Die Dinge, die bleiben: Reliquien im interdisziplinären Diskurs 9783839452134

In a burial, objects of material culture are carefully preserved: photos, articles of clothing, letters, commemorative u

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German Pages 260 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Die Dinge, der Trost und die Erinnerung
I. Theorietraditionen
Der Kult um die Reliquien
Von der Reliquie zum Ding – und zurück?
Früh- und frühhochmittelalterliche Berichte über Reliquien in Nordwestdeutschland
Der unsichere Status der Dinge
II. Theologie im Dingdiskurs
Sakrament des Zigarettenstummels?
Ergötzen ohne Götzendienst
Die „letzten Dinge“ – Von der Beständigkeit der Dinge im Sterben
Das Porträtfoto in der Trauerfeier – eine Reliquie?
III. Phänomene
„Der Diamant ist das Funkeln von ihr“
„Ich will jetzt Mutters Asche!“
Rechtliche Aspekte der funeralen Sachkultur
IV. Funerale Praxis
Mutters Kochlöffel
Hinterhergeworfen. Ein Blick ins offene Grab
V. Fazit
Die Toten und die Dinge
Autorinnen und Autoren
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Die Dinge, die bleiben: Reliquien im interdisziplinären Diskurs
 9783839452134

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Thomas Klie, Jakob Kühn (Hg.) Die Dinge, die bleiben

rerum religionum. Arbeiten zur Religionskultur  | Band 6

Editorial Religion ist ein Kulturphänomen. Sie zeigt sich in Kunst und Gesellschaft, in Ethos und Recht, in Sprache, Konsumkultur, Musik und Architektur. Eine Deutung spätmoderner Religion wird sich darum immer auch auf weitere Segmente der Gegenwartskultur einlassen müssen. Dies gilt auch und gerade aus der Perspektive der Religionsforschung innerhalb und außerhalb von Theologie. Jenseits der überkommenen polarisierenden Orientierungen am isolierten Subjekt oder am dogmatischen Normenkanon rückt Religion als dynamische Ausdrucksform performativer Praxis ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Religionswissenschaft, Praktische Theologie und Kulturwissenschaft stellen sich dieser Aufgabe in je spezifischen Theoriezugriffen. Dabei werden Differenzen und Deutungskonflikte, Geltungsansprüche und Übergänge kenntlich gemacht und aufgeklärt. Denn die Frage nach religionskulturellen Formaten korreliert mit der nach religiösen Traditionen, theologischen Normierungen und sozialen Zuschreibungen. Diskurse zu Religion werden so in Bezugnahme auf religionstheoretische Fragehorizonte zum Gegenstand interdisziplinären Austauschs – empirisch, philologisch und historisch vergleichend. Die Bände dieser neuen Reihe widmen sich in unterschiedlicher Weise kulturellen Phänomenen und deuten sie semiotisch und ästhetisch in ihrer geschichtlich gewordenen Gestalt. Im Horizont fachlich gebundener Herangehensweisen wissen sich die Herausgeberin und die Herausgeber in besonderer Weise der Frage nach der Relevanz ihres Gegenstands verpflichtet. Die Reihe wird herausgegeben von Klaus Hock, Anne Koch und Thomas Klie.

Thomas Klie (Dr. theol.), geb. 1956, ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät an der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind Pastoral- und Religionsästhetik, spätmoderne Religions- und Kasualkultur und Religionshybride, Performanztheorie und Sepulkralkultur. Jakob Kühn (Dipl. theol.), geb. 1988, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät an der Universität Rostock und promoviert zum Thema Kasualrede. Seine Forschungsschwerpunkte sind Homiletik, Kasualtheorie sowie Sepulkralkultur.

Thomas Klie, Jakob Kühn (Hg.)

Die Dinge, die bleiben Reliquien im interdisziplinären Diskurs

Die Herausgeber danken Frank Hamburger für das wie immer versierte Erstellen der Druckvorlage und stud. theol. Luise Gerber für die Corrigenda. Die Tagung, der sich die meisten der hier versammelten Beiträge verdanken, wurde großzügig gefördert von der »Stiftung Deutsche Bestattungskultur« (Düsseldorf) und dem Department »Wissen - Kultur - Transformation« (WKT), Interdisziplinäre Fakultät der Universität Rostock. Die Druckkosten wurden getragen vom Department »Altern des Individuums und der Gesellschaft« (AGIS), Interdisziplinäre Fakultät der Universität Rostock.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Seth Price (New York), Courtesy of the artist, c./o. Valerie Keane; Museum Brandhorst (München) Lektorat: Luise Gerber, Rostock Satz: Frank Hamburger, Rostock Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5213-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5213-4 https://doi.org/10.14361/9783839452134 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt Die Dinge, der Trost und die Erinnerung Zur Einleitung

Thomas Klie/Jakob Kühn  | 7 I. Theorietraditionen

Der Kult um die Reliquien Vom „unverweslichen Leichnam“ bis zu den „Körperwelten“

Hubertus Lutterbach  | 19

Von der Reliquie zum Ding – und zurück?

Stefan Laube  | 37

Früh- und frühhochmittelalterliche Berichte über Reliquien in Nordwestdeutschland

Thies Jarecki  | 53

Der unsichere Status der Dinge Zum Kontinuum von Sozialität und Materialität

Thorsten Benkel  | 71

II. Theologie im Dingdiskurs Sakrament des Zigarettenstummels? Reliquien des Heiligen in der katholischen Tradition

Christian Bauer  | 89

Ergötzen ohne Götzendienst Überlegungen zu einer religiösen Wahrnehmung der Dinge des Daseins

Michael Roth/Ulrike Peisker  | 111

Die „letzten Dinge“ – Von der Beständigkeit der Dinge im Sterben Praktisch- und systematisch-theologische Zugänge zur materiellen Kultur am Lebensende

Sonja Beckmayer/Marcus Held  | 125

Das Porträtfoto in der Trauerfeier – eine Reliquie? Bemerkungen über das dynamisch Wirksame im Zwischenreich der Bilder

Matthias Marks  | 141 III. Phänomene

„Der Diamant ist das Funkeln von ihr“ Eine Fallanalyse zur Diamantpressung

Thomas Klie  | 163

„Ich will jetzt Mutters Asche!“ Aushandlung, Aneignung und Autonomie am Beispiel kontroverser Gegenständlichkeit

Matthias Meitzler  | 175

Rechtliche Aspekte der funeralen Sachkultur

Torsten Schmitt  | 199

IV. Funerale Praxis Mutters Kochlöffel Reflexionen pastoraler Erfahrung im Umgang mit Artefakten

Dino Steinbrink  | 217

Hinterhergeworfen. Ein Blick ins offene Grab

Dirk Battermann  | 233 V. Fazit

Die Toten und die Dinge Beobachtungen zur funerale8

Manuel Stetter  | 241

Autorinnen und Autoren  | 255

Die Dinge, der Trost und die Erinnerung Zur Einleitung Thomas Klie/Jakob Kühn

1.  ÜBERBLEIBSEL „Manchmal ist der Tod ganz handfest. Zum Beispiel, wenn es darum geht, Zimmer, Wohnungen oder Häuser verstorbener Personen zu räumen. Was auf den ersten Blick als ‚nur‘ praktisches Vorhaben erscheinen mag, verbindet sich im Ernstfall oft mit aufwühlenden Erfahrungen. Ein Arrangement von Dingen muss aufgelöst, eine Serie von Entscheidungen getroffen werden. Was wird in den Müllcontainer befördert, was unbedingt behalten, was geht zum Neffen, zur Nachbarin oder ins Brockenhaus?“1 – Mit dieser Szenerie leiten die beiden Herausgeberinnen den Text ihres Katalogs zur Ausstellung „Die letzte Ordnung. Tote hinterlassen Dinge“ ein. Die Ausstellung war bis Ende November 2019 im Forum Friedhof in Zürich zu besuchen. In ihr ging es um „Dinge“, die Menschen nach ihrem Tod zurück­gelassen haben. Sie haben sie entweder vererbt, verschenkt oder sie sind einfach in der Wohnung verblieben und wurden dann bei einer Haushaltsauflösung „entsorgt“. Entsorgung – dieser typisch deutsche Euphemismus bezeichnet weniger den unschönen Vorgang des Aussonderns, Fortschaffens und Abtransportierens, als vielmehr den Endeffekt des Loswerdens: Man muss sich keine Sorgen mehr machen über die Dinge, die einst ein Leben bereichert und begleitet haben. Aus dem Blickfeld wird entfernt, was zuvor von Belang war, mit Geschichte(n) versehen und als Artefakt Bestandsschutz genoss. Da sich die Halbwertszeit solcher Arte1 Süssmann, Christine/Staffelbach, Cornelia (Hg.): Die letzte Ordnung. Tote hinterlassen Dinge. Publikation anlässlich einer Ausstellung vom 4.9.2018–28.11.2019 im Friedhof Forum Zürich, Zürich 2019. „Brockenhaus“ ist die typisch schweizerische Form eines Second-hand-Ladens.

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fakte und Lebensdinge empirisch zumeist an der Zahl der Umzüge bemisst, bei denen man sich nicht von ihnen trennte, ist das, was bis zuletzt bei einem geblieben ist, natürlich von ganz besonderem Wert. Die schwedische Autorin Margareta Magnusson umreißt in ihrem autobiographischen Ratgeber das Phänomen des „Döstädning“, die Kunst, sein Leben nach und nach in Ordnung zu bringen.2 Das morbide Kunstwort „Döstädning“ ist im Schwedischen eine Wortkreation aus den Wörtern für „sterben“ und „Sauberkeit“ (englisch: „death cleaning“). Magnusson will Menschen helfen, sich vor ihrem Ableben auf die wenigen wichtigen Dinge zu konzentrieren, die wirklich zählen – alle anderen Sachen sollte man im Alter am besten planvoll selbst entsorgen. Sie schreibt, dass ihr das sukzessive Entrümpeln viel Freude bereitet und dabei wunderbare Erinnerungen zurückgebracht hat. Wahrscheinlich ist damit auch schon die Hauptfunktion von Überbleibseln beschrieben: Erinnerung dinglich zu binden und damit auf Dauer zu stellen. „Dinge, die bleiben“, erinnern an Menschen, die nicht geblieben sind. Erinnerungsdinge ziehen den Vergangenen fassbar und ansehnlich wieder ins Leben. So gesehen sind Dinge, die bleiben, widerstandsfähige Präsenzgeneratoren. Fotos, Erbstücke, aber auch Hinterlassenschaften und Gräber auf dem Friedhof lassen Verstorbene gegenwärtig werden. Was den Altvorderen zu eigen war, Sachen, mit denen sie sich täglich umgaben, die sie berührt und mit denen sie hantiert haben, können postum in den Händen der Hinterbliebenen bedeutsam werden. Der innere Blick belebt und personalisiert gewissermaßen das Ding, um die Person ins Gedächtnis rufen zu können, auf die es hindeutet. Das Begehren, über die Habe von Verstorbenen diese intensiver zu erinnern, ist nur zu menschlich. Denn das Bewahren von Überbleibseln ist aus dem Verlust geboren; Trennungserfahrungen wollen „behandelt“ und sublimiert werden. Alltagskulturell und in emotional kleinerer Münze erfüllen Souvenirs diese Funktion. Als Mitbringsel generieren sie Erinnerungen an ein bestimmtes Ereignis, einen Ort oder eben an eine abwesende Person. Etymologisch schwingt hier noch der reale Vorgang des Erinnerns mit; Souvenir leitet sich ab aus dem lateinischen subvenire: „von unten herankommen“. In den Erinnerungsstücken kommt einem etwas „von unten heran“. Etwas, das seinen eigentlichen Sitz im Leben im Souterrain des Vergangenen einnimmt, wird durch das Andenken in die Gegenwart geholt. Die Erinnerungsfunktion ist den Dingen nicht inhärent, sie wird ihnen zugeschrieben. Es sind die Menschen, die sie gesammelt, erworben oder geschenkt bekommen haben und die sie dann als Accessoires im Wohnumfeld aufbewahren oder bei sich tragen, die die Dinge mit den sie vergegenwärtigenden 2 Magnusson, Margarete: Frau Magnussons Kunst, die letzten Dinge des Lebens zu ordnen, Frankfurt a. M. 2018.

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Eindrücken verbinden. Souvenirs erkennt jedoch nur der als Bedeutungsträger, der die Verbindung von Signifikat und Signikant herzustellen vermag. Leonardo Boff, ein bedeutender katholischer Befreiungstheologe, berichtet von der Zigarette, die sein Vater nur wenige Augenblick vor seinem Tod noch geraucht hatte und die nun seine Töchter aufbewahren.3 Der Zigarettenstummel wurde dadurch für die Familie von da an zu etwas ganz anderem: Er „lebt, spricht von Leben und begleitet mein Leben. Seine charakteristische Farbe, sein starker Duft und das Verbrannte an der Spitze lassen ihn in unserem Leben noch angezündet sein. […] In unserer Erinnerung lässt er die Gestalt des Vaters gegenwärtig werden“.4 Der Tod, der die lebendige Kommunikation unter Anwesenden radikal ausgelöscht hat, lässt das, was danach noch greifbar bleibt, zu einem optionalen Erinnerungsmedium werden. Diese Medien sind insofern starke Medien, weil sie ambulant, haltbar und verfügbar sind. Kopräsent sind nun die Habe und das Objekt, nicht mehr das Sein und das Subjekt. Je schmerzhafter die Verlusterfahrung und je intensiver die vortodliche Beziehung, desto stärker wird der Drang, die Habseligkeiten symbolisch aufzuladen und sie als Reliquien zu überhöhen.

2.  RELIQUIEN Für Leonardo Boff ist der Zigarettenstummel des verstorbenen Vaters nicht nur ein familiengeschichtliches Erinnerungsding. Er dient ihm als lebensweltliches Exempel im Rahmen seiner „Kleinen Sakramententheologie“. Profane oder sakrale Sakramente entstehen „aus dem Spiel des Menschen mit der Welt und Gott“; es sind „Dinge, Situationen und Menschen“, die den Menschen „herausgefordert haben (pro-vocar), sich selbst zu übersteigen, die ihn eine höhere Wirklichkeit erahnen und sie ihm gegenwärtig sein ließen (e-vocar) und die ihn zusammen mit anderen Menschen zur sakramentalen Begegnung mit Gott zusammengerufen haben (con-vocar).“5 – Prinzipiell ist hiermit der theologische Rahmen der katholischen Reliquienverehrung umrissen.6 Denn sehr viel wirkmächtiger noch als bei Habseligkeiten, Überbleibseln und Souvenirs ist der Zeitsprung zwischen der gewesenen Lebensbeziehung und dem momentanen Gedenken, wenn es sich bei den Erinnerungsdingen um die sterblichen Überreste von Heiligen handelt, um kon3 Boff, Leonardo: Kleine Sakramentenlehre, Düsseldorf  81985, 27ff. 4 Ebd., 29. 5 Ebd., 15 (Hervorhebungen aus dem spanischen Original). 6 Das theologische Standwerk hierzu Angenendt, Arnoldt: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994 (22007).

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serviertes Körpermaterial von Menschen also, denen von Gläubigen ein Übermaß an Gottvertrauen, gar Wundertaten zugeschrieben werden. Entsprechend ihrer Wirkmacht ist bei Reliquien eine mentale Synchronisierungsleistung kaum erforderlich, denn die Dinge, die hier bleiben, sind bzw. waren authentische Bestandteile eines Körpers. Man sieht die Knochen (Haut, Körperteile etc.), die ehedem Glieder am Leibe verehrungswürdiger Nothelfer waren. Zwischen körperechter Reliquie und privatem Erinnerungsding besteht also eine ontologische Differenz. Reliquien sind Dinge, die kultisch verehrt werden, Dinge, die – um mit Leonardo Boff zu sprechen – evozieren (hervorrufen) und convozieren (zusammenrufen). Sie werden als sakrale Erinnerungsdinge in Kirchen aufbewahrt, damit sie energetisch dort etwas von ihrer religiösen Präsenz abgeben an die, die sich in ihren Resonanzraum begeben. Reliquien, an die nicht geglaubt wird, haben ein schweres Leben. Denn Reliquien leben von den Echtheitsvermutungen derer, die sie zur Schau stellen, sowie von den Devotionen derjenigen, für die diese Schaustellung religiös von Belang ist. Solange es Reliquien gibt, sind sie eingebunden in die Verheißung von Authentizität. Nur was echt zu sein glaubhaft machen kann, ist auch einer Verehrung würdig. Darum muss die Verheißung von Authentizität auch eigens verbürgt werden – am besten natürlich von einer Institution, an deren Glaubwürdigkeit kein Zweifel besteht und die dann entsprechende Echtheitszertifikate ausstellt. Da Reliquien ihr Herkommen nicht von sich aus preisgeben, braucht es valide, also hochinstanzliche Beglaubigungen glaubhafter Dritter. Aber auch denen muss man natürlich Glauben schenken. Der Kult, der sich seit dem Mittelalter um diese Leibesreste herum ausgebildet hat, lebt von der den Reliquien eigenen virtus, die von den Überresten ausgeht und die sich im Glauben mitteilt. Sie wird umso stärker geglaubt, je geringer der Abstand zwischen Beter und heiligem Köperteil ist. Dies ist der alte Realgrund des Pilgerns: die Distanz zu den stationär aufbewahrten Heiltümern will überwunden werden. Am sakralen Beinhaus angelangt weiß sich der Pilger im Epizentrum der Seligkeit. Aber Pilgern war mühsam und zeitaufwändig. Und so entstand bald schon der Brauch, Reliquien nicht nur stationär, sondern auch ambulant zu verehren. Wer es sich leisten konnte, trug seine Privatreliquien bei sich am Körper. In dieser Weise schützten sie ihre Träger als Viatikum bzw. Phylakterium vor der Unbill bei längeren Reisen. Die Vorstellung, dass Körpermaterialien von Verstorbenen einen heilsamen Einfluss auf die ausüben, die sie besitzen, ist nicht nur in der kirchlichen Tradition kultiviert worden. Auch im vitalen Volksglauben finden sich immer wieder Narrationen über „Dinge, die bleiben“ und die dann wirkmächtig in das Leben der Angehörigen eingreifen. In Grimms Märchen spielt z. B. in „Die Gänsemagd“ und „Aschenputtel“ die virtus von Köpermaterial eine tragende Rolle. Bei Aschenputtel ist es ein von ihren Tränen getränktes Reis auf dem Grab der Mutter, das als

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Helfer in der Not fungiert: „Bäumchen, rüttel‘ dich und schüttel‘ dich, wirf Gold und Silber über mich!“7 Und bei dem Märchen „Die Gänsemagd“ sind es drei Blutstropfen, mit denen die Mutter beim Schnitt in den Finger einen Stofflappen tränkte und ihrer Tochter als Weggeleit ans Herz legte: „Liebes Kind, verwahre sie wohl, sie werden dir unterweges Noth thun!“ Als die Tochter ihren Durst in einem Bach stillte, verlor sie ihren Blutlappen. Danach „war sie schwach und machtlos geworden.“8

3.  RELIKTE Der nicht-katholische Teil der Christenheit hat zu heiligen Dingen aus theologischen Gründen kein ausgeprägtes Verhältnis. Für Protestanten gibt es Heiligkeit nur in der Form interpersonaler Kommunikation. Heiligkeit ist ihnen eine performative Größe, die gerade nicht leiblich-dinglich zuhanden ist. Reliquien wären also evangelisch schlicht nicht der Rede wert, wären nicht in jüngster Zeit sepulkrale Phänomene in Erscheinung getreten, die auch und gerade im säkularen Bereich das Interpretament „Reliquie“ auf sich ziehen. Wenn die niedersächsische „Mapapu GbR“ aus der Kleidung von Verstorbenen Puppen als Seelentröster herstellt („Mama-Papa-Puppen“), die Schweizer Firma Algordanza aus dem Kohlenstoff der Kremierungsasche sog. Erinnerungsdiamanten produziert9 und auf Kindergräbern vermehrt ehemalige Kuscheltiere und Kinderspielzeug platziert werden, dann zeigt sich hier eine spätchristliche, eher: nachchristliche Renaissance der Reliquienverehrung. Diese säkularen Privatreliquien betreten die religionskulturelle Bühne gewissermaßen in der Mitte zwischen katholischem Kult und privaten Lieblingsdingen. Kommen uns in der Bestattungskultur Reliquien auf der religionskulturellen Überholspur entgegen? Im Kontext von Bestattungen sind es oft Dinge der materialen Kultur, die sorgsam verwahrt und platziert werden: Fotos, Schmuckstücke, Briefe. Vielfach wird auch – am Rande der Legalität – ein Teil der Kremierungsasche diskret daheim in Erinnerungs- oder Miniurnen aufbewahrt. Diese können wahlweise auch mit Halsketten, Haarsträhnen oder Erde vom Grab befüllt werden. Auch die sog. Erinnerungsdiamanten stellen symbolisch stark aufgeladene Relikte dar: Dinge, 7 Rölleke, Heinz (Hg.): Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständ. Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837), Frankfurt a. M. 2007, 118f. 8 Ebd., 385f. 9 Vgl. hierzu Benkel, Thorsten/Klie, Thomas/Meitzler, Matthias: Der Glanz des Lebens. Aschediamant und Erinnerungskörper, Göttingen 2019.

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die sehr lange bleiben. „A diamond is forever“, ein Diamant ist unvergänglich.10 Übersetzt man das „Zurückgelassene“ ins Lateinische, dann findet sich die Vokabel reliquiae. Im klassischen Latein bezeichnete reliquiae zunächst einmal alles, was von menschlichen und tierischen Körpern sowie deren Bestandteilen übriggeblieben war. Erst im Christentum wurde dann dieser zunächst wertfrei beschreibende Begriff heilsgeschichtlich konnotiert. In römisch-christlicher Tradition stehen Reliquien heute für die sterblichen Überreste heiliger Personen. Mit dieser Neudefinition wurde natürlich im Gegenzug alles, was „normale“ Menschen hinterlassen, radikal profanisiert. Denn im profanen Bereich sind Leichen ein Fall für den Friedhof und nachgelassene Habseligkeiten allenfalls für die Erben und Angehörigen von Bedeutung – oder für die Entsorger. Die Allgemeinheit zeigt sich normalerweise nur wenig interessiert an privaten Resten – außer sie sind von persönlichem Wert bzw. von kulturellem Belang.11 Die Welt der Dinge ist im funeralen Kontext relational verfasst. Denn in den Bezügen zu Objekten von persönlicher Bedeutung spiegeln sich vitale Interaktionen, die sich in Ermangelung leiblicher Präsenz auf die Dinge verlagern. Dinge vermitteln die Vorstellung von Kontinuität und Stabilität, sie sind dem leiblichen Verfall scheinbar entzogen. Sie altern – je nach Material – langsamer als Lebewesen. „Der Trost der Dinge“12 liegt jedoch in erster Linie darin, dass sie verfügbar sind. „Dinge in Bewegung“13 sind hoch attraktiv. Man kann Dinge besitzen, bei sich tragen, sie für bestimmte Zwecke gebrauchen, sie verschenken – oder entsorgen. Wenn aber physische Dinge Verstorbene verkörpern, also „geliebte Dinge“14 werden, dann liegen all diese Umgangsformen weit jenseits rein pragmatischer Entscheidungen. Ein Leichnam bzw. Kremierungsasche gelten zwar juristisch als „Sache“, aber sie sind nicht eigentumsfähig. Einen toten Körper kann man konservieren, einsargen oder kremieren, aber man kann ihn nicht besitzen und darum auch nicht veräußern oder verschenken. Ebensowenig kann man die sterblichen Überreste bzw. die Asche einfach bei sich behalten oder sie einem anderen Zweck als der Bestattung zuführen. Menschenwürde, Totenruhe und Friedhofspflicht sind 10 Diesen Werbespruch kreierte der in Luxemburg ansässige Diamantenhändler De Beers schon in den 1940er Jahren. 11 Als hochambivalentes Beispiel wäre diesbezüglich an das Erbe des 2014 verstorbenen Kunstsammlers Cornelius Gurlitt zu denken. 12 Miller, Daniel: Der Trost der Dinge, Berlin 2010 (The comfort of things, Cambridge 2009); belletristisch: Setz, Clemens: Der Trost runder Dinge, Berlin 2019. 13 Depner, Anamaria: Dinge in Bewegung. Zum Rollenwandel materieller Objekte, Bielefeld 2015. 14 Habermas, Tilman: Geliebte Dinge. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Berlin u. a. 1996.

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gesetzlich bewehrt. Anders verhält es sich jedoch beim Aufbewahren von Haarsträhnen Verstorbener oder von postmortalen Gen-Molekülen in einer Schmuckschatulle. Auch die Erinnerungsedelsteine (Diamanten aus der Kremierungsasche, Rubine mit Asche bestreut), der Ascherest in einer Miniurne für die häusliche Aufbewahrung oder der in ein Schmuckstück eingravierte Fingerabdruck des Verstorbenen werfen eine Problematik auf, die ungeachtet bestattungsrechtlicher Fragen in der späten Moderne die „Macht der Dinge“15, ihre „Agency“16, ihre (Wieder­-) Belebung und säkulare (Re-)Sakralisierung17 eher unerwartet auf die Tagesordnung setzt. Oft legt sich dabei die taktile und optische Qualität der Dinge über die Bedeutungsweisen, so dass die konkrete Funktion der Erinnerungsobjekte, den Kontakt zum signifikant Anderen zu stimulieren, eher in den Hintergrund tritt. Im anderen Extrem nehmen vor allem die stark ästhetisierten Relikte (z. B. Erinnerungsdiamanten) nicht selten einen Ersatzcharakter an, indem sie den Vermissten nicht nur symbolisieren, sondern ihn auch substituieren.

4.  PERSPEKTIVEN Damit ist die Spannweite dessen skizziert, was in diesem Band über die Dinge, die bleiben, thematisch wird. Auch wenn ein gewisser Schwerpunkt auf einer sich kulturtheoretisch öffnenden Theologie liegt, ist die Interdisziplinarität im Theoriezugriff bei den regelmäßig durchgeführten Rostocker funerale-Tagungen18 zur Bestattungskultur Programm.19 Dem Phänomen des unverweslichen Leichnams als Reliquie geht Hubertus Lutterbach in religionskultureller Weite nach. Historisch zeigen sich die Verknüpfungen und Veränderungen theologischer Deutungsmuster und christlich geprägter (Ganzkörper-)Reliquienverehrung sehr deutlich. Dass das corpus incorruptum 15 Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Dinge, München 2003; Schivelbusch, Wolfgang: Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion, München 2015. 16 Roßler, Gustav: Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft. Sozialität – Kognition – Netzwerke, Bielefeld 2015. 17 Laube, Stefan: Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum, Berlin 2011. 18 Vgl. dazu www.bestattungskultur.uni-rostock.de/ (Zugriff 26.03.2020). 19 Dieser Band setzt sich zusammen aus den Vorträgen der funerale8: „Reliquien. Dinge, die bleiben“; 7.–9. Oktober 2019, Universität Rostock. Die Beiträge von Hubertus Lutterbach, Dino Steinbrink und Dirk Battermann sind aus thematischen Gründen zusätzlich aufgenommen worden.

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aber auch in der Gegenwart kein ungewöhnliches Phänomen ist, wird mit dem Spannungsbogen deutlich, den Lutterbach zwischen spätmodernen Phänomenen („Körperwelten“) und historischer Verortung schlägt. Die Faszination der Grenze von Diesseits und Jenseits wird mit der „Haltbarmachung“ des Menschen ausgelotet und kann mit dem Vertrauen auf die Vitalkraft bspw. von Heiligen auch religiös wirksam werden. Dass im 21. Jahrhundert der Begriff der Reliquie in vielen Disziplinen explorativ in Anspruch genommen werden kann, hat seinen Realgrund in den vielfältigen Ausformungen der Kirchengeschichte. Stefan Laube führt mit seinen kulturgeschichtlichen Reflexionen den Leser durch die vielfältigen Phänomene der Reliquiendevotion. Denn nicht nur im klassischen Reliquienkult wird den Gegenständen eine virtus zuerkannt, auch natürlichen Objekten kommen mitunter diese Zuschreibungen zu. Vor diesem Hintergrund gibt Laube zu bedenken, dass auch Materie bzw. die Dinglichkeit einem Verfallsprozess unterworfen und so die Frage nach dem Bleiben der Dinge zu relativieren ist. In kirchenhistorischem Interesse sichtet Thies Jarecki Berichte über Reliquien aus dem nordwestdeutschen Raum. Die Reliquiengeschichte offenbart dabei nicht nur eine Nähe zum Thema der Totenruhe, sondern zeigt auch die ganz pragmatischen Dimensionen auf: Reliquien wirken nicht einfach nur in einem oder auf einen Raum. Sie wurden immer auch in Gebrauch genommen, um einen kirchenpolitischen Handlungsspielraum zu vergrößern. Als Soziologe fragt Thorsten Benkel danach, wie der Status der Dinge in das Verhältnis von Sozialität und Materialität einzutragen ist. Vor dem Hintergrund einer noch eher jungen Theoriegeschichte der Sozialwissenschaften hinsichtlich der Objekte zeigt sich, dass die Wirkmacht der Gegenstände nicht nur über ihre sachdienliche Funktion in Netzwerkbeziehungen von Mensch und Objekt zu bestimmen ist. Insbesondere das Beispiel der Aschediamanten verdeutlicht, dass die Macht der Aneignung bzw. die Überführung einer ursprünglichen Funktionslogik in eine neue Zweckdienlichkeit stabile Akteurs-Netzwerke hervorbringen kann, die sowohl den Status des Subjekts als auch den Status des Objekts in Frage stellen. Der katholische Pastoraltheologe Christian Bauer legt in seinem Beitrag dar, wie das Materielle und das Heilige ins Verhältnis zu setzen sind. Dabei zeigt sich an den Reliquien, seien sie echt oder unecht, sakral oder profan, dass ihnen die Zuschreibung „heilig“ in besonderer Weise zukommt. Von christlichen Reliquien lässt sich dann sprechen – so das interkonfessionelle Verstehensangebot –, wenn sich die evangeliumsgemäße Botschaft materialisiert niederschlägt und so in der Bewegung von Ressourcement und Aggiornamento ein „Mehr“ an Leben für den Einzelnen austrägt.

Die Dinge, der Trost und die Erinnerung. Zur Einleitung | 15

In systematisch-theologischer Perspektive wenden sich Michel Roth und Ulrike Peisker den Dingen des Daseins zu. Im Umgang mit den Dingen zwischen Versuchung und Verachtung kommt mit dem christlichen Schöpfungsglauben eine Zusage zur Darstellung, die die Annahme der Objektwelt als eine Hinwendung zur Gegenwart und somit zum Dasein eröffnet. In hamartiologischer Perspektive wird die Sünde als fehlendes Vertrauen auf die Zusage Gottes bestimmt. Die „letzten Dinge“ fokussieren Sonja Beckmayer und Marcus Held in praktisch- bzw. systematisch-theologischer Perspektive, indem sie forschungstheoretisch die Beobachtungsgrundlagen für das Feld des Hospizes bedenken. Mit diesem Zugriff kommt die Verknüpfung von Personen und Dingbedeutsamkeiten in besonderer Weise in den Blick, zeigt sich doch – so die Grundannahme der beiden Autoren – bei der mengenfaktorischen Reduzierung der mitgenommenen Dinge eine Steigerung der Bedeutungsdichte. Matthias Marks geht am Beispiel des Porträtbilds von Verstorbenen, das bei der Trauerfeier aufgestellt wird, der Wirkmacht der Bilder nach. Ist ein solches ikonisches Relikt eine Reliquie? Und wenn ja, was macht es dazu? Marks setzt in seiner Antwort religionspsychologisch, phänomenologisch und bildtheoretisch an und gibt die Interdependenz von inneren und äußeren Bildern zu verstehen. Seine These: Das eigentliche Motiv für das Aufstellen des Fotos eines Verstorbenen ist die Hoffnung auf Zukünftiges. Dem Reliquienbegriff kommt hinsichtlich der spätmodernen Bestattungskultur nicht nur eine Analysefunktion zu, sondern mit den gewonnenen Perspektiven können darüber hinaus Forschungsdesiderate aufgedeckt werden. Thomas Klie geht anhand einer Fallanalyse zur Diamantpressung der Frage nach, inwiefern aus Kremierungsasche hergestellte Erinnerungsaccessoires als Privatreliquien verstanden werden können. Der Zusammenhang von Erinnerung und Verdinglichung spitzt sich bei den sog. Erinnerungsdiamanten in der Weise zu, dass von einer Verdinglichung der Person und einer Personalisierung des Dings gesprochen werden kann. Den privaten Umgang mit Kremierungsasche abseits des bestehenden Bestattungsrechts analysiert der Soziologe Matthias Meitzler unter den Gesichtspunkten Aushandlung, Aneignung und Autonomie. Dabei wird anhand des vorgestellten Interviewmaterials deutlich, dass das Spannungsverhältnis von individuellen Ansprüchen und Bedürfnissen im Umgang mit der Kremierungsasche und rechtlichen Rahmenbedingungen entscheidend durch innerfamiliäre Aushandlungsprozesse bestimmt ist. Die rechtlichen Aspekte der funeralen Sachkultur erörtert Torsten Schmitt in ihrer ganzen Bandbreite. Während unstrittig ist, dass es sich beim Leichnam, der Totenasche und Sarg- bzw. Grabbeigaben juristisch um Sachen handelt, werden in dem Beitrag insbesondere die diskussionswürdigen Aspekte aufgenommen:

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die rechtliche Bewertung zum Umgang mit Implantaten, Ascheteilungen, Sargund Grabbeigaben. Auch die Grab(mal)gestaltung oszilliert zwischen Rechtstext, Rechtsprechung, Friedhofszweck und nicht zuletzt der gelebten funeralen Praxis. Dino Steinbrinck führt vor dem Hintergrund seiner pastoralen Bestattungspraxis Beispiele an, die den Umgang mit den Dingen, die geblieben sind, illus­ trieren. Dabei versteht er diese Dinge in pastoralpsychologischer Perspektive als Trauerartefakte, die bei der Trauerarbeit helfen (können). Denn Tod und Sterben hinterlassen nicht nur eine Lücke, sondern kommen als das Fremde ins Leben und müssen bewältigt werden. Den Blick ins offene Grab wirft Dirk Battermann in seinem Beitrag. Welche Dinge den Toten hinterhergeworfen werden, ist weit mehr wert als eine Randnotiz: Oft hängt an ihnen nicht nur das Herz der Verstorbenen. Es zeigt sich an den Sarg- und Grabbeigaben, wer die Verstorbenen für die Hinterbliebenen waren, wie sie erinnert und versachlicht werden. Als Fazit bündelt Manuel Stetter seine Beobachtungen zur achten funerale-Tagung. Er stellt noch einmal heraus, dass und was der Reliquienbegriff in explorativer Funktion systematisierend leisten kann. Stetter macht deutlich: Der artefaktorientierte und theologisch interessierte Zugang zur spätmodernen Bestattungskultur über die Reliquien kann nicht ohne den interdisziplinären Materialitätsdiskurs geführt werden. „Der Rekurs auf den Reliquienbegriff ließe sich demnach als eine Suchbewegung beschreiben, die dezidiert auf Entdeckungen abzielt: auf neue Beobachtungen und frische Analysen.“

I. Theorietraditionen

Der Kult um die Reliquien Vom „unverweslichen Leichnam“ bis zu den „Körperwelten“ Hubertus Lutterbach

Was tut man, wenn ein Mensch bei einem Unfall ums Leben gekommen und sein Körper dabei so übel zugerichtet worden ist, dass man es den Angehörigen kaum zumuten kann, ihn im offenen Sarg ein letztes Mal zu sehen? Was geschieht, wenn ein Mensch eines natürlichen Todes gestorben ist, aber seine Verwandten ihn erst nach einiger Zeit besuchen können, um ihm ein letztes Mal gegenüberzutreten? In diesen Fällen kommt ein Thanatopraktiker zum Einsatz. Die Vertreter dieses sehr traditionsreichen Berufs richten einen Verstorbenen wieder so her, dass seine Wunden oder krankheitsbedingten Veränderungen anschließend kaum noch zu erkennen sind. Zugleich verlangsamen sie den Verwesungsprozess, indem sie Kosmetika anwenden und das Blut gegen verwesungshemmende Wirkstoffe austauschen. Die dabei zur Anwendung kommende leicht rosafarbene Flüssigkeit führt mit ihren Pigmenten sogar dazu, dass der Verstorbene ein rosafarbenes Aussehen zurückerlangt. Zugleich wirkt seine Haut dadurch etwas praller und lebendiger. So erleichtert es die thanatopraktische Behandlung den Angehörigen, von dem Verstorbenen am offenen Sarg Abschied zu nehmen. Denn der letzte Anblick ist der, der in Erinnerung bleibt. Im Unterschied zu dieser zeitlich nur begrenzt wirksamen optischen Erhaltung von Verstorbenen geht es im Folgenden um Verstorbene, deren Verwesung ausbleibt, ohne dass Menschen den Prozess der Verwesung mittels einer thanatopraktischen Behandlung gestoppt hätten. Denn genau hier, in der Verehrung des „kompletten“ Leichnams, liegt der Ausgangspunkt auch der christlichen Reliquienverehrung. Dagegen erfolgte die Verehrung einzelner Reliquienknochen von prominenten Christen zeitlich wie inhaltlich sekundär.

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1.  HILFLOSE ÄRZTE VOR UNVERWESLICHEM MÖNCH Unter der Überschrift „Toter Lama verblüfft die Wissenschaft“ titelt die österreichische Zeitung „Standard“ am 11. Juli 2007 großformatig: „Experten beraten über Mönch im Lotussitz. In Burjatien ist der Leichnam eines Buddhisten auch nach 80 Jahren nicht verwest.“ Burjatien ist keine Gegend, die viele Schlagzeilen produziert. Dafür liegt sie viel zu weit abseits von den Zentren der modernen Welt. Fünfeinhalbtausend Kilometer östlich von Moskau, ist sie umschlossen vom Baikalsee und der Mongolei. Hier befindet sich auch das buddhistische Kloster Dazan im Dörfchen Iwolginsk, das im September 2002 aufgrund eines wundersamen Geschehens in die Aufmerksamkeit der Medien geriet. Damals wurde in diesem Kloster, das bis heute als das Zentrum der russischen Buddhisten gilt, das würfelige Grabgefäß des Lama Chambo Itigilow Daschi-Dorscho in Gegenwart auch einiger Mediziner geöffnet. Darin erblickten die verblüfften Anwesenden den im Lotussitz erstarrten einstigen Klostervorsteher. Das „Wunder“ dabei: Obwohl der Chambo-Lama bereits seit 1927 tot ist, zeigt sein Leichnam auch weiterhin keine Ansätze von Verwesung und verharrt stattdessen in seiner Meditationspose. Dieser Umstand wirkt umso unglaublicher, da der Leichnam weder jemals einbalsamiert noch mumifiziert wurde. Selbst nach der Sargöffnung, als der Leichnam mit Sauerstoff in Kontakt kam, was gewöhnlich den Verwesungsprozess auslöst, trat die Zersetzung nicht ein. Weil der Leichnam seine Feuchtigkeit fürderhin behält, sind die Fenster des Glassarkophages, in den er nach der letzten Exhumierung gesetzt wurde, beschlagen. „Für buddhistische Gläubige“, so führt die Zeitung „Standard“ weiter aus, „ist der Leichnam zum Objekt der Verehrung geworden.“ Buddhistische Theologen erklären das Phänomen der Nichtverwesung damit, dass der Chambo-Lama die oberste Realität aller Erscheinungen, die Leere, erfasst und beim Sterben seinen Körper so gereinigt hat, dass er nicht verwest. Wissenschaftler hingegen rätseln nach wie vor, weshalb sich eine Reihe von Körpereigenschaften des Lama – etwa die Eiweißverbindungen der Zellen – von denen eines lebenden Menschen nicht unterscheiden. „Seine Gelenke biegen sich, das Weichgewebe lässt sich eindrücken wie bei Lebenden, und nach der Öffnung des Grabgefäßes entströmte daraus ein Wohlgeruch“, sagte die Leiterin des Lama-Erforschungsprojektes, Galina Jerschowa, vor kurzem. Nicht zuletzt bestätigte die Untersuchung von Körperteilen des Lama in der Moskauer Gerichtsmedizin das seit 2002 anhaltende Staunen der beteiligten Wissenschaftler. Der Lama hatte sich gegen Ende seines Lebens auch körperlich in die Meditationshaltung begeben. Als seine Schüler befanden, dass er verstorben sei, legten

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sie ihn in einen Würfel aus Zederndielen. Vor seinem Ableben soll der Lama verfügt haben, dass sein Grab nach 30 Jahren zu öffnen sei und man ihn darin lebend antreffen würde. Bereits 1955 und 1973 waren die Mönche diesem Vermächtnis nachgekommen. Medizinische Untersuchungen begannen aber erst 2007: „Zum 80. Todestag des Lama“, so schließt der Zeitungsbericht, „haben sich 150 internationale Gelehrte zu einem Expertenforum im Kloster versammelt.“1 Dem Geheimnis des unverwesten Leibes sind die Wissenschaftler freilich bis heute nicht auf die Spur gekommen. Auch der buddhistische Mönch Fu Hou aus dem Chongfu-Tempel in den Hügeln nahe der südchinesischen Stadt Quanzhou galt schon während seines Erdenlebens als erleuchtet und verehrungswürdig, bevor er im Jahr 2012 im Alter von 94 Jahren verstarb. Damals beschlossen seine Klosterbrüder, ihm die Ehre der Mumifizierung zu gewähren, wie sie allein herausragenden Mönchen vorbehalten ist. So wuschen sie ihn, übergaben ihn dann zwei Mumifizierungsexperten zur Behandlung und ließen ihn schließlich sitzend in ein Tongefäß ein. Als die Klosterbewohner dieses Tongefäß nach drei Jahren öffneten, zeigte sich der Leichnam unverwest. Da ihrem Glauben zufolge allein die Körper der besonders erleuchteten Meister intakt bleiben, entschieden sie sich in Anerkenntnis der Ausnahmestellung von Fu Hou dafür, ihn mit Gazetüchern zu umhüllen und mit Schichten von Lack und schließlich Blattgold zu bedecken. Der vergoldeten Gestalt hingen sie eine orangene Mönchsrobe um, bevor sie sie in einem Glaskasten ausstellten.2 Tatsächlich erzählen immer wieder Berichte aus unterschiedlichen Religionen und verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte von nicht verwesenden Toten. Auch im Christentum ist dieses Phänomen bekannt. Offensichtlich verschließt es sich einem wissenschaftlich-aufgeklärten Zugang. Eher lässt es sich basalen Religionslogiken zuordnen. Zwar finden sich im Neuen Testament zu diesem Thema keine Hinweise. Doch verbreiteten sich derartige Erzählungen auch unter den Christen immer wieder, nachdem sich die Jesus-Anhänger seit dem 2. Jhd. gegenüber der Vorstellung vom Grab als Verbindungspunkt zwischen Erde und Himmel grundsätzlich geöffnet hatten. So mag der Umweg über die Geschichte des Christentums – unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Geschichte – erstens helfen, sich dem nach fast einem Jahrhundert noch immer unverwest in seinem Sarkophag liegenden buddhistischen Mönch im Sinne eines religionshistorischen Verstehensversuchs anzunähern. Auf dieser Basis ist zweitens nach Erscheinungsformen von 1 Der Standard (Print-Ausgabe 04.07.2007; Online-Ausgabe 11.07.2007) vgl. www.derstandard.at/story/2945165/toter-lama-verbluefft-die-wissenschaft (Zugriff 24.12.2019). 2 P. K., Persönlich – Der buddhistische Mönch Fu Hou, in: FAZ 29.04.2016, No. 100, S. 9.

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intakten Ganzkörperreliquien zu fragen, wie sie uns aktuell der Plastinator Gunther von Hagens in seinen Ausstellungen „Körperwelten“ präsentiert.

2.  GANZKÖRPERRELIQUIEN MIT WUNDERKRAFT Ursprünglich hatten sich die Christen mit der biblischen Zusage begnügt, dass Gott für jeden Christen nach dem Tod eine ewige Wohnung bereithält (Joh 14,2). In der Konsequenz blieb die religionsgeschichtlich verbreitete Vorstellung vom Grab als Wohnung oder Haus des Toten im Christentum erst einmal ohne Echo. Stattdessen akzentuierte der Apostel Paulus unter Rückgriff auf geistig zu verstehende Bilder, dass im Tod das „irdische Zelt“ des Leibes abgebrochen werde und für jeden Menschen eine individuell bereitete „ewige Wohnung“ bei Gott folge. Als Zielperspektive auch über den irdischen Tod hinaus stellte er seinen Geschwistern im Glauben schlicht und einfach sowie ohne jede weitere Ausschmückung vor Augen, dereinst „daheim beim Herrn zu sein“ (2 Kor 5,8). Für jedwede Ausprägung von Grabkult bot das Christentum in seinen Anfängen einfach keinerlei Anknüpfungspunkte. So wusste man nicht einmal, wo so bedeutende Persönlichkeiten wie Stephanus, den die Christen als frühesten Märtyrer aus ihren Reihen wertschätzten, überhaupt begraben lagen. Doch bereits im 2. Jhd. n. Chr. zeigten sich die Christen – wie oben bereits angedeutet – zunehmend aufgeschlossener gegenüber dem Grabkult, und zwar in dem Maße, wie ihre ursprüngliche Sehnsucht nach der baldigen Wiederkehr ihres Religionsstifters Jesus unbeantwortet blieb und sie dieses Vakuum füllen mussten. Unter diesem veränderten Horizont verlor der bis dahin maßgebliche paulinische Leitgedanke „Todsein heißt: Sein mit Jesus Christus“ seine Binde- und Strahlkraft. Umso mehr verstärkte sich das Verlangen der Christen, Inspiration und Heil auch an jenen Orten zu finden, an denen besonders überzeugungsstarke Mitchristen ihre letzte Ruhe gefunden hatten. In dem Maße, wie die Sorge um den Ort des Grabes und die Aufmerksamkeit für den Leib des Verstorbenen zunahmen, begannen unter den Anhängerinnen und Anhängern Jesu gleichzeitig jene religionsgeschichtlich uralten Vorstellungen um sich zu greifen, wie sie beispielsweise in unverwesten Leibern von Verstorbenen zum Ausdruck kommen. Wenn christliche Gräber fortan sogar mit der Aufschrift „ewiges Haus“ versehen wurden, zeigt sich der Kontrast zum neutestamentlichen Ausgangspunkt umso nachdrücklicher. Als mächtiger Zeuge dafür, dass die Seele zwar den im Grab ruhenden Leib verlässt, sie aber den menschlichen Leib – ihre ursprüngliche Wohnstätte – nichtsdestoweniger weiter liebt und sich deshalb auch an der Grabpflege freut, gilt Kaiser Valentinian III. († 455). Mit seinem Plädoyer spricht er sich für eine über den Tod

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hinaus wirksame Verbindung zwischen der Seele im Himmel und dem Leib im Grab aus.3 Auf zwei Psalmworte griffen die Christen zurück, um sich die Unverweslichkeit des Leichnams als göttlich verursachtes Geschehen zu erklären. Die eine Zusage stammt aus Psalm 34,21: „Der Herr behütet dem Gerechten all seine Glieder, nicht eines von ihnen wird zerbrochen.“ Ergänzend berief man sich auf Psalm 16, wo es in Vers 10 heißt: „Du, Gott, lässt deinen Frommen das Grab [lateinisch: corruptio/Verwesung] nicht schauen.“ Den Christen erschien diese Idee umso plausibler, hatte doch auch Jesus drei Tage im Grab gelegen, ohne dass sein Leib während dieser Grabesruhe verweste. Immer wieder sollten sich die zitierten Zusagen im Rahmen der spätantiken Christenverfolgungen bestätigen. Während dieser Bedrängnis, die bis in das 4. Jhd. n. Chr. andauerte, kamen viele Menschen gewaltsam zu Tode. Als man aber die brutal ermordeten Christinnen und Christen einige Zeit nach ihrer Beisetzung exhumierte, weil sich an ihrem Grab Wundersames zugetragen hatte, zeigten sich gemäß der Überlieferung die ursprünglich schwer verletzten oder sogar abgetrennten Glieder oftmals wieder in einem unversehrten und gesunden Zustand. So hatte der gewaltsam zu Tode gekommene Märtyrer Nizarius bereits einige Zeit im Grab gelegen, als ihn Bischof Ambrosius von Mailand († 397) aufgrund wundersamer Begebenheiten an seiner Ruhestätte erheben ließ. Nach der Exhumierung sei das Blut so frisch aus dem Körper geflossen, als ob ihm seine Verletzung soeben erst zugefügt worden wäre. Zudem hätte man das vom Körper abgetrennte Haupt gänzlich heil (integrum) und unverwest (incorruptum) vorgefunden. Es sei noch vollständig mit den Haupthaaren und mit dem Bart bedeckt gewesen, als ob man es eben erst gewaschen und in das Grab gelegt hätte.4 In einem vergleichbaren Sinne charakterisiert auch Bischof Augustinus von Hippo († 430) angesichts exhumierter Märtyrer den wundersamen Befund mehrfach mit den summarischen Worten „unverweste Leiber“ (corpora incorrupta). Die aus dem Grab Erhobenen waren also intakt geblieben.5 Das Ideal des unverwesten Leichnams verbreitete sich seit altkirchlicher Zeit sowohl im Westen als auch im Osten. Für beide Bereiche spricht der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt sogar von einer „reichen Bezeugung“ dieses Phänomens, 3 Valentinian III., Novellae 23 („De sepulcri violatoribus”), ed. Theodor Mommsen – Paulus M. Meyer, Theodosani Libri XVI cum Constitutionibus Sirmondianis et Leges Novellae ad Theodosianum Pertinentes, Bd. 2, Berlin 1962, S. 114, Z. 12. 4 Vita Ambrosii 32,1, ed. Anton A. R. Bastiaensen, Vita di Cipriano, Vita di Ambrogio, Vita di Agostino (Vite dei Santi 3), Mailand 21981, S. 51–125, hier S. 94, Z. 8. 5 Z. B. Augustinus, Confessiones IX 7,16, ed. Pius Knöll (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 33), Prag/Wien/Leipzig 1896, S. 208f.

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das er als „zentral“ für die gesamte Reliquienverehrung einstuft.6 In einer legendarischen Beschreibung, mit der Bischof Hieronymus († 420) die asketischen Höchstleistungen des Hilarion von Gaza († 371) preist, heißt es, dass man dessen „ganzen Leib unverwest/integer“ (corpore toto integro) vorfand – mehr als zehn Monate nach seinem Tod!7 Ähnlich soll sich der Leib des Heiligen Severinus von Noricum († 482) gezeigt haben: Obwohl man sechs Jahre nach seinem Tod erwartet hatte, auf einen weitgehend zerfallenen Leichnam zu stoßen, traf man Severin mit Bart und Haaren, ja „unverwest“ an.8 In zuvor unbekannter Häufigkeit berichtet Bischof Gregor von Tours († 594) davon, dass man Heilige in ihren Gräbern unverwest auffand. Derartiges überliefert er von seinem Amtskollegen Felix († ca. 580), der in Bourges als Bischof amtiert hatte. Als man die heruntergekommene Sargbedeckung durch eine neue ersetzen wollte, hätte man „den Leib des seligen Bekenners so unverwest [vorgefunden], dass weder Auflösungserscheinungen am Körper noch Fäulnis an der Bekleidung festzustellen waren. Vielmehr präsentierte sich alles am Verstorbenen so unversehrt/unverwest (integrum), dass man es“, wie die Lebensbeschreibung des Felix herausstellt, „als zu eben jener Stunde ins Grab gegeben hätte ansehen mögen.“9 Ähnlich erläutert Gregor von Tours den Befund zur Erhebung des Bischofs Valerius von Saint-Lizier († ca. 451): „Der verehrungswürdige Leib war ganz und gar unverwest (integrum). Weder waren die Haare auf dem Haupt ausgefallen noch die Barthaare ausgedünnt; weder zeigte sich die Haut hässlich noch sein Äußeres in irgendeiner Weise verdorben. Stattdessen war alles an ihm unverwest (inlaesum), als hätte man es erst jüngst ins Grab gelegt. Zudem ging ein solch süßer Duft von seinem Grab aus, dass kein Zweifel daran blieb, dass hier ein Freund Gottes ruht.“10 Im Hintergrund derartiger Wunderhaftigkeit sahen die Christen das höchstpersönliche Handeln ihres Vorbildes Jesus Christus, der seine Getreuen auf diese 6 Angenendt, Arnold: Corpus incorruptum. Eine Leitidee der mittelalterlichen Reliquienverehrung, in: Saeculum 42 (1991), S. 320–348, hier S. 320. 7 Vita Hilarionis 32 (AASS Oct IX), Paris/Rom 1869, S. 57f. 8 Eugippius, Vita Severini 45, ed. Hermann Sauppe (MGH. Auctores Antiquissimi 1,2), Berlin 1877 [ND 1966], S. 29., Z. 29ff. 9 Gregor von Tours, Liber in gloria confessorum 100, ed. Bruno Krusch (MGH. Scriptores Rerum Merovingicarum 1,2), Hannover ND 1969, S. 348. 10 Gregor von Tours, Liber in gloria confessorum 83, ed. Bruno Krusch (MGH. Scriptores Rerum Merovingicarum 1,2), Hannover ND 1969, S. 352. Zum duftenden Leichnam vgl. Schmitz-Esser, Romedio: Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle Konstruktion des toten Körpers (Mittelalter-Forschungen 48), Ostfildern 22016, S. 154–158.

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Weise besonders auszeichnet. Eine aus dem ägyptischen Volksglauben stammende Erzählung von Joseph, dem Zimmermann, bringt diesen Zusammenhang anschaulich auf den Punkt. Dort heißt es, dass Jesus selbst den Leichnam seines Vaters vor der Verwesung bewahrt und dabei gesprochen hätte: „Der Gestank des Todes soll nicht Herr über dich werden, noch sollen deine Ohren faulen, noch soll der Eiter jemals aus deinem Leibe fließen, noch soll dein Begräbniszeug in der Erde vergehen noch dein Fleisch, das ich auf dich gelegt habe, sondern es soll an deinem Körper festbleiben bis zum Tage des Mahls der tausend Jahre. Das Haar deines Hauptes soll nicht altern, diese Haare, die ich oftmals mit meinen Händen fasste, o mein geliebter Vater Joseph, und das Gute wird dir zuteilwerden.“11 Im Hintergrund derartiger Überlieferungen steht die in Ägypten verbreitete Überzeugung, dass der irdische Leib intakt bleiben muss, um für die Auferstehung in rechter Weise bereitzuliegen. Mindestens die Knochen sollten für den Auferstehungsleib beieinanderbleiben. Nur nebenbei sei hier eingefügt, dass ursprünglich auch die Mumifizierungspraktiken diesem Zusammenbleiben der Knochen dienten. Diesen Brauch, der vom Alten Ägypten ausging, pflegte man im christlichen Ägypten weiter, so dass er im Christentum über die Epochen hinweg und überregional weit bezeugt ist. Zahlreiche hochgestellte Persönlichkeiten (Kaiser und Könige, Päpste und Bischöfe) erfuhren dadurch eine besondere Ehrung, dass man die Verwesung ihres Leibes gewissermaßen mit Hilfe menschlichen Eingreifens aufzuhalten suchte.12 Wie überhaupt kam es zur Feststellung des „unverwesten Leibes“? Im Unterschied zu dem buddhistischen Mönch, der seine Unverweslichkeit, die man Jahrzehnte später feststellen sollte, sogar selber vorhergesagt hatte, äußerten sich christliche Heilige zu ihrer eigenen Unverweslichkeit nicht. Stattdessen wiesen – wie bereits angedeutet – wundersame Ereignisse am Grab des Heiligen auf seine 11 De morte Josephi 26,1, hg. v. P. de Lagarde, Aegyptiaca, Göttingen 1883 (I. De morte Josephi, 1/37); dt. Übers. s. Siegfried Morenz, Die Geschichte von Joseph dem Zimmermann, übers., erl. u. unters. (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 56), Berlin 1951, S. 22. 12 Baumeister, Theofried: Martyr invictus. Der Martyrer als Sinnbild der Erlösung in der Legende und im Kult der frühen koptischen Kirche. Zur Kontinuität des ägyptischen Denkens (Forschungen zur Volkskunde 46), Münster 1970, S. 179f. In ähnlicher Weise macht in diesen Tagen ein Befund aus dem Buddhismus von sich reden, der tatsächlich bemerkenswert ist: In einer Buddha-Statue aus dem 12. Jhd. fanden Forscher die Mumie eines vor mehr als tausend Jahren verstorbenen Mönches. Auf den Röntgenbildern ist das von vielen Papierlagen umwickelte Skelett gut zu erkennen. Dazu vgl. www. welt.de/vermischtes/article137751810/Mysterioeses-Skelett-sitzt-in-1000-Jahre-alterStatue.html (Zugriff 16.11.2019).

