. 34–35
„Da denn, was den Titul des neu-eröffneten Orchestres betrifft, zu wünschen hätte sein können, dass ein generalers Wort, welches beides Kirchen- und Theatral- so wol Vocal- als Instrumental-Music begreiffen möchte, sich hätte wollen finden las-
Das Neu-Eröffnete Orchestre
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Die Entwicklung der musikalischen Gattungen sen; Allein so habe ich Abgang dessen, das Orchestre oder Orquestre als eine noch nicht sehr gemeine und dabey galante Expression lieber setzen wollen […]. Nachdem aber in den neuern Zeiten das parterre nicht mehr wie vor Alters der vornehmste Platz geblieben […], so hat man den Ort, harte vors Theatre, wo die Herren Symphonisten ihre Stelle haben, mit dem Namen Orchestre oder Herren-Sitz beehren wollen, vermuthlich aus folgenden Ursachen, erstlich, weil die force und das tutti am meisten in der Symphonie oder Instrumental-Music stecket, zum andern und vornehmlich, weil daselbst das Haupt des gantzen Wesens scilicet, der Capelmeister […] seinen beständigen und gar honorablen Platz einnimmt, als auf dessen mouvement und Zeichen alle Augen gerichtet, und von dem so wol Sänger als Symphonisten gleichsam ihre ordre hohlen.“
Intention
Noch der viel jüngere Vollkommene Capellmeister weist die gleiche Intentionskreuzung wie die frühe Schrift von 1713 auf: Mit der Kompositionslehre (mit dem Primat der Melodie und erst als deren Derivat die Harmonie) kreuzt sich Matthesons frühes Programm einer „wissenschaftlichen Betrachtung“ – die Tonlehre mündet in die Stiltheorie (KRUMMACHER 1986, S. 86). Wenn die musikästhetischen Grundlagen der Arbeit Matthesons also bereits 1713 schlüssig formuliert sind und diese untrennbar verbunden bleiben mit den Prinzipien der Melodielehre, denen er 1739 den letzten Schliff verleiht, müssen auch grundsätzliche Aspekte derselben im Neu-Eröffneten Orchestre zu entdecken sein. Die Verbindung von Grundelementen der Melodielehre mit der Kontrapunktlehre ist im gesamten Traktat existent; gleiches gilt für die Nachfolgeschrift, Das Beschützte Orchestre, die die von Mattheson 1713 erstmals aufgeworfenen Fragen relativiert oder verdeutlicht. Der eigentliche Satzlehreteil des Neu-Eröffneten Orchestres beschäftigt sich im Vergleich mit Schriften ähnlichen Anspruchs etwa von Christoph Bernhard nur knapp mit der eigentlichen Kontrapunktlehre; einen äußerst gewichtigen Teil nimmt dagegen das vierte Kapitel ein, überschrieben mit „Von der Composition unterschiedenen Arten“, nämlich gut zwei Drittel der ganzen Schrift. Bedenkt man aber das Ziel Matthesons – die musikalische Ausbildung des galant homme –, so erscheint die Gewichtung korrekt. Stichwort
Christoph Bernhard Der 1627 oder 1628 in Kolberg geborene Christoph Bernhard wurde 1648 Sänger an der Dresdner Hofkapelle, an der er ab 1655 (mit einer Unterbrechung für zehn Jahre als Kantor am Johanneum zu Hamburg) als Vizekapellmeister, schließlich ab 1680 bis zu seinem Tod 1692 als Hofkapellmeister amtierte. Von besonderer Bedeutung für die Nachwelt ist seine Rolle als Schüler von Heinrich Schütz: Seinen Unterricht dokumentiert Bernhard in einer Reihe von im 17. und 18. Jahrhundert sehr verbreiteten, allerdings kaum erhaltenen Traktaten, so des Tractatus composi-
3.1 Grundzüge der Gattungslehre bei Johann Mattheson tionis augmentatus: Dieser Traktat birgt zunächst eine Lesart der wichtigsten italienischen Kontrapunktlehre der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der Istitutioni harmoniche Gioseffo Zarlinos. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr allerdings Bernhards Rezeption der Stillehre Marco Scacchis (vgl. FEDERHOFER 1964, S, 88): Scacchi entwickelte nach 1646 die Teilung der Musik in Kirchen-, Kammer- und Theaterstil. Unterordnungen orientieren sich dabei an der Besetzung und der Art der Darbietung. Bernhard klassifiziert – unter Vermeidung des Begriffs ‚Stil’ – Kontrapunkte, verbindet mit seiner Klassifizierung aber vor allem musikalische Funktionen.
„Den größten Unterscheid macht man zwischen Kirchen= Theatral- und Cammer-Musique, und das ist einem galant homme genug“, postuliert Mattheson – auch als Kritik an der Terminologie Bernhards – in §11 des ersten Kapitels (MATTHESON 1713, S. 113). Tatsächlich ist von einer Stillehre im Neu-Eröffneten Orchestre so gut wie gar nicht die Rede; an ihre Stelle rückt die Gattungslehre. Sie soll hier anschaulich gemacht werden, da sie einerseits in den Schatten des Streits um die Stillehre gerückt ist, sie andererseits aber im Vollkommenen Capellmeister als melodische Gattungslehre modifiziert wiederkehrt. Stichwort
Gattungslehre Der Begriff der ‚Gattung’ ist in der Musik überaus vielfältig besetzt. Schon 1619 gliedert Michael Praetorius im Syntagma Musicum III die Musik vor allem in der Unterscheidung zwischen vokal und instrumental – „cum textu“ bzw. „sine textu“. Dabei erscheint die Instrumentalmusik als ein abgeleiteter Gattungsbereich gegenüber der dominierenden Vokalmusik, auch wenn sein wachsendes Gewicht in der Übersicht bei Praetorius deutlich wird (vgl. DANUSER 1995, Sp. 1048). Innerhalb der Vokalmusik wird zwischen ernsten („serio“) und heiteren („iocoso“) Gattungen unterschieden, außerdem nach Textarten und Funktionen („usus“). Das System bei Praetorius kann durchaus als erste neuzeitliche Gattungslehre verstanden werden, das seine Herkunft aus der mittelalterlichen Scholastik aber nicht leugnen kann.
Die diesbezügliche Darstellung Matthesons findet sich bereits etwa bei Sébastien de Brossard 1703, ist also nicht neu (vgl. PETERSEN 2002, S. 212). Sie unterscheidet sich aber von der Konvention durch ihren Anspruch, in systematischer Ordnung auf sachliche Kriterien gestützt der lexikalischen Anordnung etwa Brossards eine logische Alternative beizugeben; „die Selbständigkeit dieses Ansatzes ist ebensowenig zu überschätzen wie die Geltung der zugrunde liegenden Kriterien“ (K RUMMACHER 1986, S. 88). Mattheson geht von vornherein von einer Trennung vokaler und instrumentaler Gattungen aus; das Novum ist die Gleichberechtigung beider Gattungen, seinen Erörterungen im
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Aufbau
Die Entwicklung der musikalischen Gattungen
Rahmen der „General-Reguln“ entsprechend. Am Anfang steht zwar recht konventionell noch der Choral, doch Mattheson verweist darauf, dass dafür „historische Pietät eher als musikalische Aktualität bestimmend sei“ (MATTHESON 1713, S. 113) – neben dem praktischen Ziel der Gattungslehre steht also auch eine ästhetische Intention. Die Gattungslehre Matthesons im vierten Kapitel folgt folgendem Aufbau: I.
geistliche Kompositionen 1. Choral 2. Motette 3. Fuge 4. Oratorium a) Arie und Rezitativ b) Chöre II. weltliche Kompositionen 1. Oper 2. Pastorals („Schäfer-Spiele“), Operetchen, Ballets 3. Ouverture, Symphonie, Intrade, Aubade 4. Concerto 5. Suite 6. Sonate 7. Boutaden und Ricercate (Fantasie und Toccata) 8. Cantate a) Aria b) Recitativ c) Ariette, Arioso, Basso Obligato d) Cavata e) Ritornello 9. Chaconne
Gewichtung
§2 §3 § 4–16 § 17 § 18 § 19–20 § 21 § 22–25 § 26 § 27 § 28 § 29 § 30 § 31 § 32 § 33–34 § 35 § 36 § 37
An die Reihung fügen sich noch zwölf Einzeldefinitionen von Tänzen. Die Einteilung in geistliche und weltliche Musik ist eindeutig, überschneidet sich aber auch mit der vorher genannten Einteilung in Kirchen-, Theater- und Kammerstil; die Kantate, die eigentlich als Mittler zwischen beiden Aspekten (geistlich und weltlich) stehen könnte, fällt deutlich unter die weltliche Musik – Mattheson bezieht sich eindeutig auf die (italienische) Solokantate. Die Stellung der Chaconne ist zu erklären mit der Zugehörigkeit zur Suite als Sonderglied, die Mattheson auch im Rahmen der Tanz-Definitionen immer wieder betont. Mattheson folgt in seiner Gliederung des Kapitels einer eigenen Gewichtung: So steht der Choral am Beginn des Kapitels und eröffnet die Erörterung der geistlichen Musik, dem „mit recht“ (M ATTHESON 1713, S. 141) die Motetten
3.1 Grundzüge der Gattungslehre bei Johann Mattheson
folgen. Die sich anschließende Abhandlung der Gattung Fuge ist die umfangreichste des Kapitels, die noch am engsten mit der Kontrapunktlehre verknüpft ist: Mattheson erwähnt erst in diesem Zusammenhang auch Regeln, die weniger im Zusammenhang mit der Gattungslehre stehen, sondern vielmehr mit der Kontrapunktlehre per se zu tun haben, so die Syncopatio (§ 8) oder die Ligatura (§ 9, § 10); auch Klauseln (§ 13) finden hier einen Platz. Der Teil über die weltlichen Gattungen ist weitaus hierarchischer und nicht historisch gegliedert, erfüllt also sicherlich eher die ästhetischen Ansprüche Matthesons. Er beginnt mit der Oper, denn „Unter den weltlichen Sachen behalten ja nun wol die Theatralischen / und unter diesen die geehrten Opern ohnstreitig den Vorzug / weil man in selbigen gleichsam einen Confluxum aller Musicalischen Schönheiten antreffen kan“ (MATTHESON 1713, S. 160). Vor der Besprechung der Solokantate mit ihren Einzelsätzen steht allerdings eine Abhandlung der Eröffnungssätze zu einer Oper. Die Argumentation Matthesons in den einzelnen Definitionen wechselt so der Sache gemäß ständig; doch der kompositionstheoretische Anspruch, den dieses Kapitel grundsätzlich hat, scheint immer wieder durch – Mattheson beschränkt sich keineswegs darauf, Gattungen zu beschreiben, sondern rät zu ihrer Anlage; ein Beispiel mag seine Erörterung des Oratoriums und seiner Anlage sein, eine „Modegattung“ per se (§ 17, vgl. KRUMMACHER 1986, S. 90). Stehen in dieser Gattungslehre, deren Bedeutung kaum verkannt werden kann, zwar Instrumental- und Vokalwerke in der Definition gleichberechtigt nebeneinander, so ist doch die Anlage des Kapitels stark fokussiert, darüber hinaus aber auch in der Aufteilung getrennt zu betrachten und zu bewerten: Geht Mattheson im ersten Teil des Texts von einer historischen Anlage (angefangen beim Choral und mit einem Schwerpunkt auf der Fugenlehre) aus, die in der Betrachtung von Oratorium und Passion endet (also der zeitgenössischen Hauptgattung der geistlichen Musik!), beginnt er den zweiten Teil des Kapitels mit einer Betrachtung eben dieser Hauptgattung auf der weltlichen Seite, nämlich der Oper, und stuft die übrigen Gattungen (zum Teil allein unter Bezugnahme auf die Oper) ab. Diese – genau betrachtet streng hierarchische – Anlage kann durchaus den Blick auf den systematischen Hintergrund trüben: Zu verfolgen ist die Ausarbeitung dieses Rahmens in den späteren Schriften. Der Erfurter Organist Johann Heinrich Buttstett antwortete auf Matthesons augenscheinliche Provokation im Jahr 1716 mit seiner Schrift Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, Tota Musica et Harmonia Æterna: Während für Mattheson die Arten der Unterscheidung der Stile „Grillen, die sich ohne Unterschied begreifen lassen“(MATTHESON 1713, S. 113), sind, hält Buttstett es für eine Kunst, „eines jeden Styli und Contrapuncts rechte Art zu treffen“ (BUTTSTETT [1716], S. 61); infolgedessen ist er verwundert, dass Mattheson nur einen Kirchen-, Theatralund Kammerstil unterschieden haben will. Buttstett versucht, feinsinnige Un-
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Buttstett
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terscheidungen der von Kircher übernommenen acht Stile herauszustellen, um deutlich zu machen, dass eine ausreichende Unterscheidung der drei Stile Matthesons nicht gemacht werden kann – was sich angesichts der Überschneidungen, die sich in dem anschließend von Mattheson entworfenen System zwangsläufig ergeben, bewahrheitet (s.u.): Quelle Johann Heinrich Buttstett, Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, Tota Musica et Harmonia Æterna Erfurt [1716?], S. 64
„Bringet man doch jetzo neben dem Stylo recitativo Theatrali fast allen liederlichen Krahm in die Kirche / und je lustiger und täntzlicher es gehet / je besser gefället es theils Personen / (aber nicht allen) dass es zuweilen an nichts fehlet / als dass die Mannsen die Weibsen anfasseten / und durch die Stühle tantzten / als wie es ja zuweilen auf Hochzeiten über Tisch und Bäncke gehet.“
Das Beschützte Orchestre
Deshalb lehnt Buttstett die scharfe Unterscheidung zwischen Kirchen-, Theatral- und Kammerstil ab, „dann man bringet jetzt alles in die Kirche, was auf dem Theater und bey der Kammermusik aufgeführt worden ist. Es werden ja alle Stücke auf theatralische Art gesetzet, auch legen sie geistliche Texte unter die theatralischen Arien“ (BUTTSTETT [1716], S. 81–82). Letzteres lehnt auch Mattheson ab, eine scharfe Unterscheidung der drei Stile hält er jedoch weiterhin für richtig, die von „gescheuten Componisten“ auch beachtet wird – wie Mattheson in seiner Antwort an Buttstett, der Folgeschrift Das Beschützte Orchestre festhält (MATTHESON 1717, S. 203). Matthesons Antwort betont denn auch weniger die Neuartigkeit der eigenen Gattungstheorie, sondern vielmehr den Zusammenhang mit den von Buttstett vermissten Stilbegriffen: „Jenseits der Polemik läßt sich beobachten, dass Mattheson wohl durch Buttstett die Stillehre als Korrelat der Gattungstheorie bewusst wurde“ (KRUMMACHER 1986, S. 88). Die weiteren Schriften greifen nicht nur den eigenen Ansatz der Gattungslehre auf und führen ihn fort – ebenso erscheint immer die tradierte Stillehre. Entwirft Mattheson im Neu-Eröffneten Orchestre unter Verzicht auf die traditionelle Stillehre eine Lehre der musikalischen Gattungen, trägt er 1717 nach dem Einspruch Buttstetts als revidierten Ansatz eine modifizierte Lehre von den Stilen (oder Schreibarten) nach, in der die unterschiedlichen tradierten Kategorien ausgeglichen werden sollten. Den Unterscheidungen Kirchers, die Buttstett aufgegriffen hatte, stellt er den Artikel „Stilo / Style“ aus dem Dictionaire Brossards gegenüber. Erst anschließend wendet er sich Kirchers Stilarten zu. Dabei verzichtet er auf die Spezialisierungen Buttstetts und beschränkt sich auf das Notwendige: Die drei „Rubriken“ Kirchen-, Theater- und Kammerstil, die so bereits im Neu-Eröffneten Orchestre (1. Kapitel des zweiten Teils, §11) standen, bleiben übergeordnet, zugeordnet werden ihnen je fünf Unterar-
3.1 Grundzüge der Gattungslehre bei Johann Mattheson
ten, die sich an die Terminologie von Kircher anlehnen (M ATTHESON 1717, S. 113; vgl. KRUMMACHER 1986, S. 94–95). Anstelle der acht Stile Kirchers bzw. der neun Buttstetts erweitert Mattheson die neun Stile Brossards auf insgesamt 15, eine Einteilung, die Mattheson bis zum Vollkommenen Capellmeister beibehalten sollte. Die Gattungslehre, die im Neu-Eröffneten Orchestre deutlich den Vorrang vor der Stillehre erhielt, gerät im Beschützten Orchestre ins zweite Glied. Wird von Buttstett die Stillehre der Gattungslehre deutlich übergeordnet, ist es Matthesons Anliegen, den Zusammenhang zwischen Stil- und Gattungslehre aufzuzeigen – so wie schon 1713 der Gattungsbegriff ältere Ebenen wie Kontrapunkt und Stil nicht völlig verdrängen konnte. Mattheson hält einerseits an der neuen Gattungstheorie fest, holt aber als Nachtrag bzw. als Ausweitung auf Buttstetts Anregung hin die Stillehre nach. Die Art und Weise, in der Mattheson sich in der frühen Orchestre-Phase den Komplexen Satzlehre, Stil- bzw. Gattungslehre nähert, ist einerseits bezeichnend für sein Anliegen, eine im weitesten Sinne „allgemeine“ Musiklehre für den galant homme zu erstellen. Andererseits sind schon in dieser Phase die grundlegenden Bedingungen des Vollkommenen Capellmeisters ausgeprägt: Neben einer deutlichen BernhardParaphrase, die am Beginn der Satzlehre im Neu-Eröffneten Orchestre steht und Formulierungen enthält, die ihre deutlichen Entsprechungen in den entsprechenden Passagen der Veröffentlichung von 1739 finden (vgl. PETERSEN 2002, S. 196–204), ist gerade die Verquickung von Stil- und Gattungslehre, die im Beschützten Orchestre den Kompromissvorschlag nach der Extremsituation von 1713 bildet, eine unabdingbare Voraussetzung für die spätere Gestalt des Vollkommenen Capellmeisters, der von beiden Elementen gewissermaßen gerahmt wird. Die Trennung von Stil- und Gattungslehre, die Mattheson 1739 vornimmt, ist keineswegs ein Rückschritt hinter den Ansatz von 1713 oder 1717, denn die Trennung dieser Elemente ist systematisch gerechtfertigt und darüber hinaus durch die Einbeziehung einer umfangreichen, nahezu selbständigen Melodielehre notwendig geworden: Die Stillehre gilt dem Verfertigen einer Melodie als grundlegende Voraussetzung, während die Gattungslehre, intern logisch, erst nach der Abhandlung der Melodielehre ausgeführt wird – eine Gattungslehre, die Mattheson ja auch folgerichtig „Von den Gattungen der Melodien“ nennt. Die deutliche Haltung Matthesons in der Frage der Solmisationslehre wiederum ist auch zu lesen als zielgerichtete Vorbereitung der entsprechenden Äußerungen im Vollkommenen Capellmeister. Neben diesen auch formal zu verstehenden Ansätzen, die für die Phase des Vollkommenen Capellmeisters eine nicht unerhebliche Rolle spielen, steht die inhaltliche Komponente: Sowohl die Fokussierung auf den galant homme als auch die Anlage der Schriften – insbesondere des Neu-Eröffneten Orchestres – im Hinblick auf den Ort der Satzlehre und der Stil- bzw. Gattungslehre lässt das Anliegen Matthesons, das sich besonders 1739 im Vollkommenen Capell-
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Würdigung
galant homme
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meister manifestiert, überdeutlich werden, ein Anliegen, das die eigentlich treibende Kraft für Matthesons Haltung in der Orchestre-Phase und seinen Streit mit der alten, quadrivial geprägten Musikanschauung ist: Der Mensch steht für Mattheson schon seit 1713 im Mittelpunkt des Interesses; er ist von vornherein Ziel der Musikausübung, und die Rezeption von Musik ist die entscheidende Komponente einer allgemeinen Musiklehre, die Mattheson mit den frühen Orchestre-Schriften aufarbeitet. Gut ein halbes Jahrhundert später findet sich die Gattungslehre in der Allgemeinen Geschichte der Musik Johann Nikolaus Forkels (1749–1818) – unter dem Titel „Von den Musikgattungen“: Quelle Johann Nikolaus Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, Leipzig 1788, S. 49
„Aus der verschiedenen Anwendung der musikalischen Schreibarten werden auch verschiedene Gattungen von Tonstücken bestimmt, die theils ihrer Form, theils ihrem innern Wesen, und ihrer Bestimmung nach zu gewissen Absichten, sehr von einander abgehen“ (§ 87).
Auch Forkel verbindet seine Fassung einer Gattungslehre eng mit der Stiltheorie – und nennt wie Mattheson Gattungen, die nach heutigem Verständnis eher als Formen aufzufassen sind. Die Genie-Ästhetik des 19. Jahrhunderts schließlich erwirkt den Vorrang des Originalwerks und höhlt die seit Mattheson zentrale Gattungslehre aus – die von Komponisten nur mehr zur Kenntnis zu nehmen, in erster Linie aber zu überwinden ist. Damit verbunden ist schon um 1800 der Vorrang der Instrumentalmusik-Ästhetik gegenüber der Vokalmusik, der sich schon bei Mattheson abgezeichnet hatte (vgl. DAHLHAUS 1978a, S. 12): Die Gattung wird zu einer Idee reduziert – und die neuen instrumentalen Gattungen des 19. Jahrhunderts rücken neue Aspekte wie Form, Besetzung oder Charakter in den Vordergrund (vgl. DANUSER 1995, Sp. 1053–1054, und ARLT 1973).
3.2 Stil und Gattung: Beispiel Buxtehude Cantata
Im Vollkommenen Capellmeister definiert Johann Mattheson den Terminus „Cantata“ wie folgt: „Aus Arien, Recitativen, Arietten, Ariosen etc. erwächst die fünffte Gattung unserer Sing-Stücke, nehmlich: V. Die Cantata, welche zweierley seyn kan: 1. Wenn sie mit einer Arie anfängt und schließt. 2. Wenn sie beides, oder auch das Anfangen nur mit einem Recitativ verrichtet.“ (MATTHESON 1739, S. 214). Mattheson folgt mit Sébastien de Brossard, auf dessen Dictionnaire de Musique er sich stützt, den Beispielen des 17. und frühen
3.2 Stil und Gattung: Beispiel Buxtehude
18. Jahrhunderts französischer und italienischer Provenienz, wenn er einerseits das Rezitativ als entscheidendes Merkmal der Kantatenkomposition darstellt, andererseits feststellt: „Die wahre Natur der Cantaten leidet keine andre Instrumente, als das Clavier und die Bässe.“ Auch wenn die musiktheoretischen Schriften Matthesons im Norddeutschland des frühen 18. Jahrhunderts entstehen – gemessen an dieser definitorischen Auskunft betrifft die Gattungslehre Matthesons wenigstens in dieser Hinsicht weder die protestantische Kantate des 17. Jahrhunderts noch die Arbeiten des jungen Bach, dessen frühe Kantatenkompositionen keineswegs dem Muster Erdmann Neumeisters folgen und Rezitativkompositionen implementieren: Die Geschichte der protestantischen Kantate ist von der der (zumal weltlichen) italienischen und französischen Kantate abgehoben zu betrachten, wie der Blick etwa in die Kompositionen von Dieterich Buxtehude deutlich bestätigt. Doch sind Buxtehudes geistliche Vokalkompositionen überhaupt als Kantate zu bezeichnen? Anhand des Concerto-Aria-Modells bei Buxtehude, insbesondere in Zusammenhang mit dem Zyklus Membra Jesu nostri, sei dargestellt, wie einander entgegengesetzte Einzelgattungen satztechnisch verschmolzen und schließlich aufgehoben werden – und das Œuvre des wichtigsten Erben Buxtehudes verwandelt beeinflussen: Johann Sebastian Bachs Actus tragicus, die Kantate BWV 106, sei vergleichend unter gattungsgeschichtlichen Perspektiven betrachtet.
3.2.1 Buxtehude in Lübeck Dieterich Buxtehude gehört zu jenen Protagonisten der Musikgeschichte des 17. Jahrhunderts, die schon so weit in das Dunkel der Geschichte abgetaucht sind, dass ihre Persönlichkeit nur mehr umrisshaft wahrzunehmen ist: Jeder Versuch einer Darstellung seines Schaffens ist darauf angewiesen, ein Portrait der kultur- und sozialhistorischen Gegebenheiten seiner Umwelt nachzuzeichnen, denn die Spuren Buxtehudes sind in besonderer Weise flüchtig – die Zahl der aussagekräftigen Dokumente ist gering, die der biographischen Lücken hingegen groß. Als Organist und „Werkmeister“, also Sekretär und Schatzmeister der Marienkirche, konnte Buxtehude 1668 in Lübeck ein Amt antreten, das seine früheren Anstellungen in Helsingborg und Helsingør hinsichtlich der Besoldung, vor allem aber der Entfaltungsmöglichkeiten weit übertraf: Diese Stelle galt als eine der bedeutendsten kirchenmusikalischen Ämter Norddeutschlands. Durch die Neuordnung des kirchlichen Lebens in Lübeck nach der Reformation war die Bürgerkirche St. Marien zum Mittelpunkt der Kirchenmusik in der Stadt geworden – nicht zuletzt wegen der dominierenden Stellung des Marienkantors bei der Zuteilung der Figuralmusik (vgl. S CHNOOR 2011, S. 168f.). Wie kaum ein zweiter Organist in Norddeutschland konnte Buxtehude hier seine Orgelkünste vervollkommnen und in der Hansestadt in unmittelba-
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Die Entwicklung der musikalischen Gattungen
rer Ostseenähe zahlreiche Projekte verwirklichen, die ohne Beschränkung durch liturgische Rücksichtnahmen neue, eindrucksvolle Formen des Musizierens ermöglichten. Eine ganze Reihe von Zeugnissen belegt, dass Buxtehudes Reputation als Orgelvirtuose und Komponist weit über Lübeck hinaus in Nord- und Mitteldeutschland und im gesamten baltischen Raum verbreitet war. Sein Ruhm lockte viele Schüler und Kollegen nach Lübeck, darunter Johann Mattheson, Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach, die allesamt von Buxtehude profitierten. Abb. 3.1 Lübeck um 1641 (Matthäus Merian)
Bereits Buxtehudes Vorgänger Franz Tunder (1614–1667) begann, in Lübeck regelmäßig Konzerte in der St. Marienkirche unabhängig vom Gottesdienst zu veranstalten. Unter Buxtehude wurden ab 1678 bei diesen sogenannten „Lübecker Abendmusiken“ an fünf sonntäglichen Spätnachmittagen in der Vorweihnachtszeit Kantaten und Instrumentalmusik, aber auch hin und wieder große Oratorien gespielt – darunter die einzige von Buxtehude erhaltene abendfüllende Abendmusik Wacht! Euch zum Streit – Das jüngste Gericht BuxWV Anh. 3, deren Authentizität bis heute umstritten ist. Quelle Hermann Lebermann, Die beglückte und geschmückte Stadt Lübeck, Lübeck 1697 zitiert nach SCHNOOR 2011, S. 167
„Westlich zwischen den beiden Pfeilern der Thürme ist zu sehen das große und prächtige Werk der Orgel, welche, wie die kleine, der Welt-bekannte Organist und Componist Dietrich Buxtehude anjetzt verwaltet; da dann insonderheit auff der großen Jährlich von Martini biß Weynachten an fünf Sonntagen die angenehme Vocal- und Instrumental Abendmusic nach der Sonntags-Vesper-Predigt von 4 bis 6 Uhren, das sonst so nirgends geschiehet, von vorgedachten Organisten als Directore und rühmlich praesentieret wird.“
3.2 Stil und Gattung: Beispiel Buxtehude
Für das durch den endgültigen Zerfall der Hanse im 17. Jahrhundert und das Fehlen eines Hofs musikalisch von aktuellen Entwicklungen wie der Oper oder dem Ballett abgeschnittene Lübeck (vgl. G RAßMANN 1997 und HOFFMANN-REHNITZ 2016) stellen die Abendmusiken die Anfänge eines bürgerlichen Konzertwesens dar. Buxtehude steigerte sie in Anlage und Aufführungsapparat bis zu seiner letzten „extraordinairen“ Abendmusik Templum honoris BuxWV 135 von 1705 zu beachtlicher Größe und barockem Aufwand. Er erreichte schließlich sogar den Bau von vier zusätzlichen Choremporen in St. Marien (zerstört 1942), so dass er sechschörig musizieren konnte. Gestützt durch Subventionen aus der Kaufmannschaft, durch die Kirchenleitung und Bürgerschaft wurde Lübeck unter Buxtehude Ausgangspunkt einer Oratorienpflege, deren Tradition sich auf andere Städte ausdehnte und noch im 18. und 19. Jahrhundert wirksam blieb. Die Institutionalisierung der Abendmusiken als kulturelles Ereignis der Stadt Lübeck war schließlich so sehr mit dem Namen Buxtehudes verknüpft, dass der Lübecker Dichter Johann Caspar Ulich aus Anlass seines Todes am 9. Mai 1707 ein Trauergedicht mit dem Titel Die unverhoffte stille Abend-Musique verfasste. Auch die Vokalkompositionen Buxtehudes sind mehrheitlich als „Organistenmusik“, also für gottesdienstliche Zwecke komponiert worden (S CHOOF 2007); sie entstanden nicht unbedingt für die von Buxtehudes Vorgänger Franz Tunder übernommene Form der geistlichen Abendmusiken, für die größer dimensionierte Werke entstanden sind, obwohl Buxtehude an St. Marien zu Lübeck nicht für die Aufgaben des Kantors zuständig war. Die Anzahl der erhaltenen Vokalwerke Buxtehudes ist – vor allem gemessen an ihrer Verbreitung – allerdings erstaunlich: Erhalten sind immerhin 122 Werke für Singstimmen und Instrumente und zwei lediglich fragmentarisch überlieferte Kompositionen. Der Begriff der Kantate ist allerdings nur bedingt auf diese Kompositionen anzuwenden, wenngleich sich unterschiedliche Gattungsgestalten beschreiben lassen (KREMER 2007, S. 92; vgl. SNYDER 2007, S. 169).
3.2.2 Der liturgische Kontext Obwohl Buxtehude niemals eine Stellung innehatte, die die Komposition von Vokalmusik von ihm verlangt hätte, sind insgesamt mehr Vokal- als Instrumentalwerke von ihm überliefert. Schon in ihrem Umfang höchst unterschiedlich, umfassen sie zudem einen extrem weitgespannten Bereich an Texten, Besetzungen, Gattungen und Stilen. Es gibt Texte in vier Sprachen, und die Besetzungen reichen von einer Stimme mit einem Instrument und Basso continuo bis hin zu sechs Chören. Die große Freiheit, mit der Buxtehude seine Musik komponierte – für den Gottesdienst, für die Abendmusiken, für
39 Lübeck
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3 Lübecker Liturgie
Die Entwicklung der musikalischen Gattungen
besondere Anlässe wie Hochzeiten und Begräbnisse oder im Auftrag des Stockholmer Hofkapellmeisters Gustav Düben – mag ihre große Vielfalt erklären (vgl. SNYDER 2000, Sp. 1461). Buxtehudes offizielle Aufgaben bestanden im Orgelspiel während des Hochamts am Sonntagvormittag, während des Nachmittagsgottesdiensts an Sonn- und Festtagen sowie während der Vespern am vorangehenden Nachmittag. Eine wichtige Quelle zur Frage der Liturgie dieser Gottesdienste ist das erste amtliche Lübecker Gesangbuch von 1703 (vgl. HEERING 2014, S. 115–120). Das diesem angefügte Gebet=Buch enthält nämlich unter anderem eine „Kurtze Anweisung, Wie künfftighin der Gottesdienst in denen Lübeckischen Kirchen wird anzustellen seyn“; dieser Anweisung ist der vollständige wöchentliche Plan der Gottesdienste sowie unterschiedlich ausführliche Beschreibungen ihres Verlaufs und ihrer Ausgestaltung zu entnehmen. Dieser Plan für St. Marien stimmt weitgehend mit den Angaben in einem entsprechenden Druck von 1645 überein (H EERING 2007, S. 49–50; vgl. JANNASCH 1928, S. 174). Demnach war in den liturgischen Gottesdiensten – also zur Vesper, zum Haupt- und Nachmittagsgottesdienst sowie bei den Frühgottesdiensten am Dienstag und Donnerstag – die Mitwirkung des Chors konstitutiv, der aus Schülern des nahegelegenen Katharineums bestand und vom Kantor als Mitglied des Lehrkörpers geleitet wurde (vgl. STAHL 1931, S. 88f.). Der Chor trug allerdings nur vom Lettner aus die liturgischen Stücke vor und führte – meist einstimmig – den Gemeindegesang an; allein die Festtagsgottesdienste (und die damit verbundenen Vespern am Vortag) wurden mit dem Chorus symphoniacus reicher ausgestattet: durch Mehrstimmigkeit in der Liturgie, vor allem aber durch Motetten oder Kantaten vor oder nach der Predigt, den sogenannten „Organistenmusiken“. Bei Werken mit Instrumentalbegleitung wirkten bis zu elf Ratsmusiker mit; die Marienkirche hatte das Privileg mehrstimmiger Figuralmusik an allen Festtagen, während in den anderen vier Hauptkirchen der Stadt nur viermal im Jahr in einem festen Turnus figural musiziert wurde (vgl. grundsätzlich zu den Aufgaben der Organisten und Kantoren im norddeutschen Raum des 17. Jahrhunderts E DLER 1982, Kapitel 2, RAMPE 2003 und SCHNEIDER 2018). Die Aufgaben des Orgelspiels im Gottesdienst an St. Marien hatten sich im 17. Jahrhundert, vor allem unter Tunder, auf die gelegentliche Begleitung des Gemeindegesangs erweitert. Allgemeiner Brauch wurde das Orgelnachspiel, nachweisbar sind Kompositionen von Petrus Hasse sowie Präludien und Choralfantasien von Franz Tunder. In dieser Tradition sind die großen Praeludien, die Variationswerke und Toccaten von Dieterich Buxtehude als festliche Nachspiele des Gottesdienstes anzusehen. Instrumentalstücke sub communione, etwa mit Violine und Laute zur Orgel, wurden bereits im 16. Jahrhundert üblich, belegt sind sie ab 1594; für diesen Zweck kaufte Tunder etwa die Triosonaten von Johann Schmeltzer.
3.2 Stil und Gattung: Beispiel Buxtehude
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3.2.3 Der gattungsgeschichtliche Kontext Das Vokalschaffen Buxtehudes konnte unbelastet von einer routinemäßigen Bereitstellung der sonntäglichen Figuralmusik entstehen – diese wurde (wie seinerzeit vielfach in Norddeutschland üblich) vom Kantor verwaltet. Buxtehude schuf seine Vokalkompositionen also aus eigenem Antrieb; schon deshalb erfüllen diese Werke hohe Qualitätsmaßstäbe. Entsprechend fügt sich dieser Bereich in die Geschichte dieser Gattung: In der Kirchenmusik des mittleren und ausgehenden 17. Jahrhunderts stehen sich das Geistliche Konzert und die Aria einander gegenüber. Das Geistliche Konzert ist aus der Motette hergeleitet und beruht auf biblischem Text, der Aria liegt freie Dichtung zugrunde, von deren Rhythmus und der typischen Strophenform die jeweilige Vertonung entscheidend geprägt ist. Wo beide Gattungen zusammentreten, entsteht der Concerto-Aria-Typus. Daneben von Relevanz sind die Choralbearbeitungen mit der Verarbeitung eines Kirchenlieds in beiden Ebenen – textlich wie musikalisch –, oder die Ostinatoformen, die eng mit entsprechenden Formen in der Tastenmusik Buxtehudes verwandt sind. 27 der Vokalwerke Buxtehudes können als Geistliches Konzert bzw. Concerto bezeichnet werden: Deutsche oder lateinische Texte meist biblischen Ursprungs werden für Singstimmen und konzertierende Instrumente gesetzt, wobei die Besetzungsvarianten stark schwanken können. Während das Concerto polyphon und in seinen einzelnen Abschnitten eher auf Kontrast angelegt ist, dominiert bei der gleichfalls in Italien wurzelnden Aria die homophone Schreibweise. Außerdem verwenden beide Gattungen unterschiedliche Texttypen, nämlich (biblische) Prosa einerseits, Strophendichtung andererseits. Verbindet beide Gattungen ursprünglich nur die Beigabe des Basso continuo – der zugleich Aria und Concerto von ihren Gattungsvorläufern der Renaissance, Lied und Motette, unterscheidet –, kommt es bei Buxtehude auch zu deutlichen Stilvermischungen: Die dem Concerto eigene polyphone Setzweise und die Idee der obligaten Instrumentation dringen in die Aria ein, während Charakterzüge der Aria (und diese selbst!) in das Concerto wandern. Den insgesamt 41 als Aria bezeichneten Kompositionen Buxtehudes liegt jeweils ein deutschsprachiger strophischer Text zugrunde; diese Werke sind oft nur für ein kleines Ensemble – etwa eine Singstimme und eine kleine Instrumentalbesetzung – bestimmt, wobei die strophische Textform nicht unbedingt die musikalische Form determiniert: Buxtehudes Aria-Kompositionen sind zumindest in der Besetzung stark variierten Strophenformen angenähert oder gelegentlich durchkomponiert – vermittelnd zwischen italienischer Arie und deutschem Lied (KRUMMACHER 1996, S. 38). Martin Geck versteht die Aria-Kompositionen Buxtehudes als Zeugnis einer Musik aus pietistischem Geist und sieht demgemäß in der Aria das Zentrum des Schaffens Buxtehudes – eine plausible, auf subtile Analysen der Funktion des Lieds im pietistischen Denken gestützte These, die aber
Concerto
Aria
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3 Concerto-Aria-Typus
Die Entwicklung der musikalischen Gattungen
analoge Erscheinungen außerhalb des pietistischen Kulturraums außer Acht lässt und die Relation der Aria zu anderen figuralen Gattungen im Œuvre Buxtehudes vernachlässigt (GECK 1965, S. 132–133; vgl. KRUMMACHER 1996, S. 42). In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist die Tatsache, dass Buxtehude die Spielform des Concerto-Aria-Typus, der um 1680 weit verbreitet ist, in besonderem Maße bemüht: In der Verbindung des Satztyps Concerto mit demjenigen der Aria schafft Buxtehude so seine eigentliche Form geistlichen Musizierens, meist mit einer instrumentalen Einleitung und einem am Ende wiederholten Concerto-Satz (oder eben einem anderen Bibeltext, einem „Amen“ oder „Alleluia“), die eine Anzahl von Aria-Strophen rahmen. Die Texte der Concerto-Aria-Kompositionen sind – bis auf die Ausnahme der Membra Jesu nostri – deutschsprachig und gehen meist auf Psalmtexte zurück. Damit stützt sich Buxtehude auf eine umfangreiche Tradition: In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verwandelten zahllose deutsche Komponisten biblische Prosa in geistliche Konzerte, Strophendichtung in Lieder und Arien. Dadurch ist die Bindung zwischen Text und musikalischer Gattung sehr eng, wie es auch schon Martin Fuhrmann (1669–1745) – ein Schüler des Buxtehude-Schülers Friedrich Gottlieb Klingenberg – definierte (vgl. SNYDER 2007, S. 182–183). Quelle Martin Heinrich Fuhrmann, Musicalischer Trichter Frankfurt an der Spree [Berlin] 1706, S. 83–84
„5. Concerto ist ein Sing- und Kling-Stück, darin die Vocalisten und Instrumentisten gleichsam gegen einander streiten oder certiren. Zu Kirchen-Concerten muß ein Componist lauter Biblische und meistens bekannte Texte nehmen, sollen sie von der Gemeine verstanden werden. 6. Aria, (Ital.) Air, (Gal.) ist nicht allein ein Sing- sondern auch ein Kling-Stück. Wird eine Aria gesungen, so werden Reim-Texte oder Verse unter die Noten gelegt.“
Die auf die Etymologie in Michael Praetorius’ Syntagma musicum III (1619) zurückgehende Concerto-Metapher findet sich in gleicher Weise auch in Johann Matthesons Vollkommenem Capellmeister (1739). Quelle Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister Hamburg 1739, II/13, § 70
„Die eigentliche Absicht bey den Concerten war und ist noch diese: die Text-Worte vernehmlich zu machen, und bey einer oder mehr Stimmen dennoch durch Hülffe des General-Basses, eine völlige Harmonie zu Wege zu bringen. […] [zumahl wenn er bedenkt, daß] der Nahm von certare, streiten, herkömmt, und so viel sagen will, als ob in einem solchen Concert eine oder mehr auserlesene Sing-Stimmen mit der Orgel, oder unter einander, gleichsam einen Kunst-Streit darüber führten, wer es am lieblichsten machen könne.“
3.2 Stil und Gattung: Beispiel Buxtehude
43
Trotz der selten deutlich ausgeprägten Trennung zwischen Concerto und Motette im 17. Jahrhundert kann die Differenzierung in der Vorrede zu Andreas Hammerschmidts Musicalischen Andachten auch für Buxtehude Anwendung finden (vgl. SNYDER 2007, S. 183–184): Hammerschmidt unterscheidet Motetten als vollstimmige geistliche Chorwerke mit nur fakultativem Continuo von den Konzerten, deren Soloabschnitte grundsätzlich vom Continuo unterstützt werden. So dient in einem Lübecker Textbuch von 1682 die Bezeichnung »Motetta« für achtstimmige Vokalwerke ohne Instrumente. Zur Differenzierbarkeit anhand des Texts tritt somit auch die Frage der Besetzung, in diesem Fall darüber hinaus der Satztechnik. Aber generell bedingt die Textwahl die Schreibweise. Fuhrmann vertritt dabei die Wahl eines der Gemeinde bekannten Texts: Quelle Martin Heinrich Fuhrmann, Musicalischer Trichter Frankfurt an der Spree [Berlin] 1706, S. 84
„Denn wo er unbekandte Texte nimmt, und solche Contrapuncto Florido &c. ausarbeitet, wird ein Auditor fast keine Zeile von dem Text verstehen, insonderheit wenn die Instrumenta dazu kommen, und alle Vocal und Instrumental-Stimmen zugleich durcheinander gehen. […] (denn wenn er nicht Fugenweise, sondern alle Stimmen meistens zugleich einerley Text singen, so können sie solchen schon besser verstehen, aber dann ists auch kein künstlich Concerto, sondern eine Muteta) […] Anders verhält sichs mit einem bekandten Text, den die Gemeine ohne dem schon halb oder gantz auswendig weiß.“
Fuhrmanns Definition des Concertos enthält mit der Einbeziehung eines Schlussabschnitts auf „Amen“ oder „Alleluja“ in die Gattung ein weiteres Charakteristikum, das für die Provenienz bei Buxtehude eine Rolle spielt und schließlich sogar noch in der frühen Choralkantate Johann Sebastian Bachs Nun komm der Heiden Heiland BWV 61 auftaucht. In diesem Fall mischt sich das Konzert mit dem gleichzeitigen Konzertieren von vier oder mehr Sängern und einem halben Dutzend Instrumentalisten, weil „in dem Wort Amen, oder Alleluja gantz gut kommt, als welche Wörter auch ein Kind verstehet“. (FUHRMANN 1706, S. 85; vgl. SNYDER 2007, S. 185). Die Bezeichnung ‚Kantate‘ wird erstmals von Alessandro Grandi verwendet; ab Mitte des 17. Jahrhunderts ist dieser Begriff die Norm für eine kammermusikalische Gattung, vornehmlich mit der Ergänzung „da camera“; im kirchlichen Kontext ist der Begriff erst nach 1700 anzutreffen – allerdings nur für Werke, die Rezitative (und Arien mit Generalbass) enthalten. Werke ohne Rezitativ werden vor 1750 nie als Kantate bezeichnet. Erst am Ende des 18. Jahrhunderts wandelt sich der Begriff Kantate zur allgemeineren Bezeichnung, die auch im Artikel „Cantate“ des Musicalischen Lexikons von Heinrich Christoph Koch mit der Definition als „die gewöhnlichen Kirchenstücke“ anklingt (K OCH 1802, Sp. 300–301; vgl. SØRENSEN 1990, S. 77). Der Begriff der Kantate kann hier
Kantate
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3
Die Entwicklung der musikalischen Gattungen
also daher vor allem als Oberbegriff verstanden sein – so dass die Gattungslehre mit dieser weitgehenden Begriffsdefinition zum etymologischen Ausgangspunkt des Worts zurückgekehrt ist: dem »Gesungenen«, im Gegensatz zur Sonate, dem Gespielten, ohne nähere Abgrenzung der Form im engeren Sinn (S ØRENSEN 1990, S. 77; vgl. KRUMMACHER 1965, S. 29–31). Die Komponisten des 17. Jahrhunderts verzichteten in der Regel auf eine Gattungsbezeichnung – oder wählten eben eine Pars-pro-toto-Benennung (vgl. BRAUN 2010, S. 15). Im Allgemeinen folgte Buxtehude der Tradition, Prosatexte als Geistliche Konzerte und poetische Texte als Arien oder, im Falle von Chorälen, als Choralbearbeitungen zu vertonen. Allerdings trennte er – wie vorher bereits erwähnt – die Gattungen nicht immer so eindeutig voneinander wie seine Vorgänger. Vielmehr kommen Concerto und Aria in seinen Kompositionen auf zwei Arten zusammen: Buxtehude erweiterte die eine Gattung, indem er in einen oder mehrere Abschnitte eines Werks stilistische Elemente der jeweils anderen Gattung einfügte. Als andere Möglichkeit stellte er beide Gattungen als selbständige Sätze nebeneinander.
3.2.4 Form und Satztechnik in Buxtehudes Passionszyklus
Der Zyklus
Die Membra Jesu nostri patientis sanctissima gehören zu den bekanntesten geistlichen Werken Buxtehudes – als vielleicht größtes überliefertes oratorisches Werk für die Passionszeit des Jahres 1680 komponiert, ist dieser siebenteilige Zyklus dem mit dem Lübecker Marienorganisten befreundeten schwedischen Hofkapellmeister Gustav Düben gewidmet, der eventuell einen förmlichen Auftrag für die Komposition gegeben hat. Es ist anzunehmen, dass der erste Aufführungsort des ambitionierten Werks die deutsche Kirche in Stockholm war, die seinerzeit als Hofkirche diente. In den sieben Teilen des Zyklus werden Füße, Knie, Hände, Seite, Brust, Herz und Gesicht des Gekreuzigten allegorisch gedeutet; Textgrundlage des Werks ist – neben Bibelversen – die mittelalterliche geistliche Dichtung Arnulf von Löwens, Ausschnitte aus dem Hymnenzyklus Salve mundi salutare, vermutlich kompiliert von Buxtehude selbst, indem er diese Dichtungen jeweils mit einem in der Regel alttestamentlichen Bibelspruch assoziativ kombinierte. Stilistisch orientierte sich Buxtehude sehr stark an italienischen Vorbildern, insonderheit an Kompositionen Albricis und Perandas. Der Zyklus ist nicht für die Verwendung im Gottesdienst konzipiert, sondern fügt sich ein in die Tradition der Erbauungsmusiken – Buxtehude ergänzt den Titel mit dem Hinweis „humilima Totius Cordis Devotione decantata“: „in demütigster Verehrung von ganzem Herzen besungen“. Mit dem Text des Zyklus’ richtet der Hörer den inneren Blick im Verlauf von den Füßen des Gekreuzigten immer weiter aufwärts; der Blickrichtung entsprechend, bewegen sich die Tonarten der einzelnen Teile in Quintschritten von c-Moll (und der Paralleltonart Es-Dur)
3.2 Stil und Gattung: Beispiel Buxtehude
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aus aufwärts in die „hohen“ Kreuztonarten. Mit dem letzten Teil „Ad faciem“ in c-Moll schließt sich der Kreis; die Haupttonart der vorletzten Kantate ist wie die der zweiten zur Rahmentonart c-Moll terzverwandt. Buxtehude stellt so eine übergeordnete zyklische Geschlossenheit her: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Ad pedes (An die Füße) c-Moll Ad genua (An die Knie) Es-Dur Ad manus (An die Hände) g-Moll Ad latus (An die Seite) d-Moll Ad pectus (An die Brust) a-Moll Ad Cor (An das Herz) e-Moll Ad faciem (An das Antlitz) c-Moll
Die sieben Kompositionen Buxtehudes weisen allesamt die Typologie eines Concerto-Aria-Typus auf: Das zu Beginn und am Ende der Komposition stehende biblische Diktum ist meist mit sämtlichen Instrumenten und Vokalstimmen in der Art eines geistlichen Konzerts als Tutti und die in der Mitte stehenden Dichtungen als solistische Strophen mit Ritornellen vertont; somit besteht jeder Teil des Zyklus aus den Elementen Sonata – Bibelwort – Aria – Bibelwort. Abweichend endet der erste Teil mit der 1. Strophe der Aria „Salve mundi salutare“ in einem Tuttisatz, und der letzte Teil weist anstelle der Wiederholung des Bibelworts eine ausgedehnte „Amen“-Vertonung auf – zwei Besonderheiten, die in der zyklischen Konzeption begründet sind. Stichwort
Ritornell Der Begriff entstammt vermutlich dem Bereich der italienischen Volkskunst und ist vom ital. „ritornello“ als „Wiederkehr“ bzw. „ritornare“ („wiederkommen“) abzuleiten. Im italienischen Madrigal bereits des 14. Jahrhunderts dient der Begriff als Bezeichnung für einen kontrastierenden Abschnitt, der meist am Ende der Komposition steht. Neu bewertet wird der Begriff um 1600 in den Kompositionen von Monteverdi; er wird 1619 von Michael Praetoriuns beschrieben. Der Terminus bezeichnet im 17. und 18. Jahrhundert einen kurzen, wiederkehrenden Instrumentalsatz, der als Einleitung, Zwischen- und Nachspiel zur Gliederung vokalinstrumentaler Gattungen und nach 1700 auch instrumentaler Musik Verwendung findet. Johann Adolph Scheibe bezeichnet sämtliche Abschnitte einer Arie, die mit Instrumentalstimmen ohne Gesang ausgeführt werden, als Ritornell; Johann Joachim Quantz nutzt den Begriff auch für die Tuttiabschnitte des Solokonzerts und des Concerto grosso.
Als Beispiel für die Verbindung der Formen Concerto und Aria zu einer Einheit mag der sechste Teil des Zyklus dienen (vgl. PETERSEN 2007). Während in den anderen sechs Fällen zu Chor und Basso continuo nur zwei Violinen hinzu-
Der sechste Teil
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3
Die Entwicklung der musikalischen Gattungen
treten, legt Buxtehude die Besetzung für diesen sechstenTeil „Ad Cor“mit „2. Soprani è Basso con 5 Viole de gambe“ fest und komponiert neben Laudate pueri, Dominum BuxWV 69 sein einziges Werk für das komplette Gambenconsort – doch dieser Umstand ist nicht die einzige Besonderheit dieser Kantate: Die einleitende Sonata ist mit einem siebenmaligen Wechsel von Adagio und Allegro in Dupel- und Tripelproportio sowie homophoner und polyphoner Abschnitte singulär in Buxtehudes geistlichem vokal-instrumentalen Schaffen. Einer der Teile im Dreiertakt und der als „Ritornello“ bezeichnete Instrumentalsatz, der das eröffnende Vokaltrio abschließt und der nicht wieder aufgegriffen wird, aber als Pendant zum instrumentalen Schluss des Teils verstanden werden kann, exponieren im Basso continuo einen diatonisch absteigenden Tetrachord, einen Lamentobass – der wiederum italienische Vorläufer der Komposition Buxtehudes erkennen lässt (LINFIELD 1990, S. 126); der Affekt des Lamentos ist aufgrund der Kadenzsituation – phrygischer Halbschluss vor der authentischen Kadenz – verstärkt, in der Wiederholung tauschen die Violen drei und vier die Stimmen: Abb. 3.2 BuxWV 75, 6 – Takt 62–67
Dem Aufbau der Kantate entspricht folgende Übersicht: 1. 2.
Sonata Concerto „Vulnerasti cor meum“ Doi Soprani è Basso [Ritornello (1) 3. Aria a) „Summi regis cor“ [Ritornello (2) b) „Per me dulam cordis mei“ [Ritornello (2) c) „Viva, viva“ [Ritornello (2) 4. Concerto „Vulnerasti cor meum“ Doi Soprani è Basso
T. 1-38 T. 39-61 T. 62-72] T. 73-82 T. 82-86] T. 86-95 T. 95-99] T. 99-113 T. 113-119] T. 120-146
3.2 Stil und Gattung: Beispiel Buxtehude
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Während die beiden ersten Aria-Teile sehr schlicht für Sopran und Basso continuo gesetzt sind und in nur wenigen Zügen die Verwendung kunstvoller polyphoner Elemente des Concertos erkennen lassen – beispielhaft erwähnt sei die quasi kanonische Führung der beiden Stimmen –, ist die dritte Strophe (für Bass, drei Gamben und Basso continuo, wobei die tiefste Gambenstimme nur die Continuotöne anders rhythmisiert) erheblich belebter und greift die Kadenzsituation des Eingangsritornells wieder auf: Abb. 3.3 BuxWV 75, 6 – Takt 99–103
Buxtehude schafft so über die Kantate einen großräumigen zyklischen Zusammenhang auch im Detail; übergeordnete Zusammenhänge schafft Buxtehude in anderen Teilen des Zyklus’ insbesondere durch Verwendung ostinater Formen: So sind weite Teile der Membra Jesu nostri auf der Basis ostinater Bässe gearbeitet, etwa die Rahmensätze des letzten Teils. Das zweite Ritornell erscheint am Ende der Aria-Folge um eine Wiederholung seines letzten Glieds verlängert; am Ende des abschließenden Concertos (T. 144–145) beschließt das Instrumentalensemble die Sätze. Dieses spezifische Instrumentationsdetail – vor allem am Ende des Teils – ist in diesem Zyklus einzigartig, da sonst die Vokalstimmen mit den Instrumenten gemeinsam enden. Schließlich hebt Buxtehude am Ende die Wiederaufnahme von Vulnerasti cor meum durch eine eigenständige Begleitung des Gambenensembles hervor, intensiviert mit idiomatischem Streicher-Tremolo. Die Bezeichnung „in tremulo“ findet sich auch im Klag-Lied: Muß der Tod denn auch entbinden BuxWV 76, 2 für Singstimme und durchgängig unbezeichnete Instrumentalstimmen (vermutlich Violen), das Buxtehude 1674 zum Andenken an seinen im Januar desselben Jahres verstorbenen Vater veröffentlichte; Das Klag-Lied ist die einzige Strophenaria Buxtehudes ohne Sinfonia oder Ritornell – ein Umstand, der durch die Kombination mit dem „gelehrten Kontrapunkt“ BuxWV 76, 1 konterkariert wird.
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Die Entwicklung der musikalischen Gattungen
3.3 Ausblick: Concerto und Aria beim jungen Bach In Johann Matthesons Kompendium von 1739 äußert sich der Autor im Rahmen seiner Gattungslehre über die Aria nur in Hinsicht auf die für ihn zeitgenössischere Form der Da-capo-Arie; das Concerto allerdings erfährt – von Viadana ausgehend – eine eingehendere Würdigung: „Die eigentliche Absicht bey den Concerten war und ist noch diese: die Text-Worte vernehmlich zu machen, und bey einer oder mehr Stimmen dennoch durch Hülffe des General-Basses, eine völlige Harmonie zu Wege zu bringen“ (M ATTHESON 1739, S. 221). „War und ist“ – wenn Mattheson das zeitgenössische Concerto meint, kann der Blick auf das zeitgenössische Kantatenschaffen durchaus gewinnbringend sein – aber auch der Blick in das umfangreiche geistliche Vokalwerk Johann Sebastian Bachs. Stichwort
Johann Sebastian Bach wurde 1685 in Eisenach in eine Musikerfamilie hineingeboren, deren Wirken bis ins 16. Jahrhundert zurückzuverfolgen ist und deren berühmtester Vertreter er im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert werden sollte. Entsprechend früh begann seine Ausbildung beim Vater Johann Ambrosius, Stadtpfeifer in Eisenach; im Alter von neun Jahren zog der Vollwaise zu seinem Bruder Johann Jacob, der als Organist im benachbarten Ohrdruf tätig war. Mit 14 Jahren zog er nach Lüneburg, um seine Schulausbildung an der Partikularschule des Lüneburger Michaelisklosters fortzusetzen und hatte dort vermutlich auch Kontakt zum Organisten an St. Johannis, dem Komponisten Georg Böhm (1661–1733). Erste Anstellungen führten Bach nach Arnstadt und Mühlhausen; eine umfangreiche Reise nach Lübeck 1705–1706 zeitigte den Kontakt zu Dieterich Buxtehude. Von 1708 an war Bach als Hoforganist und später Konzertmeister am Weimarer Hof tätig, von 1717 als Kapellmeister am Hof von Köthen; von 1723 an bis zu seinem Tod 1750 diente Bach als Thomaskantor der Stadt Leipzig. Von seinen 20 Kindern aus zwei Ehen – seine erste Frau Maria Barbara starb 1720 – erlebten nur neun das Erwachsenenalter. Sein Werk gehört nach Umfang und Rang zu den bedeutendsten Beiträgen zum Repertoire des 18. Jahrhunderts: Wie kein zweiter assimilierte Bach französische wie italienische Stile und lieferte zu nahezu jeder musikalischen Gattung nennenswerte Beiträge. Johann Sebastian Bach wurde von seinen Zeitgenossen hoch geschätzt; nach seinem Tod wurden seine Kompositionen zunächst selten aufgeführt, und mit dem Namen „Bach“ verbanden sich für die Komponisten der Wiener Klassik eher die Söhne Johann Sebastian Bachs, auch wenn dessen Werk nicht unbekannt war (vgl. WOLFF 2000, S. 10). Die eigentliche Wiederentdeckung erfolgte aber im frühen 19. Jahrhundert, unter anderem mit der Wiederaufführung der Matthäus-Passion unter Felix Mendelssohn Bartholdy 1829.
Während etwa die Norm von Bachs Leipziger Kantatenschaffen durch die an die Kantatentexte Erdmann Neumeisters angelehnte, meist sechsteilige Form – Eingangschor, zwei Rezitativ-Arien-Paare und ein Schlusschoral – be-
3.3 Ausblick: Concerto und Aria beim jungen Bach
stimmt ist, weisen die frühen geistlichen Kompositionen Bachs nur in Ausnahmefällen Rezitative und damit das für Mattheson entscheidende Kantatenkriterium auf. Tatsächlich heißen diese Werke auch eher „Concert“. Wenn an dieser Stelle ein Blick auf die Gestalt des Actus tragicus BWV 106, der Kantate Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit, geworfen wird, dann unter der Perspektive von Concerto und Aria: Welche bei Buxtehude paradigmatisch verknüpften Elemente tauchen bei Bach in dieser Trauermusik auf? Das Entstehungsjahr der Komposition BWV 106 ist nicht eindeutig zu belegen; die auffallende stilistische Ähnlichkeit mit Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir BWV 131 und Gott ist mein König BWV 71 legt die Vermutung nahe, dass das Werk 1707 oder 1708 in Mühlhausen entstanden ist (vgl. RATHEY 2006, S. 79–84), und zwar vermutlich als Komposition zu einer Trauerfeier. Die formale Anlage entspricht dem „Typus der älteren Kirchenkantate“ (D ÜRR 1971, S. 833): Die meisten Kompositionen der vor-Weimarer Periode (so BWV 131, 71, 196 oder 4) kommen ohne Rezitative und Arien des neapolitanischen Operntypus aus und sind somit nicht dem Neumeister-Typus zuzurechnen. Tatsächlich ist aber nur bedingt die Motette mitteldeutscher Provenienz als Bezugsgattung für das frühe Schaffen Bachs zu nennen – deutet bereits die Benennung des instrumentalen Eingangssatzes als „Sonatina“ (und die Besetzung u.a. mit zwei Gamben) auf eine ältere, eben historische Form hin, die sich Bach als Vorlage erwählt haben mag, entspricht die formale Anlage der Komposition im Ganzen durchaus der Typologie des Concerto-Aria-Typus bei Buxtehude; sie ist an den verschiedenen Textschichten, aus Bibelworten, Choralstrophen und einigen freien Textworten vermutlich von Bach selbst zusammengestellt, abbildbar (vgl. STEIGER 1989): 1. 2.
3.
4.
Sonatina a Concerto b Aria c [d Concerto / Aria a Aria b Concerto
„Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ (Apg 17, 28) „Ach Herr, lehre uns bedenken“ (Ps 90, 12) „Bestelle dein Haus“ (Jes 38, 1) „Es ist der alte Bund“ (Sir 14, 18 / Off 22, 20) „Ja, komm, Herr Jesu“ (Johann Leon, 1582/89) ] „In deine Hände“ (Ps 31,6) „Heute wirst du mit mir“ (Lk 23, 43) „Mit Fried und Freud“ (Martin Luther, 1524) „Glorie, Lob, Ehr und Herrlichkeit“ (Adam Reusner, 1533)
Bach schafft eine axialsymmetrische Großform um den Mittelsatz „Es ist der alte Bund“, an der sich auch die tonale Gestalt orientiert – Eingangs- und Schluss-Concerto stehen in derselben Tonart. Tatsächlich sind die Aria-Gestalten bei Bach erheblich komplexer als die an Strophen orientierten Formen Buxtehudes, bedingt unter anderem durch die Wahl von Bibelsprüchen als
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Aufführungspraxis
Die Entwicklung der musikalischen Gattungen
Textunterlage; die komplexeste Struktur erreicht Bach mit der Doppelarie 3.b, die einerseits eine Bass-Arie mit Begleitung des Continuos ist, sich im zweiten Teil aber zu einer Choralbearbeitung für die beiden Gamben und Cantus firmus in der Singstimme verwandelt. Der Schlusssatz ist als Choral-Concerto aufzufassen, während die Kombination der Chorfuge 2.d „Es ist der alte Bund“ mit dem ariosen „Ja, komm, Herr Jesu“ eher an die Kombination von Chorsatz mit Aria des thüringischen Motettentypus erinnert. Ein weiterer Aspekt der Übereinstimmung betrifft tatsächlich – in Kombination mit instrumentatorischen Gepflogenheiten der beiden näher betrachteten Kompositionen – die Aufführungspraxis. So wie Buxtehude (mit Ausnahme der sechsten Kantate) im selbständigen Instrumentalensemble den Violone besetzt, unter dem im norddeutschen Raum des 17. Jahrhunderts in der Regel kein sechzehnfüßiges, sondern eben ein achtfüßiges – genaugenommen ein zwölffüßiges – Instrument verstanden wird, muss auch Bach für die Aufführung des Actus tragicus im Continuo nur ein Achtfußinstrument verwendet haben: Erst in Leipzig verwendete Bach einen (von seinem Amtsvorgänger Johann Kuhnau angeschafften) 16'-Kontrabaß, zuvor den auch in Lübeck gebräuchlichen Violone (KOOPMAN 1996, S. 217; vgl. DREYFUS 1987). Bach muss die Membra Jesu nostri Buxtehudes nicht unbedingt gekannt haben – die erwähnten satztechnischen Details sind ebenso sehr wie die beschriebenen formalen Umstände der geistlichen Kompositionen im späten 17. Jahrhundert sehr gebräuchlich. Aber mit dem Concerto-Aria-Typus bildet Buxtehude den Typus heraus, der am stärksten nachwirkt – und in der Verknüpfung zweier ursprünglich entgegengesetzter kompositorischer Prinzipien den Weg zum Kantatenrepertoire des 18. Jahrhunderts ebnet. Die Erweiterung der Aria zu vielstrophigen, sich der Kantate in der Provenienz des 18. Jahrhunderts nähernden Formen ist eine Schöpfung der Generation Buxtehudes – und sein Schaffen ist unter kompositions- wie rezeptionstheoretischen Gesichtspunkten für dieses Repertoire von überragender Bedeutung. Die Wechselwirkung zwischen liedhaftem, rezitierendem und virtuosem Vokalstil in Buxtehudes Arien ist jedoch nach wie vor ungeklärt – und gleiches gilt für die Korrespondenz zwischen strophischer Anlage und deren zyklischer Verbindung. In beiden Aspekten zusammengenommen kann die kompositionstechnische Finesse, jene Spezifizierbarkeit der Kompositionen Buxtehudes erkannt werden, die den gattungsgeschichtlichen Grund bereiten für die Dacapo-Arie in Kantate und Oper ab 1700 (vgl. BAYREUTHER 2008, S. 9). Wissens-Check
– Wie verhalten sich Stile und Gattungen bei Mattheson zueinander? – Wie begründet Johann Heinrich Buttstett seine Kritik an Matthesons Darstellung? – Welche Funktion erfüllte die geistliche Vokalmusik Buxtehudes?
Literaturhinweise
– Wie verhalten sich Concerto und Aria im ausgehenden 17. Jahrhundert zueinander? – Welche Gattungselemente sind in den Membra Jesu Nostri Buxtehudes wiedererkennbar?
Literaturhinweise Dietrich Buxtehude und die europäische Musik seiner Zeit. Bericht über das Lübecker Symposion 1987, hg. von Arnfried Edler und Friedhelm Krummacher, Kassel 1990 (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft Bd. 35): Umfangreiche Sammlung von Vorträgen, die die Vielfalt der Musik Buxtehudes dokumentiert. GECK, Martin (1965): Die Vokalmusik Dietrich Buxtehudes und der frühe Pietismus, Kassel (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft Bd. 15): Lesenswerte Kontextualisierung des Vokalschaffens Buxtehudes in eine der wichtigsten konfessionellen Strömungen des späten 17. Jahrhunderts. KRUMMACHER, Friedhelm (1996): „Die geistliche Aria in Norddeutschland und Skandinavien. Ein gattungsgeschichtlicher Versuch“, in: Friedhelm Krummacher, Musik im Norden. Abhandlungen zur skandinavischen und norddeutschen Musikgeschichte, hg. von Siegfried Oechsle, Heinrich W. Schwab, Bernd Sponheuer und Helmut Well, Kassel, S. 33–59: Wichtige gattungstheoretische Einordnung der Aria als Kerngattung um 1700. SNYDER, Kerala (2007): Dieterich Buxtehude. Leben | Werk | Aufführungspraxis, Kassel: Eindrucksvolle und materialreiche, dabei sehr unterhaltsame Monographie, die zugleich den Forschungsstand für das 21. Jahrhundert aufbereitet. WOLFF, Christoph (2000): Johann Sebastian Bach, Frankfurt am Main: Aus der Vielzahl der Bach-Biographien ragt die zum Jubiläumsjahr 2000 entstandene Arbeit Wolffs wegen seiner Fülle an Informationen, aber auch des unprätentiösen Stils heraus.
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4 Generalbass und Partimento Überblick
D
ie klangliche Oberfläche der Musik des 17. und 18 Jahrhunderts ist geprägt durch den Generalbass – und die europäische Musiktheorie dieser Zeit durch die italienische Partimento-Tradition, die ihren Ausgang an den neapolitanischen Konservatorien nimmt. Im Folgenden thematisiert wird die Entwicklung des Generalbasses als kompositionstechnisches Paradigma, außerdem und damit verbunden die im Italien des späten 17. Jahrhunderts gebräuchliche Kombination aus Generalbass- und Kontrapunktlehre. Dabei kann die Oktavregel als
Fallbeispiel für die Basis der Inszenierung von Satzmodellen gelten. Die Kontrapunktlehre aus der Tradition des ‚contrapunto alla mente’ gipfelt schließlich in der PartimentoFuge. Georg Friedrich Händels Fuge B-Dur HWV 607 kann in dieser, aber auch in anderer Hinsicht als Beispiel für das Verwachsen kompositionstheoretischer Paradigmen mit der Entwicklung der musikalischen Gattungen im 18. Jahrhundert gelten – zumal Händel diese Komposition auch gänzlich neu kontextualisiert.
4.1 Kontrapunkt und Generalbasslehre Das Denken in Intervallverbänden (H ELMS 2001), die simultane Konzeption von Stimmen lässt bereits im 15. Jahrhundert Techniken wie Gymel und Fauxbourdon entstehen: Beide entwickeln auf der Basis von Gerüstsätzen und unter der Prämisse von parallelen Stimmführungen – der einfachsten Art von Stimmführung – einfache mehrstimmige Konstruktionen. Eine besondere Rolle in der Kompositionslehre des 18. Jahrhunderts (wie auch in der Musiktheorie bis ins späte 20. Jahrhundert) spielt der 1725 in Wien publizierte Kontrapunkt-Traktat Gradus ad Parnassum von Johann Joseph Fux. Stichwort
Johann Joseph Fux Johann Joseph Fux wurde 1660 in der Steiermark geboren und erhielt seine schulische Ausbildung bei den Jesuiten. Bereits im Alter von zwanzig Jahren unterrichtete er selbst in Graz, seit 1683 in Ingolstadt am Jesuitenkolleg, wo er auch bis 1688 das Organistenamt in der St. Moritz-Kirche bekleidete. Von 1696 bis 1705 ist er als Organist an der Schottenkirche in Wien dokumentiert, bis 1705 und 1715 diente er als Kapellmeister am Stephansdom. Kaiser Leopold ernannte Fux 1698 zum Hofcompositeur; 1715 wechselte er in das Amt des Vizehofkapellmeisters, bis
4.1 Kontrapunkt und Generalbasslehre
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Karl VI. ihm schließlich 1715 das Hofkapellmeisteramt übergab. In dieser Funktion wirkte Fux bis zu seinem Tod 1741. Sein musiktheoretisches Hauptwerk steht im Bekanntheitsgrad dem Rechenbuch des Adam Riese in nichts nach: Die Gradus ad Parnassum wurden bereits im 18. Jahrhundert ins Deutsche, Italienische, Französische und Englische übertragen. Die Einflussnahme des Traktats auf die Kontrapunktlehre in weiten Teilen Europas lässt sich kaum überschätzen; auch die maestri an den Konservatorien Neapels hatten Zugang zu dieser Publikation und arbeiteten Fux’ Methode in ihren Unterricht ein – so etwa Leonardo Leo (1694–1744) (vgl. BENT 2002, S. 577–579, sowie vAN TOUR 2015, S. 193–200). Die Gradus ad Parnassum dienen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als Standardwerk in der Ausbildung, darunter in der von Komponisten wie Joseph Haydn oder Wolfgang Amadé Mozart (vgl. HOCHRADNER 2002 bzw. PETERSEN 2006, S. 6–44). Der Traktat besteht aus zwei Büchern, der klassischen, aus der Renaissance überlieferten Zweiteilung in „musica speculativa“ und „musica activa“ folgend; er lässt sich allerdings eher in vier Teile gliedern, die der Intervallehre (1. Buch) sowie der Kontrapunktlehre, der Fugenlehre und der Stillehre gewidmet sind. Das gesamte zweite Buch ist als Dialog zwischen Aloysius, dem Gelehrten (der möglicherweise mit Palestrina zu identifizieren ist) und Josephus, dem Schüler – der auch aufgrund der Namensgleichheit mit Fux selbst identisch ist – abgefasst; seine Aufarbeitung von contrapunctus simplex und diminutus übernimmt Fux aus der italienischen Tradition (vgl. DAHLHAUS 1984, S. 135). Seine Lehre wird allzu oft auf den Gattungskontrapunkt reduziert, kann aber als Maßstab kontrapunktischer Kunstfertigkeit gelten.
Die Lehre Fux’ orientiert sich zwar an der italienischen Tradition, ist aber für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts als eigentliche Kompositionslehre zu verstehen – als solche intendierte Fux seine Publikation. Jenseits der traditionellen Kontrapunktlehre ist allerdings sowohl kompositionstheoretisch wie satztechnisch bereits seit Mitte des 16. Jahrhunderts die Auseinandersetzung mit sequenziellen Strukturen von großer Bedeutung für die Weiterentwicklung der musikalischen Textur: Quellen wie etwa die Introduttione facilissima et novissima di canto fermo, figurato, contrapunto semplice, et in concerto von Vicenzo Lusitano (Rom 1553) oder Della prattica musica vocale et strumentale Scipione Cerretos von 1601 (vgl. FROEBE 2007, S. 18–21) machen deutlich, dass schon früh eine umfassende Lehre der imitatorischen Sequenz in der Art von vokalen Improvisationsmodellen vorlag – und diese wiederum ist als eine der kompositionsgeschichtlichen Brücken zur Bassorientierung in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts zu verstehen: Die überlieferten Modelle der Musik des 16. Jahrhunderts werden transformiert und neu inszeniert. Die vollzogene Transformation ist greifbar in der „Zugabe oder Anhang vom gedoppelten Contrapunct und fugis ligatis“ in Andreas Werckmeisters Harmonologia musica von 1702: Werckmeister arbeitet in seinem Kanonlehrgang unter Berücksichtigung vergleichbaren Sequenzmaterials den kompositionsgeschichtlichen
Contrapunto alla mente
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Generalbass und Partimento
Wandel des mittleren 16. Jahrhunderts auf (vgl. FROEBE 2007, S. 23–24). Dieser Wandel ist – auch in der produktiven Rezeption der Musik und der Musiktheorie der Vergangenheit – eine der Voraussetzungen für die Musik des Generalbass-Zeitalters; die Satzmodelle des ,contrapunto alla mente‘ helfen zudem bei der Offenlegung von Gerüstsätzen.
4.1.1 Von der Intavolierung zum Generalbass Die Publikation der ersten Generalbass-Sammlungen Viadanas wird üblicherweise als Geburtsstunde der Generalbass-Literatur betrachtet; Viadana gibt zwar Spielanweisungen in seinen Cento concerti ecclesiastici […]. Con il basso continuo per sonar nell’ organo op. 12, vermutlich 1596/1597 in Rom komponiert und 1602 in Venedig gedruckt – tatsächlich ist aber der Ansatz Viadanas um die Jahrhundertwende bereits sehr verbreitet und dokumentiert auch nur eine mögliche Praxis, für den parallel der Begriff ‚basso generale‘ erstmals 1601 bei Fattorini in dessen Sacri concerti a due voci (Venedig 1600) auftaucht (vgl. BÖTTICHER und CHRISTENSEN 1993, Sp. 1194). Mit dem in Rom publizierten Traktat Tratado de glosas sobre clausulas y otros generos de puntos en la musica de violones von Diego Ortiz liegt bereits 1553 ein Hinweis auf ein Nebeneinander zweier grundsätzlich unterschiedlicher Begleittechniken vor: Ortiz differenziert zwischen der Intavolierung bestehender Kompositionen und dem akkordischen Begleiten eines der geläufigen ostinaten Bassmodelle und setzt seine Beispiele in Partituren zu vier Stimmen.
Stichwort
Intavolierung Mit dem Begriff der Intavolierung wird eine offenbar schon im mittleren 16. Jahrhundert übliche Praxis bezeichnet, die lange Bestand hat: Noch Luzzasco Luzzaschi setzt zu seinen Madrigali […] per cantare e sonare 1601 eine vierstimmige Begleitung in Tabulatur, die (ohne Berücksichtigung der Ornamente) den kompletten Vokalsatz enthält; diese Praxis begegnet vielfach in den Drucken Simone Verovios seit 1586 (vgl. RAMPE 2014, S. 26–28). Die auf zwei oder drei Stimmen reduzierten Partituren folgen den jeweils höchsten und tiefsten Stimmen; die gelegentliche Reduktion auf eine oder mehrere Bass-Stimmen bereiten die ‚basso seguente‘-Praxis vor, die handschriftlich mindestens ab 1587, gedruckt ab 1594 nachweisbar ist. Erste handschriftlich überlieferte Orgelbässe erscheinen bei Alessandro Striggio 1587 („Bassone cavato dalla parte piu basse del 40“), ein erster Druck bei Giovanni Croce, Venedig 1594 (Spartidura delli motetti a otto voci […] per cantar con ogni stromento, vgl. BÖTTICHER und CHRISTENSEN 1993, Sp. 1197–1198). Kompositionen des 16. Jahrhunderts werden ab 1600 mit einem beigefügten ‚basso seguente‘ neu veröffentlicht.
4.1 Kontrapunkt und Generalbasslehre
Viadana stellt bereits in seiner Vorrede ausdrücklich fest, dass seine Concerti nicht mit einer Intavolierung, sondern mit einem Generalbass versehen publiziert werden; Girolamo Diruta warnt in seinem Seconda Parte del Transilvano diviso in Quattro Libri (Venedig 1609), dass die eigentlich sehr hilfreichen Ziffern ein sehr ungenaues Bild der Komposition abgeben und empfiehlt den mit der Aufführung seiner Werke beschäftigten Organisten, sich eine Partitur zu erstellen und alle Stimmen der Komposition zu spielen (vgl. CAMPAGNE 1995, S. 18). Entsprechend verstehen lässt sich die Bemerkung bei P RAETORIUS (1619, Bd. 3, S. 144): „Der Generalbass seu Continuus wird daher also genennet, weil er sich vom Anfang bis zum Ende continuieret und als eine GeneralStimme / die ganze Motet oder Concert in sich begreifen.“ Die notwendige Herstellung einer Intavolierung als zusätzliches Aufführungsmaterial (vgl. RAMPE 2014, S. 25–26) ist also nicht mehr nötig, zumal bei der von Praetorius beschriebenen Praxis des ‚basso seguente‘, bei der die Generalbass-Stimme der jeweils tiefsten Stimme einer polyphonen Komposition folgt, genau genommen eine Stimme erzeugt werden kann, die in dieser Form nicht in der Komposition vorliegt (vgl. BÖTTICHER und CHRISTENSEN 1993, Sp. 1194). Die Darstellung „De basso generali“ im dritten Band des Syntagma musicum von Michael Praetorius (1571–1621) ist die erste Darstellung von Generalbass im deutschsprachigen Raum: Praetorius bietet praktische Beispiele und gibt Hinweise zur Aufführungspraxis, vor allem aber macht er die wichtigsten italienischen Quellen durch eine Übersetzung zugänglich, darunter die Vorworte von Viadana, Banchieri und Agazzari. Praetorius stellt auch – Viadana folgend – dar, wie die Umsetzung des Vokalsatzes auf ein Tasten- bzw. Akkordinstrument angefertigt werden kann, und dass es nicht nötig sei, „dass der Componist die Vocalstimmen also / wie sie gesungen werden / im schlagen observire / sondern nur für sich selbsten die Concordantien zum Fundament greiffe. […] Wenn aber viel Stimmen zu singen anfahen / alsdann auch desto mehr Claves und vollstimmiger drein greiffe“. (PRAETORIUS 1619, Bd. 3, S. 143–145). Der wichtigste Grund für das Hereinwachsen des Generalbasses in die Kompositionsgeschichte ist die Veränderung der Schreibart – und umgekehrt: Diese verändert sich mit dem Gewinn an Eigenständigkeit des Continuos, abhängig von Stil und Gattung der jeweiligen Komposition. Dieser Grund, den Agostino Agazzari in seinem Generalbasstraktat Del sonare sopra’l basso con tutti li stromenti (Siena 1607) als ersten für die Entwicklung des Generalbasses anführt, gibt auch Praetorius in seiner Übersetzung wieder: „Wegen der jetzigen gewohnheit und styli im singen / so man Componiret und singet / gleichsam / als wenn einer eine Oration daher recitirte.“ (P RAETORIUS 1619, Bd. 3, S. 149). Polyphone und monodische Stile schließen einander dabei nicht aus, auch wenn beide jeweils unterschiedliche Arten von Begleitung implizieren, sondern werden von vielen Komponisten einander ergänzend verwendet und gezielt eingesetzt – etwa in Monteverdis Vespro della beata vergine (1610), in deren Orgelstimme drei- und
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Praetorius
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Generalbass und Partimento
vierstimmige Partituren, ‚basso seguente‘ und unabhängiger Generalbass abwechseln (vgl. CAMPAGNE 1995, S. 16). Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in Frankreich nachweisen, wo sich ab 1608 nebeneinander Lauten-Intavolierungen und freie Generalbass-Stimmen zu Airs de cour nachweisen lassen, sowie in England (vgl. BÖTTICHER und CHRISTENSEN 1993, Sp. 1201–1202).