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fortdauernde Lebendigkeit im Sarg hin. Religionsgeschichtlich spricht man hier von der Doppelexistenz des Heiligen: die Seele im Himmel, der Leib im Grab – und beides direkt miteinander verbunden! Die Idee einer solchen Realpräsenz des Heiligen in seinem unverwesten Körper reflektieren prominent zwei Inschriften am Grab des Heiligen Martin von Tours († 397). Die eine lautet: „Hier ist Bischof Martin heiligen Angedenkens bestattet. Seine Seele ist in der Hand Gottes, aber hier ist er ganz gegenwärtig, manifest in aller Gnade der Wunder.“ In der anderen Inschrift heißt es: „Martinus steht vom Himmel her dem Grabe vor.“13 Deutlicher lässt sich die einem Heiligen und seinem unverwesten Leib zugeschriebene Realpräsenz nicht ins Wort bringen. In der Konsequenz galt der Heilige in seinem Leichnam – einerlei ob unverwest oder nur noch in Teilen erhalten – als „selbstbestimmtes Wesen“14. Erst angesichts der Aktivität des Heiligen in seinem Grab, die man sich allein himmlisch erklären zu können glaubte, erfolgte seine Erhebung – durchaus auch zum Zwecke der „Prüfung“ – im Rahmen einer Liturgie, zu der auch die Öffnung des Sarges und die Feststellung des unverwesten Leichnams gehörten. Für den Heiligen Hubertus († 727), der als Bischof von Maastricht-Lüttich amtiert hatte, ist sein „unverwester Leib“ (corpus incorruptum) gar im Sinne einer Fortsetzungsgeschichte überliefert. Der Reihe nach: Sechzehn Jahre nach seinem Tod ereignete sich an seinem Grab in Lüttich Wundersames. Die Menschen interpretierten diese Vorkommnisse derart, dass Gott seinen getreuen Diener als Licht auf einen Leuchter gestellt sehen wollte (Mt 5,14–15 par.). Im Sinne eines Vorbereitungsritus fasteten und beteten die Menschen drei Tage lang. Dann vollzog man ein Buchorakel: Bibel und Sakramentar, die beide auf dem Altar lagen, wurden aufgeschlagen, um von der zuerst ins Auge fallenden Stelle die Erlaubtheit oder Nicht-Erlaubtheit der Erhebung abzuleiten. Nachdem dieses Signal klar zugunsten der Exhumierung ausgefallen war, machte man sich in der Frühe des 3. November feierlich an die Erhebung des Leichnams. Während der geöffnete Sarg sofort ein helles Licht freigab, verströmte der unverweste Leichnam (corpus eius in sepulchro solidum atque inlibatum) angenehmen Wohlgeruch. Das Gesicht erschien wie vom Tau des Himmels benetzt und die Haare erinnerten eher an die eines Kindes als an die eines Greises. So sahen die Anwesenden die Verheißung Jesu erfüllt, dass vom Kopf seiner Heiligen kein Haar vergehen werde (Lk 21,18). Ähnlich ursprünglich zeigte sich die Kleidung des Heiligen: in edlem Zustand und unverwest (incorrupta). – Anwesend waren bei der Prozedur als Ehrengäste übrigens auch der mit dem Heiligen verwandte regionale Herrscher Karlmann († 771) 13 Pietri, Luce: La ville de Tours du IVe au VIe siècle. Naissance d’une cite chrétienne (Collection de l’école francaise de Rome 69), Rom 1983, S. 809f., Nr. 13 und Nr. 15. 14 R. Schmitz-Esser: Der Leichnam, S. 121.

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und dessen Angehörige. Alle ehrten sie den Heiligen, indem sie seine Hände und seine Füße küssten. Eigenhändig legte Karlmann den Leib auf eine Bahre, mit der der Heilige zum Altar getragen wurde. Aus Dankbarkeit gegenüber diesem überirdisch gewährten Geschehen stiftete er der Kirche unter anderem Altartücher, silberne Altargefäße sowie zur finanziellen Absicherung noch Liegenschaften mit Hörigen.15 Bemerkenswerterweise sollte die Geschichte des unverwesten Heiligen Hubertus 98 Jahre nach seinem Tod eine überraschende Fortsetzung finden: Im Jahr 825 übertrug man seinen Körper nach Andagium, also in das spätere St. Hubert (heutige Provinz Luxemburg in Belgien). Und wie bereits im Jahre 743 erwies sich der Leichnam weiterhin als „unverwester Leib“ (corpus incorruptum). Die Verwesung – dieses als bedrückend empfundene Schicksal des Menschen seit seiner Vertreibung aus dem Paradies – blieb dem Heiligen erspart, wie man ihm nachrühmte.16 Schließlich ließen sich die Mönche von St. Hubert im Jahre 1515 durch Papst Leo X. bestätigen, dass weder ein Ort noch eine Gemeinschaft oder irgendeine Person berechtigten Anspruch auch nur auf einen einzigen Teil vom Heiligen Hubertus erheben könne, denn sein Körper sei stets unzerteilt und „ganz“ geblieben. Entsprechend beschied der Abt von St. Hubert 1763 die Bitte des Augsburger Bischofs um Reliquien des Heiligen negativ und begründete seine Ablehnung damit, dass der Leib komplett erhalten und wie lebend sei, jedenfalls ohne Spur von Verwesung.17 Noch darüber hinausgehend zitiert der Editor Pierre Saintyves († 1935) eine Überlieferung, derzufolge der Bart des Heiligen ständig nachgewachsen sei und der Sakristan ihn alljährlich am Fest des Heiligen Hubertus neu gestutzt hätte.18 Sogar noch aus der Zeit nach der europäischen Aufklärung sind uns aus hiesigen Breiten vereinzelt Belege christlicher Provenienz für die Auffindung eines „unverwesten Leibes“ überliefert: Zwar ohne kirchenpolitisch-offizielle Erhebungsprozedur, stattdessen eher aus persönlicher Neugier, ließ Luise Hensel († 1876) das Grab ihrer Freundin, der mystisch begabten Seherin Anna-Kathari15 Vita Hugberti 20, ed. Wilhelm Levison (MGH. Scriptores Rerum Merovingicarum 6), Hannover/Leipzig 1913, S. 495f. 16 Translatio S. Hucberti 2, ed. L. v. Heinemann (MGH. Scriptores 15,1), Hannover 1887, S. 236f. 17 Baix, Francois: Saint Hubert. Sa mort, sa canonisation, ses reliques, in: Mélanges Félix Rousseau. Études sur l’histoire du pays mosan au moyen age, Bruxelles 1958, S. 71–80. 18 Saintyves, Pierre: En Marge de la Légende Dorée. Songes, miracles et survivances. Essai sur la formation de quelques thèmes hagiographiques, Paris 21987, S. 495–896, bes. S. 713.

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na Emmerick († 1824), geheim öffnen, wie Clemens von Brentano († 1842) beschreibt. Mit einigen unbescholtenen Bürgersmännern ging sie im münsterländischen Dülmen bei Mondschein auf den Friedhof, um die Verstorbene zu erheben: „Als sie auf den rechten Sarg stießen, den sie an der Form von den nebenstehenden zu unterscheiden wussten, gruben sie die Erde weiter los, bis sie ihn […] bewegen konnten.“ Und weiter heißt es aus der Perspektive der Augenzeugin Luise Hensel: „Wir hoben den Sarg herauf – mir schlug das Herz lieb- und erwartungsvoll bei dieser Arbeit. Der Deckel des Sarges ward geöffnet, ich schaute begierig hin, voll Sehnsucht die geliebten Züge zu erblicken und – ach ich musste mich abwenden, um meinen Schrecken zu verbergen – ihr liebes Gesicht war von der einen Seite fast ganz mit Schimmel überzogen, was den ersten Anblick grauenvoll machte. Bei längerem Hinschauen ward ihr Gesicht mir wieder vertraut und angenehm. Es war, als ob der Schimmel sich an der Luft verzehrte. Ihre Züge wurden mir immer lieblicher, sie schien zu schlafen, es war nicht die geringste Verzerrung an ihr und ihre feine, gradausgestreckte, in ein feines Leintuch gehüllte Gestalt hat mir ein unvergesslich rührendes Bild in der Phantasie zurückgelassen. Es war schon fünf Wochen, dass sie in der Erde lag. Dennoch war nicht der geringste Leichengeruch zu bemerken, auch kein Wurm. Das Grabtuch war nass wie eben gewaschen, und schmiegte sich dicht an ihre Glieder. Das Heu, auf dem sie lag, war schon voll Moder und Schimmel. Beim Aufheben des Deckels hatte sich ein dumpfiger Geruch verbreitet, der von dem modernden Heu und den nassen Tüchern kam. Es war keine Spur von Leichengeruch zu bemerken. Ihre Augen waren tief in den Kopf hinein gesunken, ihr Mund war sanft geöffnet. Wir hatten still an ihrem offenen Sarg gebetet.“19 Im Vergleich zu allen anderen wiedergegebenen Auffindungen von unverwesten Leibern lässt die zuletzt rezitierte Begebenheit bereits die – durch aufklärerisches Gedankengut begründete – Sorge von Luise Hensel durchklingen, dass der Leib ihrer Freundin womöglich doch nicht in unverwestem Zustand aufgefunden werden könnte. Denn anders als in den Jahrhunderten zuvor, erfolgte die Erhebung der Emmerick nicht im Rahmen einer minutiös vorbereiteten, hochkarätig besetzten und protokollarisch ausgereiften liturgischen Prozedur, sondern gewissermaßen als Geheimprojekt bei Nacht und Nebel unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Immerhin bekam die in der Epoche der Romantik allenthalben zu beobachtende neue Konjunktur der Heiligen auch durch die Exhumierung der Emmerick einen 19 Luise Hensel: Bericht der Luise Hensel über Eröffnung des Grabes am 20. März 1824. Geschehen am 19. März auf 20. März 1824. 5 Wochen nach dem Tode der Emerick 1824, in: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jürgen Tische, 2 Bde. (Ausgabe, veranstaltet vom freien Deutschen Hochstift 28,1–2), Stuttgart 1981–1982, Bd. 2, S. 401–403, hier S. 402f.

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neuen Schub. So erwiesen sich in ihrem Falle die traditionellen Zeichen für das Fortleben der Heiligen noch über ihren irdischen Tod hinaus gegenüber allen rationalen Versuchen der Welterklärung als weiterhin überlegen. Angesichts der hervorragenden Bedeutung, die man den unverwesten, also zur Gänze erhaltenen Leibern der Heiligen zuschrieb, stellt sich abschließend die Frage, wie es im Christentum dennoch zu ihrer Teilung kommen konnte. In einem ersten Schritt entnahm man einem „corpus incorruptum“ allein jene Teile, die als überschüssig und deshalb als entfernbar galten: Haare, Finger- und Zehennägel sowie Zähne.20 Ergänzend etablierten sich Reliquienteilungen im lateinischen Westen in dem Sinne, dass man die Überreste eines Heiligen zerteilte und verteilte, spätestens um 500.21 Zwar entnahm man in diesen Fällen dem jeweiligen Heiligen nur ein Partikel. Dieser aber hatte Anspruch auf eine Verehrung, die der Devotion gegenüber dem ganzen Leib des Heiligen nicht nachsteht. Mehr noch: In jedem Partikel des Heiligen sah man ihn zur Gänze gegenwärtig. Der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt hat das mehrschrittige Verfahren rekonstruiert, mit dem man die Ganzkörperreliquien (und später auch die Teilreliquien) der Verehrung durch die Gläubigen zugänglich machte:22 In einem ersten Schritt erhielt das Grab ein Gedenkmonument, an dem sich die Christen am Jahrestag des blutigen (und später: unblutigen) Todes des Heiligen versammelten. Bereits unter Kaiser Konstantin († 337 n. Chr.) wurde in Rom über den Gräbern der Märtyrer Basiliken errichtet. So entstand über dem Petrusgrab die vatikanische Basilika. Den zweiten Entwicklungsschritt im Bereich der christlichen Reliquienverehrung tat Ambrosius von Mailand († 397 n. Chr.): die Translation von Heiligenreliquien in eine Kirche sowie ihre Neubestattung am Altar – beides mit weitreichenden Folgen. Arnold Angenendt resümiert die Entwicklung: „Waren bislang die Gräber der Märtyrer wie ebenso der ihnen gleichgeachteten Asketen mit einer Basilika und einem Altar überbaut worden, so geschah es nun auch umgekehrt. Ein schon bestehender Altar erhielt einen Reliquien-Leib zugeführt. Die Reliquien-Altäre zogen dann weitere Gräber an. Um nämlich die besondere Fürsprache der Heiligen zu erlangen, regte sich der allgemeine Wunsch, bei ihnen beerdigt zu werden.“23 Die Überführung von Reliquien in die Altäre hielt man für derart plausibel, dass sich alsbald das Gesetz herausbildete, kein Altar dürfe fortan ohne darin beigesetzte Reliquien sein. Also: Der Altar, ursprünglich ein 20 A. Angenendt: Corpus incorruptum, S. 333f. 21 R. Schmitz-Esser: Der Leichnam, S. 126 und S. 151. Der früheren Forschung zufolge etablierte sich die Reliquienteilung zumindest in Rom erst in karolingischer Zeit. 22 Angenendt, Arnold: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 167–182. 23 Ebd., S. 167.

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provisorischer und rollbarer Tisch zur Feier der Gemeindeeucharistie, entwickelte sich zu einem Heiligengrab! Der letzte Schritt dieser Entwicklung bestand darin, dass man die Reliquien im Altar sogar noch vermehrte, so dass in einem einzigen Altar die Überreste unterschiedlicher Heiliger ruhen. Die Folgen dieser Entwicklung sind bis heute in jeder katholischen Kirche zu besichtigen: Selbst die kleinste Dorfkirche verfügt über Reliquien mehrerer Heiliger im Altar. Da man in jedem noch so kleinen Knöchelchen die Virtus – die Lebenskraft – des jeweiligen Heiligen gegenwärtig sah, avancierten Altäre zu besonderen Kraftorten, um die man kranke Tiere um ihrer Gesundung willen führte oder auf denen man Alltagsgegenstände lagerte, um sie so mit heiliger Kraft aufzuladen und sich mit ihrer Hilfe das Leben zu erleichtern. Wie anders gestalteten totalitäre Staaten hier ihre Führerverehrung über den Tod der Heroen hinaus?! Zwar orientierte sich beispielsweise die 1922 gegründete Sowjetunion am christlichen Reliquienkult; aber dass man Lenin († 1924) als Ganzkörperreliquie zerteilt hätte – das wäre keinem Sowjet eingefallen: Die bolschewistische Religionspolitik, deren erste Zusammenstöße mit der Kirche darauf zurückgingen, dass man Gräber und Schreine öffnete, um die Reliquien zu vernichten, war (und ist?) stolz darauf, der Öffentlichkeit den zuvor mit viel Aufwand einbalsamierten „ganzen Lenin“ im Lenin-Mausoleum am Roten Platz präsentieren zu können,24 denn „der ‚Apostel des Weltkommunismus“ sollte „für alle Zeiten fortleben, ungealtert, unverwest“25.

3.  ZWISCHEN PLASTINATION UND PILGERHYPE Heutzutage stellt man ein neues Interesse sowohl gegenüber den Ganzkörperreliquien als auch gegenüber den kaum sichtbaren Reliquienpartikeln fest. So versteht zum einen der Plastinator Gunther von Hagens, der Begründer der „Körperwelten“-Ausstellungen, seine Plastinate als direkte Nachfolger der Reliquien. Daraus ergibt sich die Frage nach dem tatsächlichen Bezug zwischen diesen beiden Arten menschlicher Überbleibsel. Zum anderen erfreut sich die Pilgerschaft aktuell 24 Zu den Traditionen der Einbalsamierung vgl. R. Schmitz-Esser: Der Leichnam, S. 165– 233. 25 Maier, Hans: Die Politischen Religionen und die Bilder, in: Blickle, Peter et. al. (Hg.): Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte (Historische Zeitschrift. Beiheft 33), München 2002, S. 485–507, hier S. 488. Ähnlich im Blick auf den ehemaligen Staatschef Hugo Chávez († 2013) aus Venezuela, s. Oehrlein, Josef: Chávez unser im Himmel, in: FAZ 19.05.2013, No. 20, S. 6.

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einer großen Beliebtheit, so dass auch auf diese Weise die Ganzkörperreliquien und die – den ganzen Körper repräsentierenden – Reliquienpartikel an den Wallfahrtsorten in den Mittelpunkt auch der medialen Aufmerksamkeit geraten. Tatsächlich erfahren die durch den Anatom Gunther von Hagens präparierten, eben plastinierten Überbleibsel von Verstorbenen im Rahmen der seit 1996 initiierten und weltweit von mehr als 37 Millionen Menschen besuchten „Körperwelten“-Ausstellungen eine den Reliquien vielfach ebenbürtige Beachtung. Wohl nicht zufällig preist sich der mit moderner Technik arbeitende Gunther von Hagens als moderner Fortsetzer dieser religiösen Tradition an: Auf zeitgemäße Weise befriedige die Plastination die Sehnsucht der Menschen nach Unsterblichkeit, welche in unseren Breiten bisher die katholische Kirche allein für sich beansprucht und mit ihren zahlreichen, von „unverwesten Heiligen“ bewohnten Sakralorten ansichtig gemacht hätte. Ganz im Sinne dieses religiös untermalten Verständnisses stilisieren ihn seine Bewunderer zum Schöpfer einer neuen Religion. Sie charakterisieren ihn als „spirituellen Asketen“ oder als „verkannten Propheten einer neuen Zeit“26. – Auf welche Weise verschafft sich Gunther von Hagens dieses Ansehen? Wie arbeitet er, und was ist sein Anliegen? Diese Frage bedarf der Beantwortung, um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen einem „corpus incorruptum“ und einem Ganzkörperplastinat präzise zu verstehen. Im Rahmen des als „Plastination“ bezeichneten und durch Gunther von Hagens erfundenen Konservierungsverfahrens durchtränkt man das menschliche Gewebe mit Kunststoff. In einem ersten Schritt wird die Verwesung des verstorbenen Menschen durch Formalin gestoppt, um ihn dann zu einem Gestaltpräparat oder zu einem Scheibenpräparat mit 3,5 mm dicken Scheiben zu verarbeiten. Die weiteren Präparationsschritte beziehen sich auf die Entwässerung und die Entfettung des Leichnams: Im kalten Acetonbad wird gefrorenes Gewebswasser entnommen und durch Aceton wieder aufgefüllt; im warmen Acetonbad werden lösliche Fettanteile gegen Aceton ausgetauscht. Als nächstes entzieht man das Aceton, um es allmählich durch Kunststoff zu ersetzen. Dabei fixiert man entweder den gesamten Leichnam in einer bestimmten Pose (Gestaltplastinat) oder legt die präparierten Gewebsscheiben zwischen Folie und/oder Glasscheiben (Scheibenplastinat), um diese Objekte den Besuchern der „Körperwelten“-Ausstellungen zeigen zu können. So lässt sich Gunther von Hagens’ Konservierungsverfahren, für das ihm unter FachkollegInnen hohe Anerkennung zuteilwird, tatsächlich als die „Erfin-

26 Siehe dazu umfassend Kleinschmidt, Nina/Wagner, Henri (Hg.): Endlich unsterblich? Gunther von Hagens – Schöpfer der Körperwelten, Bergisch Gladbach 2000; Wetz, Franz Josef: Der Grenzgänger, in: Whalley, Angelina/Wetz, Franz Josef (Hg.): Der Grenzgänger. Begegnungen mit Gunther von Hagens, Heidelberg 2005, S. 274–293.

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dung von „Plastikmenschen“ charakterisieren, wie Kritiker der Plastination formulieren.27 Nicht zuletzt verdient es Beachtung, dass das Wirken des Gunther von Hagens und die Präsentation seiner Ausstellungen ein Gemeinschaftsgefühl unter jenen Menschen hervorbringen, die sich nach ihrem Tod als Plastinationsobjekte zur Verfügung stellen wollen. Genauerhin würdigen die Mitglieder dieser sogenannten „Körperspendergemeinschaften“ Gunther von Hagens als ihren „Gott“; im Gegenzug achtet der Chef-Plastinator – Skeptiker wie die Kulturhistorikerin und Ethnologin Hermes da Fonseca bezeichnen ihn als „Verkörperung und Personifizierung der anonymisierten Toten“ – seine Körperspender als seine „anatomischen Schätze“28: „Willst du wirklich ewig leben, musst du deinen Körper geben“, wirbt er sprichwörtlich.29 Und im Sinne einer gelungenen Schöpfung zeigt er seine Ganzkörperplastinate ohne jeden Hinweis auf Verwesung, Leid oder Agonie. Stattdessen „regieren das Leben und der Moment der prallen Lebensfülle“ die Optik des Betrachters.30 Sowohl innerhalb eines religionsgeschichtlichen Horizonts als auch in historisch-theologischen Hinsichten wird man die Frage nach der Kontinuität zwischen den mittelalterlichen Reliquien und den durch Gunther von Hagens geschaffenen Körperpräparaten verneinen müssen. Während es sich bei Ganzkörper- oder Partikularreliquien um Ausdrucksformen des religiös (hier: christlicherseits bzw. katholischerseits) als lebendig eingeschätzten sowie namentlich bekannten Menschen handelt, müssen die modernen und anonym ausgestellten Plastinate eher als eine „‚Sache‘ im Dauerzustand des

27 Jost, Claudia Christina: Wissenschaftsexperimente mit Leichen und die Ausstellung Körperwelten. Aufklärung, Kunst und Totenrecht, in: Hermes da Fonseca, Liselotte/ Kliche, Thomas (Hg.): Verführerische Leichen – Verbotener Verfall. Körperwelten als gesellschaftliches Schlüsselereignis (Perspektiven politischer Psychologie 1), Lengerich 2006, S. 313–336, hier S. 326. 28 Hermes da Fonseca, Liselotte: Trauerlose Würfelanatomie als Gesellschaftsmodell. Der Verlust verschiedener Menschen und Leben in den Körperwelten, in: Hermes da Fonseca, Liselotte/Kliche, Thomas (Hg.): Verführerische Leichen – Verbotener Verfall. Körperwelten als gesellschaftliches Schlüsselereignis (Perspektiven politischer Psychologie 1), Lengerich 2006, S. 378–442, hier S. 403 (alle Zitate). 29 N. Kleinschmidt/H. Wagner: Endlich unsterblich?, S. 82. 30 Schnalke, Thomas: Demokratisierte Körperwelten. Zur Geschichte der öffentlichen Anatomie, in: Bogusch, Gottfried/Graf, Renate/Schnalke, Thomas (Hg.): Auf Leben und Tod. Beiträge zur Diskussion um die Ausstellung Körperwelten, Darmstadt 2003, S. 3–28, hier S. 23.

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Noch-nicht-beigesetzt-Seins“31 gelten oder – juristisch betrachtet – als „Kunstobjekte“ eingeordnet werden.32 Überdies beruht die Rede von Reliquien auf einem religiös mitgeprägten Körperverständnis, wohingegen der Körper der „Körperwelten“-Ausstellung als Körper der wissenschaftlichen Anatomie im Horizont des biomedizinischen Menschenbildes zu charakterisieren ist. So handelt es sich im Falle der Heiligen und Reliquien – auch über den irdischen Tod der Person hinaus – um den in der Welt der Religionen (hier: von Katholiken) für vital gehaltenen Leib; dagegen geht es im Falle der Plastinate mehr um „Installationen aus Menschenmaterial“, wie sich der Medizinethiker Klaus Bergdolt ausdrückt.33 Theologisch gewendet: Während religiöse Menschen darauf vertrauen, dass – mit göttlicher Hilfe – die Wirkmächtigkeit des in seinen Reliquien weiterhin als lebendig erachteten Heiligen gegeben ist und sich diese Vitalkraft für die Lebenden jederzeit alltagskonkret auswirken kann, erkennt man plastinierten Menschen keine über ihren irdischen Tod hinaus fortdauernde Wirksamkeit zu. In diesem Sinne besteht das menschheitsgeschichtlich womöglich Einzigartige der Plastination darin, dass es – abgesehen von totalitären Führerkulten – wohl noch nie eine körperliche „Haltbarmachung“ des Menschen gegeben hat, der es allein um ein über den irdischen Tod hinausreichendes Fortleben im Diesseits gegangen ist. Weitaus traditionsreicher als das Plastinationsverfahren ist das heutzutage wieder „angesagte“ Pilgerwesen durch die Auffindung von unverwesten Menschen motiviert. Bemerkenswerterweise ist der in Europa aktuell meistbesuchte Wallfahrtsort San Giovanni Rotondo der Geburts- und Sterbeort des in Italien berühmten Priesters und Kapuzinermönchs Padre Pio (1887–1968). Diese Stadt avancierte maßgeblich dadurch zu einem jährlich von 7,5 Millionen Menschen besuchten Pilgerort, dass man Padre Pio dort unverwest aufgefunden hatte. Als seine sterblichen Überreste im Jahr 2008 exhumiert wurden, zeigte sich der Leichnam weitgehend unverwest. Der Bart und das Kinn waren in einwandfreiem Zustand, auch die anderen Körperpartien überraschend gut erhalten. Ein bei der Erhebung anwesender Erzbischof gab zu Protokoll: „Wenn Pater Pio gestattet, würde ich sagen, seine Hände sahen aus wie frisch manikürt.“34 Schon kurze Zeit nach der 31 L. Hermes da Fonseca: Trauerlose Würfelanatomie, S. 416. 32 Freiin von Proff zu Irnich, Joanna: Kulturelle Freiheitsrechte und Menschenwürde. Körperwelten in der Diskussion (Studien zur Rechtswissenschaft 236), Hamburg 2009, S. 221. 33 Bergdolt, Klaus: Installationen aus Menschenmaterial oder die missbrauchte Didaktik, in: Bogusch, Gottfried/Graf, Renate/Schnalke, Thomas (Hg.): Auf Leben und Tod. Beiträge zur Diskussion um die Ausstellung Körperwelten, Darmstadt 2003, S. 71–81. 34 N. N., Italy Exhumes Revered Monk’s Body, in: www.news.bbc.co.uk/2/hi/europe/ 7275514.stm (Zugriff 06.12.2019).

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Exhumierung legte man den ganzen Leib dieser christlichen Ausnahmepersönlichkeit in einen gläsernen Sarg, um ihn für die Pilger sichtbar zu machen. Ob der Heilige Jakobus, zu dessen Grab in Santiago de Compostela jährlich etwa 4,5 Millionen Pilger pilgern, gleichfalls als „corpus incorruptum“ aufgefunden wurde, ist nicht überliefert. Immerhin zeigten sich am Ort seines Grabes zahlreiche Lichter, wie derlei auch von anderen unverwest aufgefundenen Persönlichkeiten vielfach berichtet wird. Noch heute heißt dieser Ort daher „Heiliger Jakobus vom Feld der Lichter – Santiago de Compostela“.

4.  „NO SEX“ ALS WEG ZUR UNVERWESLICHKEIT Der unverwesliche Leichnam ist ein Phänomen, das sich in vielen Religionen und zu unterschiedlichen Zeiten – eben bis heute – antreffen lässt. Beispielsweise findet es sich immer wieder für buddhistische Heilige überliefert. Ebenso gab und gibt es dafür im Christentum wichtige Anknüpfungspunkte. So konnte und kann man unmittelbar Bezug nehmen auf Jesus, der selber drei Tage ohne Verwesung im Grab gelegen hatte, bevor er gemäß dem Neuen Testament auferstand. In Anknüpfung an diese Tradition sahen und sehen die Christen seitdem immer wieder besonders überzeugungskräftige Glaubensgeschwister dadurch hervorragend ausgezeichnet, dass auch deren Leiber – wie schon der Leib Jesu – nach ihrem individuellen Tod nicht verwesten. So ließe sich die Unverweslichkeit als Spiegel für die besondere – auch ethische – Glaubwürdigkeit eines Menschen verstehen. Als nicht weniger einflussreich erweist sich ein zweiter Traditionsstrang, der auch in manchen nichtchristlichen Religionen ursächlich hinter der Unverweslichkeit zu stehen scheint: die Rolle der sexuell-kultischen Reinheit. Immerhin wird im Christentum nicht allein vielen blutigen Märtyrern ein unverwester Leib zugeschrieben, sondern auch unblutigen Märtyrern, also jenen Christen, die lebenslänglich sexuell enthaltsam lebten oder leben: Päpste oder Bischöfe, Mönche oder Priester, seltener auch Nonnen. Einmal mehr beruft man sich hier auf die Konstruktion einer Tradition, der zufolge auch der Leib Christi lebenslänglich unbefleckt geblieben sei. So heißt es bei Theofried († 1110), dem seit 1081 in der Abtei Echternach amtierenden Abt: „Wie von dem unverweslichen Herrenleib auf alles Fleisch der Heiligen die Gnade der Unverweslichkeit und Heiligkeit ausgegossen wurde, so übertrug sich von seinem Gewand kraft dessen mystischer Ausstrahlung auch auf alle Kleidungsstücke heiliger Leiber die unaussprechliche Fülle seiner Kraft.“35 Gemäß diesem Votum erschließt sich die Unverweslichkeit 35 Thiofrid von Echternach: Flores epitaphii sanctorum III 4, hg. v. Jacques-Paul Migne (Patrologia Latina), Paris 1898, Sp. 375B.

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nicht als Naturvorgang, sondern zeichnet im Sinne einer Gabe vielmehr jene mitsamt ihrer Kleidung aus, die christusgleich ihr Leben in sexueller Enthaltsamkeit verbracht haben – ein Gedanke, der auch die Wertschätzung der Jungfräulichkeit und die jahrhundertelange Plausibilität des Priesterzölibats maßgeblich unterstützt hat. Offenbar ist es das Ineinander einer Reinheit des Herzens und der Enthaltung von aller Sexualität, die gläubige Menschen bis heute als konstitutiv für das himmlische Geschenk der Unverweslichkeit ansehen. Mit diesem Befund korrespondiert nicht allein die eingangs wiedergegebene Geschichte des buddhistischen Mönches und seines „unverwesten Leibes“, sondern ebenso ein nicht weniger aktueller Bericht über einen verstorbenen christlichen Oberhirten, den der Ruf lebenslänglicher sexueller Enthaltsamkeit und vorbildlicher Nächstenliebe umgibt. So verbreitete die orthodoxe Kirche am 5. März 2016 über ihre Nachrichtenportale diese Meldung: „Im Sommer 2011 starb Erzbischof Dimitrij von Dallas (USA). Wie ,pravoslavie.ru‘ berichtet, wurden […] seine Gebeine für die Überführung in die Kathedrale des Hl. Seraphim vorbereitet. Als sein Sarg auf dem Friedhof geöffnet wurde, fand man seinen Körper unverwest vor. Viereinhalb Jahre lagen die Gebeine in der Erde des Friedhofs und Erzbischof Dimitrij sieht aus wie am Tag des Begräbnisses.“36

36 www.orthodoxie-in-deutschland.de/ (Zugriff 06.12.2019).

Von der Reliquie zum Ding – und zurück? Stefan Laube

1.  PROLOG: GIERIG NACH ASCHE UND KNOCHEN Florenz, am 23. Mai 1498: Menschen strömen auf den Hauptplatz, die Piazza della Signoria. Schon von weitem sehen sie den Galgen aufragen, von dem drei Stricke herabhängen. Man erwartet die Ankunft dreier zum Tod verurteilter Dominikaner, unter ihnen Girolamo Savonarola. Dieser hatte als Prediger gegen sündiges Leben und Glaubensverfall, gegen Sittenlosigkeit, Prunksucht und Pfründenhäufung der Kurie gewettert.1 Vom Papst exkommuniziert, sah sich Savonarola mit Anklagen wie Ketzerei, Prophezeiungen, Aufruhr und anderen Verbrechen konfrontiert. Zum Tod verurteilt, wurde er an diesem Tag mit zwei Mitbrüdern gehängt und anschließend verbrannt. Sogleich stürzten sich Schaulustige auf alles, was man anfassen konnte, auf Körperteile, die noch nicht restlos verbrannt waren, auf Kleidungsstücke, ja selbst die Asche selbst konnte zum heiß begehrten Objekt werden. Wenige Monate zuvor hatte man an gleicher Stelle noch das materiell Wertvolle bewusst zerstört. Savonarola hatte Jugendliche und Kinder durch Florenz ziehen lassen, die in Christi Namen alles beschlagnahmten, was als materieller Beleg für die Verkommenheit der Menschen gedeutet werden konnte: Gemälde, Schmuck, Kosmetika, Spiegel, Musikinstrumente, Spielkarten, aufwändig gefertigte Möbel oder teure Kleidungsstücke. All diese Gegenstände wurden in einem „Fegefeuer der Eitelkeiten“ auf der Piazza della Signoria verbrannt. Nach der Hinrichtung des Initiators schien es nun von einer bestechenden Logik zu sein, im Umgang mit den Dingen das offensichtlich Wertlose auf das Podest zu heben. Eine öffentliche Hinrichtung, früher eine Schauveranstaltung par excellence, scheint reichlich Gelegenheit zu bieten, sich materielle Hinterlassenschaften des Hingerichteten anzueignen. Eine Rückblende in die Frühgeschichte des Christen-

1 Ridolfi, Roberto: Vita di Girolamo Savonarola, Florenz 1981, S. 219f.

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tums in das Jahr 155. Auch Polykarp, Bischof von Smyrna, verbrannte auf dem Scheiterhaufen, allerdings ohne zuvor gehängt worden zu sein. Was übrig blieb, war alles andere als bloße Materie. Die Knochenreste seien „wertvoller als kostbare Steine und besser als Gold“, so der Chronist.2 Die Quellen wissen zudem zu berichten, dass sich die Göttlichkeit des Hingerichteten der Gemeinde auch olfaktorisch vermittelte: Vom Bischof auf dem brennenden Scheiterhaufen sei ein Wohlgeruch wie von Weihrauch ausgegangen; Polykarps Leib sei durch das Feuer nicht verzehrt, sondern „wie Brot gebacken“ worden.3 Bei Savonarolas Verbrennung sind keine Hinweise von faszinierenden Düften aktenkundig geworden. Was wir aber sicher wissen ist die Jagd nach Überresten, die am Tag seiner Hinrichtung sogleich einsetzte.4 Die erste Lebensbeschreibung Savonarolas weiß dazu zu berichten:5 Einige als Dienerinnen gekleidete Personen kamen mit Kupfervasen, um Asche aufzusammeln, wobei sie vorgaben, sie wollten Wäsche waschen. Einem Jungen gelang es, eine der Hände Savonarolas zu bergen.6 Stolz brachte er das Relikt nach Hause, zumal er wusste, dass seine Mutter den Bußprediger sehr verehrte. Savonarola soll übrigens sehr edle Hände gehabt haben: lang, dünn, fast transparent. Irgendeiner muss auf dem Hinrichtungsplatz auch auf dessen Finger gestoßen sein. Jedenfalls wird im Kloster San Vincenzo im benachbarten Prato diese Gliedmaße in Ehren gehalten. Damit ist die Geschichte der Reliquienrettung noch nicht zu Ende erzählt. Auch unter den im Arno verstreuten Überresten ging die Suche weiter. Der Neffe von Pico della Mirandola konnte ein Stück von Savonarolas Herz ergattern, das, wie es hieß, mit wunderbarer Wirkung bei Behandlung verschiedener Krankheiten ausgestattet war.

2 Sogleich wurden sie eingesammelt und beigesetzt. Und alljährlich versammelten sich die Gläubigen am Grab des Bischofs zu einer Gedächtnisfeier. 3 Martyrium des Polykarp, griech.-dt., in: Baumeister, Theofried: Genese und Entfaltung der altkirchlichen Theologie des Martyriums (TC 8), Bern u. a. 1991, S. 74–85, hier S. 80. 4 Rasario, Giovanna: Savonarola e le sue `reliquie´ a San Marco, in: Dies./Scudieri, Magnolia (Hg.): Savonarola e le sue `reliquie´ a San Marco: Itinario per un percorso savonaroliano nel Museo (Ausstellungskatalog, Firenze: Museo di San Marco), Florenz 1998, S. 52–60. 5 Burlamacchi (Pseudonym): La vita del Beato Ieronimo Savonarola scritta da un Anonimo del sec. XVI e giá attribuata a fra Pacifico Burlamacchi, pubblicata secondo il codice Ginoriano a cura del principe Piero Geinori Conti, Florenz 1937, S. 185f. 6 [Anonimo del secolo XVI]: Il Cappello di sangue. Vita, confessione e martirio di Fra Girolamo Savonarola, hg. v. Lotti, Egisto. Vorwort von Enzo Fabiani, Vicenza 1982, S. 127.

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Während des gesamten 16. Jhd. blieb der sich an Savonarola entzündende Reliquienkult ein Politikum. 1593 schrieb Erzbischof Alessandro de‘ Medici an den Großherzog: „Sie halten seine Reliquien, als wäre er ein Heiliger, sie heben Stifte auf, wo er feststeckte, ebenso die Eisen, die ihn unterstützten, die Kleider, die Hauben, die Knochen, die zum Feuer vorrückten […]. Die Asche, das Hemd, sie halten den Wein von ihm gesegnet, sie geben es den Kranken […].“7 Im Kloster zu San Marco in Florenz, wo Savonarola Mönch gewesen ist, sind bis heute in einer nur ihm gewidmeten Zelle Dinge Savonarolas ausgestellt, „authentische“ Dinge natürlich: seine Kutte, sein Rosenkranz sowie ein Stück Holz, das wohl vom Scheiterhaufen stammt.8 „Von der Reliquie zum Ding – und zurück?“ Im Wortlaut des Titels kommt ein Verlauf, ein Prozess zum Ausdruck, den man räumlich, vor allem aber auch zeitlich ausfüllen kann. Säkularisierung, Moderne und Verweltlichung sind die Assoziationen, die man mit der Formel „Von der Reliquie zum Ding“ verbindet.9 Diese Entwicklung machte sich eruptiv bereits in der Reformation bemerkbar. Überall, wo sich Protestanten durchsetzten, waren die in den Kirchen aufbewahrten Reliquien in ihrer Existenz bedroht. „Die bewahrende Kraft des Luthertums“10 zeigt sich zwar an erhaltenen Altären, Bildern und Figuren, aber keineswegs an Reliquien, die zerstört oder in alle Himmelsrichtungen zerstreut wurden. Wie verhält es sich nun umgekehrt, wenn das Ding zur Reliquie wird, wie eben am Beispiel von Savonarola vorgeführt? Kann man hier sogleich von einer Sakralisierung sprechen, von einem volksfrommen Exzess? Die Pendelbewegung der Gegenstände – von der Reliquie zum Ding bzw. vom Ding zur Reliquie – regt an, die Sonde auf Umschlagspunkte zu lenken, die beim Überrest einen Wandel in der Zuschreibung bewirken, sei es, dass Motive der Idolatrie Auslöser sind oder Motive des Ikonoklasmus.

2.  HERKÖMMLICHER RELIQUIENKULT Savonarola war Purist, aus Reliquien wird er sich wenig gemacht haben. Nicht nur in dieser Hinsicht bewegte er sich ganz auf der Linie der Reformation. Martin 7 Archivalischer Beleg, zit. nach G. Rasario: Savonarola, S. 53 (übers. vom Verfasser). 8 Vgl. Savonarola-Reliquien wie Rosenkranz und Holzscheid, Florenz, Museo de San Marco. 9 Laube, Stefan: Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum, Berlin 2011. 10 Fritz, Johann Michael (Hg.): Die bewahrende Kraft des Luthertums. Mittelalterliche Kunstwerke in evangelischen Kirchen, Regensburg 1997.

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Luther, der 1523 in seinem Prolog zu Savonarolas Meditatio pia den italienischen Bußprediger als „heiligen Mann“ bezeichnet hatte,11 verknüpfte mit dieser Titulierung keine Aufforderung, dessen Reliquien zu verehren, waren für ihn Reliquien doch allesamt „todt Ding“, die niemand heiligen könne.12 Damit stellt sich Luther unmissverständlich gegen die herkömmliche Reliquienverehrung. Reliquien machen eine unsichtbare Kraft, eine „virtus“ präsent. Wie bei einer Spur besteht ihr Selbstverständnis darin, gegenständlich zu sein, wenn auch das, um das es geht, im Unsichtbaren verharrt. Ohne ihre Physizität ist keine Reliquie denkbar, nur im Kraftfeld von Materialität, Körperlichkeit und Sinnlichkeit ist Reliquienkult möglich. Seit jeher ist das Verständnis von Reliquie in der Kirchengeschichte mehrschichtig und differenziert. Bei der von der alten Kirche in die Wege geleiteten Reliquienverehrung, so wie sie vom Herkommen überliefert und von der sich bildenden Institution forciert worden ist, war stets folgende Vorstellung wirksam: Die auferstandene Seele ist in den Himmel aufgestiegen, auf der Erde bleiben materielle Träger ihres Daseins übrig, wie vor allem der Leib, aber auch Dinge, die er oder sie am eigenen Körper trug. Und diesen hinterlassenen Materien wird nach dem Ableben eine Bedeutung und Kraft zugesprochen, da man annahm, sie seien eng mit der himmlischen Existenz verkoppelt. Reliquien stellen demnach zwischen disparaten Welten, zwischen Diesseits und Jenseits eine Verbindung her, dem vergänglichen Körper auf Erden steht als Kraftquelle die ewige Präsenz des Heiligen im Himmel gegenüber.13 Es gibt wichtige Reliquien, von denen sich der Gläubige eine ganz besondere Wirkung versprach und weniger wichtige. Die Forschung spricht von Primärreliquien und Sekundärreliquien bzw. von Reliquien erster Ordnung und von Reliquien zweiter Ordnung.14 So war Heiligengebein mehr wert, als Kleidungsstücke, die der oder die Heilige trug. Überreste aus der Passionsgeschichte Jesu Christi konkurrierten rasch mit dem spektakulärsten Knochenteilen von Heiligen. Kaum zu übertreffen war ein Holzsplitter vom Kreuze, an dem Jesus Christus starb, besonders dann, wenn darauf noch Blutreste zu erkennen waren. Unabhängig davon, welche Klassifizierung nun maßgebend ist: Relikte von heilig angesehenen Personen, ob nun als Körper- oder Berührungsreliquien, verschafften auch objektiv wertlosen Dingen eine ungeahnte Aura. Im Span des Kreuzes, in einem Stück 11 Luther, Martin (Hg.): Girolamo Savonarola: Meditatio pia et erudita H. Savonarolae a Papa exusti super psalmos Miserere mei, et In te Domine speravi [1498], Wittenberg 1523. 12 Luther im Großen Katechismus (1529); WA 30/1, S. 145. 13 Angenendt, Arnold: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 102–123. 14 Ebd., S. 149–167.

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Stoff des Marienmantels, im Knochen eines Märtyrers wurde ein Objekt mit überirdischer Kraft gesehen. Während die Kirche bestrebt war, narratives Hintergrundwissen aus Bibel und Heiligenviten an Frau, Mann und Kind zu vermitteln, reichte es im volkstümlichen Verständnis meist aus, in Reliquien Träger verborgener Kräfte zu sehen, von denen man sofortige Hilfe und Heilung, Schutz und Segen erwartete. So mancher Gläubige führte einen Knochensplitter direkt bei sich, als Anhängsel am Gürtel (Phylakterien), als Schaden abwehrendes Schutzmittel – eine talismanische Praxis, die der Kirchenhierarchie eher suspekt blieb. Viel lieber verfolgte sie die Strategie, sich der Kraft der Reliquien durch Gehäusestrukturen zu bemächtigen, sei es durch Reliquiare oder auch durch das Kirchengebäude selbst. Auf der Grundlage von sakralen Partikeln Raumstrukturen, die Raumstrukturen schufen, konstituierten sich heilige Orte, an denen sich der Gläubige zu begeben hatte, wenn er an Heilkräften partizipieren wollte. Dort wurde die Reliquie, die meist nur aus einem amorphen Fragment bestand, lange Zeit nicht direkt gezeigt, sondern nur deren Behälter, ihr Reliquiar, das im Gegensatz zu seinem Inhalt tatsächlich materiell kostbar war.15 Reliquiare gleichen durch ihr prunkvolles Erscheinungsbild das Defizit aus, das Reliquien als unscheinbaren und unattraktiven Objekten in der Regel eigen ist; zudem konnten dadurch die Reliquien mit einem vielfältigen Bild- und Zeichenangebot verknüpft werden. Reliquiare waren so etwas wie das Gesicht der Reliquien, sie kamen den sinnlichen Bedürfnissen der Gläubigen entgegen. Das Gefäß hatte die Funktion, Aufmerksamkeit zu erzeugen, die Andacht zu kanalisieren, auch indem es die Geschichte, die an der Reliquie geknüpft ist, an der Außenwandung bildhaft vermittelt. Zwei Bestandteile machten so eigentlich erst die Reliquie aus: der organische Stoff, bei dem es sich meist um unscheinbare Überreste eines Menschen handelte, und das aus kostbaren Materialien gefertigte Gefäß, in dem die Körpersubstanz aufbewahrt wurde.16 Vor der Reformation scheinen im Christentum derartige Überreste in prunkvollen Hüllen einen natürlichen Anspruch auf Kult und Verehrung gehabt zu haben, sie besaßen Leben und Kraft. Reliquien waren die Quelle, die auch Statuen und Bilder eine Aura einflößten, vorausgesetzt, sie waren darin integriert. Die Priorität des aufgeladenes Dings im christlichen Kult zeigt sich allein darin, dass ausufernder Bilderkult dann legitim war, wenn sich in der Bildfigur eine Reliquie verbarg, was besonders eindrucksvoll bei der Goldfigur der heiligen Fides von 15 Braun, Joseph: Die Reliquiare des christlichen Kultes und ihre Entwicklung, Freiburg i. Br. 1940. 16 Reudenbach, Bruno/Toussaint, Gia: Die Wahrnehmung und Deutung von Heiligen. Überlegungen zur Medialität von Reliquiaren, in: Das Mittelalter 8 (2003), S. 34–40.

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Conques gezeigt werden kann.17 Durch das inkorporierte Ding der Reliquie schien die Bildfigur mit der Heiligen in einem konzisen Zusammenhang zu stehen. Wer wollte entscheiden, ob der Betrachter nun über das Bild oder die Partikel verzehrend meditierte? Selbst die prunkvollsten Reliquiare sollten nicht über ihre Rolle, als Hülle für einen viel größeren Schatz zu dienen, hinauswachsen, so wenigstens die Theorie. Die Reliquie wurde damals für kostbarer gehalten wurde als Gold und Edelsteine. Interessant ist nun, dass im Hochmittelalter der Inhalt durch Fensteröffnungen immer öfter sichtbar gemacht wurde. Nachdem auf dem Lateran-Konzil von 1215 festgelegt worden war, dass Reliquien nicht mehr außerhalb ihrer Gefäße gezeigt werden dürften, präsentierten sie sich nun in transparenter Abgeschlossenheit. Zwischen Gläubigen und Reliquie trat das mit einer Vitrine ausgestattete Reliquiar, das Ostensorium, die Monstranz. Vereinzelt tritt dieser Objekttyp bereits im frühen Mittelalter auf, zu einer verbreiteten Erscheinung sollte diese Inszenierungsform im Laufe des 13. Jhd. werden.18 Dahinter verbarg sich eine neue Sensibilität des Sehens, die nicht zuletzt der mit den Kreuzzügen einhergehende Kulturtransfer ausgelöst hatte. Mit den Kreuzzügen gelangte eine Flut von byzantinischen Reliquien und Reliquiaren in den Westen, die eine innovative Inszenierung in Gang setzte. Während in der Ostkirche es Tradition war, das Heiligengebein ungefiltert zu zeigen, machte der lateinische Westen daraus die Sichtbarkeit der Reliquie im Reliquiar. So fasste auch im Westen das auf permanente visuelle Präsentation des nackten, entblößten Knochens ausgerichtete Sehverhalten Fuß. Bis dahin hatte man die heiligen Knochen im Reliquiar – einem Grab vergleichbar – beigesetzt. Tatsächlich erscheint das Verbergen des Gebeins wie eine Parallele jenes alten, gerade von Christen gepflegten Brauches, die Toten so in die Erde zu bestatten, dass sinnliche Akte des Sehens und Berührens der Knochen tabuisiert waren. Nur bei besonderen Gelegenheiten – bei Translationen oder bei der Umbettung von Reliquien in neue Gefäße – waren die entblößten Knochen kurzfristig zugänglich, aber auch dann allenfalls einem ausgewählten Kreis zumeist hochrangiger Kleriker. Dass nach der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1204 auch älteren Reliquiaren Schauöffnungen zur Visualisierung heiliger Materie eingeräumt wurden, belegt, dass der Osten den Westen nicht nur um seine Reliquien, sondern auch um eine neue Sehpraxis bereichert hat. Wie das Armreliquiar aus dem Domschatz

17 Fricke, Beate: Ecce Fides. Die Statue von Conques. Götzendienst und Bildkultur im Westen, München 2007. 18 Toussaint, Gia: Kreuz und Knochen. Reliquien zur Zeit der Kreuzzüge, Berlin 2011.

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zu Halberstadt zeigt, war die Scheu angesichts unverhüllter Gebeine gefallen;19 Sinnlichkeit wurde in den Verehrungskodex der römischen Amtskirche integriert, aber in disziplinierter Form: Während das Anfassen, Schmecken oder Riechen der Reliquie nun konsequent unterbunden wurde, war es nun erlaubt, sich einer nie zuvor gekannten Schaulust hinzugeben. Der Reliquie wurde ein sichtbarer Ort des Unberührbaren und Auratischen eingeräumt. Damit bediente sich die Reliquienverehrung einer Inszenierungsform, die in frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern sowie in modernen Museen zum Klassiker werden sollte.

3.  „RELIQUIEN“ DER NATUR Das Reliquienverständnis erschöpft sich mit herkömmlichen Reliquien und ihren Behältern, wie sie die Kirchengeschichte überliefert hat, keineswegs. Beim Reliquienbegriff in (früh)christlicher und mittelalterlicher Zeit haben wir es gewissermaßen mit einer zugespitzten, heilsgeschichtlich aufgeladenen Kategorie zu tun, während in der Antike das lateinische „reliquiae“ bzw. das griechische „ta leipsana“ alles begreifen konnte, was von menschlichen und tierischen Körpern sowie deren Habseligkeiten übrig geblieben war. Von dieser ursprünglichen Bedeutung können sich Reliquien im übertragenen Sinne ihr weites Feld erschließen: von identitätsstiftenden authentischen Erinnerungsstücken aus dem Besitz einer geliebten oder verehrten Person bis zu kuriosen, aus dem Rahmen fallendem Objekte, oft aus dem Reich der Natur. Letztere können eine Aura entwickeln nicht zuletzt deswegen, weil sie in repräsentativen Räumlichkeiten gezeigt werden, wie früher besonders in Kirchen. In der Moderne sollten Museen Kirchen als Aufbewahrungsstätte von Dingen, die man vor Abnutzung und Zerstörung bewahrt, ablösen. Dinge scheinen ihre Natur zu verändern, je nachdem in welchen Räumen sie aufgestellt sind.20 Kirchenräume des Mittelalters und der frühen Neuzeit waren Mehrzweckräume, in denen keineswegs nur andächtig gebetet und gesungen wurden. Gegenstände waren hier einem vielschichtigen Kräftefeld ausgesetzt. Dazu ein Beispiel unter vielen: In der Kathedrale auf dem Wawel in Krakau waren Fundstücke von riesigen Knochen zu bestaunen. An der nördlichen Seiten-

19 Vgl. Armreliquiar mit dem mumifizierten Finger des heiligen Nikolaus, aus: Meller, Harald/Mundt, Ingo/Schmuhl, Boje E. (Hg.): Der Heilige Schatz im Dom zu Halberstadt, Regensburg 2008, S. 104. 20 S. Laube: Von der Reliquie zum Ding, S. 47–86.

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wand sind bis heute große Knochen, die an Ketten befestigt sind, aufgehängt.21 Nachdem am Weichselstrand Überreste riesiger Tiere gefunden worden waren, wurden sie sogleich in die Kirche gebracht, wo sie seit dem 14. Jhd. ausgestellt waren. Nicht zuletzt soll ihnen die Funktion eines magischen, Unheil abwehrenden Gegenstandes eingeschrieben gewesen sein.22 Diese Relikte wurden sogleich mit einer lokal verankerten Sage verknüpft; sie sollten von nun an den Drachen, der im Wawel hauste, mit Authentizität aufladen. Bisweilen kam es vor, dass Reliquien im traditionellen Verständnis und Reliquien im übertragenen Sinne in ein und demselben Kirchenraum vereinigt waren. In der stattlichen Vorhalle der Abteikirche im badensischen Alpirsbach waren ursprünglich über dem Portal an Ketten die fossilen Überreste eines Mammuts und anderer prähistorischer Wesen gut sichtbar angebracht. Im Jahre 1535 sollte ein Bildersturm zum Verlust der Heiligenreliquien führen, mit der die Klosterkirche zahlreich ausgestattet war. Die fossilen Überreste hingegen blieben unangetastet. Dies überrascht nicht, ist aber dennoch eine Erwähnung wert, dass sich die Ikonoklasten bei Kuriosa aus der Natur, denen keine genuin heilsgeschichtliche Substanz innewohnte, nicht provoziert fühlten.23 Wurden denkwürdige Exponate aus der Natur in unmittelbarer Nähe zu zentralen Ritualwerken der eigenen Religion zur Schau gestellt, so konnte es nicht ausbleiben, dass sie in den Sog einer christlich-sakralen Atmosphäre gerieten. Die Option, in die Rolle von Utensilien der Liturgie zu schlüpfen, machte aus Olifant und Greifenklaue Reliquiare, aus dem Nautilus ein Weihrauchschiffchen, aus dem Horn ein Behälter für Salböl. Und das Straußenei konfrontierte als am Altar aufgehängtes, von weitem sichtbares Objekt den Besucher mit der Mahnung, in der Aufmerksamkeit nicht nachzulassen.24 Offiziell geadelt waren derartige Objekte allein deswegen, weil sie in der Kirche gezeigt wurden, ähnlich wie in der Moder21 Vgl. Knochen-Fragmente, Kathedrale auf dem Wawel, Krakau (Firlet, Elzbieta Maria: Smocza Jama na Wawelu. Historia. Legenda. Smoki, Krakau 1996, Abb. 22). 22 Firlet, Elzbieta Maria: Smocza Jama na Wawelu. Historia. Legenda. Smoki, Krakau 1996. 23 Glatz, Karl J.: Geschichte des Klosters Alpirsbach auf dem Schwarzwalde nach Urkunden bearbeitet, Straßburg 1877. Auch in der Stadtkirche St. Nikolai zu Stralsund hängt an der Orgelempore bis heute ein ausgestopfter Haifisch, während die Reliquien sich längst verflüchtigt haben. 24 In den verschiedenen Versionen des Physiologos ist von einem Strauß die Rede, der in der Lage ist, mit seinem gezielten Blick seine Eier auszubrüten. Der Zweck des Straußeneis besteht gerade darin, betrachtet zu werden; vgl. Bock, Sebastian: Ova struthionis. Die Straußeneiobjekte in den Schatz-, Silber-und Kunstkammern Europas, Freiburg/Heidelberg 2005, S. 68f.