4.1.2 Kritik am Generalbassspiel bei Heinrich Schütz Heinrich Schütz hatte bereits sein erstes großes Werk, die Psalmen Davids op. 2, 1619 – also im gleichen Jahr wie das Syntagma musicum von Praetorius – unter Hinzufügung einer Generalbass-Stimme publiziert und in deren Vorwort erklärt: „Der Basso continovo ist eigentlich nur für die Psalmen gemeinet / von der Motet an […] / biß zum Beschluss deß operis werden sich fleißige Organisten mit absetzen in die Partitur zu bemühen / wie dann auch sonsten (wofern mehr als eine Orgel gebraucht werden soll) durch die Psalmen die Bässe herauß zu ziehen wissen.“ (SCHÜTZ 1619, S. XVIII). Stichwort
Heinrich Schütz Der 1585 in Köstritz geborene Heinrich Schütz wurde früh vom Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel an der Kasseler Hofschule, dem Collegium Mauritianum, gefördert und studierte ab 1607 zunächst in Marburg Jura und schließlich dank eines Stipendiums des Landgrafen von 1609 bis 1612 in Venedig bei Giovanni Gabrieli (1557–1612). Nach der Rückkehr nach Kassel ernannte ihn Landgraf Moritz zum zweiten Organisten; 1614 wurde er am Hof des sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. Hofkapellmeister – zunächst neben Rogier Michael von Bergen (1553–1623) und Michael Praetorius, dann allein und bis zu seinem Tod 1672 in Dresden. Schütz ist als wichtigster deutscher Komponist in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein entscheidender Vermittler zwischen Deutschland und der italienischen Tradition, die er selbst als Schüler Gabrielis kennenlernen konnte. Sein umfangreiches Schaffen, vor allem aber auch sein langes Wirken am Dresdener Hof wurde früh gewürdigt, so von Wolfgang Caspar Printz (1641–1711), der in seiner 1690 erschienenen Historischen Beschreibung bestätigt, Schütz sei um 1650 „für den allerbesten Teutschen Componisten gehalten worden“ (PRINTZ 1690, S. 136). Zu seinen Schülern gehören mit Matthias Weckman (1619–1674) oder Johann Theile (1646–1724) auch wichtige Vertreter der norddeutschen Musik des späteren 17. Jahrhunderts (vgl. auch MAUS 2016).
Cantiones sacrae
Die Sammlung der Cantiones sacrae, 40 Motetten vor allem vermutlich auf Texte aus den weit verbreiteten Precationes ex veteribus orthodoxis doctoribus (1553) von Andreas Musculus und für den katholischen sächsischen Diplomaten Hans Ulrich von Eggenberg komponiert, veröffentlicht Schütz als op. 4 in seinem 40. Lebensjahr (zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte vgl.
4.1 Kontrapunkt und Generalbasslehre
VOLCKMAR-WASCHK 2001, S. 9–31). Sie wird niemals so populär wie die Geistliche Chormusik, aber bezeichnenderweise erstmals zum Gegenstand der Auseinandersetzung in der Musikforschung mit der Monographie zu Giovanni Gabrieli von Carl vON WINTERFELDT (1834, Bd. 2, S. 170–174). Im Rahmen der ersten Gesamtausgabe publiziert Philipp Spitta 1885 eine Neuedition, erweitert von Arnold Schering und Heinrich Spitta 1927. Bereits der Titel der Sammlung verweist auf die Entsprechungen bei Palestrina, Byrd oder Tallis, und auch kompositorisch nimmt Schütz Bezug auf Satztechniken des 16. Jahrhunderts. Die Sätze, die mehrheitlich schon in den ersten Jahren des Dreißigjährigen Kriegs entstanden sind, werden von Schütz für vier Stimmen a cappella konzipiert; erst der Herausgeber, der Freiberger Georg Hoffmann, verlangt eine Generalbass-Stimme, die als ‚basso seguente‘ vermutlich von einem Schüler Schützens ergänzt wird (vgl. BREIG 2005). Als Vorwort dieser Stimme – des „Bassus ad Organum“ – richtet sich Schütz an den geneigten Leser als „Benevolo Lectori“. Quelle Heinrich Schütz, Cantiones sacrae. Lateinische Motetten für vier Stimmen und Basso continuo SWV 53–92 (1625), hg. von Heide Volckmar-Waschk, Kassel 2004 (= Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hg. im Auftrag der Neuen Schütz-Gesellschaft. Band 8 und 9), Übersetzung vgl. VOLCKMAR-WASCHK 2001, S. 286.
„BIbliopola, opusculum hoc gratius fore ratus, Bassum istum Generalem mihi extorsit, & ut porrò unam atq; alteram cantilenam propriè ad Basin accomodatam in calce adjicerem, ansam præbuit. Vos autem Organicos, qui auribus delicatoribus satisfaciendam judicatis, rogatos volo, ne gravemini voces omnes in Partituram seu Tabulaturam, uti vocant, vestram transcribere. Siquidem in hoc genere Bassum solum pro solido fundamento vobis struere, vanum atq; inconcinnum mihi visum fuit. Valete.“ „Der Verleger – sicher, dass dieses Werk dadurch eine günstigere Aufnahme fände – hat mir diesen Generalbass abgerungen und mir somit die Gelegenheit gegeben, den einen oder anderen Gesang, der für den Generalbass besonders geeignet ist, am Ende hinzuzufügen. Euch Organisten jedoch, die ihr meint, es müsse recht feinhörigen Ohren Genüge geschehen, möchte ich gebeten haben, es euch nicht verdrießen zu lassen, alle Stimmen in eure so genannte Partitur oder Tabulatur zu übertragen. Es erschien mir indessen sinnlos und unangebracht, in dieser Art den Bass allein als feste Grundlage für euch aufzusetzen. Lebt wohl.“
57 Abb. 4.1 Heinrich Schütz, Cantiones sacrae – „Bassus ad Organum“, Titelseite
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Generalbass und Partimento
Im Vorwort zu den Cantiones sacrae äußert Heinrich Schütz deutliche Kritik an der offensichtlich üblichen Praxis des freien Begleitens aus dem Bass. Dass Schütz gegenüber der freien Generalbass-Begleitung Vorbehalte äußert, ist nicht nur für die Cantiones sacrae nachweisbar: Nach Auskunft des Vorworts in der Geistlichen Chormusik (1648) fügt er auch diesem Werk eine Generalbass-Stimme „auff Gutachten und Begehren“ bei. Die offenkundigen Vorbehalte gegenüber den aufführungspraktischen Gepflogenheiten seiner Zeit erklären sich somit vor allem aus der satztechnischen Anlage der Cantiones sacrae und anderer, vergleichbarer Kompositionen: Schütz geht (nach italienischer Tradition) von unterschiedlichen Begleitarten aus und damit von einer Differenzierung der Schreibarten – motettischpolyphon oder konzertant – auch auf Seiten des Generalbasses. Der Befund erweist, dass „der Übergang von Partiturspiel, Absetzung bzw. Intavolierung und Generalbass“ keineswegs fließend gewesen sein muss, wie vielfach angenommen (vgl. RAMPE 2014, S. 25), sondern nach stilistischen Gesichtspunkten differenziert. Dieser Befund stimmt überein mit einer Bemerkung in Adriano Banchieris Conclusioni nel Suono dell’Organo, deren Entstehungsjahr 1609 einmal mehr Beweis für die italienische Tradition ist, in der die Bemerkung Heinrich Schützens zu verstehen ist. Banchieri differenziert, indem er auf die Entstehung des Continuo-Spiels aus der Improvisation abhebt. Quelle Adriano Banchieri, Conclusioni nel Suono dell’Organo, Bologna 1609 (Nachdruck: Bologna 1981), S. 25; Übersetzung vgl. CAMPAGNE 1995, S. 10.
„Fra poco tempo vi saranno due classe di suonatore, parte organisti, cioe quelli, che praticheranno buone spartiture, & fantasie, & altri bassisti, che vinti da totale ifingardaggine si contentiranno suonare simplicemente il Basso.“ „Bald wird es zwei Klassen von Spielern geben, die einen Organisten, die das Spielen aus Partituren und die Fantasia (das Improvisieren) beherrschen, und die anderen Bassisten, die, von totaler Faulheit besiegt, zufrieden sind, einfach den Bass zu spielen.“
4.1.3 Die Partimento-Tradition des 18. Jahrhunderts Partimento
Anders als in Deutschland oder Frankreich ist für die italienische Kompositionstheorie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts kaum ein Traktat greifbar, dessen Publikation das Interesse der Öffentlichkeit so erregt hätte wie etwa die Veröffentlichungen Jean-Philippe Rameaus oder Johann Philipp Kirnbergers. Diese Tatsache täuscht über den Umstand hinweg, dass italienische Theoretiker in großem Umfang publizierten – wenn auch ohne wortreiche Umschreibungen: Die Sammlungen spezieller Satzübungen kursierten
4.1 Kontrapunkt und Generalbasslehre
über Generationen vor allem in Manuskripten in den verschiedenen italienischen Konservatorien. Der Begriff „Partimento“ bezeichnet in der italienischen Musiktheorie des 17. und 18. Jahrhunderts im Allgemeinen eine bezifferte oder unbezifferte Generalbassstimme, die aus dem Stegreif auszusetzen ist – allerdings weniger im Sinn einer aufführungspraktischen Reduktion polyphoner Kompositionen: Mit ihr verbindet sich ein musiktheoretisches Lehrkonzept, bei dem die Grenzen zwischen Komposition und Improvisation stark verschwimmen können (vgl. PAISIELLO 2008, S. 9–10). Unter dem Titel „Partimento“ versammelten sich – zum Generalbass verkürzt – „regole“, Fugen, Kanons, „solfeggi“, „intavolature“ und freie Kompositionen. Die Herkunft der Partimenti liegt im Dunklen: Erstmals nachweisbar ist der Begriff in Venedig 1602, allerdings als Synonym für „Basso continuo“, und Cavalieri verwendet ihn 1634 als Bezeichnung für die Bassstimme (vgl. HOLTMEIER und DIERGARTEN 2008, Sp. 653). Dabei sind die beiden verwandten Begriffe „Partimento“ und „Basso continuo“ in der Regel nicht zu verwechseln, auch wenn sie ihr Fundament teilen: Während das Ziel des Partimentospiels die Kompositionslehre über die Improvisation ist, geht es beim Continuo-Spiel ausschließlich um die Begleitung. Die italienische Partimento-Tradition hat der europäischen Musiktheorie des 17., 18. und frühen 19. Jahrhunderts ihr eigentliches Gesicht verliehen (vgl. HOLTMEIER 2009, S. 7). Während der Begriff ‚Partimento‘ im 17. und 18. Jahrhundert in Italien noch schlicht die Bezeichnung für eine (bezifferte oder unbezifferte) Generalbassstimme im Sinn einer Improvisationsvorlage für das virtuose solistische Spiel war, steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit dem Phänomen die Bedeutung als zentrale Methode einer musiktheoretischen Didaktik: Der Terminus meint die Stegreif-Aussetzung von Generalbassstimmen und eine damit zusammenhängende, modellbasierte Improvisations- und Kompositionsdidaktik (vgl. PAISIELLO 2008 [1782], S. 10). Ihren Ausgang nimmt die Tradition des Partimento-Spiels an den neapolitanischen Konservatorien. Partimento-Schüler lernen mithilfe eines verhältnismäßig normierten Repertoires von Übungen das Stegreifspiel bezifferter und unbezifferter Bässe: Die meisten Partimento-Sammlungen neapolitanischer Provenienz gliedern sich in zwei Teile. Ein erster Teil legt die ‚Regole‘ dar, stellt also Intervalle, Skalen, Oktavregel-, Kadenz- und Fortschreitungsmodelle in den Mittelpunkt der Übungen; der zweite Teil besteht aus einer Sammlung von Partimenti in meist aufsteigendem Schwierigkeitsgrad, die die Anwendung der ‚Regole‘ trainieren. Die Übungen der aus dem frühen 17. Jahrhundert herrührenden Partimento-Tradition ursprünglich neapolitanischer Provenienz, mit denen Generationen von Musikern bis weit ins 19. Jahrhundert musiktheoretisch ausgebildet wurden, bergen nahezu sämtliche Satzmodelle (vgl. AERTS 2007, S. 148).
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Generalbass und Partimento Stichwort
Satzmodelle Unter dem Begriff des Satzmodells ist eine unauflösbare Einheit von kontrapunktischen und harmonischen Prinzipien zu verstehen: Satzmodelle sind musikhistorische Phänomene, die zum Teil aus der musikalischen Praxis und Theorie des Spätmittelalters stammen; sie sind – als Improvisationsgerüste oder Variationsfundament – zunächst tendenziell undynamisch, gewinnen aber spätestens mit dem 18. Jahrhundert an struktureller Flexibilität (FUß 2007, S. 104–105). Die meisten Modelle lassen sich ohne weiteres bis ins späte 14. Jahrhundert zurückverfolgen (vgl. JANS 1984, S. 101–120). Spätestens in der Musik des 17. Jahrhunderts konstituieren sie sich regulär aus modellhaftem Bass, der Generalbassbezifferung und einem damit eng verknüpften Oberstimmenverlauf: Satzmodelle sind durch einen hohen Wiedererkennungswert charakterisiert. Der Begriff ‚Satzmodell‘ beschreibt dabei in erster Linie eine abstrakte Struktur – anders als der Begriff ‚Topos‘, der die Einheit von Struktur und geschichtlich definierter Bedeutung bzw. Funktion meint (vgl. FLADT 2005b, S. 344, bzw. AERTS 2007, S. 155).
Die Satzmodelle der neapolitanischen Partimentoschulen lassen sich grundsätzlich in Initial-, Sequenz- und Kadenzmodelle unterteilen: Es finden sich bestimmte Eröffnungsformeln (‚motivi‘), Sequenzen (‚movimenti‘), die Oktavregel und ihre Varianten (‚scale‘), Modulationsformeln (‚cambiar il tuono‘) und Kadenzen (‚cadenze‘) mit deren Vorbereitungen (‚preparamenti‘), so bei Durante oder Fenaroli. Stichwort
Die Oktavregel Mit der Oktavregel (frz. „règle de l’octave“, it. „regola dell’ ottava“) beginnt Anfang des 18. Jahrhunderts die Theoretisierung des Generalbasses – dieser wird „zur ,Harmonielehre‘ im modernen Sinne“ (HOLTMEIER 2009, S. 11): Da die Generalbasslehre weder das Prinzip der Akkordumkehrungen noch die Funktionsbezeichnungen kennt, wird die elementare Harmonisierungspraxis in einer Regel zusammengefasst; die Tonart wird durch die steigende und fallende Tonleiter (ambitus modorum) im Bass harmonisch bestimmt, deren Tonstufen Akkorden zugeordnet werden: Grundakkorde stehen auf der 1. und 5. Skalenstufe, auf der 4. Skalenstufe steht im Ansteigen der Grundakkord bzw. der Quintsextakkord und im Absteigen der Sekundakkord. Die Akkorde auf den Skalenstufen 2 (tritonischer Sextakkord oder Terzquartakkord) und 7 (Sext- oder Quintsextakkord) repräsentieren die Tenor- bzw. Diskantklausel im Bass:
Abb. 4.2 Oktavregel
4.1 Kontrapunkt und Generalbasslehre
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Johann David Heinichen reduziert 1728 die Modi ausdrücklich auf die »zwei Haupt-Modi« Dur (modus major) und Moll (modus minor), »nach welchen sich alle übrigen (harmonisch) richten« und in denen das System der acht bzw. zwölf Kirchentonarten aufgeht. Die Oktavregel ist dabei mehr als nur die Abbildung einer Harmonisierungspraxis, sondern zugleich ein Mittel der harmonischen Analyse (vgl. HOLTMEIER 2009, S. 11) in der Kodifizierung von Akkorden, die nur bedingt als lineare Konstellation wahrgenommen werden, sondern in erster Linie vertikal – und nunmehr abgelöst von kontrapunktischen Vorgängen.
Zu den wichtigsten Belegen für die Aneignung von Satzmodellen in der Tradition neapolitanischer Partimenti gehören Mozarts Attwood-Studien (vgl. HELBING und POLTH 1995 sowie BUDDAY 2002), die eine Vielzahl der historischen Modelle enthalten, ohne deren Namen zu nennen – so, wie terminologische Fragen für diesen Bereich ja überhaupt nur bedingt erschlossen sind –, oder die Generalbass-Schule Simon Sechters von 1875 (vgl. F LADT 2005, S. 194f.). Weite Teile der deutschsprachigen Musiktheorie sind in gleichem Maß wie die Fortsetzung der italienischen Musiktheorie im 19. Jahrhundert aus der Partimento-Tradition abzuleiten, in erster Linie ablesbar an der Lehrmethode Luigi Cherubinis von 1847, aber auch französische und auf Rameau fußende Texte wie Henri Rebers Traité d’harmonie (1862) oder François Bazins Cours d’harmonie théorique et pratique (1875) lassen den Einfluss dieser Tradition erkennen. In der Wiener Generalbasslehre etwa Albrechtsbergers oder Mozarts und Försters spielt die Lehre von den Satzmodellen eine zentrale Rolle, und der prägende Einfluss der italienischen Partimento-Tradition lässt sich wie in der französischen Musiktheorie der Zeit leicht erkennen: Die Generalbasslehre der Wiener Klassik ist „im Kern eine ramistisch überformte, italienische Musiktheorie“ (HOLTMEIER 2009, S. 7; vgl. ROHRINGER 2012). Dies gilt sogar noch für die Musiktheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa bei Rheinberger in München (vgl. P ETERSEN 2018). Die Anfrage der Florentiner Akademie von 1878, ob denn für die Einführung in die Harmonielehre das überlieferte neapolitanische System – also die praktische Näherung durch das Studium von Partimenti – oder die „deutsche“ Herangehensweise, die von der „Theorie“ ausgeht, zielführender sei (vgl. SANGUINETTI 2012, S. 95–96), verweist auf die offensichtlich unterschiedlichen Konzepte, die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägen. Erst die Kestenberg-Reform von 1925 bedeutete das Ende der PartimentoTradition – mit dem Niedergang der praktisch orientierten Lehrerseminare, die (im Gegensatz zur bürgerlich geprägten Musiktheorie) diese Tradition im Rahmen der einfacheren Musiker- und Musiklehrerausbildung pflegten (vgl. HOLTMEIER 2007, S. 7). Die meisten Orgelschulen aus der zweiten Hälfte des
Satzmodelle im 19. Jahrhundert
Ablösung der Partimenti
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Generalbass und Partimento
19. Jahrhunderts gehören jedoch zu den Quellen, die diese Tradition zu bewahren suchten. In den Harmonielehren nach Bussler (1875) werden Satzmodelle hingegen allgemein unter dem Begriff der Sequenz abgehandelt – signifikativ für den Wandel im Umgang mit dem Phänomen. In Deutschland wie in Italien verliert mit Beginn des 19. Jahrhunderts die Partimento-Tradition deutlich an Einfluss, nicht zuletzt durch den Einfluss der Klangtheorie Rameaus: Mit den Systemdarstellungen Hauptmanns wie den Lehrbüchern Sechters und Richters sind um die Jahrhundertwende für die Hauptstränge der deutschen Musiktheorie die Verbindungen zur neapolitanischen Schule abgeschnitten (vgl. HOLTMEIER und DIERGARTEN 2008, Sp. 655–657). Der Schatten, den diese Form der Vermittlung musiktheoretischer Grundlagen von Kompositionspraxis geworfen hat, ist jedoch lang: Er reicht bis weit ins 19. Jahrhundert zu François-Joseph Fétis oder zur Münchner Schule Josef Gabriel Rheinbergers. Die Tradition des Partimento-Spiels war damit keineswegs ausgestorben, sondern blieb überaus lebendig.
4.2 Partimento und Fuge: Händels Fuge B-Dur HWV 607 Die Karriere Georg Friedrich Händels gehört zu den bemerkenswertesten Lebenswegen eines Komponisten im 18. Jahrhundert. Dabei ist eine Lehr- und Studienzeit in Italien, wie sie auch Händel absolvierte, schon in den vorausgehenden Jahrhunderten üblich, aber die zweite Lebenshälfte, die der Komponist in England als Komponist von Opern und Oratorien, als Lehrer, Impresario und nicht zuletzt ausführender Musiker verbringt, ist innereuropäisch nahezu singulär – in der Wirkmächtigkeit seiner Musik, aber auch der mit ihr verbundenen Institutionen in London. Stichwort
Georg Friedrich Händel
Abb. 4. Georg Friedrich Händel – Portrait von Thomas Hudson (1701–1779)
Geboren 1685 in Halle an der Saale, wurde Händel zunächst beim Organisten der Marktkirche Unser Lieben Frauen seiner Heimatstadt, Friedrich Wilhelm Zachow, ausgebildet; sein kompositorisches Talent zeigte sich offenbar schon früh: Erste Kompositionen werden von seinem ersten Biographen John Mainwaring (1760) bereits für das neunte Lebensjahr veranschlagt. Vom Sommer 1703 an war er als Geiger, später auch als Cembalist an der neugegründeten Hamburger Oper an Gänsemarkt beschäftigt; hier wurden auch seine ersten Opern uraufgeführt. Von 1706 an unternahm er eine umfangreiche Studienreise nach Italien – und er-
4.2 Partimento und Fuge: Händels Fuge B-Dur HWV 607
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hielt dort nach der gefeierten Uraufführung seiner Oper Agrippina in der Adventszeit 1709 in Venedig die Einladung an den Hof des Kurfürsten Georg Ludwig von Hannover sowie an den englischen Hof. Von 1710 an sollte Händel – mit wenigen Unterbrechungen in Hannover – das englische Musikleben prägen: mit über 40 Opern, über 25 Oratorien, geistlicher und weltlicher Vokalmusik und Instrumentalmusik gehörte er zu den wichtigsten Komponisten auf der britischen Insel im 18. Jahrhundert, der überdies auch als Opernunternehmer fungierte (und als solcher mehrfach bankrott ging). Er starb 1759 in London.
Händel war als Lehrer, insbesondere in seiner Tätigkeit für das englische Königshaus, sehr gefragt: Zu seinen Schülern gehörte die spätere britische Königin Caroline von Brandenburg-Ansbach, für die er eine Reihe von kammermusikalischen Kompositionen schrieb, und Prinzessin Louisa von Großbritannien, deren Kompositionsunterricht überdies aber auch von den offenkundig italienischen Traditionen in Händels Unterricht Zeugnis ablegt. Die Fugenkompositionen Händels korrespondieren mit seinen Aufzeichnungen zur Kompositionslehre, die auch Aufgaben zur Fugenlehre in der Tradition der Partimentofuge enthalten (vgl. MENKE 2013, S. 243–247). Die Wurzeln der als Höhepunkt der Partimento-Ausbildung zu verstehenden Partimentofuge liegen in der seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verbreiteten Praxis, polyphone Vokalkompositionen mit Generalbass auszuführen; als Beispiel können die vielen Bearbeitungen von Werken Giovanni Pierluigi da Palestrinas gelten (BARBIERI 1994; vgl. MENKE 2013, S. 243). Auch der Hamburger Musiktheoretiker Friedrich Erhard Niedt beschließt den ersten Teil seiner Musicalischen Handleitung von 1710 mit einer Partimentofuge und bemerkt: Quelle Friedrich Erhard Niedt, Musicalische Handleitung, Hamburg 1710 1. Teil, Capitel X
„Wann im General-Bass Fugen gesetzet sind / so ist zu mercken / daß eine Fuga in mehr nicht als zweyen Stimmen bestehet / und kan doch mit drey/vier/zehn biß zwantzig Stimmen gesetzet oder componiret werden. In einer Fugen fängt zu Zeiten die Lincke / auch wohl die rechte Hand erstlich allein an. Die beyden ersten Stimmen werden meistentheils über einander geschrieben / daß man also leichtlich sehen kan / wie es soll gespielet werden.“
Entscheidend ist die Betonung eines Gerüstsatzes für die Gestalt einer Partimentofuge in dieser Definition Niedts: Definiert ist die Fuge durch eine thematische Oberstimme und den omnipräsenten Basso continuo. Damit ist jede Fuge auch als Partimento darstellbar – wobei die in den zeitgenössischen Kompositionen vielfach erreichte Komplexität die mit dem Partimentospiel verbundene Spontaneität übersteigen mag (vgl. M ENKE 2013, S. 245). Obwohl die Partimento-Tradition in der neapolitanischen Ausbildung streng vom Kontra-
Partimentofuge
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Händels Fugen
Fuge B-Dur HWV 607
Abb. 4.4 HWV 607 – Takt 1–7
Generalbass und Partimento
punktunterricht getrennt wurde, ist gleichwohl die Partimentofuge in der Interpolation kontrapunktischer Fragestellungen auf höchstem satztechnischen Niveau der krönende Abschluss und Zielpunkt des Repertoires. Dabei sind die speziellen Bedingungen der Gattung zu berücksichtigen: Anders als bei einer einfachen Intavolierung einer polyphonen Komposition muss in einer genuinen Klavierfuge das Gefüge der miteinander kommunizierenden Stimmen nur bedingt regulären Modus- und Ambitusplänen folgen – die gegenseitige Abgrenzung der Stimmen kann auch nur angedeutet werden (vgl. MENKE 2013, S. 246). Die Fugen HWV 605–610 erschienen als zusammenhängendes Opus bei Händels Londoner Verleger John Walsh unter dem Titel „Six FUGUES or VOLUNTARYS for the ORGAN or HARPSICHORD“, sind aber vermutlich bereits um 1717 oder 1718 komponiert worden: Händel wandte sich nach der Schließung der Londoner Oper Mitte 1717 wieder verstärkt der Instrumentalmusik zu (SCHEIDELER 2004, S. IV); sie erfreuten sich bereits zu Händels Lebzeiten einer großen Verbreitung, gerieten aber im 19. Jahrhundert trotz vereinzelter Bemühungen (etwa des französischen Komponisten und Organisten Alexandre Guilmant, der eine Bearbeitung der Fugen für Orgel vorlegte) weitgehend in Vergessenheit und vor allem in den Schatten des Fugenschaffen Bachs, das im 19. und 20. Jahrhundert als kompositionstechnisches Modell weitaus stärker als das Schaffen Händels herangezogen wurde. Händel konzipierte seine Fugen als Sammlung von zwölf Kompositionen als Muster der Fugenimprovisation für angehende Organisten: Er weilte zur Entstehungszeit am Hof des Earl of Carnavon in Cannons und unterrichtete dort dessen Pagen, George Munro, der 1724 offenbar Organist in London wurde (vgl. RAMPE 2009). Die Zuweisung der Kompositionen zum Orgelrepertoire ist trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Pedalstimme nicht abwegig, da die englische Orgel des frühen 18. Jahrhunderts in der Regel nur manualiter gespielt wurde (vgl. SCHRÖDER 2009, S. 432). In der Fuge B-Dur HWV 607 wird das Thema der Fuge als Dux unmittelbar bei seinem ersten Auftreten im Sopran mit einem Kontrapunkt im Alt kombiniert:
4.2 Partimento und Fuge: Händels Fuge B-Dur HWV 607
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Dieser Kontrapunkt ist obligat: Wenn das Thema in Takt 4 in der Bassstimme erscheint, erklingt im Sopran die Kontrapunktstimme – allerdings damit über anderthalb Oktaven gespreizt und nicht mehr als unmittelbare Nebenstimme, außerdem nunmehr als Oberstimme. Händel hat den Stimmenverband als doppelten Kontrapunkt konzipiert: Weil der Gerüstsatz der beiden tragenden Stimmen nur aus Terzen und Sexten besteht, lässt er sich umkehren. Abb. 4.5 HWV 607 – Gerüstsatz Takt 1–3
Die Fugenexposition ist vierstimmig, tatsächlich erklingen in den ersten siebeneinhalb Takten maximal drei Stimmen: Die Altstimme, ursprünglich Trägerin des obligaten Kontrapunkts, verschwindet mit dem Übergehen dieser Kontrapunktstimme in den Sopran Takt 4. Aber auch die Stimmführung der Bassstimme in Takt 8 erklärt sich mit der Gattung Klavierfuge: Die Bassstimme wird in die Altstimme verlegt, um einer neu einsetzenden, noch tieferen Bassstimme Raum zu geben; in demselben Takt setzt auf dem letzten Viertel eine weitere Sopranstimme mit dem obligaten Kontrapunkt ein – die ursprüngliche Oberstimme löst sich regelrecht in das darunter liegende a1 auf (vgl. MENKE 2013, S. 246): Abb. 4.6 HWV 607 –Takt 7–10
Nach dem Abschluss dieses ersten thematisch orientierten Abschnitts setzt eine kurze Phase ein, die sich ausschließlich aus einem Satzmodell speist: Die Oberstimmen werden als 7–6-Vorhaltskette geführt, während der mehrstimmige Satz als Ganzes einen Parallelismus erkennen lässt. An den Takten 10–13 wird deutlich, dass der Satzverband eigentlich auf eine Triosonate zurückgeht: Abb. 4.7 HWV 607 –Takt 10–15
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Generalbass und Partimento Stichwort
Parallelismus Das gemeinhin auch als ‚Pachelbel-Sequenz’ oder ‚Romanesca’ bekannte Parallelismusmodell basiert auf der Fortschreitung parallel geführter Terzen oder Sexten im Oberstimmensatz, zu denen eine im Zickzack verlaufende Basstimme hinzutritt. Diese bildet zu einer Stimme der Terzparallelen regulär einen Intervallsatz in der Abwechslung von Terzen und reinen Quinten, zu der anderen Stimme in der Abwechslung von Oktaven und Terzen:
Abb. 4.6 Parallelismus (Beispiel)
Anders als bei Quintfall- oder Quintstiegsequenzen wird diese Bewegung als terzweise fallend oder steigend wahrgenommen; erstmals beschrieben ist das Verfahren bereits in einem Traktat des 15. Jahrhunderts, dem Traktat de preceptis artis musice et pratice compendiosus libellus von Guilelmus Monachus. Das Modell kann modifiziert werden etwa durch Chromatisierung des Basses, Synkopierung der Oberstimmen oder Diminuierung des Basses, außerdem sind Kombinationen dieser Modifikationen möglich. Das Parallelismusmodell hat als ‚Romanesca’ besonders in Italien historisch tief reichende Wurzeln (vgl. GJERDINGEN 2007, S. 25–43).
Entlehnungen
Die analytischen Ergebnisse – der obligate doppelte Kontrapunkt, die an ein Tasteninstrument angepasste Stimmführung und der Gebrauch von Satzmodellen sequenzierenden Charakters – unterstreichen die Annahme, dass die Fuge Händels ursprünglich aus der Improvisation erwachsen ist. Die Fuge HWV 607 geht auf die „Sinfonia“ der 1716 entstandenen BrockesPassion zurück (vgl. KLEINERTZ 2009); sie findet sich wieder als dritter Satz des Concerto grosso B-Dur op. 3 Nr. 2 (HWV 313, Erstdruck 1734). Diese Orchesterfassung der Fuge erweist zunächst die Nähe des Satzes zur Triosonate – die beiden Oberstimmen sind auch hinsichtlich ihrer Besetzung, aber auch (wie in HWV 607 angedeutet) aufgrund ihres Stimmenverlaufs gleichrangige Oberstimmen und nicht Sopran und Alt im Sinn einer Intavolatur. Händel entscheidet sich allerdings für eine letztlich vierstimmige Lösung; im weiteren Verlauf werden von Händel vereinzelt Passagen aus der älteren Klavierfuge vertauscht.
4.2 Partimento und Fuge: Händels Fuge B-Dur HWV 607
67 Abb. 4.9 HWV 313 –Takt 1–7
Stichwort
Concerto grosso Der Begriff ‚Concerto’ wird im 16. und 17. Jahrhundert zunächst für Werke verwendet, deren Charakteristikum das Zusammenwirken von Singstimmen und Instrumenten ist, etwa wie bei den Concerti di Andrea, et di Gio. Gabrieli (Venedig 1587): „per voci, & strumenti musicali“. Die Besetzung ist gebunden an eine Aufführungspraxis mit kontrastierenden Klanggruppen: hohe gegen tiefe Chöre, Vokalstimmen gegen Instrumente, Solo- gegen Tuttibesetzung (vgl. FORCHERT 1996, Sp. 633–634). Ist ‚Concerto‘ zunächst also ein für die Vokalkomposition gebräuchlicher Terminus, so wird der Begriff seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts vorwiegend auf geistliche oder weltliche Generalbasskompositionen unter Beteiligung von Solostimmen bezogen; unter ‚Concerto grosso’ wird ursprünglich der größere Teil eines Orchesters im Gegensatz zum kleineren, dem ‚concertino’ verstanden: Beide Gruppen (auch ‚Ripieno’ und ‚Soli’) genannt, musizieren im Wechsel miteinander. Schließlich beschreibt die besetzungsbezogene Auskunft die Gattung als solche. Richtungsweisend für die formale Anlage war das Schaffen Arcangelo Corellis (1653–1713), insbesondere dessen stark rezipierte, 1714 posthum veröffentlichte Sammlung der Concerti grossi op. 6, deren viersätzige Gestalt sich in der Satzfolge von der „Sonata da chiesa“, der sogenannten Kirchensonate, also der Triosonate ableitet. Diese Satzfolge prägt auch Händels Concerti grossi op. 3 (1734) und op. 6 (1740) als späteste Vertreter dieser Form; Neuerungen – zum Beispiel in der Übertragung der Arien- auf die Concertoform, die Ritornellform oder dreisätzige Typen – finden sich etwa bei Tomaso Albinoni (1671–1751) in dessen Sammlung Sinfonie, e Concerti a cinqve op. 2 (1700), rezipiert etwa bei Antonio Vivaldi (1678–1741) in L’Estro Armonico op. 3 (1711) (dazu grundlegend SCHERING 1927, S. 73–80; vgl. DUBOWY 1991, S. 43–55).
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Generalbass und Partimento
Der größte Teil der Orchestermusik Händels ist für seine Opern und Oratorien entstanden – als Ouvertüre, Zwischenakt- oder Ballettmusik. Die Concerti grossi op. 3 gehören dabei zu den eigenständigen Opera; sie wurden 1734 publiziert, sind aber wesentlich früher und zu sehr unterschiedlichen Gelegenheiten komponiert worden. Die Verfahrensweise ist zudem typisch für Händels Borrowings. Stichwort
Borrowings „Borrowing“ (deutsch etwa „Entlehnung“) bezeichnet die Übernahme musikalischen Materials aus einer älteren – eigenen oder fremden – Komposition in einen neuen Kontext; der Begriff hat sich gegenüber älteren Bezeichnungen durchgesetzt, da diese oft einen anderen Zusammenhang meinen: „Imitation“ bedeutet im engeren Sinn „Nachahmung“, „Parodie“ bezieht sich vielfach auf die textliche Neugestaltung, und „Plagiat“ wird üblicherweise für den juristisch fragwürdigen Diebstahl geistigen Eigentums verwendet und hat eine moralische Konnotation. Händel übernahm ganze Sätze in ein neues Werk, unterwarf diese einem erneuten Schaffensprozess oder erarbeitete neue Sätze unter Verwendung vorhandener Themen und Motive (vgl. BASELT 1977). Die Beweggründe für Händels Borrowings bleiben im Dunkeln, allerdings ist zu mutmaßen, dass seine Arbeitsweise nach unterschiedlichen Auslösern für kompositorische Produktivität verlangte; die Entlehnungen lassen sich in allen Schaffensphasen Händels nachweisen. Die Mehrfachverwendung musikalischen Materials bei Händel ist ein zeittypisches Phänomen – allerdings ist das Maß der Entlehnungen bei Händel bemerkenswert, da es ihn unter seinen Zeitgenossen (die ihn dafür wie MATTHESON 1722 – S. 71 – kritisierten) einen Spitzenplatz einnehmen lässt (ROBERTS 1986; vgl. HORTSCHANSKY 1998 und CLAUSEN 2011, S. 246–247). Vergleichbar ist diese Kompositionstechnik mit Parodieverfahren bei Johann Sebastian Bach, der einerseits viele weltliche Kantaten zu geistlichen Kompositionen umarbeitete (so besteht dessen Messe h-Moll BWV 232 fast ausschließlich aus älteren Materialien, obgleich sie zum Spätwerk Bachs zu zählen ist), andererseits aber auch Vokalwerke zu Instrumentalwerken verwandelte. So gehen Bachs „SchüblerChoräle“ genannten Sechs Choräle von verschiedener Art BWV 645–650 für Orgel auf Kantatensätze zurück.
Die Adaptierung von Instrumentalmusik aus Opern oder Oratorien für unterschiedliche Kammermusikbesetzungen, aber auch für Clavier-Instrumente ist seit dem mittleren 17. Jahrhundert üblich und nachweisbar; von der Mitte des 18. Jahrhunderts an bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bestand in England eine ununterbrochene Tradition, auf der Orgel auch Chöre und Arien aus Opern und Oratorien, die berühmte Water Musick und Ouvertüren Händels aufzuführen (WILLIAMS 1966, S. 59–76). Trotz der besonderen Verortung dieser oder vergleichbarer Werke als höfische oder musiktheatrale Werke war die Musik Georg Friedrich Händels an-
Literaturhinweise
ders als viele Musiken der Vergangenheit kein regionales Phänomen mehr – oder eines, das nur von lokaler Bedeutung blieb: Es war die Musik eines Grenzgängers, eines polyglotten Europäers, der – aus Deutschland stammend und maßgeblich in Italien geprägt – die Musik- und Theaterkultur Englands geformt und geprägt hat. Die intensive, nahezu ungebrochene und internationale Rezeption über die von Händel besuchten Städte und Länder hinaus unterstützte die Tendenzen einer globalen Verständigung über musikalische Stile und Gattungen, die mit dem 18. Jahrhundert ihren Anfang nahm. Händels spezifischer Umgang mit dem musikalischen Material hatte an dieser Entwicklung einen ähnlich großen Anteil wie die wachsende Bedeutung der Oper für die Musikszene seit der Gründung zahlreicher mobiler wie stabiler Opernbühnen auch im nördlichen und mittleren Europa oder die zunehmenden Publikationsmöglichkeiten von Musikalien. Wissens-Check
– Welche Rolle spielt die Praxis der Intavolierung für die Entwicklung der Generalbass-Notation? – Warum notiert Heinrich Schütz Generalbass-Stimmen? Und wie konzipiert er diese? – Welche satztechnischen Charakteristika weisen Satzmodelle auf? – Wodurch wird die Partimento-Tradition abgelöst – und wann? – Welche Besonderheiten weisen Partimento-Fugen etwa im Vergleich zu Vokalfugen des 18. Jahrhunderts auf?
Literaturhinweise GJERDINGEN, Robert O. (2007): Music in the Galant Style, Oxford: Die für die Neuentdeckung der Partimento-Tradition in der Perspektive von Satzmodellen einflussreiche Studie zielt in erster Linie auf die kompositorische Konzeption der Musik des »galanten Stils«. MARX, Hans Joachim (2009): „Leben und Werk“, in: Georg Friedrich Händel und seine Zeit, hg. von Siegbert Rampe, Laaber, S. 62–181: eine detailreiche Lebensbeschreibung, die den biographischen Kontext angemessen berücksichtigt. Der Sammelband ist insgesamt sehr empfehlenswert. MENKE, Johannes (2013): „Fughe“, in: Ludwig Holtmeier, Johannes Menke und Felix Diergarten, Solfeggi, Bassi e Fughe. Georg Friedrich Händels Übungen zur Satzlehre, Wilhelmshaven 2013 (= Quellenkataloge zur Musikgeschichte Bd. 45: Praxis und Theorie des Partimentospiels Bd. 2), S. 243–269: Im Rahmen der ausführlichen Aufarbeitung des Unterrichtsmaterials von Händel bietet die Studie Menkes einen Zugang zu dessen Fugenkompositionen und -konzeptionen unter der Perspektive der Partimentofuge. PAISIELLO, Giovanni (2008) [1782]: Regole per bene accompagnare il partimento o sia il basso fondamentale sopra il Cembalo (= Praxis und Theorie des Partimentospiels 1), hg. von Ludwig Holtmeier, Johannes Menke und Felix Diergarten, Wilhelmshaven: Paisiellos Übungen als für das späte 18. Jahrhundert typische Partimento-Quelle liegen hier in einer vorbildlich kommentierten Ausgabe vor. SANGUINETTI, Giorgio (2012): The Art of Partimento. History, Theory, and Practice, Oxford: eine so eindrucksvolle wie materialreiche Aufarbeitung der vielen Facetten der neapolitanischen Partimento-Tradition.
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Generalbass und Partimento „Monuments of Partimenti“: http://faculty-web.at.northwestern.edu/music/gjerdingen/partimenti/index.htm Die online zugängliche Sammlung Robert J. Gjerdingens bietet eine eindrucksvolle Zusammenstellung von Partimenti neapolitanischer Provenienz des 18. und frühen 19. Jahrhunderts und ergänzt seine Studie von 2007. „UUPart“: The Uppsala Partimento Database. Zusammengestellt und hg. von Peter van Tour. Uppsala: Uppsala University, (online Mai 2015): http://www2.musik.uu.se/UUPart/UUPart.php. Die Sammlung van Tours ergänzt seine Publikation zur neapolitanischen Partimento-Tradition.
5 Wege zur tonalen Harmonik Überblick
M
it der Theorie der ‚basse fondamentale’, des ‚corps sonore’ und der Darlegung einer eigenen Kadenz- und Akkordtheorie auf dem Fundament des ‚Renversements’ in den musiktheoretischen Traktaten Jean-Philippe Rameaus, angefangen mit dem Traité de l’harmonie von 1722, steht im Mittelpunkt dieses Kapitels die Grundlegung der modernen Harmonielehre – respektive ihre Entwicklung aus der musikalischen Praxis der Zeit. Ergänzt wird die Musiktheorie aus dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts mit einem Rückblick auf die Musik des späten 17. Jahrhunderts, nämlich auf die berühmteste Szene aus dem zweiten Akt von Jean Baptiste Lullys
1686 uraufgeführten ‚Tragédie en musique’ Armide: Die Äußerungen zu diesem Monolog Lullys im mittleren 18. Jahrhundert sind nicht allein aufgrund ihrer multivalenten Beziehungen der Texte Rameaus zur Musik Lullys (im Spannungsfeld der von Rameau unter anderem im Nouveau systÞme 1726 dargestellten Modulationen einerseits, in der ästhetisch bestimmten Auseinandersetzung mit Jean-Jaques Rousseau andererseits) von Bedeutung. Erkennbar ist an der Debatte, wie wirkmächtig die Musik Lullys sein konnte – und wie stark die Thesen Rameaus im Bewusstsein der musikalischen Öffentlichkeit im Zeitalter der Aufklärung präsent waren und diskutiert wurden.
5.1 Der Traité de l’harmonie Jean-Philippe Rameaus Der 1722 veröffentlichte Traité de l’harmonie Jean-Philippe Rameaus begründet den Ruhm des Autors als einflussreichster Musiktheoretiker seiner Zeit, der den des Komponisten Rameau bei weitem überstrahlen sollte, und prägt die Musiktheorie des Westens der folgenden 250 Jahre. Stichwort
Jean-Philippe Rameau Jean-Philippe Rameau wurde 1683 in Dijon geboren und vermutlich – als siebtes von insgesamt elf Kindern – von seinem Vater Jean Rameau, einem Organisten, ausgebildet (und von einem Jesuitenkolleg verwiesen). 1702 ist er als Organist zunächst in Avignon und in Clermont, seit 1706 in Paris nachweisbar; in diesem Jahr erschien sein erstes Livre de pièces de clavecin in Paris im Druck. 1709 wurde Rameau zunächst Nachfolger seines Vaters als Organist an Notre-Dame in Dijon, 1713 war er zunächst in Lyon, dann wieder in Clermont als Organist angestellt. 1722 wurde Rameau dauerhaft und bis zu seinem Tod 1764 in Paris ansässig. Dort erschien 1722 der Traité de l’harmonie, 1725 die Pièces de Clavecin.
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Wege zur tonalen Harmonik Seine Heirat mit der Sängerin Marie-Louise Mangot im Jahr 1726 brachte Rameau spät mit dem Theater in Berührung: Der Generalsteuereinnehmer (‚Fermier Général’) des Königs Alexandre Le Riche de La Pouplinière diente ihm als Mäzen, und Rameau verlegte sich auf die Komposition von Bühnenwerken und dem Verfassen von musiktheoretischen Schriften. Seine ‚Tragédie en musique’ Samson auf ein Libretto Voltaires fiel 1736 der Zensur zum Opfer; seine Oper Hippolyte et Aricie (eine Vertonung von Jean Racines Phèdre) – ist 1733 Ausgangspunkt eines Streits zwischen den Anhängern des Zeitgenossen Rameau und denen des längst verstorbenen Jean-Baptiste Lully, der von seinen Anhängern als entscheidender Maßstab in der Kunst für das Musiktheater empfunden wird – ein Streit, an dem sich Rameau selbst nahezu nicht beteiligte. Hippolyte et Aricie brachte Rameau die Aufmerksamkeit von Ludwig XV. ein, der ihn 1745 zum Hofkomponisten mit einer regelmäßigen und dauerhaften Pension ernannte und in den Adelsstand erhob.
Abb. 5.1 Jean-Philippe Rameau, Portrait von Jacques-André-Joseph Camelot Aved (etwa 1728)
Traité de l’harmonie
Zweifellos gehört Jean-Philippe Rameau innerhalb der Entwicklung der Musiktheorie der Neuzeit zu den bedeutendsten Persönlichkeiten. Zusammen mit dem Nouveau systÞme de musique theorique (Paris 1726) legt Rameau im Traité die Grundlage für die moderne Akkordtheorie – und damit die Harmonielehre. Rameau veröffentlicht den Traité bald nach seiner Ankunft in Paris; es ist davon auszugehen, dass das Werk zu großen Teilen bereits während Rameaus Tätigkeit als Organist in Clermont entstanden ist. Wie in seinen in der Folge bis 1761 veröffentlichten theoretischen Traktaten verknüpft Rameau eine Reihe bereits bestehender Theorien, indem er diese umformuliert und der Perspektive der Harmonik unterordnet. Dazu gehören die Philosophie René Descartes’ ebenso wie die Kontrapunkttheorie Gioseffo Zarlinos und die Generalbasstheorie des 17. Jahrhunderts (vgl. PETERSEN 2017b). Der Traité de l’harmonie besteht aus vier Büchern: Die ersten beiden beinhalten die theoretische Aufarbeitung und Darstellung der Generierung von Akkorden und des Fundamentalbasses, während die letzten beiden Bücher die Anwendung dieser Theorie auf die Disziplinen Komposition und ContinuoSpiel behandeln. Die Grundlage der Überlegungen Rameaus ist im Traité – den Traditionen der klassischen musica theorica folgend – die Saitenteilung am Monochord, die das Hervorbringen eines Durdreiklangs ermöglicht. Auf der Basis der Ok-
5.1 Der Traité de l’harmonie Jean-Philippe Rameaus
tav-Äquivalenz konstatiert Rameau, dass Umkehrungen des Dreiklangs wie Verdopplungen des Dreiklangs dessen Identität ebenso wenig verändern wie Stimmverdopplungen: Die Basis der ungeteilten Saite hat signifikante Bedeutung als Fundament eines Akkords. Die revolutionäre Idee der Akkordumkehrung wird von Rameau zwar 1722 erstmals formuliert, aber schon während seiner Zeit in Clermont erarbeitet, wie ältere Skizzen beweisen. Im ersten Buch identifiziert Rameau erstmals den Fundamentalton als „Centre Harmonique, auquel tous les autres Sons doivent se rapporter“ (RAMEAU 1722, S. 127) („das harmonische Zentrum, auf das sich alle anderen Töne beziehen sollten“): „On appelle Basse, la partie où regne ce Son fondamental, parce qu’il est toûjours le plus grave, & le plus bas“ (RAMEAU 1722, S. 49) („Man nennt jene Stimme den Bass, in welcher der Fundamentalton herrscht, weil diese immer die schwerste und tiefste ist“). Als mögliche harmonische Phänomene gelten für Rameau der „accord parfait“, der Dreiklang als „perfekter Akkord“, und der „accord de la septième“, also der Septakkord – der „Akkord der Septime“, die wiederum alle harmonischen Varianten hervorbringen können. Der konsonante „accord parfait“ und der aus der Hinzufügung eines Tons gewonnene dissonante „accord de la septième“ sind über Prozesse, wie etwa die Umkehrung als Ausgangspunkt aller harmonischen Fortschreitungen, Quelle aller Harmonien; beide werden ihrerseits durch den „son fondamental“ (Fundamentalton) erzeugt. Dabei sind alle dissonanten Akkorde auf den „accord de la septième“ zurückzuführen – sowohl Non-, Undezimen- als auch Vorhaltsakkorde (RAMEAU 1722, S. 74). Rameau differenziert dabei zwischen „supposition“ – den vollständigen dissonierenden Akkorden, die aus der Erweiterung des „accord de la septième“ zum Nonen- bzw. Undezimenakkord entstehen – und „suspension“ (Vorhaltsbildung). Die Harmonie ist damit die Quelle der Melodie – sie geht ihr voraus und ist die eigentliche Basis des musikalischen Geschehens: „La Melodie provient de l’Harmonie“ (RAMEAU 1722, S. XIV): „Die Melodie geht aus der Harmonie hervor“ (vgl. PETERSEN 2016). Die Bewegung von einem Akkord zu einem anderen ist am ehesten verständlich als Progression des „Son fondamental“, die Stimmführung, die diese „Basse fondamentale“ (der fundamentale Bass) erzeugt, ist also nachgeordnet als naheliegende Verbindung. Die diesen Verbindungen innewohnende tonale Kohärenz ist visualisierbar mit der „Basse fondamentale“. Die im zweiten Buch des Traité begründete Lehre der „Basse fondamentale“ (RAMEAU 1722, S. 49–168) stellt somit die Verwendung der Akkorde in der Praxis dar. Die Notation dieser Progression weist oberflächlich Ähnlichkeiten mit einer Continuo-Stimme auf, ist mit dieser aber keineswegs identisch. Rameau greift in ihrer Darstellung zurück auf das kontrapunktische Prinzip der auflösungsbedürftigen Dissonanz; das erste von ihm herangezogene Beispiel – die „Cadence parfaite“, die „perfekte Kadenz“ als Fortschreitung im Quintfall – funktioniert
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Akkordphänomene
Kadenztypologie
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Wege zur tonalen Harmonik
als Paradigma von Fortschreitung. Neben der „Cadence parfaite“ führt Rameau die „Cadence irreguliere“, die „unregelmäßige Kadenz“ an: Anders als im erstgenannten Fall ist der auflösungsbedürftige Akkord hier ein Akkord der vierten Skalenstufe mit hinzugefügter großer Sexte, der „accord de la Sixte ajoûtée“ (RAMEAU 1722, S. 64f.). Auch die Bewegung innerhalb einer „Cadence irreguliere“ ist eine Quintbewegung. Es sind auch Terzbewegungen der „Basse fondamentale“ möglich, die eine Reihe von sekundären Kadenzen, wie etwa die „Cadence rompuë“ (die „unterbrochene Kadenz“ als trugschlüssige Wendung) oder die „Cadence interrompuë“ generieren. Dabei ist Rameaus Kadenzbegriff abstrahiert von der Idee einer Schlusswendung zu verstehen: Er findet Verwendung für harmonische Fortschreitung im Allgemeinen; die „Cadence rompuë“ etwa ist bereits eine Unterform der „Cadence parfaite“ (vgl. MARTIN 2016, S. 29–34). Abb. 5.2 Kadenztypologie nach Rameau
Basse fondamentale
Rameaus Verständnis des in der französischen Musiktheorie des 17. Jahrhunderts bereits verbreiteten Begriffs der „Cadence rompuë“ vermag die Problematik der Theorie Rameaus zu illustrieren: Da die Fortschreitung einer „Dominante tonique“, der Dominantstufe, um eine Sekunde aufwärts gegen die Regel Rameaus verstößt, dass nur Terz- und Quint- bzw. Quartfortschreitungen der „Basse fondamentale“ vorstellbar sind, unterstellt Rameau für den Auflösungsakkord, dass die sechste Skalenstufe eine Supposition der „Notte tonique“ (der Tonikastufe) sei (RAMEAU 1722, S. 62). Die „Cadence rompuë“ ist damit nur eine Variante der „Cadence parfaite“. Den mit dieser Definition des Fundamentalbasses einhergehenden Schwierigkeiten mit der „Cadence irreguliere“ nähert sich Rameau erst befriedigend mit dem Nouveau systÞmede musique theorique (Paris 1726); die Lehre einer „Basse fondamentale“ wird spätestens mit Rameaus Generation harmonique mit der spekulativen Theorie eines „corps sonore“ kombiniert. Die „Basse fondamentale“ als konstitutives Element der Theorie Rameaus ist nicht einfach nur eine isolierte Stimme, die die Grundtöne der Harmonien aus dem Tonsatz heraus analysiert und zugleich die mathematische Gesetzmäßigkeit der harmonischen Progression sichtbar macht, sondern Teil einer vierstimmigen kontrapunktischen Struktur, die Rameau mathematisch ableitet. Diese Struktur hat im Traité die Gestalt einer über einer fallenden Quintschrittfolge errichteten Septakkordkette; die Akkorde sind – ohne dass es zu
5.1 Der Traité de l’harmonie Jean-Philippe Rameaus
einer Akkordumkehrung mit Verlagerung des „Son fondamental“ in die Oberstimmen kommt – in sich so gestaltet, dass sich zwischen den oberen Stimmen diatonische Fortschreitungen ergeben. Dieses Modell enthält keimhaft die meisten der in einem korrekten Tonsatz vorkommenden Strukturen, sowohl die Dissonanz (als Septime) und ihre korrekte Vorbereitung und Auflösung als auch Ganz- und Halbtonschritt, und damit die Bausteine der Melodie. Rameau betrachtet diese Phänomene als im obersten Prinzip des „Son fondamental“ begründet und von jenem theoretisch abgeleitet, da sie in diesem elementaren, ausschließlich auf Terzen und Quinten basierenden Modell enthalten sind. Da das Modell auch alle sieben Töne des diatonischen Systems beinhaltet, versteht Rameau seinen elementaren Kontrapunkt zugleich als die theoretisch legitimierte Darstellung des diatonischen Systems. In seinen Augen ist sein Modell skalaren Anordnungen vor allem auch deswegen überlegen, weil es nicht nur die Töne des Systems enthält, sondern auch Regeln der „musique pratique“, etwa der Dissonanzbehandlung, zu begründen vermag. Daraus wird deutlich, wie Rameaus Behauptung vom Vorrang der Harmonie vor der Melodie aufzufassen ist. Die Intervalle der Harmonie, Terz und Quinte, werden aus dem „Son fondamental“ in einem früheren Ableitungsschritt gewonnen als die Intervalle der Melodie, also Ganz- und Halbton. Der elementare vierstimmige Satz entsteht also daher vor der Skala, die Rameau später durch seine harmonischen Analysen (etwa in der Generation harmonique, Paris 1737) als tonartlich heterogenes Gebilde erweisen möchte. Daneben weist Rameau der Harmonie auch bei der Affekterzeugung eine hervorragende entscheidende Bedeutung zu. Primär ist aber seine Aussage über den Vorrang der Harmonie auf den theoretischen Vorgang der Ableitung des Satzmodells, also auf die „musique théorique“, zu beziehen. Schon im Traité führt Rameau auch die verschiedenen Dimensionen des musikalischen Ausdrucks primär auf die Verschiedenheit von Akkorden bzw. Akkordverbindungen zurück: „Il y a des Accords tristes, languissans, tendres, agréables, gais, & surprenans; il y a encore une certaine suite d’Accords pour exprimer les mÞmes passions“ (RAMEAU 1722, S.141) („Es gibt traurige, sehnsüchtige, zärtliche, angenehme, fröhliche und überraschende Akkorde; es gibt außerdem eine gewisse Folge von Akkorden, die dieselben Affekte auszudrücken vermag“). Rameau stellt sich Harmonien noch nicht abstrakt in Funktionen vor, die durch ihren Bezug auf die Tonika definiert sind, sondern denkt sich betrachtet sie auf das vierstimmige Modell bezogen, das als Fundus an durchaus linear-kontrapunktischen Stimmführungen hinter jedem Satz steht: Für diesen werden – einem „Stimmführungsbaukasten“ gleich – Fortschreitungselemente ausgewählt, die so einen Teil des Modells realisieren. Für Rameau ist Harmonie also nach wie vor Kontrapunkt. Es besteht für ihn kein Gegensatz zwischen Harmonielehre und Kontrapunkt, vielmehr bilden beide eine Einheit. Den vierstimmigen Kontrapunkt betrachtet Rameau als Gegenentwurf
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Kadenz und Stimmführung
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Zur Rezeption
Wege zur tonalen Harmonik
zum von Zarlino initiierten und vom Bicinium ausgehenden Lehrkonzept. Die These Rameaus, nach der die Harmonie gegenüber der Melodie vorrangig sei, bedeutet in erster Linie eine Veränderung im Hinblick auf das zugrunde liegende kontrapunktische Regelsystem, das zu einem abgeleiteten Moment wird. Die Generalbasspraxis seiner Zeit spielt daher für die Entwicklung der Theorie Rameaus eine bedeutende Rolle: Der Ausgangspunkt seiner Vorstellung einer „Basse fondamentale“ ist schließlich die „règle de l’octave“, die Oktavregel als regel- und modellhafte Harmonisierung von Skalenstufen (RAMEAU 1722, S. 212; 382–383); demzufolge können nur die „Notte tonique“ der ersten und die fünfte Skalenstufe – die „Dominante tonique“ als Sonderfall des „Accord de la septième“ – Fundament eines „Accord parfait“ sein. Rameau erörtert die Positionen der „règle de l’octave“ und die Fortschreitungen innerhalb des Modells ausschließlich mit den Begriffen des „Accord parfait“ und des „Accord de la septième“; auch in Hinblick auf das Phänomen der Modulation gilt für Rameau die „règle de l’octave“ als Ausgangspunkt, auch wenn er diese nicht ausdrücklich nennt (CHRISTENSEN 1993, S. 171–175). Eine besondere Rolle spielt dabei die „Dominante tonique“ zur Vermittlung (RAMEAU 1722, S. 248). Der Traité de l’harmonie Rameaus gehört zu den wirkungsmächtigsten Publikationen des 18.Jahrhunderts. Bereits 1737 erscheint unter dem Titel A Treatise of Music, containing the principles of composition eine Übersetzung in englischer Sprache in London bei J. French. Nachdem schon 1728 Johann David Heinichen den Traité in seinem Traktat Der General-Bass in der Composition (Dresden 1728) erwähnte, setzt die intensive Auseinandersetzung mit Rameau in Deutschland mit der Übersetzung der Aneignung Jean le Rond d’Alemberts in den Élémens de musique, théorique et pratique (Paris 1752) durch Friedrich Wilhelm Marpurg ein (Systematische Einleitung in die musicalische Setzkunst, nach den Lehrsätzen des Herrn Rameau, Leipzig 1757). Die wichtigsten französischen Traktate in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beziehen sich allesamt implizit oder explizit – nämlich hinsichtlich ihrer Positionierung im zurückliegenden Streit der Enzyklopädisten – auf Rameau, so besonders deutlich Charles-Simon Catel (Traité d’harmonie, Paris 1802), Jérôme-Joseph de Momigny (La seule vraie théorie de la musique, Paris 1821) oder Antoine Reicha (Traité de haute composition musicale, Paris 1824) bis hin zu François-Joseph Fétis (Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie, Paris 1844) (vgl. PETERSEN 2017b, S. 390). An die Lehre einer „Basse fondamentale“ knüpfen die meisten Harmonielehren der Neuzeit an: Sie ist Ausgangspunkt der wichtigsten harmonischen Theorien des 19. Jahrhunderts bis hin zur Funktionstheorie in der Prägung Hugo Riemanns. Auch Theorien, die der funktionalen Harmonielehre skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, berücksichtigen die Überlegungen Rameaus; so gestaltet Paul Hindemith in seiner Unterweisung im Tonsatz (Mainz 21940) seinen „Stufengang“ nach dem Vorbild Rameaus.
5.2 Rezitativ und Modulation: Jean Baptiste Lully – Armide
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Abstrakte harmonische Funktionen kennt Rameau noch nicht, da er Musik implizit immer als mehrstimmigen Kontrapunkt denkt: Harmonie heißt für Rameau der Zusammenklang mehrerer linearer Stimmen, deren Führung allerdings von Momenten der Vertikalen abhängt. Wenn Rameau aber von ‚Melodie‘ spricht, meint er oft eigentlich die Diatonik, erzeugt aus den über der „Basse fondamentale“ von den „sons fondamentaux“ abgeleiteten, terzgeschichteten Grundakkorden: Diese missverständliche Formulierungsgewohnheit hat bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Debatte über den Vorrang von Melodie und Harmonie beigetragen – selbst für Rameau lässt sich die künstlerische Gestalt der Melodie im musikalischen Kunstwerk theoretisch nicht ableiten, obgleich ihr Material immanent von der ihr zugrunde liegenden Harmonie abhängig ist. Für das 18. Jahrhundert ist diese Debatte um den Primat von Melodie oder Harmonie bestimmend: Rameau steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung in Frankreich, insbesondere im Streit mit den Enzyklopädisten wie auch im Buffonistenstreit, dessen Grundlagen auf die Kontroverse um Harmonie und Melodie zurückführbar sind. Aber auch in Deutschland wird mit Bezug auf Rameau diese Frage bei bedeutenden Theoretikern verhandelt, wie Johann Mattheson, Marpurg (der in den Historisch-kritischen Beyträgen, Berlin 1754–1762, gegen Georg Andreas Sorge zugunsten der Theorie Rameaus polemisierte und mit der Übersetzung von d’Alemberts der Éléments de musique die eigentliche, ernsthafte Auseinandersetzung mit Rameaus theoretischem System anregte), Christoph Nichelmann (mit dem Traktat Die Melodie nach ihrem Wesen sowohl, als nach ihren Eigenschaften, Danzig 1755), aber auch Carl Philipp Emmanuel Bach. Die Geschichte der Rameau-Rezeption in Deutschland ist eine Geschichte der Missverständnisse; eine bedeutende Rolle spielt in diesem Kontext die Aneignung von Terminologie, aber auch die deutsch-französische Sprachbarriere, die trotz der Gültigkeit des Französischen als Lingua franca des 18. Jahrhunderts im Bereich des fachlichen Austauschs deutlich wird. Rameaus Ansatz eines „son fondamental“ haben die deutschen Rezipienten im Allgemeinen nicht verstanden. Mattheson diskutiert die Problematik (wenn nicht ohnehin nur polemisch) wie Marpurg in Bezug auf den praktischen Vorgang des Komponierens und nicht im Rahmen einer musique théorique. Rameaus Idee des theoretisch ableitbaren Satzmodells hat Mattheson nicht erfasst, weil ihm das Ansinnen, musikalische (auch elementare) Strukturen ausschließlich theoretisch abzuleiten, absurd erschienen wäre (grundsätzlich zur deutschen Rameau-Rezeption vgl. HOLTMEIER 2017).
5.2 Rezitativ und Modulation: Jean Baptiste Lully – Armide Zu den entscheidenden Elementen der Musik des 17. Jahrhunderts gehört der Tanz. Auch und insbesondere am französischen Hof in Versailles
Der König tanzt
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Wege zur tonalen Harmonik
besaß der Tanz eine besondere Bedeutung – darunter in der Erziehung eines jeden Adligen: Der Tanz wurde von Ludwig XIV. (1638–1715) persönlich gefördert und über die französischen Grenzen hinaus berühmt und imitiert. Der König verstand es, sich durch eigene tänzerische Einsätze zu profilieren und sich wirkungsvoll in Szene zu setzen; der Adel hatte den Auftritten des Königs nicht nur als Zuschauer beizuwohnen, sondern sich in strenger hierarchischer Rangfolge dem vorgegebenen Takt anzupassen und sich so der Herrschaft des absolutistischen Monarchen sowohl auf der Tanzfläche als auch auf der politischen Bühne zu unterwerfen (vgl. BURKE 1993 bzw. RECKOW 1992). So offenbart der Tanz am Hof Ludwigs XIV. die geltende Herrschaftsauffassung des Absolutismus und bildet höchst symbolisch auch die politische Realität ab – gemeinsam etwa mit der Einrichtung des Schlosses und vor allem des Gartens von Versailles mit dem Bassin d’Apollon und dem Grand Canal. Eine besondere Rolle spielt dabei die auf Repräsentation angelegte Festkultur zu Versailles (vgl. ELIAS 1969, S. 205ff., QUAEITZSCH 2010, S. 13–15, und WREDE 2015, S. 7–10 und 132–140): An den drei musikalischen Institutionen des Hofs – den 24 violons du Roi, der Chapelle und der Grande Ecurie – waren unter Ludwig XIV. rund 150 bis 200 Personen beschäftigt (vgl. HERSCHE 2018, S. 17). Jean Baptiste Lully verstand es in besonderer Weise, die Vorgaben des Königs mitzugestalten und gehört neben Racine zu den besonders von Ludwig XIV. geförderten Persönlichkeiten – während andere Komponisten aus anderen künstlerischen Traditionen wie Marc-Antoine Charpentier (1643–1704), dessen Wurzeln in der Kirchenmusik liegen, eher untergeordnete Stellungen einzunehmen hatten (vgl. HERSCHE 2018, S. 21). Stichwort
Jean Baptiste Lully Der spätere französische Hofkomponist wurde unter dem Namen Giovanni Battista Lulli als Sohn eines armen Müllers 1632 im toskanischen Florenz geboren. Ein durchreisender Edelmann, der Chevalier de Guise Roger de Lorraine, nahm den gerade 14-Jährigen Begabten aus den Händen der Franziskaner mit nach Paris, wo aus ihm zunächst der Kammerdiener Jean Baptiste Lully wurde. Lully studierte Komposition, übte sich im Ballett und vor allem im Geigenspiel. Ludwig XIV. ließ ihn als Hofkomponisten einstellen: Lully gehörte zu den Günstlingen des Königs, der ihn im März 1653 zum „Compositeur de la Chambre“ ernannte. Bis 1669 war er für die Ballets de cour verantwortlich, als besonders fruchtbar erwies sich seine Zusammenarbeit mit Molière, die von Le Mariage forcé von 1664 bis Psyché von 1671 anhielt. Lully wurde unter anderem mit der Leitung der Academie Royale de Musique betraut: die Akademie wachte über die gesamte Musik des Hofstaats. Lully starb 1687 an einer Blutvergiftung, nachdem er sich einen Taktstock in den Fuß gerammt hatte.
5.2 Rezitativ und Modulation: Jean Baptiste Lully – Armide
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Die von Ludwig XIV. mit Hilfe von Lully aufgebaute Hofmusik erlangte internationale Bedeutung: Friedrich II. (1712–1786) benötigte nach diesem Vorbild nur zehn Jahre, um eine Hofkapelle zu etablieren. Darüber hinaus wirkte die Musik am Hof von Versailles stilbildend und inspirierend für die nächsten Jahrzehnte (vgl. RAMPE 2018, S. 127): Ohne den französischen Stil, die französische Instrumentationskunst und die von Lully und seinen Zeitgenossen initiierten und gepflegten Gattungen hätte sich die Musik des 18. Jahrhunderts vollkommen anders entwickelt. Die ‚Tragédie en musique’ Armide, die Lully als letzte Gemeinschaftsarbeit mit Philippe Quinault 1686 – ein Jahr vor seinem Tod – uraufführte, gehört nicht nur zu den wichtigsten Vertretern ihrer Gattung, sondern wird im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts zum Gegenstand eines gelehrten Disputs der wichtigsten Philosophen der Zeit. Ein Rezitativ der Oper dient schließlich Jean-Philippe Rameau der Demonstration seiner harmonischen Theorie, wird aber auch von ihm als Werkzeug in der Verteidigung der französischen Musik gegen die Vorherrschaft der italienischen verwendet.
5.2.1 Lullys Armide als nationales Opernereignis Armide spielt während des ersten Kreuzzugs: Der Ritter Renaud wird von der Zauberin Armide mit einer Reihe von Zaubersprüchen gefangen; in dem Moment, in dem sie ihn töten will, verliebt sie sich in ihn – und richtet einen Zauberspruch auf ihn, auf dass auch er sich in sie verlieben möge. Zurück in ihrem Schloss, erträgt sie nicht, dass Renauds Liebe zu ihr nur einem Zauberspruch und nicht seinem Herzen entspringt: Sie bittet die Göttin des Hasses um die Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Gefühle. Da Armide aber selbst der Versuchung der Liebe nicht widerstehen kann, verdammt die Göttin sie zu ewiger Liebe. Noch bevor Armide zu Renaud zurückkehrt, kann Renaud sich mit Hilfe zweier Kameraden befreien und den Zauber Armides brechen. Renaud flieht – und Armide bleibt verzweifelt und ohne Hoffnung zurück. Quelle Madeleine de Scudéry, „Armide à Renaud“ in: Les Femmes illustres ou Les Harangues héroïques. Seconde Partie, Rouen 1654, S. 551–654, hier: S. 562.
„À la considérer de la première façon, c’est une Enchanteresse, c’est une artificieuse; c’est une cruelle personne; c’est une fille qui a renoncé à la modestie de son Sexe; & bref, si on vouloit faire son portrait de cette manière, il est certain qu’il ne seroit guère beau, mais il est vray aussi qu’il ne luy ressembleroit pas. Que si au contraire, on veut la considerer, comme une Princesse qui n’a rien fait que comme Guerrière ou comme Amante, tous ses charmes seront innocens; tous ses artifices luy seront glorieux; sa cruauté sera équitable; sa modestie sera sans tache, & l’on
zum Inhalt
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Wege zur tonalen Harmonik fera une peinture d’elle, qui sans doute luy ressemblera, & qui (si je ne me trompe) ne sera pas un objet fort désagréable.“ „Auf den ersten Blick ist sie eine Zauberin; sie ist raffiniert; sie ist eine grausame Person; sie ist ein Mädchen, das auf jede Zurückhaltung verzichtet hat; kurz: Will man auf diese Art ihr Portrait erstellen, ist es sicher, dass sie keinesfalls schön erscheint, aber es ist ebenfalls sicher, dass dieses Portrait ihr in keiner Weise ähnelt. Wollte man sie demgegenüber als Prinzessin sehen, die weder als Kriegerin noch als Liebende etwas getan hat, erschienen alle ihre Reize unschuldig: Ihre Raffinesse gereichte ihr zur Ehre; ihre Grausamkeit wirkte gerecht; ihre Bescheidenheit erschiene ohne Absicht – und damit hätte man ein Gemälde von ihr gefertigt, das ihr ohne Zweifel gliche und das (wenn ich mich nicht irre) kein sehr unangenehmes Objekt wäre.“
Abb. 5.3 Szene aus Armide, 2. Akt (Gérard Scotin, 1700)
Quinault
Das Libretto des französischen Dichters Philippe Quinault (1635–1688) basiert auf Torquato Tassos Epos La Gerusalemme liberata, Das befreite Jerusalem (1581) – ausgesucht von Ludwig XIV., der am 22. Oktober 1685 das Edikt von Nantes aufgehoben und damit die Verfolgung der Hugenotten in Frankreich befeuert hatte. So lässt sich in der Figur des Kreuzritters Renaud das katholische Frankreich sehen, dem die Ungeheuer des Protestantismus gegenüberstehen (vgl. ROSOW 2003, S. XXI). Zugleich verkörpern Renaud und Armide die klassischen Figuren Odysseus und Circe: Quinault vermochte aus dem von zahlreichen Motiven und Personen durchzogenen Text Tassos einen kompakten Opernstoff zu erstellen – orientiert am klassizistischen Drama; Francesco Cavalli urteilte über den Librettisten: „Quinault besitzt die große Fähigkeit unseres Zeitalters: Er weiß die Dinge zu ordnen.“ (zitiert nach K LOIBER, KONOLD und MASCHKA 2002, S. 394–397). Armide ist die letzte Zusammenarbeit Quinaults mit Lully; gemeinsam hatten beide – unter anderem mit Cadmus et Hermione, uraufgeführt 1673 – die ,Tragédie en musique‘ als neue Form der Oper installiert, die die
5.2 Rezitativ und Modulation: Jean Baptiste Lully – Armide
klassische französische Tragödie mit dem Ballett, dem ballet du cour, den französischen Arien-Traditionen und einer neuen, dramatischen Form des Rezitativs kombinierte – anders als die italienische ‚Opera seria‘, die durch das Nebeneinander von Recitativo und Aria geprägt war: Die musikalische Deklamation im Rezitativ zeichnet den rhetorischen Ausdruck des Texts musikalisch nach. Der Typus der ‚Tragédie en musique‘ sollte über die großen Werke Jean Philippe Rameaus hinaus die französischen Bühnen beherrschen; zu seinen wichtigsten Schöpfern gehören neben Lully Marc-Antoine Charpentier (Médée, 1693), Marin Marais (Alcyone, 1703) oder André Campra (Tancrède, 1702, und Idomenée, 1712). Der Prolog der Armide – ein Zwiegespräch von Ruhm und Weisheit, „La Gloire“ und „La Sagesse“ – ist nicht nur als politisches Bekenntnis zu Ehren des Königs zu verstehen: Die fünfaktige Anlage der Oper mit einem Prolog entspricht als Blaupause der standardisierten Form einer ‚Tragédie en musique‘. Erst Rameaus Zoroastre (1749) verzichtet auf einen Prolog (vgl. JOHNSON 1995, S. 21–22). Armide weist eine große Dichte an ausdrucksstarken Rezitativen und – mit diesen verbunden – eine gesteigerte Zahl an Soloszenen auf, auch im Vergleich zu späteren Vertonungen desselben Sujets, etwa bei Christoph Willibald Gluck, der 1777 abgesehen vom Prolog Quinaults Originaltext verwendete (vgl. BUSCHMEIER 1995 und SCHMIDT 2001). Die Gründe für diesen Umstand sind nicht nur rein musikalisch, sondern liegen unter anderem in der Betonung des Verhältnisses zwischen Renaud und Armide, die zwischen Liebe und Hass für Renaud schwankt (vgl. SCHNEIDER 1989). Die Uraufführung fand am 15. Februar 1686 im Thèâtre du Palais-Royale der Pariser Oper statt; aus unterschiedlichen Gründen – darunter Krankheitsund Terminprobleme, aber vermutlich auch ein Skandal rund um die homosexuelle Orientierung des Komponisten – gab es für Armide keine Vorab-Premiere am Hof von Versailles wie sonst üblich; der König wohnte keiner Aufführung bei. Zeitgenössischen Berichten zufolge war die Premiere ein Misserfolg, die Oper wurde aber regelmäßig (auch in unterschiedlichen Bearbeitungen und Parodien) zwischen 1692 und 1766 in Paris gespielt, darunter auch als Gemeinschaftsproduktion mit dem Hoftheater (zur Rezeption der Oper im Ancien Régime vgl. S CHNEIDER 1982).
5.2.2 Rameaus Analysen zu Lullys Armide Die Pariser Gesellschaft wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts von einer Reihe von Debatten um den Wert der französischen Oper, darunter vom Buffonistenstreit erschüttert, in dessen Mittelpunkt die Tragédie lyrique und somit das Schaffen Lullys stand. Rameau stand dem Streit verhältnismäßig unbeteiligt gegenüber – er äußerte sich selbst nie negativ über Lully (vgl. SCHNEIDER
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1987, S. 288). Im Gegenteil: Die Analyse, die er im Rahmen des Nouveau systÞme de musique théorique 1726 zum Monolog der Armide aus Lullys gleichnamiger Oper anführt, zeugt von tiefer Verehrung gegenüber dem Älteren. Stichwort
Der Buffonistenstreit Der Buffonistenstreit (die „Querelle des Bouffons“) beherrschte die gelehrten Debatten der französischen Hauptstadt zwischen 1752 und 1754 und drehte sich nur vordergründig um die Frage, ob die italienische Oper der französischen vorzuziehen sei: Es ging im Kern um die auch politisch aktuelle Emanzipation einer bürgerlichen Operngattung gegenüber der höfischen Oper, der gesungenen Tragödie. Als Auslöser gilt die Aufführung des Intermezzos La serva padrona (1733) von Giovanni Battista Pergolesi (1710–1736) am 1. August 1752 durch eine italienische Operntruppe. Der Philosoph Jean-Jaques Rousseau (1712–1778) gewann in der Debatte erheblich an Profil: Rousseau, der sich in der Vergangenheit bereits als Komponist eher erfolglos versucht hatte, hatte mit seinem schlicht gehaltenen Singspiel Le devin du village im Herbst 1752 die Erfolgsserie der Italiener unterbrochen. Er publizierte im November 1753 die Lettre sur la musique françoise, in der er der französischen Sprache und mit ihr der Musik seines Landes jede Qualität absprach. In der Folge entstanden bis zur Abreise der Italiener im März 1754 über 60 Schriften meist führender Philosophen Frankreichs, darunter der Enzyklopädisten Denis Diderot oder Jean Baptiste le Rond d’Alembert an der Seite Rousseaus (vgl. LAUNAY 1973 und FABIANO 2005). Die Schriften konzentrierten sich nicht nur auf die Werke Lullys: Jean-Philippe Rameau wurde vor allem in seiner Rolle als Hofkomponist angegriffen. Der Streit bahnte schließlich der Opéra comique als an ein bürgerliches Publikum gerichtetes Musiktheater den Weg, das in der zweiten Jahrhunderthälfte die Pariser Bühnen beherrschen sollte – zunächst unter anderem in starker und emotional diskutierter Konkurrenz zu den Opern etwa Rameaus, auch wenn dieser bereits mit Platée 1745 eine komische Oper vorgelegt hatte (vgl. DAUPHIN 2011, S. 144–146).