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ne Kunstobjekte der Rahmung eines Museums bedürfen, um wirklich als Kunst zu gelten. Wenn auch im Unterschied zu Kirchen die dominante Aufgabe der Museen nicht in der Vermittlung des Glaubens, sondern in der Bewahrung der Erinnerung besteht, erfahren die Objekte durch den Musealisierungsakt wie die Gegenstände in der Kirche eine Metamorphose. Sie werden herausgehoben, so dass eine Annäherung ohne Respekt und Ehrfurcht kaum mehr möglich erscheint. Wie die Reliquie im Reliquienbehälter, präsentiert das Museum die Dinge in einem Raum des Unberührbaren. Wenn das Museum ein Ort der Erinnerung an vergangene und tote, fremde Kulturen ist, können dessen Exponate also durchaus als „Reliquien“ bezeichnet werden.25

4.  LUTHERS LETZTER BECHER Aber nicht nur Ungewöhnliches aus der Natur, die in sakralen Räumen eine neue Valenz erhalten können, kann man als „Reliquie“ in Anführungsstrichen bezeichnen. Es gibt auch Reliquien, die die Funktion haben, die Erinnerung an eine bemerkenswerte Person wachzuhalten.26 So scheint es unmöglich, eine Geschichte der Lutherdinge ohne Becher und Gläser zu schreiben, die ihm zugeschrieben werden. Die zahlreich überlieferten, heute oft wegen ihrer zweifelhaften Herkunft mit dem Zusatz „so genannt“ versehenen Lutherbecher und -gläser verkörpern in gewisser Weise den beleibten Luther, so wie er auf späteren Bildern stets dargestellt worden ist.27 Luther besaß nachweislich eine große Anzahl von repräsentativen Trinkgefäßen, die er von Freunden und Gönnern geschenkt bekam. Ganz besonders war das Glas, aus dem Luther in Eisleben seinen letzten Schluck genommen haben könnte. Luthers letzter Becher gehörte zu den Requisiten von dessen Sterbephase, die bis ins 18. Jhd. mit Bett und Lehnstuhl in der

25 Vgl. Pazzini, Karl-Josef: Museum als Reliquienhort, in: Ders.: Die Toten bilden. Museum & Psychoanalyse II, Wien 2003, S. 76–96. 26 Holm, Christiane: Andacht und Andenken. Zum Verhältnis zweier Kulturpraktiken um 1800, in: Dies./Oesterle, Günter (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen, Göttingen 2005, S. 433–448; Laube, Stefan: Stuhl und Löffel – Katze und Finger. Idole der Aufklärung und ihre Reliquien, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 38.1 (2014), S. 45–56; Habermas, Tilmann: Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Berlin 1996, S. 267–305. 27 Roper, Lyndal: Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographien, Göttingen 2012.

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Gräflichen Kanzlei zu Eisleben Reisenden gezeigt wurden.28 Dann wurde der Kirchenleitung der touristische Rummel zu viel. Die Reliquien verwandelten sich in bloße, wertlose Dinge; sie wurden einfach entsorgt. Heute wird im Luthersterbehaus in Eisleben ein Glas ähnlichen Typs gezeigt. Dass es sich hierbei nicht um das echte handelt, scheint nur wenige zu stören. Eigentlich hätte es nur ein einziges Glas geben müssen, aus dem Luther seinen letzten Schluck nahmen, es scheinen sich aber viele im Besitz gewähnt zu haben. So wird in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel ein stattliches Glas aufbewahrt wird, dem das Todesgedenken eingeschrieben ist. Vom Genre her handelt es sich um ein mit Nuppen übersätes so genanntes Stangenglas.29 Bestehend aus grün schimmernden Waldglas, das in Waldhütten diesseits der Alpen seit dem späten Mittelalter produziert wurde, mögen die Nuppen, wiewohl selbst empfindlich, neben ihrem dekorativen Zweck als griffige Unterlage gedient haben, damit das teure Glas beim Gebrauch nicht aus der Hand rutschte. Das Stangenglas wurde zusammen mit anderen Luther-Raritäten spätestens seit dem 18. Jhd. in einem grünen Schrank aufbewahrt und Besuchern der Wolfenbütteler Bibliothek gezeigt.30 Mit dem Exemplar aus Wolfenbüttel sind mehrere Erinnerungsebenen verknüpft. Ein Schenkungsbrief dokumentiert, dass sein letzter Besitzer, der Sondershausener Pastor David Nikolaus Reinhartt, das Glas Herzog Rudolf August von Braunschweig-Wolfenbüttel geschenkt hat. Für den frommen Herzog, der sich auch um die Sammlung von Luther- und Reformationsschriften verdient machte, war das Glas sicherlich ein attraktiver Gegenstand, den Aufbau der Wolfenbütteler Kunst- und Raritätensammlung anzuschieben. Im Begleitschreiben hat Reinhartt die Provenienzgeschichte des Glases niedergelegt, worin er den Besitz des Glases bis auf Luthers Weggefährten Justus Jonas zurückführt, der es von Luther persönlich als Geschenk erhalten haben soll. Offensichtlich wollte der Schenker das Wolfenbütteler Glas aufwerten, indem er das Ding mit den letzten Tagen Luthers in Beziehung setzte. Der betagte Luther war am 25. Januar 1546 auf seiner letzten Reise nach Eisleben in Halle eingetroffen, um Justus Jonas zu besuchen. Bei Tisch soll Luther aus dem neuen Glas getrunken und folgenden lateinischen Trinkspruch kundgetan haben: „Dat vitrum vitro Jonae vitrum ipse Lutherus, Ut fragili vitro similem se noscat uterque.“ [Dem alten Dr. Jonas bringt Dr. Luther ein 28 Steffens, Martin: Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert. Memoria – Repräsentation – Denkmalpflege, Regensburg 2008, S. 93–96. 29 Vgl. Sogenanntes Trinkglas Martin Luthers, Stangenglas mit Spitznuppen, Höhe 26 cm, verm. 16. Jh. (KGS 1, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek). 30 Baum, Constanze: Luther, der Trinker, in: Luthermania. Ansichten einer Kultfigur, Ausstellungskatalog, hg. von Hole Rößler für den Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel, Wiesbaden 2017, S. 141–144.

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schön‘ Glas, | Das lehrt sie alle beide fein, daß sie zerbrechliche Gläser sein]. Der Trinkspruch, der auf die Zer- und Gebrechlichkeit allen Seins hinweist, fungiert als memento mori, der zusätzliche Brisanz erhielt, weil Luther am 18. Februar in Eisleben im Beisein von Jonas starb. Das Problem bei diesem Objekt ist nun, dass zahlreiche Memorabilien-Jäger diese Geschichte kolportierten und sich im Besitz des authentischen Luther-Jonas-Glas fühlten. Die Reliquienhaftigkeit des Wolfenbütteler Stangenglases hätte noch gesteigert werden können, wenn überzeugend dokumentiert worden wäre, dass aus diesem Becher Luther im Totenbett tatsächlich seinen letzten Schluck genommen hatte. Als ob das Wolfenbütteler Glas als Vorlage gedient hätte, zeigt das Historiengemälde von William Pape aus dem Jahr 1905, ein Trinkgefäß ähnlichen Typs. Über so etwas wie das von Lady Di benutzte Weinglas, aus dem die Prinzessin von Wales unmittelbar vor ihrem Todescrash getrunken hat und das im Untergeschoss des Kaufhaustempels Harrods in London suggestiv in Szene gesetzt ist, verfügt die Luther-Memoria nicht.31 Insbesondere der Lippenstiftabdruck am oberen Glasrand macht das Objekt zu einer Art Berührungsreliquie. Körperliche Spuren des Reformators haben sich weitestgehend verflüchtigt. Bei Bechern, die prominenten Figuren des Weltgeschehens zugeschrieben werden, kommt ein modern anmutender Akzent der Reliquienverehrung in den Blick. Die mit dem Tod einhergehende physische Abwesenheit einer geliebten oder verehrten Person veranlasst den Menschen, Bildnisse, persönliche Gegenstände oder gar Teile des Körpers der vermissten Person aufzubewahren. Forciert wurde diese an Stofflichkeiten gebundene Erinnerung bereits in der Epoche des Humanismus. Die persönlichen Gegenstände, die Erasmus von Rotterdam in Basel Bonifacius Amerbach vermachte, wanderten nach dem Tod des großen Gelehrten sogleich in einen säkularen Schrein. Die Dürer-Verehrung fand seit Mitte des 16. Jhd. intimen Ausdruck durch eine authentische Haarlocke. Der Vielfalt der Dinge, die sich beispielsweise um Luther ranken und die aus Verehrung oder Neugier in Szene gesetzt werden, scheint keine Grenze gesetzt: Kleidungsfetzen und Ringe, Becher und Gläser, Tisch und Stuhl, Tintenfass und Bettgestell, neuerdings Geflügelknochen und Murmeln und vieles andere mehr. Die Funktion derartiger Dinge besteht nicht zuletzt darin, den außergewöhnlichen Luther zu einem Menschen wie du und ich zu machen. Gerade weil man sich problemlos mit derartigen Dingen identifizieren kann, entwickeln sie eine spezifische Aura.32

31 Vgl. das von Lady Di kurz vor ihrem tödlichen Verkehrsunfall benutztes Weinglas mit Lippenabdruck, Kaufhaus Harrods in Knightbridge, London. 32 Laube, Stefan: Von der Reliquie zum Relikt. Luthers Habseligkeiten und ihre Musealisierung in der frühen Neuzeit, in: Jäggi, Carola/Staecker, Jörn (Hg.): Archäologie der

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Eine Reihe von Fragen drängt sich auf: Gelten diese Objekte als profan oder eher als sakral? Inwiefern stärkt eine schillernde Unbestimmtheit zwischen Faktizität und Fiktion das auratische Potenzial derartiger Sachzeugen? In welchem Verhältnis steht die menschliche Imagination zur Schwerkraft der jeweiligen Dinge? Wieso soll ein Glas beachtenswert sein, nur weil Luther daraus getrunken hat? Was ist von seinem Leben an diesem Objekt erkennbar? Derartige Dinge tragen eine Bedeutung, die man ihnen auf den ersten Blick nicht ansieht. Ihre Authentizität und Bedeutung muss von außen an sie herangetragen werden, letztlich muss sie überzeugend behauptet werden.33 Die Wirkung der jeweiligen Dinge scheint eine Größe zu sein, die von menschlicher Imaginationskraft gesteuert wird. Ähnlich wie beim religiösen Kult nährt sich dieser Kult aus einer Vielzahl von Legenden, die sich um die verstorbene Persönlichkeit ranken. Diese Mythen werden aus einer Vermischung von Bild- und Textquellen, persönlichen – oft verklärten – Erinnerungen sowie projizierten Sehnsüchten befeuert. Daraus speist sich ihr Wert, nicht aus dem Materiellen selbst.

5.  E PILOG: ORTE UND STOFFE GEGEN DIE VERWESUNG Dinge haben die Angewohnheit, zurückzubleiben. Verstorbenen bleibt nichts anders übrig, als ihren Körper und alle Habseligkeiten der Nachwelt zu hinterlassen. Nichtsdestotrotz vermag sich hinter unserer Tagungsformel „Dinge, die bleiben“ – kaum mehr als ein frommer Wunsch verbergen, ist doch die gesamte Materie, die uns umgibt, einem natürlichen Verfallsprozess unterworfen, die selbst die intensivste Denkmalspflege allenfalls verlangsamen, aber nicht aufhalten kann. So verwittert ein im tiefen, feuchten Erdreich versenkter Sarg aus Fichte oder Kiefer ziemlich rasch. Nach vielleicht zwanzig Jahren hat sich die Hülle inklusive Inhalt so gut wie vollständig aufgelöst. Matratze, Stroh, Sägemehl oder Torf saugen die im Sarg entstehenden Flüssigkeiten auf. Außerdem gelangt durch das Holz des Sarges Sauerstoff in das Gehäuse, so dass der Körper gut verwesen kann: „Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“, sagt der Pfarrer seit Jahrhunderten am Grab und wirft ein Schäufelchen mit Erde ins Grab. Martin Luther war dieser organische ZersetReformation. Studien zu den Auswirkungen des Konfessionswechsels auf die materielle Kultur, Berlin 2007, S. 429–480. 33 Geimer, Peter: Über Reste, in: Heesen, Anke Te/Lutz, Petra (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort (= Schriften des Deutschen Hygiene Musuems Dresden, Band 4), Köln 2005, S. 109–119.

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zungsprozess nur zu bewusst.34 „Wenn ich wieder heim gen Wittenberg komme, so will ich mich als dann in Sarg legen und den Maden einen feisten Doktor zu essen geben“35 – so seine humorig-drastischen Worte, die er zwei Tage vor seinem Tod an seine Frau Katharina richtete. Maßnahmen der Luther-Memoria, die bereits an Luther Todestag in Eisleben einsetzten, konterkarieren diese elementaren Vorgänge aus der Natur. So wurde für Luther ein Zinnsarg gegossen, galt es doch einen Mantel herzustellen, der die Zeiten überdauert. Bis heute befindet sich Luthers Sarg in der Schlosskirche, zweieinhalb Meter tief im Erdboden eingelassen. Niemand hat unmittelbaren Zutritt zum Sarkophag. Die Grabplatte mit dem Podest stellt – wenn man puristisch sein will – eigentlich kaum mehr als ein leeres Grab, ein Kenotaph, dar. Der Lust am Morbiden sind in der reformatorischen Tradition enge Grenzen gesetzt. Das einzige, was man heutzutage vom Sarg zu sehen bekommt, ist eines seiner Griffe. Welche Geschichte verbindet sich mit diesem Ding? Bei Bauarbeiten in der Schlosskirche im Jahr 1892 gelangte man auch in Luthers Gruft. Einer der Bausachverständigen entfernte einen Griff von Luthers Sarg und das obwohl Wilhelm II., der Preußische König und Deutsche Kaiser strikt verboten hatte, die Totenruhe des Reformators zu stören. Der „Vandalist“ war so „vandalistisch“ auch wieder nicht, war er doch hellsichtig genug, das Objekt umgehend der Stadt zu geben. Seit 1913 wird es in der damaligen Lutherhalle aufbewahrt. Gezeigt wird der Sarggriff erst seit 2003.36 Ganz andere Register des Morbiden wurden 2.300 Kilometer südlich bei den Kapuzinern in ihrer Gruft zu Palermo gezogen, wo Hunderte von Toten, geordnet nach Geschlecht und Stand – mehr oder weniger mumifiziert – in den Gängen liegen bzw. an den Wänden hängen.37 Hier fand eine Thanatametamorphose statt, die

34 Laube, Stefan: Materie, die nicht vergeht? Über das Weiterleben Martin Luthers in den Dingen, in: Kohnle, Kohnle (Hg.): Luthers Tod (Schriftenreihe der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 23), Leipzig 2019, S. 297–314. 35 WA Tischreden 6 (6975), S. 302, 12–15. 36 Der Henkel, der übrigens zum inneren, hölzernen Sarg gehört, kam der begierigen Suche des Kuratorenteams nach den so rar gesäten dreidimensionalen Objekten für die neue Dauerausstellung entgegen; S. Laube: Materie, S. 299f. Vgl. dazu den Originalgriff von Luthers Sarg, Wittenberg, Lutherhaus (Treu, Martin: Martin Luther in Wittenberg. Ein biographischer Rundgang, Wittenberg 2003, S. 24). 37 Vgl. Mumienphalanx in den Katakomben der Kapuziner in Palermo, Foto: Carlo Vannini, 2014 (Cenzi, Ivan: La Veglia Eterna. Catacombe dei cappuccini de Palermo/The Eternal Vigil, Modena 2014, S. 37).

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großes Aufsehen erregte38 Aufgrund besonderer klimatischer Bedingungen – ständiger Luftzug und Wände aus Tuffstein, die Feuchtigkeit absorbieren – vertrocknen die Toten hier mehr als das sie verwesen. Die Kapuziner entdeckten diesen Effekt Ende des 16. Jhd.. Die Leiche des Bruders Silvestro da Gubbio avancierte zu einer natürlichen Mumie. Schon damals begannen die Mönche damit, ihre Toten an der Wand auszustellen – als Mahnung für die Lebenden, frei nach dem Motto „quid sumus eritis, quid fuimus estis“ [Was wir sind, werdet ihr sein, was ihr seid, sind wir gewesen]. Die Toten ließ man zunächst in einer Trockenkammer, dem „Calatoioi“, etwa acht bis zehn Monate gut abhängen, dann wusch man sie mit Essig. Stroh wurde verwendet, um die Bereiche zu füllen, in denen das Weichgewebe verschwunden war, damit die Körpergestalt erhalten blieb. Dann war es soweit: Sie wurden angezogen und ihnen wurde ein fester Standplatz zugewiesen, akkurat geordnet nach Männern und Frauen, Priestern, Professoren und Ärzten. Der italienische Schriftsteller Ippolito Pindemonte beschreibt in den „Sepolcri“ diese einzigartige Begräbnisstätte zu Beginn des 19. Jhd.: „Leblose Körper sitzen unbekleidet oder in den Gewändern, in denen sie einst atmeten, aufrecht; die Kunstfertigkeit gab ihr äußerstes um toten Muskeln und der Haut jegliche Feuchtigkeit zu entziehen, so dass die Antlitze ihr einstiges Aussehen und ihr Fleisch noch nach hundert Jahren und mehr bewahren.“39 Insbesondere wohlhabende Bürger und Adlige wollten nach ihrem Tod ihre Überreste hier unten zur Schau stellen – mit großzügigen Spenden für das Kloster und den richtigen gesellschaftlichen Verbindungen war das kein Problem. Regelmäßig kamen Verwandte und steckten die Toten ins beste Gewand. Denn ,eine schöne Leich‘ stellte stets auch ein Statussymbol dar. Der 2. November, der Allerseelentag, war der Termin, an dem die Mumien bis ins 20. Jhd. alljährlich frisch eingekleidet wurden. Die Körper der Toten wurden von den Hinterbliebenen auch deswegen so gepflegt, weil man glaubte, auf diese Weise das Wohlwollen der Ver38 Cenzi, Ivan: La Veglia Eterna. Catacombe dei cappuccini de Palermo/The Eternal Vigil. The Capuchin Catacombs in Palermo, Fotografien von Carlo Vannini, übers. von David Haughton, Modena 2014; Piombino-Mascali, Dario/Aufderheide, Arthur C./Panzer, Stephanie/Zink, Albert R.: Mummies from Palermo, in: Wieczorek, Alfred/Rosendahl, Wilfried (Hg.): Mummies of the World. The Dream of Eternal Life, New York 2010, S. 357–361. 39 [Corpi d´anima voti, o con que´ panni/Tuttore in qui l´aura spirar fur visti;/Sovra i muscoli morti, e sulle pelle/Cosi l´arte sudò, così caccione/Fuor ogni umor, che le sembianze antiche,/Non che le carni lor, sebano i volti/Dopo cent´anni e più.]. Pindemonte, Ippolito: I sepulcri [1807], in: Wolff, Oskar Ludwig Bernhard: Il Tesoretto/Hausschatz italienischer Poesie, Wien 1846, S. 391–394, hier S. 392.

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storbenen zu sichern. Denn so richtig tot waren die Leichen nie, sie lebten weiter, zumindest in der Einbildung der Nachlebenden.40 Zudem galten die Katakomben als geweihter Ort – und ein Begräbnis in unmittelbarer Nähe zu Kirche und Altar eine Investition ins Seelenheil. Bis 1881 durften Körper an diesem Ort mumifiziert werden, männliche und weibliche. Danach schob ein Gesetz der Praxis der Kapuziner einen Riegel vor. Die Kapuziner-Katakomben brechen mindestens mit drei Grundregeln der westlichen Bestattungstradition:41 Normalerweise muss die Leiche allein, horizontal und unsichtbar begraben werden. In Palermo sind wir mit einem Kult konfrontiert, der sich weigert, die Verstorbenen in eine unterirdische Unsichtbarkeit zu verbannen. Die Leiche wird öffentlich ausgestellt. Sie wird stehend und bewusst platziert, im Gegensatz zur „klassischen Ruhe“, die durch die Rückenlage suggeriert wird. Die Toten sind darüber hinaus in Gruppen ausgestellt, organisiert nach ihrem irdischen Rang, ihrer Beschäftigung oder ihren Eigenschaften. Es heißt, der Tod macht alle gleich. Doch hier wurden ihnen ihre Standessymbole – ein Offiziersdegen, reich dekorierte Uniformen, oder Bischofsmützen – vorsorglich mit in die Katakombe gegeben. Nichtsdestotrotz wird hier eine uralte Tradition praktiziert, die bekanntlich bereits bei den Einbalsamierungsprozeduren der alten Ägypter nachgewiesen werden kann. Im Allgemeinen für Adlige, Könige oder Heilige reserviert, erfreute sich diese Methode am Nil großer Beliebtheit. Darauf hat bereits Jean Baudrillard hingewiesen. Nur Reiche und Mächtige scheinen eine Seele zu haben, sie haben Anspruch auf Unsterblichkeit, und auf der anderen Seite all die übrigen, die Anspruch nur auf den Tod haben. Seit dem Ägypten des Alten Reiches habe sich nichts grundlegend geändert.42 Und das Theatrum der Toten, mit dem hinterbliebene Parlermitaner ihren Wohlstand demonstrierten, fällt in dieser Hinsicht keineswegs aus dem Rahmen. Dinge können zweifellos dauerhafter sein als Menschen. Seit Jahrtausenden funktioniert dieser Mechanismus, um die Unbegreiflichkeit des Todes zu verarbeiten. Was wir von frühen schriftlosen Kulturen wissen, wissen wir nicht zuletzt aus Grabbeigaben. Inzwischen sind „Letzte Dinge“ längst zu „nächsten Dingen“ geworden. Die im Spirituellen zwischen Himmel und Hölle, Weltgericht und Un40 Bei den Toraja in Indonesien haben sich vergleichbare Funeralpraktiken etabliert. Zwischen Tod und Begräbniszerimoniell liegen oft mehrere Jahre, in denen die mumifizierten und angekleideten Verstorbenen sogar in den eigenen vier Wänden „fortexistieren“, siehe Wellenkamp, Jan C.: Notions of Grief and Catharsis among the Toraja, in: The American Ethnologist 15 (1988), S. 486–500. 41 I. Cenzi: Eternal Vigil, S. 97f. 42 Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin 2005, S. 202f.

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sterblichkeit verorteten „Dinge“ sind im Rückenwind von Moderne und Individualisierung inzwischen zu wirklichen, geliebten Objekten geworden:43 Vom Teddybär auf einem Kindergrab bis zum aus Leichenasche gepressten Diamanten, den man am Finger trägt.44 Was uns Weiterlebenden bleibt, ist die Erinnerung, die auf um so stabileren Pfeilern zu stehen scheint, je mehr sie sich originaler Überreste bedient, können doch so zwei Gesichtspunkte miteinander vereint werden: Anschaulichkeit und Echtheit. Banale Dinge werden besonders, aus Relikten werden Reliquien, aber nicht für alle, sondern jeweils nur für enge Bezugspersonen des Verstorbenen.

43 Scharfe, Martin: Letzte Dinge, in: Botschaft der Dinge, hg. von Kallnich, Joachim/ Bretthauer, Bastin (=Katalog der Museumsstiftung Post und Telekommunikation, Band 18), Berlin/Heidelberg: 2003, S. 166–175; Miller, Daniel: Matter of Life and Death, in: Ders.: Stuff, Cambridge/Madden 2013, S. 135–157, hier: S. 145–153; Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006, S. 121–124. 44 Andere Kulturen, wie die Sinti und Roma in Frankreich oder Stämme in Neuirland (Papua-Neuguinea) zerstören hingegen alles Individuell-Materielle, was mit dem/der Verstorbenen assoziiert werden kann. In Neuirland werden Malanggane als Ersatzobjekte und Fluchtpunkt für Rituale geschaffen, die aber auch dem Vergehen preisgegeben werden. Vgl. Williams, Patrick: Gypsy World: The Silence of the Living and the Voices of the Dead, Chicago 2003; Küchler, Susanne: Malanggan: Art, Memory and Material Culture, Oxford 2002, S. 22.

Früh- und frühhochmittelalterliche Berichte über Reliquien in Nordwestdeutschland Thies Jarecki

Mein Beitrag möchte die früh- und frühhochmittelalterlichen Berichte über Reliquien in Nordwestdeutschland sprechen lassen.1 Ich bleibe daher auf der Ebene des schriftlichen Diskurses der Zeit, also bei dem, was sich in Texten lesen lässt, und ziehe nicht die Realia und Archaeologica hinzu. Ich beginne mit einem Fall aus der heutigen kirchlichen Praxis, einem Vorfall oder besser Vorgang aus der Verwaltung des Friedhofs der Kirchengemeinde Eystrup an der Weser. Eystrup liegt zwischen Nienburg und Verden (oder Bremen und Hannover) in einer Samtgemeinde mit der Mitte Niedersachsens. Es handelt sich bei meinem Exempel um einen regelrechten Skandal! Nach dem negativen Bescheiden eines formlosen Umbettungsantrags erhielten Kirchenvorstand und Friedhofsverwaltung folgendes Schreiben: Sehr geehrte Damen und Herren! Mit Erstaunen, Verwunderung und auch Zorn habe ich als direkter nächster Verwandter, Bruder, von ihrer Entscheidung Kenntnis genommen! Mein Bruder soll in den Friedwald […] umgebettet werden. Dort hat auch schon die Beisetzung meines […] [zweiten] verstorbenen Bruders stattgefunden. Diese Grabstelle ist von weiteren Verwandten, Freunden und mir gewählt worden! Nun einige Fragen und Fakten dazu: Die Totenruhe gilt gesetzlich als erfüllt, wenn eine Frist eingehalten wird! Bei einer Urnenbestattung zwei Jahre und bei einer herkömmlichen Erdbestattung 15 Jahre. Mein Bruder wurde vor 2003 auf dem Eystruper Friedhof beigesetzt. Somit sind diese Fristen beide erfüllt! Warum stimmen sie da einer Umbettung nicht zu? Mein Bruder hat den Freitod gewählt! Mein Bruder gehörte keiner religiösen Gemeinschaft an! Welche Beweggründe 1 Der Vortragscharakter ist beibehalten. Daher wird auch auf lateinische Quellenzitate verzichtet. Bei den zitierten Passagen in deutscher Übersetzung finden sich Hinweise zum Auffinden der lateinischen Vorlagen.

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halten ihn auf einem christlichen Friedhof? Mein Bruder äußerte schriftlich in seinen letzten Wünschen ausdrücklich, dass keinerlei christliches Zeremoniell stattfinden sollte! Warum also das Festhalten seiner Urne? Kannten die Entscheider überhaupt meinen Bruder? Und wenn ja, wie gut kannten Sie ihn? Wie eng war ihr Verhältnis, dass sie einer Zusammenführung der Brüder widersprechen? Warum stellen sie sich einer Familien- und Freundesgemeinschaft über den Tod hinaus in den Weg? Geht es um eine Machtdemonstration? Ist es gekränkte Eitelkeit? Wollen sie zeigen wie mit einem Agnostiker verfahren wird, wenn dieser erstmal in christlicher Gewalt ist? Wollen sie so Kirchenangehörige an die Kirche fesseln? […] Ich behalte mir vor, mit diesem Ausmaß an Drangsaliererei und Überheblichkeit an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie sollten ihre Antwort gut bedenken! Es sind mehr Kirchenaustritte zu verzeichnen als ihnen lieb sein könnte. (Das ist keine Drohung, nur ein Hinweis) […].

Perfide, wie sie ist, hält die Kirche also unglückliche nichtchristliche Gebeine auf ihrem Kirchhof gefangen, wie sie es auch mit den unbedarften Geistern zu tun pflegt, die sich ihr noch nicht durch atheistische Selbstbefreiung entzogen haben. Diese Geschichte präsentiere ich nicht dieses Spottes wegen, sondern sie hat meinen Blick in die Reliquiengeschichte geprägt. Da ist zunächst das Thema Totenruhe. Wir sehen uns als kirchlicher Friedhofsträger besonders bemüßigt, sie zu verteidigen. Hinzu kommt die Prägung und Konstruktion von Räumen. Kirchlicher Zwangsfriedhof gegen freien Friedwald. (Tatsächlich lässt sich durchaus ein historischer Zusammenhang von Christianisierung und Friedhofszwang konstruieren.)2 Und drittens geht es hier, wie fast immer, auch um Verfügungs- und Machtansprüche. Springen wir nun in die Geschichte zurück: Von Norddeutschland nach Norditalien und von einem notorischen Kirchenfeind zu einem berühmten Bischof und Kirchenlehrer – zu Ambrosius von Mailand. Er begeht am 17. Juni 386 christlicherseits erstmals (zumindest im Westen) das Sakrileg, ein Grab zu öffnen und Gebeine umzubetten, diejenigen der Märtyrer Gervasius und Protasius. Von den Gräbern vor den Toren in die Bischofskirche gelangten sie zur Ehre der Altäre3, wie man später weihevoll formulierte. Die Gebeine der Heiligen sollen in der welt2 Vgl. die Capitulatio de partibus Saxoniae Punkt 22, Freiherr von Schwerin, Claudius (Hg.): Leges Saxonum und Lex Thuringorum (MGH Fontes iuris IV), Hannover/Leipzig 1918, S. 40. 3 Vgl. dazu Köpf, Ulrich: Art.: Reliquien/Reliquienverehrung 2. Alte Kirche bis Reformation, in: RGG 4 Bd. 7, Sp. 418–421. Angenendt, Arnold: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 172f. sowie Ders.: Die Gegenwart von Heiligen und Reliquien, eingeleitet und herausgegeben von Hubertus Lutterbach, Münster 2010, S. 110f.; 116.

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lich-liturgischen Entsprechung dahin, wo sie in der himmlischen Realität – in der Offenbarung des Johannes beschrieben und in den alten Apsismosaiken so schön dargestellt – schon sind. Aber zu Ambrosius’ Zeit ist das noch ein Sakrileg. Kein christliches Sakrileg, sondern eins für das alte heidnische römische Recht, das wir auf dem kirchlichen Friedhof in Eystrup und anderswo hochhalten und dabei den Kirchenhass in Kauf nehmen. Aber bleiben wir in der Geschichte: Das Phänomen, Gräber zu öffnen und Gebeine zu erheben, breitet sich in der Folge von Ambrosius Wagnis im gallischen Bereich aus. Die stadtrömische Kirche verwahrt sich jedoch dagegen. Sie achtet die alte (heidnische) Tradition. Noch für Gregor den Großen ist um 600 n. Chr. klar: „Für die Römer ist es ganz unerträglich und ein Sakrileg, wenn etwa jemand die Leiber der Heiligen berühren will.“4 Um dennoch Verehrung am Petersgrab zu ermöglichen, lässt er eine Ringstollenkrypta anlegen. Sie wird später andernorts als Zeichen der Rombindung nachgebaut. Zu einer feierlichen Umbettung, zu einer Translation an den Altar einer Kirche kommt es in Rom erst 150 Jahre nach Gregors Tod, im Jahr 754 im Rahmen einer weltpolitischen Wende, der Liaison zwischen dem römischen Papsttum und dem karolingischen Usurpator Pippin I. auf dem fränkischen Königsthron. Der Papst salbt den neuen König und seine Söhne, verleiht ihm den Titel patricius der Römer, und die neuen fränkischen Könige schützen nun anstelle der Byzantiner Rom und die Päpste gegen die Langobarden. Entsprechend ziehen fränkische Sitten in Rom ein. Pippins Gesandter Fuldrad von St. Denis lässt die Gebeine der Petrustochter Petronilla aus einem Katakombengrab feierlich in den Petersdom überführen. Das Phänomen hat sich durchgesetzt, entwickelt seine Liturgie und erlebt kirchenrechtliche Regelungsversuche.5 Neue Räume tun sich auf. Im Frankenreich standen zwar die Gebeine von Heiligen und Märtyrern aus der Zeit der Christenverfolgungen im römischen Reich zur Verfügung und wurden zur Erhebung vor Ort genutzt. Aber nun kam man auch an stadtrömische Gebeine, wertvolle Katakombenware, origineller, authentischer, direkt aus dem Dunstkreis der Apostel.6 Es etablierten sich Translationen über weitere Wege. Das Begehren steigerte sich noch mehr durch die Ausweitung der karolingischen Macht und des durch Bonifatius erneuerten fränkischen Kirchentums in Gebieten außerhalb alter römischer Grenzen. Nicht gleich, aber nach einer oder zwei Generationen kommen Reliquien mit Fortschreiten der Christianisie-

4 Zitiert nach A. Angenendt: Die Gegenwart, S. 118. 5 Vgl. A. Angenendt: Heilige, S. 173f. 6 Vgl. Röckelein, Hedwig: Reliquientranslationen nach Sachsen im 9. Jahrhundert. Über Kommunikation und Öffentlichkeit im Frühmittelalter (Beihefte der Francia Band 48), Stuttgart 2002, S. 139; hier S. 152.

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rung und der Integration in den fränkischen Herrschaftsraum endlich auch nach Norddeutschland.7 Die Reliquien kommen sowohl aus dem gallischen Westen, (Liborius aus Le Mans nach Paderborn oder Vitus – eine Generation zuvor aus Rom dorthin verbracht – aus Corbie nach Corvey), als auch direkt aus Rom (Anastasius und Innocentius nach Brunshausen bzw. Gandersheim), je nach vorhandenen politischen Seilschaften oder Netzwerken.8 Sie landen in Bischofskirchen und Klöstern, die mit adeligen Kirchen verbunden sind und zu Memorialorten dieser Dynastien werden sollen oder zu Reichsklöstern werden. Im Folgenden gehe ich exemplarisch auf die Translatio des Heiligen Alexander ein.9 Von Rom kommt er in den Jahren 850/851 nach Wildeshausen, wo der Widukindenkel Waltbraht ein Kloster zu errichten gedenkt und das Ganze von Fuldaer Mönchen dokumentieren lässt. Rudolf (gest. 865) und Meginhart (gest. 888) schreiben auftragsgemäß. Sie schildern den Weg der Gebeine etwas sprunghaft: Nach der Abreise in Rom geht es in Boppard am Rhein weiter,10 genauer wird es ab der sächsischen Grenze, und die genaue Ankunft in Wildeshausen wird auch übergangen.11 7 Vgl. Dazu grundlegend H. Röckelein: Reliquientranslationen. Zum Verständnis der Translationen als Teil des Integrationsprozesses, vgl. ebd., S. 366. Dies.: Heilige Gebeine. Christliche Stiftungen sächsischer Adliger und der Reliquientransfer nach Sachsen, in: saxones, hg. v. Babette Ludovici (Neue Studien zur Sachsenforschung 7) Darmstadt 2019, S. 330–343. 8 Vgl. H. Röckelein: Reliquientranslationen, S. 366. 9 Vgl. H. Röckelein: Reliquientranslationen, S. 127–135. Zudem vgl. den Sammelband Heilige Helfer. Die Reliquien Alexanders und Reginas im Spiegel der Osnabrücker Bistumsgeschichte, hg. v. Hermann Queckenstedt, Osnabrück 2001. 10 Im Satz zuvor wird der bisherige Weg als „glücklich bis an die Grenzen des Frankenlandes“ (Übersetzung nach Wilfried Pabst, vgl. Pabst, Wilfried: Die Übertragung des Heiligen Alexander von Rom nach Wildeshausen (Translatio S. Alexandri), in: Heilige Helfer. Die Reliquien Alexanders und Reginas im Spiegel der Osnabrücker Bistumsgeschichte, hg. v. Hermann Queckenstedt, Osnabrück 2001, S. 45–58, hier S. 51) absolviert zusammengefasst. Dann wird die Ankunft mit der vom Papst aufgetragene Kopfenthüllung (vgl. H. Röckelein: Reliquientranslationen, S. 337) und ein exemplarisches Wunder in Boppard berichtet. Danach geht die Erzählung weiter: „Von dort zogen sie weiter und gelangten unter großem Jubel an die Grenzen Sachsens“ (vgl. W. Pabst: Die Übertragung des Heiligen Alexander, S. 52), wo sich in Drensteinfurt wiederum ein Wunder ereignet. Von dort an wird in Reisestationen weitererzählt. Ausführlich dazu vgl. H. Röckelein: Reliquientranslationen, S. 304–315. 11 Vgl. ebd., S. 340.

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Sie beginnen aber mit einer Beschreibung des Sachsenlandes, des Volksstamms und der Sachsenkriege mit Karl dem Großen, dabei nehmen sie Passagen aus Einhards vita Karoli und der Germanica des Tacitus auf. Sie beschreiben den Raum, den Alexanders Reliquien durchwandern und der durch seine Wundertaten als christlicher Heilsraum erschlossen wird. 29 Wunder werden berichtet, wie abschließend festgehalten wird.12 Die Reliquienprozession samt der Wunder, die sich auf ihrem Weg und später an Wallfahrern in Wildeshausen selbst ereignen, inszeniert die Transformation der alten Heiden (die, an sich mit guten Anlagen versehen, durch ihren heidnischen Unglauben zu Treulosigkeit und Unruhe neigten) zu einer heilvollen christlichen Gesellschaft, in der zugleich Raum und Volk, Sachsen, und vor allem die Führungselite der Widukindsippe konstant bleiben. Aber damit ist schon vorgriffen. Vor der Translation und nach den landeskundlichen Kapiteln wird erst einmal Waltbraht als frommer Christ vorgestellt. Seine Jugend am Kaiserhof im Westen wird geschildert und wie sich Kaiser Lothar I. für Waltbrahts Pläne einsetzt und ihn mit Geleit- und Empfehlungsbriefen an seinen Sohn König Ludwig II. in Italien und den Papst unterstützt. Dabei spricht nur der Papstbrief, dessen Echtheit bezweifelt wird,13 den Reliquienwunsch an und unterstreicht den Bedarf im heidennahen nördlichen Sachsen, um die Christianisierten durch Reliquien im neuen Glauben zu bestärken und zu halten. Vom Erfolg dieser Briefe auf dem Weg und bei der Ankunft in Rom, wo der Papst Waltbrahts Wunsch ehrerbietig entspricht, wird berichtet. Damit werden deutliche politische Referenzen gemacht. Waltbraht und seine Familie halten sich an den Kaiser im lotharingischen Mittelreich. Etwa zeitgleich reist ein anderer sächsischer Graf, Liudolf aus dem Harzvorland, auf Empfehlung des Ostfränkischen Teilkönigs Ludwig, genannt der Deutsche, ebenfalls erfolgreich mit seiner Frau nach Rom und erhält die Gebeine zweier Päpste für das Familienkloster, das er in Gandersheim gründen wird. Seine Nachkommen werden das Ostfränkische als deutsches Königtum prägen.

12 „Was man von den so authentisch von den sonst zuverlässigen Leuten berichteten Wundern halten soll, bleibt ein räthselhaftes Problem.“ Vgl. dazu „Wilhelm Wattenbach in der Einleitung zur Übersetzung der Translatio in den „Geschichtsschreibern der deutschen Vorzeit“. 13 Vgl. Seegrün, Wolfgang: Die ersten hundert Jahre im Bistum Osnabrück, in: Heilige Helfer. Die Reliquien Alexanders und Reginas im Spiegel der Osnabrücker Bistumsgeschichte, hg. v. Hermann Queckenstedt, Osnabrück 2001, S. 15–43, hier S. 22.

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Unabhängig von der politischen Positionierung fällt in beiden Fällen14 die Idealisierung von Romreise und Reliquienerhalt auf. Sie triefen demonstrativ vor monarchischer Unterstützung und päpstlicher Huld für die frommen Pilger und Reliquiensucher. Wie sich das analysieren lässt, ist in der grundlegenden Studie von Hedwig Röckelein nachzulesen.15 Ganz andere Zustände beschreibt ein weiterer Zeitgenosse, der Höfling Einhard, beim Weg der Gebeine der Heiligen Marcellinus und Petrus.16 Ein römischer Geistlicher bietet neben seinen offiziellen Geschäften am Kaiserhof in Aachen an, bei der Rückreise in Rom Reliquien organisieren zu können. Vertrauensleute Einhards und eines anderen Interessenten begleiten den Diakon zurück in die „Ewige Stadt“, wo er die Einlösung seines Versprechens hinauszögert. Es kommt zu nächtlichen Ausflügen auf Gräberfelder und in Katakomben und zu gewaltsamem Öffnen von Sarkophagen. Man muss sich erinnern, dass hier nicht ein aufklärerischer Parodist schreibt, der abergläubischen Humbug karikiert, sondern ein frommer Klostergründer. Die Logik hinter der scheinbaren Farce ist, die Macht dieser Heiligen zu erweisen. Die krummen menschlichen Bahnen zeigen: Es ist ihr Wille und ihre Gnade, zu Einhard nach Seligenstadt zu kommen. Wenn auch für spätmoderne Leser unterhaltsamer als die wohlgesetzten Papst- und Kaiserreden, hier geht es um die Legitimation. Bei den nächtlichen Grabplünderungen in der Katakombe bleibt der Sarkophag des Märtyrers Tiburtius verschlossen und der Reliquienmitinteressent Einhard Hilduin geht leer aus.17 Die Heiligen wehren sich auch dagegen, dass Einhard Partikel der Gebeine dem Hof überlässt. Er muss sie zurückerbitten. Im

14 Die Reise Liudolfs ist uns durch die Gründungsgeschichte Gandersheims bekannt, die Hrotswith von Gandersheim 100 Jahre später in Reimprosa verfassen wird. Sie ist in einer neuen Übersetzung von Fidel Rädle gut zugänglich: Hrotsvit von Gandersheim, Primordia coenobii Gandershemensis. Die Anfänge des Klosters Gandersheim. Neu übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Fidel Rädle, hg. v. Thorsten Henke und Christian Popp, Göttingen 2016. 15 Vgl. H. Röckelein: Reliquientranslationen, S. 325ff. 16 Vgl. dazu Patzold, Steffen: Ich und Karl der Große. Das Leben des Höflings Einhard, Stuttgart 2013, S. 134ff. In süffisant-ironischer Lesart. Die Neuübersetzung des Translationsberichts acta einhardi Band 2 ist leider vergriffen. Als lateinische Quelle findet er sich in MGH SS XV/1, (Hannover 1887=1992). Arnold Angenendt beurteilt das ganze schlicht als „Reliquienraub“, vgl. A. Angenendt: Heilige, S. 163. Zu den gleichsam organisierten kriminellen Strukturen um Deusdona vgl. H. Röckelein: Reliquientranslationen, S. 147f. 17 Vgl. S. Patzold: Ich und Karl der Große, S. 139; 142.

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10. Jahrhundert wird eine solche Reliquienteilung selbstverständlich sein.18 Einhard bleibt auf diese Weise alleiniger Reliquieneigner bzw. mittelalterlicher gesagt: alleine von der virtus der Heiligen begnadet. Gehen wir nach diesem Exkurs an Tiber und Main von Alexander in Wildeshausen gut 35 Kilometer nach Nordosten: nach Bremen. Dort hat etwa zeitgleich der Missionserzbischof Ansgar den Bischofssitz übernommen. 10 Jahre nach der Ankunft Alexanders in Wildeshausen lässt er den Leichnam des Bremer Gründungsbischofs Willehad umbetten, nachdem im Vorjahr Wunder zu geschehen begonnen hatten. Ansgar dokumentiert 39 Wunder (also 10 mehr als bei Alexander)19 und beschließt seine Sammlung folgendermaßen: „Den Leichnahm des heiligen Willehad aber, welcher schon einmal von seiner Ruhestätte weg nach einem anderen Orte hingeschafft war, habe ich in Gegenwart einer sehr großen Menge von Gläubigen und unzähliger Geistlicher daselbst aufnehmen, auf eine Bahre legen und unter den lauten Dankgesängen der Versammelten, welche Gott und den Heiligen lobpriesen, am Tage seiner Bestattung in dem neuen Chore beisetzen lassen. Hier in Ehren ruhend, machte er sich darnach in hohem Grade durch unzählige Beweise seiner wunderthätigen Gaben berühmt, und noch wächst von Tage zu Tage durch des Heiligen Verdienst die Menge der Wunderzeichen, die im Dome geschehen. Der Tag seiner Bestattung aber und zugleich seiner Uebertragung ist der achte November. Er wird gefeiert zu Lob und Preis unseres Herrn Jesu Christi, der mit dem Vater und dem heiligen Geiste als der einzige wahre Gott lebet und regieret von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“20

Ansgar etabliert mit dem Gründungsheiligen Willehad den eigenen Heiligen- und Reliquienkult. Für sich selbst und auch für seinen Nachfolger Rimbert wird das in dieser Form nicht geschehen. Zwar gibt es über beide Heiligenviten, die von 18 Vgl. A. Angenendt: Heilige, S. 153. 19 Zur Zählung vgl. Hägermann, Dieter/Weidinger, Ulrich/Elmshäuser, Konrad: Bremische Kirchengeschichte im Mittelalter, Bremen 2012, S. 48. Zudem vgl. Staats, Reinhart: Der Geist der nordeuropäischen Mission von Willehad bis Adam von Bremen, in: Hospitium ecclesiae 18 (1991), S. 7–31, hier S. 30. 20 Wattenbach, Wilhelm/Gradaur, Georg/Laurant, Mauritz: Die Lebensbeschreibungen des hl. Willibrord, Gregors von Utrecht, Liudgers und Willehads von Bremen. Nach den Ausgaben der Monumenta Germaniae übersetzt von W. Wattenbach, G. Gradaur, M. Laurant. (Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, Band 14) Leipzig 31941, S. 123. Vgl. Monumenta Germaniae Historica, SS II, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1829, S. 385–390, hier S. 390, 16–26. Vgl H. Röckelein: Reliquientranslationen, S.149f., sie betont die theologische Grundlegung der Wundertaten der Heiligenreliquien in Gottes Macht.

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ihrem Missionswirken und Wundertaten zu Lebezeiten berichten, keine Wunderberichte am Grab und entsprechende Umbettungen. Ja, die von Rimbert verfasste Ansgarsvita nennt nicht einmal die Wunderschriftstellerei des Apostels des Nordens. Sie scheint wie eine Gegenerzählung zu Ansgars Mühen um den Willehadkult eine Traumvision zu berichten, in der Ansgar von Petrus den Auftrag erhält, die neue Bremer Domkirche ihm zu weihen. Bis zum Bremer Schlüsselwappen hin wirkt sie bis heute nach. Will Rimbert die Willehadtradition klein halten, damit die von ihm angelegte Ansgarmemoria reüssieren kann? 200 Jahre später pflegt der große Bremer Kirchenchronist Adam die Willehadtradition weiter (an bedeutenden Stellen, den Buchenden, markiert er mit der Berechnung der Zeit seit Willhad) und kann den Gründungsbischof auch nahezu synonym mit der Bremer Kirche verwenden.21 Er soll uns im Weiteren das Material stellen. Darum eine kurze Orientierung: Um das Jahr 1074/1075 schreibt der Bremer Domscholaster Adam eine Geschichte des Bistums Hamburg-Bremen von der Gründung Bremens unter Willehad bis zu Erzbischof Adalbert (gest. 1072), einem Erzieher und engen Vertrauten Heinrichs IV. Das Werk ist in vier Bücher geteilt. Buch I berichtet von der Gründung bis zu Bischof Unni und Buch II von Bischof Adaldag (einem Zeitgenossen Ottos des Großen) bis zu Alebrand-Bezelin (gest. 1043). Das dritte Buch arbeitet sich an der ambivalenten Figur des Erzbischofs Adalbert ab, zu dessen Lebezeiten Adam, vielleicht aus Bamberg, nach Bremen kam. Das vierte Buch beschreibt das skandinavische Missionsgebiet der Hamburg-Bremer Kirche, dessen Entwicklung auch in den vorigen Büchern im Blick ist. Adam widmet sein Werk dem neuen Erzbischof Liemar als eine Art historische Handreichung, aus dem Beispiel seiner Vorgänger zu lernen. Das Geschehen um Willehads Gebeine behält Adam im ganzen Werk im Auge. Er erinnert auch den Beginn des Willehadikultes vor Ansgar. Schon der unbekannte Verfasser der Vita Willehads hat auf Wunder an dessen Grab und ebenso nach einer Umbettung seiner Gebeine unter Bischof Willeric (805–838) hingewiesen.22 21 So bei einer Zuwendung der Gräfin Emma an die Bremer Kirche. Die Stellenverweise auf Adam von Bremen erfolgen mit Buch (römischer Zahl) und Kapitel (arabische Zahl), hier (II, 67). 22 „An dem Orte seines Begräbnisses zeigten viele Wunderzeichen klar und deutlich, daß der heilige Mann zum Streiter Christi in Wahrheit erkoren war. Diese Zeichen und Wunder wurden indeß aus Nachlässigkeit mit Stillschweigen übergangen, und sind nirgends aufgeschrieben, obwohl es nicht wenige gab, welche erklärten, sie wüssten, daß an einem Orte sich wiederholt Gottes Kraft in Wundern kund gethan habe. Ja auch als sein Leichnam zur Zeit seines Nachfolgers Willerich rühmlichen Angedenkens in die zweite Kirche versetzt wurde, soll der heilige auch dort gar viele Wunderthaten durch Gott befähigt verrichtet haben, die indeß auch wieder von niemandem aufgezeichnet

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Adam, der über den zweiten Bischof Willerich wenig bzw. nur seine Idealvorstellungen zu berichten weiß, nimmt diesen Hinweis der Vita folgendermaßen auf: Währenddessen erfüllte Willeric, der Bremer Bischof, indem er eifrig in seiner Diözese umherzog, Heiden taufte und Gläubige in Christus bestärkte, die Pflicht des tätigen Predigers. Überall errichtete er Kirchen an geeigneten Plätzen in Bistum; allein drei in Bremen, deren erste, nämlich das Haus des heiligen Petrus, er anstatt aus Holz aus Stein machte, und bettete die Leiche des heiligen Willehad von dort nach Osten in eine Kapelle um, die machte, was schon der Schreiber seiner Vita nicht auslassen wollte.23

Wunder, von denen allerdings bereits die Vita beklagt, sie seien „indeß aus Nachlässigkeit mit Stillschweigen übergangen, und sind nirgends aufgeschrieben, obwohl es nicht wenige gab, welche erklärten, sie wüssten, daß an einem Orte sich wiederholt Gottes Kraft in Wundern kund gethan habe.“ Die Vita berichtet dann von der wundersamen Erhaltung von Stab und Kelch Willehads beim Dombrand. Auch Adam lässt die Wunder an dieser Stelle unbeschrieben, sein Fokus liegt auf der Popularität, die sie für die Gebeine bedeuten. Er fügt als Erläuterung zur Umbettung an: „Die Späteren erzählen auch, dass dies aus Angst vor Seeräubern geschah, die, wegen der Kraft der Wunder unseres Bekenners, die Leiche gerne rauben wollten.“24 Die Logik, dass die Gebeine in einer Seitenkapelle vor diesen Gelüsten sicherer wären als im Dom selbst, erschließt sich nicht. Das macht aber gerade deutlich, dass Adam hier eben mehr und anderes sagen will: Nämlich der Willehadkult ist schon damals so bekannt, dass er bis zu den Seeräubern gedrungen ist. Er zieht also die bereits an, die später zum Missionsgebiet der (Hamburg-) Bremer Kirche werden sollen. Die Imagepflege und die Profilierung gegen Alexander in Wildeshausen unter Ansgar wären unnötig, wäre eine solche Popularität zu dem Zeitpunkt historisch. Auf die geht aber auch Adam ein. In den cc. 31f des ersten Buches schreibt er über Ansgars Wirken als Erzbischof in Bremen:

sind, obwohl viele versichern, daß sie vermittelst wirklicher Wunderkraft bewirkt worden seien.“ (W. Wattenbach/G. Gradaur/M. Laurant: Die Lebensbeschreibungen, S.106.) Die Vita nennet im Fortgang von c. 11 Erhaltungswunder von Stab und Kelch. Zum lateinischen Text vgl. MGH.SS II, S. 378–384, hier S. 384, 15–23. 23 Übersetzung wie bei den folgenden Passagen aus Adams Werk TJ., nach der Ausgabe von Schmeidler: Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte (MGH.SRG), hg. v. Bernhard Schmeidler, Hannover/Leipzig 31917, hier S. 24, 15–25, 3. Die Hinweise auf die lateinischen Texte erfolgen mit Seite und Zeile. 24 A. v. Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, S. 25, 3–5.

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Er selbst rücküberführte die Leiche des heiligen Willehad in die mütterliche Kirche des seligen Apostels Petrus [von ihrer südlichen Kapelle, in die sie von Willeric verbracht worden war.] Und dann geschahen jene Wunder, welche sich durch die Verdienste des Heiligen dem Volk zeigen seit dem Jahr 861, welches das 30. Jahr seit der Einführung des Erzbischofs ist. Er selbst, der überführte, hat sowohl dessen Leben als auch die Wunder in einem einzelnen Buch zusammengefasst. Und wenn wir den Ablauf der Zeit genau berechnen, ist dies die Zeit, in der in Sachsen die Verlegung des Heiligen Alexander geschah. Bei der jenes erinnernswert scheint, dass unser Bekenner mit dem fremden Märtyrer wetteiferte, „wer von ihnen als größer angesehen werde“ und in der „Gnade der Heilung“ vom Volk willkommener sei. Einhard führt dies in den Taten der Sachsen mit lieblicher Feder aus.25

Adam sieht und benennt also die Konkurrenzsituation, wahrt natürlich die Bremer Interessen, indem er gegen das sicher höhere Heilsprestige eines römischen Märtyrers26 seine Fremdheit ausspielt. Zugleich erlaubt er sich auch Kritik an einem allzu schlichten Wettbewerb um den größten Heiligen bzw. die wunderkräftigsten Reliquien und an den dahinterstehenden Interessen. Mit der biblischen Wendung: quis eorum vidertur esse maior27 zitiert er den Rangstreit der Jünger aus Lukas 22,24, dem Jesus dort mit dem Hinweis auf sein eigenes Beispiel das Dienen als Leitbild entgegenstellt. Dazu passt, dass Adam im Kapitel zuvor Ansgars demütiges Dienen im Spital mit Heilungswundern gesegnet beschrieben hat und auch in c. 33 wieder auf dessen karitatives Engagement zu sprechen kommt. Der Domscholaster achtet in seiner Darstellung auf konkrete Zuwendung und Hilfe für die Anvertrauten und stellt sie über das Reliquienprestige.28 Gratia sanitatum29 weist mit 1. Korinther 12,9 auf die Verbundenheit in dem einen Geist. Das Heilswirken als verbindendes Element ist ihm also wichtiger, als die beiden konkurrierenden Sakralorte und Institutionen gegeneinander auszuspielen. Obwohl er sich, durch die Annahme Einhard sei der Autor, irrt, kann er so über Alexander mit süßer Feder schreiben. Im Rahmen von Adalberts Modernisierungs- und Ausbauprogramm Bremens zu einem ihm hinreichend repräsentablen Erzbischofsitz um 25 Ebd., S. 36, 9–24. 26 Zur Betonung der Martyriumsbereitschaft Willehads vgl. Jarecki, Thies: Die Vorstellungen vom Bischofsamt bei Adam von Bremen (AKThG 42), S. 76 und auch die Thematisierung in vita Ansgarii c. 40. Dass es gerade eine Reliquienkapsel an seinem Hals war, die Willehad vor dem Martyrium durch ein Heidenschwert bewahrte, lässt Adam aus der Vitenvorlage aus. 27 A. v. Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, S. 35, 20f. 28 Zur Hochachtung der bischöflichen cura und caritas, vgl. Th. Jarecki: Die Vorstellungen, S. 113–125. 29 A. v. Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, S. 36, 21.