Für Rameau ist das Heranziehen zeitgenössischer Musik bzw. solcher der jüngsten Vergangenheit sonst eher untypisch zu nennen: Neben der LullyAnalyse, die in drei Publikationen Rameaus begegnet, findet sich im Nouveau systÞme eine Erörterung eines Corelli-Satzes, und einige Notenbeispiele übernimmt Rameau zudem von Charles Masson. Alle anderen Literaturbeispiele stammen von Rameau selbst. Dass ausgerechnet eine Szene Lullys zur Analyse herangezogen wird, ist – abgesehen von der Zweckmäßigkeit im Rahmen der Argumentation Rameaus – auch im historischen Kontext nicht verwunderlich, denn der hohe Rang der ‚Tragédie en musique‘ Armide ist selbst von Lullys Kritikern nicht in Frage gestellt worden: „Bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus galt der Monolog geradezu als ‚le modèle le plus parfait, non seu-
5.2 Rezitativ und Modulation: Jean Baptiste Lully – Armide
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lement du récitatif français, mais de la déclamation tragique française‘“ (ROLLAND 1907, S. 8, vgl. RECKOW 1984, S. 128). Rameau führt den Monolog der Armide „Enfin, il est en ma puissance“ als umfangreiches Analysebeispiel im Zusammenhang mit seiner Erörterung des Terminus Modulation an (vgl. PETERSEN 2017c, S. 392–393). Stichwort
Modulation Der Gebrauch dieses Begriffs ist in den Werken Rameaus weitaus nuancierter dargestellt als weithin angenommen: Zwar ist effektiv ein Bedeutungswandel in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts festzustellen – und nicht nur bei Rameau – , aber ähnlich wie bei anderen von Rameau erörterten Termini ist die Definition unterschiedlich stichhaltig. Die Definition im Traité findet sich im Zusammenhang mit der „manière de composer une Basse Fondamentale au-dessous de toute sorte de Musique“ (RAMEAU 1722, S. 135); Definition und Zusammenhang sind nicht radikal anders, vergleicht man sie mit den Erörterungen der Musiktheorie des 17. Jahrhunderts, beispielsweise mit der Charles Massons (vgl. PETERSEN 2008, S. 346). Rameau benutzt den Terminus Modulation, um sowohl Akkordprogressionen innerhalb einer Tonart – im Sinne einer Ausweichung – als auch von einer Tonart zu einer anderen – im Sinne des heutigen Gebrauchs des Begriffs – zu beschreiben; Kadenzstrukturen versucht Rameau durch die Basse fondamentale darzustellen.
Rameau wendet seine Theorie auf das Rezitativ Lullys an, es geht ihm also primär eher um harmonische Vorgänge als um „Melodieabschnitte“ (R AMEAU 1726, S. 41). Die Analyse Rameaus besteht in erster Linie darin, die Basse fondamentale zu jedem Klang des Rezitativs Lullys zu ermitteln und mit Buchstaben in eine Liste von neun unterschiedlichen Arten der harmonischen Fortschreitung einzuordnen (vgl. RAMEAU 1726, S. 99). Im Vordergrund seiner Analyse steht die Bestimmung der von Lully angewendeten Kadenzmodelle: In den ersten vier Takten schreitet die Ursprungstonart e-Moll schnell nach G-Dur fort, zunächst durch eine cadence irrégulière (T. 2/3), dann durch eine cadence parfaite (T. 3) bestätigt (zu Rameaus Druckfehler vgl. CHRISTENSEN 1993, S. 120). Die nächste Kadenzstufe wird von Lully über eine cadence parfaite in a erreicht.
erster Analysezugang
Abb. 5.4 Rameau 1726, S. 80
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Rousseau
ornaments
Wege zur tonalen Harmonik
Rameau versucht mit seiner Analyse, die Modulationen zu allen für eMoll relevanten Kadenzstufen (G-Dur, a-Moll, h-Moll, C-Dur und D-Dur) aufzuzeigen. Anhand der Gliederung des Notentexts in voneinander getrennte Kadenzeinheiten, die einer solchen Analyse zugrunde liegt, gelingt Rameau auch die praktische Darstellung des Prinzips der dominante-tonique in Verbindung mit der cadence irrégulière und der cadence parfaite – und schließlich, da nicht alle dominantes-toniques in eine cadence parfaite führen, auch zur cadence rompue (vgl. CHRISTENSEN 1993, S. 122–123). Die Analyse Rameaus ist der Idealfall einer auf Theorie zielenden Analyse – Analyse, die die Vorstufe von Theorie darstellt: Sie behandelt „ein musikalisches Gebilde als Dokument, als Zeugnis für einen Sachverhalt außerhalb seiner selbst oder für eine Regel, die über das Einzelne herausreicht“ (DAHLHAUS 1970, S. 18). Festzuhalten bleibt darüber hinaus, dass vom Zusammenspiel von Text und Musik im Monolog aus Armide, das in den weiteren Äußerungen Rameaus zu diesem Musikstück Lullys besonders hervorgehoben und gerühmt wird, hier nicht die Rede ist. Die zweite Analyse zum Monolog aus Armide, die Rameau in den Observations sur notre instinct pour la musique, et son principe 1754 veröffentlichte, entstand unter grundsätzlich anderen Voraussetzungen als die erste achtundzwanzig Jahre zuvor. Ist die Analyse im Nouveau Système 1726 Paradigma einer auf Theorie ausgerichteten, Mittel zum Zweck darstellenden Analyse, kann die Erörterung des Werkes in den Observations durchaus als Analyse in ästhetischer Absicht (vgl. DAHLHAUS 1970, S. 18) gelten: Sie bildet den eigentlichen Abschluss einer Auseinandersetzung mit Jean-Jaques Rousseau. Die im November 1753 veröffentlichte Streitschrift Lettre sur la musique françoise von Jean-Jaques Rousseau dreht sich in erster Linie um die Existenzberechtigung der französischen Musik; dass Rousseau erneut den berühmten Armide-Monolog Lullys als Paradigma seiner Ausführungen heranzieht, ist nicht weiter verwunderlich – die Wahl Rousseaus ist sogar überzeugend, beachtet man die im ersten Textteil erarbeiteten Prämissen: Rousseau betrachtet das Rezitativ als musikalische Imitation von Sprache (vgl. ROUSSEAU 1753, S. 69) – eine Definition, die den Wert des Monologs von vornherein mindert. Ausgehend von provokanten Beurteilungskriterien liegen die Schwerpunkte der Analyse Rousseaus einerseits auf der Behandlung des Texts bzw. dem Zusammenhang zwischen Text und Musik, andererseits auf dem der musikalischen Gestalt selbst, besonders auf der Gestaltung der Melodie. Rousseau geht in seiner Erörterung des Monologes am Text Quinaults entlang und beurteilt „Zeile für Zeile“ die Komposition Lullys – eine Methode, die Rameau in seiner Antwort in den Observations übernehmen sollte. Bereits mit der Kritik an der Vertonung der ersten zwei Verse des Monologs berührt Rousseau zwei für seine Erörterung neuralgische Punkte. Zu-
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nächst steht die Kritik an den ornaments im Vordergrund (am trille der ersten Zeile, kurz darauf auch an einer cadence). Außerdem kritisiert Rousseau die von Rameau im Nouveau systÞme paradigmatisch angeführte häufige Modulation, andererseits hält er die Vertonung der Zeilen ab T. 8/9 für misslungen – vor allem wegen der fehlenden Modulation (ROUSSEAU 1753, S. 82–84). Rousseau vermisst grundsätzlich dem Text adäquate kompositorische Maßnahmen; er spricht der Musik jeglichen Anteil am „effet“ ab. Zusammenfassend bemerkt Rousseau, die Modulationen seien zwar „régulière“ – den Regeln entsprechend –, aber gerade deswegen kindisch, schulmeisterlich, kraftlos und ohne Einfühlungsvermögen – das Ganze erscheine wie eine langweilige Folge von Tönen (vgl. ROUSSEAU 1753, S. 91).
5.2.3 Rameau antwortet Rousseau Gleich im ersten Teil seiner 1754 veröffentlichten Antwort stellt Rameau zusammenhängend seine Ausgangsposition dar. Seine Grundsätze weichen nicht erheblich von den Thesen der Generation harmonique von 1737 ab, aber unterstreichen in der Kontroverse mit Rousseau die Position Rameaus: Nach Rameau wird der Ausdruck der Musik durch die Harmonie bestimmt; der Verlauf der Melodie ist nichts als eine Nebensache im Vergleich zur Harmonie – die Melodie kann den Ausdruck eines Abschnittes verstärken, aber niemals selbst bestimmen (vgl. RAMEAU 1754, S. 99). Einer der interessantesten Aspekte der Antwort Rameaus in den Observations ist die Tatsache, dass das Denken Rameaus in erheblichem Maß von dem Gedankengut Rousseaus geleitet wird: Im Zusammenhang mit dem Rezitativ Lullys schreibt Rameau in den Observations erstmals über die emotionalen Konsequenzen bestimmter musikalischer Zusammenhänge. Während im Nouveau Système Modulationsmodelle und damit rein technisch-handwerkliche Aspekte im Vordergrund der Betrachtung stehen, sind es in der Verteidigungsschrift gegen Rousseau grundsätzlich andere Elemente musikalisch-ästhetischen Denkens – und ob Rameau diese ohne die „Vorlage“ Rousseaus anhand des Rezitativs Lullys formuliert hätte, ist äußerst fraglich. Der Analyse Rousseaus entsprechend, geht Rameau in den Observations – wieder ein Unterschied zu seinem Kommentar von 1726 – am Text des Monologs entlang. Die Reflexion über die Musik erfolgt so in zwei Schritten: Auf der einen Seite steht die Kritik an den Äußerungen Rousseaus, auf der anderen die eigene Erarbeitung des musikalischen Zusammenhangs. Gleich zu Beginn der Observations, im Vorwort (vgl. RAMEAU 1754, S. 5f.) geht Rameau auf die Kritik Rousseaus an den übergewichtig eingesetzten ornaments ein und bringt seine Entgegnung in Zusammenhang mit der These, dass die Harmonie Quelle der Melodie und insofern die Melodie be-
zweiter Analysezugang
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Wege zur tonalen Harmonik
reits expressiv sei: Rousseaus Beschäftigung mit Melodiekonturen (auf die Rameau dann auch nicht weiter eingeht) und der Frage der Auszierung zeuge von völliger Fehlleitung der Beurteilung (vgl. VERBA 1973, S. 75). Auch die angesichts der vorwiegend in Achteln verlaufenden Basslinie von Rousseau vorgebrachten Bedenken (vgl. ROUSSEAU 1753, S. 81) werden von Rameau – erneut doppelt argumentierend – zurückgewiesen: Wie die Gesangsstimme muss auch der Continuo-Bass vom Fundamentalbass her beurteilt werden, denn beide sind nichts als Ergebnisse der Harmonie (vgl. R AMEAU 1754, S. 10). In dieser Hinsicht liegt ein genereller Unterschied in der Betrachtung von Musik vor – die Position Rameaus ist der Rousseaus genau entgegengesetzt. Bereits die erste Phrase des Monologs wird von Rameau als Vertonung einer Gefühlsregung „dans la plus grande perfection qu’on puisse désirer“ beschrieben (vgl. RAMEAU 1754, S. 77) – der Kontrast zwischen dem Moll des Anfangs und dem vitalen Dur des Phrasenendes korrespondiert mit dem Text. Rameau weist darauf hin, dass die Worte „Ce superbe vainqueur“ das Erwachen der wahren Gefühle Armides gegenüber Renaud andeuten; diese Wendung zur „Wahrheit“, nach Dur, wird unterstrichen durch eine cadence parfaite. Die von Rameau bereits im Traité aufgestellte Prämisse, bis auf die Tonika seien alle anderen Akkorde – unabhängig von ihrer Erscheinungsform – als dissonant aufzufassen (vgl. RAMEAU 1722, S. 200), geht eng zusammen mit den Beobachtungen, die Rameau am Monolog Lullys ausmacht – und zeigt deutlich die Lücke auf, die zwischen dem Musikverständnis des „dilletante“ Rousseau und des erfahrenen Komponisten Rameau klafft (vgl. GÜLKE 1983, S. 54). Bemerkenswert ist an dieser Stelle der Unterschied zu Rameaus Analyse im „Nouveau systÞme“: Die Phrase Takt 18–22 (die in den Observations die letzte zuletzt analysierte ist – die Erörterung im „Nouveau systÞme“ geht darüber hinaus) ist in der älteren Analyse in den Augen Rameaus komplett diatonisch. Rameau versucht 1726 wie in den Observations, die Meisterschaft Lullys in der Benutzung von Harmonik für die espressive Gestaltung der Musik zu beweisen und ist mit den diatonischen Fortschreitungen einverstanden, während er der gleichen Phrase in der Analyse von 1754 Chromatik „unterstellt“. Auch wenn Cynthia Verba nachzuweisen versucht, dass die Behandlung und Erklärung von Dissonanzen und Chromatik vom Traité (1722) zu den Observations (1754) stark fortschreitet und somit durchaus einer Änderung unterworfen ist, ist der Gedanke kaum von der Hand zu weisen, dieses Konstrukt gehöre zur polemischen Auseinandersetzung mit Rousseau (vgl. dagegen VERBA 1973, S. 83–91) – auch wenn dann die ältere Interpretation Rameaus im Nouveau systÞme die ehrlichere wäre: frei von jeglicher Übertreibung und unverzerrt. Die Observations sur notre instinct pour la musique et son principe waren keineswegs das Schlusswort Rameaus in der Auseinandersetzung mit Rous-
5.2 Rezitativ und Modulation: Jean Baptiste Lully – Armide
seau: In der 1755 anonym herausgegebenen Schrift Erreurs sur la musique dans l’Encyclopédie, die erneut gegen Rousseau Stellung bezog, begegnet der Monolog aus Armide in den Schriften Rameaus ein letztes Mal im Code de musique pratique von 1760, einer primär musiktheoretischen und weniger polemischen Schrift des Siebenundsiebzigjährigen. Der von Rameau hergestellte Zusammenhang entspricht allerdings dem der Observations – das betreffende Kapitel ist überschrieben mit „De l’Expression“. Rameau erörtert noch einmal sein Dogma der Harmonie als Quelle der musikalischen Substanz, darunter auch des Ausdrucks; Lullys Armide-Monolog dient als Beleg für seine Thesen. An dieser Stelle steht keine vollständige Detailanalyse wie in den Observations, sondern in erster Linie ein recht grober Überblick über die grundsätzlichen Modulationsbewegungen des Monologs – der Analyseansatz Rameaus ist ein dem der Observations entgegengesetzter: Rameau steht nicht (oder nur in begrenztem, der bisherigen Auseinandersetzung um diesen Monolog angemessenen Umfang) in der Pflicht, Lullys Musik zu verteidigen, sondern benutzt seine bisher gewonnenen Erkenntnisse über den Monolog, um seine Thesen, die sich erneut um den Primat der Harmonie drehen, zu stützen; Thomas Christensens Einschätzung, die Analyse im Code existiere ausschließlich als Antwort auf die Kritik Rousseaus (Vgl. CHRISTENSEN 1993, S. 120), verkürzt die Bedeutung dieses Traktatteils erheblich. Steht – schon allein aus chronologischen Gründen – die Erwähnung des Monologs aus Armide im Code in enger Nähe zu der Auseinandersetzung mit Rousseau, die Rameau schon 1754 mit den Observations führte, so stellt sie doch eine bemerkenswerte Verkettung zweier analytischer Aspekte dar, die in den ausführlicheren Analysen Rameaus im Nouveau systÞme einerseits, in den Observations andererseits trennte: Erscheint die Analyse im Nouveau systÞme 1726 noch zusammenhangsgebunden und als Beispiel, als Mittel zum Zweck, ist sie in den „Observations“ der eigentliche Anlass und Hauptteil des Essays. Der Monolog aus Armide findet scheinbar auch im Code von 1760 nur als ein Beispiel unter vielen Eingang in die Schrift – auch ein weiterer Satz aus Armide wird im gleichen Zusammenhang gestreift; nicht verkannt werden darf aber die Bedeutung, die 1760 für Rameau dieser Monolog besitzt: Er hat nicht nur polemische Bedeutung (der Seitenhieb auf Rousseau ist unübersehbar), sondern ist zum existentiellen Bestandteil der Harmonietheorie Rameaus, besonders in Hinsicht auf die Verflechtung der Harmonieprogressionen mit dem Ausdrucksgehalt der Musik, geworden. Darüber hinaus ist die Behandlung dieses Monologs in der musiktheoretischen Literatur in der Mitte des 18. Jahrhunderts (hier beispielhaft anhand der Auseinandersetzung Rameaus mit einem der Enzyklopädisten dargestellt) zu einem Paradigma für die Beschäftigung der Zeitgenossen mit der neuartigen Theoriekonzeption Jean-Philippe Rameaus geworden.
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Wege zur tonalen Harmonik Wissens-Check
– Inwiefern unterscheiden sich die Grundlagen in Rameaus Traité von denjenigen im Nouveau Système? – Welche Kadenzprogressionen kennt Rameau? – Wie ist Rameaus Konstruktion der ,Basse fondamentale’ zu verstehen? – Welche Konstellation führt um die Mitte des 18. Jahrhunderts zum Buffonistenstreit? – Mit welchen Argumenten lehnt Rousseau die Komposition Lullys ab?
Literaturhinweise CHRISTENSEN, Thomas (1993): Rameau and Musical Thought in the Enlightenment, Cambridge. Die grundlegende Arbeit Christensens stellt vor allem den Rameau der ‚Philosophes’ dar – den Kontext der Aufklärung, in dem die wichtigsten musiktheoretischen Schriften Rameaus entstehen. HOLTMEIER, Ludwig (2017): Rameaus langer Schatten. Studien zur deutschen Musiktheorie des 18. Jahrhunderts, Hildesheim (= Studien zur Geschichte der Musiktheorie Bd. 13). Anders als Christensen weist Holtmeier die enge Bindung der theoretischen Arbeiten Rameaus an die musikalische Praxis der Vergangenheit nach und stellt die problematische Rezeption der Werke Rameaus in der deutschen Musiktheorie des 18. Jahrhunderts heraus. LAUNAY, Denise (1973): La Querelle des Bouffons, drei Bände, Genf 1973. Die drei Bände beinhalten eine beeindruckende Quellensammlung zum Buffonistenstreit: Sie versammeln insgesamt 59 zwischen 1752 und 1754 erschienene Streitschriften zum Teil bedeutender Philosophen. PETERSEN, Birger (Hg.) (2016): Rezeption und Kulturtransfer. Deutsche und französische Musiktheorie nach Rameau, Mainz (= Spektrum Musiktheorie Bd. 4). Der Sammelband stellt die Geschichte der Rameau-Rezeption in Deutschland als Geschichte der Missverständnisse dar und ist ein Beitrag zum deutsch-französischen Kulturtransfer im 18. Jahrhundert.
6 Formbildung Überblick
D
ie Musik des 17. wie des 18. Jahrhunderts nimmt immer wieder Bezug auf die Musik der Vergangenheit, indem sie kompositorische Verfahren annimmt und weiterentwickelt; zugleich entstehen neue Aspekte auf kompositionstechnischer wie musiktheoretischer Ebene, deren Wurzeln zwar immer auch in der Musik der frühen Neuzeit liegen, allerdings – in normativer wie funktionaler Perspektive – für das Schaffen der nachfolgenden Generationen in ihrer Gestalt vor allen des späten 18. Jahrhunderts von besonderer Wirkmächtigkeit sind.
Dieses Kapitel thematisiert Aspekte der Formbildung in der Musik des 18. Jahrhunderts, deren musikheoretische Grundlagen mithilfe der ersten Ansätze zur Formenlehre von Mattheson und Koch dargestellt werden. Analytische Vorschläge zum Kopfsatz von Joseph Haydns Quartett h-Moll op. 33 Nr. 1 belegen die besondere Vielfalt musikalischen Schreibens im Spannungsfeld zwischen „gelehrtem“ und „galantem Stil“, dienen aber auch als Perspektive auf Aspekte der Klassik und darüber hinaus als Korrektiv für die kompositionstheoretischen Ausführungen der Zeitgenossen.
Stichwort
Klassik Der omnipräsente Sammelbegriff meint im engeren Sinn die vor allem in Wien und Umkreis entstandene Musik Haydns, Mozarts und zum Teil auch Beethovens, die einige stilistische Merkmale – darunter eine Anverwandlung der polyphonen und homophonen Satztechniken des frühen 18. Jahrhunderts – eint. Der Begriff geht zurück auf eine Gliederung nach Raphael Georg Kiesewetter von 1834 und meint die Musik des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts und ist ursprünglich normativ gemeint. Diese Terminologie wird in der angloamerikanischen Musikwissenschaft eher vermieden, in der deutschsprachigen aber kontrovers diskutiert – insbesondere hinsichtlich der Frage, ob diese Musik mit der der ihr nachfolgenden Generation eine gemeinsame „klassisch-romantische“ Epoche bildet (DAHLHAUS 1988). Dabei sind die meisten mit ,Klassik’ für gewöhnlich in Verbindung gebrachten Begriffe wie ,Idealisierung’, ,Individualiserung’, ,Fasslichkeit’ oder ‚Verständlichkeit’ kaum als Definitionen in der musikalischen Analyse brauchbar (vgl. den Überblick bei BERGER 2001, S. 121–123). Am ehesten ist der Terminus funktional zu verstehen, also im Kontext eines Rezeptionsphänomens; dies entspricht dem Umgang mit dem Begriff in jüngeren literaturwissenschaftlichen Ansätzen (vgl. WOJCIK 2018).
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Formbildung
6.1 ,Tactordnung’ als Tonordnung „Die große Incisionslehre war unbekannt; die rührende Emphasis lag unter der Bank &c. ehe der Kern melodischer Wissenschaft ans Licht trat“, urteilte Johann Mattheson in seiner Schrift Plus ultra stolz in einer Rückschau über die Grundzüge einer Formenlehre, die er mit seinen mittleren Schriften nach der Phase der frühen Orchestre-Schriften erarbeitet hatte – und was den Bekanntheitsgrad der „großen Incisionslehre“ betrifft, sind auch für das 21. Jahrhundert wenig Veränderungen festzustellen (M ATTHESON 1755, S. 323; vgl. BENARY 1961, S. 83). Wie Mattheson denn auch in Der vollkommene Capellmeister bemerkte, dass es schlecht stehe um die Kenntnis der Ein- und Abschnitte: „Um nun diesem Mangel, wie vielen andern, auch einiger maassen abzuhelffen, müssen wir uns die Mühe geben, die liebe Grammatic sowol, als die schätzbare Rhetoric und werthe Poesie auf gewisse Weise zur Hand zu nehmen“(MATTHESON 1739, S. 181) – Poesie und Grammatik erhalten hier den Rang einer Hilfsdisziplin neben der überragenden Bedeutung der Rhetorik für das Gesamtkonstrukt von Der vollkommene Capellmeister. Das neunte Kapitel des zweiten Teils dieser zentralen Schrift Matthesons birgt seine Incisionslehre „Von den Ab- und Einschnitten der Klang-Rede“: „Diese Lehre von den Incisionen, welche man auch distinctiones, interpunctationes, posituras u. s. w. nennet, ist die allernothwendigste in der gantzen melodischen Setz-Kunst“ – „Gleichwie die Lehre von den Leidenschafften oder Gemüths-Neigungen die vornehmste in der melodischen Wissenschafft; die von den Einschnitten der Klang-Rede aber die nothwendigste ist.“ (MATTHESON 1739, S. 180 bzw. 200). Die Erörterung dieses Themas erhält im Rahmen des Melodielehre-Abschnitts in Der vollkommene Capellmeister erheblichen Umfang. Mattheson erwähnte das Thema 1739 nicht zum ersten Mal. Schon in Das Neu-Eröffnete Orchestre von 1713 bemerkte er: Quelle Johann Mattheson, Das Neu-Eröffnete Orchestre Hamburg 1713, S. 105f.
„Daß sich in der Vocal-Music Text und Noten vor allen Dingen wol zusammen reimen / und die in den Worten steckende Emphasis, nebst den Distinctionen / als Comma, Colon &c wol inacht genommen / und geschickt exprimiret werden. Als worinn mit Recht die musicalische Rhetoric stecket.“
Mattheson greift mit dieser Terminologie auf einen allgemeinen Sprachgebrauch zurück (vgl. FEES 1991, S. 143); so heißt etwa schon die Pause in der mittelalterlichen Choraltheorie distinctio. Der Begriff der incisiones, der dann auch in der Critica Musica überwiegt, findet sich schließlich in seiner Schrift
6.1 ,Tactordnung’ als Tonordnung
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Melotheta von 1721. Das aus dem Lateinischen stammende incisio bedeutet so viel wie „der Einschnitt in den Leib“; noch genauer muss es incisium heißen. Dieser Begriff bedeutet bei Cicero comma. Incisio als Oberbegriff für die ganze, von Mattheson in diesem Kapitel exponierte Lehre fällt infolgedessen terminologisch aus dem Rahmen; Mattheson selbst hebt nicht die Bedeutung comma, sondern die allgemeine von Ein-/Abschnitt hervor. Ob Mattheson selbst den Unterschied dieser deutschen Übersetzung vom originalen antiken Sprachgebrauch hervorheben wollte, bleibt allerdings angesichts der fehlenden Konsequenz in der Verwendung dieser Terminologie fraglich (vgl. F EES 1991, S. 143–145). Eng ist jedoch auch hier der Zusammenhang mit der Rhetorik – Johann Christoph Gottsched etwa weist auf die Notwendigkeit hin, dass eine Rede „wohlabgetheilet“ (GOTTSCHED 1736, S. 326) sein müsse. Der Bezug zur Rhetorik ergibt sich wiederum aus der übergeordneten Voraussetzung: Das Musikstück wendet sich schließlich direkt an den Hörer. Im Folgenden sei die Anlage der Incisionslehre Matthesons überblicksartig beschrieben, vor allem aber untersucht, inwieweit mit dieser Lehre die erste Konzeption einer Formenlehre des 19. Jahrhunderts, insbesondere in den Arbeiten von Joseph Riepel und Heinrich Christoph Koch vorbereitet ist. Außerdem soll dargestellt werden, inwiefern musikalische Logik bzw. die Differenzierung musikalischen Zusammenhangs im späten 18. Jahrhundert noch immer aus den Grundbegriffen einer musikalischen Rhetorik ableitbar ist, die Mattheson in Der vollkommene Capellmeister 1739 dargelegt hat.
6.1.1 Die Incisionslehre bei Mattheson Der Aufbau des zentralen Kapitels in Der vollkommene Capellmeister ist stringent: Neben der erwähnten Klärung der Terminologie diskutiert Mattheson für jede Incision zuerst den sprachlichen und dann den musikalischen Geltungsbereich. Die von Mattheson gewählte Ordnung folgt den drei Klassen der Zeichen, die in entsprechender Form in Hieronymus Freyers Anweisung zur Teutschen Orthographie (Halle 1721) auftauchen (vgl. FEES 1991, S. 146–147): Er erörtert erstens Zäsur setzende Zeichen, nämlich Periodus (Punctus) und Comma, zweitens in Relation setzende Zeichen (Semicolon / Colon) und drittens Affekt-Zeichen (Frage- und Ausrufungs-Zeichen). Die Parenthesis erscheint nur der Vollständigkeit halber und bleibt ohne Bedeutung für den Aussagegehalt der Arbeit. Konrad Fees weist darauf hin, dass die Untersuchung der Incisionen dadurch erschwert wird, dass „der Verfasser des Capellmeisters kaum systematisch verfährt sowie in konkreten Fällen gar seinen Definitionen entgegen argumentiert“ (FEES 1991, S. 147). Im Folgenden mag ein kurzer, zusammenfassender Überblick über die besprochenen Incisionen genügen. Unter einer Periode (§§. 5–19.) versteht Mattheson eine semantisch wie syntaktisch und intonatorisch geschlossene Spracheinheit: „Ein Periodus […]
Periode
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Comma
Formbildung
ist ein kurtzgefaßter Spruch, der eine völlige Meinung oder einen gantzen Wort-Verstand in sich begreifft. Was nun dieses nicht thut, sondern weniger hält, das ist kein Periodus, kein Satz.“ (MATTHESON 1739, S. 182). In seiner Erörterung nimmt Mattheson bewusst nicht Bezug auf die Kategorien der spätbarocken Periodenlehre: Er meint in erster Linie den zu singenden Satz. Zusätzliche Anforderungen – dem Textverständnis entgegenkommend – sind die Forderungen nach Sprachschönheit und überschaubarer Größe: Kurze Sätze befördern die Deutlichkeit, wie schon aus dem dazugehörigen Regelkonvolut zu entnehmen war. Als musikalische Periode bestimmt Mattheson den Abschnitt zwischen zwei förmlichen Schlüssen; weitergehende Kriterien gibt er nicht, aber als bedeutsam hebt er den Sinn hervor – deutlich wird hier erneut die Forderung Matthesons nach der Einheit von Syntax und Semantik der Musik. Das Comma (§§. 20–38.) existiert – wie alle übrigen Incisionen – doppelt als „Gelenck“ wie als „Stücklein des Satzes“ (MATTHESON 1739, S. 185); prinzipiell handelt es sich in Matthesons Definition um ein semantisch und intonatorisch unteilbares Redeglied: Quelle Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister Hamburg 1739, S. 184
„Das Comma ist ein Stücklein des Satzes, dadurch die Rede einen kleinen Einschnitt bekömmt; ob gleich noch in den Worten kein rhetorischer, sondern nur ein grammatischer und unvollkommener Verstand ist: denn es erfordert sehr offt ein eintzelnes Wort sein eignes Comma.“
Semicolon
Zu unterscheiden ist das comma pendulum, ein aus dem syntaktischen Verbund losgelöstes Stück wie etwa ein Vokativ als grammatisch unselbständiger Affektträger, vom comma perfectum, ein syntaktisch geschlossener Verbund, ebenfalls Affektträger; diese Einteilung trägt allerdings für die Musik kaum Bedeutung in sich. Matthesons Empfehlung lautet, ein kurzes Comma nur unter theoretischen Gesichtspunkten zu betrachten – zugunsten des „fliessenden Wesens“ – und beim Sprechen oder Singen zu übergehen. Als musikalisches Comma bestimmt er ein Motiv, eine Motivgruppe oder auch eine Phrasierungseinheit. Das Comma gilt somit sprachlich wie musikalisch als kürzeste Affekt- und Sinneinheit. Bei den Semicola (§§. 39–47. und 54–60.) handelt es sich in der Regel um Teilsätze aus mehrgliedrigen Perioden, die in enger, korrespondierender Beziehung zueinander stehen. Dies korreliert wiederum mit der motivischen Affinität der Melodiezeilen; Mattheson stellt mehrere Möglichkeiten vor: Variation der Motivik, die keiner Systematik folgt bzw. harmonische Parallelität, Umkehrung und Sequenz. Eine förmliche Kadenz (die ohnehin ausschließlich dem Periodenschluss zugewiesen wird) sollte in diesem Zusammenhang ver-
6.1 ,Tactordnung’ als Tonordnung
mieden werden. Mit den Semicola gemeinsam haben die Cola die Korrespondenz: Die Glieder der Cola stehen stets paarig (oder in höherzahligen Beziehungen), allerdings jetzt in einer quasi eindimensionalen Beziehung. Insgesamt bleibt die Definition des Colons bei Mattheson vage, wenn er als solchen einen Melodieabschnitt mit einem gewissen Geschlossenheitsgrad nennt, der einen entsprechenden nachfolgenden verlangt. Frage und Ausruf (§§. 61–68.) stellen als Abschnittskategorien einen „Satz“ dar (bzw. im Fall einer Interjektion ein Comma); aus einem gewöhnlichen Satz kann darüber hinaus durch syntaktische Operationen eine Frage oder ein Ausruf werden. Dies mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit wie bisher auf musikalische Tatsachenbestände übertragen zu wollen, sprengt den Rahmen des bisher Beschriebenen – der Sprach-/Musikvergleich „entstand aus der Annahme heraus einer grundsätzlichen syntaktischen Analogie von Sprache und Musik: beide Systeme konstituieren sich aus Elementen (Zeichen) zunehmender Quantität wie Qualität“ (FEES 1991, S. 176). An dieser Stelle wird diese Ebene, auf der ein direkter Vergleich möglich ist, verlassen. Mattheson verwickelt sich in diesem Zusammenhang in Widersprüche bzw. begibt sich in Allgemeinplätze. Seine diesbezüglichen Überlegungen sind eher als später Beitrag zur Figurenlehre zu werten denn als eigentlicher Teil der Incisionslehre – er weist darauf hin, dass die Frage-Figur eben nicht als Figur zu berücksichtigen sei, wobei die Zugehörigkeit derselben zur Figurenlehre unstrittig sein muss; ebenso stellt die Exclamatio stets eine Figur dar. Den letzten Einschnitt, die Parenthesis (§§. 69–76.), erwähnt Mattheson nur der Vollständigkeit halber; er hat musikalisch keine nennenswerte Funktion, und die diesbezüglichen Hinweise verbleiben im Allgemeinen: „Das Ding ist eben nicht sehr musicalisch, und mögte meinentwegen gerne aus der melodischen Wissenschafft Urlaub haben.“ (MATTHESON 1739, S. 194). Gemeint ist mit der Parenthesis syntaktisch die Einschaltung eines neuen Satzes oder einer Ellipse in einem bestehenden Satzrahmen. Eine anschauliche Zusammenfassung des Kapitels bildet eine Analyse des eigens für diesen Zusammenhang verfassten Rezitativs „Unsäglich ist mein Schmertz“ (§§. 48–50.), in der Mattheson die vorgestellten „Incisiones“ aufzeigt und erörtert; dabei befolgt er seine eigenen Vorgaben nur zum Teil und komponiert nicht nach präexistenten Interpunktionsformeln, sondern vor allem entlang der rhetorischen Struktur des Textes mit deutlicher Tendenz zur Korrespondenz. Festzustellen ist außerdem der kontinuierlich fließende Duktus der Melodie, erreicht durch motivische Einheit und rhythmisch-melodische Gleichförmigkeit. Ein zusätzliches Beispiel (für die Komposition wie für die Analyse im Licht der Incisionslehre) gibt später im Rahmen der Gattungslehre das Menuett ab. Das Kapitel schließt mit dem Ratschlag, am Ende eines Satzes – „an dem Ort, wo der Punct befindlich ist“ (M ATTHESON 1739, S. 195) – eine förmliche Kadenz („letztlich einen gäntzlichen Endigungs-Schluß“) anzubringen.
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Frage und Ausruf
Parenthesis
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6
Formbildung
6.1.2 Zur Anwendung der Incisionslehre bei Mattheson Während das Rezitativ unter den vokalen Gattungen ein besonderes Augenmerk erfährt – Mattheson verweist schon in der Vorrede auf diesen Passus (besonders auf die entsprechende Vorarbeit im Kern melodischer Wissenschafft) (MATTHESON 1737, Vorrede, S. 23–24) und beschreibt in §. 24. ausführlich seine Eigenschaften –, steht das Menuett nicht zufällig am Beginn der Erörterung von Einzelsätzen in der Liste der instrumentalen Gattungen: Schon in der frühen Gattungslehre von 1713 stand das Menuett herausgehoben am Ende. In Der vollkommene Capellmeister behauptet es seinen ersten Platz in der langen Reihe der Erörterung von Tanzsätzen vor allem mit einem Beispiel: Anhand eines kurzen Menuetts in h-Moll erklärt Mattheson die „Zergliederung“ des Menuetts sowie seine „Klang-Füsse“ und eine dreifache Emphasis. Abb. 6.1 Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, S. 224
Mit diesem Beispiel – einer ersten ‚echten‘ Formanalyse – wendet Mattheson seine Incisionslehre auf ein praktisches Exempel, nämlich komponierte Musik, an und überführt damit (noch mehr, als es in der Analyse des Rezitativs „Unsäglich ist mein Schmertz“ im neunten Kapitel der Fall ist) seine Theorie in die Handwerkslehre; allein dieses Element unterstreicht die hohe Bedeutung der Incisionslehre für die Melodielehre, aber auch die Notwendigkeit der Gattungslehre in diesem Rahmen trotz aller Widersprüche, die sich aus der expliziten Trennung von Stillehre und Gattungslehre ergeben (vgl. K RUMMACHER 1986, S. 89-91). Schon in Das Neu-Eröffnete Orchestre hatte Mattheson auf die Bedeutung von Periodizität hingewiesen. Quelle Johann Mattheson, Das Neu-Eröffnete Orchestre Hamburg 1713, S. 193
„[…] daß die Anzahl ihrer [der Menuette] Tacte 4. oder 8. in der ersten / und eben so viel in der andern Reprise seyn / oder doch wenigstens / bey gemachter Exception, (da sie anders zum Tantzen nicht unbrauchbar seyn sollen) keinen ungeraden Numerum der Täcte haben / auch bey nicht weniger als 4. zehlen müssen / welches Progressio Geometrica heisset / wie habilen Tantzmeistern bekandt.“
6.1 ,Tactordnung’ als Tonordnung
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Dieses Votum fällt zusammen mit der Formulierung des Popularitätsprinzips, durch das der Melodiebegriff des 18. und 19. Jahrhunderts verengt wurde; die Formulierung wagt Mattheson mit einer der ersten Regeln des Vollkommenen Capellmeisters: „Daß in allen Melodien etwas seyn muß, so fast iedermann bekannt ist“ (MATTHESON 1739, S. 140). Das „Bekannte“, in dessen Grenzen sich eine Melodie halten muss, um als Melodie rezipiert zu werden, ist das rhythmisch-harmonische Periodenschema, die „Quadratur der Tonsatzkonstruktion“, um einen Terminus Richard Wagners zu gebrauchen (vgl. ABRAHAM und DAHLHAUS 1982, S. 22–23). An dieses Schema, das das von Mattheson analysierte Beispiel prägt, ist die von ihm gebrauchte Terminologie jedoch nicht gebunden, wie ein Blick in die Erörterung erweist. Quelle Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister Hamburg 1739, S. 224
„Da ist nun ein gantzer melodischer Zusammensatz (Paragraphus) von 16 Täcten, aus welchen 48 werden, wenn man sie vollend zu Ende bringt. Dieser Zusammensatz bestehet aus zweien einfachen Sätzen, oder Periodis […]. Es befindet sich in diesem Paragrapho nicht nur ein Colon oder Glied; sondern auch ein Semicolon, oder halbes Glied: Die man bey ihren gewöhnlichen, unter die Noten gesetzten Zeichen erkennen kan. Man trifft ferner drey Commata an, daraus neun werden, und die mit dem bekannten Beistrichlein versehen sind. […] Der geometrische Verhalt ist hier, wie durchgehends bey allen guten Tantz-Melodien, 4, und hat so viele Kreutzein zum Abzeichen.“
Die grammatische Terminologie Matthesons bezieht sich primär nicht auf die metrische Ordnung, sondern auf die Sinngliederung – daher die „Unteilbarkeit“ der Takte 13 bis 16 (Mattheson unterscheidet schließlich nur drei „Commata“): Die Symmetrie ist für Mattheson weitaus entscheidender als der spätere Periodenbegriff. Die praktische Anwendung der Incisionslehre im Menuett repräsentiert die Melodielehre, der Mattheson sich zuvor sukzessive genähert hat (vgl. FEES 1991, S. 188–189) – als analytisches Instrument entwickelt aus der Auffassung einer syntaktischen Analogie von Sprache und Musik. Das Menuett als Ausgangspunkt einer Lehre von der Melodiebildung zu einer Zeit, in der vom Menuett als dem Inbegriff instrumentalen Komponierens noch längst nicht die Rede sein kann, zu bezeichnen (vgl. S TEINBECK 1973, S. 8), erscheint zwar übertrieben; die Anwendung der Incisionslehre auf ein konkretes kompositorisches Beispiel neben dem schon aufgrund seiner Textanbindung Probleme aufwerfenden Rezitativ erlaubt Mattheson aber zugleich eine Darstellung der Stichhaltigkeit seiner Lehre von den Einschnitten, die für die Melodielehre als besonders notwendig betrachtet wird. Die Feststellung, dass Mattheson mit der Analyse eines Menuetts im Rahmen der Gattungslehre in Der Vollkom-
Melodielehre
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6
Formbildung
mene Capellmeister als der Begründer der Formanalyse gewertet werden kann, trifft eher den Sachverhalt. „Wie nun in der gantzen Natur und allem erschaffenen Wesen kein eintziger Leib ohne Zergliederung recht erkannt werden mag; so will ich immer der erste seyn, der eine Melodie zerleget und untersuchet“ (M ATTHESON 1739, S. 224): Mit seiner Darstellung demonstriert Mattheson als erster Musikschriftsteller des 18. Jahrhunderts die Analyse der achttaktigen Periode. Dabei bezieht sich seine grammatische Terminologie primär nicht auf die „metrische“ Ordnung (wie die Gruppierung von 1+1, 2+2 und 4+4 Takte), sondern auf die Sinngliederung: Kriterium ist die relative Geschlossenheit oder Unselbständigkeit der musikalischen Gedanken; die „metrische Ordnung“ wird, prinzipiell unabhängig von der Sinngliederung, als „geometrischer Verhalt“ für sich betrachtet. Mattheson analysiert in diesem Zusammenhang ein Stück Musik, dem das musikalische Versprinzip – die „Quadratur“ – zugrunde liegt, mit Hilfe einer Terminologie, die von rhetorischer Prosa abstrahiert ist (vgl. DAHLHAUS 1984, S. 174–175). Das Gegenstück dieses neuartigen Analyseansatzes ist schließlich seine Analyse einer Arie Marcellos unter dem Aspekt der dispositio – die Übertragung von Begriffen der Rhetorik und ihrer Elemente auf ein Musikstück in der Art einer Folie. Dieser Teil, den Mattheson unverändert aus dem Kern melodischer Wissenschafft übernimmt, macht deutlich, dass die vorgeführte textlose Arie von Marcello mit dem Strukturmodell der Rede eher überfrachtet ist – Marcello habe „wol schwerlich an die 6 Theile einer Rede gedacht“, und es [würde] „gewißlich eine große Pedanterey seyn […], wenn einer die angeführten Theile alle, und in eben der Ordnung, bey ieder Melodie ängstlich suchen und anbringen wolte“ (M ATTHESON 1739, Vorrede, S. 25): Die „Klang-Rede“ wird somit zur Konsequenz der Melodielehre.
6.1.3 Die Incisionslehre bei Mattheson und Koch Die Erörterung der Incisionslehre steht bei Mattheson in Der vollkommene Capellmeister im Kontext seiner Erörterung von der Verfertigung einer Melodie – und hat damit eine zwar zentrale, aber dennoch dienende Aufgabe. Die Melodielehre Matthesons im Rahmen seiner musikpädagogischen Erörterungen spielt in der Rezeptionsgeschichte von Der vollkommene Capellmeister annähernd keine oder höchstens eine stark untergeordnete Rolle, nicht aber die Incisionslehre. Erste Spuren finden sich bei den bedeutendsten deutschsprachigen Musiktheoretikern noch des mittleren 18. Jahrhunderts: So zögert zum Beispiel Lorenz Christoph Mizler (1711–1778) in Die neu eröffnete Musikalische Bibiothek nicht, nach einer deutlichen Kritik an der Vorrede zu Der vollkommene Capellmeister bei der Besprechung des fünften Hauptstücks im zweiten Teil, „Von der Kunst eine gute Melodie zu machen“, die Originalität
6.1 ,Tactordnung’ als Tonordnung
der Gedankenführung voll und ganz anzuerkennen und zum neunten Hauptstück, „Von den Ab- und Einschnitten der Klang-Rede“ – also der Incisionslehre – zu bemerken: Quelle Lorenz Christoph Mizler, Musikalische Bibliothek, Bd. 2 Leipzig 1739, S. 242f.
„Ich komme hier auf ein so wichtiges Capitel, daß ich Herrn Mattheson viel Glück wegen seiner sehr guten Gedancken wünschen muß. Die Nachwelt ist ihm schon wegen seiner melodischen Regeln verbunden, und hier hat er wahrhafftig sich um solche nicht weniger verdienet gemachet. Er ist der erste, der mit gutem Erfolg an diese so nothwendige Lehre gedacht.“
Mizler äußert mit Bezug auf die genannte Stelle in einer Anmerkung seiner Übersetzung der Gradus ad Parnassum von Fux: Quelle Johann Joseph Fux, Gradus ad Parnassum, übersetzt von Lorenz Christoph Mizler, Leipzig 1742, S. 195
„Es wundert mich sehr, daß Hr. Mattheson in seinem Capellmeister p. 181 von den Ab- und Einschnitten der Klangrede vorgeben mögen: daß kein Mensch bisher die geringste Regel oder nur einigen Unterricht davon gegeben hätte. Ist denn Hr. Fux, der sein Buch vierzehn Jahr vor dem Capellmeister herausgegeben, kein Mensch? Ist das, was er hiervon hier vorgetragen, kein Unterricht? Wahrhafftig so gut als Hr. Mattheson sein Unterricht. Nur nicht so weitläufftig.“
Auch Fux spricht in dem betreffenden Abschnitt „De stylo rezitativo“ von den Einschnitten der Rede, wie Comma, Colon, Semicolon, Punctum, Frage, Verwunderungszeichen, Parenthesis, die in der musikalischen Gestaltung zu beachten seien (vgl. FEDERHOFER 1970, S. 114). Auch die Taktlehre Marpurgs zeigt sich von den Arbeiten Johann Matthesons (nicht nur von der Critica Musica, sondern auch und insbesondere von Der vollkommene Capellmeister und seiner Incisionslehre) beeinflusst (vgl. WALDURA 2000). Auch die Formtheorie von Heinrich Christoph Koch (1749–1816) ist noch rhetorischen Mustern verpflichtet – in der Ausgangsannahme, dass Tonstücke sich in Perioden und diese wiederum sich in Sätze bzw. Absätze gliedern. An den Sätzen werden drei Eigenschaften wahrgenommen, die zueinander in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen: Quelle Heinrich Christoph Koch, Musikalisches Lexikon Frankfurt am Main 1802, Sp. 13–14
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Formbildung „Bey dem Periodenbaue muß auf drey verschiedene Eigenschaften der Absätze Rücksicht genommen werden, nemlich 1) auf ihre Endigung, oder auf die Formel und auf die harmonische Grundlage, mit welcher sie schließen, das ist, auf ihre interpunktische Beschaffenheit; 2) auf den Umfang ihrer Takte, und auf die Aehnlichkeit ihres Metrums, das heißt, auf ihre rhythmische Beschaffenheit, und 3) auf den Umfang ihres Inhaltes, oder auf den Grad ihrer Vollständigkeit, den wir ihre logische Beschaffenheit nennen wollen.“
Nicht nur die terminologische Übereinstimmung zu Mattheson – die „interpunktische Beschaffenheit“ – verblüfft; auch die Definition der „Endigung“ verweist auf den Hamburger Vorgänger. Die ursprünglichen Interpunktionen werden von Koch gar zu „Ruhepuncten des Geistes“ überhöht: Quelle Heinrich Christoph Koch, Versuch einer Anleitung zur Composition, Bd. I Leipzig und Rudolstadt 1783, S. 342–343
„Vermittelst dieser mehr und weniger merklichen Ruhepuncte des Geistes lassen sich die Producte dieser schönen Künste in größere und kleinere Theile auflösen; durch die merklichsten derselben zerfällt z.B. die Rede in verschiedene Perioden, und durch die weniger merklichen zerfällt der Periode in einzelne Sätze und Redetheile; und eben so wie die Rede läßt sich vermittelst ähnlicher Ruhepuncte des Geistes die Melodie eines Tonstückes in Perioden, und diese wieder in einzelne Sätze und melodische Theile auflösen.“
Als „Periode“ bezeichnet Koch die Fügung mehrerer Sätze, die mit einer vollkommenen Kadenz abgeschlossen wird; Koch gebraucht im Versuch einer Anleitung zur Composition die maskuline Form „der Periode“. Quelle Heinrich Christoph Koch, Musikalisches Lexikon Frankfurt am Main 1802, Sp. 1149–1150
„[Die] Vereinigung verschiedener Sätze […], die an sich einen vollständigen Sinn bezeichnen, […] so wie sich in der Rede die Periode mit einem vollkommenen Ruhepunkte des Geistes endiget, den man in der Sprachschrift mit einem Punkte bezeichnet, eben so muß sich in der Musik die Periode mit dem vollkommensten Ruhepunkte des Geistes schließen, den man eine Kadenz nennet.“
Interpunktion bei Koch
Bezüglich der „interpunktischen Beschaffenheit“ unterscheidet Koch zwischen „Schlußsatz“, „Absatz“ – wie auch Riepel –, „Grundabsatz“ und „Quintabsatz“: Der „Schlußsatz“ ist ein melodisches Glied, das den höchsten Grad der Ruhe erreicht und nach welchem keine weiteren Glieder erwartet werden; ist der Grad der Ruhe weniger stark und werden noch ein oder mehrere Sätze erwartet, dann handelt es sich um einen „Absatz“; auch in der Dichotomie von „Absatz“ und „Schlußsatz“ (im Sinne von Vorder- und Nachsatz) folgt Koch
6.1 ,Tactordnung’ als Tonordnung
Riepel. Ein „Grundabsatz“ endet auf der Tonika, ein „Quint-“ oder auch „Änderungsabsatz“ auf der Dominante (vgl. WAGNER 1984 und RÄTZ 2005, S. 147–149). Primäres Kriterium der Formgliederung bilden damit die Unterschiede der Kadenzen – Grade der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit von Schlüssen (vgl. DAHLHAUS 1978b, S. 159). Die Korrelation von Punkt und Kadenz übernimmt Koch von Mattheson. Bei Koch taucht – gleichzeitig mit Forkel (1788, vgl. DAHLHAUS 1989b, S. 99) – der Begriff des Logischen auf: „Logische Beschaffenheit“ meint bei Koch das Verhältnis von Sinn und Inhalt, wobei unterschiedliche Grade an Komplexität teilhaben können am musikalischen Zusammenhang. Mit der Vorstellung, dass musikalische Formen aus verschiedenartigen Sätzen aufgebaut sind, die an sich schon eine vollständige Sinneinheit darstellen – Koch kennt sogar das später als „Phrasenverschränkung“ bezeichnete Phänomen der „Takterstickung“ – knüpft er überdeutlich an die Struktur von Sprache an und bemerkt, „daß die Theorie des Periodenbaues manchen Vortheil gewinnen würde, wenn man in jedem melodischen Satze die Haupt-Idee desselben und den ihr beygelegten Charakter, oder nach der Sprache der Logik, Subjekt und Prädikat, eben so bestimmt unterscheiden könnte, wie in dem Sprachsatze“. (KOCH 1802, S. 32). Für diese Differenzierung gilt die Interpretation von Carl Dahlhaus: „Die Akzentuierung der ‚interpunctischen Form‘, die Integration durch Abstufung der Endigungsformeln, erscheint als Konsequenz eines rhetorischen Formbegriffs, der das technische Korrelat zur ästhetischen Rechtfertigung der Instrumentalmusik als Abbild der Vokalmusik, als ‚KlangRede‘, darstellt“ (DAHLHAUS 1989a, S. 209). Formaufbau ergibt sich für Koch als musikalische Anlage in unterschiedlichen Varianten, in der Periodengliederung akzentuiert durch Kadenzen. Die Begriffe „Exposition“, „Durchführung“ oder „Reprise“ waren Koch fremd, der für spätere Formenlehren so wichtige Begriff der Wiederholung wird vernachlässigt (vgl. RÄTZ 2005, S. 149). Die Incisionslehre Matthesons knüpft unmittelbar an die Idee der sprachlichen Interpunktion an, indem Redeglieder und Distinktionen in die Musik übertragen werden: Mattheson interpunktiert die „Klang-Rede“ wie einen Text und gewinnt damit ein analytisches Instrument, mit dem er seine Auffassung der Musik als einer Klang-Rede vermitteln kann (vgl. FEES 1991, S. 197). Der Musik liegt so eine der Sprache vergleichbare Syntax zugrunde. Die Incisionen vermögen feine syntaktische Beziehungen zu bezeichnen, so die Zusammengehörigkeit melodischer Phrasen als Commata, motivische Korrespondenz als Semicola bzw. Cola, die kadenziell nicht ausgedrückt werden. Diese Sprachähnlichkeit gibt Koch in der Tradition Riepels auf – zugunsten einer praktikableren Theorie, die noch im 19. Jahrhundert wirksam sein wird: Die für Matthesons Incisionslehre noch maßgeblichen Begriffe erscheinen bei Koch nur noch im Rahmen der Topik; seine Begriffe wie Satz oder Periode werden in ihrer kategorialen Zusammengehörigkeit einzig aus der Qualität der
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Logik
„Klang-Rede“
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Formbildung
Kadenz abgeleitet. Der Formbegriff Kochs allerdings ist beschränkt auf Momente, die er jetzt „mechanisch“ (im Unterschied zu „poetisch“, zur Erfindung gehörend, vgl. DAHLHAUS 1989a, S. 212–213) nennen muss – und damit ist der bemerkenswerteste Unterschied zur Incisionslehre Matthesons (und auch Riepels) benannt (vgl. PETERSEN 2014).
6.2 Incisionen und Absätze: Der Kopfsatz von Haydns Streichquartett h-Moll Stichwort
Joseph Haydn Abb. 6.2 Joseph Haydn – Olgemälde von Thomas Hardy (1791)
Die musikalische Begabung des 1732 im heute niederösterreichischen Rohrau geborenen Franz Joseph Haydn wurde früh erkannt, er gelangte bereits im Alter von acht Jahren als Kapellensänger an den Wiener Stephansdom. Nach eigenem Bekunden gehörten sowohl Matthesons Der vollkommene Capellmeister auch Fux’ Gradus ad Parnassum zu den grundlegenden Quellen seiner musikalischen Bildung. Nach Jahren als Musiklehrer in Wien und als Musikdirektor des Grafen Karl von Morzin auf Schloss Dolní Lukavice bei Pilsen befand sich Haydn schließlich von 1761 bis 1790 im Dienst des wohlhabenden ungarischen Grafen Paul Anton Esterházy, nach dessen Tod seines Bruders Nikolaus. Schloss Esterháza galt Haydn nicht nur als Ort konzertierenden Arbeitens oder der privat ausgelebten fürstlichen Musizierbedürfnisse, sondern wurde auch zu Haydns Musizierlabor. Nach dem Tod des Fürsten Nikolaus im Jahr 1790 und der Entlassung sämtlicher Hofmusiker durch seinen desinteressierten Nachfolger brach Haydn zweimal (1791–1792 und 1794–1795) zu sehr erfolgreichen und einträglichen Konzertreisen nach England auf; er starb 1809 in Wien. Haydn komponierte Werke in allen Gattungen, darunter 104 Symphonien, über ein Dutzend Opern, Oratorien, Messen, Solokonzerte, Klaviermusik, Lieder und Kammermusik.
Haydn schuf zwischen 1759 und 1803 eine schier unübersehbare Folge von Werken für Streichquartett: Zwischen den fünf Jahren von 1768 bis 1772 komponierte Haydn drei Quartettsammlungen, nämlich op. 9, 17 und 20, und entwickelte mit ihnen das ältere Divertimento entscheidend weiter. Nach den sechs Quartetten op. 20 komponierte er allerdings für zehn Jahre, also bis op. 33, keinerlei Werke dieser Gattung; erklärbar ist diese Pause sicherlich mit der Beanspruchung Haydns bei über 50 Opern am Hof der Esterházys, davon fünf
6.2 Incisionen und Absätze: Der Kopfsatz von Haydns Streichquartett h-Moll
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aus eigener Feder. Tatsächlich ist die Entwicklung der Gattung über diese zehn Jahre währende Frist bemerkenswert – zumal schon die Zeitgenossen Haydns dessen Beiträge zur Gattung als „klassisch“ einschätzten. Stichwort
Streichquartett Seit Mitte des 18. Jahrhunderts ist das Streichquartett in der Besetzung aus zwei Violinen, Viola und Violoncello die wichtigste Gattung der Kammermusik. Es entwickelte sich aus der barocken Triosonate und dem Concerto grosso, aber auch aus dem Divertimento. Bereits Georg Philipp Telemann (1681–1767) oder Matthias Georg Monn (1717–1750) komponierten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts für zwei Violinen, Viola und Violoncello – eine Gattung, an die Joseph Haydn mit seinen Divertimenti op. 1 und op. 2 in derselben Besetzung anknüpfte. Haydn verwirft mit seinen ersten Beiträgen zur Gattung den Titel „Divertimento“: In den Quartetten op. 9 (1769/1770) macht Haydn die Viersätzigkeit zur Norm. Parallel komponiert Luigi Boccherini (1743–1805) bereits um 1761 in Mailand Werke für diese Besetzung. Die Bedeutung der Gattung für die Entwicklung musikalischer Stile ist auch unter satztechnischen Gesichtspunkten nicht zu überschätzen: Da in der Regel auf eine Continuo-Rolle des Violoncellos als Bass-Instrument, dem nun vermehrt solistische Aufgaben zukamen, verzichtet wurde, entwickelte sich zunehmend ein eigenständiger, gleichberechtigter vierstimmiger Satz und mit ihm ein eigenständiger klassischer Kontrapunkt.
Die sechs Quartette op. 33 entstanden 1781 und erschienen im April des Folgejahrs zunächst bei Haydns Wiener Verleger Artaria; ihre Reihenfolge wird in Folgeauflagen verändert, und eine spätere Widmung („Dediès au gran Duc de Russie“, vermutlich aus Anlass des Besuchs des russischen Großfürsten und späteren Zars Paul I. und seiner Gattin Maria Feodorowna in Wien) bringt ihnen den Beinamen „Russische Quartette“ ein – eine Illustration auf dem Titelblatt auch den Beinamen „Jungfernquartette“, schließlich „Gli Scherzi“, weil Haydn in dieser Sammlung erstmals die Menuettsätze als „Scherzo“ bezeichnete. Haydn komponierte in der Folge kontinuierlich weiter Beiträge zu dieser Gattung bis hin zum letzten, unvollendet gebliebenen Quartett op. 103 von 1803 – und zwar seit op. 33 immer auch mit Blick auf ihre Veröffentlichung: Ein neuer Dienstvertrag von 1779 hatte Haydn als Kapellmeister am Hof des Fürsten Esterházy ermöglicht, auch für andere Auftraggeber zu komponieren und selbst mithilfe der Verbreitung seiner Werke für zusätzliche Einnahmen zu sorgen. Das Angebot an Artaria erging bereits 1781, als Haydn erst vier der sechs Quartette fertiggestellt hatte; im Januar 1782 verkaufte Haydn die Sammlung auch an J. J. Hummel (mit Sitz in Berlin und Amsterdam). Mit dem Zyklus op. 33 etablierte Joseph Haydn im eigentlichen Sinn das klassische Streichquartett, das von da an kompositorisch als kammermusikalisches Paradigma galt; den Quartetten des Zyklus’ schrieb Haydn selbst in sei-
Die Quartette op. 33
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Formbildung
nen Briefen an Johann Caspar Lavater und Fürst Kraft Ernst zu Öttingen-Wallerstein vom 3. Dezember 1781 „eine gantz neu Besondere Art“ zu (H AYDN [1965], S. 106–107). Das „Neue“ besteht (unabhängig von der formalen und sprachlichen Individualität jedes einzelnen Quartetts) in der Errungenschaft thematischer Durchdringung: dass alle Stimmen einbezogen sind in das Geschehen und teilhaben an der thematisch-motivischen Arbeit, der Verarbeitung eines Themas und seiner motivischen Bestandteile (vgl. KÜHN 1998, S. 145, außerdem BANDUR 1988, S. 72–80). Anhand der formalen Anlage lässt sich eine Frühform der Sonatensatzform bei Haydn konzentriert darstellen; darüber hinaus wird das thematischmotivische Material einerseits in einer für die klassische Epoche repräsentativen formalen Gestalt präsentiert, andererseits in einer Art und Weise verarbeitet, die für motivisch-thematische Arbeit paradigmatisch zu nennen ist.
6.2.1 Varianten des Sonatensatzes Der Kopfsatz des Quartetts steht in h-Moll, beginnt aber in der Paralleltonart D-Dur – wobei h-Moll (mit dem Leitton ais ab Takt 3) recht früh signalisiert wird (das Violoncello beharrt allerdings auf dem a): Abb. 6.3 Haydn, Quartett h-Moll op. 33 Nr. 1 – 1. Satz, T. 1–4
Definitiv erreicht wird h-Moll erst in Takt 11; auf den Quintabsatz Takt 17 folgt jedoch völlig unerwartet wieder D-Dur. Abb. 6.4 Haydn, Quartett h-Moll op. 33 Nr. 1 – 1. Satz, T. 11–14
6.2 Incisionen und Absätze: Der Kopfsatz von Haydns Streichquartett h-Moll
Wenn das zuerst erklingende Material (T. 1ff.) auch „erstes“ Thema ist, dann tritt das zweite Thema (T. 11ff.) tonal als Hauptthema auf (vgl. FINSCHER 1974, S. 250). Plausibler erscheint folgende Deutung: Was anfangs als erstes Thema erscheint, wird – im harmonischen Tasten und motivischer Konzentration – zur Einleitung; das vermeintlich „zweite“ Thema ist tonal wie charakterlich das erste, und das vermutete „erste“ Thema enthüllt sich danach tonal wie charakterlich als das eigentlich zweite – in dem jetzt die Punktierungen des ersten nachklingen (T. 20f.) und Einlass finden (T. 22f.):
103 Thema?
Abb. 6.5 Haydn, Quartett h-Moll op. 33 Nr. 1 – 1. Satz, T. 18–21
Dass eine sonst übliche Vermittlung zwischen Haupt- und Seitensatztonart ausgespart bleibt, ist eine Folge der harmonischen Zwitterhaftigkeit am Beginn. Das formale Verwirrspiel (vergleichbar mit dem Umstand, dass im Quartett op. 33 Nr. 5 die Schlusskadenz den Kopfsatz eröffnet) macht die Problematik des Schematismus einer Sonatensatzform deutlich; und gerade das kaum entscheidbare Mehrdeutige macht den ästhetischen Reiz einer Sonate Haydns aus. Stichwort
Sonate Der Begriff erscheint bereits im 14. Jahrhundert als unspezifische Sammelbezeichnung und im 16. Jahrhundert als Terminus für kurze, meist instrumentale Kompositionen – auch in Opposition des mit dem Begriff verbundenen Verbs „sonare“ gegenüber dem für Vokalmusik gebräuchlichen „cantare“; gegen Ende des 16. Jahrhunderts benennt „Sonata“ eine selbständige Ensemblekomposition, erstmals belegt 1597 bei Giovanni Gabrieli und 1619 definiert von Michael Praetorius. Ist in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Begriff in der Stillehre ohne nähere Differenzierung vorausgesetzt, markiert er im frühen 18. Jahrhundert den Übergang zur Gattungstheorie – bei Sébastien de Brossard (1655–1730) in dessen Dictionnaire de musique als „sonata da chiesa“ und „sonata da camera“ und damit als zyklische Form, schließlich (mit der verbindlichen Festlegung auf drei oder vier Sätze) als Komposition mit solistischer oder geringer Besetzung (vgl. HINRICHSEN 1998). Von übergeordneter Bedeutung im 17. und frühen 18. Jahrhundert ist die Triosonate für zwei obligate Soloinstrumente und Basso continuo; die einsätzigen Sonaten für ein Tasteninstrument bei Domenico Scarlatti (1685–1757) nimmt auch
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Formbildung gegenüber der deutschen und französischen Produktion – die regelhaft mehrsätzig ist – eine Sonderrolle ein. Spätestens mit dem zeitgenössisch vielbeachteten Schaffen der Söhne Johann Sebastian Bachs, Wilhelm Friedemann (1710–1784), Carl Philipp Emanuel (1714–1788) und Johann Christian Bach (1735–1782), verändern sich sowohl der kompositorische Ansatz als auch die Besetzungspraxis: Im kammermusikalischen Bereich werden solistische Sonatenkonzeptionen in mehrsätziger Folge ebenso Norm wie Duo- und Triosonaten vergleichbaren Zuschnitts; eine besondere Rolle spielen im letzten Jahrhundertdrittel Streichquartettkompositionen. Die Symphonie wird zur Sonate für Orchester – und auch Konzertsatzkonzeptionen übernehmen Züge der Sonatenkomposition.
Durchführung
Reprise
Beide Themen lassen sich periodisch in (2 + 2) + (2 + 1) (T. 11ff.) bzw. (2 + 2) + (2 + 2 + 2) (T. 18ff.) Takte gliedern; eine Einreihung in die Schemata „Satz“ / „Periode“ erscheint unangebracht, die Gliederung in Vorder- und Nachsatz aber ist offenbar. Eine Schlussgruppe, die motivisch-thematisches Material beider Themen verarbeitet, lässt sich ab Takt 28 ausmachen. Die Durchführung ist zweiteilig: Auf den ersten Teil Takt 38–49 (e-Moll und fis-Moll) zielt der zweite (T. 50–71), ausgehend von A-Dur, auf die Dominantstufe Fis-Dur der Haupttonart. Im ersten Durchführungsteil wird ausschließlich thematisch-motivisches Material des zweiten Themas (T. 38f.) und der Schlussgruppe verarbeitet; tonales Zentrum ist e-Moll. Haydn wiederholt den schon in der Exposition angewandten Kunstgriff, an den Halbschluss (hier T. 49) unvermittelt die Paralleltonart (hier A-Dur, T. 50) zu knüpfen. Der zweite Durchführungsteil, dessen motivisch-thematisches Material ausschließlich aus dem zweiten Thema besteht, mündet in eine Scheinreprise des Satzanfangs (T. 59ff.) nach einem deutlichen Quintabsatz; Takt 59 bis 64 entsprechen Takt 1 bis 6, der Übergang zur Reprise macht aber noch deutlicher, dass das Thema Takt 11ff. bzw. Takt 72ff. wirklich das „Haupt“-Thema ist. In der Reprise (vgl. BANDUR 2002) fehlt das zweite Thema völlig, dafür setzt Haydn an den ersten Teil des Nachsatzes Takt 76/77 (entspricht T. 15/16) eine knappe Fugato-Verarbeitung des erstenThemas – eine Verknüpfung von „gelahrtem“ und „galantem“ Stil (vgl. FINSCHER 2002). An diese „nachgeholte“ Durchführung des erstenThemas fügt sich nahtlos die Reprise der Schlussgruppe. Ein Sonatensatz um 1760 lässt sich kaum mit den Begriffen der Sonatensatzform des mittleren 19. Jahrhunderts, etwa denjenigen von Adolph Bernhard Marx, erklären – „die“ Sonatenform gibt es nicht, sondern sie liegt vielmehr in verschiedenen Formen und Varianten vor (vgl. R OSEN 1980). Die Auseinandersetzung mit Sonatensatztypen der Klassik, etwa den meist monothematischen Sonatensätzen der Quartette von Haydn in Moll (so etwa im zweiten Satz des Streichquartetts op. 55 Nr. 2), erweist die Vielfalt der kompositorischen Ansätze des Komponisten. Der Kopfsatz des h-Moll-Streichquartetts op. 64 Nr. 2 kann vor diesem Hintergrund als ironisches Selbstzitat ver-
6.2 Incisionen und Absätze: Der Kopfsatz von Haydns Streichquartett h-Moll
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standen werden – aber auch das h-Moll-Quartett op. 33 Nr. 1 ist nicht nur in Hinsicht auf die Exposition seines Kopfsatzes bzw. den weiteren, oben skizzierten Verlauf von großem analytischen Interesse: Auch und gerade das Scherzo ermöglicht Rückschlüsse auf Haydns kompositorische Intentionen.
6.2.2 Incisionen – galant und gelehrt Der Beginn der Komposition ist ein „Manifest“ (ROSEN 1983, S. 127) – festgemacht allein an der Frage nach den Rollen von Haupt- und Nebenstimme: Das Violoncello präsentiert in Takt 3 ein Motiv, das von den anderen Stimmen übernommen und schließlich ab Takt 4 zur Hauptstimme wird; dabei stammt es ursprünglich aus der Anfangsphrase der Oberstimmen. Die gesamte Szene ist aber weder kadenziell noch durch Incisionen in der Art der zeitgenössischen Theorie recht unterteilbar: Haydn erfindet hier den klassischen Kontrapunkt (vgl. ROSEN 1983, S. 128) – in der Bekräftigung der Unterscheidung von Melodie und Begleitung, aber auch der gleichzeitigen Eröffnung ihrer vollkommenen Verwandlung (vgl. auch FINSCHER 2002, S. 641–645). Diese Beobachtung ist auch in anderen Passagen der Komposition möglich. In der Reprise übernimmt ab Takt 63 die einfache, zweitönige Begleitfigur des Beginns die Oberhand – und verursacht den eigentlichen Höhepunkt unmittelbar nach dem Beginn der Reprise (vgl. ROSEN 1983, S. 128–130):
Abb. 6.6 Haydn, Quartett h-Moll op. 33 Nr. 1 – 1. Satz, T. 63–71
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Formbildung
Mit op. 33 beginnt eine engere Beziehung zwischen der Großform der Komposition und ihren Details – hier festgemacht an motivischen Elementen, die jenseits einer im Vergleich zu op. 20 sonst viel regelmäßigeren Periodik die formale Funktionaliät dominieren. Diese Beziehung ist mehr als die vielbeschworene „thematische Arbeit“, die für gewöhnlich für die Wiener Klassiker reklamiert wird (vgl. KLAUK und KLEINERTZ 2017, S. 577–578): Es geht um die Dichte der musikalischen Elemente und ihren Beziehungsreichtum, kompositionsgeschichtlich damit um ein zentrales Merkmal für den galanten Stil im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Stichwort
galanter Stil Bereits im Frankreich des 17. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff „galant homme“ einen Menschen mit vornehmer Lebensart, kultivierter Rede sowie Geschmack und Urteil in den Künsten: Mit der „galante conduite“ wiederum wird ein Verhaltens- und Kommunikationsideal, das „galante“ Benehmen beschrieben, etwa in Voltaires betreffenden Artikeln in der Encyclopédie von 1765. In der Musiktheorie findet sich der Begriff recht früh – so richtet Mattheson sein im Jahr 1713 erschienenes Neu-Eröffnetes Orchestre direkt an den galant homme: „Das neu-eröffnete Orchestre, oder Universelle und gründliche Anleitung wie ein Galant homme einen vollkommenen Begriff von der Hoheit und Würde der edlen Music erlangen […] möge“ (MATTHESON 1713, Titelei). Den Begriff eines „galanten stylos“ erwähnt Mattheson in seiner letzten OrchestreSchrift, dem Forschenden Orchestre (MATTHESON 1721, S. 352), und verweist auf eine ganze Reihe italienischer Zeitgenossen als Vertreter, außerdem Händel, Keiser und Telemann (MATTHESON 1721, S. 276). Entsprechend ist der Begriff „galant“ kompositionstechnisch schwer zu definieren: „Es handelt sich nicht um eine Satztechnik, die durch eine Schilderung ihrer kompositionstechnischen Voraussetzungen und Konsequenzen erklärbar ist, sondern um einen Komplex ästhetischer Kriterien.“ (DAHLHAUS 1985, S. 2).
Der Begriff behält auch nach 1750 eine wichtige Rolle in der Literatur, erfährt allerdings eine entscheidende Umwertung: Es geht nicht mehr um die Notwendigkeit, einen eigenständigen Stil gegenüber der Musik der letzten Jahrhunderthälfte zu profilieren – oder gar eine Querverbindung herzustellen zu einem gesellschaftlich anerkannten Wohlverhalten. Es geht seit der Jahrhundertmitte vielmehr um die Gegenüberstellung des Begriffs „galanter Stil“, synonym verwendet mit „freier Stil“, mit dem „gelehrten“, strengen Stil – der gleichwohl seine Wurzeln in der Musik der ersten Jahrhunderthälfte findet. Daniel Gottlob Türk (1750–1813) formuliert seine Definition 1789 bereits als resümierenden Rückblick:
6.2 Incisionen und Absätze: Der Kopfsatz von Haydns Streichquartett h-Moll
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Quelle Daniel Gottlob Türk, Anweisung zum Generalbaßspielen Halle 1789 (4. Auflage, ca. 1820), S. 69–70
„Die Schreibart theilt man in die strenge (schwere, gebundene, gearbeitete) und in die freye (galante, leichte). […] In der freyen (galanten) Schreibart befolgt der Tonsetzer die grammatischen Regeln nichtimmer so strenge. Er läßt z.B. gewisse Dissonanzen unvorbereitet eintreten; er verlegt die Auflösung derselben in andere Stimmen, oder übergeht sie ganz; er giebt den Dissonanzen eine längere Dauer, als den Konsonanzen […] er schweift außerdem in Ansehung der Modulation aus; er erlaubt sich mancherley Verzierungen; mischt mehrere durchgehende Töne ein; kurz, er arbeitet mehr für das Ohr, und tritt – wenn ich so sagen darf – weniger als gelehrt scheinender Tonsetzer auf.“
Die kompositionstechnischen Konsequenzen dieser Gegenüberstellung sind die Zelle, aus der sich der ausgereifte Stil der Wiener Klassik entwickeln sollte (vgl. SHELDON 1975). Wolfgang Amadé Mozart nahm sich 1773 die Quartette op. 20 von Haydn zum Vorbild: Die Quartette KV 168–173 des Siebzehnjährigen weisen viele formale Übereinstimmungen zu den Vorbildern Haydns auf (vgl. dazu K LAUK und KLEINERTZ 2017). Stichwort
Wolfgang Amadé Mozart Sein Name ist ein Synonym für klassische Musik – sowohl normativ als auch funktional –, und da er trotz seines kurzen Lebens ein umfangreiches Œuvre in nahezu allen musikalischen Gattungen hinterlassen hat, wurde sein Werk schon früh zum Maßstab des Komponierens. Geboren 1756 in Salzburg als Sohn des Salzburger „Hofund Kammer-Componisten“ und Vizekapellmeisters Leopold Mozart (1719–1787) wurde sein musikalisches Talent früh erkannt und gefördert; erste Kompositionen Mozarts datieren aus dem Jahr 1761 (vgl. KAISER 2007a). Erste Konzertreisen gemeinsam mit seiner Schwester Maria Anna, genannt „Nannerl“ (1751–1829), führten ihn bereits im Alter von sieben Jahren an die deutschen und westeuropäischen Höfe; die italienische Oper lernte Mozart in London bei Johann Christian Bach kennen. Sein erstes Musiktheaterstück entstand als Schuloper, das SingspielBastien und Bastienne KV 50 sowie die Opera buffa La finta semplice KV 51 im Jahr 1768. Mozart studierte ab 1770 bei Padre Giovanni Battista Martini (1706–1784) an der Accademia Filarmonica di Bologna und kehrte 1771 nach Salzburg zurück, um dort im Folgejahr eine Stelle als Konzertmeister der Hofkapelle anzunehmen – eine Stelle, die Mozart bis zu einem Entlassungsgesuch 1777 wahrnahm, um zunächst freischaffend zu arbeiten und 1779 als Hoforganist zurückzukehren. 1781 ließ Mozart sich in Wien nieder und arbeitete unabhängig – stets auf der Suche nach Auftraggebern und Schülern; er gab zahlreiche Subskriptionskonzerte und schrieb unter anderem auch „auf Vorrat“. Zu seinen größten Erfolgen zu Lebzeiten gehören die drei Da-Ponte-Opern, außerdem Die Zauberflöte KV 620 (1790). Mozart starb 1791 nach einer schweren Erkrankung und wurde in einem Sammelgrab beigesetzt (Näheres zur Vita vgl. KONRAD 2005).
Mozarts „Haydn-Quartette“
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Formbildung
Die Beziehung zwischen den Opera der beiden wichtigsten Komponisten der „Wiener Klassik“ nimmt mit der nächsten Sammlung Mozarts noch unmittelbarere Formen an: Die sechs zwischen 1782 und 1785 entstehenden Quartette – gemeinhin die „Haydn-Quartette“ genannt – nehmen in einer Widmung ausdrücklich Bezug auf den von Mozart verehrten Haydn und sind als unmittelbare kompositorische Reaktion auf dessen op. 33 zu verstehen. Haydns Quartette sind damit zu „klassischen“ Kompositionen geworden – nicht als „verklärtes Objekt einer vergangenen Periode“ (B ERGER 2001, S. 133), sondern als Muster, als Ansporn für die Nachahmung, das „in irgendeiner nachahmungswürdigen Eigenschaft noch nicht übertroffen“ worden ist (SCHLEGEL [1967], S. 80; vgl. BERGER 2001, S. 133). Wissens-Check
– Wie begründet sich ein funktionaler Klassik-Begriff? – Wie unterscheidet Mattheson ,Comma’ und ,Semicolon’? – Welche Spuren der Incisionslehre Matthesons finden sich bei den Theoretikern der nachfolgenden Generation? – Was ist „neu“ in den Quartetten op. 33 von Joseph Haydn? – Wie kann man den Begriff „ galant“ kompositionstechnisch definieren?
Literaturhinweise BANDUR, Markus (1988): Form und Gehalt in den Streichquartetten Joseph Haydns. Studien zur Theorie der Sonatenform, Pfaffenweiler (= Musikwissenschaftliche Studien Bd. 7). Eine Studie, die die besonderen kompositorischen Wege Haydns in Hinsicht auf die formale Gestaltung neu einschätzen lässt. DIERGARTEN, Felix (2012): „Jedem Ohre klingend“. Formprinzipien in Haydns Sinfonieexpositionen, Laaber. Unter Berücksichtigung sowohl der Formtheorien insbesondere des frühen 19. Jahrhunderts als auch der US-amerikanischen Formtheorien der letzten Jahrzehnte entwickelt Diergarten analytische Ansätze für Haydns symphonisches Schaffen; dabei bezieht er auch soziologische und ästhetische Perspektiven in seine Betrachtung ein. KRUMMACHER, Friedhelm (2005): Geschichte des Streichquartetts, Laaber (drei Bände). Von Haydn – dem bezeichnenderweise das erste Kapitel gewidmet ist – ausgehend, entfaltet der Autor das opulente Bild einer der zentralen Gattungen für die Musik des 19. und 20. Jahrhunderts. ROSEN, Charles (1983): Der klassische Stil. Haydn, Mozart, Beethoven, München und Kassel; Originalausgabe: The Classical Style. Haydn, Mozart, Beethoven, New York 1971, 2. Aufl. 1976. Rosen gelingt mit kurzen, prägnanten Analysen ein umfassendes, wenn auch nicht mehr unumstrittenes Bild der Musik der Wiener Klassik. STEINER, Felix Gabriel (2016): Heinrich Christoph Kochs Versuch einer Anleitung zur Composition im Spiegel der zeitgenössischen Kompositionslehren, Mainz: Die konzise Darstellung der Lehre Kochs im Vergleich mit seinen Zeitgenossen bietet eine Reihe von – zum Teil bislang unbeachteten – Perspektiven zur Analyse der Musik des späten 18. Jahrhunderts.