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1050 erwähnt Adam im Zuge von Propsteigründungen auch eine weitere Translation der Gebeine Willehads (III, 9): Also stritt er mit großem Geist und Einsätzen an Mitteln, daß er Bremen den übrigen Städten gleichmachte, und errichtete sogleich aus Gütern, die er selbst bereitstellte, zwei Propsteien; eine für den Heiligen Willehad, wo auch sein Körper ruht und hin überführt ist, die andere dem heiligen Stephan, dessen Diener (zu sein) sich der Erzbischof oftmals selbst rühmte. Diese beiden plante er am Beginn, aber andere errichtete er später.30

Einen Kommentar oder gar Protest gegen das Verlagern der Gebeine des Gründungsbischofs aus der Kathedralkirche lässt Adam hier nicht laut werden. Dass er ihn aber mit der Hamburg-Bremer Kirche weiterhin synonym sieht und ihr Missionsgebiet bis zum Ende der Welt sein Wirkraum ist, macht Adam durch eine Erzählung am Ende des vierten Buches, also der Beschreibung des Nordens, deutlich (IV, 40f): „Ebenso berichtete uns seliger Erinnerung der Oberhirte Adalbert, dass in den Tagen seiner Vorgänger gewisse vornehme Männer von den Friesen die Segel nach Norden setzten, um das Meer zu durchstreifen, weil von den Einwohnern ihres Volkes gesagt wurde, dass von der Mündung des Weserflusses in geradem Lauf nach Norden sich wegen des endlosen Ozeans kein Land einstellt. Nachdem sie sich, die Unbekanntheit dieser Sache zu erkunden, verschworen hatten, brachen die Gefährten von der Küste der Friesen vergnügt auf. Dann ließen sie hier Dänemark, dort Britannien zurück und kamen zu den Orkneys. Nachdem sie diese links liegen ließen, während sie Norwegen zur rechten hatten, erlangten sie nach langer Überfahrt das vereiste Island. Während sie von diesem Ort zum äußersten Pol des Nordens ‚das Meer durchfurchten’, sahen sie schließlich alle Inseln, von denen oberhalb gesprochen wurde, hinter sich, während sie dem allmächtigen Gott und dem heiligen Bekenner Willehad ihren Weg und Kühnheit anvertrauten, fielen sie plötzlich in jene ‚finstere Dunkelheit des starrenden Ozeans’, die kaum von den Augen durchdrungen werden wollte. Und siehe, indem des unbeständigen Ozeans Meerenge zurücklief zu den Anfängen einer gewissen Quelle in seinen Verborgenheiten, zog es mit stürmischem Angriff die schon hoffnungslosen unglücklichen Seefahrer, die allein ihren Tod gewiss erkannten, zum Chaos [- von diesem sagen sie, dass es der Schlund des Abgrundes ist] jenem Abgrund, von dem die Rede ist, dass alle Rückläufe des Meeres ist, die abzunehmen scheinen, verschlungen und wiederum zurückbewegt werden, was wellenbewegtes Wachsen genannt zu werden gepflegt wird. Als dann jene allein die Barmherzigkeit Gottes erflehten, dass er ihre Seelen annehme, riss jener zurücklaufende Ansturm des Meers einige Schiffe der Gefährten weg, die übrigen aber bewegte er durch ein langes Losstürmen weit hinter die anderen zurück 30 Ebd., S. 150, 10–16.

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und trieb sie hinter die Rücken. Und weil jene so von der anstehenden Gefahr, die sie mit Augen sahen, durch die glückliche Hilfe Gottes befreit wurden, halfen sie der Flut durch das Anstemmen der Ruder. Schon waren auch sie der Gefahr der Dunkelheit und der Gegend der Kälte entkommen und steuerten unverhofft zu einer gewissen mit höchsten Klippen ringsum nach der Sitte einer Stadt bewährten Insel. Nachdem sie hierzu zum Ansehen der zu sehenden Orte herausgekommen waren, fanden sie Menschen an, die sich in unterirdischen Höhlen versteckten. Vor deren Gängen lag ein unbegrenzter Vorrat an Gefäßen ‚goldenen und derartigen Metallen, die von den Sterblichen für selten und wertvoll gehalten werden’. Daher, nachdem ein Teil der Schätze genommen war, den sie aufheben konnten, kehrten die erfreuten Ruderer eilig zu den Schiffen zurück. Als sie plötzlich hinter sich Menschen wunderlicher Größe kommen sahen, welche unsere Zyklopen nennen. Ihnen eilten Hunde voraus, die die gewöhnliche Größe ihrer Vierfüßler überstiegen, von deren Andrang wurde einer von den Genossen weggerissen, und in einem Augenblick vor ihnen zerfleischt. Nachdem die übrigen aber die Schiffe aufgesucht hatten, entwichen sie der Gefahr, während die Riesen bis beinahe ins Hohe schreiend folgten. Durch derartiges Glück gelangten die friesischen Gefährten nach Bremen, wo sie, während sie dem Oberhirten Alebrand der Reihe nach alles erzählten dem frommen Christus und seinem Bekenner Willehad für ihre Wiederkehr und Heil Opfer opferten. „31

Mit dieser Erzählung gibt Adam nun Rückverweis auf die erste Umbettung Willhads. Damals noch unter ihrer Gier verborgen, strebten die Seeräuber aus dem Norden zu den Gebeinen Willehads, nun bringen die Seefahrer unter seinem Schutz die Schätze des Nordens zu ihm. Neben dem Wirk- und Anerkennungsraum des Reliquienkultes des Gründungsbischofs spielen Reliquien auch im Blick auf den Gestaltungsraum bischöflichen Wirkens eine Rolle. Bischöfe verteilen Reliquien und versorgen Gemeinschaften und Kirchen in ihrem Sprengel damit. Die Reliquien definieren oder prägen in diesem Fall nicht einen Raum, der sich dann auf sie bezieht, sondern sie sind Objekte, mit denen der Bischof seinen Handlungsraum zeigt. Ob nun gewollt oder zufällig, auf jeden Fall auffällig berichtet Adam eine solche Reliquienverteilung gleich im Anschluss an die Willehadtranslation I,18 von Ansgar, der zu dem Zeitpunkt noch gar nicht in Bremen zuständig ist: „Für diese Zeit wird berichtet, dass der selige Ansgar die Leichen der Heiligen, die er als Geschenk Erzbischof Ebos erhalten hatte, über die Elbe brachte, und die Leiche des heiligen Maternian in Heiligenstedten niederlegte, des Sixtus aber und Sinnicius mit anderen der

31 Ebd., S. 276, 8–278, 25.

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Märtyrer legte er als Schutzherrn in der Stadt Hamburg zusammen. [Die des seligen Remigius aber bewahrte er mit gebührender Ehre in Bremen].“32

Die letzte Angabe ist wohl Ergebnis späteren Textwachstums. Sie klingt auch unhistorisch, da Ansgar zur der Zeit Willerics in Bremen noch nicht Bischof war. Außerdem wird zuvor ja auch der eigene Willehadkult in Bremen berichtet. Sie ist aber verständlich in dem Sinne, Ansgar auch bischöfliches Handeln in Bremen nachzusagen und eine Reliquientradition mit ihm zu verbinden. Eine weitere Reliquienverteilung kann Adam unter Bischof Adaldag berichten, der im Gefolge Ottos I. lange im Reichsdienst in Italien weilte (II,11): Durch seine Pilgerschaft verschaffte er der Bremer Kirche einen ungeheuren Gewinn. Damals nämlich, wird überliefert, hat er die Schutzherrschaften der Heiligen gesammelt, durch welche dies unser Bistum jetzt und in Ewigkeit siegreich jubelt.33

So sehr Adam diese Mitbringsel schätzt, zeigt er am Jubel über die Wiederkehr des Bischofs auch, wie teuer diese Heilsgüter durch dessen Abwesenheit erkauft sind.34 Der Erzbischof nimmt behufs der Erwerbungen seine Sorge um seine Diözese war (II,13)35 Er verteilt die Überreste der heiligen Märtyrer, die er aus der Stadt Rom gebracht hat, mit großer Sorgfalt an seine Pfarreien.36 Im Fortgang führt Adam dann aber die Liste der Kommunitätsgründungen weiter. Wie das im Blick auf die Entwicklung des Niederkirchenwesens zu deuten ist, ist hier nicht zu beantworten. Interessant ist, dass es ihm bei dieser Mischung von vermeintlicher Gründungsliste und Reliquienvergabe, um das Belegen bischöflicher Ansprüche ging.37

32 Ebd., S. 25, 5–11. 33 Ebd., S. 68, 14–17. 34 Es wird berichtet, dass sein Volk, weil es die lange Abwesenheit des guten Hirten nicht ertrug, nachdem Gesandte und Briefe die Furcht mitgeteilt hatten, schließlich bewirkte, dass er seine Herde aufzusuchen geruhte/aufsuchen wollte. Dem Kommenden entboten sogar die Seinen und Fremde, drei Tage auf dem Weg entgegenzugehen. Während sie vor Freude weinten, riefen sie gleichsam einen zweiten Johannes, weil sie sagten: „Gesegnet, der kommt im Namen des Herrn.“ Ebd., S. 68, 17– 69, 4. 35 Vgl. auch die positive Bewertung als paterna sollicitudo omnium ecclesiarum suarum (71, 1). 36 A. v. Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, S. 70, 1–3. 37 Vgl. Th. Jarecki: Die Vorstellungen, S. 101f.

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Dass seine Vorgänger fünf Gemeinschaften Gott dienender Seelen (244) gründeten, sagten wir. Diesen fügte jener eine sechste in Heeslingen hinzu, wo die edelste Jungfrau Christi Wendilgart und ihr Vater mit Namen Haldo, indem sie ihren ganzen Besitz Gott und dem Heiligen Märtyrer Vitus darbrachte, eine große Schar Jungfrauen versammelte. Eine siebte Gemeinschaft heiliger Männer machte er in Reepsholt in Friesland von Landgut und Gabe gewisser gläubiger Frauen, Reingerd und Wendila, wo er den Überresten des heiligen Mauritius einen Ort gab, und anderen anderswo.38

Die Mauritiuspartikel zeigen die Verbindungen zu Otto I.39 Weitere Angaben, um welche Reliquien es sich handelt, macht erst ein späterer Nachtrag. Ob diese Ergänzung noch von Adam ist oder von späteren Domherrenhänden, ist nicht klar.40 Die entsprechenden Patronate weist Johannes Göhler in den Bremer Stiften und Kirchen des Bremer Raums nach.41 Ebenfalls als Ergänzung findet sich zu Adalberts Gründung der Propstei auf dem Süllberg der Hinweis: Schol. 74: Und dort lagerte er den Kopf des heiligen Sekundus, der einer aus der Legion der Thebäer, es ist zu lesen, dass er ein Anführer war. Dessen Schutz empfing der Metropolit in Italien, durch die Freigiebigkeit eines gewissen Bischofs von Turin. (B1a; C)42

Beim Tod Adalberts in Goslar, vermerkt Adam, hätte der König eine Armreliquie des Apostels Jakobus an sich genommen (zusammen mit den Privilegien der Bremer Kirche!). Mit dieser Diebstahls- oder zumindest Unterschlagungsnotiz kommt, wie auch in dem berühmten Vermerk (I, 21), bei der Zerstörung Hamburgs durch die Normannen sei „der heilige Ansgar […] gerade noch nackt mit den Reliquien der Heiligen [Märtyrer]“43 entkommen, etwas zur Sprache, was sonst als Selbstverständlichkeit hochmittelalterlichen Reliquienwesens in Schrift38 A. v. Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, S. 70, 3–11. 39 Vgl. D. Hägermann/U. Weidinger/K. Elmshäuser: Bremische Kirchengeschichte, S. 126f, Magdeburg, und auch eine Stiftung an Regensburg. 40 Vgl. Lesart der Handschriften B und C: Dort gab er den Überresten der Heiligen einen Ort. Diese sind die Überreste, die Herr Adaldag mit aus Italien brachte: die Körper Quiriacus und Caesarius, ebenso Victors und Coronas, Felix und Felicianus, Cosmas und Damians (vgl. A. v. Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, S. 70, 8–19). Vgl. auch Th. Jarecki: Die Vorstellungen, S. 127. 41 Göhler, Johannes: Die Verbreitung der Heiligenverehrung zur Zeit der Christianisierung der Sachsen und ihre Schutzherrschaft über die mittelalterlichen Kirchen im Erzbistum Bremen, in: JGNKG 95 (1997), S. 9–77. 42 A. v. Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, S. 169, 20–24. 43 Ebd., S. 27, 6–8.

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quellen unbeachtet bleibt: mobile Reisereliquien, deren kostbare Aufbewahrungsbehälter als Realien noch präsent, betracht- und bestaunbar sind. Diese entwendete Reliquie ist nicht in den Besitz der Bremer Kirche zurückgekommen und befindet sich heute in England. Heinrichs Schwiegertochter Mathilde hat sie als Witwe dorthin mitgenommen.44 Schließlich möchte ich noch einige Berichte ansprechen, in denen nicht explizit von Reliquien geredet wird, aber die in diesem Zusammenhang bedenkenswert sind. Am Ende des ersten Buches berichtet Adam vom Tod Erzbischof Unnis bei einer Missionsreise im schwedischen Birka. Sein Leib wird dort bestattet, der Kopf nach Bremen gebracht und dort am Altar der Kathedrale beigesetzt. Auch wenn die Assoziation zu Kopfreliquiaren (z. B. Lateran) naheliegt, handelt es sich eher um eine geteilte Bestattung aus pragmatischen Gründen, die zugleich aber auch in den Bereich der Sakraltopographie passt. Der geteilte Körper verbindet die Kathedrale mit dem schon von Ansgar geprägten Legationsraum zu den nördlichen Völkern. Bei der Beschreibung Skandinaviens im vierten Buch vermerkt Adam in Scholion 127 zu Kapitel 20: „Dort ist der Hafen des heiligen Ansgars und das Grab des heiligen Erzbischofs Unni, eine vertraute Herberge für die Heiligen Bekenner unseres Sitzes.“45

Adam notiert aber aus dem Bericht eines späteren Besuchers (Schol 142 zu IV, 30): „[…] dass Birka [nun] wüst sei, so dass die Spuren der Stadt kaum sichtbar waren; darum konnte auch das Grab des Heiligen Erzbischofs Unni nicht gefunden werden.“46

Die Grabteilung Unnis bleibt aber in der Erinnerung präsent. Die Bremer Bischofschronik stellt Unni noch im 16. Jahrhundert kopflos da, zeichnet den Kopf unter zwei Schlüsseln unter die Füße und notiert dazu niederdeutsch knapp: „Dat liff inn Schweden. De kop tho Bremenn.“47 Im Missionsraum des Erzbistums berichtet Adam auch von Wundern und einsetzender Verehrung an Märtyrergräbern, ohne explizit Translationen und Erhebungen darzustellen. Dennoch beschreibt er damit das Potential zur Reliquienverehrung. Es geht dabei um die Gebeine der 44 Sie befindet sich heute im Kloster Marlow, vgl. D. Hägermann/U. Weidinger/K. Elmshäuser: Bremische Kirchengeschichte, S. 130. 45 A. v. Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, S. 249, 18–20. 46 Ebd., S. 262, 23–25. 47 Vgl, die Darstellung bei D. Hägermann/U. Weidinger/K. Elmshäuser: Bremische Kirchengeschichte, S. 61.

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Könige Olaf in Trondheim48 und Harald Blauzahn in Roskilde,49 diejenigen eines, von außerhalb des Hamburg-Bremer Legationsbezirks hinzunotierten, böhmi-

48 II, 61: „Also wurde Olaf, der König und Märtyrer, wie wir meinen, durch ein derartiges Ende beseitigt. Seine Leiche wurde in der großen Stadt seines Reiches Trondheim mit gebührender Ehre begraben. Wo auch heute durch viele Wunder und Heilungen, die durch ihn geschehen, der Herr zu zeigen geruht, welchen Verdiensts er im Himmel ist, der er so auf Erden verherrlicht wird. Sein Fest [des Erduldens] wird am vierten der Kalenden des Augusts (29.07.) von allen Völkern des nördlichen Ozeans, den Normannen, Schweden, Goten, [Sembronen,] Dänen und auch den Slawen in ewiger Verehrung denkwürdig begangen.“ (A. v. Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, S. 121, 15– 122, 5.) IV 33: „Vorort der Normannen ist die Stadt Trondheim, die nun durch Kirchen geschmückt von einer großen Menge Bevölkerung besucht wird. In ihr liegt der Körper des seligsten Königs und Märtyrers Olaf. An dessen Grab bewirkt bis auf den heutigen Tag der Herr die größten Wunder an Heilungen, so dass aus den entferntesten Gegenden diese dorthin zusammenströmen, die die Hoffnung nicht aufgegeben haben, dass sie durch die Verdienste des Heiligen unterstützt werden [können].“ (ebd., S. 267, 8–14). 49 II, 27f: „In diesem elenden […] Bürgerkrieg wurde die Seite Haralds geschlagen. Er selbst floh verwundet aus der Schlacht und entwich, nachdem ein Schiff bestiegen war, zur Stadt der Slawen, die Jumne genannt wird. […] Von diesen entgegen der Hoffnung, weil sie Heiden waren, menschlich aufgenommen, verschied er nach einigen Tagen, da er durch die Wunde schwächer wurde, im Bekenntnis Christi. Seine Leiche wurde vom Heer zurück in die Heimat gebracht und in der Stadt Roskilde in der Kirche begraben, die er selbst zuerst zur Ehre der heiligen Dreieinigkeit erbaut hatte. […] Jener unser Harald aber, der zuerst die Christlichkeit ins Volk der Dänen einführte, der den ganzen Norden mit Predigern und Kirchen füllte, jener, möchte ich sagen, entbehrt, weil er unschuldig verwundet und für Christus vertrieben wurde, ‚die Palme des Martyriums, wie ich hoffe, nicht‘. Er herrschte aber 50 Jahre. Sein Tod (war) am Festtag Allerheiligen. Die Erinnerung an ihn und seine Frau Gunhilde bleiben bei uns beständig. Diese Ereignisse habe ich für die Tage des Oberhirten Adaldags in Erfahrung gebracht, obwohl wir dennoch nicht alle seine Tugenden erforschen konnten. Es gibt aber welche, die versichern, dass durch ihn Gnaden der Heilungen geschehen sein, während er noch lebte, und nach dem Tod an dessen Grab, und anderes. [Nämlich, dass Blinde häufig erhellt worden sein und viele andere Wundertaten sich ereignet hätten.] Gewisslich sicher ist aber, dass er so für unser Volk wie für die Transelbier und den Stamm der Friesen Gesetze und Rechte bestimmt hat, die bis heute durch die Geltung des Mannes verlangen beachtet zu werden.“ A. v. Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, S. 87, 16–88, 26.

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schen Fürsten50 und von Missionaren des Dänenkönigs Sven, die das Martyrium erlitten.51 Von den Hamburg-Bremer Märtyrern in Ratzeburg und an anderen Orten beim Slawenaufstand 1066 kann Adam hingegen keine Grabwunder berichten und überliefert auch keine Grabtraditionen. Zum Topos von Reliquien gehört, wie Arnold Angenendt herausgearbeitet hat, die Unversehrtheit des zu erhebenden Leichnams. Der Körper zeigt bereits die Auferstehungssymptome der schon im Himmel weilenden Seele. Dieses Muster findet sich so nicht in Adams Berichten, aber in Abwandlung. Eine reliquienlose Reliquienverehrung, nicht erst evangelisch, sondern gut mittelalterlich zeigt meine Lieblingsgeschichte über Erzbischof Hoger, mit der ich als offenem, aber eschatologisch getrost gehaltenem Ende schließe. Bei ihm war es so: Unterdessen starb der Bekenner Gottes Hoger und wurde in der Kirche des Heiligen Michaels mit seinem Vorgänger im Jahr des Herrn 915 begraben, die Beisetzung wurde an den 13. Kalenden des Januars/am 20. Dezember gehalten. Sein Körper wurde, als nach 120 Jahren die Kapelle aus Altersschwäche abgerissen wurde, gesucht, aber es konnte außer Kreuzen des Palliums und dem Kopfkissen des Bischofs nichts gefunden werden. Und wir glauben, dass seine Auferstehung schon erfüllt ist, was von anderen berichtet wird, dass es bei David und Johannes dem Evangelisten wahrhaft geschehen sei.52

50 Schol 21: „Im Jahre des Herrn 973 wurde Wenzeslaus der Fürst der Böhmen durch seinen Bruder Bugezlaus, der sich der Herrschaft bemächtigte, zum Märtyrer, für den Gott die Stadt Prag, wo er ruht, durch viele Wunder erleuchtet.“ (C 1.2) Ebd., S. 84, 17f. und S. 85, 17f. 51 III, 54 „Aus seiner wahrhaften und süßesten Erzählung erfuhr ich, dass zu seiner Zeit viele aus den barbarischen Völkerschaften zum christlichen Glauben bekehrt wurden, einige sogar so in Schweden wie in Norwegen mit dem Martyrium gekrönt wurden. ‚Von diesen‘, sagte er, ‚erwarb ein gewisser Pilger Heric, während er den äußersten Schweden predigte, die Palme der Märtyrer durch Enthauptung.‘ Ein gewisser anderer, mit dem Namen Alfward, der in heiliger Lebensführung lange unter den Normannen heimlich lebte, ‚konnte sich nicht verstecken‘. Jener wurde also, während er einen Feind schützte, von Freunden erschlagen. Am Platz ihrer Ruhe werden noch heute von den Völkern große Wunder an Heilungen ausgerufen. Also auch dies, was wir gesagt haben oder außerdem von den Barbaren zu sagen haben, alles haben wir aus dem Vortrag jenes Mannes.“ Ebd., S. 199, 5–16. 52 Ebd., S. 53, 13–54, 4.

Der unsichere Status der Dinge Zum Kontinuum von Sozialität und Materialität Thorsten Benkel

„Wie uns die Dinge erscheinen, wie sie für uns aussehen, wie sie sich für uns anfühlen, wie sie für uns riechen und klingen, das wissen wir in einer Weise, in der wir unsere Umwelt nicht erkennen können.“1

1.  SOZIALE SACHEN Von „Umwelt“ ist häufig die Rede, sogar in sehr unterschiedlichen thematischen Kontexten. Dass die Umwelt aber auch eine Mitwelt inkludiert – diejenigen Menschen nämlich, die zeitgleich mit einem selbst lebendig sind –, wird wesentlich seltener aufgeschnappt. Von anderen Termini, die der österreichische Pionier der Sozialphänomenologie Alfred Schütz geprägt hat, ganz zu schweigen. Schütz spricht außerdem noch von der Vorwelt, die Welt derer, die vor uns lebten und deren Erfahrungen und Biografien abgeschlossen sind. Bezugnahmen auf die Vorwelt sind indirekt. Immerhin ab und zu wird auf ein anderes Konzept, nämlich auf die Nachwelt verwiesen, die bekanntlich für die zwangsläufig unbekannten Nachkommen der heute Lebenden steht.2 Die Umwelt ist innerhalb dieser Begriffsreihe der populärste Ausdruck und im direkten Vergleich gerade inflationär vertreten, obwohl – oder: weil? – er, oberflächlich betrachtet, für zwei gegensätzliche Sachverhalte steht. Zum einen ist Umwelt eine Chiffre für Natur, für das Klima, für 1 Davidson, Donald: Der Mythos des Subjektiven, Stuttgart 1993, S. 65. 2 Vgl. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, S. 134ff.

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Wälder, Berge, Seen und Täler. Oft genug kommt dieser spezifische Verweis zusammen mit einem ökologiebewussten Appellcharakter daher. Umwelt ist aber auch ein Ausdruck für die soziale Umgebung, in der man sich akut oder generell befindet. Auf die Schnittstelle beider Termini hat schon Schütz verwiesen: sowohl der Mitmensch wie auch der „Bereich der Außenweltdinge“ werden in einer „umweltlichen Situation“ erfahren.3 Der zuletzt genannte soziale Umweltbegriff ist weniger verbreitet als sein naturbezogenes Pendant, aber immer noch häufig genug repräsentiert, um außerhalb des akademischen Diskurses bekannt zu sein. Bemerkenswert ist, dass beide Umwelten eine zentrale Facette menschlicher Lebenswelten und der natürlichen Weltausstattung weitgehend exkludieren, welche gleichwohl beide mehr als nur oberflächlich tangiert. In beiden Umweltverständnissen ist Gegenständlichkeit häufig so gut wie ausgespart. In den Sozialwissenschaften fällt diese Lücke erst seit einigen Jahren auf. Damit einher geht ein gestiegenes Bewusstsein für die zentrale Relevanz des Materiellen und Artifiziellen.4 Es darf in gewisser Hinsicht als reflektierteres Bewusstsein gelten, schließlich ergänzt es den herkömmlichen Umweltbezug um unabweisbar reale und immerzu gegebene, aber eben vernachlässigte Elemente. Soziales Agieren auf der einen und die wie auch immer im Detail definierte Natur auf der anderen Seite bedingen das Vorhandensein von konkret benennbaren Dingen, die dieses Vorhandensein mitkonstituieren. Da außerdem Natur als solche das Ergebnis eines menschlichen Zuweisungsprozesses ist, aus dem sich die verführerisch einfache Abgrenzung zur Kultur überhaupt erst ergibt,5 darf das traditionelle, von „Sachlichkeit“ befreite Image der Umwelt folglich als Verfälschung der Wirklichkeit verstanden werden. Dieses Image dient der besseren Handhabung dessen, was Menschen umgibt. Von einer „Renaissance der Dinge“ kann schwerlich gesprochen werden, weil die Zeiten ihrer intensivsten Anerkennung, historisch betrachtet, wenigstens in den Sozialwissenschaften just erst angebrochen sind. Die religiös gefärbte Reliquienverehrung und überhaupt die kultische Verehrung von Statuen, Totemsymbolen, Naturgebilden usw. deutet die dahinterstehende und somit punktuell immer schon zum Ausdruck gebrachte Verzahnung menschlicher Kommunikations- und Handlungsinteressen mit ihrem gegenständlichen Fundament bereits an. Ohne die Dinge geht es nicht, ihre Bedeutsamkeit liegt aber vielfach verborgen. Als vehementester Propagandist für ein Weltbild, das den Objekten in ihren zahlreichen Erscheinungsformen mehr Repräsentationsgerechtigkeit zu vermit3 Vgl. ebd., S. 30f. 4 Vgl. Henkel, Anna (Hg.): Materialität, Bielefeld 2018. 5 Vgl. schon Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M. 1999, S. 42.

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teln versucht, tritt der französische Soziologe Bruno Latour in Erscheinung. Nach einem Studium der Philosophie und Anthropologie, das Latour 1975 mit einer Dissertation über Exegèse et Ontologie á propos de la Resurrection an der Universität Tours beendete, führte ihn sein Weg durch verschiedene Länder und überwiegend anthropologische Arbeitskontexte, bis er schließlich im Rahmen von Forschungsunternehmungen (publikations-)aktiv wurde, die heute in die Rubrik Science and Technology-Studies fallen.6 Am Beispiel eines kalifornischen Chemielabors, gegründet vom Entdecker des Polio-Impfstoffs, ließ sich dabei zeigen, dass eine wissenschaftliche Entdeckung nicht schlichtweg vom Himmel in den Schoß der Laborangestellten fällt. Vielmehr wird aus dem Geschehen im Labor erst über zahlreiche Übersetzungsschritte – über die Besprechung mit Kollegen, die reziproke Bestätigung des Wahrgenommenen, die Thematisierung in Vorträgen und Publikationen, den Einsatz von Glaubwürdigkeit und Prestige und mithilfe weiterer credits – eine disziplinimmanent anerkannte „Wahrheit“. Kommunikation und Dokumentation sind so gesehen nicht eine Begleiterscheinung der von sich aus leuchtenden „brute facts“ des Wissenschaftsbetriebes unter Laborbedingungen, sondern vielmehr der „soft underbelly of science“7, der insgeheim die Voraussetzung für korrespondierende Textproduktionen verbindet. Der andernorts verwendete Begriff der „Fabrikation der Erkenntnis“8 weist in eine ähnliche Richtung. In diesem Kontext wird eine Melange aus „professioneller“, hier: den Erwartungen entsprechender Arbeitsweise und den davon verdeckten und marginalisierten Einflussfaktoren deutlich, die gleichwohl zu einer so betrachteten und verstandenen Wirklichkeitserkenntnis führt. Auf diesem Fundament konnte Latour zu Einsichten in die Arbeitsweisen des Wissens-Schaffens gelangen, zumal der naturwissenschaftlichen, also vermeintlich „belastbaren“ Prozeduren. Die Kontinuität seiner Werkbiografie führt ihn von hier zu der (eben nicht unvermittelten) Erkenntnis, dass nicht-menschliche Instanzen bei der Produktion von Erkenntnis eine bedeutsame Rolle spielen. „Sein ist Existenz und Existenz ist Handeln“9, schreibt Latour und unterstreicht damit subtil die Partizipation der erforschten Gegenstände am Prozess der Erkenntnis. Auf die herkömmliche Qualifikation 6 Vgl. Bauer, Susanne/Heinemann, Torsten/Lemke, Thomas (Hg.): Science and Technology Studies. Klassische und aktuelle Perspektiven, Berlin 2017. 7 Edge, David: Why I am not a Co-Citationist, in: Society for Social Studies of Science 2, Heft 3 (1977), S. 13–19, hier S. 17. 8 Vgl. Knorr Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1984. 9 Latour, Bruno: Über technische Vermittlung. Philosophie, Soziologie und Genealogie, in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 483–528, hier S. 487.

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des Untersuchten als „Sachverhalt“ eingehend heißt es ferner: „Ein Objekt ist ein Subjekt, das nur die Soziologie studieren kann – eine Soziologie aber, die bereit ist, sowohl mit nicht-menschlichen als auch mit menschlichen Aktanten umzugehen.“10 Mit Objekten, Dingen, Sachen, Gegenständen, wie auch immer man sie fassen mag, gehen Menschen Netzwerkbeziehungen ein, die ihnen durchaus wie „Alltagsnormalität“ vorkommen mögen, deren Verbindungscharakter also undurchsichtig ist. Die Teilhabe der Dinge an der Gestaltung der sozialen Welt findet sozusagen unter dem Radar des zweckdienlichen Alltagspragmatismus statt, der von diesen Allianzen permanent profitiert. Latour selbst exemplifiziert seine „Akteur-Netzwerk-Theorie“ an verschiedenen Kontexten, beispielsweise an dem „Hybrid-Akteur“, der zustande kommt, wenn ein Mensch eine geladene Waffe in die Hand nimmt.11 Weder ist die Waffe der potenzielle Auslöser der potenziellen Tötung eines anderen, die damit ermöglicht ist, noch ist es der Mensch, der sie hält. Der hypothetische Mörder sind beide gemeinsam: Es tötet das Netzwerk. Nicht alle Beispiele Latours sind so martialisch. Häufig tritt die Umwelt in den Vordergrund, beispielsweise das umweltpolitisch hitzige Thema des Ozonlochs. Es ist ein unerwünschter, aber eben vorhandener Effekt menschlicher Handlungen und trägt seinerseits dazu bei, menschliches Handeln zu beeinflussen – etwa im Umgang mit Sonne und Körperpflege beim Strandurlaub. Gäbe es nicht die unsichtbare Gefahr am Firmament, um deren Realitätsgehalt sie wissen, bräuchten Strandurlauber einen geringeren, vielleicht sogar gar keinen Sonnenschutzfaktor. Sie werden zum Selbstschutz geradezu bewegt. „Ja, diese Dinge sind real, aber sie gleichen zu sehr sozialen Akteuren […]. Das Ozonloch ist zu sozial und zu narrativ, um wirklich Natur zu sein“12, hält Latour fest. Seine Einwirkungen, vielbesprochen und bisweilen in ein Bedrohungsnarrativ eingebettet, platzieren das Ozonloch jenseits der antiquierten Vorstellung einer „passiven“ Natur. Im gleichen Moment ist es „faktisch“ wie eine buchstäbliche Tat-Sache. Soziologiehistorisch betrachtet stellt Latour mit seinen Überlegungen zum Akteurs- bzw. Aktantenpotenzial der Umweltbedingungen des menschlichen Lebens das Paradigma auf den Kopf, welches Emile Durkheim, Gründervater der akademischen Soziologie, seiner Disziplin mit auf dem Weg gab: dass Soziales nur durch Soziales erklärbar sei.13 Die nicht-sozialen Kräfte in den Vernetzungen des Menschen sind quantitativ, wenn man sie so betrachten möchte, den klas10 Ebd., S. 504. 11 Ebd., S. 488. 12 Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995, S. 14. 13 Vgl. Durkheim, Emile: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a. M. 1984.

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sisch intersubjektiven Verbindungen von Menschen zu-, mit- oder füreinander weit überlegen. Die Geringschätzung der dinglichen Ebene in so vielen Bereichen geht einher mit weit verbreiteter Ignoranz gegenüber den für Latour gleichsam wirklich-wirksamen Effekten des Aufforderungscharakters, den Gegenstände auf Menschen ausüben. Die sachlichen, und eben auch die nur vermeintlich natürlichen Komponenten der Welt üben, sofern sie den Kosmos menschlicher Handlungsreichweite tangieren, nämlich „Affordanz“14 aus. Die in der Hand liegende Pistole legt das Abdrücken nahe; die Gießkanne das Gießen; das Messer das Schneiden; der Stuhl das Sitzen. Ohne intensiv darauf einzugehen, welche Implikationen dies für sozialtheoretische Weltbeschreibungen hat, sei festgehalten, dass Latours Bemühungen, die Soziologie aus dem Schatten Durkheims zu rücken, schwerlich zu übersehen sind. Dies macht nicht nur der Inhalt, sondern bereits der (deutsche) Titel einer zentralen Buchpublikation Latours deutlich: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft.15 Die Feinheiten von Latours Theoriegebäude, das längst rund um den Globus diskutiert wird, können anderswo leicht recherchiert werden.16 An dieser Stelle sollen Latours Überlegungen dazu dienen, aufzuzeigen, dass die Bedeutung der Gegenstandsdimension für den Umgang mit den Dingen weder kulturgeschichtlich festgefahrenen Bahnen folgen noch ohne evolutionäre Sprünge (oder Sprungversuche) auskommen muss. Die Dinge sind nur solange bloß „unter anderem“17 relevant, wie eine solche Perspektive gezielt verfolgt wird. Latour zeigt, dass eine (fraglos provokante) Erweiterung des Horizonts sukzessive der skizzierten Weltbegriffsproblematik eine interessante, aber auch strittige Erweiterung ermöglicht. Und dennoch: eine völlige Neuanschauung, die den Dingen endlich ihre mitwirkende Kraft bei der Gestaltung der Welt zuerkennt – einer nunmehr weder alleine sozialen noch alleine materiellen! – liegt damit nicht vor. Entsprechende Überlegungen hat es in spezifischen Zusammenhängen schon zuvor gegeben. „Menschlich zu sein erfordert, mit Nicht-Menschen zu teilen“18, stellt Latour fest. Denn, so heißt es an anderer Stelle: „Das Menschliche lässt sich ja […] nicht 14 Vgl. Latour, Bruno: Morality and Technology. The End of the Means, in: Theory, Culture and Society 19, Heft 5/6 (2002), S. 247–260. 15 Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2007. 16 Vgl. Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006; Gertenbach, Lars: Entgrenzungen der Soziologie. Bruno Latour und der Konstruktivismus, Weilerswist 2015; Kneer, Georg/ Schroer, Markus/Schüttpelz, Erhard (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M. 2008. 17 Guzzoni, Ute: Unter anderem: die Dinge, Freiburg/München 2008. 18 B. Latour: Über technische Vermittlung, S. 510.

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erfassen und retten, wenn man ihm nicht jene andere Hälfte seiner selbst zurückgibt: den Anteil der Dinge.“19 Auffallend sind die subtilen Vergemeinschaftungen mit dem unbelebten Part der Welt gerade dann, wenn eine Routine unterbrochen und eine Erwartung enttäuscht wird. Der Triebwerksschaden am ICE kann alltagstauglich als ungeplantes, gewissermaßen kontingentes Ereignis abgetan werden. Er ist aber nicht losgelöst von einem Netzwerk entsprechender Inanspruchnahmen denkbar, d. h. es gibt Bedingungen der Möglichkeit des Schadens, die ihn – wenn man so will – zu einer materiellen Artikulation menschlicher, also dezidiert nichtmaterieller Kommunikation und Organisation machen. Einige weitere Beispiele mögen dies verdeutlichen. Ein Thema der Klatschpresse war zum Jahresende 2018 die Trennung des Volksmusikers Florian Silbereisen von der Schlagerikone Helene Fischer. Zu den Früchten der Liebesbeziehung gehört eine Tätowierung mit dem Antlitz Fischers auf Silbereisens linkem Oberarm. Das Tattoo ist dem Körper buchstäblich eingeschrieben, von ihm aber prinzipiell auch wieder trennbar.20 Silbereisen hat verkündet, die Tätowierung nicht entfernen zu wollen. In just dieser Konstellation wird der Sachstatus der unter die Haut gepflanzten Tinte deutlich: Künftige Partnerinnen müssen ertragen, der berühmten „Ex“ in die Augen zu schauen, wenn sie in Silbereisens Armen liegen, und sind folglich mit einer materiellen Erinnerung an diese Beziehung konfrontiert. Das dürfte vermutlich nicht die ursprüngliche Absicht des Sängers sein, es ist aber doch – als soziale Wirkung – dem „Körpernetzwerk“ mitgegeben.21 Der Sozialpsychologe Thomas Leithäuser berichtet in einem Buch von einem aus Chile nach Deutschland gekommenen Gastarbeiter, der voller Unverständnis feststellen musste, dass Autofahrer nachts auf einer gut einsehbaren Kreuzung respektvoll vor der roten Ampel anhalten, ganz unabhängig von der faktischen Verkehrslage.22 Dieses Verhalten muss, wenn man in einer Gesellschaft sozialisiert ist, die Dinglichkeit pragmatischer, d. h. stärker an der Dimension des praktischen Gewinns ausgerichtet betrachtet, in der Tat seltsam wirken. Die Implikation ist gewissermaßen, dass deutsche Autofahrer Respekt gegenüber einem Ding zeigen, als fühlten sie sich mit einer leibhaftigen Autorität konfrontiert, deren Zorn 19 B. Latour: Wir sind nie modern gewesen, S. 182. 20 Vgl. Därmann, Iris/Macho, Thomas (Hg.): Unter die Haut. Tätowierungen als Logound Piktogramme, Paderborn 2017. 21 Über den praktischen Umgang der Gesellschaft mit dem klassischen Verständnis von Objekten schreibt Latour passend: „Entweder täuschen sie nur, oder sie machen zu viel.“ Latour, Bruno: Eine Soziologie ohne Objekt? Anmerkungen zur Interobjektivität, in: Berliner Journal für Soziologie 11, Heft 2 (2001), S. 237–252, hier S. 245. 22 Leithäuser, Thomas: Formen des Alltagsbewußtseins, Frankfurt a. M./New York 21979, S. 21.

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sie fürchten. Rein „materialistisch“ betrachtet ist die Ampel aber machtlos, weil „tot“.23 In der tatsächlichen – und insofern offenbar kulturspezifischen – Integration in das Feld menschlichen Handelns ist sie aber eben mehr als das. Dafür gibt es einen historischen Vorläufer, der vielen aus der Schulzeit und manchen aus der Oper (in Gioacchino Rossinis berühmter Vertonung) bekannt ist. In Friedrich Schillers 1804 entstandenem Drama Wilhelm Tell soll bekanntlich die Titelfigur den Hut eines Landvogts mit ehrerbietender Unterwerfungsgeste grüßen und weigert sich – sinngemäß deshalb, weil nicht ein Mensch, sondern ein Ding die Adresse der Respektsbezeugung ist. Die repressive Macht des Landvogts ist, wenn man so will, besser über die Vernetzung des Sozialen mit dem Nicht-Sozialen informiert als der Schweizer Freiheitsheld, denn sie versteht den Hut nicht als etwas „Totes“, sondern als lebendige Netzwerkentität. Armbrust und Apfel sind die bekannten „Folgeartefakte“ in diesem klassischen Stück, wobei die Affordanz des Apfels – Gegessen-Werden – hier dem Aufforderungscharakter der Armbrust – dem Zielen und Schießen – unterworfen ist. An Auseinandersetzungen über die Sozialität des Materiellen und, damit untrennbar verbunden, über die Materialität des Sozialen mangelt es heutzutage nicht. Es gibt die Dissertation von Jean Baudrillard, wie Latour ein Grenzgänger der französischen Soziologie-Szene, die sich um das „System der Dinge“ in einer Zeit – nämlich 1968 – bemüht, als Materialismus vorwiegend politisch-ökonomisch gelesen und eben nicht zwingend am dinglichen Sachverhalt abgelesen wurde.24 Und es gibt die zeitgenössischen Recherchen zum Einfluss der Dingsphäre, die beispielsweise den darin mittransportierten Animismus stark machen,25 die Eigenmacht der Dinge im Lichte ihrer Widerständigkeit deuten,26 den Fokus auf das Waren- bzw. Güterartige der sozialen Artefakte legen,27 die Genese des subtilen „Zusammenlebens“ rekonstruieren,28 usw. Dass Vorläuferideen all dieser originellen Studien vor allem im religiösen Feld zu finden sind, ist weithin bekannt. 23 Vgl. Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias: Materiality and the Body. Explorations at the End of Life, in: Mortality 24, Heft 2 (2019), S. 231–246. 24 Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a. M. 22001. 25 Dörrenbacher, Judith/Plüm, Kerstin (Hg.): Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus, Bielefeld 2016. 26 Därmann, Iris (Hg.): Kraft der Dinge. Phänomenologische Skizzen, Paderborn 2014. 27 Appadurai, Arjun (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 2003; Eßbach, Wolfgang: Die Gesellschaft der Dinge, Menschen, Götter, Wiesbaden 2011, S. 75ff. 28 Ortlepp, Anke/Ribbat, Christoph (Hg.): Mit den Dingen leben. Zur Geschichte der Alltagsgegenstände, Stuttgart 2010.

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Schon die in der Alltagssemantik so anrüchig anmutende Idee des Fetischs findet hier ihren Ursprung.29 Latour greift diesen Entstehungskontext mit einem ironischen Neologismus wieder auf: dem faitiche, der Kombination aus einer Tatsache (frz. fait) und einem Verehrungsgegenstand (fétiche), die für das Ineinanderfließen von Fakten und Glauben steht. In dieser begrifflichen Neuschöpfung verbirgt sich ein weiterer Seitenhieb auf Durkheim, denn dieser schrieb der Soziologie zu, dass sie sich mit wirklichen (und nicht bloß selbsterzeugten) „Tatbeständen“ befasse, also mit „faits socials“.

2.  KÖRPER ALS RELIQUIE Thematisch naheliegend, wenngleich in die Sehnsüchte und überhaupt in die Bewusstseinskorridore von Menschen anders eingelagert, sind Reliquien. Ihnen kommt Materialität (als „Sacheigenschaft“) ebenso zu wie eine gewissermaßen transzendentalistische Qualität, die (als Zuschreibung) die materielle Ebene hinter sich lässt. Bei Reliquien dürfte die Objekt-Ebene gegenüber der symbolischen Ebene wohl nahezu immer benachteiligt sein, da das Dingliche nur vordergründig die Sinnebene bestimmt. Tatsächlich sind es die Bedeutungszuweisungen, die einen Knochen, ein Trinkgefäß, ein Gewand oder jedes beliebige andere Artefakt zur Reliquie machen. Der „Beweis“ für die alltagsaufhebende Magie der Reliquie ist nicht in ihrer Materialität zu suchen, sondern in den darauf fußenden Geschichten, denn darin blüht die sakrale Energie auf. Der Reliquienkult inkorporiert eine Ebene, die das hier skizzierte Ineinanderfließen von Artefakten und Menschen in entscheidender Hinsicht übertrifft. Gemäß der Rangfolge, der die katholische Kirche folgt, sind Reliquien „erster Klasse“ Körperbestandteile wertvoller historischer, d. h. heiliger Persönlichkeiten (Knochen, Haare, Blutüberreste, mithin auch Asche). Erst in zweier bzw. dritter Linie folgen die von Heiligen zu Lebzeiten angefassten bzw. von ihren Hinterlassenschaften der „ersten Klasse“ berührten Gegenstände.30 Ein Zusammenspiel von „Anwendung“, wenn man davon bei Reliquien sprechen möchte, und Anwendern ist hier also nachrangig gegenüber der physiologischen Provenienz der „ersten Klasse“. Das wertvollste Ding ist im Katholizismus nicht in eine Netz29 Apter, Emily/Pietz, William (Hg.): Fetichism as Cultural Discourse, Ithaca/London 1993; Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 22006; Endres, Johannes (Hg.): Fetischismus. Grundlagentexte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Berlin 2017. 30 Vgl. Benkel, Thorsten/Klie, Thomas/Meitzler, Matthias: Der Glanz des Lebens. Aschediamant und Erinnerungskörper, Göttingen 2019, S. 10.

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werkumgebung eingespannt, sondern die das Leben gewährleistende und vom Leben übrigbleibende körperliche Struktur des postmortal nicht mehr beseelten und daher toten Leibes. Das Konzept der nur scheintoten, weil insgeheim tätigen und hier und da wirkmächtig erscheinenden Materie, die als (para-)sozialer Einflussfaktor zu berücksichtigen ist, findet im Reliquienkult somit eine ideengeschichtlich nahe und zugleich ferne Vorahnung. Während sich nämlich bei Latour Menschliches und Nicht-Menschliches in ihren Beziehungslinien offenbaren, ist die essentielle Variante der Reliquie gerade in ihrer Materialität allzu-menschlich. Tote Körper repräsentieren generell den Menschen, der dieser Körper einmal war und an den dieser Körper zumindest in der ersten Zeit nach dem Lebensende nach wie vor erinnert. Bei vielen Todesursachen sind äußerlich auf den ersten Blick keine bzw. kaum Veränderungen zwischen einem lebenden (etwa schlafenden) und einem nicht mehr lebendigen Körper auszumachen. Dinglich begleitet wird der tote Körper von prinzipiellen Netzwerkelementen wie der Einkleidung, von menschlichen Prothesen und natürlich auch von artifiziellen Verzierungen (Schmuck, Tätowierungen, Implantate). Zum (gar eigentumsfähigen) Ding selbst wird er zumindest juristisch zu keinem Zeitpunkt.31 Vielmehr kommt Leichen gemeinhin eine sorgfältige, pietätvolle Behandlung zu. Traditionell, aber statistisch rückläufig ist die Erdbestattung auf dem Friedhof. Der biochemische Verwesungsprozess wirkt sich im Laufe der Jahre auf einen erdbestatteten Körper aus und verändert ihn – dies aber bleibt dem Blick verborgen. Die nicht-verwesten Körperbestandteile sind bei der Aushebung eines Grabes (was in Deutschland, sofern Angehörige dies nicht anders beauftragen, nach durchschnittlich 25 Jahren der Fall ist) störende Überreste: die Liegefläche soll schließlich anders belegt werden oder wenigstens anderen Zwecken dienen. Im Fall der toten Heiligen sind die irritierenden Überbleibsel dagegen Beweisstücke der (gewesenen) leibhaftigen Gegenwart und, stellvertretend für die gemeinte Person, gewissermaßen selbst von heiliger Qualität. Damit ist der temporale Charakter – das Gewesensein – zumindest ansatzweise schon wieder relativiert, schließlich bewahrt die Reliquie ja den Glanz der Heiligkeit auf buchstäblich an-greifbare Weise auf. Die Reliquie kann mit dem, was sie war, als sie noch nicht war, was sie ist, schwerlich verglichen werden. Ob die Knochen eines Heiligen schon heilig sind oder waren, als er das bewirkte, was später zu seiner Heiligsprechung beitrug, kann sicherlich besser theologisch denn soziologisch

31 Vgl. Korves, Robert: Eigentumsunfähige Sachen?, Tübingen 2014, S. 106ff.

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erörtert werden. Zumindest als verehrungswürdiger Gegenstand haben sie sich damals noch nicht angeboten; im Nachgang sieht die Sache anders aus.32 Das Konzept der Reliquie scheint ganz und gar der (kirchen-)religiösen Welt zugeschrieben zu sein, einer Welt, die in der soziologischen Betrachtung als Enklave eigener Sinnbestimmungen oder als Teilsystem der überwölbenden Gesamtgesellschaft betrachtet werden kann. Davon getrennt, manche ernüchterten Beobachter würden vielleicht sagen: entfremdet, ist die lebensweltliche Sichtweise von Alltagsakteuren. Gewiss, Religion löst sich heutzutage nicht per se auf, sondern findet in Gegenwartsgesellschaften zahlreiche Ausprägungsformen, denen mitunter lediglich ein dementsprechend eindeutiges Etikett fehlt, um sie als religiös affiziert anzuerkennen. Die Heiligkeit von Körperüberresten markiert im Gegensatz dazu einen spezifischen, folglich nicht leicht adaptierbaren Bedeutungszusammenhang. Die Übernahme in die Alltagsrealität dürfte demnach regelmäßig misslingen, wenn man nicht von vornherein die entsprechende Haltung mitbringt. Ebenso wie Latours Reflexionen zur Mesalliance des Menschlich-Sozialen und des Nicht-Menschlich-Nicht-Sozialen auf den ersten Blick kontrafaktisch wirken, dürfte wohl auch die Vorstellung einer geheiligten Substanz irritieren, die entweder Körperteil ist oder lediglich Berührungsgegenstand. Eine Begründung könnte sein, dass die Netzwerkverbindungen zu Artefakten, aber auch zur natürlichen Umwelt meistens denkbar unmystifiziert stattfinden. Einfacher ausgedrückt: Die Dinge in der alltäglichen Handhabung von Menschen dienen oft (aber keineswegs immer) profanen, ja pragmatischen Zwecken. Die Funktion überlagert dabei die Substanz, um eine begriffliche Dualität von Ernst Cassirer zu bemühen: Die Sache zählt weniger als der Nutzen, den ihre Handhabung verspricht.33 Reliquien ist der Funktionsgedanke nicht fremd. Korrespondierend zur Wirkmacht der Gegenstände können sie eine übersinnliche Kraft entfalten, die bei32 Eine Anekdote am Rande: In der von Hans Giese besorgten, heute kurios zu lesenden Textsammlung über Die sexuelle Perversion findet sich die erstmals 1826 publizierte Fallgeschichte einer Nonne aus dem 18. Jhd., welche „unaufhörlich der Gedanke [quälte]“, was wohl das vermeintlich ungeklärte Schicksal der Vorhaut Jesu sei, die im Zuge seiner Beschneidung abhanden ging (Häußler, Joseph: Abweichungen von der Normalität der Geschlechtsorgane und ihrer Funktionen, in: Giese, Hans (Hg.): Die sexuelle Perversion, Frankfurt a. M. 1967, S. 19–25, hier S. 23). Ohnehin war dieses Hautstück im Mittelalter offenkundig eine umkämpfte Reliquie, die – so will es der Mythos – schließlich als Ring am Finger der Katharina von Siena landete (Daxelmüller, Christoph: Süße Nägel der Passion. Die Geschichte der Selbstkreuzigung von Franz von Assisi bis heute, Düsseldorf 2001, S. 70). 33 Vgl. Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt 1980.

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spielsweise der Linderung bei Krankheit zuarbeitet. Theologinnen und Theologen mögen diskutieren, ob entsprechende Effekte nun von den Dingen ausgelöst werden, ob sie – aus göttlicher Quelle kommend – durch sie hindurch wirken, oder ob die Idee der gegenständlichen Macht grundsätzlich nicht haltbar ist. Jedenfalls gibt es Narrative, die solche Wirkungen bestimmten Reliquien unterstellen, und solange entsprechende Meldungen ernst genommen werden, sind sie für die, die ihnen folgen und sich an ihnen orientieren, Realität. Diese Glaubenswirklichkeit korrespondiert mit der Idee von Mensch-Ding-Verbindungen, seien sie nun von Latour oder von anderen Autoren entwickelt, auf vielschichtige Weise. Voraussetzung dafür ist, dass es tatsächlich um künstliche Erzeugungen geht; man muss also von der durchaus fragwürdigen, aber gleichwohl populären Dichotomie von Natur und Kultur lassen, um dem Gedankengang näher folgen zu können.34 Einerseits ist auch die Überzeugung, mit Objekten des Alltags – wie gesagt, mit Artefakten35 – eine sachdienliche Funktion zu erwirtschaften, insoweit „Glaubenswirklichkeit“, als den Objekten ein Widerstand immanent ist. Der lateinische Ausdruck für „das Entgegenstehende“, obicere, ist die Abstammungsvokabel des Objektsbegriffs. Objekte können – in diesem Sinne – aus vielen Gründen störrisch, ja geradezu dysfunktional sein. Wie bereits angedeutet, zeigt sich gerade in der Enttäuschung, die solches Nichtfunktionieren auszulösen vermag, die Abhän34 Entsprechende Munition geben auch in diesem Kontext Latours Überlegungen, wonach Natur kein Konstrukt ist, sondern das, was entdeckt wird – nicht ohne aktive Mitwirkung der Natur. Beide Seiten sind beteiligt, sie verschlingen oder unterdrücken sich aber nicht. Menschen leben „weder in einer Gesellschaft […], die auf eine Naturwelt schaut, noch in einer Naturwelt, die Gesellschaft als einen ihrer Bestandteile enthält.“ (Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2002, S. 211f.) In der Tradition des Konstruktivismus (sei er nun sozial, radikal, sprachlich, sei er als „Konstruktionismus“ oder sonst irgendwie konnotiert) sieht Latour sich ohnehin nicht (vgl. Hacking, Ian: Was heißt soziale Konstruktion? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt a. M. 21999). Es gibt in seinem Theoriegebäude durchaus Platz für „Objektivität“, wenngleich darunter jene Sachverhalte fallen, die wirksam, aber schlichtweg noch nicht entdeckt worden sind – also: Entitäten, die bis zu ihrer Entdeckung ohne die Aufmerksamkeit von Subjekten ausgekommen und daher nur mehr „objektiv“ gewesen sind. 35 Dies schon deshalb, weil ansonsten überlegt werden müsste, ob und welche Funktion die (ökologische) Natur ausübt. Dazu gibt es vielfältige Wortmeldungen, die aber nichts an der generellen Indifferenz ändern können, welche sich aus dem Umstand ergibt, dass es offenbar eine Natur „vor dem Menschen“ gab. Ihre Funktion wird nachträglich (re-) konstruiert, aber Bäume, Berge, Gewässer usw. haben schon existiert, als noch keiner darüber nachdachte.

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gigkeit menschlicher von nicht-menschlichen „Handelnden“. Der defekte Laptop verhindert im Schnellzug der Bahn das Fortschreiben des wissenschaftlichen Aufsatzes36, und gute bzw. schlechte Worte ändern daran ebenso wenig wie magische Beschwörungsformeln oder brachiale Zornesanfälle. Der dingliche Freund wird in solchen Momenten ad hoc zum Feind, und selbst seine Vernichtung ändert nichts an der bestehenden Abhängigkeit, sondern bestätigt sie nur im Gewand des schwerwiegenden affektiven Betroffenseins. Andererseits ist das Funktionieren, sind also die Sachdienlichkeit und die Sinnhaftigkeit eines Objekts schwerlich zu trennen von alternativen Inanspruchnahmen. Es wäre trivial, das Universum der Artefakte als Ansammlung materiell gewordener Zweckdienlichkeit zu verstehen. Gegenstände ändern im Zugriff von Menschen ihre Bedeutung, und trotzdem bleiben sie bedeutsam. Gerade die Umdeutung gibt ihnen Relevanz: Das Souvenir, das an den Urlaub erinnert; das Erinnerungsobjekt, das einem Verstorbenen gehörte; das Andenken an einen Menschen, der jetzt und hier nicht gegenwärtig ist – all dies sind sekundäre Funktionen von Dingen, die ihre Ursprünglichkeit womöglich vollständig aufgegeben haben und die zum Beispiel auch defekt sein können, ohne dass dies ihrer „Verwendung“ Abbruch tut. Abstand zu nehmen von einer ursprünglichen Funktionslogik ist eine Leistung, die sämtliche Dinge im Einklang mit menschlichen Akteuren vollbringen können.37 Bei Gegenständen finden solche Verwandlungen von Zwecken in Werte weitgehend stillschweigend statt. Die dazu gehörende Nostalgie, vielleicht sogar Melancholie wird von menschlichen Beobachtern den Objekten zugesprochen. Womöglich sollte man Reliquien in genau dieses Licht stellen und sie als totaltransformierte Träger einer nahezu transzendentalen Funktion ansehen, die einmal ganz anders, nämlich schlichtweg zweckdienlich war in einer Zeit, als der Zweck noch die Mittel heiligte – und nicht die Heiligkeit das Mittel war, den Zweck gegen den Selbstzweck aufzustellen.