7 Sonate und Konzert Überblick
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ie Musik am Ende des 18. Jahrhunderts ist einerseits geprägt von der Bewahrung und Weiterentwicklung der musikalischen Gattungen der Vergangenheit; so sinddie Opern Wolfgang Amadé Mozarts auf die Libretti Lorenzo DaPontes– LeNozze diFigaro (1786), Don Giovanni (1787) und Così fan Tutte (1790) – noch immer sowohl deutlich von der französischen ‚Tragédie enmusique’ als auchvon den Innovationen der italienischen Opera buffa geprägt (vgl. METZGER 1991). Vergleichbares gilt für die geistliche Musik beider Konfessionen (vgl. WERBECK 2012). Andererseits bestimmen mit Sonate und Konzert gänzlich andere, nunmehr instrumentale Gattungen das sich grundsätzlich neu entwickelnde Konzertleben. Zwischen 1730 und 1750 löst sich die Vorstellungswelt des 17. Jahrhunderts wie auch der ersten Jahrhunderthälfte auf. Der epochale Umbruch um 1740 äußert sich am tiefgreifendsten in der Ablehnung der rationalen Fundamentlehre, in der Entmachtung der Mathematik. Sie wird zwar nicht sogleich verworfen, doch tritt eine Degradierung und Veräußerlichung der Mathematik ein (vgl. DAMMANN 1984, S. 477). Mit der Mathematik geht der zentrale Begriff der Ordnung verloren; gleichzeitig ändert sich das Verhältnis zum Affektbegriff. Als neues, ästhetisches Regulativ tritt an die Stelle der Mathematik der Geschmack: Das Verhältnis von Komponist und Werk ändert sich auffallend dahingehend, dass das barocke Distanzverhältnis des Komponisten zur „materia“ der Musik nahezu verschwunden ist (vgl. PETERSEN 2002, S. 271–272).
Die Vorbereitung dieses Wandels ist die vorübergehende Abkehr von der Einheit des Affekts, der die Musik der ersten Jahrhunderthälfte noch bestimmte – etwa bei den Söhnen Johann Sebastian Bachs, die (wenngleich auf unterschiedlichen Ebenen) für die Komponisten der Wiener Klassik zu Richtungsweisern wurden. Erst mit der Musik Mozarts oder Haydns kommt es zu einer Verbindung der auch für Johann Mattheson noch getrennten Bereiche des „galanten“ und des „gelehrten“ Komponierens. Entsprechend zeugen die theoretischen Schriften der Zeit von dieser Neuorientierung. So dokumentieren Joseph Riepels Grundregeln zur Tonordnung insgemein (1755) auf der Basis des zeitgenössischen Musikschaffens zur Mitte des 18. Jahrhunderts Vermittlungstraditionen durch die Jahrhunderte, vor allem aber den Wandel der musikalischen Sprache – und den Wandel in der Deutung von musikalischen Strukturen sowie im Umgang mit den aus ihnen geschaffenen Werken. Das Klavierkonzert B-Dur op. 19 von Ludwig van Beethoven (1795) kann als Dokument dieses Wandels gelten, zumal der Komponist in diesem Werk die satztechnischen Merkmale seiner unmittelbaren Gattungsvorbilder – vor allem Wolfgang Amadé Mozarts – in großem Umfang berücksichtigt; der Kopfsatz des Werks ist ohne Weiteres in Einklang zu bringen mit Analyseansätzen zeitgenössischer Theoretiker, zeugt aber auch von einem sowohl satztechnisch als auch musiksoziologisch grundsätzlich veränderten Gattungsverständnis.
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Sonate und Konzert
7.1 Joseph Riepels Tonordnung und der Wandel der musikalischen Sprache eine Übergangsphase
Jede Periode in der (Musik-)Geschichte stellt eine Übergangsphase dar. Die Jahre zwischen 1755 und 1775 sind allerdings mit besonderem Recht als Übergangsperiode zu bezeichnen (vgl. ROSEN 1983, S. 45–52): Ist noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts von einer Einheit der Affekte innerhalb der Komposition bis in ihre einzelnen Abschnitte und Sätze auszugehen, treffen in der Übergangsperiode Extreme aufeinander, die erst mit der Ausformung eines klassischen Stils als Gruppenstil im Sinne einer Glättung von Expressivität einerseits und konstruktiver Haltung als formgebende Maßnahme andererseits ausgeglichen werden können (ROSEN 1983, S. 52–54). Gleichzeitig findet in dieser Zeit im Bereich der Instrumentalmusik eine deutliche Differenzierung der sozialen Zielorientierung von Musik statt. Die klare Disposition von Werken für die Öffentlichkeit macht deutlich, dass eine stilistische Unterscheidung von Kammermusik und Orchestermusik auch in der Besetzung manifest wird: Ist für die erste Jahrhunderthälfte noch nahezu ausschließlich Kirchen- oder Opernmusik für die öffentliche Darbietung vorgesehen, ist für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Geschichte des öffentlichen Konzerts greifbar – aber auch parallel der Aufstieg des Musikliebhaberwesens, das für das 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle spielen sollte. Die Sonate, die Sinfonie oder das Konzert sind greifbare Zeugen der Gattungsgeschichte für diesen Wandel. Der Unterschied etwa zwischen der „Sinfonia“ einer Oper zu Beginn des Jahrhunderts und einer Sinfonie um 1750 ist erheblich und bietet funktionale, soziologische und kompositionstechnische Differenzierungsansätze (vgl. WAGNER 1994, S. 68–69) – und findet seinen Niederschlag in den musiktheoretischen Schriften der Zeit. Die spätere Sonatentheorie tritt dabei oft verstörend normativ auf; am ehesten wird sie den Werken gerecht, die Beethoven in enger Anlehnung an die Muster Haydns und Mozarts komponierte (vgl. ROSEN 1983, S. 32–34). Joseph Riepel stellt bereits 1752 fest, dass die „concertmäßige Tonordnung“ als Grundkonzept präsent bleibt.
Stichwort
Joseph Riepel Der in Oberösterreich geborene Joseph Riepel (1709–1782) war bereits als junger Kammerdiener ein auffällig guter Geiger, erhielt aber seine eigentliche Ausbildung zwischen 1739 und 1745 in Dresden bei Jan Dismas Zelenka und Johann Georg Pisendel. 1749 wurde er Kapellmeister am Hof der Fürsten von Thurn und Taxis in Regensburg. Riepels dort entstandene Schriften bilden eine wichtige Grundlage für die Kompositionslehre des späten 18. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt seiner publizistischen Tätigkeit stand die Arbeit an dem mehrbändigen Werk Anfangs-
7.1 Joseph Riepels Tonordnung und der Wandel der musikalischen Sprache
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gründe zur musicalischen Setzkunst, das er durch weitere „Capitel“ immer wieder ergänzte; die hier in Rede stehenden Grundregeln zur Tonordnung insgemein sind ein solches „Capitel“. Fünf dieser „Capitel“ konnte Riepel zu Lebzeiten zwischen 1752 und 1768 veröffentlichen, zwei weitere Capitel wurden von seinem Schüler Johann Caspar Schubarth in einem Band posthum herausgegeben; drei weitere Capitel sind lediglich als Manuskript überliefert. Riepel verwendet durchgehend – und vermutlich nach dem Vorbild der Gradus ad Parnassum von Johann Joseph Fux (vgl. WIENER 2003) – die Dialogform für seine musiktheoretischen Lehrwerke: „Praeceptor“ und „Discantista“, also Lehrer und Chorknabe, pflegen bei Riepel einen humoristischen, von vielen Abschweifungen geprägten Dialog über Musiktheorie, Aufführungspraxis, Ästhetik, Gott und die Welt.
Joseph Riepels Terminologie erinnert gelegentlich an Mattheson (vgl. FEES 1991, S. 193–194) – wobei die Periode als solche von Riepel nicht benannt, aber über Mattheson hinausreichend beschrieben und formalisiert wird. Riepel hebt auf das geradzahlige Fortschreiten von Taktgruppierungen ab: „Denn 4, 8, 16, und wohl auch 32. Täcte sind diejenigen, welche unserer Natur dergestalt eingepflanzet, daß es uns schwer scheinet, eine andere Ordnung (mit Vergnügen) anzuhören“ (RIEPEL 1752, S. 23). Die Theorie der „Tactordnung“ Riepels weist bereits auch in der Formenlehre des 20. Jahrhunderts gebräuchliche Termini auf; in der „Tonordnung“ geht es darüber hinaus um Schlussformeln und ihr Gewicht, aber auch um Modulationswege. Syntaktische Begriffe Riepels wie „Einschnitt“, „Vierer“ oder auch „Fünfer“ finden sich später systematisiert bei Heinrich Christoph Koch. Leopold Mozart empfahl seinem Sohn Wolfgang Amadé die Auseinandersetzung mit „Riepl“, und über seinen Lehrer Christian Gottlob Neefe wurde auch Ludwig van Beethoven mit der Lehre Riepels vertraut (EMMERIG 1984; vgl. KAISER 2007b). Riepel unterscheidet zwischen drei verschiedenen musikalischen Interpunktionsarten: „Einschnitt“, „Absatz“ und „Cadenz“. Der letztgenannte Begriff wird dabei für satztechnisch relativ eindeutige Formulierungen verwendet, während dagegen Einschnitte und Absätze weniger klar definiert bleiben (vgl. KAISER 2007b): Im ersten Capitel werden von Riepel aus methodischen Gründen Zweitakter noch als „Absätze“ bezeichnet, im zweiten Capitel wird der Begriff des „Einschnitts“ für die Mittelzäsur eines Viertakters eingeführt. Riepels einstimmige Beispiele erschweren dabei eine genauere Bestimmung der Termini, die unter Hinzuziehung harmonischer Konzeptionen sich vereinfachen lässt. Ein besonderes Gewicht erhalten für Riepel dabei die erste und fünfte Tonleiterstufe der Ausgangstonart: Auf beiden harmonischen Ebenen können Einschnitte, Absätze („Grundabsatz“ oder „Aenderungsabsatz“) oder „Cadenzen“ („Grundcadenz“ oder „Aenderungscadenz“) stattfinden (vgl. KAISER 2007b). Von besonderer Bedeutung für die Gestaltung von Formen sowohl in der Theorie Riepels als auch in ihrer Rezeption sind drei grundlegende Fortführungsmuster. Riepel beschreibt sie im zweiten „Capitel“:
Tactordnung
Interpunktion
Monte, Fonte, Ponte
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Sonate und Konzert Quelle Joseph Riepel, Grundregeln zur Tonordnung insgemein, Frankfurt am Main und Leipzig 1755 (vgl. RIEPEL 1996, S. 103–237), S. 44.
„Nun diese dreyerley Exempel mußt du dir merken, so lang du lebst und gesund bist. Das erste, wobey Monte stehet, fängt nach der [….] Cadenz in G, mit einem Schusterfleck an, welcher aber doch ein wenig varirt ist. Das zweyte (Fonte) macht nach besagter Cadenz einen Einschnitt in D Terz minor, um hiedurch eine Stuffe tieffer wieder einen Grundabsatz, nämlich in C als dem Haupttone, zu formiren, und glücklich wieder nach Hause […] zu kommen. Das dritte (Ponte) hebt nach mehrbemeldter Cadenz glatterdings wieder in G an, um […] zurücke zu kehren.«
Die drei Grundformen, die Riepel mit den Begriffen „Fonte“, „Monte“ und „Ponte“ als konstitutiv für die Gestaltung des B-Teils von Menuetten darstellt, werden von ihm nicht ausführlich bzw. weniger als Satzmodell, sondern vielmehr auch im Kontext der „Interpunction“, also der periodischen Syntaxlehre erläutert; sein Verzicht ist zu erklären mit dem Umstand, dass die Termini sich einer ähnlich starken Verbreitung erfreuen wie die mit ihnen verbundene Satztechnik (PETERSEN 2018, S. 33; vgl. die Diskussion bei GJERDINGEN 2007, S. 89–106). Die grundstellige „Monte“-Form besteht streng genommen aus Quintfällen, die sekundweise steigend versetzt werden und ist aus der synkopierten 5-6-Konsekutive herzuleiten (vgl. MOßBURGER 2012, S. 809 und 834–838): Abb. 7.1 Erscheinungsformen der „Monte“-Formulierung nach Riepel
Bei der Umkehrung der Bewegungsrichtung nach unten entsteht die ganztönig-reale Quartfallsequenz, die im 19. Jahrhundert eine Rolle spielt (vgl. LEWANDOWSKI 2010): Abb. 7.2 Erscheinungsformen der ganztönig-realen Quartfallsequenz
7.2 Ritornell und Sonate: Der Kopfsatz von Beethovens Konzert op. 19
Zum konstitutiven Baustein der Periode erklärt Riepel die Viertaktgruppe, die bei ihm neutral „Absatz“ heißt (RIEPEL 1755, S. 36) – ein betreffender Melodieabschnitt oder dessen Schlusstakt. Die Beziehung zwischen Vorder- und Nachsatz (bei Riepel „Grund- und Änderungssatz“) kleidet er in das Sprachbild von Frage und Antwort und macht die engen Beziehungen auch zur musikalischen Rhetorik etwa Matthesons deutlich. Auch die Zweitaktgruppe wird von Riepel in Analogie zur Sprache als kleinste syntaktische Einheit, als „Einschnitt“, bezeichnet. „Einschnitt“ und „Absatz“ sind bewusst der Interpunktion entlehnt: „Absatz – Anmerkung: Comma, gleich einem Absatz in Lesung der Schriften“ (RIEPEL 1752, S. 18); „[…] welcher von ihnen [den Alten] Caesura (Ab- oder Einschnitt) genennet werde.“ (R IEPEL 1752, S. 49, Anmerkung). Riepels Lehre von den „Absätzen“ reiht sich ein in die barocke Tradition des Vergleichs von Sprache und Musik. Bei Matthesons Incisionen handelt es sich um syntaktische Kategorien, die vielfache konkrete Gestalten annehmen können – so vermag ein „Comma“ bei Mattheson nur einen oder eben zehn Takte zu umfassen. Riepels Begriffe „Einschnitt“ und „Absatz“ hingegen sind bereits exakte Größen und damit zukunftsträchtige Formbegriffe.
7.2 Ritornell und Sonate: Der Kopfsatz von Beethovens Konzert op. 19 Die fünf Konzerte für Klavier und Orchester von Ludwig van Beethoven sind Institutionen des Konzertrepertoires: Sie gehören zu den meistaufgeführten Werken und den bekanntesten Kompositionen des Komponisten, aber auch zu den berühmtesten Beispielen der Gattung Konzert und sind beispielhaft für die Entwicklung des Komponisten von seiner Bonner Zeit bis in die Jahre seiner großen Wiener Akademien. Stichwort
Ludwig van Beethoven Der 1770 in Bonn geborene Ludwig van Beethoven entstammt einer Musikerfamilie – schon der Großvater, der ebenfalls Ludwig hieß (1712–1773), war Hofkapellmeister in Bonn. Beethoven gab bereits im Alter von sieben Jahren sein erstes öffentliches Konzert und veröffentlichte mit zwölf Jahren erste eigene Kompositionen. Neben seinem Vater Johann (1740–1792) gehörte der Bonner Hoforganist Christian Gottlob Neefe (1748–1798) zu den ersten und prägenden Lehrern Beethovens. Nach Studien an der Bonner Universität verließ er 1792 Bonn und zog nach Wien, um zunächst bei Joseph Haydn, später auch bei Johann Georg Albrechtsberger (1736–1809) und Antonio Salieri (1750–1825) zu studieren. Beethoven sollte bis an sein Lebensende bleiben. An die Wiener Öffentlichkeit trat er erstmals am 29. März 1795 mit dem Klavierkonzert B-Dur op. 19. Unterstützt von höheren Adelskreisen – darunter Fürst Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz,
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Sonate und Konzert Gottfried Freiherr van Swieten und Fürst Karl Lichnowsky – lebte er vom Unterricht und vom Verkauf der Noten seiner Werke. Seine einzige Oper Leonore, später umgearbeitet zu Fidelio, fiel 1805 zunächst durch. Zu einem großen Problem entwickelte sich ein Gehörleiden, das bereits im Alter von 27 Jahren einsetzte, seiner Karriere als Pianist ein vorzeitiges Ende setzte und zu seiner völligen Ertaubung mit 48 Jahren führte; die schwere Schaffenskrise markiert das „Heiligenstädter Testament“ von 1802. Am 26. März 1827 starb Beethoven im Alter von 56 Jahren nach langer Krankheit. Eine erste Phase Beethovens steht noch stark unter dem Einfluss der Werke Mozarts und vor allem Haydns; um 1803 koppelt sich Beethoven vom Zeitgeschmack weitgehend ab – allerdings nicht ohne Publikumserfolge; sein Spätwerk (zum Teil entstanden, als sein Komponist bereits vollkommen ertaubt war) bereitet der Musik seiner Nachfolger den Weg. Aus seinem umfangreichen Werk sind die neun Sinfonien zu nennen, an denen sich sinfonische Kompositionen des 19. Jahrhunderts messen lassen mussten, daneben aber auch die Klaviersonaten, die Streichquartette, die Missa solemnis op. 123 und fünf Klavierkonzerte sowie das Violinkonzert op. 61.
Anhand der Konzerte für Klavier und Orchester lässt sich nicht nur die stilistische Entwicklung Beethovens von seinen frühen Gattungsversuchen im Schatten Mozarts bis hin zur reifen Sprache des vierten und fünften Klavierkonzerts, die parallel zu den Sinfonien der mittleren Schaffensphase zwischen 1805 und 1809 entstanden sind, nachvollziehen, sondern auch entscheidende Veränderungen in der kompositorischen Ausgestaltung der Gattung: Beethoven versucht mit den fünf Konzerten für Klavier und Orchester aus dem von Mozart gefestigten Standard des Konzertsatzes Wiener Prägung als Weiterentwicklung der barocken Ritornellform den Übergang zu einem Konzertsatz zu schaffen, der das Verhältnis von Solo und Tutti auszugleichen vermag. Damit gelingt es ihm, die typisch klassischen Prägungen Sonatensatz und Rondo in eine Synthese zu überführen. Für den Versuch, die Konzerte für Klavier und Orchester Ludwig van Beethovens musikhistorisch sinnvoll einzuordnen, ist die Auseinandersetzung mit der Gattungsnorm des späten 18. Jahrhunderts unerlässlich, wie sie sich einerseits in den Konzertkompositionen Wolfgang Amadé Mozarts darstellt, andererseits in der von ihr abgeleiteten Sonatentheorie in der Provenienz Heinrich Christoph Kochs – zumal sich mit der Konzertsatzform des frühen 19. Jahrhunderts ein nicht unerheblicher Paradigmenwechsel vollzieht, für den die Kompositionen Beethovens eine tragende Bedeutung haben.
7.2.1 Zum Verständnis der Gattung Concert zur Jahrhundertwende „Concert. Dieses Wort hat zwey verschiedene Bedeutungen“, stellt Heinrich Christoph Koch in seinem Musikalischen Lexikon 1802 (Sp. 349) lapidar fest – und hütet sich in der Folge davor, die klassische Konstellation des ausge-
7.2 Ritornell und Sonate: Der Kopfsatz von Beethovens Konzert op. 19
henden 18. Jahrhunderts erneut zu dokumentieren, die unter Einschluss des geistlichen Konzerts vokale und instrumentale Gattungen konfrontierte. Vielmehr entspricht (nach der Darstellung der inzwischen etablierten Veranstaltungsform) die zweite Definition Kochs der für das frühe 19. Jahrhundert typischen Beschreibung in der Nähe des englischen Consorts – das Zusammentreten von Ensemblegruppen steht für die Gattung im Vordergrund (vgl. K ÜSTER 1993, S. 13–14), das Vorbild des barocken Concerto grosso, ob nun in der Differenzierung als Solo-, Doppel- oder Gruppenkonzert, ist offensichtlich. Für eine Begründung der Gattung „Klavierkonzert“ kommt am ehesten die Gruppe der sechs bzw. sieben Konzerte für Cembalo und Orchester in Frage, die Johann Sebastian Bach 1737 in Leipzig in einer Reinschrift zusammengestellt hatte und die ausschließlich auf Vorlagen von Konzerten für ein Melodieinstrument und Orchester aus seiner Weimarer und Köthener (und zum Teil gar nicht von ihm selbst) stammen (vgl. BERGER 1990, S. 207–208). Die gattungsgeschichtliche Situation ist damit fraglos paradox, gleichwohl geht Bach mit seinen Kompositionen strukturell deutlich über die Vorlagen etwa Antonio Vivaldis in mehr als nur der Veränderung in der Besetzung hinaus, indem er seine Konzertsätze nicht mehr nur durch Ritornelle gliedert, sondern schon durch eine tonale Gliederung gewichtet (vgl. BERGER 1990, S. 211–212). Koch nähert die Konzertform in ihrer Grundbestimmung an vokale Gattungen an – ein gattungsgeschichtlich leicht nachvollziehbarer Zusammenhang, schließlich ist die (Opern- oder Kantaten-)Arie die wichtigste musikalische Form des 17. und 18. Jahrhunderts, in der ein Solist einem Tutti-Ensemble gegenübertritt (vgl. KÜSTER 1993, S. 20–22): Quelle Heinrich Christoph Koch, Art. Concert, in: Musikalisches Lexikon, Frankfurt am Main 1802, Reprint Kassel 2001, Sp. 349–355, hier: Sp. 351
„So wie die Instrumentalmusik überhaupt Nachahmung des Gesanges ist, so ist insbesondere das Concert eine Nachahmung des Sologesanges mit vollstimmiger Begleitung, oder mit andern Worten, eine Nachahmung der Arie. Der Zweck der Arie sollte daher auch jederzeit den Zweck des Concertes bestimmen, das ist, der Concertspieler sollte eine bestimmte Empfindung nach seiner individuellen Empfindungsart ausdrücken.“
Wolfgang Amadé Mozart ist für Koch der Gewährsmann; Kochs „kürzliche“ Erörterung der formalen Umstände des Konzerts schließlich entwickelt seine theoretische Ableitung des idealen Kopfsatzes in enger Anlehnung an Mozarts Konzertkompositionen. Koch zufolge entwickelt sich zugleich historisch der Konzertsonatensatz aus dem Ritornellkonzertsatz, dem charakteristischen Satztypus des instrumentalen Solokonzerts in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Für den Kopfsatz des Konzerts ist demnach festzustellen:
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Klavierkonzert
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Sonate und Konzert Quelle Heinrich Christoph Koch, Art. Concert, in: Musikalisches Lexikon, Frankfurt am Main 1802, Reprint Kassel 2001, Sp. 349–355, hier: Sp. 354–355
„ […] daß dem Vortrage der Solostimme ein Ritornell als Einleitung vorhergehet, in welchem der Zuhörer auf den Inhalt der Solostimme aufmerksam gemacht wird, und in welchem die melodischen Haupttheile des ganzen Satzes, jedoch gemeiniglich in einer andern und enger zusammengeschobenen Verbindung, vorgetragen werden, als es hernach in der Concertstimme geschieht. Mit diesen melodischen Haupttheilen sind gewöhnlich solche dazu passende Theile verbunden, die dem vollstimmigen Vortrage eines ganzen Orchesters entsprechen. Diese machen zusammen im Ritornelle eine ausgeführte Periode aus, die in ihrem Laufe eine oder zwey verwandte Tonarten berührt, und in dem Haupttone geschlossen wird. Die Concertstimme fängt das erste Solo in der Haupttonart an, wendet sich aber zeitig nach der Tonart der Quinte (oder wenn eine weiche Tonart zu Grunde liegt, nach der Tonart der Terz) hin, in welcher es schließt. Mit der Schlußnote dieses ersten Solo beginnt das zweyte Ritornell, welches in eben dieser Tonart geschlossen wird. Das zweyte Solo hebt mit der Schlußnote dieses zweyten Ritornells an, und hat die Freyheit sich unter den übrigen verwandten Tonarten hinzuwenden, in welche es will; die letzte Hälffte desselben wird jedoch in der Haupttonart durchgeführt, in welcher die melodischen Haupttheile des ganzen Satzes kürzlich wiederholt werden. Nach der Finalcadenz desselben machen die begleitenden Instrumente noch ein kurzes Ritornell in der Grundtonart.“
Ritornell und Solo
Für die verbleibenden Sätze des in der Regel für die Zeit Beethovens dreisätzigen Konzerts bemerkt Koch schlicht unter Verweis auf weiterführende Artikel seines Lexikons: „Ist das Adagio des Concertes eine Romanze, oder das letzte Allegro ein Rondo, so richtet es sich nach der besondern Form dieser Tonstücke.“ (KOCH 1802, Sp. 355). Der Erfolg einer Anwendung der Arbeiten Kochs auf die Analyse mag zweifelhaft sein und gewiss kein „Königsweg zum Verständnis klassischer Instrumentalmusik“ (FINSCHER 2000, S. 146); für die Klavierkonzerte Ludwig van Beethovens richtet sich der Blick vor allem auf die Frage der Form von Modellen für den Eingangssatz – wenn für das Konzert um 1800 das »Sonatenkonzert als Auflösungserscheinung« diagnostiziert wird (vgl. KÜSTER 1993, S. 70), ist die Zeitgenossenschaft des deskriptiven, in formaler Hinsicht sehr allgemein bleibenden Ansatzes bei Koch – und noch viel stärker die ältere Version Kochs im Kontext seines Versuchs einer Anleitung zur Composition – unbedingt kritisch zu hinterfragen, zumal Kochs Analyseansatz vor allem die Erläuterung und Differenzierung interpunktischer Formen betrifft: Wie ist mit der Differenz von Sonate und Ritornellform einerseits und Sonaten- und Konzertform andererseits in der Analyse von Konzerten der Jahrhundertwende umzugehen? Die Begriffe ‚Ritornell‘ und ‚Solo‘ werden von Koch differenziert verwendet – nämlich einerseits als Aspekt des formalen Ablaufs, andererseits als Besetzungsdetail; die Übernahme der Terminologie hat wenig mit den Gepflogenhei-
7.2 Ritornell und Sonate: Der Kopfsatz von Beethovens Konzert op. 19
ten in der Analyse barocker Konzertformen zu tun. „Wer ein Conzert sezen will, thut wohl, wenn er sich zuerst eine gewöhnliche Sonate macht. Der erste Theil hievon giebt das erste, der andere Theil das zweite Solo. Vor dem ersten, nach dem zweiten, zwischen dem ersten und dem zweiten Theile wird ein Vor-, Nachund Zwischenspiel von Instrumenten vorgetragen; und da Tutti in welscher Sprache Alle heißt: so nennt man zum Gegensaz des Allein- des Solospielers jene Vollständigkeit Tutti“, erläutert Georg Joseph Vogler die Gegenüberstellung der Formen Konzert und Sonate (VOGLER 1779, S. 36–37); mit den zwei „Teilen“ der Sonate meint Vogler einerseits die Exposition, andererseits Durchführung und Reprise. Wenn Koch – wie Quantz (1752, S. 295) – auf eine Mehrgliedrigkeit des Ritornells verweist, trägt dieser Aspekt für Donald Francis Tovey am deutlichsten zum Unterschied von Sonate und Konzert bei (vgl. T OVEY 1972, Bd. 3, S. 23); der Wandel vom Ritornell- zum Sonatentyp findet sich tatsächlich schon 1755 in der Beschreibung Joseph Riepels erläutert (vgl. RIEPEL 1755, S. 94; vgl. SCHERLIESS 1996, Sp. 649–650). Verwandt mit der Definition Kochs, aber erheblich differenzierter und unter formalen Gesichtspunkten für die Analyse ergiebiger sind die Ausführungen des Beethoven-Schülers Carl Czerny in seiner deutschen Ausgabe von Anton Reichas Traité de haute composition musicale: Quelle Anton Reicha, Traité de haute composition musicale, Paris 1824–1826, deutsch von Carl Czerny, Vollständiges Lehrbuch der musikalischen Composition, Bd. 1, Teil 3, Wien 1832, S. 334–335
„Das Concert, (sey nun die Principalstimme für das Pianoforte oder ein anderes Instrument,) unterscheidet sich von der Sonate in seinem Bau durch folgendes: Dem ersten Solo geht ein Ritornell für das ganze Orchester voraus. Dieses Ritornell hat so ziemlich den Bau des ersten Theils vom ersten Satz einer Sonate, nur daß es wieder in der Grundtonart, oder deren Dominant-Septime schließen muß, wonach das erste Solo eintritt. Das Ritornell darf nicht ermüdend lang seyn, und doch alle Hauptideen des Concerts in abgekürztem Umriß enthalten. Das erste Solo spinnt diesen Umriß weiter aus, indem es den gewöhnlichen Modulations-Gang beobachtet. Der Mittelgesang kann einmal auch vom Tutti vorgetragen werden; worauf nach den gehörigen Passagen der erste Theil mit einer Cadenz schließt, nach welcher das Orchester wieder einen, nicht langen Zwischensatz auszuführen bekommt der erste Theil wird nie wiederhohlt. Das zweite Hauptsolo, das den zweiten Theil bildet, gewährt dem Modulations-Talent freien Spielraum, obwohl alle ästhetischen Regeln der Sonate, besonders in Hinsicht der Einheit des Ganzen auch hier wohl zu beachten sind. Adagio und Rondo, (die häufig mit einander verbunden werden,) haben den gewöhnlichen Bau, nur mit untermischten Tutti’s.“
Die Analysehilfe Czernys ist als formale Differenzierung von Konzert und Sonate am Œuvre Beethovens zu verifizieren: Insbesondere die frühen Konzertkompositionen Ludwig van Beethovens stehen zwischen den Prinzipien von Ritornell- und Sonatenform, jedenfalls gemessen an der grob gegliederten Orientierung der Kopfsätze, aber auch in Hinsicht auf der Anlage der zweiten
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7 Konzertformen bei Mozart
Sonate und Konzert
und dritten Sätze wenigstens der ersten beiden Konzerte; ihre Form ist entscheidend durch die Kompositionen Mozarts beeinflusst, an die Beethovens Klavierkonzerte unmittelbar anzuknüpfen scheinen. Beethoven konnte in der Musiktheorie seiner Zeit bloß ein allgemeines Muster vorfinden, „dem in der kompositorischen Praxis bereits regional und individuell konkretisierte Konzepte entgegenstehen, welche vorbildhaft als mögliche ‚Folien‘ gewirkt haben könnten“ (H EIN 2001, S. 195). Nicht nur an den Kadenzen Ludwig van Beethovens zum Klavierkonzert d-Moll KV 466 ist der Einfluss Wolfgang Amadé Mozarts auf Beethoven festzumachen. Die Entwicklung des Satzes aus einem festen Hauptthema (ehemals Kopfmotiv des Ritornells) und einem festen Seitenthema und die damit verbundene weithin restlose Thematisierung der harmonischen Prozesse (vgl. KÜSTER 1993, S. 74f. bzw. ROEDER 2000, S. 119–123) verändert schon in den ersten Konzertformen Mozarts entscheidend die Form des Solokonzerts, das mit der aus dem frühen 18. Jahrhundert überlieferten Ritornellform nur unvollständig umschrieben ist, zu weitgehend sind die Eingriffe des Komponisten in die Faktur insbesondere von Solo- und Orchesterexposition – Termini, die für das „Ritornell“ Kochs aus mehreren plausiblen Gründen zutreffender sind. Andererseits ist der Begriff der Sonatenform immer noch zu grob für den Ablauf des Konzertsatzes bei Mozart: Zumal für den jungen Mozart steht zum Beispiel die Vielgliedrigkeit des traditionellen Ritornells nicht in Frage, eine Praxis, die es auch im Œuvre Beethovens zu untersuchen gilt. Überblicksartig ergibt sich für Mozarts Konzerte formal ein vielfach variiertes, mit immer neuen Detaillösungen und fakultativen Elementen versehenes Modell (vgl. KÜSTER 1993, S. 80–81): Im Kopfsatz folgt auf ein vielgliedriges Ritornell als Anfangstutti, das zwei thematische Komplexe in der Tonika exponiert und nach einem Halbschluss ein lyrisches Thema, die Soloexposition, die zur Dominante moduliert und nicht unbedingt das Material des Eingangstuttis wiederholt. Nach dem Mitteltutti mit Ritornellmaterial folgt der relativ offen gestaltete reich modulierende Durchführungsabschnitt, der beim frühen Mozart – bis 1778, also bis zur Komposition von KV 299 – mit einem freien Solothema gestaltet ist (Mozart kommt später zu anderen Lösungen). Die einfache Reprise nimmt den Ablauf der Soloexposition unter Korrektur der Harmonik und bei wechselnder Zuordnung des Materials wieder auf; im Schlusstutti wird die Kadenz des Solisten in die oft erweiterten Abläufe des Mitteltuttis eingefügt. Die langsamen Sätze sind meist zwei- oder dreiteilig nach dem Vorbild vokaler Formen oder als Variationsformen (wie KV 456) angelegt, in den Finalsätzen dominieren Mischformen, vor allem das Sonatenrondo. Gerade die frühen Klavierkonzertkonzeptionen Beethovens legen eine „Folie“ (HEIN 2001, S. 39–44) der Klavierkonzerte Mozarts nahe – und werden in gattungsgeschichtlichen Darstellungen wie auch in werkorientierten Beschreibungen von Beethoven-Monographen in besonderem Maße in der Nähe der Klavierkonzerte Mozarts gerückt, auch auf die Gefahr hin, eine „bestimm-
7.2 Ritornell und Sonate: Der Kopfsatz von Beethovens Konzert op. 19
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te Seite Beethovenschen Schaffens misszuverstehen, wollte man Werke vor und um 1800 nur immer in der Sphäre und Nachfolge Mozarts und Haydns sehen“ (RUMMENHÖLLER 1995, S. 303): So plausibel Bezugsbildungen auch erscheinen – fragwürdig müssen resultierende Bewertungen bleiben, die mit dem Aspekt größerer kompositorischer Nähe oder Ferne operieren.