36 Diese Bedrohung ist nicht pauschal als abstrakt anzusehen. Der vorliegende Aufsatz entstand (unter anderem) in der genannten Situation, bei welcher die negative Mitwirkung des Dings – sein Nichtfunktionieren – ein offen eingegangenes Risiko darstellt. Es gibt wenig Handlungsspielraum, dieses Risiko wirkungsvoll einzudämmen. Das technische Gegenüber kann jederzeit seine Unzuverlässigkeit offenbaren; dem menschlichen Akteur bleibt dann nichts Anderes übrig, als zumindest diesbezüglich die Verdammnis zur untätigen Passivität hinzunehmen. 37 Museen sind die Institutionalisierung solcher Abstände. In einem althistorischen Museum ist kaum ein Artefakt der Antike denkbar, dass nicht der neuen „Tätigkeit“, der passiven Betrachtung, zugeführt würde.

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3.  DIE MACHT DER ANEIGNUNG Den Geist der Reliquie in einem Gegenstand aufzuspüren, der ihr entspricht und doch zugleich nicht, weil er nicht heilig ist, obwohl er eine transzendente Spur aufweist, ist keine einfache Aufgabe in einer von Materialität zwar massiv umstellten Welt, in der eben deshalb die Funktionslosigkeit rar ist. Man könnte, wenn man sich dieser reizvollen Aufgabe stellen wollte, eventuell in der Kunst fündig werden, wo es bekanntlich aufdringlich darum geht, dem Verwertungskalkül der anderen gesellschaftlichen Bereiche (die Religion übrigens eingeschlossen) ein Schnippchen zu schlagen.38 Gegenüber Instrumentalisierungen zu niederen, allemal kommerziellen Zwecken ist die Kunst nun aber nicht immun. Im Gegenteil, die irdischen Erträge durch ästhetische Werke dürfen den gerne beschworenen und insbesondere in Feuilletons besungenen übersinnlichen Gewinn mittlerweile im Großen und Ganzen ausstechen. Dass sich eine Gesellschaft den Luxus erlaubt, plakative Funktionslosigkeit zu funktionalisieren, damit das Ungleiche insgeheim doch wieder anderen zentralen gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen gleicht, ist ein Geheimnis, um dessen Entbergung die Kunstsoziologie und zum Teil auch die Kunstphilosophie seit jeher bemüht sind. Ganz fern der Ästhetik steht das Beispiel nicht, das nachfolgend bewusst in jene genealogische Linie gerückt wird, die die zahlreichen Reliquiensammlungen der Welt dereinst begründet haben. Im Rahmen eines empirischen Forschungsprojekts zu Artefakt und Erinnerung, einer theologisch-soziologischen Koproduktion der Universitäten Rostock und Passau, wurde ab Oktober 2018 ein Sachzusammenhang näher beleuchtet, der zwei wesentliche Bedingungen erfüllt. Zum einen geht es um einen künstlichen Gegenstand mit originärem kulturgeschichtlichem Hintergrund, der aber zum zweiten jene Anforderung erfüllt, die Reliquien nur in erstklassiger Formation aufweisen: er entstammt menschlichen Körperüberresten. Seit 2004 bietet ein Schweizer Unternehmen die auch in den USA, in Russland und anderswo offerierte Möglichkeit, die Kremationsasche Verstorbener in einen Edelstein zu verwandeln. Technisch geschieht dies über die Extraktion des Kohlenstoffanteils aus der Asche, der sukzessive unter Laborbedingungen den Verhältnissen ausgesetzt wird, die auch bei der Diamantentstehung im Erdinneren vorherrschen.39 Nachdem die Asche bei dem besagten Anbieter eingetroffen ist und die Formalitäten der Beauftragung geregelt sind (was keine Nebensächlich38 Vgl. Benkel, Thorsten: Die Bedeutung der Kunst und die Kunst der Bedeutung. Eine soziologische Nachforschung, in: Ders./Dippner, Anett: Zeichen der Ästhetik, Hamburg 2009, S. 9–92. 39 Details zum Gesamtkomplex bei Th. Benkel/Th. Klie/M. Meitzler: Der Glanz des Lebens.

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keit ist angesichts des Umstandes, dass etwa die deutschen Länderbestattungsgesetze diese Praxis ganz überwiegend verbieten), dauert es einige Wochen bzw. Monate, bis das glänzende Juwel an Hals oder Finger getragen werden kann. Über technische Vermittlungsschritte, deren genauer Ablauf für die Kunden, die sich diesen „Erinnerungsdiamanten“ wünschen, aufgrund der naturwissenschaftlichen Fachspezifik unklar bleiben dürfte, greift hier eine Art Expansion gezielter postmortaler Entwicklungsmöglichkeit des Körpers. Eine Leiche wird zuerst kremiert, d. h. durch einen Oxydationsprozess einem wesentlich anderen, nämlich körperauflösenden bzw. -desintegrierenden Zustand zugeführt. Die hochabstrakte Form, die ein Aschehaufen im Vergleich zu einer Leiche darstellt, wird sodann in einem anderen Ablaufschritt zum Diamanten. Morphologisch ist die Entfremdung maximal, was Gestalt, Größe, Gewicht usw. betrifft, und doch ist der Edelstein für diejenigen, die ihn beauftragt haben, häufig eine wirkliche, d. h. wirkmächtige Verkörperung der geliebten und verlorenen Person. Dies zumindest legen die in dem Projekt erhobenen Interviewdaten mit 49 Personen nahe, die einen oder mehrere Diamanten beauftragt und erhalten haben. Viele von ihnen treten in eine parasoziale Kommunikation mit dem Juwel, das nicht als dinglich, sondern als dinglich-beseelt angesehen wird. Die humanoide Basis seiner Materialität vermischt sich mit den Gedenkleistungen der Hinterbliebenen und schafft etwas Neues, das so neu nicht ist: Es liegt ein Gegenstand vor, der nun ganz ausdrücklich als soziales Wesen begriffen wird. Auch wenn die Diamanten in der mehrheitlichen Betrachtung ihrer Auftraggeber ausdrücklich nicht „Nichtmenschen“ sind: Man kann hier durchaus ein „Akteur-Netzwerk“ ausmachen, und man könnte die Position vertreten, dass Materialität in diesem Fall einen nicht haptisch „empfindbaren“, aber doch gewussten quasi-humanoiden Kern aufweist. Dieses Wissen ist tatsächlich eine psychologische Projektionsleistung, die nur dann funktioniert, wenn bestimmte Prämissen akzeptiert werden. So setzt beispielsweise die „Aufladung“ des Edelsteins mit parasozialer Substanz voraus, dass zentrale „Menscheneigenschaften“ vor allem im Kohlenstoff des gestorbenen Körpers abgelagert sind. Zumindest müsste man davon ausgehen, dass der Kohlenstoff ebenso repräsentativ für den Menschen ist, wie andere Restelemente (oder wie manifeste Körperüberreste). Die Mitwirkung kultureller Denkmuster ist evident. Die Leiche, Inbegriff des Todes und damit eines gewesenen Lebens, ist in der Bewertung vieler Menschen (übrigens auch vieler Interviewpartner) keine sinnvolle materielle Repräsentation der/des Verstorbenen.40 Der Diamant, eine „gebrochene“, weil verwandelte materielle Subs40 Konsequenterweise taucht sie, soweit dies zu überblicken ist, in Latours Theorie auch nicht als Aktantenformation auf (vgl. Benkel, Thorsten: Das Schweigen des toten Körpers, in: Ders./Meitzler, Matthias: Sinnbilder und Abschiedsgesten. Soziale Elemente

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tanz, kann als eine solche Repräsentation aber doch angenommen werden. Seine symbolischen Insignien – Glanz, Ästhetik, ökonomischer Wert usw. – lassen die Adaption des Juwels in die Lebenswelt der Angehörigen ausdrücklich zu. Ein Zuhause aufgestellter oder im Garten vergrabener Sarg würde gegenwärtig wohl weit weniger bereitwillig als „Werteträger“ im Trauerprozess gedeutet werden, von den juristischen Problemen ganz abgesehen. Eine spannende Frage dürfte vor diesem Hintergrund sein, ob Hinterbliebene gegenüber einer Urne mit Kremationsasche eine stärkere Verbundenheit empfinden als gegenüber einem daraus hergestellten Diamanten. Hinsichtlich der quantitativen Akzeptanz scheint die Urne als „körperliches/körperartiges“ Souvenir beliebter zu sein, im Kontext artefaktgestützten Gedenkens haben zeitdiagonistische Befunde aber nur eine eingeschränkte Aussagekraft. Schon in wenigen Jahren können die Verhältnisse sich verändern, und das werden sie vermutlich auch. Im Zuge der Pluralisierung und Ausdifferenzierung gerade der Sepulkralkultur wird es noch viele andere, bald körpernahe, bald körperferne Konzepte geben, die um die Anerkennung der Überlebenden konkurrieren. Wenn die Innovationsdichte sich nicht wesentlich verringert und die Regularien nicht noch strenger werden, ist auf dem ökonomischen und symbolischen Markt der Erinnerungsmaterialität mit Zuspitzungen zu rechnen – und mit Angeboten, die heute noch gar nicht denkbar sind. In gewisser Hinsicht können die Artefakte im Kontext des Todes, und insbesondere die reliquienähnlichen, am toten Körper gewonnenen, buchstäblich „letzten Dinge“, als Anfechtungen etablierter Bilder vom Status des Subjekts gelten. In einer Gesellschaft, in der nur lebendige Menschen als Akteure in Betracht kommen, wird um die Zuerkennung der Lebendigkeit gekämpft.41 Tiere oder Maschinen mit künstlicher Intelligenz befinden sich gemäß mancher Debatte diesbezüglich schon/noch/wieder/erst in einer Grauzone, und bekanntlich werden ähnliche Fragen auch im Zusammenhang mit der Frage nach dem Beginn des Lebens diskutiert.42 Vielleicht ist die Überlegung, wer oder was Akteur ist (oder nicht), schon zu spezifisch. Die Tiere, die Dinge, die Föten, sie sind längst als „Umder Bestattungskultur, Hamburg 2013, S. 15–92, hier S. 40f.). Bemerkenswert ist in diesem Lichte Latours lapidare Formulierung „Laßt die Toten die Toten begraben“ (B. Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 24). 41 Vgl. Graumann, Sigrid/Lindemann, Gesa: Medizinsoziologie, in: Kneer, Georg/Schroer, Markus (Hg.): Handbuch Spezielle Soziologien, Wiesbaden 2010, S. 295–307, hier S. 302. 42 Vgl. Reitinger, Patrick: „Leben“ als unverbindliches Konstrukt? Verräumlichungs- und Vergesellschaftungsprozesse am Lebensbeginn, in: Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias (Hg.): Zwischen Leben und Tod. Sozialwissenschaftliche Grenzgänge, Wiesbaden 2018, S. 33–50.

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welt“ anerkannt und damit können sie, zumal angesichts der anfangs skizzierten Janusköpfigkeit des Begriffs, auch als Teil der „Natur“ des Menschen verstanden werden. Einer Natur freilich, die nicht biologisches Wachstum, Zellteilung oder Sterblichkeit als Belastungskriterien nimmt, sondern die faktische Bedeutsamkeit im lebensweltlichen Alltag. In der Perspektive eines Menschen, der seinen Hund als „Sozialpartner“ interpretiert, sind Argumente, die die Subjekthaftigkeit des Tieres hinterfragen, wirkungslos für das „Funktionieren“ der Beziehung. Wer sich mit Chatbots streitet und nicht weiß, dass sein Gegenüber eine Maschine ist, wird authentisch wütend. Wer im Gebet Trost findet, weil Gott ihm zuhört, geht aus dieser Situation gestärkt heraus, ohne sich darüber den Kopf zerbrechen müssen, ob es dabei um „Intersubjektivität“ ging. Und wer einen Diamanten als Sinnbild einer verstorbenen Person, ja sogar als transformierte körperliche Fortexistenz deutet und sich emotional entsprechend verhält, gibt die Definitionsmacht nicht deshalb an andere ab, weil diese befremdet darauf reagieren. Man kann Lebendigkeits-, Subjekt- und auch Akteurszustände offenkundig autonom für sich selbst klären. Ob dies dem Stand der wissenschaftlichen Expertenkultur entspricht, ist für die Einrichtung eines Lebens in den meisten Fällen vermutlich irrelevant. Das innovative Potenzial, das in der Entdeckung „sozialer“ Dinge liegt, ist – so gesehen – in den Konzepten sozialer Tiere, sozialer Kommunikationsmaschinen und natürlich auch sozial wirksamer Reliquien schon angelegt. Im Funkeln des Diamanten die Bilder der Erinnerung an eine andere Zeit, an wertvolle Momente, an intersubjektive Erfahrungen zu entdecken, ist ein assoziatives Manöver im Bewusstsein derer, die sich erinnern. Gelingt es, dann deshalb, weil das Bewusstsein sich im Zuge des Gedenkens nicht selbst genügen muss, sondern sich mit einer materiellen Repräsentation verbinden kann (dem Edelstein), die ihrerseits eine materielle Repräsentation ist (des toten Körpers). Dass Sehnsüchte und Sachen zusammengehören, ist jedem klar, der einmal ein Kleinkind im Umgang mit seinem Teddybären beobachtet hat.43 In diamantener Form ist dieser Zusammenhang geradezu exaltiert, aber das sind Diamanten in gewisser Hinsicht ohnehin. Das glänzende Extrem beweist, dass die Dinge mehr sein können, als Menschen in ihnen gemeinhin sehen – wenn sie beginnen, die eigene (Um-)Welt anders wahrzunehmen.

43 Zu den psychoanalytischen Implikationen vgl. Winnicott, Donald W.: Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. Eine Studie über den ersten, nicht zum Selbst gehörenden Besitz, in: Psyche 23, Heft 9 (1969), S. 666–682.

II. Theologie im Dingdiskurs

Sakrament des Zigarettenstummels? Reliquien des Heiligen in der katholischen Tradition Christian Bauer

Ein altes Fahrradritzel, übrig geblieben nach einer dreimonatigen Radtour von Marseille nach Marrakesch. Ein Pakt, den ich auf unserer Hochzeitsreise mit meiner Frau geschlossen habe. Die ersten Schuhe meines Sohnes Frederik und meiner Tochter Anne. Der Pull meines ersten Fallschirmsprungs. Eine postmodern hochinteressante Madonna mit kopflosem Jesuskind vom Speicher meiner Urgroßeltern. Ein Stück Teppichboden aus meinem alten Tübinger Assistentenzimmer. Ein Döschen mit Sand vom Strand der Landung der Alliierten in der Normandie. Die Armbanduhr eines indischen Freundes. Die Rückennummer meines ersten Halbmarathons All diese (und noch viel mehr) für mich höchst wertvollen biographischen Relikte (also: Überbleibsel) finden sich in der kleinen „Reliquienecke“ meines Innsbrucker Dienstzimmers. Inmitten all der „ach so“ bedeutsamen Universitätsdinge erinnern sie daran, dass es weitaus Wichtigeres gibt. An das, was wirklich zählt, was wirklich wichtig ist im Leben – und was man im Alltag doch schnell aus dem Blick verliert, wenn es keine materiellen Anhaltspunkte dafür gibt. Mit anderen Worten: Sie zeigen, was mir heilig ist. Der französische Ethnologe Michel Leiris stellt die in diesem Zusammenhang entscheidende autoethnographische Grundfrage: „Was ist für mich das Heilige? Oder genauer: Worin besteht mein Heiliges? Welche Gegenstände […] erwecken in mir jene Mischung aus Furcht und Hingabe […], die als das […] Anzeichen des Heiligen gelten kann? Es geht […] darum, […] die Momente aufzudecken, welche […] zur Bestimmung der Grenze beitragen können, von der an ich weiß, dass ich mich nicht mehr auf dem Boden der gewöhnlichen […] Dinge bewege.“1 1 Leiris, Michel: Das Heilige im Alltagsleben, in: Ders.: Die eigene und die fremde Kultur. Ethnologische Schriften 1, Frankfurt a. M. 1985, S. 228.

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Im Folgenden möchte ich mit Ihnen gerne den Boden der gewöhnlichen Dinge verlassen und zeigen, was aus katholischer Sicht das Materielle und das Heilige miteinander zu tun haben. Denn nicht jedes Relikt ist auch gleich eine Reliquie. Eine materielle Hinterlassenschaft wird erst durch ihre Verehrung dazu, durch ihre Wahrnehmung als etwas Besonderes, ja Heiliges – dadurch, dass sie ein Mehr repräsentiert: ein Mehr an Nähe zur eigenen Jugend, ein Mehr an Nähe zu geliebten Menschen, vielleicht auch ein Mehr an Nähe zu Gott. Eine nichttheologische Rahmentheorie für diesen „Mehrwert“ von Reliquien bietet Bruno Latour, der auf dieser Tagung bestimmt schon den einen oder anderen Auftritt hatte. Seine AkteurNetzwerk-Theorie geht von einer flachen Welt ohne Metaposition aus, in der man den konkreten Akteurinnen und Akteuren zu folgen habe. Der soziologische Clou dabei ist, dass Latour zufolge nicht nur Menschen, sondern auch Dinge soziale Akteure sein können – zum Beispiel auch christliche Reliquien. Mit Stefan Altmeyer lassen diese sich als materielle „Prothesen“2 des Glaubens verstehen, die deutlich machen: „Alles ist materiell, aber das Materielle ist nicht alles“3. Es weist vielmehr über sich hinaus, es trägt eine Signatur der Transzendenz. Ich beginne diese immanenztheologischen Erkundungen des Transzendenten mit einer ganz besonderen, weil narrativen Reliquientheorie (1.). Diese lässt mich dann in einem zweiten Schritt nach der sakramentalen Materialität des Heiligen (2.) fragen – um von dorther abschießend in einem dritten Schritt eine jesuanische Überschreitung des Reliquienkultes auf das Feld christlicher Nachfolgewege zu diskutieren (3.). Im Kern geht es dabei um folgende Frage: Lässt sich mit Reliquien heute noch etwas theologisch Sinnvolles und spirituell Bedeutsames anfangen? Ob das Ganze am Ende dann, wie es im mir aufgetragenen Untertitel heißt, etwas spezifisch Katholisches gewesen sein wird, mögen Sie bitte selbst entscheiden.

1.  N ARRATIVE RELIQUIENTHEORIE – POETISCHER ANGANG MIT MARTIN WALSER Beginnen wir mit einem Stück Poesie. Der – katholische – Schriftsteller Martin Walser veröffentlichte 2010 seine Novelle Mein Jenseits. Diese stellt nicht nur so etwas wie ein „Glaubensbekenntnis in erzählter Form“4 dar, sondern bietet auch eine implizite, weil narrative und in ihrem Subtext eben sehr „katholische“ Re2 Altmeyer, Stefan: Materialitäten in der (Praktischen) Theologie; noch unveröffentlichtes Manuskript eines am 11. Oktober 2018 in Tübingen gehaltenen Vortrags. 3 S. Altmeyer: Materialitäten. 4 SZ-Rezension von Thomas Steinfeld vgl. www.perlentaucher.de/buch/martin-walser/ mein-jenseits.html (Zugriff 02.10.2019).

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liquientheorie. Sie beginnt mit einer Reise des – wie Walser – am Bodensee lebenden Ich-Erzählers Augustin Feinlein, Leiter einer psychiatrischen Klinik, nach Rom. Feinlein fährt immer wieder dorthin, um in „Kirchenräumen zu atmen“5. Der Leser und die Leserin folgen ihm in die römische Basilika San Agostino, wo Caravaggios Madonna dei Pellegrini zu sehen ist: „Man steht dann genau auf dem Punkt, von dem aus Caravaggio das Bild […] gemalt hat. Schräg hinter den zwei Pilgern, die vor der Madonna knien und zu ihr hinaufschauen. […] Ein wenig verdeckt der Mann seine rechts von ihm kniende Frau. […] Er ist mindestens so wichtig wie die, zu der beide beten. Barfuß kniet er […]. Seine […] nackten Sohlen sind so wichtig wie das […] herabgeneigte Gesicht der Madonna […].“6

Die „erdigen Fußsohlen“7 des Pilgers kontrastieren mit den grazil tänzelnden „feinen Füßen“8 der Madonna: diesseitige, irdische Armut begegnet jenseitiger, himmlischer Schönheit. Denn, so Walser im Gedankenstrom des Erzählers: „Das Jenseits muss schön sein. Sonst kannst Du es gleich vergessen.“9 Und weiter: „Rom ist, wo du hinschaust, schön.“10 Daher gilt für ihn: „Rom ist mein Jenseits.“11 Dieses sehr diesseitige „Jenseits“ ist in Walsers Novelle auch im Fall der Madonna dei Pellegrini höchst attraktiv: die Mutter Gottes ist hier eine „schöne Römerin“12 aus der Zeit Caravaggios – noch einmal Walser in der Stimme Feinleins: „Die Caravaggio-Madonna hat es gegeben. Sie ist mein Jenseits. An sie zu glauben ist einfach. Durch sie wird die Welt schöner als sie ist.“13

Mit dieser sehr diesseitigen, innerweltlich überweltlichen Schönheit von Feinleins bzw. Walsers Jenseits ist bereits alles präfiguriert, was in der Novelle dann später noch über Reliquien gesagt wird. Denn Reliquien materialisieren dieses Jenseits in exemplarischer Weise. Der profane Alltag mit seinen realen Menschen und Dingen wird durchscheinend für die Sphäre des Heiligen. Dabei geht es dann 5 Walser, Martin: Mein Jenseits, Berlin 2010, S. 27. 6 Ebd., S. 30f. 7 Ebd., S. 31. 8 Ebd., S. 32. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 29. 11 Ebd., S. 36. 12 Ebd., S. 37. 13 Ebd., S. 74.

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nicht mehr nur um die „Transzendenz der Immanenz“ (wie noch im grandiosen Werk Karl Rahners), sondern mit Rahner über ihn hinaus um die „Immanenz der Transzendenz“14. Feinlein schreibt an einem entsprechenden Buch über Reliquien, dessen Arbeitstitel denn auch „Mein Jenseits“15 lautet. Er ist aber nicht nur „nebenberuflicher“ Reliquienforscher, sondern auch ein Nachfahre eben jenes Abtes Eusebius Feinlein, dessen 1803 säkularisiertes Kloster im fiktiven Ort Scherblingen heute die von Augustin geleitete Psychiatrie beherbergt und der außerdem selbst über Reliquien forschte. Eusebius wollte sie „gegen ihre Erklärer verteidigen“16, also gegen die Aufklärer und ihre vernunftbetonte Entzauberung der Welt. Unabhängig von der Echtheit der Reliquien faszinierte ihn – wie dann auch Augustin Feinlein – ihre „unaussprechlich große Kraft“17 zur Verzauberung des Lebens: „Die Wirkung dieser Reliquien imponierten dem Vorfahr mehr als die Erklärungen.“18 Damit ist ein zentrales Problem berührt, dessen Bearbeitung unsere Frage nach einer „katholischen“ Reliquientheologie weiter voranbringt: „Kann eine Reliquie falsch sein? Nein. Sie wird ja erst durch den Glauben geheiligt beziehungsweise echt. Unsere […] Vorfahren haben auch gewusst, was man wissen kann. Aber sie haben auch geglaubt, was sie glauben wollten. […] Ohne das Geglaubte wäre die Welt immer noch wüst und leer. […] Wir glauben mehr als wir wissen. […] Es ist nicht wichtig, dass Reliquien echt sind. […] Wie echt eine Reliquie ist, hängt davon ab, wie sehr du glauben kannst. Glauben ist eine Fähigkeit. Eine Begabung. Eine Kraft.“19

Walser alias Feinlein fällt mit seiner Reliquientheorie nicht hinter die Aufklärung zurück – aber er bleibt eben auch nicht dort stehen. Gleich zwei Mal findet sich auf den nachfolgenden Seiten ein Satz, mit dem Walser sein entsprechendes „Jenseits“ definiert: „Glauben, was nicht ist. Dass es sei.“20 – „Glauben, was nicht ist. Dass es

14 Mündliche Äußerung von Prof. Dr. Michael Schüßler (Tübingen). Der grundlegend immanenzorientierte Soziologe Bruno Latour spricht von einer „Transzendenz ohne Gegenteil“ und fragt: „Wer hat uns gesagt, dass Transzendenz ein Gegenteil haben muss?“ (vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, S. 172f.). 15 Vgl. E. Walser: Mein Jenseits, S. 107. 16 Ebd., S. 53. 17 Ebd., S. 57. 18 Ebd., S. 56f. 19 Ebd., S. 57f; 77. 20 Ebd., S. 80; wortgleich S. 112.

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sei.“21 Für ihn ist der Glaube eine „Verschönerung der Welt“22 in dem Sinne, dass er die „Welt schöner macht als das Wissen“23 – ja es gilt sogar: „Glauben heißt, die Welt so schön zu machen, wie sie nicht ist.“24 Diese strikt diesseitsbezogene Ästhetik von Glauben und Wissen materialisiert bei Martin Walser das Jenseits in weltimmanenter Schönheit, gewürzt mit einer Prise entmythologisiertem Glaubensexistenzialismus à la Bultmann. Wahre Transzendenz bleibt jedoch ungesagt: „Gäbe es Gott, dann gäbe es kein Wort dafür.“25 Oder, ganz wunderbar anders ausgedrückt: „Wir sind ein Echo von etwas, das wir nicht kennen.“26 Immanentes als Resonanzraum des Transzendenten. Glauben heißt für Walser daher: zu einem „leeren Himmel beten“27. In einer Rezension der NZZ war zu lesen, seine Reliquien-Novelle sei eine „semiotische Variation über das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem“28. Das ist richtig. Denn es fragt sich ja auch hier, angesichts dieses material „leeren“ Materieglaubens: Inwiefern verweist, beispielsweise im Falle einer Reliquie, das Zeichen auf das Bezeichnete? Ist es – mit dem Semiotiker Charles S. Peirce gefragt – ein indexikalisches, ein ikonisches oder ein symbolisches Zeichen? Je nachdem verändert sich die Antwort auf die Frage nach der Echtheit. Ist das Zeichen selbst schon das Bezeichnete? Oder verweist es nur darauf? Walsers zeichentheoretische Antwort billigt dem sprachlichen Zeichen „Gott“, das auf eine prinzipielle Ent21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 81. 24 Ebd., S. 114. 25 Ebd., S. 82. 26 Ebd., S. 68. 27 Ebd., S. 114. Feinlein glaubt an die sprachliche Existenz des Himmels auf Erden, an seine diskursive Wirksamkeit: „Ich weiß, dass es den Himmel nicht gibt. Aber es gibt das Wort mit allem Drum und Dran. Genau so die Hölle. Natürlich gibt es sie nicht. Aber wir haben sie geerbt. Himmel und Hölle. […] Himmel und Hölle existieren, ohne dass wir daran glauben.“ (ebd., S. 78). Walser selbst sagte einmal in einem Gedicht von sich: „ich glaube nichts und ich knie“ (Walser, Martin: Heilige Brocken. Aufsätze – Prosa – Gedichte, Frankfurt 1988, S. 74). Man meint den religiösen Agnostiker Walser sprechen zu hören, wenn Feinlein von einem „unaufhörlichen Hin und Her zwischen Glaubensollen und Nichtglaubenkönnen“ (E. Walser: Mein Jenseits, S. 58) schreibt und von der Notwendigkeit, „Wörter zu suchen für ein Glaubensgefühl“ (ebd., S. 58), das dem entspricht. Die Leere in der Mitte seines Glaubenwollens (aber nicht -könnens) ist für Walser eine gefasste Leere, eine „Leere mit Goldrand.“ (ebd., S. 67). 28 NZZ-Rezension von Roman Bucheli vgl. www.perlentaucher.de/buch/martin-walser/ mein-jenseits.html (Zugriff 02.10.2019).

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zogenheit verweist, eine eigene Performanz zu. In „scholastisch“ abwägendem Einerseits – Andererseits heißt es bei ihm: „Gäbe es Gott, könnten wir nicht von ihm sprechen. Dann gäbe es das Wort nicht. Das Wort gibt es, weil es ihn nicht gibt. […] Andererseits. […] Wenn es Gott nicht gäbe, könnte man nicht sagen, dass es ihn nicht gibt. Wer sagt, es gebe ihn nicht, hat doch schon von ihm gesprochen. Eine Verneinung vermag nichts gegen ein Hauptwort.“29

Auch dieses versteckte Credo Walsers darf jedoch nicht ohne Brechung für wahr gehalten werden (Walser: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“), denn: Mein Jenseits ist gattungsmäßig eine Novelle, also ein um eine „unerhörte Begebenheit“30 herumgebautes Kurznarrativ. Die unerhörte Begebenheit, die in diesem Fall alles bis dahin Gesagte aushebelt und in die Schwebe bringt, besteht darin, dass Feinlein aus der Scherblinger Klosterkirche eine Heiligblut-Reliquie entwendet, an deren Erforschung er „irre“ wird: Ist sie echt? Oder handelt es sich um eine Fälschung? Und: Was meint in diesem Zusammenhang eigentlich Echtheit oder Fälschung? Für ihn ist dabei weder Glaube noch Unglaube31 eine wirkliche Option. Sondern eher schon eine kognitive Dissoziierung von Wissen und Glauben, die ein spirituelles Komplexitätsniveau markiert, unterhalb dessen katholische Reliquienverehrung heute nicht mehr denkbar ist: „So tun, als sei das Blut echt, ist mir genauso unangenehm wie, das alles für ein Verdummungsmanöver zu halten. Wissen, dass das Blut nicht echt ist, aber glauben, dass es echt sei, das wäre das, was die Reliquie zu einem unvergänglichen Schatz machen würde.“32

Und dann geschieht das Unerwartete: In der Nacht vor dem alljährlichen „Spektakel“33 des Scherblinger Blutritts entwendet Feinlein34 die kreuzförmige Reliquie, 29 E. Walser: Mein Jenseits, S. 112. 30 Johann Wolfgang von Goethe nach Trunz, Erich [Hg.]: Goethes Werke (Bd. VI), Hamburg 1960, S. 726. 31 Vgl. de Certeau, Michel: La faiblesse de croire, Paris 1987, S. 223 zu dieser diskursöffnenden Denkform des „weder-noch“, also: weder „Entweder – oder“ noch „Sowohl – als auch“. 32 E. Walser: Mein Jenseits, S. 107. 33 Ebd., S. 111. 34 Mit diesem Diebstahl sieht er sich in der Nachfolge älterer Reliquienschützer. So wie im Jahre 1525 der damalige Abt die Scherblinger Blutreliquie vor „revoltierenden Bauern“ als den Vorboten der späteren Aufklärer gerettet hatte, so sah Feinlein sich als deren abermaligen Retter: „Die herablassende Duldung, mit der die Gebildeten, egal ob

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deren Beschreibung ziemlich exakt der Weingartener Blutreliquie35 entspricht. Der Ich-Erzähler berichtet, was sich danach ereignete: „Es passierte nichts. Der Blutritt fand statt wie jedes Jahr, gesegnet wurde mit einer Monstranz, die man wahrscheinlich aus einem der Klöster zwischen Donau und Bodensee ausgeliehen hatte. Jetzt hätte nur gefehlt, dass die Geistlichkeit bekanntgegeben hätte, man segne heute mit einer Ersatzmonstranz, das dürfe aber weder dem Glauben noch seinen Wirkungen einen Abbruch tun. Das wäre der Anfang gewesen zu einer neuen Glaubenspraxis.“36

Feinlein denkt sich: „Wenn ich Mein Jenseits publiziere, werde ich die Reliquie zurückgeben. Dann wird bewiesen sein, dass es nicht wichtig ist, ob Reliquien echt oder unecht sind. […] Die Geistlichkeit lässt die Gläubigen, die zu Tausenden der Weg der Pferdeprozession säumen, im Glauben, sie würden mit der Heiligblut-Reliquie gesegnet. Das war der Beweis, dass die Kirche selber nicht mehr an die Echtheit der Reliquie glaubt. […] Ich bin der Meinung, dass eine Reliquie nicht echt sein muss, um verehrt werden zu können. Aber das muss gesagt werden. […] Der Glaube der Gläubigen macht jeden verehrten Gegenstand zu einem Heiligtum.“37

Die amtliche Kirche müsse, so Feinlein, sich ehrlich machen: „Den […] Gläubigen muss gesagt werden, dass sie es sind, die die Wunder wirken. Schluss mit dem scheinheiligen Beweisenwollen. Die Menschen schaffen sich etwas, woran sie glauben wollen. Dadurch bekennen sie, dass es das, woran sie glauben, nicht gibt. […] Warum glauben wir? Weil uns etwas fehlt. […] Glauben heißt Berge besteigen, die es nicht gibt. […] Ich habe die Monstranz entführt, um die Scheinheiligkeit bemerkbar zu machen.“38 kirchlich oder weltlich, die Reliquie als ein Relikt behandeln, das nur noch Peinlichkeiten bereitet, wann immer es irgendwo genannt werden muss. Für Theologen eine Torheit, für den aufgeklärten Zeitgenossen ein Ärgernis.“ (ebd., S. 104). 35 „Im Licht der Taschenlampe gleißte das Gold, blitzten die großen und die kleinen Brillanten und die vier Rubine oberhalb und unterhalb des Bergkristalls, auch links und rechts von ihm. In ihrem rötlichen Schimmer sehen sie mehr nach Blutstropfen aus als der dunkle Strich in dem Bergkristall, der das Heilige Blut darstellt. […] Jahrhundertelang hatten meine Landsleute dieses in Gold bewahrte Ding verehrt […]. […] Die Reliquie war ihre Zuflucht. In der Verehrung dieses dunklen Strichs […] erlebten sie sich als Menschen.“ (ebd., S. 102f.). 36 Ebd., S. 107. 37 Ebd., S. 107; 111. 38 Ebd., S. 111f; 115.

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Dann geschieht das Unerhörte: Feinlein wird für verrückt erklärt und in genau jene Psychia-trie eingewiesen, die er selbst zuvor geleitet hat – in eine modernetypische „Anstalt“ also der Einhegung von erwiesener Unvernunft. Alles bisher Gesagte ist somit noch einmal in sich gebrochen und der Reliquien-Diskurs bleibt bei Walser dauerhaft in der Schwebe. Dazu passt, dass Feinlein selbst seine Einweisung im Kontext eines Konkurrenzkampfes um die Liebe von Eva-Maria deutet, der Frau genau jenes Kollegen Bruderhofer, der sein jahrelanger Konkurrent um die Leitung der Klinik ist: „Dr. Bruderhofer hat den längst vorbereiteten Angriff endlich gestartet. Er hat mich förmlich eingekreist. […] Grund für alles: Meine Reliquien-Forschung. Ich kann nicht zugleich Klinik-Chef und Reliquien-Forscher sein. […] Es genügt ihm nicht, mein Nachfolger zu werden. Er glaubt an seine Psychopharmaka. Die sind Zerstörung ohne Heilung. Solange ich bin, fühlt er sich angegriffen. Er und seine Welt. Deshalb muss er mich vernichten.“39

Man weiß es nicht: Leidet Feinlein unter Verfolgungswahn oder geht es wirklich um klinikinterne Ränkespiele? Auch das bleibt unklar. So wie offen bleibt, auf welcher Seite Martin Walser selbst steht: auf der Seite eines Glauben zerstörenden Wissens oder eines Wissen überschreitenden Glaubens. Dr. Bruderhofer, der siegreiche feindliche Zwilling auf demselben „Hof“, und Dr. Feinlein, der abgestürzte grenzgängerische „Feingeist“ zwischen Glauben und Wissen, dessen augenscheinlich unerwiderte Liebe zu Eva-Maria (Zitat: „Mein Jenseits“40) bis zum Schluss offen bleibt – man weiß bis zum Ende nicht, wer letztlich recht behält. Feinlein jedenfalls glaubt weiterhin an die Liebe Eva-Marias, so wie er an die Lebenskraft unechter Reliquien glaubt. Soweit Walsers narrative Reliquientheorie. Wie aber lässt sich die darin aufgeworfene Frage nach der diesseitigen Materialität des jenseitig Heiligen theologisch weiterführend bearbeiten? Bitte folgen Sie mir dazu nach Aachen, in eine „etwas andere“ Reliquienausstellung.

39 Ebd. 40 Ebd., S. 117.

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2.  H EILIGE MATERIE – SAKRAMENTENTHEOLOGISCHE REKONSTRUKTIONEN Auf dem Aachener Katholikentag 1986 gab es eine ganz besondere Ausstellung. Die evangelische Praktische Theologin Inken Mädler, eine Pionierin der theologischen Artefaktforschung41, berichtet: „Anlässlich […] des […] Katholikentages […] haben Jugendliche […] eine Ausstellung der etwas anderen Art organisiert. Unter dem Titel ‚Das ist mir heilig‘ haben sie ihre ganz persönlichen Heiligtümer […] zur Verfügung gestellt. Vom Teddybären über Briefe und Familienphotos, vom Rennrad über das Poesiealbum und die Uhr, von der Gitarre über die Turnschuhe bis hin zum Reisigbesen reihten sich […] die individuellen Heiligtümer vor den Augen der […] verdutzten Ausstellungsbesucher. Das also soll ‚heilig‘ sein? […] Der Bereich der materiellen Kultur, dem […] die […] Heiligtümer der Aachener Jugendlichen entstammen [wie auch meine eingangs gezeigten ‚Lebensheiligtümer‘], ist in der […] Theologie gegenwärtig eine reflexive Leerstelle […]. […] Als individuell geheiligte Dinge […] sollten sie auch theologisch neu gewichtet werden […].“42

Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese Ausstellung ausgerechnet in Aachen stattfand. Der dortige Katholikentag war nämlich mit der alle sieben Jahre stattfindenden Aachener Heiligtumswallfahrt verbunden. Neben dem sogenannten „Hl. Rock“, in den Fragmente der Tunika Jesu eingenäht sein sollen, werden dabei seit Karl dem Großen vier heilige Textilien gezeigt, die als das Kleid Mariens, die Windeln Jesu, das Enthauptungstuch Johannes des Täufers und das Lendentuch des Gekreuzigten verehrt werden. Diese sakralen Reliquien sind – wie ihre profanen Geschwister in der Ausstellung – zunächst einmal keine „besonders kostbaren und herausragenden Ge­genstände, sondern ganz alltägliche, ‚banale‘ Dinge“43: Textilien, Knochenfragmente, Gebrauchsgegenstände. Sakrale Reliquien wie die „Heiligtümer“ des Aachener Domschatzes und profane Reliquien wie die „Heiligtümer“ der Aachener Jugendlichen – beide sind auf den ersten Blick ganz alltäg-

41 Vgl. Mädler, Inken: Transfigurationen. Materielle Kultur in praktisch-theologischer Perspektive, Gütersloh 2006. 42 Mädler, Inken: Heilige Dinge und andere Gegenstände. Praktisch-theologische Anmerkungen zu einer Leerstelle theologischer Reflexion, in: www.theomag.de/19/im1.htm (Zugriff 02.10.2019). 43 Hemmerle, Klaus: Andere Ikonen. Gedanken zur Aachener Heiligtumswallfahrt, in: www.klaus-hemmerle.de/index.php?option=com_content&view=article&id=380&catid=23&Itemid=33 (Zugriff 02.10.2019).

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liche Dinge, die sich aber dennoch „von anderen qualitativ unterscheiden“44, weil sie auf etwas Heiliges verweisen. Es gibt also durchaus auch heilige Dinge, die nicht notwendigerweise sakral sein müssen. Dazu muss man vom religionswissenschaftlichen Diskurs in den theologischen wechseln. Religionswissenschaftlich geht es bei Reliquien um die Differenz von Sakralem und Profanem: Reliquien sind sakral, alles andere ist in der religiösen Welt der Dinge profan. Theologisch hingegen kann es auch so etwas wie eine „profane Heiligkeit“45 des Materiellen geben: heilige, aber nicht sakrale Gegenstände. Denn aus der Sicht christlicher Theologie ist alles Materielle potenziell heilig. Hier umfasst, durchdringt und verwandelt das Heilige sowohl Sakrales als auch Profanes – und zwar in Richtung auf das je größere Heil der Menschen. Entsprechende „Reliquien“ verweisen auf eine nichtsakrale Heiligkeit, welche die religiöse Grundunterscheidung von Sakralem und Profanem auf subversive Weise unterwandert. Denn das Sakrale und das Heilige sind, zumindest aus christlicher Sicht, eben nicht dasselbe. Das Sakrale exkludiert bestimmte Menschen, Orte, Zeiten und Dinge und belegt sie mit einem Tabu (Stichwort: Weihe, lat. con-secratio). Das Heilige hingegen integriert prinzipiell alle Menschen, Orte, Zeiten und Dinge unter einem pastoralen Horizont und heißt sie im Grundsatz gut (Stichwort: Segen, lat. bene-dictio). Schon allein wortgeschichtlich tendiert das Sakrale auf religionsproduktive Teilungen (von lat. secare46 = schneiden, abspalten) und das Heilige auf heilvolle Ganzheiten (von mdht. heil = ganz, unversehrt) – siehe die unterschiedlichen Praktiken von Weihe und Segen. Der französische Konzilstheologe M.-Dominique Chenu, ein theologischer Begleiter der vorkonziliaren Arbeiterpriesterbewegung und „Großvater“ der nachkonziliaren Theologie der Befreiung (Stichwort: Nouvelle théologie), brachte den Unterschied beider folgendermaßen auf den Punkt:

44 K. Hemmerle: Andere Ikonen. 45 Vgl. Bauer, Christian: Heiligkeit des Profanen? Theologien der Desakralisierung auf dem Zweiten Vatikanum, in: Eggensperger, Thomas/Engel, Ulrich/Montoya, Angel Méndez (Hg.): Edward Schillebeeckx. Impulse für Theologien im 21. Jahrhundert, Ostfildern 2012, S. 67–83. Man frage nur einmal einen eingefleischten Fußballfan, was das verschwitzte Originaltrikot seines Lieblingsspielers für ihn (oder sie) bedeutet. Der Fußball muss jedoch nicht erst zu einem religioiden Quasikult umgedeutet werden, um mit seinen profanen „Reliquien“ theologisch weiterführend zu arbeiten (vgl. Bauer, Christian: Nur die schönste Nebensache der Welt? Fußball als theologischer Ort, in: Herder-Korrespondenz 2017–11, S. 44–48). 46 Döderlein, Ludwig: Handbuch der lateinischen Etymologie, Leipzig 1841, S. 159.

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„Das Sakrale erscheint in seiner ganzen Eigenart, wenn man es mit dem Heiligen vergleicht. […] Gott ist zwar ‚heilig‘ […], nicht aber im eigentlichen Sinn sakral. […] Wenn das Profane auf die Seite des Sakralen tritt, dann hört es auf, profan zu sein. Das Profane aber, das heilig wird, bleibt profan. […] Man muss die Welt nicht sakralisieren, um sie zu heiligen.“47

Diese entgrenzte Sicht des Heiligen hat nicht zuletzt auch eine im Christentum nicht ganz unwichtige Person auf ihrer Seite: Jesus von Nazaret. Dieser nämlich entsakralisierte die religiösen Traditionen seines Volkes, indem er beispielsweise Menschen mitten im Alltag und auf den staubigen Straßen Galiläas48 Sündenvergebung zusprach – was eigentlich dem Hohen Priester am Jom Kippur im Jerusalemer Tempel vorbehalten war. Im Horizont der anbrechenden Gottesherrschaft entgrenzte er die Sakralität von Personen, Zeiten und Orten im Zeichen eines umfassenden Heiles, das die genannte religiöse Grunddifferenz von Sakralem (also: Hoher Priester, Jom Kippur, Jerusalemer Tempel) und Profanem (also: einfacher Wanderprediger, mitten im Alltag, auf den staubigen Straßen Galiläas) heilsfinalisiert unterläuft. Eine in der Spur Jesu „reichgottesfromme“ und daher immer auch religionskritische Heiligung des Profanen braucht jedoch, so Chenu, aus inkarnatorischen Gründen immer auch die materielle Ausdrücklichkeit des Sakralen:

47 Chenu, M.-Dominique: Les laïcs et la ‚consécration‘ du monde, in: Ders.: Peuple de Dieu dans le monde, Paris 1966, S. 69–96, bes. 78 und 80f. 48 Chenus flämischer Mitbruder und Schüler Edward Schillebeeckx, der 1946 in Paris mit einer Dissertation über Die sakramentale Heilsökonomie promoviert wurde, bringt in diesem Zusammenhang auch die Differenz zwischen Lumen gentium (also: der eher am Sakralen orientierten „Dogmatischen Kirchenkonstitution“), und Gaudium et spes (also: der eher am Profanen orientierten „Pastoralen Kirchenkonstitution“) auf dem Punkt: „Aus dieser dogmatischen Sicht folgt, dass das Problem des ‚Schemas 13‘ [also: der zweiten, pastoralen Konstitution über die Kirche] nicht so gesehen werden darf, als ob die Kirche […] nach der [ersten, dogmatischen] Konstitution über die Kirche, in der wir uns auf heiligem Boden befanden, jetzt eine ihr fremde, unheilige Welt beträte. Der Boden, den wir im Schema 13 betreten, ist heiliger Boden, auf dem schon Christi Erlösungsgnade wirksam ist, noch bevor die Amtskirche das rettende Wort Christi explizit an diese Welt richtet. […] In der [dogmatischen] Konstitution über die Kirche spricht sie vor allem über die sakralen […] kirchlichen Gestalten der Gnadensichtbarkeit; in Schema 13 behandelt sie die weltlichen und deshalb mehr verhüllten Ausdrucksformen […] dieses Gnadenlebens: die weltliche Heiligkeit und die apostolische Säkularität.“ (Schillebeeckx, Edward: Kirche und Welt im Licht des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Ders.: Gott – Kirche – Welt. Gesammelte Schriften II, Mainz 1970, S. 228–242, bes. S. 234ff).

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„In gewissem Sinn gibt es im Christentum keine profane Wirklichkeit mehr […]. [Und doch] […] gibt es die Notwendigkeit eines Kultes, in dem der Glaube […] – in Anpassung an die conditio humana und an ‚religiöse‘ Bedürfnisse – sinnenfälligen Ausdruck findet. […] Ein solcher […] sinnlich erfahrbarer Kult liegt in der Logik der Inkarnation.“49

Das Gleiche gilt für die Reliquien. Bereits in den 1920er Jahren hatte Chenu im Rahmen seiner Vorlesung zur Sakramententheologie das gesamte „Inventar des symbolisch-rituellen Bereichs“50, das aus dinglich greifbaren Elementen51 wie Wasser und Öl, Brot und Wein besteht, inkarnationstheologisch gesichtet: „Im Fall der Sakramente haben wir […] eine Idee, die in das Materiellste überhaupt […] inkarniert ist. Und zwar, weil es sich um eine Fortsetzung der Inkarnation handelt. Mit der Eucharistie haben wir sogar einen Fall, in dem Brot und Wein der Leib Christi selbst sind. […] Die Inkarnation Christi ist das Sakrament par excellence.“52

Der „symbolische Charakter der sakramentalen Ordnung“53 basiert auf der entsprechenden Materialität der Sakramente selbst – denn nicht nur einzelne Reliquien, sondern das gesamte „rituelle Material“54 der christlichen Sakramentalität besteht aus konkreter stofflicher Materie: „Die christliche Lehre von den Sakramenten darf nicht auf die sieben Sakramente und etwa zehn Sakramentalien beschränkt werden. […] Unser christliches Leben selbst ist ein Sakrament. [Alles Leben] […] neigt zu entsprechenden Übertragungen von Sinn. Auf christlichem Boden wird diese Symbolik zu einer Ordnung des Sakramentalen. […] Das war auch das Argument des Hl. Thomas: Wir kennen die geistlichen Dinge nur durch die Vermittlung sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände.“55

49 M.-D. Chenu: Les laïcs et la ‚consécration‘ du monde, 88/90f. 50 Chenu, M.-Dominique: Du symbole au rite, handschriftliches Manuskript einer Vorlesung von 1949/50 an der École des Hautes Études; Archives-Chenu/Paris (Dossier ,Courses‘), S. 8. 51 M.-D. Chenu: Du symbole au rite, S. 8–16. 52 Chenu, M.-Dominique: Les Sacrements, maschinenschriftliches Manuskript einer Vorlesung von 1922/23 im Saulchoir, Archives-Chenu/Paris (Dossier ,Courses‘), S. 3; 14. 53 M.-D. Chenu: Les Sacrements, S. 3. 54 M.-D. Chenu: Du symbole au rite, S. 8. 55 M.-D. Chenu: Les Sacrements, S. 2.

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Jede materielle Theologie der Reliquien wäre daher, zumindest katholischerseits, sakramententheologisch zu rekonstruieren – und zwar im Sinn der klassischen katholischen Sakramentendefinition: Sacramentum ist ein signum visibile invisibilis gratiae, ein sichtbares Zeichen der unsichtbaren Gnade. Auch Reliquien lassen sich als solche sichtbaren Zeichen der unsichtbaren Gnade Gottes verstehen: als materielle Zeugen für das Evangelium. Für einen entsprechenden material turn des Spirituellen stehen Theologen wie M.-Dominique Chenu.56 Verlängert man dessen sakramententheologische Überlegungen, so gelangt man geradewegs zu jener berühmten Wendung vom „Sakrament des Zigarettenstummels“, die ebenso im Titel meines Vortrags steht. Sie stammt von dem lateinamerikanischen Befreiungstheologen Leonardo Boff, dessen kosmisch-sakramentale Gesamtökologie auf der gerade in Rom tagenden Amazoniensynode eine ganz neue weltkirchliche bzw. weltpolitische Bedeutung erlangte. Der ehemalige Franziskaner Boff wurde 1970 in München mit einer Arbeit zur Kirche als Sakrament im Horizont der Welterfahrung promoviert, deren Zweitgutachter übrigens sein späterer erbitterter Gegner Joseph Ratzinger war. Boff steht für eine materiell entgrenzte Sakramententheologie, in der auch die „Reliquie“ des genannten Zigarettenstummels eine zentrale Rolle spielt. In seiner nicht nur im katholischen Raum vielgelesenen Kleinen Sakramentenlehre schreibt Boff:

56 Bereits 1948 hatte Chenu einen Aufsatz mit dem Titel Matérialisme et spiritualisme veröffentlicht, in welchem er den „ideologischen Dualismus“ (Chenu: Matérialisme et spiritualisme, WO GENAU?, S. 461) von Materialismus und Spiritualismus kritisierte – nicht ohne jedoch hinzuzufügen, dass der historische Materialismus der Marxisten eine durchaus gerechtfertigte „Revanche“ (Chenu, Marie-Dominique: Spiritualité du travail, ORT 1953, S. 24) am geschichtsenthobenen Spiritualismus vieler Christinnen und Christen gewesen sei. Chenus inkarnatorische Alternative besteht in einer ausgewogenen christlichen Spiritualität der Materie bzw. der Materialität des Geistes: „Jedem Dualismus entgegengesetzt, ist der Mensch als ein einziges Sein konstituiert, in dem Materie und Geist die konsubstantiellen Prinzipien einer Ganzheit […] bilden: keine zwei Dinge […], sondern eine inkarnierte Seele und ein beseelter Körper […]. Die Materie im Menschen kann in dieser Konsubstantialität am Leben Gottes teilhaben – und […] Christus, der Gott-Mensch, ist der Garant einer Auferstehung des verherrlichten Fleisches. Der Mensch ist der Kreuzungspunkt einer Ausdehnung der schöpferischen Liebe bis hinein in die Dichte der Materie.“ (Chenu, Marie-Dominique: St. Thomas d‘Aquin et la théologie, ORT 1970, S. 122). 1967 veröffentlichte Chenu ein Buch mit dem Titel Théologie de la matière (Chenu, Marie-Dominique: Théologie de la matière, ORT 1997), das diese vorkonziliare Linie einer „Rematerialisierung“ des Sakramentalen auf „antispiritualistische“ Weise nachkonziliar verlängert.

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„In der Schublade liegt ein kleiner Schatz verborgen: ein Glasschächtelchen mit einem kleinen Zigarettenstummel. […] Dieser unscheinbare Zigarettenstummel hat eine einzigartige Geschichte. […] Es war die letzte Zigarette, die [mein] Vater […] [vor seinem Tod] geraucht hatte […]. [Dieser] […] Zigarettenstummel [ist] kein einfacher Zigarettenstummel mehr. Denn er wurde zu einem Sakrament […] und begleitet mein Leben. […] In unserer Erinnerung lässt er die Gestalt des Vaters gegenwärtig werden […].“57

In der tiefen Diesseitigkeit des materiell Immanenten öffnet sich somit eine jenseitige Perspektive des spirituell Transzendenten: „Wenn die Dinge anfangen zu sprechen und der Mensch beginnt, ihre Stimme zu vernehmen, dann [wird alles Wirkliche zum Zeichen für] eine andere Wirklichkeit, die Wirklichkeit, die allen Dingen zugrunde liegt: Gott. […] Wenn man […] [auf die sakramentale Dimension der Welt] aufmerksam geworden ist, dann kann man die geheimnisvolle […] Gegenwart der Gnade feiern, die unsere Welt bewohnt. Gott war immer da, und zwar schon bevor wir auf die Gegenwart der Gnade aufmerksam wurden. Jetzt […] sind wir imstande zu sehen, wie die Welt Sakrament Gottes ist. […] Je tiefer der Mensch sich […] auf die Dinge seiner Welt einlässt, desto deutlicher erfährt er ihre Sakramentalität.“58

Das gilt natürlich insbesondere auch für die Frage der Reliquien. In seinem geistlichen Vermächtnis Nachfolge Jesu auf den Wegen des Lebens beschreibt Boff die verborgene Präsenz des kosmischen Christus „im Herzen der Materie“59 mit 57 Boff, Leonardo: Kleine Sakramentenlehre, Düsseldorf 151998, S. 27; 29. 58 L. Boff: Kleine Sakramentenlehre, S. 10; 18; 31. 59 Boff, Leonardo: Nachfolge Jesu auf den Wegen des Lebens, Kevelaer 2018, S. 83 (siehe auch Williams, Rowan: Christ. The heart of creation, London 2018). Boff zitiert in diesem Zusammenhang das apokryphe Thomasevangelium: „Ich bin das Licht, das über allem ist; ich bin das All. Das All ist aus mir hervorgegangen und das All kehrt zu mir zurück. Spalte das Holz, und ich bin darin. Heb den Stein auf, und ich bin darunter. Ich bin bei euch alle Tage, bis ans Ende der Zeiten.“ (zit. nach L. Boff: Nachfolge Jesu, S. 82f). Für Boff konvergieren protologischer Hervorgang und eschatologische Vollendung dieser auf das Sakramentale hin transparenten Welt, der gesamten materiellen Schöpfung im Mysterium des dreifaltigen Gottes: „Wenn wir sagen, wir seien geschaffene Wesen, behaupten wir damit, wir stammten von Gott, trügen Gottes Spuren an uns und seien auf dem Weg zu [ihm] […]. […] Als Christen sagen wir, der kosmische Christus durchdringe das Weltall […] und führe es zum göttlichen Punkt Omega. Der Heilige Geist bewohne die Schöpfung, gebe ihr Schwung und Leben und schiebe und ziehe sie zur absoluten Synthese im Reich der Dreifaltigkeit.“ (Boff, Leonardo: Von der Würde der Erde. Ökologie – Politik – Mystik, Düsseldorf 1994, S. 51; 83).

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einem entsprechenden Enthusiasmus, dessen eschatologischer Schöpfungsoptimismus jedoch in Zeiten der Klimakatastrophe akut gefährdet ist: „[Immer] […] wenn du irgendetwas berührst, wenn du jemanden umarmst, wenn du ein wenig Erde in die Hand nimmst, eine Landschaft und die Berge betrachtest, wenn du in einer sternenklaren Nacht deinen Blick den unzähligen Sternen zuwendest, dann sei dir dessen bewusst, dass in all dem der kosmische Christus gegenwärtig ist. Du wirst niemals einen nur profanen Blick auf die Natur, auf die Erde oder auf einen Menschen haben: Sie sind Sakramente.“60

Eine atemberaubende schöpfungstheologische Entgrenzung des Sakramentalen: die ganze Welt als „Reliquie“ Gottes. Von daher nun:

3.  I N DEN SANDALEN DES GALILÄERS – JESUSBEWEGTE AKTUALISIERUNGEN Versuchen wir zunächst ein kleines Zwischenresümee: Dass nicht nur echte Reliquien heilig sein können – das lässt sich aus der narrativen Reliquientheorie von Martin Walser lernen. Und: Dass nicht nur sakrale Reliquien heilig sein können – das lässt sich aus der „materiefrommen“ Sakramententheologie von M.-Dominique Chenu und Leonardo Boff lernen. Abschließend stellt sich jedoch die Frage: Sind heilige, also: auch un-echte und nicht-sakrale Reliquien wirklich heilig, also: wirksam mit Blick auf das umfassende Heil eines guten Lebens für alle? Denn der Begriff des Heiligen kommt ja schließlich vom Wort Heil. Und dem hat jeder christliche Reliquienkult zu dienen… Der ehemalige Aachener Bischof Klaus Hemmerle – philosophisch ein gelernter Phänomenologe – schreibt, bei „wahren“ Reliquien gehe es nicht um die Echtheit dieser „Heiligtümer“, sondern vielmehr um die in ihnen „‚materialisierte’ Grundbotschaft“61 des Evangeliums: „Die Botschaft dieser Heiligtümer und der Bezug zu dieser Botschaft […] sind echt.“62 Es gehe im Wortsinn um eine entsprechende „Tuchfühlung“63 mit dem Evangelium. So verstanden, haben Reliquien einer „langen Kette von Generationen den Hauch des Ursprungs nahegebracht“64. Genau darum geht es einer authentisch christlichen Reliquienverehrung, die auch heute noch Sinn macht: um sinnlich erfahrbare 60 L. Boff: Nachfolge Jesu, S. 82f. 61 K. Hemmerle: Andere Ikonen. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd.

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„Tuchfühlung“ mit dem Evangelium, um den Hauch des Ursprungs, der durch sie in die Gegenwart hineinweht und der ebenso heutige Menschen noch auf den Weg der Nachfolge Jesu ruft. Der interkonfessionelle Dissens über den „wahren“ Weg dieser Nachfolge ist längst ebenso erodiert wie auch der intrakonfessionelle Konsens darüber, was wirklich katholisch bzw. evangelisch ist. Auch deswegen taugen Reliquien heute nicht mehr als konfessionabgrenzende Identitätsmarker nach dem Motto: Katholische sind dafür und Evangelische sind dagegen. Ich versuche daher nun abschließend, ausgehend vom Motiv der Nachfolge ein katholisches Verstehensangebot auch für evangelische Christinnen und Christen zu machen. Ressourcement (also: Rückkehr zu den eigenen Wurzeln) und Aggiornamento (also: die Verheutigung des Evangeliums), diese beiden Grunddynamiken des Zweiten Vatikanischen Konzils, hängen im konfessionenverbindenden Motiv der Nachfolge eng zusammen – und sie bieten so etwas wie eine Grundregel für einen heute noch sinnvollen Umgang mit Reliquien. Noch einmal Chenu: „Je mehr ich in meiner Zeit präsent bin (Stichwort: Aggiornamento), desto mehr bin ich auf die Ursprünge zurückverwiesen (Stichwort: Ressourcement). Und je mehr ich mich den Ursprüngen zuwende, umso mehr bin ich in meiner Zeit präsent.“65

Diese Rückkehr zu den christlichen Quellen, die paradoxerweise zugleich zu Zeitgenossen der eigenen Gegenwart macht, ermutigt zur Nachfolge Jesu – und zwar auf den Straßen der eigenen Zeit. So ist es denn auch kein Zufall, dass mitten im Zweiten Vatikanischen Konzil die ersten beiden Auslandsreisen von Papst Paul VI. in programmatischer Weise zunächst ins Heilige Land, also ad fontes, zurück zu den Quellen, und dann nach New York führten, wo er vor den Vereinten Nationen sprach: Ressourcement und aggiornamento. Als erster Papst seit Petrus betrat Paul VI. also das Heilige Land – jenes Stückchen Erde, auf dem sich Jesu Leben und Sterben abgespielt haben: die wohl größte Berührungsreliquie der Welt. Es gilt also, dieses Land (inklusive seiner „materiellen Kultur“66) reliquientheolo-

65 Chenu, M.-Dominique: Un théologien en liberté. Jacques Duquesne interroge le Père Chenu, Paris 1975, S. 63. 66 „Material culture includes more than pots and walls. The design of housing, the placement and use of trade routes, the provision of water and food for villages and urban centers, the fortification of selected settlements, the emergence of new kinds of edifices and industries – all of these must be “read” in coordination with the texts.“ (Sawicki, Marianne: Crossing Galilee. Architectures of Contact in the Occupied Land of Jesus, New York 2000, S. 10f.).

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gisch zu „lesen“67. Mitten im Konzil ging Papst Paul bewusst auf entsprechende „Tuchfühlung“ mit den jesuanischen Ursprüngen seiner Kirche. Ressourcement praktisch. Noch am Flughafen sagte Paul VI. wenig später in Rom: „Wir kehren mit einem Herzen voll starker Emotionen zurück, die […] für immer jene strahlenden und bewegenden Bilder der heiligen Orte ins Gedächtnis eingeschrieben haben, die in unmittelbarer Beredsamkeit [con spoglia eloquenza] vom Leben Jesu Christi erzählen, von seinem Leiden und von seiner Liebe.“68

In der Westeifel gibt es eine faszinierende Reliquie, in der diese kirchliche Quellenauffrischung mit Blick auf die Nachfolge Jesu besonders handgreiflich wird: die in Prüm verehrte Sandale Christi – ein reich verzierter Stoffschuh aus der Merowingerzeit, in den Partikel der Sandalen Jesu eingearbeitet sein sollen. Nachfolge heißt, so die Botschaft dieser Reliquie, auf den Pfaden der eigenen Zeit in den Schuhen Jesu zu gehen. Eine zweite Reliquie, die an einen konkreten historischen Weg dieser Nachfolge erinnert und dabei auch selbst zu einem Gegenstand der Verehrung geworden ist, sind die im niederländischen Nijmegen zu sehenden Schuhe des Hl. Petrus Canisius – eines jesuitischen Wanderpredigers an der Schwelle zur Neuzeit. Nachfolge heißt in diesem Zusammenhang nicht traditionalistisches Kopieren, sondern kreatives Immer-wieder-Neuerfinden. Das Hochmittelalter braucht dazu etwas anderes als die Neuzeit und diese wiederum braucht etwas anderes als unsere späte Moderne. Entsprechende Reliquien erfordern daher einen klaren Blick auf den feinen, aber wichtigen Unterschied zwischen Tradition und Traditionalismus. Ein reliquientheologisch brillanter Kommentar zu der entsprechenden Gefahr einer Verdinglichung von Reliquien, die diese von ihrem ursprünglichen Sinn entfremdet, Nebensächliches zu Erstrangigem macht und zu einem Traditionalismus führt, der ganze Nachfolgegemeinschaften entzweit, ist – Monty Python’s filmisches Meisterwerk Life of Brian aus dem Jahr 1979. 67 M. Sawicki: Crossing Galilee, S. 10. 68 Paul VI.: Saluto all’arrivo all’aeroporto di Roma, in: www.w2.vatican.va/content/ paul-vi/it/speeches/1964/documents/hf_p-vi_spe_19640106_arrivo-roma.html (Zugriff 02.10.2019). Den jesusbewegten „Geist dieser Pilgerfahrt“ (Paul VI.: Salut aux autorités locales au moment de son entrée à Jérusalem par la porte de Damas, in: www. vatican.va/content/paul-vi/fr/speeches/1964/documents/hf_p-vi_spe_19640104_jerusalem.html [Zugriff 02.10.2019]) an die heiligen Stätten verknüpfte der Papst mit einem Aufruf an alle anderen Jüngerinnen und „Jünger des Evangeliums“ (ebd.): „Gehen wir auf den Spuren derer, die mit Christus waren, steigen wir mit ihm hinauf nach Kalvaria, verehren wir das […] Grab, aus dem er zum Leben in Fülle erstanden ist […].“ (ebd.).

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Darin gibt es eine grandiose Szene, in der Brian zufälligerweise in die Messiasrolle gerät und vor seinen ungewünschten Anhängerinnen und Anhängern flieht. Dabei berührt er zunächst unbeabsichtigt eine Flasche, die eine verklärt-esoterisch aussehende Anhängerin mit hippiehafter Ponyfrisur sogleich im Sinne einer Berührungsreliquie an sich nimmt: „Es ist seine Flasche. Wir werden sie für dich tragen, Meister.“ Wenig später verliert Brian auf seiner Flucht dann eine Sandale. Ein graubärtig-zauseliger Anhänger erhebt sie, während ein etwas jüngerer Mann mit kürzerem Bart voll religiöser Inbrunst sagt: „Das ist ein Zeichen! Lasst uns alle eine Sandale ausziehen und die andere am Fuß behalten.“ Um beide „Reliquien“ entspinnt sich sodann ein Konflikt, der Brians Anhängerschaft in zwei Lager spaltet: „Folgt der Sandale“ vs. „Folgt der Flasche“. Diese grandiose Filmszene zeigt auf wunderbare Weise die Schattenseiten einer zu purem Traditionalismus pervertierten Reliquienverehrung. Denn man kann, so Bruno Latour, auch „durch übermäßige Treue Verrat begehen“69. Man kann ursprungstreue Tradierung in kreativitätsfeindlichen Traditionalismus verkehren und so den Kontakt zu seinem Ursprung verlieren. Reliquien verselbständigen sich und werden zu einem leeren Signifikanten ohne Signifikat. Positiv gewendet 69 Latour, Bruno: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014, S. 87f. „Es gibt keinen einzigen Akteur, der nicht im Laufe dieser zwei Jahrtausende am einen oder anderen dieser Urteile mitgewirkt hätte – vom Beichtgeheimnis bis zum großen Schauplatz der Konzilien, nicht zu vergessen die Tribunale und Massaker. […] [Jedesmal ging es dabei um eine] […] Abfolge von Treuebrüchen, Erfindungen, Reformen, Wiederaufnahmen, Ausarbeitungen, die alle auf die Hauptfrage zulaufen und danach beurteilt werden, ob man einer ursprünglichen Botschaft treu geblieben ist oder nicht.“ (ebd., S. 88). Umso wichtiger ist in der Kirche, so Bruno Latour, die Unterscheidung zwischen starrem, selbstreferentem Traditionalismus und lebendiger, schöpferischer Tradition: „Keine andere Institution hat mehr Energie (Predigten, Konzile, Tribunale, Polemiken, Heiligkeit, ja sogar Verbrechen) investiert in dieses besessene Aufspüren des […] Unterschieds zwischen der Treue zur Vergangenheit […] und der zwingenden Notwendigkeit, sich ständig zu erneuern […]. […] [Denn] […] von den Predigten eines gewissen Jeshua aus Palästina […] über die Reformation bis zu den letzten päpstlichen Enzykliken handeln alle Äußerungen, Rituale, theologischen Arbeiten sehr explizit von diesem Prüfstein, der es erlauben soll, zwischen Treue und Treulosigkeit, Tradition und Verrat, Fortsetzung und Schisma zu unterscheiden. […] Ob es sich um die ‚Erfindung‘ des Christentums durch Paulus, um die Erneuerung der Mönchsbewegung durch Franz von Assisi oder um die Reformation durch Luther […] handelt, jedes Mal wird das Verhältnis zwischen einer […] veralteten Institution und ihrer notwendigen Erneuerung in Szene gesetzt, die es jener Institution erlaubt, durch riesige Transformationen hindurch im Grunde treu zu bleiben.“ (ebd., S. 87f).

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können sie jedoch auch die Kreativität der christlichen Tradition anregen. Der jesuitische Mystikgeschichtler Michel de Certeau – ein erklärter Lieblingsautor von Papst Franziskus, der gerade vom kulturwissenschaftlichen Geheimtipp zur theologischen Pflichtlektüre avanciert – hat sich intensiv damit auseinandergesetzt. Nachfolge denkt er in der permanenten Differenz von „Einrichtung“70 einer Tradition (z. B. in Form von Reliquien) und ihrer kreativen „Überschreitung“71 – wobei tradierende Überschreitung für ihn nicht möglich ist ohne Rückbindung an die Ursprünge: „Es braucht einen Ort, damit es einen Aufbruch geben kann, und jeder Aufbruch ist unmöglich, wenn er keinen Ort hat, von dem er ausgeht: diese zwei Elemente – der Ort und der Aufbruch – sind miteinander verbunden […]. Es ist eine Tat an der Grenze, die von einem Ort an einen anderen führt: die Praxis selbst [oder, anders gesagt: ein schöpferisches Tradieren in der Nachfolge Jesu].“72

Certeau zufolge „fehlt“73 Jesus als entzogener Ursprung dem Christentum. Dieses Manko ist für ihn jedoch eine „Erlaubnis“74, die eine unendlich kreative Serie von pluralen Wegen der „Nachfolge“75 in seinem Geist gestattet – in der Spur Jesu wird somit nachfolgend Neues möglich. Es gibt keine Nachfolge ohne Absenz des Ursprungs und keine Präsenz des Ursprungs ohne Nachfolge. Nachfolge ist nur vom Ursprung und Ursprung nur von der Nachfolge her zu verstehen. Ursprungstreue und Spursicherheit christlicher Nachfolgewege werden dabei vor allem durch einen gemeinsamen schöpferischen Rückbezug auf den eigenen Ursprung garantiert: „Das Christentum impliziert […] eine Beziehung zu jenem Ereignis, das es begründet hat: Jesus, den Christus. Er steht für eine Serie von […] sozialen Figuren, die alle unter dem doppelten Zeichen von Treue und Differenz in Bezug auf dieses Gründungsereignis stehen. […] Welcher Art auch immer […] die Lektüren der ‚Ursprünge‘ sein mögen, sie wiederholen das Evangelium doch niemals – und doch sind sie nicht möglich ohne es. […] Die Wahrheit des Anfangs enthüllt sich nur im Raum jener Möglichkeiten, die sie eröffnet. […]

70 M. de Certeau: La faiblesse, S. 289. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 219. 73 Ebd., S. 112f.; 215f. 74 Ebd., S. 209f.; 112f. 75 Ebd., S. 288.

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Sie verliert sich […] in dem, was sie autorisiert. Endlos stirbt sie […] in die Erfindungen hinein, die sie anregt.“76

Das Fehlen Jesu als entzogener Ursprung des Christentums bringt daher auch immer wieder Reliquien hervor, welche die christliche Dynamik der Nachfolge stets neu kreativ werden lassen. Wenn Christsein mit dem ersten Petrusbrief heißt, den „Fußspuren Christi zu folgen“ (1. Petr 2,21), warum sollte man dann nicht christlicherseits die buddhistische Tradition der Verehrung der Footprints of Buddha übernehmen und in den Boden von Kirchen die Fußspuren Jesu einlassen, in denen man – Spirituelles körperlich habitualisierend – im Wortsinn in die Nachfolge Jesu „hineingehen“ kann. Eine bewusst körperbetonte geistliche Übung, die christliche Haltungen der Nachfolge im Wortsinn in Fleisch und Blut übergehen lässt (Stichwort: Inkarnation, Einfleischung). Für entsprechende Körperpraktiken der Einübung in die Nachfolge gäbe es zahlreiche Anhaltspunkte auch in der eigenen christlichen Tradition – so sind zum Beispiel auf einem bekannten Stich Albrecht Dürers zur Himmelfahrt Jesu dessen Fußabdrücke zu sehen, um die herum sich die Jünger versammeln. Auch im Falle der Footprints of Buddha gilt jedoch dieselbe reliquientheologische Alternative wie bei den Sandalen Jesu oder Brians: Man kann sie einfassen, verehren und Blumen darüber streuen – oder man kann sich auf den Weg machen. Es ist im Grunde wie beim ursprünglichen Schluss des Markus-Evangeliums, das die Lesenden am „leeren Grab“ (vgl. Mk 16,6) mit einem offenen Ende aus seinem Jesus-Narrativ entlässt: „Er geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen.“ (Mk 16,7). Gehen Sie zurück auf Los, heißt das (mit einer bekannten Spielanweisung gesprochen) – zurück an den Anfang des Evangeliums, um im eigenen Gehen des Jesus-Weges von Galiläa nach Jerusalem die Präsenz des Auferweckten zu erfahren: nun selbst Kranke heilend, Hungernde speisend und das Evangelium von der anbrechenden Gottesherrschaft verkündend. Dieses in heutige christliche Nachfolge hinein offene Ende des Markus-Evangeliums ist ein Stück spirituell höchst anregender Theologie, das an die grandiosen Schlussgedanken von Albert Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung erinnert, die das biblische Jesus-Narrativ auf heutige Nachfolgewege hin öffnen: „Im letzten Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art. […] Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer herantrat, die nicht wussten, wer er war. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! Und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. […] Und denjenigen, die ihm gehorchen, […] wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, 76 Ebd., S. 209–211ff.

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Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist […].“77

Über diesen spirituellen Gehalt hinaus genügt der offene Markus-Schluss höchsten spät-, post- oder transmodernen Theorieansprüchen, weil er das leere Grab Jesu (M. de Certeau: den „non-lieu initale“78 des Christentums) als die einzig wahre „Reliquie“ der Auferstehung ernst nimmt (Stichwort: Funerale): als einen initialen Nichtort, der eine ganze Serie von christlichen Nachfolgeversuchen in Bewegung setzt, die sich auf die Suche nach dem Auferstandenen machen – und sich dabei auch an die materiellen „Reliquien“ seines irdischen Lebens halten. Entsprechende „messianische Suchbilder“79 benennt Rainer Bucher in einem Kommentar zu Walsers Mein Jenseits: „[Wenn der christliche Glaube] […] seine Wirkungen entfaltet, dann ist alles möglich. Zumindest […] ab und zu. Dann kommt die Welt ins Tanzen, [dann] müssen die Dämonen weichen und [dann] werden Tote lebendig.“80

Mein Resümee? Christliche Reliquien, seien sie nun echt oder unecht, sakral oder profan, müssen diesem jesuanischen „Mehr“ an gutem Leben für alle Menschen dienen – oder man verzichtet besser darauf.

77 Schweitzer, Albert: Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 61951, S. 641f. 78 M. de Certeau: La faiblesse, S. 300. 79 Siller, Hermann P.: Handbuch der Religionsdidaktik, Freiburg/Br. 1991, S. 143;146 (vgl. Mt 11,5: „Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet.“). 80 Bucher, Rainer: Der Glauben, nicht das Glauben. Notate zu Martin Walsers „Mein Jenseits“, in: Felder, Michael (Hg.): Mein Jenseits. Gespräche über Martin Walsers „Mein Jenseits“, Berlin 2012, S. 119–131, bes. S. 130.

Ergötzen ohne Götzendienst Überlegungen zu einer religiösen Wahrnehmung der Dinge des Daseins Michael Roth/Ulrike Peisker

1.  VORBEMERKUNG „Wach auf, mein Herz, und singe Dem Schöpfer aller Dinge, Dem Geber aller Güter, Dem frommen Menschenhüter“1

Paul Gerhardt besingt, was doch eigentlich zu besingen selbstverständlich ist: Gott, den Schöpfer aller Dinge. Was aber bedeutet es, den Schöpfer aller Dinge auch als Geber aller Güter zu besingen? Täuscht eine Betrachtung der Güter aus der Perspektive des Gegebenseins vom zu besingenden Schöpfer nicht über deren potentielle Gefährlichkeit hinweg? Ist denn der Geber aller Güter tatsächlich auch der fromme Menschenhüter? Schließlich kommen die Dinge des Daseins häufig als eine bedrohliche Größe in den Blick, als etwas, was von Gott geradezu wegführt. In diese Richtung lässt sich bereits Augustin verstehen: Das Genießen der endlichen Dinge des Daseins kann nur als Sünde in den Blick kommen. Zwar spricht auch Augustin von einem Genuss, nämlich dem Genuss Gottes („animo deum habere, id est deo frui“2), allerdings ist Gott für Augustin ausschließlicher Gegenstand des Genusses, die Güter des Daseins hingegen dürfen bloß Gegenstand des „Gebrauchens“ (uti mundo) sein. Sie müssen „gebraucht“ werden, um 1 EG Nr. 446. 2 Augustin: De beata vita/Über das Glück. Übersetzt und erläutert von I. Schwarz-Kirchenbauer und W. Schwarz, Stuttgart 1982, S. 4; 34.

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den Genuss Gottes (frui deo) vorzubereiten. Damit regelt das Begriffspaar uti – frui das Verhalten des Menschen zu Gott und Welt. Verletzt wird die Ordnung der Schöpfung, insofern etwas, das zum Gebrauch für den wahren Genuss bestimmt ist, selbst Gegenstand des menschlichen Genießens wird. Was dies bedeutet, wird an Augustins Reflexionen über den Tod eines Freundes deutlich, die er in seinen viel gerühmten Bekenntnissen niederlegt.3 Augustin geht der Frage nach, warum der Tod des Freundes ihn in die Verzweiflung getrieben hat und gibt als Antwort, dass dies deshalb der Fall war, weil der Freund selbst Gegenstand des Genusses war, das heißt: er den Freund um seiner selbst willen geliebt hat, statt zum Zwecke des Genusses Gottes. Darin besteht nach Augustin aber die Verkehrung, insofern der Freund gemäß der Ordnung des Begehrens nur Objekt des „Gebrauchens“ zu sein hat. Damit verunmöglicht Augustin natürlich Freundschaftsverhältnisse, denn diese verlangen eben genau das, was Augustin kritisiert: dass der andere um seiner selbst willen (nicht wegen der Liebe zu etwas „Höherem“) begehrt wird. Nicht sehr heilvoll in diesem Zusammenhang ist auch eine Formulierung von Martin Luther in seiner Auslegung des Ersten Gebots im Großen Katechismus: „Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihn vom Herzen trauen und gläuben, wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abgott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht, und wiederümb, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhaufe [gemeint: zusammen], Glaube und Gott. Worauf du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“4 Unheilvoll ist die Formulierung Luthers, weil sie in einer problematischen Weise gebraucht werden kann: jede Freude an den Dingen des Daseins droht als Götzendienst gebrandmarkt werden zu können, jedes Hängen des Herzens erscheint als Abgötterei, als ein suchtvolles Nachjagen nach kreatürlichen Dingen. In der Tat: In der Sucht scheinen wir von den Dingen des Daseins aufgesogen, sodass wir fixiert sind, den Rest der Welt auszublenden drohen. Hans Fallada bringt dies in seinem „Sachliche[n] Bericht über das Glück, ein Morphinist zu sein“ zur Sprache: „[…] meine einzige Geliebte ist jetzt das Morphium. […] Wie begrenzt warst du, Frau. Man reichte stets über dich hinaus, immer, glaubte man dich erreicht, war man ganz woanders –: 3 Vgl. Augustin: Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch. Übersetzt und erläutert von J. Bernhart, Frankfurt a. M. 1987, IV, S. 8; 9. 4 Luther, Martin: Der große Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche. Herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 1986, S. 560.

Ergötzen ohne Götzendienst | 113

Diese Geliebte ist wahrhaft in mir. Sie füllt mein Hirn mit einem hellen, klaren Lichte, in seinem Schein erkenne ich, daß alles eitel ist und daß ich nur lebe, diese Verzückung zu genießen. Sie wohnt in meinem Körper, und kein klägliches Geschlechtstier mehr bin ich, das sich noch in der Ermattung unbefriedigt und wild nach dem andern sehnt, nun bin ich Mann und Frau zugleich, die mystische Hochzeit wird gefeiert mit dem Einstich der Nadel, die fehlerlose Geliebte, der untadelhafte Liebende, sie feiern ihre Feste unter der Laube meiner Haare. […] Ich bin allein auf der Welt, ich habe keine Verpflichtungen, alles ist eitel, nur der Genuß, der gilt, nur die Geliebte kann ich nicht verraten.“5

Absorbiert von dem Genuss der Sache und darin von der Welt getrennt, verlieren wir in der Sucht die Kontrolle.6 Von daher stellt sich natürlich die Frage: Dürfen die Dinge des Daseins tatsächlich nur unter dem Gesichtspunkt des uti in den Blick kommen, wie Augustin es uns glauben machen will? Und: Wäre die angemessene Haltung nicht tatsächlich die Verachtung? Im Folgenden werden wir einigen Überlegungen zu einer Wahrnehmung der Dinge im Glauben nachgehen, die jenseits von Vergötzung und Verachtung steht.

2.  VERSUCHUNGEN ERLIEGEN – KOHELET „Alles ist eitel“, legt Fallada seinem Erzähler mehrfach die bekannten Worte Kohelets in den Mund und lässt ihn so dessen veränderte Weltwahrnehmung durch den Rausch beschreiben: Im Moment des Genusses verblasst die Welt zu etwas Nichtigem. Ist aber Kohelets Leitgedanke richtig loziert in der Beschreibung einer Rauscherfahrung? Oder anders: Entsprechen Kohelets Worte tatsächlich dem Zungenschlag eines Morphinisten? Kohelet steht am Ende der weisheitlichen Tradition, die versucht, der Wirklichkeit durch das Beobachten von Lebensvorgängen Regeln, Strukturen und Ordnung abzulauschen. Kohelet ist weisheitlichem Denken insofern verpflichtet, als auch er Lebenserfahrungen reflektiert und nach einer Erkenntnis der Ordnung des Lebensganzen fragt. Allerdings widerspricht Kohelet der Weisheit entschieden, da er zu der Einsicht gelangt, dass es selbst für einen Weisen auf die Frage nach einer Ordnung des Lebensganzen keine überzeugende Antwort gibt: „Ich richtete mein Herz darauf, zu erkennen die Weisheit und zu schauen die Mühe, die auf Erden geschieht, dass einer weder Tag noch Nacht 5 Fallada, Hans: Sachlicher Bericht über das Glück, ein Morphinist zu sein, in: Ders.: Drei Jahre kein Mensch. Erlebtes, Erfahrenes, Erfundenes. Geschichten aus dem Nachlass 1929–1944 hg. v. Günter Caspar, Berlin 1997, S. 5–24, bes. 16f. 6 Vgl. Gossop, Michael: Introduction, in: Ders. (Hg.): Relapse and addictive behaviours, London 1989, S. 1–10.

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Schlaf bekommt in seinen Augen. Und ich sah alles Tun Gottes, daß ein Mensch das Tun nicht ergründen kann, das unter der Sonne geschieht. Und je mehr der Mensch sich müht, zu suchen, desto weniger findet er. Und auch wenn der Weise meint: ‚Ich weiß es‘, so kann er’s doch nicht finden“ (Koh 8,16f.). Der Weise hat letztlich keinen ‚Vorzug’ (vgl. Koh 6,8), sondern stirbt wie der Tor. Es gibt Fromme, denen es wie den Gottlosen ergeht; Gottlose, denen es wie den Frommen ergeht; der Tun-Ergehen-Zusammenhang der klassischen Weisheit vermag nach Kohelet das Leben nicht zu erklären: „Wiederum sah ich, wie es unter der Sonne zugeht: zum Laufen hilft nicht schnell zu sein, zum Kampf hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; daß einer angenehm sei, dazu hilft nicht, daß er etwas gut kann, sondern alles liegt an Zeit und Geschick“ (Koh 9,11; vgl. auch 8,14; 7,15). Dass es eine Antwort auf die Frage nach einer Ordnung des Lebensganzen nicht gibt, verbittert Kohelet zutiefst: „Da dachte ich in meinem Herzen: Wenn es denn mir geht wie dem Toren, warum habe ich dann nach Weisheit getrachtet? Da sprach ich in meinem Herzen: Auch das ist eitel. Denn man gedenkt des Weisen nicht für immer, ebensowenig wie des Toren, und in künftigen Tagen ist alles vergessen. Wie stirbt doch der Weise samt dem Toren. Darum verdroß es mich zu leben, denn es war mir zuwider, was unter der Sonne geschieht, daß alles eitel ist und Haschen nach Wind“ (Koh, 2,15ff.). Selbst den Tag seiner Geburt kann Kohelet verfluchen: „Wiederum sah ich alles Unrecht an, das unter der Sonne geschieht, und siehe, da waren Tränen derer, die Unrecht litten und keinen Tröster hatten. Und die ihnen Gewalt antaten, waren zu mächtig, so daß sie keinen Tröster hatten. Da pries ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr als die Lebendigen, die noch das Leben haben. Und besser daran als beide ist, wer noch nicht geboren ist und des Bösen nicht innewird, das unter der Sonne geschieht“ (Koh 4,1ff.). Nach Kohelet ist es nicht möglich, die Strukturen der Erfahrungswelt zu durchschauen. Und daher können wir unser Leben auch nicht absichern, indem wir im Durchschauen der Zusammenhänge des Ganzen und unseres eigenen Teilseins die angemessene Rolle innerhalb der Erfahrungswelt einnehmen. Jeder Versuch einer (selbstmächtigen) Kontrolle ist bei Kohelet abgewiesen; denn jeder Versuch, den einzelnen Widerfahrnissen im Leben einen übergeordneten Sinn abzugewinnen, erscheint ihm als unmöglich, „Programme“ zur Sicherung des Glücks werden abgewiesen (vgl. Koh 9,11). So kommt Kohelet zu der programmatischen Aussage, die den Anfang und das Ende des Buches zusammenhält: „Es ist alles eitel“ (Koh 1,2; 12,8). Nun darf allerdings die Aussage, dass alles eitel ist, nicht falsch verstanden werden. Falsch verstanden würde sie, wenn man dächte, die Abweisung eines erkennbaren Sinnes im Leben führe Kohelet dazu, die Güter, die das Dasein bietet, zu verachten oder gering zu schätzen. Ist die Parole also tatsächlich Morphinis-

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ten-kompatibel? Zumindest behauptet die Aussage „Alles ist eitel!“ auch nicht, dass im Leben kein Glück (ein Morphinist zu sein) zu finden sei. Vielmehr trifft sie die „Unendlichkeitsgelüste des Menschen, seine Begierde, das Endliche unendlich zu sichern und festzuhalten oder in unendlichem Fortschritt vollkommen zu machen“7. Die Skepsis des Kohelet sorgt „für die Ausnüchterung solcher Totalansprüche“8 und gerade diese Ausnüchterung scheint nüchtern zu machen für die Gegenwart. Kohelets Skepsis führt so zu einer Hinwendung zur Gegenwart: „Es ist eitel, was auf Erden geschieht: es gibt Gerechte, denen geht es, als hätten sie Werke der Gottlosen getan, und es gibt Gottlose, denen geht es, als hätten sie Werke der Gerechten getan. Ich sprach: Das ist auch eitel. Darum pries ich die Freude, daß der Mensch nichts Besseres hat unter der Sonne, als zu essen und zu trinken und fröhlich zu sein. Das bleibt ihm bei seinen Mühen sein Leben lang, das Gott ihm gibt unter der Sonne“. (Koh 8,14). Damit kommt aber nun in den Blick, inwiefern Falladas Morphinist Kohelets Leitsatz missgebraucht: Beschreibt Falladas Erzähler die Eitelkeit als eine Folge des Genusses, provoziert diese im Sinne Kohelets erst den Genuss. Die Skepsis gegenüber jeder Möglichkeit, das Leben abzusichern und gegenüber jedem Versuch, in einem ordo der Güter alles auf ein Höheres hin zu bestimmen und einem übergeordneten Zweck dienstbar zu machen, scheint dazu zu befähigen, die Güter des Lebens in ihrer Eigentlichkeit wahrzunehmen. Wer nicht alles „auffs ku(e)nfftig [...] meystern und regiren“ will, „der lesst begnu(e)gen an dem das fur handen gegenwertig ist“9, der wird für die Gegenwart aufgeschlossen. Wenn dieses Diktum Luthers an dieser Stelle erneut zitiert wird, hat dies seinen guten Grund, denn Luther hat es in seiner Auslegung von Kohelet formuliert. Es verdeutlicht, dass der Skepsis Kohelets der Rat folgt, sich dem hinzugeben, was uns gegenwärtig in seiner jeweiligen Anmutungsqualität ergreift: „So geh hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen. Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deinem Weibe, das du liebhast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne“ (Koh 9,7ff.). Wir können Kohelets Rat auch so auch formulieren: Genieße, was „fur handen gegenwertig ist“, freue dich auch an einer einzelnen Schwalbe, die du siehst, sie ist dein Sommer! 7 Bayer, Oswald: Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen 1990, S. 157f.

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8 Ebd., S. 158. 9 Luther, Martin: Vorrede auf den Prediger Salomo (1524), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Die deutsche Bibel Bd. 10. II., Weimar 1957, S. 104–106, bes. S. 106, Z. 8f.

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Kohelet würde dem Philosophen Rüdiger Bittner wohl darin zustimmen, wenn dieser darauf verweist, dass es darauf ankommt, „Versuchungen zu unterliegen“10. Treffend formuliert Bittner: „Hingerissen zu werden ist die Art der praktischen Vernunft.“11 Hier tut sich aber erneut die Frage auf: „Versuchungen erliegen“, „hingerissen werden“ – ist das nicht geradezu der Aufruf zur Gottlosigkeit? Ist das Ganz-bei-der-Sache-Sein nicht ein Widerspruch zu Gott, zum Ganz-bei-GottSein? Werden die Dinge des Daseins nicht vergötzt? Ist die angemessene Haltung nicht doch eher die Verachtung? Für Martin Luther ist dies keineswegs so. Er sieht die Wertschätzung der Dinge als den von Gott gerechtfertigten Gebrauch.

3.  G EWÄHRTE GEGENWART: VERGÖTZUNG UND VERACHTUNG JENSEITS VON Luthers Auslegung des 1. Artikels des apostolischen Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus zeigt einen Umgang mit den Dingen, der jenseits von beidem, angstbesetzter Verachtung und selbstsüchtiger Vergötzung, steht: „Der erste Artikel von der Schepfung. Ich gläube an Gott, den Vater allmächtigen, Schepfer Himmels und der Erden. Was ist das? Antwort. Ich gläube, daß mich Gott geschaffen hat sampt allen Kreaturn, mit Leib und Seel, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hofe, Weib und Kind, Acker, Viehe und alle Güter, mit aller Notdurft [gemeint: notwendigen Bedarf] und Nahrung dies Leibs und Lebens reichlich und täglich versorget, wider aller Fährlichkeit beschirmet und für allem Ubel behüt und bewahret, und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit, des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schüldig bin; das ist gewißlich wahr“12.

Sehen wir den Text genauer an, so fällt zunächst auf, dass Luther die Gegenwart des Schöpfers und die Gegenwärtigkeit seines Handelns hervorhebt. Nach dem Einsatz mit dem Perfekt („geschaffen hat“) wird nur noch das Präsens gebraucht: „erhält“, „versorget“, „beschirmt“, „behütet und bewahrt“13. So betont Oswald Bayer in seiner Auslegung des Schöpfungsglaubens im Kleinen Katechismus: „Der Wechsel des Tempus im Gefälle zum Präsens hin ist überaus aufschlußreich 10 Bittner, Rüdiger: Aus Gründen handeln, Berlin/New York 2005, S. 199. 11 Ebd. 12 M. Luther: Der große Katechismus, S. 510f. 13 Vgl. O. Bayer: Schöpfung als Anrede, S. 97.

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für Luthers Glauben an Gott den Schöpfer. Der ist ihm nämlich kein deus otiosus, kein müßiger, untätiger Gott, der seine Hände in den Schoß legt, wie es die Götter Epikurs tun, sondern der deus actuosissimus, der auch in seiner Ruhe lebendige und tätige.“14 Auf den Punkt gebracht: „Gott der Schöpfer ist unentrinnbar gegenwärtig.“15 Jeder deistischen Vorstellung ist damit durch Luther gewehrt: Für Luther ist entscheidend, dass der Schöpfer seine Schöpfung „noch erhält“ und „täglich“ für sie „sorgt“. Die Betonung der Gegenwart des Schöpfers und der Gegenwärtigkeit seines Handelns steht in engem Zusammenhang zu einer zweiten Auffälligkeit: Der in dieser Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses Redende isoliert sich nicht, indem er distanziert über „etwas“ redet, sondern er macht sich selbst thematisch: „Ich gläube, daß mich Gott geschaffen“, „mir Leib und Seel […]“, „ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit“, „des alles ich ihm zu danken […]“. Kommt im Text des Apostolischen Glaubensbekenntnisses der Glaubende nicht vor und werden nur die puren Fakten dargestellt („Ich gläube an Gott, den Vater allmächtigen, Schepfer Himmels und der Erden“), so bezieht die Auslegung (eingeleitet mit „Was ist das?“) diese Fakten auf das Leben des einzelnen Glaubenden.16 „Der Christ“ – so Notger Slenczka – „lernt nicht und formuliert nicht, was damals, als der Text geschrieben wurde, die Menschen darunter verstanden haben, was sie damit sagen wollten und gemeint haben, sondern er eignet sich die Aussage des Bekenntnisses an, er formuliert, was das für ihn, für den Christen hier, bedeutet: ‚Ich glaube an Gott, den Schöpfer‘ heißt: ‚Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat‘. ‚Was ist das?‘ – das heißt also nicht: Was bedeutet das, objektiv und auf Abstand, erklär mir die Worte, erklär mir die Vorstellungen, die im Hintergrund stehen. Die Katechismusfrage ‚Was ist das?‘ heißt also: Was bedeutet das für dich? Was heißt das für dein Leben? Was sagen diese alten Worte über dich? Wo kommst du in diesen Worten vor? Das ‚Was ist das?‘ heißt so viel wie: ‚Was macht das mit dir?‘“17 . Man würde Luthers Auslegung verkürzen, wenn man hier Aussagen über die Welt gemacht sieht, von denen derjenige, der das Bekenntnis spricht, bekundet, dass er sie für wahr hält. Vielmehr bringt sich hier ein Lebensvollzug zur Sprache, der die wahrgenommene Welt auf sich bezieht, um sich in ihr zu finden. Die gesamten Lebensbereiche des Menschen, seine ihn konstituierenden Sphären des Handelns, werden als Gaben der Schöpfung verstanden. Dies wird auch deutlich an der – an die Listensprache der alttestamentlichen Weisheit erinnernde – Aufzäh14 Ebd., S. 98f. 15 Ebd., S. 99. 16 Vgl. Slenczka, Notger: Der Tod Gottes und das Leben des Menschen. Glaubensbekenntnis und Lebensvollzug, Göttingen 2003, S. 33f. 17 Ebd., S. 34.

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lung der einzelnen Schöpfungsgaben. Dabei ist durchaus an keine wissenschaftlich korrekte und vollständige Benennung gedacht. Vielmehr ist „[e]ine klare Auswahl [...] getroffen; die Begriffsreihen bieten Lücken und werden durch die Phantasie dessen, der den Text spricht und hört, individuell ergänzt. [...] Die Aufzählung beginnt jeweils mit konkreten Begriffen; nachdem die Reihe begonnen und die Phantasie in Bewegung gesetzt ist, kann, im Gebrauch abstrakter Begriffe, summarisch abgeschlossen werden, ist doch das eigene Weiterdenken eröffnet.“18 Der in das Bekenntnis einstimmende Mensch ist eingeladen, sich in der wahrgenommenen Welt – je auf seine Weise, innerhalb seines konkreten Ortes – zur Sprache zu bringen. Eine weitere Auffälligkeit will bedacht werden: die Formulierung „ohn all mein Verdienst und Wirdigkeit“. Diese Formulierung überrascht im Kontext der Rede von der Welt als Schöpfung. Sie hat ihren Ort in der Rechtfertigungslehre, in der die Annahme des Menschen ohne seine eigenen Leistungen, Fähigkeiten und Qualitäten thematisiert wird. Es besagt „Entscheidendes für ein Schöpfungsverständnis, wenn es zu seiner Artikulation ausdrücklich zur Sprache der Rechtfertigung greift“19: Meine Herkunft und die Gewährung der Gegenwart ist ungeschuldet. Auch die Gabe der Schöpfung ist nach Luther allein Gottes Werk, insofern auch die Gewährung von Leben von menschlichem Verhalten unabhängig gemacht wird. An die Schöpfung zu glauben, bedeutet nicht zu glauben, dass die Welt „von anderwärts her ist”20, sondern auf die Welt als mir zugesagtem Lebensraum zu vertrauen und die Gegenwart als für mich gegeben wahrzunehmen. Der in dieser Weise von der Schöpfung sprechende Mensch versteht sich eben nicht (bloß) als Element innerhalb eines (von Gott in Gang gesetzten) Naturzusammenhanges21, sondern begreift die Welt als ihm persönlich zugesagt und daher die Gegenwart als den ihm von Gott eröffneten Möglichkeitsraum des Handelns. Der Schöpfungsglaube ist das Vertrauen auf die Welt als mir zum Leben zugesagt und damit auch das Vertrauen darauf, dass ich anerkannt und angenommen bin als der, dem das Leben „ohn all mein Verdienst und Wirdigkeit“ zugesagt ist. Mit dem Glauben an die Welt als Schöpfung Gottes ist daher einer bestimmten Form der Wahrneh18 O. Bayer: Schöpfung als Anrede, S. 96. 19 Ebd., S. 105. 20 Schleiermacher, Friedrich Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt Bd. 1, neu hg. u. mit Einl., Erläut. und Register versehen v. M. Redeker, Berlin 71960, § 4,3. 21 Gegen Schleiermacher 1960, § 46, 2; § 47. Kritisch hierzu: Roth, Michael: Gottes Allmacht und Passivität des Menschen in der christlichen Frömmigkeit. Überlegungen zum Menschen im Gebet. Luther 75, Göttingen 2004, S. 123–142.

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mung der Gegenwart Ausdruck gegeben. „Das Wahrnehmen des Gewährten im Nehmen, Essen und Leben – das ist Glaube“22. Lenken wir, um dieses Verständnis des Glaubens als Wahrnehmung des Gewährten im menschlichen Lebensvollzug genauer in den Blick zu nehmen, noch einmal auf Kohelet zurück. Wir haben festgestellt, dass die Abweisung eines erkennbaren Sinnes im Leben Kohelet nicht dazu verleitet, die Güter des Daseins zu verachten oder geringzuschätzen, sondern zu einer Hinwendung zur Gegenwart führt: „So geh hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon lange gefallen. Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deinem Weibe, das du liebhast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne“ (Koh 9,7ff.). Wir sahen: Den Weg Augustins geht Kohelet gerade nicht. Die Dinge des Daseins um ihrer selbst willen zu begehren und zu genießen, ist aus dem Grund keine Absage an Gott, weil Gott die Dinge des Daseins genau zu diesem „Zweck“ bestimmt hat. Unüberbietbar treffend formuliert daher Oswald Bayer: „Der Genuß des Endlichen ist dessen gerechtfertigter Gebrauch“23. Es geht nicht darum, das Endliche in irgendwelchen Unendlichkeitsgelüsten dem Unendlichen dienstbar zu machen, sondern im Endlichen wird das Unendliche genossen, weil sich das Unendliche im Endlichen gibt: Nimm hin und iß! Die Ehre des Unendlichen findet nicht anders statt als so, dass das Endliche als Endliches und um seiner selbst willen genossen wird. Gerade daher überrascht es nicht, dass Luther auf diese Stelle bei Kohelet positiv Bezug nimmt. „Darum“ – so gibt Luther in seiner Vorrede auf den Prediger Salomo wieder – „mustu nicht dis buch also verstehen, alls schellte es die creaturn Gottes, wenn es spricht, es sey alles eyttel und iamer etc. Denn Gottes creaturn sind alle gut, Gene 1. und 2. Timo 4. Auch leret es selbst, das eyner soll guten mut haben mit seym weybe, und des lebens brauchen etc.“24. Für Luther ist diese Stelle bedeutsam, weil sie auch vor der Geringschätzung der Gegenwart und ihrer Möglichkeiten warnt. Entscheidend ist für Luther das Vertrauen darauf, dass die Welt von Gott zum Leben zugesagt ist. So interpretiert Luther in seiner Schrift „Von den guten Werken“: „Das kleid alletzeit weisz sein, das ist: alle unsere werg gut sein, wie sie mugen genandt werden, on alle unterscheit. Dan sein sie aber weisz, ich gewizs bin und gleub, 22 Bayer, Oswald: Ethik der Gabe, in: Knuth, Hans Christian (Hg.): Angeklagt und anerkannt. Luthers Rechtfertigungstheologie in gegenwärtiger Verantwortung (Veröffentlichungen der Luther-Akademie Sondershausen-Ratzeburg e.V.; 6), Erlangen 2009, S. 133–154, bes. S. 150. 23 O. Bayer: Schöpfung als Anrede, S. 157. 24 M. Luther: Vorrede, S. 106, Z. 3–6.

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sie gefallen got“25. Das Vertrauen auf Gottes Zusage lässt uns die Dinge um ihrer selbst willen annehmen. Luther provoziert daher auch nicht die Frage, ob dieses oder jenes zu gering ist, wir nicht größeres verwirklichen sollten. Dem Glauben – so Luther – „ist kein unterscheidt in wercken. Thut das grosz, lang, vile szo gere, als das klein, kurtz, wenige“26. Der Schöpfungsglaube ist das Vertrauen auf die in, mit und unter den Dingen des Daseins gegebene Zusage Gottes: Für dich gegeben! Die Welt als Schöpfung zu preisen, heißt dieser Zusage zu vertrauen und im Vertrauen auf diese Zusage befähigt zu sein, in der Gegenwart zu leben; denn dieses Vertrauen lässt die in der jeweiligen Gegenwart eröffneten Möglichkeiten des Daseins als zugesagt erleben – zugesagt zur lustvollen Hingabe an sie. Von hier aus kommt auch die Sünde in den Blick: Sie ist die Verachtung der Dinge des Daseins aus fehlendem Vertrauen in diese Zusage.

4.  SÜNDE – VERLUST DER DINGE Wir haben eben zu verdeutlichen versucht, dass, wenn der Glaubende von der Welt als „Schöpfung“ spricht, er damit keine Aussage über die Welt macht, sondern eine Aussage über seinen Lebensvollzug. An die Welt als Schöpfung Gottes zu glauben bedeutet nicht, die Aussage für wahr zu halten, dass sich die Erfahrungswelt einem unbewegten Beweger, einer unverursachten Ursache o. ä. verdankt, sondern im Vertrauen auf die Welt als mir zum Leben zugesagten Lebensraum zu existieren. „Das Wahrnehmen des Gewährten im Nehmen, Essen und Leben – das ist Glaube“27. Allerdings bringt sich der Glaube nicht ausschließlich in der Rede von der Schöpfung zur Sprache. Glaube ist etwas anderes als kosmosfromme Naivität. So leitet die christliche Tradition dazu an, sich auch einzugestehen, dass dieses Vertrauen keineswegs als ungebrochen und geradlinig erfahren wird. Der Mensch lebt nicht immer schon im Vertrauen auf die in der und durch die Schöpfung gegebene Zusage des Lebens. Dieses tiefsitzende Misstrauen des Menschen wird als Sünde zur Sprache gebracht. In der Sündenlehre thematisiert die Dogmatik das menschliche Überhören der in der Schöpfung ergehenden Zusage der Gegenwart und die Konsequenzen dieses Überhörens: den Verlust der Gegenwart. „Sündigen“ bedeutet – wie Harald Schöndorf treffend formuliert – „dass wir dem, was da ist, dieses sein Da-Sein, seine Gegenwart verweigern. Wer sündigt, lässt nicht zu, dass das, 25 Luther, Martin: Von den guten Werken (1520), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe Bd. 6, Weimar 1888, S. 202–276, bes. S. 205, Z. 26–28. 26 Ebd., S. 207, Z. 19f. 27 O. Bayer: Schöpfung als Anrede, S. 150.

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was für ihn ist, ihm wirklich gegenwärtig wird. Oder genauer gesagt: Er negiert die Gegenwart dessen, was in Wahrheit gegenwärtig ist“28. Sünde als „Übertretung eines Gebotes“ zu verstehen, ist zu kurz gegriffen: „Sünde“ – so formuliert Oswald Bayer – „ist nicht in erster Linie Übertretung eines Verbots […], sondern das Übertreten und Übergehen eines Gebotes als eines Dar-Gebotenen, als eine Gabe und Chance, die einem geboten, gewährt wird.“29 Inwiefern die Sünde als Verlust der gewährten Gegenwart zu verstehen ist, möchten wir im Folgenden verdeutlichen. Dabei geht es vor allem darum, ein Verständnis dafür zu wecken, dass es sich bei dem Phänomen „Sünde“ nicht um ein willentliches Fehlverhalten handelt, sondern mit diesem Begriff die existentielle Not des Menschen zur Sprache gebracht wird – und zwar eine solche Not, in der der Mensch festgehalten ist und aus der er sich selbst nicht befreien kann. Die Sünde ist daher vor allem von einem moralischen (Miss‑)Verständnis zu befreien. Natürlich wirkt sich die existentielle Not, die mit dem Begriff Sünde zur Sprache gebracht wird, in einzelnen Handlungen aus, durch die anderen Menschen die Lebensgrundlage entzogen wird und die daher unserer moralischen Missbilligung ausgesetzt sind; die existentielle Not wirkt sich aber vor allem auch in solchen Handlungen aus, durch die der Mensch sich selbst die Lebensgrundlage entzieht – und durch die er sich der Möglichkeiten beraubt, den Dingen des Daseins angemessen begegnen zu können. Die Sünde als Verkehrung des Schöpfungsglaubens zu begreifen, bedeutet sie in erster Linie als Defizit – als ein Unvermögen – zur Sprache zu bringen. Sünde ist der Verlust des Vertrauens in die Welt als dem mir zugesagten Lebensraum. Das Auf-Sich-Selbst-Gerichtet-Sein will – auch wenn es häufig als Selbstvertrauen und Selbstliebe erscheint – als eben jener Mangel verstanden werden und die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Sünde sind als Kompensationen dieses Mangels zu begreifen. Für den Sünder wird das, was eigentlich Gabe ist, zur Aufgabe. Treffend formuliert Walter Mostert: Die Sünde „lebt gewissermaßen empirisch an der Erfahrung vorbei, daß wir physisch und psychisch nicht von uns selbst leben, sondern von den Händen der Mutter, die den Säugling wickelt, bis zu den Händen der Menschen, die unsern Leichnam begraben, aus der Erfahrung der Güte leben, also ursprünglich rezeptiv existieren. Sie ist also letztlich die irrationale Wiederholung des Gegebenen in einem Vergewisserungsakt“30. 28 Schöndorf, Harald: Was ist Gegenwart, in: Drewsen, Margarethe/Fischer, Mario (Hg.): Die Gegenwart des Gegenwärtigen. Festschrift für P. Gerd Haeffner SJ zum 65. Geburtstag, München 2006, S. 196–208, bes. S. 208. 29 O. Bayer: Schöpfung als Anrede, S. 150. 30 Mostert, Walter: Erfahrung als Kriterium der Theologie. Theologische Brocken aus drei Jahrzehnten (1966–1995), in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 72, S. 427–460, bes. S. 456.

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Wenn Luther den Sünder als Menschen beschreibt, der um sich selbst kreist, der in all seinem Tun, Wollen und Denken auf sich selbst gerichtet ist (homo incurvatus in se ipsum), dann hat dieses Auf-Sich-Selbst-Gerichtet-Sein seine Ursache in der Unfähigkeit, der in der Schöpfung ergehenden Zusage zu vertrauen und die in dieser Zusage enthaltene Annahme zu empfangen. Stattdessen werden Zusage und Annahme zu eigenen Aufgaben des Menschen selbst und gerade diese Aufgaben lassen ihn unaufhörlich mit sich selbst beschäftigt sein, nach seiner Identität fragen. Von daher ist Sünde als Verlust der Gegenwart zu verstehen. In diese Weise argumentiert auch Oswald Bayer: „Es ist das Merkmal der radikalen Existenzsorge, an der Gegenwart vorüberzugehen, sie gleichsam auszulassen. Es ist das Merkmal des […] Sünders, das, was ihm gegeben ist, was er hat, nicht zu sehen. Der Sünder nimmt das Gegenwärtige nicht wahr, er zahlt vielmehr mit Versprechungen wie diesen: Ein Jahr später wird es gehen! Spätere Generationen werden es besser haben. Indem er auf diese Weise das Zukünftige spekuliert, verliert er das Gegenwärtige wie jener Hund der Äsopischen Fabel, der, im Mund einen Bissen Fleisch tragend, nach dessen Spiegelbild im Wasser schnappt und damit das Fleisch, das er hat, verliert.“31 Die Begierde, alles aufs Künftige zu meistern und zu regieren, ist zu verstehen auf Grund des Unvermögens, sich auf die Gegenwart und ihre Möglichkeiten einzulassen, weil sie eben nicht als „für mich gegeben“ erlebt wird. Doch wohl zutreffend spricht Luther daher von der Gier nach Zukunft, der „concupiscentia futurorum.“32 Der Sünder lebt – um mit Gerd Haeffner zu sprechen – „in der Phantasie statt in der Wahrnehmung“33, er ist Utopist, präziser gesagt: Seine Unfähigkeit, sich von der Gegenwart bestimmen zu lassen, verurteilt ihn zu einem Utopisten, der die Gegenwart im Blick auf die Zukunft bestimmt. Das Verständnis dieser Unfähigkeit, der Sünde, kann durch einen erneuten Blick auf die Sucht noch geschärft werden: wir haben oben bezogen auf die Sucht festgestellt, dass wir uns in der Sucht den Dingen des Daseins nur vermeintlich genussvoll hingeben. Vielmehr werden wir von den Dingen des Daseins aufgesogen, sodass wir auf eine unheilvolle Weise in der Gegenwart „festgehalten“ sind. Auch dieses Festgehalten-Sein in der Sucht verdankt sich dem Misstrauen gegenüber dem Dasein: In der Sünde wird das Dasein erlebt als etwas, das sich mir zu verschließen scheint, mir „nicht zugesagt ist“ und daher auch die Hingabe nicht 31 O. Bayer: Schöpfung als Anrede, S. 156. 32 Luther, Martin: Annotationes in Ecclesiasten, in: Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe Bd. 20. Weimar 1898, S. 1–203, bes. S. 59, Z. 34. Vgl. O. Bayer: Schöpfung als Anrede, S. 156f. 33 Drewsen, Margarethe/Fischer, Mario (Hg.): Die Gegenwart des Gegenwärtigen. Festschrift für P. Gerd Haeffner SJ zum 65. Geburtstag. München 2006, S. 7.