7.2.2 Beethovens Klavierkonzert op. 19 Die Autographen der ersten drei Klavierkonzerte opp. 19, 15 und 37 sind die ältesten aller vollständig überlieferten Orchesterpartituren Beethovens; sie spiegeln in besonderem Maß die künstlerische Entwicklung des Komponisten zwischen 1790 und 1803: den Wandel vom reisenden Virtuosen zum Komponisten in Wien – und im Selbstverständnis des Künstlers. Dabei ist ein deutlicher Abstand zwischen den beiden frühen Konzertkompositionen Beethovens und dem „Concerto 1803“ (HEIN 2001, S. 201), dem c-Moll-Konzert op. 37, auszumachen, der sich insbesondere im Umgang des Komponisten mit der ihm vertrauten Gattungsnorm des ausgehenden 18. Jahrhunderts niederschlägt. Das erste Klavierkonzert, das der Komponist in Wien – zunächst wohl im privaten Kreis – spielte, war bereits in Bonn entworfen worden: Das Konzert B-Dur, das später als zweites Klavierkonzert op. 19 gedruckt wurde, lag schon spätestens 1790 in einer ersten, heute größtenteils verlorengegangenen Fassung vor. Beethoven, bis zur endgültigen Fassung 1798 sein eigener Interpret, hat das Konzert im Kontext öffentlicher Auftritte mehrfach umgearbeitet; nachweisbar sind vier Versionen in einem Zeitraum von mehr als zehn Jahren – von spätestens 1790 bis 1801. In diese Zeit fallen sowohl die Komposition des Konzerts C-Dur op. 15 als auch die Konzeption und der Kompositionsbeginn des Konzerts c-Moll op. 37. Der erste Finalsatz, das Rondo WoO 6 mit einem ungewöhnlichen eingeschobenen Andante, wurde 1794/95 durch einen neuen Satz ersetzt. Eine vierte und letzte Version erstellte Beethoven für den Beginn der Konzertsaison im Oktober 1798 in Prag im Zuge der erfolgreichen Aufführung des C-Dur-Konzerts; in diese letzte Fassung greift Beethoven bis zur Drucklegung der Solostimme 1801 ein (vgl. K ÜTHEN 1977 und BLOCK 1979). Sein eigenes Unbehagen an der langen Entstehungszeit des B-Dur-Konzerts kommt in einem Brief Beethovens an seinen Verleger Hoffmeister zum Ausdruck, in dem der Komponist sein Werk als „ein Konzert fürs Klawier, welches ich zwar für kein’s von meinen Besten ausgebe“ (BEETHOVEN 1907 Bd. 1, S. 54) beschreibt. Während Beethoven für das Konzert op. 19 noch eine für die Konzertkompositionen Haydns oder Mozarts typische Bläserbesetzung mit nur einer Flöte und je zwei Oboen, Fagotten und Hörnern vorsieht – Mozarts letztem Klavierkonzert B-Dur KV 595 entsprechend –, erreicht er mit dem Konzert op. 15 seine bis zum Konzert op. 73 gültige Orchesterbesetzung mit außerdem zwei Klari-
zur Entstehungsgeschichte
Besetzung
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Sonate und Konzert
netten, Trompeten und Pauken, die für die Konzerte in c-Moll und Es-Dur noch um eine zweite Flöte erweitert wird und damit der »Norm«-Besetzung des klassischen Orchesters seit der ersten Sinfonie op. 21 von Beethoven entspricht. Die veränderte Besetzungsstruktur geht einher mit deutlich anderen Instrumentationsgepflogenheiten – während die Bläser im B-Dur-Konzert »klassisch« im Sinne Haydns oder des frühen Mozart vor allem als Färbungen oder Verstärkungen der dominierenden Streicher auftreten, ist im Konzert op. 15 – vor allem im Kopfsatz – die gleichsam »chorische« Arbeit mit dem Orchesterapparat erkennbar, die für das »neue Komponieren« Beethovens schon vor 1800 so charakteristisch ist (vgl. KÜSTER 1994, S. 79, und RUMMENHÖLLER 2007). Der Kopfsatz des Konzerts op. 19 Eröffnungstutti T. 1–90
Soloexposition T. 91–198
Mitteltutti T. 198–213 Durchführung T. 214–285
Reprise T. 285–384
Schlusstutti T. 384–400
1–16 16–42 43–57 57–62 63–90
Hauptsatz Fortführung Episode in Des-Dur Dominantorgelpunkt auf F Kadenzfeld (Ausgangspunkt: Hauptsatz)
91–102 102–106 106–118 119–127 128–143 143–157 157–198
freie solistische Eröffnung freier Tuttieinwurf Modulationsbereich; Ausgangspunkt: Hauptsatz Dominantorgelpunkt auf C Seitensatz freie Fortführung (Material vgl. T. 91) Schlussgruppe
214–231 232–240 240–274 275–285
freie solistische Eröffnung (s. T. 91) Episode in Es-Dur Modulationsbereich (vgl. Haupt-, Seitensatz; Schlussgruppe) Dominantorgelpunkt auf F
285–293 293–300 300–311 312–327 327–341 341–384
Hauptsatz Fortführung Solo (vgl. T. 9–16) Überleitung Seitensatz freie Fortführung und Episode in Ges-Dur Schlussgruppe
7.2 Ritornell und Sonate: Der Kopfsatz von Beethovens Konzert op. 19
Die formalen Probleme des Kopfsatzes von op. 19 sind sicherlich mit einem Verweis auf die Entwicklung der Konzertform bei Mozart bis hin zu Beethoven zu einfach beantwortet (vgl. KÜSTER 1993, S. 86). In der Soloexposition des ersten Konzertkopfsatzes von Ludwig van Beethoven findet sich allerdings annähernd der Hinweis seines Schülers Czerny bestätigt – das „Eingangsritornell“ des Orchesters, also das Eröffnungstutti, beinhaltet alle motivisch-thematischen Hauptideen des Konzerts, die sich anschließende Soloexposition „spinnt diesen Umriß weiter aus“: Der Ansatz Czernys ist so zu verstehen, dass der Materialbestand des Anfangstuttis nicht unbedingt erweitert, aber auch nicht zwingend unangetastet bleiben muss. Das Eröffnungstutti beginnt mit einer B-Dur-Dreiklangsfanfare, Bestandteil eines viergliedrigen Themas und verbunden mit einer zweiten, formal entsprechenden und periodisch gebildeten Vordersatz-Nachsatz-Konstruktion (T. 9–16); die Regelmäßigkeit der Periodenführung – vor allem des späteren Seitensatzes Takt 128 – mag durchaus ganz dem 18. Jahrhundert verpflichtet sein (vgl. FORCHERT 1994, S. 152–153 bzw. HEIN 2001, S. 52), Beethoven durchbricht aber vielfältig durch Takterstickungen (so durch die eingerückten Bläserakkorde Takt 8/9) die quadratische Periodenstruktur. Mit einem aus der Dreiklangsfanfare abgeleiteten Sequenzmotiv (T. 16–17) erreicht er einen Halbschluss auf der Doppeldominante C, die sich eher nach f-Moll aufzulösen hätte – durch das schon in Takt 22 eingeführte as naheliegend. Auf eine Sekundrückung nach Des-Dur (T. 41)
121 formale Probleme
Abb. 7.3 Beethoven, Klavierkonzert Nr. 2, op. 19, 1 – T. 43–47 / T. 1–8 (Streicher)
122
7
Sonate und Konzert
folgt allerdings nicht – wie es im Eröffnungstutti Mozarts regelhaft anzutreffen ist – ein zweiter thematischer Komplex, sondern eine Episode, die einen Dominantorgelpunkt auf F (ab T. 57) vorbereitet; das Material der Episode entwickelt Beethoven aus dem Hauptthema (vgl. PETERSEN 2013, S. 356–358): Sogar mit dem Material der freien solistischen Eröffnung der Soloexposition (T. 91) lässt sich ohne Weiteres ein motivischer Zusammenhang im gleichen rhythmisch-metrischen Umgang mit der Dreiklangsbrechung erkennen: Abb. 7.4 Beethoven, Klavierkonzert Nr. 2, op. 19, 1 – T. 90–94 (Streicher)
Durchführung
Abgeschlossen wird das Eröffnungstutti mit der Wiederkehr des Fanfarenthemas (wieder in B-Dur, T. 63–67), das erneut sequenziert wird und schließlich in eine Kadenz (T. 81–85) mündet, beantwortet mit einer pianoKadenz mit dem Material der Episode bzw. aus Takt 3/4. Abgesehen von der Besonderheit, dass Beethoven seinen Solisten mit neu gegliedertem Material in die Soloexposition eintreten lässt, unterscheidet sich der formale Aufriss des nächsten Formteils nicht wesentlich von Mozarts Wiener Konzertform; schließlich „fehlt“ das Material der eröffnenden Fanfare auch nicht (vgl. KÜSTER 1993, S. 87), sondern wird nachgeliefert (T. 106–107) – und die Komposition geht keineswegs vom Prinzip einer „doppelten Exposition“ aus. Beiden Teilen liegt leicht nachweisbar ein einheitliches motivisches Grundmaterial zugrunde: Beethoven greift aus dem Eingangstutti mehrere Motive heraus und bestreitet mit ihnen den Verlauf des ersten Soloteils, um so vielfältige Beziehungen zwischen diesen Formteilen herzustellen. Das Eingangstutti hat seine thematisch wirksame Kraft nicht eingebüßt und ist damit nicht zu einem verzögernden, unnötigen Glied geworden – es ist Ritornell im (wenn auch erweiterten) Mozartschen Sinne geblieben. Auch das Mitteltutti endet mit dem Material des Eröffnungstuttis (T. 209–213), das auch das Schlusstutti beenden wird (T. 395–400). Die Durchführung wird mit einer Transposition des Soloexpositionsbeginns eingeleitet, der sich jetzt aber halbschlüssig nach g-Moll wendet (T. 288/289). Wie im Eröffnungstutti folgt eine Episode, diesmal – nach einer entsprechenden Rückung von D nach Es (T. 228–231) – in Es-Dur, die den Modulationsbereich einleitet; dieser führt nach einem Dominantorgelpunkt auf F (T. 275–284 mit einer „Verzerrung“ zur kleinen None ges in T. 282) in die Reprise. Die Durchführung des Satzes ist somit nicht mit Sequenzketten gearbeitet, die für einen Formteil dieser Art aus der Feder Mozarts so charakteristisch sind; Sequenzbildungen
7.2 Ritornell und Sonate: Der Kopfsatz von Beethovens Konzert op. 19
finden sich im Satz zwar allenthalben, im Kontext der Durchführung verzichtet Beethoven aber auf explizite Bildungen. Tatsächlich ist der Modulationsbereich nach dem Aufgreifen der Episode im Soloklavier von virtuosen Spielfiguren – Dreiklangsbrechungen und Skalen – geprägt und findet erst kurz vor dem Dominantorgelpunkt mit dem Aufgreifen von Material aus dem Seitensatz (T. 269–274; vgl. T. 151ff.) wieder eine feste motivisch-thematische Struktur. Nachdem das Hauptthema in der Reprise einmal wie im Eröffnungstutti (T. 285–293) und der Fortsetzung im Klavier noch einmal anders fortgeführt (T. 300–308) erklingt, schließt Beethoven, der Soloexposition entsprechend, nach einer knappen Überleitung in F die Reprise des Seitenthemas und der Schlussgruppe jeweils in die Tonika B-Dur transponiert an (wobei die Schlussgruppe um zwei Takte erweitert erscheint). Die von Beethoven in der Episode des Eröffnungstuttis Takt 41ff. exponierte Tonart Des-Dur erscheint zwar als an Haydn erinnernder Überraschungseffekt; aber nicht nur die Wiederaufnahme der Episode in der Durchführung Takt 232ff., die auch die überraschende Rückung aufgreift und zusätzlich zur Dominantregion F-Dur auch die Subdominante Es-Dur in den Vordergrund treten lässt, lässt die Rückung Takt 39–42 nachträglich formal sinnvoll erscheinen. Des-Dur erweitert als leiterfremde Obermediante der Tonika B-Dur das Tonartenspektrum des Satzes ebenso wie die in der Reprise des Seitenthemas (T. 333) auftretende leiterfremde Untermediante Ges-Dur: tG Ges-Dur bVI
T B-Dur I
123
tonale Architektur
tP Des-Dur bIII
Diese Beobachtung ist um so bedeutsamer für das Tonartenspektrum des Werks, als die leitereigenen Medianten der Tonart B-Dur eher stiefmütterlich behandelt werden: Während g-Moll zu Beginn der Durchführung (T. 223ff.) immerhin halbschlüssig als Ausgangspunkt der Rückung nach Es-Dur angesteuert wird, hat d-Moll als Tonikagegenklang keinerlei formale Funktion innerhalb des Satzgefüges. Des-Dur bestimmt hingegen nicht nur die Episode Takt 41ff., sondern erscheint auch im Seitensatz der Soloexposition Takt 149ff. – als Gegenbild für das Ges-Dur in der Reprise, aber eben auch als Episode innerhalb einer freien Fortführung. Die tonale Gliederung des gesamten ersten Abschnitts des Satzes erscheint also parallelisiert als Abfolge von B-Dur und Des-Dur (mit dem Unterschied der Zielorientierung). Die Reprise erscheint somit auch in ihrer Tonartdisposition nicht als »verkürzte Reprise«: Der Einsatz von Ges-Dur löst die Grundspannung der Tonarten, die sich nicht nur die Dominant-TonikaGrundspannung beschränkt, gleich in mehrfacher Hinsicht auf. Czernys formaler Hinweis, das „Eingangsritornell“ des Orchesters, also das Eröffnungstutti, beinhalte alle motivisch-thematischen Hauptideen des
Die ersten Konzerte Beethovens
124
7
Wandel um 1803
Sonate und Konzert
Konzerts, findet sich in Beethovens zweiter gültiger Eingangsallegro-Konzeption noch deutlicher bestätigt: Das Eröffnungstutti des Kopfsatzes im Konzert op. 15 unterscheidet sich von dem entsprechenden Formteil im Konzert op. 19 vor allem in Hinsicht auf seine Episode. Während im B-Dur-Konzert die Episode zwar motivisch abhängig vom Hauptsatz ist, aber in der Soloexposition nicht wieder aufgegriffen wird, exponiert die Episode in op. 15 die Materialbasis für den späteren Seitensatz der Soloexposition; außerdem erscheinen auch Elemente der Schlussgruppe bereits im Eröffnungstutti – oder (um mit Czerny zu sprechen): Die sich anschließende Soloexposition „spinnt diesen Umriß weiter aus“. Die tonalen Anlagen der beiden Eröffnungstuttis entsprechen sich ebenfalls: Im Konzert op. 15 steht die Episode erneut in der leiterfremden Obermediante der Tonika. Auch unter dem Gesichtspunkt der Kopfmotivik gibt es zwischen beiden Sätzen Entsprechungen: In beiden Fällen arbeitet Beethoven mit Fanfarenmotivik, in op. 19 mit der Dreiklangsbrechung, in op. 15 mit dem Oktavsprung, dem ein Sechzehntellauf folgt; auch das Modell der Schlussgruppe (T. 86ff. bzw. 182) ist von einer Dreiklangsbrechung bestimmt. Der Umgang mit der von den Kopfmotiven geprägten Periodik entspricht sich in beiden Konzerten – die ersten 16 Takte folgen exakt dem gleichen Formschema, und der Komponist schließt jeweils eine Fortentwicklung auf der Basis der ersten acht Takte an. Sogar die Mittel der Überleitung in die jeweilige Tonart der Episode sind vergleichbar. Die Reprise des Kopfsatzes von op. 15 erscheint – viel deutlicher als die des Kopfsatzes von op. 19 – verkürzt und beweist, dass der Begriff der Reprise für Beethovens frühe Konzertsätze keineswegs so eng gefasst werden darf wie in gewöhnlichen Sonatensatzmodellen (vgl. HEIN 2001, S. 71 und 73): Wie im B-Dur-Konzert übernimmt jetzt der Solist die Reprise der Fortführung, aber am Beginn der Reprise steht nur der Beginn des Eröffnungstuttis (vgl. PETERSEN 2013, S. 358–361). Mit dem dritten Klavierkonzert, insbesondere aber mit den beiden letzten Werken Beethovens in dieser Gattung verändern sich die Konzepte von Konzert-Komposition grundlegend und werden immer stärker in Richtung eines „sinfonischen“ Stils erweitert. Hauptcharakteristikum, das die drei späten Konzerte – auch trotz der deutlichen Gemeinsamkeiten insbesondere des Konzerts c-Moll mit den beiden frühen Werken op. 19 und op. 15 – unter einer Perspektive zu einen vermag, ist die Idee des Konzertsonatensatzes, den Beethoven von op. 37 an konsequent in Richtung einer stärkeren Synthetisierung, aber auch einer der deutlichen Zyklusbildung weiterentwickelt. Ihren Höhepunkt findet diese Entwicklung schließlich in den Rahmensätzen des Es-DurKonzerts op. 73, der letzten vollendeten Konzertkomposition Beethovens. Als wesentliche kompositorische Problemstellungen (vgl. HEIN 2001, S. 194–197) ergeben sich für den neuen Typus erstens die Verbindung der Strukturen der älteren, aus der Ritornellform überkommenen Wiener Konzertsatzform mit dem Sonatensatz – eine Verbindung, die zu einem Ausblick auf einen Spiel-
Literaturhinweise
raum mit erheblich freieren Gestaltungsmöglichkeiten führt, als es die ältere Konzertsatzform zugelassen hatte, und damit verbunden zum Verfall eines verbindlich greifbaren, komponisten- oder werkübergreifend festgelegten kompositorischen Grundmodells. Dazu gehört zweitens die konzertante Faktur des Tutti-Solo-Gegensatzes, der von starker Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit beherrscht ist, und das Verständnis von thematischen Bildungen als „Ausgangs- und Markierungspunkte der prozessual ausgerichteten kompositorischen Gestaltung“ (HEIN 2001, S. 196) als zentraler Gegenstand der kompositorischen Auseinandersetzung. Wissens-Check
– Wie verhält sich der Begriff „Periode“ bei Riepel zur Incisionslehre Matthesons? – Welche Bedeutung hat der Begriff „Concert“ im ausgehenden 18. Jahrhundert? – Wie sind Konzert und Sonate in den frühen Klavierkonzerten Beethovens zu differenzieren? – Welche Verbindungen gibt es zwischen Beethovens Konzertschaffen einerseits und den Kompositionen Mozarts und Haydns andererseits? – Welche formalen Probleme weist der Kopfsatz des Konzerts op. 19 auf?
Literaturhinweise CAPLIN, William E. (1998): Classical Form. A Theory of Formal Functions for the Instrumental Music of Haydn, Mozart, and Beethoven, New York. Wenngleich empirisch und deskriptiv und eben nicht deduktiv oder präskriptiv, gehört die Studie Caplins zu den wichtigsten anglo-amerikanischen Formenlehren zur Musik der Klassik: Auf der Basis der Theorien Schönbergs und dessen Schülers Erwin Ratz legt Caplin seine Grundbegriffe einer Theorie der formalen Funktionen dar, die die Rolle harmonischer Fortschreitungen für die Entwicklung formaler Konzepte betont. DAHLHAUS, Carl (2002): Beethoven und seine Zeit, 4. Auflage, Laaber. Die Beethoven-Biographie von Dahlhaus ist trotz ihres Alters eine empfehlenswerte Einführung zu Leben und Werk des Komponisten, zumal Dahlhaus den zeitgeschichtlichen Kontext des Schaffens Beethovens besonders berücksichtigt. HEIN, Hartmut (2001): Beethovens Klavierkonzerte. Gattungsnorm und individuelle Konzeption (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft Bd. 48), Stuttgart. Die Studie ist der umfassenden Darstellung des Klavierkonzert-Schaffens Ludwig van Beethovens gewidmet und stellt die Wandlung des Personalstils dieses Komponisten anhand einer zentralen Gattung des 18. und 19. Jahrhunderts heraus. KÜSTER, Konrad (1993): Das Konzert. Form und Forum der Virtuosität, Kassel (= Bärenreiter Studienbücher Musik Bd. 6). Mit seiner Studie ergänzt der Autor die vorhandene Handbuch-Literatur um einen entscheidenden Baustein, mit dem er die enge Vernetzung der Gattungen und Formen seit ihrer Manifestierung im 18. Jahrhundert sowie ihre Resilienz bis hin in das zeitgenössische Musikschaffen dokumentiert.
125
8 Epilog: „Gründliche Theorien“ über das 17. und 18. Jahrhundert
drei Perioden
Im dritten Jahrgang der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung von 1800/1801 veröffentlichte Johann Karl Friedrich Triest (1764–1810) seine Bemerkungen über die Ausbildung der Tonkunst in Deutschland im achtzehnten Jahrhundert als Überblick über das jüngst vergangene Jahrhundert. Die Schrift ist nicht nur aufgrund ihrer singulären Stellung als musikgeschichtliche Abhandlung über das 18. Jahrhundert aus der Perspektive des 18. Jahrhunderts bemerkenswert, sondern auch als eine der ersten historiographischen Äußerungen über Musik überhaupt – nach Johann Nikolaus Forkel, dessen zweiter Band der Allgemeinen Geschichte der Musik aber nur bis in das Zeitalter der klassischen Vokalpolyphonie hineinreicht (vgl. HINRICHSEN 1997, S. 221); Triest, Prediger in Stettin, musikalischer Dilettant und philosophischer Eklektiker (vgl. DAHLHAUS 1978c), verweist selbst auf den hohen Anspruch, den eine solche Arbeit an den Verfasser stellt, und auf Forkel, wenn er feststellt, dass „hier keine vollständige Geschichte der deutschen Tonkunst im 18ten Jahrhundert geliefert werden soll – ein Unternehmen, das auf einen Forkel wartet“ (TRIEST 1801, Sp. 234, Anmerkung; vgl. PETERSEN 2002, S. 238–248). Triest wagt in seiner über die Dauer von drei Monaten erschienenen Abhandlung eine „Übersicht des Ganges der Ausbildung, den die Tonkunst während des vergangenen Jahrhunderts [also während des achtzehnten, Anm. d. Verf.] genommen hat“ (TRIEST 1801, Sp. 226), indem er Lehrwerke des Jahrhunderts – von Fux bis Klein – überblickt und zugleich die kompositionsgeschichtliche Entwicklung in Deutschland abschreitet und kommentiert. Ein wichtiges Element ist zudem der ästhetische Rekurs, den Triest mit dieser Abhandlung versucht – seine Bemerkungen sind nichts Geringeres als ein ästhetisch-geschichtsphilosophischer Traktat, in dem sich „zum erstenmal die Umrisse der Idee eines von Bach begründeten ‚Zeitalters der deutschen Musik‘ abzeichnen“ (DAHLHAUS 1978c, S. 191; vgl. SPONHEUER 1987, S. 76); der kategoriale Apparat dieser Schrift weist enge Berührungen mit der Ästhetik Schillers und Kants auf (vgl. SPONHEUER 1987, S. 53). Das Jahrhundert unterteilt Triest dabei in drei Perioden: Eine erste umfasst die Zeit bis 1750 (das Todesjahr Johann Sebastian Bachs), eine zweite reicht „von Graun, Hasse, C. Ph. E. Bach u.a. bis zu J. Haydn und Mozart“ (TRIEST 1801, Sp. 235); die dritte Periode reicht von Mozart bis zum Schluss des Jahrhunderts, wobei Triest mit der letzten Epochengrenze den Tod Mozarts (als „das letzte Zehnteil“ des Jahrhunderts) meint.
Epilog: „Gründliche Theorien“ über das 17. und 18. Jahrhundert
Die Musik des vorangegangenen 17. Jahrhunderts beschreibt Triest zunächst als „angewandte“ Kunst (TRIEST 1801, Sp. 227f. und 233); als besonders bedeutungsvoll hebt er die „Entdeckung der Harmonie, welche den Mechanismus der Tonkunst unendlich erweiterte, der Melodie neuen Reiz verschaffte, den Ausdruck des Affekts erleichterte und verstärkte“ (TRIEST 1801, Sp. 231), hervor. In der Harmonie vereinigten sich demnach alle Gelehrsamkeit und Kunst; als höchstes Gut galt die Kenntnis der Kontrapunkttechnik. Ähnliches konstatiert Triest für das beginnende 18. Jahrhundert, in dem kaum Werke aufzuweisen seien, „aus denen ein ästhetischer Geist weht, der den Mechanismus der Musik nicht als Zweck, sondern als Mittel behandelt“ (T RIEST 1801, Sp. 242). Die Musik als mechanische Kunst gerade im geistlichen Raum nun ließ es zu, dass „das Uebersinnliche des Gegenstandes und ein dem angemessener (oft unpoetischer und sogar unverständlicher) Text […] allen kontrapunktischen Künsten und Kunststücken freyen Spielraum“ (T RIEST 1801, Sp. 246) verschaffte: Die usuelle Wertigkeit von Musik lief dem Triest offensichtlich näher stehenden Hang zum individuellen Ausdruck entgegen. Weiterhin hebt Triest die Bedeutung der Rhetorik für die kompositionsgeschichtliche Entwicklung des frühen 18. Jahrhunderts hervor: Gerade die deutsche Musik habe sich weniger in den Formen der Poesie, sondern in denen der Rhetorik gebildet.
127 Das 17. Jahrhundert
Quelle Johann Karl Friedrich Triest, „Bemerkungen über die Ausbildung der Tonkunst in Deutschland im achtzehnten Jahrhundert“, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 3 (1800/01) [anonym veröffentlicht], Sp. 248–249.
„Nun unterscheidet sich die Redekunst von der Poesie im Allgemeinen dadurch, dass der Verstand bey jener geschäftiger und herrschender ist, als die Einbildungskraft. Diesen Charakter erhielt auch die Musik. Der Mangel an lebhafter reger Phantasie, an klingender Sprache und an Bekanntschaft mit dem Geiste der Kunstwerke andrer Nationen, sowohl der alten als der neuen, alles dieses traf zusammen, um die angewandte (mit der Poesie verbundene) Musik so unbedeutend und saftlos zu machen, daß späterhin, wo der Geschmack sich verfeinerte, nur die Skelette solcher Werke zur Unterhaltung musikalischer Anatomiker dienen konnten.“
Die Gegenüberstellung von „poetisch“ und „rhetorisch“ als dialektisches Paar entspricht der „Charakteristik geschichtlicher Stufen“ (DAHLHAUS 1978c, S. 203), die Triest skizzierte: Immer wieder treten Termini als Begriffspaare in dialektischer Gegenüberstellung auf, so etwa in einer Passage über Carl Philipp Emanuel Bach, dessen „hohes Verdienst“ hervorgehoben wird, „dass er zeigte: die reine Musik sey nicht bloße Hülle für die angewandte, oder von dieser abstrahirt, sondern könne für sich allein große Zwecke erreichen. Sie habe nicht nöthig, sich als bloßes Sinnen- oder Verstandesspiel prosaisch oder höchstens rhetorisch herumzudrehen, sondern vermöchte sich zur Poesie zu erheben, die
„poetisch“ und „rhetorisch“
128
8
Johann Sebastian Bach
Epilog: „Gründliche Theorien“ über das 17. und 18. Jahrhundert
um desto reiner sey, je weniger sie durch Worte, (die immer Nebenbegriffe enthalten) in die Region des gemeinen Sinnes hinabgezogen würde“ (T RIEST 1801, Sp. 301). So ersetzt Triest die gängige Aufteilung in instrumentale und vokale Musik durch das Begriffspaar „rein“ und „angewandt“ – die als Alternative gemeinte Begriffsopposition fällt immer wieder mit der Dichotomie von Instrumental- und Vokalmusik zusammen: Jene Werke, die „nichts weiter sind als schönes (d.h. nach Kunstregeln geformtes) Tonspiel, das schon Zweckmäßigkeit hat, wenn nur eine eine aesthetische, obgleich unbestimmte Idee durch das Ganze herrscht“, bezeichnet Triest als „reine Musik“, zu der er „sogar alle Gesangsstücke [rechnet], bey denen der Text nichts sagt, indem er nur als Vehikel zum Gebrauch der Singstimme dient“; unter „angewandter Musik“ hingegen versteht Triest „die musikalische Versinnlichung eines Subjekts (seiner Gefühle und Handlungen) wo die Poesie, die Mimik u. gl. den ersten Rang einnehmen“, etwa „die charakteristischen Instrumentalstücke“ (T RIEST 1801, Sp. 228; vgl. HINRICHSEN 1997, S. 222): „Was sich in dieser prinzipiellen Darlegung liest wie eine Ästhetik der ‚absoluten‘ Musik avant la lettre, wird in Wirklichkeit von Triest nur unzulänglich durchgeführt“ (DAHLHAUS 1978c, S. 199) – zumal die ästhetisch-systematisch gemeinten Kategorien immer wieder in geschichtsphilosophische umschlagen. Wie elementar die Bildung von Begriffspaaren für die Systematik Triests ist, wird besonders deutlich an der Charakterisierung des Schaffens von Johann Sebastian Bach, dem „Patriarchen der neueren Harmonie“ (T RIEST 1801, Sp. 261): „Hoch und hehr strahlt der Name Johann Sebastian Bachs vor allen deutschen Tonkünstlern in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts“ (T RIEST 1801, Sp. 259). Indem Triest den großen Thomaskantor als „tiefsinnigsten Harmonisten aller bisherigen Zeiten“ beschreibt, der „mit Newtons Geist alles, was man bisher über Harmonie gedacht und als Beyspiel aufgestellt hatte“, umfasste und der „mit Recht als der Gesetzgeber in der ächten Harmonik, die bis auf den heutigen Tag gilt, anzusehen ist“ (TRIEST 1801, Sp. 261), betont er den Aspekt der Harmonie / Harmonik gegenüber dem Terminus der Melodie: „Seine Verdienste erstrecken sich eigentlich nur auf reine Musik, d.h. auf den Mechanismus der Tonkunst, besonders auf Harmonie und gebundenen Styl. Ist aber von angewandter Musik oder vom freyen Styl u. dgl. die Rede, so steht ihm nicht nur sein Zeitgenosse Händel wenigstens zur Seite, sondern seine Nachfolger, sein Sohn C. P. E. Bach, ein Graun, Hasse und späterhin ein J. Haydn, Mozart und andere, fanden eine Bahn, die er nicht betreten hatte“ (TRIEST 1801, Sp. 261). Neben der Feststellung, dass Bach demnach der „Vorgeschichte“ angehört, wird aus dem Zusammenhang deutlich, dass nicht nur die Bach-Rezeption Triests (deren Implikationen für das 19. Jahrhundert von großer Bedeutung sein werden), sondern auch sein ganzes ästhetisches Kategoriensystem in den Grundzügen dem terminologischen Apparat der Aufklärungsästhetik verpflichtet ist – ein „Apparat, der von Johann Adolf Scheibe
Epilog: „Gründliche Theorien“ über das 17. und 18. Jahrhundert
1737 benutzt worden war, um Bach in eine Vergangenheit zurückzustoßen, die tot und abgetan war“ (DAHLHAUS 1978c, S. 202). Zu diesem ästhetischen Kategoriensystem gehört mindestens seit Johann Adolph Scheibe (1708–1776) eine Charakteristik geschichtlicher Stufen, die von Begriffskontrasten geprägt ist: Begriffspaare wie „Harmonie“ und Melodie“, „gebundener“ und „freier Stil“, „reine“ und „angewandte Tonkunst“ bilden ein System, in dem jeder Begriff der einen Seite mit jedem anderen unwillkürlich assoziiert, ohne dass expressis verbis gesagt werden musste, dass dem „harmonisch Tiefsinnigen“ der „ästhetische Geist“ fehle. Dieses formelhaft verfestigte System von Antithesen ist ein tragendes Fundament für die meisten Denkmodelle der Aufklärungsästhetik (vgl. SPONHEUER 2001, S. 140). Carl Dahlhaus weist darauf hin, dass im Begriff der „reinen Tonkunst“ außer den Assoziationen mit „reiner Schönheit“ und „reiner Mathematik“ auch die Konnotation „reiner Satz“ steckt, wie die Verbindung mit „Harmonie“ – also Kontrapunkt! – und „gebundenem Stil“ zeigt (DAHLHAUS 1978c, S. 203). So beinhaltet die Bach-Rezeption Triests gleichfalls heftige Kritik an einer offenkundig längst überholten Stilistik. Auf die hohe Bedeutung des Aspektes „Harmonie“ weist Triest aber in seinem Text auch immer wieder hin: Wenn er Hasse und Graun vorwirft, „um einer süßen gefälligen Melodie willen die Harmonie als eine Nebensache“ (TRIEST 1801, Sp. 278) zu behandeln, wird im Umkehrschluss daraus der Vorwurf der Regellosigkeit, die Triest ebenso verurteilt. Harmonie definiert Triest als die „Organisation ihrer [der Musik, Anm. d. Verf.] festeren Theile“ (TRIEST 1801, Sp. 443). „Gründliche Theorien“ als Grundlage einer musikalischen Ausbildung beschreibt Triest im Allgemeinen als sicheren Maßstab für die Beurteilung der von ihm intendierten Übersicht über den Gang der Ausbildung. Zu einer solchen Theorie gehört nach Triest, „daß sie auf festen Principien beruhe, und daß sie ohne bedeutende Lücken, mithin weitumfassend sey, aber dabey doch nicht die Grenzen ihres Gebietes überschreite“ (T RIEST 1801, Sp. 302). Er unterscheidet zwischen der mechanischen Theorie, die dem Praktiker „nur zur Vermeidung mechanischer Fehler geschickt macht“ – also der Handwerkslehre – , und der ästhetischen Theorie, die sich „mit den eigentlichen Kunstzwecken philosophisch beschäftigt“ (TRIEST 1801, Sp. 302–303). Diese Theorie war nach Triest bis zu der Zeit Johann Sebastian Bachs noch nicht existent, da das Tonsystem erst spät eine endgültige Form annahm; als die ersten echten Theoretiker nennt er Kirnberger, Marpurg und Carl Philipp Emmanuel Bach, deren Texte zwar noch in Hinblick auf die mechanistische Theorie ausgelegt waren, aber den späteren Theoretikern den Weg bahnten. „Bis dahin behalf man sich mit einzelnen Bemerkungen, welche, trotz ihrer systematischen Form, doch auf den Namen einer Theorie (nach obigem Begriff) nicht Anspruch machen durften“ (TRIEST 1801, Sp. 303). Zu diesen gehört laut Triest auch Johann Mattheson, den Triest in diesem Zusammenhang als einzigen Musikschriftsteller
129
Kontraste
„Gründliche Theorien“
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das „Mechanische“
Epilog: „Gründliche Theorien“ über das 17. und 18. Jahrhundert
nennt, denn „die dahin einschlagenden Werke des fast übermenschlichen Polygraphen Matheson enthalten zwar sehr viele schöne, originelle und scharfsinnige Bemerkungen; aber sie sind zu fragmentarisch, zu polemisch, und mit zu vielem (obgleich oft treffenden und naiven) Witze überladen, dabey, nach dem Geschmacke seines Zeitalters, zu spielend und mikrologisch, so, daß man ihnen das bunte Gedränge der großen Masse von Ideen gleich ansieht, welches sich in dem Kopfe ihres schnell schreibenden Urhebers befand“ (TRIEST 1801, Sp. 303–304). Dass Matthesons Arbeiten „zu spielend und mikrologisch“ seien, lastet Triest dem Geschmack seines Zeitalters an – ein Zeitalter also, das nach seiner Einschätzung längst vergangen und mit dem Tod Johann Sebastian Bachs abgeschlossen ist. Zugleich bringt er den inhaltlichen Diskurs der Schriften Matthesons in die Nähe des „Mit der Mode-Gehens“. An der Erörterung der Persönlichkeiten Marpurg, Kirnberger und C. Ph. E. Bach lässt sich erkennen, welches Idealbild Triest für die Entwicklung der von ihm erläuterten „doppelten Theorie“ vorschwebte: So begnügte sich Marpurg, der Kirnberger an Bildung Überlegene, nicht mit der technischen Seite des Sujets, sondern streifte mit seinen Arbeiten auch die ästhetische Theorie, „wofür die Kunst damals noch nicht reif genug war“ (TRIEST 1801, Sp. 305) – was ihn weniger erfolgreich als Kirnberger werden ließ. Auch Marpurg „drängte, wie Matheson, obgleich geordneter als bey diesem, eine große Masse von Kunstideen, welche sich oft nur in fragmentarische Darstellungen ergoß“ – während den Werken Marpurgs „das Gepräge der Vollendung“ fehlte, brachte Kirnberger seine Arbeit (Triest erwähnt Die Kunst des reinen Satzes) als System in eine Einheit und vermochte eine Schule zu begründen. Und was beide auf dem Gebiet der Tonkunst vollbrachten, „das that C. P. E. Bach für die Praxis des Klaviers“ (TRIEST 1801, Sp. 306). Überbetont wird in der Darstellung jeweils der Aspekt der Systematik, die Mattheson in der Auffassung Triests demnach vollkommen abging; über inhaltliche Aspekte verliert Triest allerdings kein Wort. Triests Begriff des „Mechanischen“, dessen Auseinanderlegung in den Arbeiten Matthesons demnach im Vordergrund steht, weist enge Konnotationen zum Begriff des „Rhetorischen“ auf, da das „Ästhetische“ von Triest als Alternative zu „Poetisch“ verwendet wird (vgl. DAHLHAUS 1978c, S. 203). Das Werturteil, das der halb pejorativ gemeinte Begriff des „Mechanischen“ enthält und mit dem sich die Vorstellung des Virtuosen verbindet, zeichnet sich deutlich in Triests Schilderung des „Geistes der Gründlichkeit“, durch den die deutsche Musik geprägt wurde, ab (vgl. TRIEST 1801, Sp. 242). Carl Dahlhaus weist darauf hin, dass die Assoziation des Instrumentalen mit dem Mechanischen und die Leugnung „ästhetischen Geistes“ in der Instrumentalmusik des Jahrhundertanfangs und der dazugehörenden schriftstellerischen Betrachtung auf Jean-Jaques Rousseau zurückgehen, „der die ‚wahre‘ Musik in der gefühlvollen Simplizität gesungener Melodien suchte“ – Rousseau hob das ihm vorschwe-
Epilog: „Gründliche Theorien“ über das 17. und 18. Jahrhundert
bende Ideal polemisch von der dunklen Folie einer „gotischen und barbarischen Musik“ ab, „in deren Begriff er die Gegensätze zu den Merkmalen der ‚wahren Musik‘ – das ‚Errechnete‘, das ‚Künstliche‘, das ‚vergrübelt Harmonische‘ und das ‚Instrumentale‘ versammelte“ (vgl. DAHLHAUS 1978c, S. 203). Triest bezieht sich auf das Dictionnaire de Musique Jean-Jacques Rousseaus von 1768: Auch Triest widmet in den Bemerkungen der Volksliedkunst und ihrem Stand einen umfangreichen Passus – „der Gesang, der schöne künstliche (nicht künstelnde) Gesang!! – Er ist einmal, wie schon bemerkt, keine ganz einheimische deutsche, besonders nord-deutsche Frucht und bedarf daher um desto mehr der sorgfältigsten Pflege“ (vgl. TRIEST 1801, Sp. 427). Rousseaus Ablehnung der Instrumentalmusik macht sich Triest eingeschränkt auf die ältere zu eigen, was paradox erscheinen mag, wenn Triest eigentlich eine Rechtfertigung der deutschen Musik (und zwar der instrumentalen!) intendierte. Nur in diesem Kontext ist es zu verstehen, dass Triest die offensichtlich parallel gewachsenen Argumentationslinien bei Rousseau und Mattheson in mindestens einer Hinsicht nicht bemerkte bzw. unterschätzte: Beide standen im Streit um den Primat von Melodie oder Harmonie auf der gleichen Seite – wenn auch unabhängig voneinander und mit teilweise einander entgegengesetzten Argumenten. Die von Triest mit den Bemerkungen vorgelegte Geschichtskonstruktion entbehrt so nicht der Widersprüche: Neben den sachlichen, den eklektischen Ausführungen immanenten Ungereimtheiten macht die antithetische Urteilsfindung den Traktat zu einem Sammelpunkt unterschiedlichster Auffassungen von Musik, die sich Ende des 18. Jahrhunderts bündeln. „Was ästhetisch als romantische Aneignung und Verfärbung barocker Kategorien erscheint, soll geschichtsphilosophisch als dialektischer Progreß gelten; der Eklektizismus präsentiert sich als Synthese“ (DAHLHAUS 1978c, S. 206). Als elementare These für die Musikanschauung Triests ergibt sich daraus, dass „reine Musik“ nicht im „Mechanischen“ steckenbleibe, sondern sich zum „Poetischen“, dem Gegensatz des „Rhetorischen“ erhebe; dieses wiederum begreift Triest als die Musik etwa Johann Sebastian Bachs: „Bisher war ein künstlicher Gang der Harmonie das einzige gewesen, was man an Produkten der Art schätze. Ihre Formen waren, noch mehr als die der angewandten, durchaus nur rhetorisch, nicht poetisch. […] Wenn das Thema nur eine Melodie enthielt, die sich nöthigenfalls in zehnfachen Umkehrungen produziren konnte, so bekümmerte man sich nicht weiter darum, ob damit auch etwas gesagt werden sollte“ (TRIEST 1801, Sp. 297–298). Der Fortgang der Musikgeschichte besteht für Triest demnach in der Entwicklung vom Rhetorisch-Mechanischen über das Galante hin zum Poetischen – allerdings zieht er daraus nicht die Konsequenz, das Poetische der Musik durch poetisches Reden zu erklären, was auch die Verbindung zu den Äußerungen Rousseaus verbindlicher erscheinen lassen würde; „gerade das Musikalisch-Poetische nämlich garantiert die Unabhängig-
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keit der Instrumentalmusik – auch von aller literarischen Poesie –, der sie nun gleichberechtigt gegenübertreten kann“ (S PONHEUER 1987, S. 142). Der Dreischritt Triests führt vom Rhetorischen über das Galante hin zum Poetischen; Mattheson mag in diesem Schema die Mittelposition einnehmen – auch wenn seine Position, bei Licht betrachtet, die eines Vermittlers von Galantem und Gelehrtem (um in der Zuweisung von Begriffspaaren zu bleiben) ist. Carl Dahlhaus wies darauf hin, dass der Begriff, den sich Triest von barocker Instrumentalmusik machte, durchaus inadäquat ist – so angemessen die Vokabel auch erscheinen mag: Triest verstand unter rhetorischer Musik im Sinn des antibarocken Affekts aus dem zweiten Jahrhundertdrittel nichts anderes als „Formelkram: prunkende Virtuosität des Figurenwesens ohne genügenden Sach- und Wahrheitsgehalt“ (DAHLHAUS 1978c, S. 206–207). Dazu tritt Triests kritische Beurteilung der Gefühlsproblematik: „Aber es wäre […] in der That noch trauriger, wenn das blosse Gefühl, oder, was dasselbe sagt, der Geschmack der unwissenden Zuhörer, zum höchsten Maasstabe für die Kunst dienen sollte. Es gäbe keinen kürzeren und sicherern Weg zur Barbarey, als diesen“ (TRIEST 1801, Sp. 258–259) – die Zeit des galant homme ist längst vorüber.
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Abbildungsnachweise 1.1 Erstdruck bei Ricciardo Amadino (Venedig 1609) 2.1 Paris, Musée du Louvre, Inventar-Nr. INV 1317 2.2 Erstdruck bei Trajectum ad Rhenum (Utrecht 1650) 2.3 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Inventar-Nr. A 13611 3.1 aus Martin Zeiller, Topographia Germaniae Bd. 12: Topographie Saxoniae Inferioris (Frankfurt 1653) 4.1 Erstdruck bei Georg Hoffmann (Freiburg 1625) 4. London, National Portrait Gallery, InventarNr. 3970
5.1 Dijon, Musée des Beaux-Arts, Inventar-Nr. CA 247 5.3 http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8436620k/ f1.item 6.1 Erstdruck bei Christian Herold (Hamburg 1739) 6.2 London, Royal College of Music, InventarNr. PPHC000001 Die Abbildungen 3.2, 3.3, 4.2, 4.4–4,9, 5.2, 5.4, 6.3–6.6 und 7.1–7.4 sind vom Autor selbst gesetzte Notenbeispiele gemeinfreier Kompositionen.