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gestattet. Die lustvolle Hingabe verwandelt sich daher in habsüchtige, suchtvolle Begierde, die darin besteht, zwanghaft zu ergreifen, was mir nicht gegeben, ja, was mir das Dasein zu verweigern scheint. Gerade so kommt es zur wechselseitigen Vergötzung und Verachtung der kreatürlichen Güter. Das suchtvolle Nachjagen kann umschlagen in die Verachtung, dem Gewahrwerden, dass ein jeweiliges kreatürliches Gut dem an es herangetragenen Anspruch nicht zu genügen vermag, sodass es zum Gefühl der getäuschten Hoffnung, zum Innewerden der Illusion kommt. Schalheit und das Gefühl der Nichtigkeit stellen sich ein. Auch Hans Fallada erspart seinem Erzähler, dem Morphinisten, der – wir erinnern uns – sachlich über dessen Glück berichtet, diese ernüchternde Wende nicht: „Ich erinnere mich, in diesen Sekunden das Glück der Menschheit gesehen zu haben. Ich weiß nicht mehr, in welcher Gestalt es mir erschien, welch Antlitz es trug, ich erinnere mich nur noch, mitten in meinem Zimmer gestanden und gestammelt zu haben: ‚Das Glück […] o das Glück […] nun sehe ich es endlich […].‘ Aber, da ich spreche, ist das Bild schon wieder vergangen, ich zwinge mein Gehirn umsonst, es erscheint nicht mehr, und jede weitere Spritze, die ich in mich jage, macht mich nur wilder, besinnungsloser, hetzender.“34 Weil es in der habsüchtigen Begierde nicht um Hingabe geht, um ein Sich-Bestimmen-Lassen, sondern um ein aktives „AuslutschenWollen“ der Dinge auf das hin, was mir das Dasein verwehrt, trägt diese Art von Begierde so wenig lustvolle Züge, sondern erscheint als Verbissenheit und Starre. Nur erinnernd kennt Falladas Morphinist eine tatsächlich lustvolle Hingabe an die Dinge in früheren Zeiten, weiß um die Unterschiedenheit von seiner süchtigen Begierde, aber verdreht die beiden Erfahrungen im Rausch grotesk ins Gegenteil: „Habe ich mich denn nicht an dem Duft des Weines erfreut, wie ich mich auch an den weißgekleideten Mädeln erfreue, die ich nicht mehr begehre? Duft und Mädel, ich nehme sie in meine Träume hinein, sie enttäuschen mich nicht, wie sie es im Leben mit Rausch und Ernüchterung tun würden.“35 Sünde ist also auch in der Sucht nicht das freudige Wahrnehmen der Dinge des Daseins, sondern Verachtung derselben: „Die Dinge des Daseins sind Dir nicht zugesagt, wenn Du sie haben willst, musst du sie dir ergreifen!“ – redet uns der satanische Verführer ein. Der Satan rühmt nicht die Schönheit der Welt, sondern wirbt für Ihre Verachtung, er verdunkelt das, was als von Gott zugesagt im Licht stehen sollte. Trefflich bringt auch dies Paul Gerhardt zum Ausdruck, dem daher nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort gehören soll (EG 446, 2f.):

34 H. Fallada: Sachlicher Bericht, S. 22. 35 Ebd., S. 19.

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Heut, als die dunklen Schatten Mich ganz umfangen hatten, Hat Satan mein begehret, Gott aber hat’s gewehret. Du sprachst: „Mein Kind, nun liege, Trotz dem, der Dich betrüge; Schlaf wohl, laß Dir nicht grauen, Du sollst die Sonne schauen.“

Die „letzten Dinge“ – Von der Beständigkeit der Dinge im Sterben Praktisch- und systematisch-theologische Zugänge zur materiellen Kultur am Lebensende Sonja Beckmayer/Marcus Held

Die Dinge, verstanden als „physische Gegenstände der menschlichen Umwelt, unabhängig von ihrem Hersteller, dem Herstellungsprozess oder ihren spezifischen Materialeigenschaften“1, wurden in der evangelischen (Praktischen) Theologie bisher wenig wahrgenommen, erfahren aber einen Wahrnehmungsaufschwung. Zunehmend werden sie auch in der Forschung als relevante Forschungszugänge erkannt und nutzbar gemacht. Wie dies, dem Grundanliegen der „funerale8 – Dinge, die bleiben“ folgend, im Kontext von Sterben und Tod geschehen kann, soll hier an zwei Beispielen vorgestellt (1), für die grundsätzliche Wahrnehmung der Dinge am Lebensende als „biographische Souvenirs“ reflektiert (2) und für die (praktisch- und systematisch-)theologische Forschung erschlossen (3) werden.

1.  D  IE „LETZTEN DINGE“ – EIN FORSCHENDER BLICK Befragt nach einem Gegenstand im Sterbeprozess ihres Vaters im Hospiz erinnert sich Finnja gleich an zwei Dinge: an seine Bibel und seinen Ehering. Ihr Vater habe sich, bereits im Hospiz lebend, noch die neue Lutherübersetzung gewünscht, obwohl er in seinem bisherigen Leben nicht wirklich religiös war. Das Lesen in 1 Beckmayer, Sonja: Die Bibel als Buch. Eine artefaktorientierte Untersuchung zu Gebrauch und Bedeutung der Bibel als Gegenstand (= Praktische Theologie heute, 154), Stuttgart 2018, S. 39.

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dieser Bibel scheiterte am Bibelbuch: es war zu groß, als dass der Vater es, geschwächt durch die Krankheit, noch hätte halten können. Es sollte aber auf dem Nachtisch des Hospizbettes liegen bleiben. Nun liest und arbeitet Finnja in und mit ihr, der Bibel ihres Vaters. Den Ehering habe er immer getragen, in all den vielen Jahren einer glücklichen Ehe. Durch Operationen und Medikamente war es eine Zeitlang unmöglich für den Vater, ihn weiter zu tragen. Als es endlich wieder möglich wurde, verhinderte er auch im Sterben noch, dass er ihm wieder abgenommen wurde, indem er die Hand ballte. Schließlich wurde der Ehering mit ihm begraben.2 Die „letzten Dinge“, sind Dinge, die bleiben – in Erinnerung3 der Hinterbliebenen bleiben, ganz materiell erhalten bleiben oder, selbst wenn es rechtlich nicht vorgesehen ist, im Grab verbleiben. Dinge sind involviert in Lebens- und auch Sterbensprozesse, werden in ihnen materiell verändert und verändert wahrgenommen.4 Dingen haften immaterielle Erinnerungen an, sie tragen ganz materiell Gebrauchsspuren ihrer Benutzerinnen und Benutzer, sie speichern Gerüche oder bergen andere Dinge.5 Mit den Dingen wurde und wird gelebt, geliebt, gebetet.6 Dies betrifft nicht ausschließlich „handwerkliche Dinge“, also durch Handarbeit hergestellte Einzelstücke. Diese Dynamiken der Dinge gelten in der gleichen Weise für Artefakte, verstanden als Dinge, „die industriell, in großer Stückzahl, 2 Beide Fallbeispiele aus dem Pretest zum Forschungsprojekt „Die letzten Dinge“ von Dr. Marcus Held (Justus-Liebig-Universität Gießen) und Dr. Sonja Beckmayer (Johannes Gutenberg-Universität Mainz). 3 Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002; Petzel, Paul/Reck, Norbert (Hg.): Erinnern. Erkundungen zu einer theologischen Basiskategorie, Darmstadt 2003. Grundlegend dazu auch Ricoeur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, Paderborn 2004; Breitling, Andris/Orth, Stefan (Hg.): Erinnerungsarbeit. Zu Paul Ricoeurs Philosophie von Gedächtnis, Geschichte und Vergessen, Berlin 2004. 4 Vgl. Krüger, Christian: Medien der Bedeutung. Wie die Welt einen Unterschied macht, Hamburg 2019; Zander, Romanée: Der Stand der Dinge. Über das Zusammenspiel von Sprache, Wahrnehmung und ästhetischer Bedeutung, Bielefeld 2019. 5 Rathe, Clemens: Die Philosophie der Oberfläche. Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Äußerlichkeit und ihre tiefere Bedeutung, Bielefeld 2020. 6 Karstein, Uta/Schmidt Lux, Thomas: Die materiale Seite des Religiösen. Soziologische Perspektiven und Ausblicke, in: Dies./Ders. (Hg.): Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen, Wiesbaden 2017, S. 3–24; Bräunlein, Peter J.: Die materielle Seite des Religiösen. Perspektiven der Religionswissenschaft und Ethnologie, in: Karstein, Uta/Schmidt Lux, Thomas (Hg.): Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen, Wiesbaden 2017, S. 25–48.

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mit einer ähnlichen Ausstattung und mit einer intendierten Funktion produziert werden, deren tatsächlicher Gebrauch dieser Intention aber auch widersprechen kann“7. Also auch für die Dinge, die in der Produktion damit gerade keine Einzelstücke sondern eher Massenware sind. Sowohl Dinge als auch Artefakte tragen Bedeutungen – je andere für verschiedene Personen. In spezifischer Weise werden diese grundsätzlichen Dynamiken der Dinge noch einmal deutlich, wenn es um die Dinge am Lebensende geht. Das Feld des Hospizes ermöglicht es dabei, fokussiert die Konstruktion und Konstitution der Dinge im Horizont von Tod und Sterben zu untersuchen.8 Eine Grundlage dafür ist die durch den Umzug ins Hospiz notwendig werdende Reduktion der Dinge in ihrer Anzahl. Die Dinge, die Sterbende in ein Hospiz mitbringen, sind in besonderer Weise mit Sinn und Bedeutung aufgeladen – durch den Sterbenden oder die Angehörigen.9 Es sind Dinge, die für jemanden aus diesem Personenkreis so bedeutsam sind, dass sie mitgenommen werden. Der Volkskundler Bernd Oeljeschläger spricht von Lieblingsdingen, „die für ihre Besitzer eine besondere 7 S. Beckmayer: Die Bibel als Buch, S. 39. Im Fortgang wird, dem Titel der Tagung folgend, in der Regel von den Dingen die Rede sein. Dieser Begriff schließt anders als der des Artefakts auch handwerkliche Erzeugnisse, wie z. B. den Ehering, mit ein. 8 „Hospiz“ wird dabei nicht als ambulante Sterbebegleitung verstanden, sondern im Sinne eines heterotopen Raumes (vgl. Foucault, Michel: Die Heterotopien/Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a. M. 2005), der durch soziale Mobilität gekennzeichnet ist. Heterotopien sind realisierte Utopien, wobei das Hospiz als Ort der Utopie selbst eine Realisierung des Raumes der Hoffnung ist (vgl. Moltmann, Jürgen: Theologie der Hoffnung, Gütersloh 1997). Hospize werden somit als Verortung sozialer Praktiken (vgl. Bongaerts, Gregor: Soziale Praxis und Verhalten. Überlegungen zum Practice Turn in Social Theory, in: Zeitschrift für Soziologie 36 (2007), S. 246–260; Schatzki, Theodore: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, Pennsylvania 2002; Ders.: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996) und als Orte der Hoffnung verstanden, in dem sie selbst zur sozialen Praktik in der Moderne werden. Sie sind „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“ (Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 72002, S. 34–46, hier S. 39). 9 Es handelt sich bei ihnen um eine symbolische Verkörperung (vgl. Jung, Matthias: Symbolische Verkörperung – Die Lebendigkeit des Sinns, Tübingen 2017).

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Bedeutung haben, […] Werte also, die sich für den jeweiligen Besitzer in seinem Gegenstand widerspiegeln und nicht unbedingt materieller Art sind, sondern ganz persönliche, private, individuelle und subjektive Werte darstellen. Ähnlich einer Reliquie enthalten sie daher für seinen Besitzer mehr als für Außenstehende von der bloßen Betrachtung her zunächst sichtbar wäre, eine eigene Biographie sozusagen, die in dem Gegenstand steckt, eine Dingbiographie, die als Zeichen ihrer Zeit, ihrer Herkunft und ihres Trägers bzw. Besitzers Aufschluß über die sich in ihr widerspiegelnde Lebenswirklichkeit, über das Kleine im Großen, geben kann.“10 Das Feld des Hospizes ermöglicht es daher zu verfolgen, wie der Prozess von Bedeutungszuschreibung und -veränderung sich vollzieht.11 So lässt sich ein Beitrag zur Sozialisations- und Subjektivierungsforschung12 im Themenkreis von Sterben und Tod im institutionellen Rahmen des heterotopen Raumes des Hospizes leisten. Im heterotopen Ort des Hospizes ermöglichen Dinge mit ihrer sozialen Mobilität, durch die De- und Reterritorialisierung13 ihrer Dingbedeutsamkeiten, 10 Oeljeschläger, Bernd: Dingbiographien in Lieblingsgegenständen. Ein Versuch zur Benennung von Dingbedeutung, in: Deutsche Gesellschaft für Volkskunde (Hg.): SachKulturForschung. Gesammelte Beiträge der Tagung der Arbeitsgruppe Sachkulturforschung und Museum in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde vom 15. bis 19. September 1998 in Bad Windsheim, Bad Windsheim 2000, S. 86–93, hier S. 90. 11 Die „letzten Dinge“ verdichten die bisherige Lebensgeschichte als Idealbildung zwischen Verkörperung und Transzendenz(auf-/er-)schließung in einer kategorialen Semiotik (vgl. M. Jung: Symbolische Verkörperung, S. 130ff.). Zugleich artikuliert sich in ihnen die Interrelationalität von somatischer und soziokultureller Verkörperung, indem sie weniger die Aussagbarkeit thematisieren als vielmehr die Ausdrückbarkeit als Prägnanzform der Unbestimmtheit (vgl. Ders.: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, Berlin 2009). 12 Vgl. Alkemeyer, Thomas: Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik, in: Ders./Budde, Gunilla/Freist, Dagmar (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 29–64. Grundlegend auch Foucault, Michael: Die Sorge um sich – Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt a. M. 1989. Weitergehende Überlegungen finden sich in Bosančić, Saša/ Keller, Reiner (Hg.): Diskursive Konstruktionen. Kritik, Materialität und Subjektivierung in der wissenssoziologischen Diskursforschung, Wiesbaden 2019; Geimer, Alexander/Amling, Steffen/Bosančić, Saša (Hg.): Subjekt und Subjektivierung. Empirische und theoretische Perspektiven auf Subjektivierungsprozesse, Wiesbaden 2019; Bohn, Simon: Die Ordnung des Selbst. Subjektivierung im Kontext von Krise und psychosozialer Beratung, Bielefeld 2017. 13 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a. M. 1974. „Deleuze and Guattari see territorialization (deterritoriali­zation

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einen wichtigen Beitrag zur Verortung, Subjektvierung und den Transitusprozessen14 eines Sterbenden. Zugleich wird durch das Umfeld des Hospizes die zeitliche Erstreckung in drei Zeitschichten des Gegenstands unterscheidbar: der Zeit, bevor der Gegenstand Teil des Sterbeprozesses im Hospiz wurde (der lange getragene Ehering), der Zeit im Hospiz mit der Zeit des Sterbens (die Neuanschaffung der Lutherbibel, die erneute Möglichkeit den Ehering zu tragen) und der Zeit nach dem Tod des ursprünglichen Besitzers oder der Besitzerin (der weitere Gebrauch der Bibel durch die Tochter und das Belassen des Eherings beim Verstorbenen). Forschungsmethodisch gedacht lassen sich in diesem Feld die praktisch-theologische Artefaktorientierung15 mit der Analyseperspektive der „Praxeologie“16

and reterritorialization) as the outcome of dynamic relations between physical and/or psychosocial forces. Territorialization is an active process, whose agent may be human, animate, inanimate or abstracted (society, God, ,they‘), as may the object of territorialization. […] People are the continual subjects of deterritorialization and reterritorialization […].“ (vgl. Nick Fox, www.wisdomnet.co.uk/nick/nomad.html (Zugriff 14.12.2019)). Deterritorialisierung bedeutet demnach die Suche nach neuen Anschlüssen, Reterritorialisierung die Wiederholung oder Stärkung bestehender Kopplungen. Eine produktive Weiterschreibung des Konzeptes betreibt Protevi, John: Political Physics. Deleuze, Derrida and the Body Politic, London 2001; Ders.: Political Affect. Connecting the social and the somatic, Minneapolis 2009. 14 Die christliche Vorstellungswelt kennt dieses Phänomen besonders durch den Transitus Mariae als den Hinübergang in den Himmel. In theologischer Hinsicht könnte auf diese Beschreibungssprache mehr zurückgegriffen werden. Vgl. Spreckelmeier, Susanne: Bibelepisches Erzählen vom Transitus Mariae im Mittelalter, Berlin 2019. 15 Vgl. S. Beckmayer: Die Bibel als Buch, S. 65–90, sowie dies.: Artefakte in der Praktischen Theologie. Artefaktorientierung als Potenzial der empirischen Religionsforschung, in: Praktische Theologie 53 (2018), S. 234–241. 16 Unter „Praxeologie“ wird ein sich in der Zwischenzeit ausdifferenzierendes Bündel von verschiedenen Theorieansätzen in der Auseinandersetzung mit „sozialen Praktiken“ zu verstehen sein. Grundlegend dazu vgl. Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–301; Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Frankfurt a. M. 2012; Hillebrandt, Frank: Soziologische Praxistheorien, Wiesbaden 2014. Einen Überblick vermittelt Schäfer, Hilmar (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2016.

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(Bourdieu17, Schatzki18, Shove19) verbinden, so dass es möglich wird, neue Zugangsweisen in das zu untersuchende Feld zu finden, wie unterschiedliche Zeitindices der Dinge und den damit verbundenen Wandel bzw. Transitus der Sinn- und Bedeutsamkeitskonstitution zu korrelieren, statt einen der zeitlichen Abschnitte zentral zu setzen20. Der artefaktorientierte Ansatz in Verbindung mit der Forschungsperspektive der Praxeologie erschließt die „Dingbedeutsamkeiten“21 der „letzten Dinge“ in und durch Praktiken der Subjektivierung.22 So kommen mit 17 Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2009. 18 Th. Schatzki: Social Practices; Ders: The Site. 19 Shove, Elizabeth/Pantzar, Mika/Watson, Matt: The Dynamics of Social Practice. Everyday Life and How it Changes, London 2012. Weiterführend Hui, Allison/Schatzki, Theodore/Shove, Elizabeth: The nexus of practices. Connections, constellations, practitioners, London 2017. 20 Müller, Oliver: Altern. Sterben. Tod. Die Vergänglichkeit des Menschen aus der Sicht der Naturwissenschaften, Gütersloh 2019; Mitscherlich-Schönherr, Olivia (Hg.): Gelingendes Sterben. Zeitgenössische Theorien im interdisziplinären Dialog, Berlin 2019. Vgl. auch Thieme, Frank/Jäger, Julia: Sterben und Tod in Deutschland. Eine Einführung in die Thanatosoziologie, Wiebaden 2019; Wald, Berthold (Hg.): Ende des Lebens. Tod und Sterben heute, Paderborn 2018. Zur geschichtlichen Entwicklung ist instruktiv Degen, Andreas/Schneider, Ulrike/Wels, Ulrike: Sterben, Tod und Weiterleben. Vorstellungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Würzburg 2019. 21 Vgl. zur Übersicht des Begriffs König, Gudrun M.: Stacheldraht. Die Analyse materieller Kultur und das Prinzip der Dingbedeutsamkeit, in: Reinhard Johler/Bernhard Tschofen (Hg.): Empirische Kulturwissenschaft. Eine Tübinger Enzyklopädie, Tübingen 2008, S. 117–138. 22 Durch die artefaktorientierte Analyse der „letzten“ Dinge in phänomenologischer Perspektive tritt die Artikulation des Selbst- und Weltbezugs im Prozess des Sterbens und seiner Nachgängigkeit für die „Nutzer“ und ihren Umgang in Erscheinung. Die „letzten“ Dinge sind eine Intensitätssteigerung der immanenten Affektivität, die mit Rainer Mühlhoff als „immersive Macht“ (Mühlhoff, Rainer: Immersive Macht. Affekttheorie nach Spinoza und Foucault, Frankfurt a. M. 2018) benannt werden kann. Jene immersiv-affektive Macht der „letzten Dinge“ bezeichnet den Zusammenhang von affektiver Resonanz und sozialer Interaktion, die vom Artefakt selbst ausgeht (vgl. Ders.: Affectiv resonance and social interaction, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 14 (2015), S. 1001–1919). Dazu auch Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt a. M. 2016. Zu Rosas Resonanztheorie vgl. auch Kläden, Tobias: Hartmut Rosa als Gesprächspartner für die Theologie, in: Pastoraltheologie 107 (2018), S. 394–400; Kingreen, Tilman: Tagungsbericht: Die Resonanztheorie von Hartmut

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den Dingen auch die Personen des sozialen Feldes „Hospiz“ mit ihren jeweiligen Feldlogiken23 in den Blick: Sterbende, Zugehörige, Sterbebegleiter. Es wären die Feldlogiken der Teilnehmenden in Korrelation zu den „letzten Dingen“ zu untersuchen, wie z. B. die Sterbenden, welche die Dinge auswählen, die ins Hospiz mitgenommen werden und diesen im neuen „Rahmen“ einen ihnen entsprechenden Ort zuweisen, sowie die Umgangsweise mit diesen Dingen und ihren Existenzweisen bestimmen.24 Beispielsweise könnte untersucht werden, wie die Zugehörigen diese Dinge im Hospiz-Kontext neu bzw. anders erleben als im heimatlichen Kontext vor dem Umzug ins Hospiz. Es wäre zu erforschen, wie sie als ihre Erben zugleich in eigener Weise am Umgang bzw. der Praktik mit den „letzten Dingen“ beteiligt sind bzw. wie und ob sie sich mit diesen involvieren. Es wären auch die Sterbebegleitenden zu befragen, die als geschulte Zeugen verschiedener Praktiken mit den „letzten“ Dingen einen Zugang dazu erlauben, wie sich die Dinge im Laufe des engeren Sterbeprozesses in Wertigkeit, Gebrauch und Wahrnehmung verändern. Die Erforschung des Hospizes als Sozialraum muss als ein bisheriges Forschungsdesiderat betrachtet werden. Wie Pierre Bourdieu argumentiert, besitzt jedes Feld ein klar definiertes Feldinteresse. Das Feldinteresse ist der Hauptgegenstand, der das Feld konstituiert. Personen, die an einem bestimmten Feld teilnehmen, empfinden das Feldinteresse als wichtig. Es muss zunächst offenbleiben, wie das Feldinteresse des Hospizes zu bestimmen ist, da bisher keine validierten Daten über die Einschätzung zum Feldinteresse vorliegen. Vorzeitige Zuschreibungen des Feldinteresses könnten sich bis zur empirischen Erhebung als Illusio herausstellen, zumal jedes Feld eine Illusio25 herstellt, indem es Teilnehmenden und Außenstehenden fälschlicherweise vorgibt, dass es im Feld ausschließlich und allein um das Feldinteresse ginge. Auch gilt es, die Feldillusio der Teilnehmenden zu erforschen: So teilen nach Bourdieu alle Teilnehmenden eines bestimmten Feldes eine feste Überzeugung, dass es sich lohnt, im Feld teilzunehmen. Daher teilen die Teilnehmenden auch die Bereitschaft, „Investitionen“ zu tätigen und Rosa. Ein inspirierender Trialog zwischen Soziologie, Pastoralpsychologie und Theologie, in: Wege zum Menschen 71 (2019), S. 435–440. 23 Bourdieu, Pierre: Die Logik der Felder, in: Ders./Wacquant, Loïc (Hg.): Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M. 1996, S. 124–146. 24 Zur Eigenlogik der Dinge und ihrer Existenzweisen vgl. Latour, Bruno: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014.; Scholz, Jana: Die Präsenz der Dinge. Anthropomorphe Artefakte in Kunst, Mode und Literatur, Bielefeld 2019. 25 Z. B. im Feld der Kunst die ökonomiefreie Kunst um der Kunst willen, oder im Wissenschaftsfeld jene einer interessenlosen Wissensproduktion, oder das Bildungssystem mit der Illusio einer gleichberechtigten Bildungschance.

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an den Auseinandersetzungen im Feld mitzuwirken. Gleichzeitig akzeptieren und verinnerlichen die Teilnehmenden die Regeln und Gesetze eines Feldes.26 Zudem ist auch die Feldgeschichte des Hospizes mit in die Analyse einzubeziehen. Wie Bourdieu betont, sollten Felder niemals als ein bloßes Produkt der Gegenwart betrachtet werden, sondern wurden maßgeblich auch durch die Vergangenheit geprägt.27 In der Analyse des Feldes Hospiz sollte daher auch nach den gewachsenen Strukturen gefragt werden, die das Hospiz noch bis in die gegenwärtige Funktion und Wahrnehmung prägen.28 Das hier skizzierte Forschungsfeld der „letzten Dinge“ im Feld des Hospizes zeigt deutlich, dass Dinge eine soziale Mobilität haben29 und eine immersiv-affektive Macht30 ausüben – und stellt ein echtes Forschungsdesiderat dar.

26 Dieser Gesamtkomplex ist für den Kontext des Hospizes bisher unerforscht. Dies betrifft auch die Feldstruktur mit den Fragen nach den Interaktionen, Kommunikationsformen, Regeln, Normen der Feldstruktur des Hospizes. Komplementiert wird dies durch die Fragen nach den Feldpositionen und deren Veränderung im Prozess des Sterbens, sowie die Frage der Bedeutung und Verschiebung der Kapitalsorten (kulturelles Kapital, ökonomisches Kapital, soziales Kapital und feldspezifisches Kapital) der Teilnehmenden. 27 Vgl. auch Schatzki, Theodore: Social Change in a material world, London 2019. 28 Dabei wäre der interkulturelle Vergleich ein wichtiges Forschungsfeld der artefaktorientierten Forschung des sozialen Feldes „Hospiz“, da nur dann ein reflexives Moment gewährleistet wäre, das Aufschlüsse über die derzeitige Struktur und Genese des Hospizes bietet. Dies würde einen eigenen Strang der sozio-kulturellen oder artefaktorientierten Forschung öffnen. Durch die Erforschung des Feldes Hospiz können auch die Feldlogiken der Mitnahme und der mitgenommen „letzten Dinge“ interkulturell vertieft werden. 29 Durch das skizzierte Forschungsdesign würde das den von Heinrich Schäfer (vgl. Schäfer, Heinrich: Identität als Netzwerk. Habitus, Sozialstruktur und religiöse Mobilisierung, Wiesbaden 2016) entwickelten praxistheoretischen Entwurf im Hinblick auf die Dinge der materiellen Kultur erweitern und eine Verbindung zur ANT (Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie, Bielefeld 2006; Roßler, Gustav: Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft. Sozialität – Kognition – Netzwerke, Bielefeld 2016) ermöglichen. 30 R. Mühlhoff, Immersive Macht.

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2.  „ BIOGRAPHISCHE SOUVENIRS“ – EIN ANALYTISCHER BLICK Dinge „leben“ in der Regel länger als Menschen. Dies ist wichtig. Auch in einer Gesellschaft, die sich vielerorts mit Artefakten umgibt, die eine geringe Haltbarkeitszeit zu haben scheinen, haben diese doch das Potenzial, das Leben ihres Besitzers oder ihrer Besitzerin zu überdauern. Die Dinge am Ende des Lebens sind solche Dinge, die länger existieren als ihr Besitzer oder ihre Besitzerin. Mit ihnen muss etwas passieren – Häuser und Wohnungen müssen geräumt, mit dem Hinterlassenen irgendwie umgegangen werden. Häufig führen diese Dinge zu Problemen: wohin mit dem Ehering und der eigentlich neuen Bibel? Was tun mit den Dingen, die nach dem Tod eines Menschen bleiben? Dinge können die Funktion von Souvenirs haben. Nach dem Volkskundler Konrad Köstlin „stützen [diese] das Gedächtnis, sie helfen der Erinnerung auf. Sie sind nicht bloß das Übrige, der Rest einer Reise, sie symbolisieren die Reise selbst.“31 Im Fall der „letzten Dinge“, symbolisieren sie die Reise eines Lebens, das endet. Sind die Dinge als „biographische Souvenirs“32 im Leben ihrer Besitzerin oder ihres Besitzers Erinnerungsstützen von Lebensabschnitten oder besonderen Ereignissen, die zum Erzählen und Wiedererzählen oder auch schlicht zum stillen Erinnern aufrufen, verändert sie der Kontext des Sterbens und des Todes ihrer Besitzer. Den Dingen wird nun auch dieses Todes-Ereignis mit eingeschrieben. Für die Hinterbliebenen bleiben die Dinge mit dem oder der Verstorbenen verknüpft und dies verändert den weiteren Gebrauch. Was der Ethnologe Hans Peter Hahn für den Erwerb eines Gegenstandes sagt, gilt ebenfalls für den Übergang des Gegenstandes in den Besitz einer anderen Person: „Der Zeitpunkt, an dem ein Gegenstand von einer Ware zu einem persönlichen Gut wird, ist wesentlich für die sich daran anschließenden Lebensabschnitte (Gebrauch, Abfall) und für die Frage, welche Rolle er im Leben des Besitzers spielt.“33 Nach dem Kunsthistoriker Dietmar Rübel besteht Abfall „aus Objekten und Stoffen […], die, verbraucht, zerstört oder als überflüssig erachtet, aus ihrem Gebrauchskontext

31 Köstlin, Konrad: Souvenir, in: Alber, Wolfgang/Bausinger, Hermann/Frahm, Eckart et al. (Hg.): Übriges. Kopflose Beiträge zu einer volkskundlichen Anatomie. Utz Jeggle zum 22. Juni 1991, Tübingen 1991, S. 131–141, hier S. 131. 32 Vgl. S. Beckmayer: Die Bibel als Buch, S. 241. 33 Hahn, Hans P.: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2014, S. 43.

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ausgeschieden werden.“34 Abfall wird entsorgt, indem er auf dem Müll landet.35 Doch gibt es weitere Entsorgungsstrategien, durch die man sich der Dinge entledigt, ohne dass man sie selbst auf den Müll werfen müsste: Dinge werden zu Lebzeiten vererbt36, sie werden weitergegeben oder so lange aufbewahrt, bis ein anderer sich um ihre Entsorgung kümmern muss37. Der grundlegende Versuch in vielen dieser Strategien ist zumindest das Vermeiden des Wegwerfens. Dies mag daher kommen, dass mit dem eigentlichen Wegwerfen eines Dings auch dessen scheinbare Nutzlosigkeit offenbar wird.38 Dinge, die nicht bleiben, wirken in irgendeiner Weise „ungeeignet“, weil sie ihren originären Gebrauchswert verlieren. Die Dinge eines vergangenen Lebens zu entsorgen birgt damit auch immer die Anmutung eines „ungeeigneten“ Stückes Leben der oder des Verstorbenen. Die Schwierigkeit im Umgang mit den Dingen, die nicht bleiben, wie mit den Dingen, die bleiben, entstehen also nicht unbedingt durch ihre Materialität oder ihren ökonomischen Wert; schwierig ist ihr Bezug zum oder zur Verstorbenen. Es ist eben nicht einfach irgendeine Bibel, nicht irgendein rundes Stück Metall. Hier wandeln sich die „Lieblingsgegenstände“ ganz explizit zu Erinnerungsstücken39. Dinge werden durch ihren Gebrauch im Leben eines Menschen mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen. Das lange Tragen des Eheringes, und selbst der kurze Gebrauchsversuch der neuen Lutherbibel, verleihen den Gegenständen 34 Rübel, Dietmar: Abfall, in: Wagner, Monika/Rübel, Dietmar (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe moderner Kunst; von Abfall bis Zinn, München 2002, S. 13–17, hier S. 13. 35 Vgl. Thompson, Michael: Mülltheorie. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Essen 2003; Keller, Reiner: Müll. Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen. Die öffentliche Diskussion über Abfall in Deutschland und Frankreich, Wiesbaden 2009. 36 Vgl. Langbein, Ulrike: Geerbte Dinge. Soziale Praxis und symbolische Bedeutung des Erbens, Köln 2002; Kühnert, Hanno: Tips nach meinem Tod, in: Steffen, Dagmar (Hg.): Welche Dinge braucht der Mensch? Hintergründe, Folgen und Perspektiven der heutigen Alltagskultur, Frankfurt a. M. 1996, S. 82–83. 37 Eine besondere Form der Bewahrung wurde bei der funerale8 gezeigt: das Aufheben von Kuscheltieren in Weckgläsern, die wiederum auf Kinder-Gräbern abgestellt werden. Hier werden die „letzten Dinge“ nicht nur bewahrt, sie werden nahezu konserviert, gleichzeitig aber ausgestellt. Sie werden der (eigenen) dauerhaften Zugänglichkeit entzogen und zugleich einer prinzipiellen Öffentlichkeit der Friedhofsbesucher zugänglich gemacht. 38 Vgl. Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt a. M. 1988, S. 52–53. 39 Vgl. B. Oeljeschläger: Dingbiographien, S. 91.

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eine Bedeutung für die Menschen, die Teil dieses Gebrauchs waren, sie gesehen, begleitet oder mitgebraucht haben. Welche Bedeutungen wiederum am jeweiligen Ding hängen, variiert von Person zu Person40, und ist von der jeweiligen Feldlogik bzw. des Habitus präjudiziert. Ein Entrümpeler kann keine Erinnerungen zu einem der zu entsorgenden Gegenstände abrufen, kannte nicht den Vater, er ist zuständig dafür, überflüssig Gewordenes zu entsorgen.41 Bestimmt, wie bei vielen anderen Dingen, ihre Bedeutung auch die Form ihrer Entsorgung, stellt sich diese Frage bei den „letzten Dingen“ daher anders. Dinge erhalten durch den Tod der Besitzerin oder des Besitzers einen weiteren Wert42: Eben den, aus dem Besitz des Verstorbenen und damit Zeichen eines vergangenen Lebens zu sein – zugleich aber als „biographisches Souvenir“ nun den Besitzer zu wechseln und in ihrer immersiv-affektiven Macht die symbolische Verkörperung des anwesenden Abwesenden sozial zu verdichten und zu einer Ausdrückbarkeit der Prägnanzform der Unbestimmtheit zu führen.43 40 Vgl. H. Hahn: Materielle Kultur, S. 33. 41 Vgl. zu den vielen Facetten des Mülls, seiner Entsorgung oder Erhaltung Windmüller, Sonja: Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem (= Europäische Ethnologie, 2), Münster 2004. 42 Vgl. zum Begriff des „Wertes“ im Kontext der Dinge Flusser, Vilém: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München 2011, S. 8. 43 Vgl. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995. Für Böhme ist die Prägnanzform das „Typische, das zugleich individualisiert. Prägnanzform ist ein ausgesprochen physiognomischer Begriff, insofern er das charakteristische, sichtbare Wesen von etwas“ benennt. Als Prägnantes werde das „Wesen als etwas aus sich Heraustretendes bezeichnet“ (ebd., S. 152). Die „letzten Dinge“ weisen jene Charakteristika der symbolischen Prägnanzbildung auf, die schon Ernst Cassirer aufgezeigt hat (vgl. Möckel, Christian: Symbolische Prägnanz – ein phänomenologischer Begriff? Zum Verhältnis von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und Edmund Husserls Phänomenologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40 (1992), S. 1050–1063). Cassirer charakterisiert die symbolische Prägnanzbildung folgendermaßen: „Unter ‚symbolischer Prägnanz‘ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ‚sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ‚Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt“ (Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, Darmstadt 1982, S. 235). In der Prägnanz werden symbolische Verdichtungen sinnlicher Einzelinhalte zu Trägern einer allgemeinen geistigen Bedeutung geformt. Mit der Formgebung geht gleichzeitig eine Sinngebung einher: erst Formen lassen Bezüge und Strukturen in der Welt erkennen. Symbolische Formen sind somit Grundformen des Verstehens, die universell und intersubjektiv gültig sind und mit denen der Mensch seine Wirklichkeit

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3.  ( PRAKTISCH-)THEOLOGISCHE UMGANGSWEISEN MIT DEN (LETZTEN) DINGEN Eine Grundannahme zu den „letzten Dingen“ ist, dass es in einem beobachtbaren Wandel bzw. Transitus der Sinn- und Bedeutungskonstitution, der durch veränderte soziale Praktiken induziert ist, aus artefaktorientierter Analyseperspektive zu einer mengenfaktorischen Reduktion der vorhandenen Dinge bei einer gleichzeitigen Erhöhung der Bedeutungsdichte (alles, was man hat; alles, was man mitnimmt; alles, was übrigbleibt) und der Zunahme immersiv-affektiver Macht kommt. Hinzu tritt im Hospiz die Untersuchung des örtlichen „Framings“44 und gestaltet. Eine Forschung zu den „letzten Dingen“ hat sich der Formgebung als Gebung der Bedeutungsprägnanz zu widmen, die die Repräsentation als die Interrelationalität von Darstellendem und Dargestelltem untersucht. Zudem vgl. Barth, Ulrich: Religion und ästhetische Erfahrung. Interdependenz symbolischer Erlebniskultur, in: Ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, S. 235–262. 44 Die Bedeutung des „Framing“ (vgl. Oswald, Michael: Strategisches Framing, Wiebaden 2019; Matthes, Jörg: Framing, Baden-Baden 2014; Goffman, Erving: Frame Analysis, New York 1974) als Prozess der Einbettung der Dinge in den Prozess des Sterbens und des Todes wurde bisher in der theologischen Forschung unterschätzt. Der Prozess des Framing der „letzten Dinge“ mit der mengenfaktorischen Reduktion bei gleichzeitiger Erhöhung der Bedeutungsdichte und der Zunahme der immersiv-affektiven Macht ist noch nicht hinreichend erforscht. Wie die „letzten Dinge“ mit ihrem Framing deutlich machen, gibt es noch zu wenige Kenntnisse über die Auswahlkriterien der Aspekte der wahrgenommenen Realität. Das betrifft die soziale Textur und der damit einhergehenden Zuschreibung an das Ding, sowie Aspekte für eine Problemdefinition und erwartete Problemlösungsstruktur, als auch der kausalen Interpretation und der moralischen Bewertung und/oder Handlungsempfehlung für den Gegenstand/das Ding. Die „letzten Dinge“ in artefaktorientierter Perspektivierung stehen wahrscheinlich in enger Verbindung zu Fragestellungen der Wirkungs- und Einstellungsforschung (vgl. Bonfadelli, Heinz/Friedel, Thomas N.: Medienwirkungsforschung, Konstanz 2015; Aronson, Elliot/Wilson, Timothy/Akert, Robin: Sozialpsychologie, Hallbergmoos 2008, bes. S. 192–227) mit Mechanismen des „Priming“ und des „Agenda-Setting“ (vgl. Rössler, Patrick: Agenda-Setting. Theoretische Annahmen und empirische Evidenzen einer Medienwirkungshypothese, Opladen 1997) bzw. der Schema-Theorie (vgl. Davidson, Donald: Was ist eigentlich ein Begriffsschema?, in: Ders.: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a. M. 1990, S. 261–282; Lirer, Ganna: Schematheorie, Saarbrücken 2018), die angewendet werden können. Bezogen auf den Tod exemplarisch Schnell, Martin W./ Schulz-Quach, Christian/Dunger, Christine (Hg.): 30 Gedanken zum Tod. Die Methode der Framework Analysis, Wiesbaden 2018.

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der örtlichen Funktionsbestimmung, die sich auf die sozialen Praktiken und die Existenzweisen der Artefakte auswirken. Dies lässt sich forschungspraktisch nutzen, wenn die Dinge als symbolisch verdichtete, immersiv-affektive Verkörperungen der Ausdrückbarkeit der Prägnanzform der Unbestimmtheit bzw. Unverfügbarkeit45 erkannt werden. Über diesen Forschungszugang der Dinge am Lebensende ließe sich nicht nur praktisch-, sondern auch systematisch-theologisch nachdenken.46 Für die Prak45 Eine artefaktorientierte Forschung könnte sich in diesem Kontext den vier Dimensionen der unverfügten Verfügbarkeit (vgl. Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit, Wien 2018) der „letzten Dinge“ und der Aneignungsstrategie im sozialen Feld des Hospizes zuwenden. Die von Rosa entwickelte Heuristik der Verfügbarkeit (ebd., S. 21f.) könnte dann als immersiv-affektive Prägnanzbildung der symbolischen Verdichtung, die die Teilnehmenden in ihrer eigenen Feldlogik übersetzen, übernommen und weiterentwickelt werden, ohne jedoch die inhaltlichen Bestimmungen Rosas zu übernehmen. Weitere Forschungen sollten dann berücksichtigen, wie sich die Dimensionen zueinander im Feld und ihrem Gebrauch gegeneinander verschieben. 46 Die protestantische Problematik, über die „letzten Dinge“ zu sprechen, rührt nicht zuletzt aus der Abwehr Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers, der sich gegen den Ausdruck „Dinge“ wandte, da es sich bei den Gegenständen der Eschatologie nicht um raumzeitliche Gegebenheiten handele, sondern um eine Hoffnung, die in mythischen oder visionären Vorstellungen dargestellt werde (vgl. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. II, § 159). Zum Gesamtkomplex der Eschatologie und der Erschließung der „letzten Dinge“ vgl. Sander, Hans-Joachim: Glaubensräumen nachgehen. Topologische Dogmatik I, Ostfildern 2019, S. 262–389; Domsel, Maike Maria: Leben bis zuletzt. Eine freiheitstheoretische Fundierung christlicher Sterbebegleitung, Stuttgart 2019; Thomas, Günter/Höffner, Markus (Hg.): Ende oder Umbau einer Erlösungsreligion? Tübingen 2018; Remenyi, Matthias: Auferstehung denken. Anwege, Grenzen und Modelle personaleschatologischer Theoriebildung, Freiburg 2016; Rahner, Johanna: Einführung in die christliche Eschatologie, Freiburg 2016, insbesondere ihre Überlegungen zur Hermeneutik eschatologischer Aussagen S. 60–81. Es wäre zu fragen, ob nicht die „letzten Dinge“ gerade einen transzendenz(er/auf-)schließenden Charakter haben, wenn sie in ihrer Gabegrammtik verstanden werden, in der sich die Wirklichkeit Gottes in seiner anwesenden Abwesenheit und die fragmentarische Lebenserprobung symbolisch-verkörpernd als Möglichkeitssinn verdichten. Oder, um es in Abwandlung der Überlegungen von Paul Althaus zu sagen: die verborgene Wirklichkeit, für den Glauben gegenwärtig, muss, weil wir Gott in ihnen begegnen, die sich verhüllende Wirklichkeit einmal zerbrechen und als die Wirklichkeit heraustreten (vgl. Althaus, Paul: Die letzten Dinge, Gütersloh 1957, S. 37).

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tische Theologie ergäbe sich besonders im Umfeld des Hospizes durch die Verschränkung von Praxeologie und Artefaktorientierung ein „Mehrwert“ für die Felder der Kasualtheorie47, Liturgik48 und Poimenik49, die nicht nur einzeln, sondern in ihrem Zusammenhang beispielhaft sichtbar gemacht werden könnten. Für die Systematische Theologie sind die Rückbindung grundlegender Reflexionsfiguren an die empirischen „Wirklichkeitsbilder“50 sowie die Rückfrage aus der Empirie 47 Beispielsweise wie sich der Raum der Bestattung unter Einbeziehung dieser mehrfachen Wechsel und Übergänge verändert. Vgl. zur sich veränderten Kasualpraxis Wagner-Rau, Ulrike/Handke, Emilia (Hg.): Provozierte Kasualpraxis. Rituale in Bewegung, (= Praktische Theologie heute, 166), Stuttgart 2019. 48 Beispielsweise in der liturgischen Aufnahme oder Tolerierung der „letzten Dinge“ im Umfeld des Totengedenkens. Vgl. zu den Formen des Totengedenkens Klie, Thomas: Toten-Memoria, in: Fechtner, Kristian/Klie, Thomas (Hg.): Erinnerungskasualien, Gütersloh 2019, S. 53–65. 49 Beispielsweise als Anfang und Gegenstand des Seelsorgegesprächs. Vgl. ohne dezidierten materiellen Bezug Lammer, Kerstin: Wie Seelorge wirkt, (= Praktische Theologie heute, 165), Stuttgart 2020, S. 148–160. 50 Vgl. Schnell, Alexander: Wirklichkeitsbilder, Tübingen 2015. Schnell arbeitet anhand der Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Marc Richirs (Richirs, Marc: Das Abenteuer der Sinnbildung. Wien 2000; vgl. Forestier, Florian: La phénoménologie génétique de Marc Richir, Cham 2015; Tengelyi, László: Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im Umbruch bei Husserl und seinen Nachfolgern, Dordrecht 2007) heraus, welche Rolle der Sinnbildung und Sinnstiftung in unserem Verständnis der „Realität“ zukommt. Vom phänomenologischen Standpunkt der Analyse des intentionalen Bewusstseins ausgehend, versucht er aufzuzeigen, dass der grundlegende Bezug zu jeglichem „Realen“ nicht durch die Wahrnehmung geleistet wird, sondern durch die Einbildungskraft vermittelt ist. Das „Reale“ „haben“ wir nicht einfach, es wird aber auch nicht durch den Verstand bloß abstrakt konstruiert, sondern es impliziert Sinnbildungsprozesse, die jeweils durch eine epistemisch legitimierende Dimension ausgezeichnet sind. Die phänomenologischen Analysen im Ausgang von Schnell und Richir könnten in der artefaktorientierten Praxeologie die Funktionsweise der „letzten Dinge“ für die Bedingungen der Artikulation des Selbst- und Weltbezugs von Sterbenden in ihren Praktiken der Subjektivierung in der Wahrnehmung des Spannungsfeldes von Welt und Unendlichkeit stimulieren (vgl. Tengelyi, László: Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg 2016; instruktiv auch Ostritsch, Sebastian: „Die Ewigkeit der Welt und die Genese der Zeit – Überlegungen mit und gegen Augustinus“, in: Gabriel, Markus/ Olay, Csaba/Ostritsch, Sebastian (Hg.): Welt und Unendlichkeit – ein deutsch-ungarischer Dialog im memoriam László Tengelyi, Freiburg 2017, S. 35–49; Olay, Csaba: Das Spannungsverhältnis von Theorie und

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auf die systematisch-theologischen Reflexionsmöglichkeiten gewinnversprechende Ansatzpunkte. Möchte man mit den Dingen, den Artefakten, Gegenständen der materiellen Kultur (praktisch-)theologisch arbeiten, gibt es drei Dimensionen, die wahrgenommen werden sollten: • das Ding selbst: seine Materialität, seine Gebrauchsspuren, seine Aufbewahrungsorte und Zugänglichkeiten, • der Gebrauch: Welche Gebrauchsweisen gibt es mit dem Ding; werden sie wiederholt oder sind sie singulär; wer nimmt das Ding (nicht) in Gebrauch; wie wird es (nicht) in Gebrauch genommen sowie • die Bedeutung: welche Bedeutungen trägt das Ding in welchen Kontexten für wen; wie werden diese Bedeutungen inszeniert, in Praktiken sichtbar oder verbalisiert. Im Umfeld von Sterben und Tod werden weitere Ebenen des Dings erkennbar, ihre Zeitdauer und ihre Bedeutungsveränderung. Das Ding ist auf Grund seiner Langlebigkeit unabhängig von der Lebensdauer seines Besitzers oder seiner Besitzerin. Es gibt für das Ding: • ein Davor: die Zeit im Leben des Besitzers oder der Besitzerin, sowohl als Gebrauchsgegenstand als auch als Erinnerungsgegenstand, • ein Währenddessen im Sterbeprozess: Dinge können im Sterbeprozess einen (unerwarteten) Stellenwert erhalten oder verlieren, unabhängig davon, welchen sie im Leben davor hatten sowie • ein Danach: nach dem Tod der Besitzerin oder des Besitzers im Übergang zu neuen Besitzenden oder in andere Entsorgungsformen. Durch den Tod der Besitzerin oder des Besitzers verändern die Dinge ihre Bedeutung für die Hinterbliebenen. Und diese ändern daraufhin ihren Umgang mit den „letzten Dingen“. Es werden aus den „letzten Dingen“ der Verstorbenen die ersten Dinge eines Lebens ohne diese Person.51 Existenz aus neoexistentialistischer Sicht, in: ebd., S. 162–186; Gabriel, Markus: Sinn, Existenz und das Transfinite, in: ebd., S. 187–204). 51 Vgl. Moltmann, Jürgen: Im Ende – der Anfang. Eine kleine Hoffnungslehre, Kevelaer 2019. Die „letzten Dinge“ erweisen sich damit als die symbolische Verkörperung eines anwesenden Abwesenden im sozial und religiös Verdichteten und zu einer Ausdrückbarkeit der unverfügbaren Prägnanzform der transzendentalen Verlebendigung der Lebenserprobung (vgl. Kühn, Rolf: Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen

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als Realitätsbezug, Dresden 2017; Ders.: Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden 2017. Zum Terminus der Lebenserprobung Henry, Michel: Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, Freiburg 2019; Ders.: Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg 2017; Ders.: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg 2002; Kühn, Rolf: Wie das Leben spricht: Narrativität als radikale Lebensphänomenologie, Cham 2016; Ders.: Leiblichkeit als Lebendigkeit. Henrys, Michel: Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität, Freiburg 1992; Ders./Stefan Nowotny: Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur, Freiburg 2002) als Möglichkeitssinn (vgl. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, Reinbek 1988, S. 16).

Das Porträtfoto in der Trauerfeier – eine Reliquie? Bemerkungen über das dynamisch Wirksame im Zwischenreich der Bilder Matthias Marks

1.  HINFÜHRUNG Der Erzbischof von Mailand muss schwindelfrei sein, wohl im Doppelsinn des Wortes. Jedes Jahr im September hat er in Anwesenheit der Gemeinde und vieler Pilger aus aller Welt die Aufgabe, vorn über dem Hauptaltar des Mailänder Doms 45 Meter hoch hinauf zu fahren. Dort unter der Decke, umgeben von einem roten Licht, wird das größte Heiligtum des Doms aufbewahrt: ein Nagel des Kreuzes Jesu. Mit der Nivola, einer Art Gondel, oben mit rotem Baldachin umgeben, unten mit Engeln und Wolken bemalt, wird der Erzbischof emporgezogen, um aus einer Kassette den Heiligen Nagel herauszuholen und ihn herunterzubringen. Einige Tage lang ist er dann im Dom zu sehen, bevor er in derselben heiligen Prozession wieder hinaufgebracht wird. Der Mut des Einen zur Fahrt in die schwindelerregende Höhe wird belohnt durch die Glaubensgewissheit der Vielen, dass der Nagel kein Schwindel ist. Die Performance trägt ihren Teil dazu bei. In der Geschichte der Reliquien war die Frage der Echtheit stets eine Glaubensfrage. Gesteuert von der kirchlichen Autorität kam das Bedürfnis nach Überprüfung nicht auf oder wurde unterdrückt. Auch Martin Luther hegte keine Zweifel, als er in Rom die Reste des Skeletts Johannes des Täufers besuchte. Was ihn störte, war die Praxis des Klerus, der die Reliquienverehrung zum Zwecke der Ausübung von Macht über sündige und ohnmächtige Individuen und der Geldmacherei missbrauchte. Überhaupt hat die Reformation wenig dazu beigetragen, der Authentizitätsfrage mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Zwar wetterte Luther

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später gegen den Reliquienkult1, bezeichnete sie als „tot Ding“2. Ebenso kann auch der Bildersturm als ein Ausdruck der reformatorischen Grundsatzkritik an der Reliquienverehrung verstanden werden. Aber das protestantische Angebot, das Heilsgeschehen sola gratia, sola fide, solus Christus wahrzunehmen, hat nicht flächendeckend zum Verzicht auf Reliquienverehrung geführt. Viele blieben freiwillig dabei, was es dem Klerus leichter machte, nunmehr in der Rolle des Dienstleisters das begehrende Gesuch der Gläubigen zu befriedigen. Das heißt: Ob echt oder unecht, solange es Menschen gibt, die in den Mailänder Dom kommen, um der Nagelprozession beizuwohnen, wird es diese Zeremonie geben. Freilich nur einmal im Jahr. Auch das gehört zur Performance. Die Frage, was ein Relikt zur Reliquie macht, ist wohl ohne rezeptionsästhetische Einsichten kaum zu beantworten. Dies gilt heute umso mehr, wo neu und seit einigen Jahren vermehrt interdisziplinär über die Wirkmächtigkeit von Bildern nachgedacht wird.3 Auch psychoanalytische Erkenntnisse werden in dieser Debatte aufgegriffen, um die Psychodynamiken der Interdependenz innerer und äußerer Bilder genauer zu verstehen. Diese sollen auch hier, wo über die wachsende Bedeutung des Porträtbildes in der heutigen Trauer- und Bestattungskultur nachzudenken ist, besonders berücksichtigt werden. Der Beitrag fragt, ob es sich beim Wunsch von Hinterbliebenen, in der Trauerfeier ein Foto des Verstorbenen aufzustellen, um eine moderne Form von Reliquienkult handeln könnte. Dazu gilt es zu klären, was eine Reliquienverehrung ausmacht. Was genau geschieht in diesem Kult? Wodurch wird der Überrest eines Verstorbenen zu etwas Bleibendem von verehrungswürdigem Rang? Ist es (nur) eine Dinggläubigkeit, die durch Anschauung bzw. Berührung eines durch kirchliche Zuschreibung für das Heilsgeschehen als bedeutsam erachteten historischen Gegenstands praktiziert wird? Sind es (nur) die frommen Wünsche der Gläubigen, die auf bzw. in den Gegenstand hineinprojiziert werden? Oder ist noch eine andere Dynamik mit im Spiel?

1 Vgl. Luther, Martin: Predigt am 26.01.1546 in der Frauenkirche zu Halle, in: WA 51, S. 135­–148, hier S. 139. 2 Luther, Martin: Großer Katechismus, 3. Gebot: WA 30/I, 145,19f.; vgl. WA 50, S. 17– 209, hier S. 208. 3 Vgl. die Beiträge bei Stoellger, Philipp/Klie, Thomas (Hg.): Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes, Tübingen 2011 und das ausführliche Literaturverzeichnis bei Marks, Matthias: Menschwerden aus Passion, Stuttgart 2013.

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EXKURS Die Fragestellung ist an einem praktischen Beispiel, der seltsamen Geschichte um Luthers Grabplatte zu verdeutlichen. Kann man sie als eine „protestantische Reliquie“ bezeichnen?4 Luthers Tod war eine Sensation. Sein Grab in der Wittenberger Schlosskirche wurde „zum wichtigsten Erinnerungsort an seine Person. […] Vor der Reformation war die umfangreiche, prächtige Reliquiensammlung die Attraktion der Wittenberger Schlosskirche gewesen. […] In die Leerstelle, die durch die Abschaffung der Reliquien in der Reformation entstanden war, trat 1546 das Luthergrab als neuer Publikumsmagnet.“5 Aus politischen Gründen aber fand die bronzene Grabplatte, entworfen von Lucas Cranach, nicht dort in der Schlosskirche, sondern in Jena ihren Platz. Wohin würden die Gläubigen und Lutherverehrer nun pilgern? „Vor der Reformation wurde die sakrale Autorität eines Verstorbenen mit seinem Leichnam bzw. mit seinen Knochen verbunden. Für die Translation eines Heiligenpatrons musste zumindest ein Teil seiner Knochen überführt werden. Die Reformation hatte mit dieser Kultform radikal gebrochen […]: Den Knochen von Heiligen wurde jede transzendente Kraft abgesprochen. Für die geistige Vergegenwärtigung Verstorbener war deren materielle Präsenz überflüssig geworden.“6 „Die Abschaffung des Knochenkults hatte bei den Protestanten allerdings nicht zur Abschaffung aufwendiger Grabmonumente geführt. […] Die Knochen hatten ihre Macht verloren, die Bildnisse hingegen nicht. Deren Macht war unabhängig von der Reformation mit der Blüte der Porträtkunst im Zeitalter Dürers, Cranachs und Holbeins sogar noch gewachsen: Denn ihre Wirkung wurde danach bemessen, inwieweit die Verstorbenen unverwechselbar und lebendig vergegenwärtigt wurden. Autoritäts- oder auch Authentizitätskriterium war nicht wie bei Reliquien die Echtheit der Knochen, sondern die künstlerische Qualität der Zeichnung und Farbgebung, die Autorität des Malers und die Verwendung legitimierender Bildtypen.“7 Die Aufstellung von Luthers Grabplatte in Jena erinnert an die Translation eines Heiligen. Anstelle von Reliquien wurde der Teil des Grabmals transferiert, der in der Reformation für die Vergegenwärtigung des Toten Geltung behalten hatte und in der Luthermemoria und in der reformatorischen Memorialtradition insgesamt überragende Bedeutung erlangte: das Porträt.“ […] Die Installation von Luthers Grabplatte in Jena war so etwas wie ein evangelischer 4 Slenczka, Ruth: Luthers Grabplatte als „protestantische Reliquie“, in: Röper, Ursula/ Treml, Martin (Hg.): Heiliges Grab – Heilige Gräber. Aktualität und Nachleben von Pilgerorten, Berlin 2014, S. 102–109. 5 Ebd., S. 102. 6 Ebd., S. 106. 7 Ebd.

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Ersatzritus für eine Heiligentranslation.“8 Aber: „Non cultus, sed memoriae gratia“, so stand es auf einem Schild neben der Bronzeplatte in Jena. Sie wäre nicht nötig gewesen. Die befürchtete Bilderverehrung blieb aus. Vielmehr zog es die Pilger weiterhin nach Wittenberg. „Auch ohne Knochenkult erhielt der Begräbnisort Luthers die heilige Aura einer Pilgerstätte. […] Die heilige Aura beruhte nicht auf den Knochen und gründete sich auch nicht auf das Bildnis der Grabplatte. […] Bleibende Macht erhielt die Grabplatte nicht als Lutherreliquie, sondern als Kunstwerk“, während die Lutherverehrer „den Kontakt mit dem Verstorbenen […] weiterhin am Grab des Reformators suchten.“9 Das Beispiel zeigt, dass Authentizität auch für den protestantischen Glauben ein Thema blieb, nur eben losgelöst von der Erwartung, dass von Luthers Überresten, die für sie keine Reliquien darstellen, eine heilig-heilsame Macht ausgeht. Bis heute gewinnen Reliquien ihre Bedeutung nur für denjenigen, der den Glauben an das Heilige des Gegenstands, genauer gesagt: an die von dem verstorbenen Heiligen ausgehende, über seine Reste weiterwirkende göttliche Macht teilt.“10 Nur für denjenigen ist dann auch die qualitative Unterscheidung von Reliquien erster, zweiter und dritter Klasse bestimmt: • Als Reliquien erster Klasse gelten Körperteile eines Heiligen, Knochen seines Skeletts, Haare, Fingernägel, auch sein Blut und seine Asche. • Reliquien zweiter Klasse sind Gegenstände, mit denen der Heilige zu seinen Lebzeiten in Berührung gekommen ist, Kleidung, Werkzeuge, auch Waffen und Foltergeräte. • Zu den Reliquien dritter Klasse werden die Gegenstände gezählt, die mit Reliquien erster Klasse Kontakt hatten, meist kleine Papier- oder Stoffstücke, die Pilger auf ihren Wallfahrten bei sich tragen können. Die Klassifizierung unterstreicht, dass die Erfahrungen, die zur Verehrung von Reliquien drängen, nicht unabhängig von den Beziehungen zu verstehen sind, die die Verehrer im Glauben an den Heiligen und seine Wirkkräfte pflegen. Um Beziehung geht es auch vor dem Porträtfoto eines Verstorbenen in der Trauerfeier, das in ähnlicher Weise wirken kann, wenn in der Trauersituation die Unterschiede zwischen privat und kultisch, säkular und heilig verschwimmen. Um den Bezie-

8 Ebd., S. 106f. 9 Ebd., S. 109. – Im Jahre 1872 wurde ein Abguss des Originals für Luthers Begräbnisort hergestellt, so dass es heute zwei Grabplatten gibt, eine in Jena und eine in Wittenberg. 10 Ebd., 106.

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hungsaspekt näher zu beleuchten, soll die Auseinandersetzung mit dem Thema über drei Zugriffe erfolgen: • phänomenologisch über den Begriff der Erinnerung, • hermeneutisch über den Begriff des Bildes und • religionspsychologisch über den Begriff des Übergangsobjekts.

2.  ZURÜCKKOMMEN AUF AUSSTEHENDES Reliquien sind Erinnerungsstücke, Dinge, die bleiben, die zumindest eine längere Halbwertzeit aufweisen als das Leben von Menschen, an die sie erinnern sollen. Im Kult wird feierlich vergegenwärtigt, was das Abwesende bedeutsam macht, offenbar so konkret, dass durch Anschauung und/oder Berührung der Rest eines Vergangenen die Gegenwart leibhaftig beeinflussen kann. Denn ein Heiliger wird nicht nur verehrt, weil Gläubige „damit sein ehrendes Gedenken bewahren“, sondern weil sie „zudem hoffen, an seinen Wirkkräften Anteil und seinen Segen zu erhalten.“11 Beide Aspekte sind elementar und gehören zum Verständnis von „Erinnerung“, wie sie bei der Reliquienverehrung konstitutiv erscheint. Inwiefern? Wenn es allein um „ehrendes Andenken“ ginge, läge ein Verständnis von Erinnerung nahe, das vor allem retrospektiv konnotiert ist: Nicht vergessen werden soll, was der Verehrte zu seinen Lebzeiten war bzw. geleistet hat, was ihn zum verehrungswürdigen Heiligen hat werden lassen. Aber eine Reliquie ist mehr als nur ein Souvenir, mehr als nur ein Andenken, das aufbewahrt wird, um Vergangenes vor dem befürchteten Vergessen zu bewahren. Die Annahme, dass der Nagel im Mailänder Dom einer der Nägel sei, die die Hände oder Füße des gekreuzigten Jesus durchbohrt haben, ist allein nicht der Grund, der das Bedürfnis zur erinnernden Vergegenwärtigung motiviert. Wesentlich erscheint vor allem der zweite Aspekt, der eine prospektive Konnotation hat. Erinnerung wird damit als Zurückkommen auf etwas noch Ausstehendes verstanden. Die Nagelverehrung verspricht Segenskräfte, die positive Auswirkungen auf die Zukunft des Verehrers haben sollen, ein Ausdruck der Hoffnung christlichen Glaubens als Zeugnis der Erwartungsgewissheit des göttlichen Heils, dessen Vermittlung die kirchlich Geheiligten verbürgen. In dieser Hinsicht ist eine Reliquie kein „toter“ Gegenstand.

11 Ökumenisches Heiligenlexikon (www.heiligenlexikon.de/Glossar/Reliquien [Zugriff 18.10.2019]).

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Der Nagel wird wegen seiner Wundertätigkeit, die ihm nachgesagt wird, verehrt: Überbleibsel mit Zukunftspotenzial.12 Dieses Verständnis von Erinnerung gewinnt aktuell in der Kasualtheorie an Bedeutung. „Nicht der Kasus allein macht bereits die Kasualie […]. Es ist vielmehr die Kasualie, die den Kasus ausmacht.“13 Nicht Re-Konstruktion, sondern Konstruktion ist das Thema: „Im Vordergrund steht beim Erinnern also nicht die Reise in die Vergangenheit, sondern in erster Linie das, was man sich als Erinnerungsgewinn für die Jetzt-Zeit im Blick auf die Zukunft erhofft.“14 Wird eine Trauerfeier in diesem Sinne „als eine Form kirchlicher Erinnerungskunst“15 verstanden, kann der Wunsch von Hinterbliebenen, in der Trauerfeier ein Porträtfoto des Verstorbenen aufzustellen, konstruktiv in der Liturgie aufgenommen werden. Er ist dann zu verstehen als Bedürfnis, dass sich aus dem Überbleibsel des Vergangenen, d. h. der persönlichen Beziehung zu diesem dort abgebildeten Menschen, der „in echt“ nicht mehr da ist, doch etwas ebenso „echt“ Lebendiges gewinnen, wiedergewinnen lassen möge, das Zukunft verspricht. Man könnte auch sagen, dahinter stecke der Wunsch, dass das Porträtfoto den Prediger mahnen soll, in seiner Trauerrede auf christlich‑kirchliche Floskeln zu verzichten, sondern das, was an Gottes Hilfe möglich ist, persönlich, in Anknüpfung an die Beziehung der Anwesenden zu dem Verstorbenen, zu entfalten. Dass auch hier der prospektive Aspekt der Erinnerung im Vordergrund steht, zeigt eine erste Parallele zum beschriebenen Grundmotiv im Reliquienkult auf. Dies soll im Folgenden näher beleuchtet werden.

12 Vgl. Apg 19,12. Dazu auch die These des Kirchenvaters Johannes von Damaskus (650– 750), dass die gestorbenen Heiligen „keine Toten“ seien, und als Beweis eine Reihe von Wundern aufzählt, die durch sie gewirkt worden seien: Johannes von Damaskus, Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens. Von der Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien (Expositio fidei), Aus dem Griech. v. Dionys Steinhofer, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 44, München 1923. 13 Klie, Thomas: Als Einleitung – Konturen einer neuen Sicht auf Kasualien, in: Klie, Thomas/Fendler, Folkert/Gattwinkel, Hilmar (Hg.): On Demand. Kasualkultur der Gegenwart (Kirche im Aufbruch, hg. v. Kirchenamt der EKD, Bd. 24), Leipzig 2017, S. 20. 14 Ebd., S. 21. 15 Ebd., S. 22.

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3.  FUNERALES UPDATING 3.1  Blick und Anschauung Die Fragen zur Bedeutung des Porträtbildes in einer sich verändernden westlichen Bestattungs-, Trauer- und Erinnerungskultur sind vielfältig.16 Einige Aspekte lassen sich am performativen Setting als typisch identifizieren. Bei der Auswahl des Fotos wird auf eine freundliche Ausstrahlung geachtet, meistens mit Direktblick, so dass der Verstorbene die Hinterbliebenen bei der Trauerfeier quasi aus dem Bild heraus anblickt. Die Bedeutung eines solchen Fotos wird dadurch unterstrichen, dass es mancherorts große oder auch übergroße Ausmaße annehmen kann, dass es nach der Feier in der Kapelle mit an die Grabstätte getragen, bei der anschließenden Kaffeetafel nochmals aufgestellt sowie als Gedenkbild auf der Trauerkarte bzw. Danksagung mit abgedruckt wird. Porträtfotos können auch auf Grabsteinen oder in Kolumbarien erscheinen, ein Phänomen, das in katholischen Gegenden bekannt ist, aber auf evangelischen Friedhöfen nicht üblich war und bis heute nicht überall satzungsrechtlich gestattet ist. Doch Angebot und Nachfrage nehmen zu. Tatsächlich kann eine solche oder ähnlich wirkungsvolle Inszenierung, z. B. ein QR-Code am Grabstein, der über eine Homepage oder ein YouTube‑Video an den Verstorbenen erinnern soll, in gewisser Weise als eine moderne Form von Reliquienkult verstanden werden, wenn man sieht, dass das Phänomen kulturgeschichtlich tief verwurzelt und der prospektive Erinnerungsaspekt von Anfang an elementar ist. 3.2  Totenmaske und Fotografie Vorläufer der Kasualfotografie ist die Totenmaske. Schon in der Antike und im alten Ägypten wurde das Gesicht oder der ganze Körper des Verstorbenen auf diese Weise als Erinnerungsbild festgehalten. Ursprünglich diente die Maske dem Ahnenkult, „der die Verstorbenen als Bindeglied zwischen der Welt der Lebenden und der Toten betrachtet.“17 In der kultischen Praxis, deren Wurzeln bis in

16 Vgl. Marks, Matthias: Trost im Angesicht des Toten? Zur Bedeutung der Kasualfotografie in der heutigen christlichen Trauer- und Bestattungskultur, in: Klie, Thomas/ Kumlehn, Martina/Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.): Praktische Theologie der Bestattung, Berlin/München/Boston 2015, S. 543–574. 17 Stiehler-Alegria, Gisela: Die Magie der Totenmasken. Eine Zeitreise zu den Ur­ sprüngen, in: Bestattungskultur, Fachzeitschrift des Bundesverbandes Deutscher Be­ statter (BDB), H. 10 (2003), S. 8.

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jungsteinzeitliche Gemeinschaften des Vorderen Orients zurückgehen18, galt das rituelle Tragen einer Totenmaske als Ver­gegenwärtigung metaphysischer Wesen in Gestalt ihres Trägers. Den Ver­storbenen wurde die Macht zuerkannt, die Lebenden beschützen zu können und somit den Erhalt und die Kontinuität der Gruppe zu sichern. Dem diente auch der Schädelkult, wie er z. B. von der melanesi­schen Insel Neuirland belegt ist. Dabei wurde der Schädel vom Skelett abgetrennt und künstlerisch gestaltet. Diese künstlerische „Wiederbelebung“ war Ausdruck einer lebendigen Erfahrung mit den Toten. Ihnen wurde „eine Vermittlerrolle zum Überna­türlichen zugesprochen.“19 In Ägypten entwickelte sich der Mumien­kult aus ähnlichen Motiven: Im Zwischenreich von Leben und Tod sind Kräfte wirksam, die den Hinterbliebenen in der Verehrung der Toten zuteilwerden können. Dies konnte auch in sozialer und politischer Hinsicht von Bedeutung sein. Im griechischen und römischen Einflussbereich diente die Totenmaske seit dem 3. Jhd. v. Chr. dazu, die eigene Herkunft zu beweisen, vor allem, wenn die Vorfahren berühmte Perso­nen waren. Die Totenmasken, verstanden als „imagines maiorum“ der Ahnen, die stolz im Atrium des Hauses präsentiert wurden, waren Zeugnis der eigenen sozialen Stellung, Leistungsfähigkeit und Regierungsberechtigung.20 Die Tradition der „effigies“, die im Europa des späten Mittelalters wieder auflebte, war vor allem politisch motiviert.21 Bei der Zeremonie zur Bestattung eines verstorbenen Monarchen diente eine Puppe als dessen Stellvertreter, um „zwischen dem Ableben des bisherigen Königs und der Amtsübernahme des neuen Königs die Insti­tution des Königtums inklusive des damit verbundenen Rechtsund Macht­anspruchs“ aufrechtzuerhalten.22 Oft aber entstand die Totenmaske auch nur als Nebenprodukt der Einbal­samierung. Wegen der direkten Berührung mit dem Gesicht oder Körper wurde sie dann wie eine Reliquie behandelt und aufbewahrt.23

18 Ebd. 19 Ebd. 20 Vgl. Wulff, Angelika: Wer „in“ sein will, braucht Ahnen. Römische Totenmasken als Eintrittskarten in die große Politik, in: Bestattungskultur, Fachzeitschrift des Bundes­ verbandes Deutscher Bestatter (BDB), H. 10 (2003), S. 12. 21 Vgl. dazu Stoellger, Philipp: Die prekäre Präsenzpotenz des Bildes und das Visuelle als Entzugserscheinung, in: Ders./Thomas Klie (Hg.): Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes, Tübingen 2011, S. 221–253, hier S. 233. 22 Eilers, Silke: „Der König ist tot – es lebe der König“. Effigies im dynastischen Totenkult seit dem Mittelalter, in: Bestattungskultur, Fachzeitschrift des Bundes­ver­bandes Deutscher Bestatter (BDB), H. 10 (2003), S. 18. 23 Ebd., S. 17.

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War der Gebrauch der Totenmaske meist auf herausgehobene Persönlichkeiten beschränkt, trug die Erfindung der Fotografie zur Überwindung der sozialen Hierarchie der Toten und zu einer Verbürgerlichung der Friedhöfe bei. Die entscheidenden Entdeckungen waren die Nutzbarkeit des Prinzips der „Camera obscura“ um 1826/2724 und das Verfahren der „Daguerreotypie“25, das ab 1839 erstmals haltbare Bilder hervorbrachte. Die ersten Fotografen kämpften mit langen Belichtungszeiten. Deshalb war die Fotografie von Toten, die erwartungsgemäß lang genug still halten, das erste lukrative Geschäftsmodell. In katholischen Gegenden Europas und Nordamerikas entwickelte sich daraus die Tradition sog. Toten- oder Sterbebildchen. Sie nahmen im Abschieds- und Trauerprozess eine Schwellenfunktion ein, durchwoben von mystisch‑magischen Praktiken, die an den frühen Ahnenkult erinnern: In Gestalt eines solchen Bildchens konnte der Verstorbene in ein gemeinsames Figurenarsenal mit den Heiligen eingefügt und unter deren Schutz gestellt werden.26 Verbunden mit Fürbitten dienten sie dazu, die rasche Passage des Sünders durch das Purgatorium und Aufnahme des Toten in das Reich der Seligen zu erwirken. Der direkte Blick aus dem Foto erhält damit einen tiefgründigen Sinn: als Bitte oder Mahnung an das Gewissen der Lebenden, den Verstorbenen nicht zu vergessen, auch im Hinblick auf ihr eigenes Angewiesensein auf Fürsprache vor Gottes Thron.27 3.3  Tauschgeschäft wechselseitiger Bürgschaft Beim Nachdenken über die Art der Beziehung, die Lebende in der kultischen Verehrung ihrer Toten pflegen, angefangen von den Motiven zum Gebrauch der 24 Die Camera obscura, die dunkle Kammer, ist seit Jahrhunderten bekannt. Ihr Prinzip beruht auf der Ausbreitung des Lichtes: Alle Körper senden Lichtstrahlen aus und werden damit sichtbar. Da sich Licht geradlinig ausbreitet und die Camera obscura das Licht nur durch eine ganz kleine Öffnung einfallen lässt, lässt die Camera auch nur relativ wenige Strahlen durch. Das Bild des Strahlenganges zeigt, wie auf der Rückseite ein kopfstehendes und seitenverkehrtes Bild entsteht. 25 Die Technik der Daguerreotypie beruht auf den Eigenschaften der Halogene. Gerade Silber ist ein Metall, das mit Gasen wie Brom oder Chlor zu Silberbromid oder Silberchlorid reagiert. Beide Verbindungen sind lichtempfindlich, das latente Bild kann mit weiteren chemischen Prozessen, wie die Behandlung mit Quecksilber, sichtbar und haltbar gemacht werden. Das Bild ist ein Unikat, weitere Bilder davon anzufertigen, war nicht möglich. 26 Vgl. Sykora, Katharina: Die Tode der Fotografie. Totenfotografie und ihr sozialer Gebrauch I, München 2009, S. 208. 27 Vgl. ebd., S. 203–208.

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Totenmaske bis hin zu der Tradition der Toten- und Sterbebildchen, erscheint dieses Prinzip der Gegenseitigkeit elementar. Beide Seiten haben etwas davon, der Tote (im Jenseits) wie auch der Lebende (im Diesseits): ein „Tauschgeschäft wechselseitiger Bürgschaft“28. Dem Protestantismus ist dieses Prinzip fremd. Zum einen, weil der evangelische Glaube darauf baut, dass für die Verstorbenen solus Christus gesorgt ist, so dass das menschliche Geschäft zwischen den Welten nicht notwendig erscheint. Entsprechend gilt die Seelsorge in der evangelischen Trauerfeier nicht den Toten, sondern den Lebenden. Zum anderen, weil der evangelische Glaube keine Verehrung von Heiligen kennt, die aufgrund von Glaubens- und/ oder Lebensleistung von der kirchlichen Autorität in besondere Nähe und Gunst Gottes gestellt werden. Die Heilsmitteilung ist Gott vorbehalten und geschieht, wenn sie geschieht, ohne kirchlich zertifizierte Zwischeninstanz, sondern sola gratia, sola fide unmittelbar. Dies kann im Zuge von Säkularisierung, Individualisierung und Autonomisierung dazu führen, dass andere Mächte den Platz einnehmen, dass z. B. der Verstorbene, je mehr man ihn vermisst, umso mehr zu einem Heiligen hochstilisiert wird. Deutlich ist jedenfalls, dass die Dimension der Inszenierung eines Porträtfotos in der Trauerfeier heute imstande ist, den bisherigen Stellenwert der Predigt zu überbieten. Dass die Toten dabei bestimmten Bildprogrammen unterworfen werden, soll mit den folgenden Überlegungen beleuchtet und problematisiert werden.29

4.  IKONISCHE ENERGIE 4.1  Entzug als Präsenzgewinn Reliquien sind Bilder. Wie auch immer „Bild“ verstanden wird, als Zeichen, als Symbol, als Medium; unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten kann man sagen, die zentralen Fragen rund um die Verehrung von Überbleibseln sind letztlich Bildfragen. Denn: „Seinen wahren Sinn findet ein Bild darin, etwas abzu­bilden, was abwesend ist und also allein im Bild da sein kann. […] Das Bild eines To28 Ebd., S. 207. 29 Erste Schritte gehen Stoellger, Philipp: Kulissenkunst des Todes. Zum Ursprung des Bildes aus dem Tod, in: Klie, Thomas (Hg.): Performanzen des Todes. Neue Bestattungskultur und kirch­liche Wahrnehmung, Stuttgart 2008, S. 15–40; K. Sykora: Die Tode der Fotografie; M. Marks: Trost im Angesicht des Toten; Wolff, Jens: Public Viewing – Fragmente einer Bildsprache des Todes, in: Klie, Thomas/Kumlehn, Martina/Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.): Praktische Theologie der Bestattung, Berlin/ München/Boston 2015, S. 521–542.

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ten ist also keine Anoma­lie, sondern geradezu der Ursinn dessen, was ein Bild ohnehin ist.“30 Damit nimmt das Bild die Bedeutung einer „Zwischen­form“ an, vergleichbar mit der Totenmaske, die als Abdruck vom vergehenden Gesicht ein bleibendes Abbild darstellt, das künftig auf das vergangene Gesicht verweisen kann. „Sie zeigt das originale Gesicht in einem Zweitgesicht, so wie es Schau­ spieler haben, die in der Maske eine Rolle spielen, die man wiederum nur in der Maske wieder erkennt“31. Ähnlich erscheint die Wirkung des Porträtfotos in der Trauerfeier, das in der Rolle eines Erinnerungsträgers nicht nur darauf verweist, was einmal war, sondern vor allem auch darauf, was künftig nur noch so möglich ist: die „Anschauung des lebendigen Gesichts“ über das Bild. Dieses Phänomen hat im interdisziplinären Bilddiskurs zu sehr grundlegenden Einsichten geführt: „[…] der Ursprung des Bildes ist der Tote selber, der zum Bild des Verstorbenen wird; und alle folgenden Bilder sind Bilder des Toten wie gegen den Tod, zu­tiefst ambig. Wie der Tote dem Lebenden ähnlich sieht, ist er doch nicht der Lebende, sondern der Tote. Und als Toter wird er zum Ding, ähnlich nur noch dem Lebenden. Im Toten ersteht ein Bild von der Ähnlichkeit dessen, der ab­ wesend ist. Und alle späteren Bilder des Abwesenden können diese Ur-teilung und den Riss der Präsenz nicht mehr tilgen […]“32. Aber wie geschieht das? Wodurch „ersteht“ solch ein „Ding“, das reliquientauglich ist, so dass ein Rest genügt, um den Abwesenden realistisch erfahrbar als anwesend zu (re‑)präsentieren? Die Rede vom „Riss“, den der Tod verursacht, verführt zu der Annahme, dass über diese „Ur‑teilung“ weiter nichts zu sagen sei. Das wäre wohl auch der Fall, wenn der Bruch nur Trennung bedeutete. Dagegen wird im interdisziplinären Bilddiskurs ein „missing link“ in Aussicht gestellt, „welches die Distanz, die wir in der Er­kenntnis nehmen, zu überbrücken im­stande ist […].“33 Es geht also darum, genauer hinzuschauen, wie sich jener „Über­gang vom Akt der Wahrnehmung in den der Darstellung beziehungsweise der Betrachtung des Dargestellten“ vollzieht:

30 Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, Mün­chen 2001. 31 Belting, Hans: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 22006, S. 74. 32 Stoellger, Philipp: Ikonische Energie. Das Bild als Medium des Begehrens?, in: Kunst und Kirche, Ökumenische Zeitschrift für zeitgenössische Kunst und Architek­tur, 71. Jg., H. 1 (2008): bild–körper–raum, S. 24–27, hier S. 27. 33 Boehm, Gottfried: Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz, in: Ders./Mersmann, Birgit/Spies, Christian (Hg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, S. 15–43, hier S. 22.

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„keineswegs konti­nuierlich“34, weil sich dazwi­schen „die Rahmen­bedingungen von Evi­denz“ verändern.35 Inwiefern? 4.2  Riss als Raumgewinn Das Bild eines Menschen, das ersteht, wenn dieser der Wahrnehmung seiner leibhaftigen Existenz entzogen ist, muss, was seine Präsenz betrifft, nicht weniger, sondern kann auch mehr sein als das abwesende, vermeintlich vertraute Original. Am Ort des Risses, den der Tod verursacht hat, kann sich ein „Zwischenraum von Leib und Bild“36 öffnen, der verhüllend und enthüllend wirkt. Diese Erfahrung hat im interdisziplinären Bilddiskurs zur Unterscheidung von zwei basalen Perfor­ manz­techniken, d. h. in der Bilderfahrung gegensätzlich wirkenden Präsenzdynamiken geführt: Die Bildrezeption kann dem im Bild Dargestellten ein „Surplus“ verleihen.37 Es kommt zu einer Intensivierung der Präsenz durch Vergegenwärtigung des Entzogenen.38 Ebenso kann sich ein Bild als Entzugserscheinung präsentieren. Bei der Betrachtung kommt es zur Entgegenwärtigung des Dargestellten. Ähnlich kann das Porträtfoto in der Trauerfeier wirken. Einerseits verhüllend, wenn die Visualpräsenz des lebendigen Blicks aus dem Bild heraus beim Betrachter gegen die Realität des Todes antritt (die Schau hat dann etwas Geisterhaftes). Andererseits enthüllend, wenn die Entzugserscheinung die Lücke präsent macht, die der Verstorbene hinterlässt (die Schau hat dann etwas Religiöses).39 In der 34 Ebd., 20. 35 Ebd., 25. 36 Steinmeier, Anne M.: Im Zwischenraum von Leib und Bild. Sprachgesten des Erinnerns, in: WzM, 70. Jg., H. 5 (2018), S. 411–428. 37 G. Boehm: Augenmaß, S. 25. 38 Darin schwingt noch das magisch-religiöse Verständnis aus den Anfängen der Postmortem-Fotografie mit, als man im Blick auf die Verstorbenen annahm, „durch den Akt des Fotografierens werde gleichsam Schicht für Schicht die Körperlichkeit von ihnen abgetragen und ins Bild aufgenommen. […] Die auf Trägerelemente wie Schmuckbroschen oder Amulette aufgebrachten Postmortemfotografien konnten da­her als mit einer dreidimensionalen Substanz versehene, letzte Hülle des einstmals lebenden Körpers verstanden werden.“ (Moldenhauer, Anna: Post Mortem Foto­grafie. Ursprung und Entwicklung der privaten Totenfotografie seit dem 19. Jahrhundert - abseits der Dokumentation in der Pathologie, Kriminalistik und den Medien, Hannover 2012, S. 9, zit. n. Sykora). 39 Vgl. Bonhoeffer: „Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines uns lieben Menschen ersetzen kann und man soll das auch gar nicht versuchen; man muss es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer

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Trauer- und Abschieds­situation können beide Dynamiken auch zusammenspielen, die Ambivalenzen aufnehmen und eine „Präsenz im Entzug“ ermöglichen. Dies geschieht, wenn es geschieht, durch ein sehkreatives Pendeln zwischen inneren Bildern und äußeren Bildern, Nähe und Distanz, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und verschiedenen Perspektiven. Dabei kann sich jenes Dritte einstellen, das Raum und Zeit zu transzendieren, das Trennende des Todes durchlässig zu machen, Kontingenzerfahrung aufzunehmen und zu verwandeln, menschlicher Not zu begegnen, religiöse Suchbewegungen zu tragen und lindernde Wirkung – Trost, Vergewisserung, Hoffnung – zu erzielen vermag. Weil „sich der Tod selbst dem ‚Regime der Visualisierung’ […] entzieht“, greift diese Such- und Fluchtbewegung nach einem Anderen, einem „Unerwarteten im Erwarten“40 aus, das den Tod „zum Zeichen seines Gegenteils: des Lebens“ werden lassen kann.41 Im Bilddiskurs spricht man von „Fernbildern“, weil sie so wirken, als wenn sie Fernes in die Nähe holen, sich „mit der unmöglichen Aufgabe abmühen, etwas ins Bild zu bringen, was jeden Bildrahmen sprengt: das Ereignis des Sichtbarwerdens, das Zum‑Vorschein‑kommen und speziell das Ins‑Bild‑treten“42 von etwas, das auf den ersten und den zweiten Blick nicht gegenwärtig ist. Aus der Sicht der Rezipienten werden sie auch „Fluchtbilder“ genannt, weil es so erlebt wird, dass „das Sehen sich selbst entgleitet und ein unendliches Seh­begehren auslöst, das in keiner Augenlust Befriedigung findet.“43 Jenes Dritte erscheint dann als anderer, fremder „Anblick, der der Anrede, dem Appell vergleichbar ist, der unseren ant­wortenden Blick herausfordert. Dieser Blick ist nur als Seitenblick möglich, als Blick, der sich nicht frontal auf etwas heftet, das er ins Auge fasst und das ihm vor Augen steht, sondern ein Blick, der von dorther kommt, wo etwas uns beunruhigt und uns hinterTrost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt, und hilft uns dadurch, unsere echte Gemeinschaft – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren.“ (Bonhoeffer, Dietrich: Brief an Renate und Eberhard Bethge, Gefängnis Berlin-Tegel an Heiligabend 1943, in: Widerstand und Ergebung, DBW Bd. 8, S. 255f.). 40 Waldenfels, Bernhard: Ungleichzeitigkeiten des Lebens. Vortrag auf der Tagung des ifi Rostock „Bild und Tod II. Zu einer Grundfrage der Bildanthropologie“, Rostock 11.04.2013. 41 Klie, Thomas: Einleitung – die Imposanz des Todes und die Suche nach neuen For­men, in: Ders. (Hg.): Performanzen des Todes. Neue Bestattungskultur und kirch­liche Wahrnehmung, Stuttgart 2008, S. 12. 42 Waldenfels, Bernhard: Spiegel, Spur und Blick. Zur Genese des Bildes, in: Homo Pictor, hg. v. Gottfried Boehm, München/Leipzig 2001, S. 27. 43 Ebd., S. 29.

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rücks im Eigenen heimsucht.“44 Ein solcher Blick begegnet beispielsweise bei Leonardo da Vincis „Mona Lisa“. In der Bildwissenschaft ist von einer „Paradoxierung der Präsenz“ die Rede: „Was wir sehen, blickt uns an, aber zugleich durch uns hin­durch. Und was wir sehen, blicken wir an, aber zugleich durch es hin­durch.“45 Auch ein Porträtfoto in der Trauerfeier kann so wirken. Bestimmend ist dann nicht mehr das Gesicht des Verstorbenen, das fotografiert wurde, als er noch lebte, sondern das Bildnis, das zu seiner Maske wird, die es verhüllt und zugleich enthüllt. In der Fotowissenschaft wird das Phänomen unter dem Begriff „air“ (Beseelung und körperliche Ausstrahlung eines Menschen im Bild46), in der Kulturphilosophie unter dem Begriff „Aura“ („sonderbares Gespinst von Raum und Zeit, einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“47) gefasst. Ein Bild kann also noch mehr sein als das, was es formal zeigt und worauf es verweist. Über das Performative (Zeichen) und Repräsentative (Symbol) hinaus kann es Menschen „in der namenlosen Er­scheinung ausdrücken, die sie im Antlitz haben.“48 4.3  Bild als Leibgewinn Die Erkenntnisse aus der Bildwissenschaft legen es nahe, den Begriff der „Erinnerung“ im Kontext von Reliquienverehrung noch weiter zu fassen als oben geschehen. Es könnte nämlich sein, dass das, was den Überresten ihr Zukunftspotenzial verleiht und die Reise in die Vergangenheit motiviert, nicht direkt von äußerlichen Gegenständen abhängig ist, sondern dass diese vielmehr als Vehikel dienen für die Suche nach etwas, das im Persönlichen verborgen liegt, aber nie erlebt wurde und ohne weiteres auch nicht greifbar ist. „Die Komplexität des Erinnerns liegt dann nicht in der aufklärenden Arbeit eines Verdrängten, sondern ist im ‚Gegenstand‘ des Erinnerns selbst begründet, als einem, der nicht nur ‚verborgen‘ ist, sondern der ‚sich der Rückschau entzieht‘, weil er ‚an ihm selbst nicht als fertiger, wohlbestimmter Gegenstand gegeben‘, sondern ‚gleichsam in sich selbst dunkel und verstellt, unerkennbar und unerinnerbar ist.‘“49 Er liegt dann wie in einer „Krypta 44 Ebd., S. 30. 45 P. Stoellger: Präsenzpotenz, S. 247. 46 Belting, Hans: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013, S. 193f. 47 Ebd., S. 195. – Vgl. Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Fotografie, in: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­keit. Drei Stufen zur Kunstsoziologie, Frankfurt a. M. 1963, S. 83. 48 W. Benjamin: Kleine Geschichte, S. 84f., zit. n. H. Belting: Faces, S. 197. 49 A. Steinmeier: Im Zwischenraum, S. 412, zit. nach Küchenhoff, Joachim/Angehrn, Emil: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Das unerledigte Vergangene. Konstellationen der Erinnerung, Weilerwist 2015, S. 9.

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als einem abgekapselten Zeichen im eigenen Innern“, keineswegs als totes Ding, sondern auf unbekannte Weise das eigene Denken, Fühlen und Handeln beeinflussend, somit unbewusst lebendig anwesend.50 Das Phänomen ist nicht neu,51 aber die „Arbeit mit nichtrepräsentierten oder noch nicht repräsentierbaren psychischen Zuständen“ wird derzeit als die „aktuellste Herausforderung in der Psychoanalyse“52 betrachtet. Dazu wird als Ergänzung zum archäologischen Modell der klassischen Psychoanalyse das Modell der „Regredienz“53 (nicht zu verwechseln mit Regression) breit diskutiert. Gemeint ist eine Haltung, die im psychoanalytischen Prozess, aber auch in alltäglichen kreativen und rezeptiven Prozessen, ein „primärprozesshaftes, bildliches und emotionales Denken“54 in Gang setzen und einen Raum öffnen kann, wo sich „sowohl verdrängte Vorstellungen und Gedanken als auch ungestaltetes psychisches Rohmaterial in sinnliche Bilder“ umbilden können: „the work of figurability“55. Das Bild wird dabei als ein dialektischer Prozess verstehbar: „Nicht so ist es, dass das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentrifft. […] Nur dialektische Bilder sind echte (d. h. nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.“56 Sprachgewinn meint hier Wirklichkeitsgewinn, was Leibgewinn impliziert. Denn das Zusammentreffen der Bilder ist niemals nur ein geistiger, sondern im50 Steinmeier schreibt dazu: „Donald W. Winnicott hat von einem ‚falschen Selbst‘ gesprochen, das sich mit wichtigen Bindungsfiguren identifiziert. Daniel Stern hat beobachtet, dass die Bindung sich nicht nur auf die expliziten, sondern vor allem auch auf die impliziten ‚Agenden‘, das implizite Beziehungswissen, bezieht.“ (ebd., S. 411). 51 Vgl. Bion, Wilfred R.: Transformationen, Frankfurt a.  M. 1997; Ders.: Second Thoughts. Selected Papers on Psychoa­nalysis, New York 1984. 52 Ferro, Antonino: Unrepräsentierte psychische Zustände und das Generieren von Bedeutung, in: Suche nach Repräsentanz. Neuere Arbeiten zu seelischen Transformationsprozessen, Psyche, 68. Jg. (2014), H. 9/10, S. 820–839, hier S. 820. 53 Botella, César: Über das Erinnern. Das Konzept eines Gedächtnisses ohne Erinnerung, in: Mauss-Hanke, Angela (Hg.): Internationale Psychoanalyse, Bd. 10 (2015). Behandlungsperspektiven. Ausgewählte Beiträge aus dem International Journal of Psychoanalysis, Gießen, S. 169–200, zit. n. A. Steinmeier: Im Zwischenraum, S. 413. 54 Will, Heribert: Wie ungesättigte Deutungen entstehen, in: Psyche 5, 72. Jg. (2018), S. 374–396, hier S. 378, zit. n. A. Steinmeier: Im Zwischenraum, S. 413. 55 Ebd. 56 Benjamin, Walter: Passagen-Werk, Frankfurt a. M. 1983, S. 576f., zit. n. A. Steinmeier: Im Zwischenraum, S. 416.

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mer zugleich auch ein sinnlicher Akt, der körperliche Veränderungen mit sich führt. Bezogen auf das vorliegende Thema kann man sagen, dass sich auch bei der kultischen Verehrung von Reliquien die äußeren Bilder mit inneren Bildern zu neuen eigenen Bildern verbinden und sich so – wenn auch nicht herstellbar, aber doch möglich – als Vergewisserungs-, Trost- oder Hoffnungsträger erweisen können.

5.  VERWANDLUNG: FOTO, SPIEGEL, FENSTER Ähnlich kann sich die Auseinandersetzung mit dem Porträtfoto in der Trauerfeier gestalten. Auch hier scheint sich beim Trauernden die Bedeutung des Bildes durch einen bestimmten sehkreativen Prozess durch die verschiedenen Trauerphasen hindurch verwandeln zu können. Etwa so, dass das Foto wie ein Spiegel zu wirken beginnt: Beim Betrachter entsteht der Eindruck, dass nicht das Bildgesicht, sondern er als „Hinterbliebener“ der „Übriggebliebene“ ist, also nicht das Ding, sondern er als „Zurückgelassener“ die „Reliquie“ ist. Zu realisieren, dass der Verstorbene mir entzogen ist, geht im Trauerprozess nicht selten einher mit dem Gefühl, dass er sich mir entzogen hat. Die Erfahrung, zurück- bzw. alleingelassen worden zu sein, kann archaische, in der frühen Mutter-Kind-Beziehung erlebte und bisher nicht mentalisierbare Gefühle aus dem Unbewussten emporsteigen lassen, die sich auf die ganze Wirklichkeitswahrnehmung auswirken. Vom Spiegel ist es dann nicht mehr weit, dass das Bild wie ein Fenster zu wirken beginnt. Der Fotografierte schaut dann nicht mehr „aus dem Foto heraus“, sondern quasi „von drüben“, von der anderen Seite des Bildes, also „durch das Bild hindurch“ die Betrachter an.57 Der Fotoblick ist dann kein Relikt des Toten mehr, sondern wirkt „konsubstantial“58 zum Blick eines Lebenden. Das Bild beginnt, „die Spur eines körperlichen Lebens zu legen“59, das so realistisch erscheinen kann, dass eine Witwe das Foto-Gesicht ihres verstorbenen Mannes zum Abschied küsst.60 Der sog. „Thanatos‑Effekt“61, der bei jedem Bilder­machen destruktiv am Werk ist (das Festlegen der Person auf ein Bild, was einer Inbesitznahme und Bemäch-

57 Diese „Verwandlung“ in der Bildrezeption hat der Maler Rudolf Hausner (1914–1995) in seinem Frühwerk „Adam nach dem Sündenfall“ (1956) künstlerisch reflektiert. Vgl. dazu: M. Marks: Menschwerden aus Passion, S. 157–167. 58 Vgl. Barthes, Roland: La Chambre Claire. Note sur la photographie, Paris 1980 S. 168f. 59 H. Belting: Faces, S. 196. 60 Diese und andere Erfahrungen können Pfarrpersonen während der Trauerfeier machen. 61 Vgl. R. Barthes: La Chambre claire, S. 30ff. und S. 56.

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tigung gleichkommt), erscheint überwunden, eine Erfahrung, die als „ge­steigerte Gegenwart“62 des Abwesenden wahrgenommen wird. Eine solche intime Berührung mit dem Bild erinnert an die kultische Praxis der Ikonenverehrung in der Ostkirche. In der Wahrnehmung der Gläubigen wird dort auch nicht bloß das materiale Bild, sondern der Heilige selbst, der „durch das Bild“ aus dem Jenseits ins Diesseits schaut, geküsst. Ikonen werden daher auch „Fenster der Seele“ bzw. „Fenster zum Himmel“ genannt. Durch sie wird göttliche Heilsmitteilung erwartet. Aufgrund der ihnen nachgesagten Wundertätigkeit werden sie geweiht. Rezeptionsästhetisch betrachtet, sind orthodoxe Ikonenverehrung und katholische Reliquienverehrung sich darin zumindest ähnlich. Und man darf wohl ebenso von einem „Wunder“ sprechen, wenn sich „durch“ das Porträtfoto in der Trauerfeier, d. h. über die persönliche Beziehung der Hinterbliebenen zu diesem dort abgebildeten Menschen, der „in echt“ nicht mehr da ist, etwas ebenso „echt“ Lebendiges gewinnen, wiedergewinnen lässt, das Zukunft verspricht.

6.  ÜBERGANGSOBJEKT Das wäre das Kunststück in einer christlichen Trauerfeier als „Erinnerungskunst“, das möglich (wenn auch nicht herstellbar) ist, wenn die Bildbetrachtung zu einer „Sehschule“ wird, in der das Porträt als „Übergangsobjekt“63 liturgische Bedeutung gewinnt. Vom Foto zum Spiegel und vom Spiegel zum Fenster in eine andere Welt kann sich diese Bildwirkung mit den christlichen Hoffnungsbildern der Auferstehung und des ewigen Lebens zu neuen, persönlichen Bildern des Trostes und der Zuversicht verbinden. Ähnlich können sich auch Reliquien als Übergangsobjekte erweisen, als Dinge, die nicht nur deshalb bleiben, weil sie Gewesenes bildhaft vergegenwärtigen, sondern vor allem, weil sie Zukunft eröffnen, Verwandlung und Erneuerung herbeiführen können. Nach psychoanalytischem Verständnis fungieren Übergangsobjekte als Helfer in Schwellensituationen, die aufgrund von Trennung, drohendem oder eingetretenem Objekt- und Selbstverlust als erschütternd oder sogar lebensbedrohlich erlebt werden. Sie werden als „schützende“, d. h. haltende und tragende Objekte bezeichnet, weil sie in der Krise an die Stelle des Verlorenen treten, die Angst vor dem Fall ins Nichts sowie die fremd- und selbstdestruktive Aggression des Lebens im Ringen um sich selbst erträglich machen können. Übergangsobjekte sind im „intermediären Raum“ des Erlebens angesiedelt. Ihre besondere Leistung wird in der Psychoanalyse am Beispiel der Vorstellung einer „genügend guten Mutter“ in 62 G. Boehm: Augenmaß, S. 11. 63 Winnicott, Donald W.: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1951.

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der Beziehung zu ihrem Kind erläutert. Zur Individuation, bei der die notwendige Trennung aus Freiheit geschehen kann, bedarf es der Bereitschaft und Fähigkeit der Mutter, sich ihrem Kind emotional anzupassen, seine Grundbedürfnisse zu stillen, ihm aber auch Raum zu geben, um bei ihm die Illusion ent­stehen zu lassen, es könnte die Stillung seiner Be­dürfnisse und die Erfüllung seiner Wünsche selbst herbeiführen. Durch diese Unterstützung bei der Entstehung des Urvertrauens können beim Kind aus der Verschmelzungseinheit mit der Mutter erste Erinnerungen und Erwartungen, die Wahrnehmung von Teilobjekten zu reifen beginnen, später dann das Erkennen von ganzen Objekten, Gegenständen und Personen, die Unterscheidung von Ich und Anderem, der Umgang mit der Gefühlswelt und dann die Fähigkeit, in den Ambivalenzen des Lebens gute Beziehungen aufzubauen.64 Die bleibende Bedeutung von Übergangsobjekten liegt darin begründet, dass psychisches Gleichgewicht nicht stabil ist, sondern in schwierigen Situationen, wie z. B. in der Trauer, einbrechen und ein Mensch auf frühere Stufen seines Selbst- und Welterlebens regredieren kann.65 Deshalb bleibt er zeitlebens auf Übergangsobjekte ange­wie­sen, was sich in seinen alltäglichen Such- und Fluchtbewegungen ausdrückt. Dieses sog. „dritte Le­ben“ des Men­schen66 spiegelt sich im Be­reich der Phanta­sien ebenso wie in kultu­rellen Erfahrungen. Es beginnt am Ort der Mutter, setzt sich im kindlichen Spiel mit dem Teddybär, im ado­leszenten Nacheifern von Idolen, in kreativen Akten, in den Küns­ten und Mythen, in Ge­ schichten von ge­lungenem und miss­lunge­nem Le­ben und auch in den Reli­gio­nen fort.

7.  HEILSVERGEWISSERUNG Religionspsychologisch gesehen, können in der Reliquienverehrung – mehr oder weniger bewusst – solche psychischen Bedürfnisse auf Befriedigung drängen. Ähnlich erscheint auch beim Wunsch, in der Trauerfeier ein Foto des Verstorbenen aufzustellen, das eigentliche Motiv die Hoffnung auf Zukünftiges zu sein. Verwandlung und Erneuerung sind die zentralen Aspekte. Allerdings wird die christliche Funerale unter dem Zuspruch und Anspruch gefeiert, dass diese Verwandlung und Erneuerung nicht vom Menschen geleistet werden muss und kann, sondern von Gott vollbracht wird und der Mensch vor der Wahrheit seines Lebens seiner gnädigen Zuwendung auch bedarf. 64 Vgl. ausführlich: Marks, Matthias: Religionspsychologie. Kompendien Praktische Theologie Bd. 1, Stuttgart 2018, S. 87–94. 65 Vgl. Spiegel, Yorick: Der Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung, Gütersloh 1973. 66 D. W. Winnicott: Vom Spiel zur Krea­tivität, S. 39f.

Das Porträtfoto in der Trauerfeier – eine Reliquie? | 159

Der wachsende Stellenwert des Porträts in der Trauerfeier kann in dieser Hinsicht auch kritisch gesehen werden, wenn die (mehr oder weniger bewusste) Wahl eines besonders „schönen“ Fotos, auf dem der Verstorbene lächelt, dazu dienen soll, „unschöne“ Seiten seines Lebens auszublenden67 oder posthum noch etwas wiedergutzumachen, was die Beziehung belastet hat: ein Akt von Selbstrechtfertigung. Der Umgang damit ist ein Thema der seelsorglichen Begleitung, wo gemeinsam mit den Trauernden nach dem richtigen Wort, dem richtigen Bild gesucht werden kann, das dem Evangelium von der geschenkten Gnade Gottes die Tür öffnet. Hinterbliebene haben in der Öffentlichkeit der Trauerfeier auch ein Recht auf Schutz, um widerstreitende Gefühle zu kontrollieren, was vor einem „schönen“ Bild sicherlich leichter fällt. Noch leichter wäre es, wenn ein Foto gewählt würde, auf dem der Verstorbene die Hinterbliebenen nicht frontal anblickt. Seelsorglich angemessener ist ein indirekter Blick, vielleicht ein Schnappschuss aus dem Alltag, vielleicht eine Collage, die die Person in unterschiedlichen Lebensphasen zeigt. Darauf kann eine Trauerpredigt konstruktiv Bezug nehmen und am Ende deutlich werden lassen, dass in der Vielzahl unterschiedlicher, auch einander widersprechender oder verborgen gebliebener Seiten das Leben eines Menschen immer mehr ist als andere, auch die Nächsten, von ihm sehen. Damit öffnet sich der Raum der Bilder für den Geist der Liebe und der Wahrheit, für die Kraft der Gegenseitigkeit, für den Geist des Verzeihens, die Aura des evangelischen Reliquienkults: Was bleibt, stiften die Liebenden.

67 Das gilt ähnlich für das funerale Angebot, die Asche des Verstorbenen zum Diamanten pressen zu lassen. Das Relikt wird veredelt, die Erinnerung soll glänzen. Gottferne Selbstrechtfertigung? Vgl. den Beitrag von Thomas Klie in diesem Band.

III. Phänomene

„Der Diamant ist das Funkeln von ihr“ Eine Fallanalyse zur Diamantpressung Thomas Klie

1.  PRIVATRELIQUIEN Wenn Hinterbliebene einen Teil der Kremierungsasche ihres Angehörigen in der Schweiz zu einem Diamanten pressen oder in Österreich daraus einen Rubin oder Saphir1 herstellen lassen, dann betreten diese Hinterbliebenen damit immer noch kulturelles Neuland. Diese exponierten Optionen einer Ascheveredelung bestehen erst seit 20042 – in den Jahrhunderten davor war dies technisch nicht möglich und theoretisch wohl auch kaum vorstellbar. Auch die Religionstheorie und die Thanatosoziologie betreten hier in gewisser Weise wissenschaftliches Neuland, denn sterbliche Überreste als ästhetische Erinnerungsaccessoires von Privatleuten stellen für beide Disziplinen ein noch weitgehend theoriefreies Terrain dar. Hier von „Reliquien“ zu sprechen, diese Artefakte also als ein funktionales Äquivalent zur katholischen Heiligenverehrung zu betrachten, kann in diesem Zusammenhang zunächst nur als eine vorläufige Arbeitshypothese formuliert werden, auch wenn die Beiträge in diesem Band eine bemerkenswerte Reihe von Argumenten für diese These liefern. So legen v. a. empirische Befunde nahe, die bei der Ascheveredelung produzierten „letzten Dinge“ insofern als „Reliquien“ zu bezeichnen, als sie von denen, die sie besitzen, eine ritualisierte Wertschätzung erfahren.3 Sie sind für die, die sie 1 Marktführerin ist hier die Firma Mevisto in Kirchham/Oberösterreich, die 2013 gegründet wurde. 2 In diesem Jahr wurde die Firma Algordanza in Domat/Ems, Schweiz gegründet; Industriediamanten kann man seit Mitte der 1950er Jahre herstellen. 3 Benkel, Thorsten/Klie, Thomas/Meitzler, Matthias: Der Glanz des Lebens. Aschediamant und Erinnerungskörper, Göttingen 2019, S. 117–192, bes. S. 131ff. – Die Rede

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in Auftrag gegeben haben und in Form von Schmuckgegenständen tragen, außeralltägliche Dinge von durchaus religiöser Qualität, womöglich heilige Dinge.4 Versteht man unter „religiös“ ein ritualisiertes Verhalten zum Unverfügbaren5 und übersetzt „heilig“ mit „ganzheitlich“6 bzw. „gesondert“, dann sind beide Adjektive auf der Folie eines funktionalen Religionsverständnisses7 durchaus angemessene Bewertungen der hier verhandelten Artefaktverhältnisse. Nimmt man als weiteres Kriterium für die Reliquienqualität der Ascheschmuckstücke den besonderen Aufbewahrungsort hinzu, wo sie etwas von der ihnen zugeschriebenen Energie (latein. virtus – Kraft, Wert, Vortrefflichkeit) freigeben an die, die sich in ihre Nähe begeben, dann ist die unmittelbare Körpernähe, in der normalerweise diese Preziosen getragen werden, sicher auch ein ganz besonderer, weil keineswegs beliebiger Ort. Im Mittelalter wurden Reliquien auch oft als Talismane direkt am Körper getragen; sie galten als „Phylakterien“, Schutzmittel, die die Träger vor Unheil bewahren sollten. Bei Erinnerungsdiamanten haben wir es also im Medium einer konventionalisierten äußeren Gestalt8 mit einer Form mobiler und hochgradig individualisierter Erinnerungskultur zu tun. Betrachtet man ausschließlich seinen Herstellungsprozess, dann ist ein Erinnerungsdiamant natürlich ein reines Industrieprodukt, das weder geschliffen noch ungeschliffen keinerlei Individualität aufweist. Berücksichtigt man dabei aber seine sehr besondere Substanz, dann fällt das Urteil darüber naturgemäß ganz anders von der „Wert-schätzung“ ist hier durchaus im doppelten Wortsinn zu verstehen. – Juristisch gilt in Deutschland ein Leichnam als eine „nicht eigentumsfähige Sache“. Vgl. Hierzu Roth, Carsten: Eigentum an Körperteilen. Rechtsfragen der Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, Berlin 2009. 4 Grundlegend hierzu Laube, Stefan: Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum, Berlin 2011; Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003. – Vgl. auch die Beiträge von Hubertus Lutterbach, Christian Bauer und Stefan Laube in diesem Band. 5 Diese Formulierung geht auf Friedrich Kambartel zurück, zit. n. Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung, Paderborn 32004, S. 149. 6 „Heilig“ leitet sich etymologisch von „Heil“ ab. In dem deutschen Adjektiv „heil“ schwingt noch etwas von der ursprünglichen Ganzheitsvorstellung mit (etwas ist „heil“, also noch „ganz“). Im Englischen klingt dieser Zusammenhang ebenfalls noch an; vgl. englisch holy ‑ heilig, von whole ‑ ganz, komplett. 7 Zum Religionsbegriff vgl. Hock, Klaus: Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 22006, S. 10–21. 8 Der für den Diamanten typische Facettenschliff ist 1910 entwickelt worden, eine hochpräzise Schliffvariante, die seine faszinierende Lichtbrechung optimal zur Geltung bringt.

Eine Fallanalyse zur Diamantpressung | 165

aus. Fast unisono bekräftigen die Befragten9, dass ihr Diamant ihr verstorbener Angehöriger ist, was sich u. a. auch darin äußert, dass die Interviewten angaben, mit dem Diamanten zu sprechen bzw. ihm die Gegend zu zeigen. Wahrscheinlich muss man also diese Erinnerungsedelsteine sogar als Reliquien „erster Ordnung“ bezeichnen, denn ihr Grundstoff ist immerhin Körpersubstanz – wenn auch in zweifacher Weise transformiert. Im Krematorium wird aus dem Leichnam in einem Oxidationsprozess Asche, und aus dieser Asche werden dann in einem mehrstufigen Herstellungsprozess Diamanten bzw. Korunde10. In Anbetracht dieser gestuften Genese ist es derzeit allerdings nicht nur physikalisch, sondern auch rechtlich noch offen, ob es sich bei den Erinnerungspreziosen um sterbliche Überreste im engeren Sinne des Wortes handelt, die der gesetzlich vorgeschriebenen Totenruhe unterliegen und damit nicht eigentumsfähig sind, oder ob es sich um sog. „bewegliche Sachen“, also um eigentumsfähige Gegenstände handelt.11 Was physikalisch und rechtlich derweil noch unentschieden bleibt, ist in der sozialen Kommunikation jedoch keineswegs unentschieden. Für die Träger von Erinnerungsedelsteinen gilt (bis auf ganz wenige Ausnahmen) die Wesenseinheit zwischen dem glitzernden Aschediamanten und ihren Verstorbenen. Man kommuniziert darum in der Regel auch ganz unmittelbar mit dem anthropomorphen Artefakt; der Diamant vergegenwärtigt den abwesenden Anderen und macht ihn real präsent. Er symbolisiert die enge Verbindung zwischen dem besitzenden Ich und dem vermissten Anderen, und es stellt das Gedenken materiell auf Dauer.12 Erinnerungsedelsteine sind wie alle Erinnerungsartefakte, Souvenirs, „Lieblingsdinge“ usw. überaus starke Präsenzgeneratoren. Auch in dieser Beziehung stößt man auf die Grundstrukturen einer Beglaubigung, die die Reliquien-Frömmigkeit von Beginn an begleitet. Man muss an die Identität zwischen dem Erinnerungsartefakt und dem erinnerten Menschen glauben, schließlich gibt es keinerlei Anhaltspunk9 Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts „Artefakt und Erinnerung“, das an den Universitäten Passau und Rostock 2018/19 von Thorsten Benkel, Thomas Klie und Matthias Meitzler durchgeführt wurde, sind Kunden der Fa. Algordanza zu ihren Erfahrungen mit den Erinnerungsdiamanten befragt worden. 10 Ist der Korund rot, nennt man ihn Rubin – ist er blau, trägt er die Bezeichnung Saphir. 11 Vgl. den Beitrag von Torsten Schmitt in diesem Band. 12 Vgl. Habermas, Tilman: Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt a. M. 1999, S. 305ff. – Solche partiellen Animierungen und Personifizierungen entsprechen weniger einer kognitiven Regression, als dem Bedürfnis „erlebte Ohnmacht zu kompensieren“ (ebd., S. 308). Privat­reliquien fordern nicht zum Handeln auf, sondern zur erinnernden Reflexion. Ihnen eignet eine soziale Identitätsfunktion angesichts einer traumatisierenden Trennungserfahrung.

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te für Ähnlichkeitsvermutungen.13 Zwischen einem Halbkaräter und einer leibhaftigen Person finden sich auch bei größter Phantasie einfach keine äußerlichen Entsprechungen. Doch rechnet man dem kleinen Schmuckstück Authentizität zu, dann „sind“ es für die, die dies in ihrem Alltagshandeln beglaubigen, auch Reliquien. Diese Gestaltqualität haben sie allerdings nur im Resonanzbereich des relativ engen Kreises derer, die regelmäßigen Blickkontakt zur sepulkralen Preziose haben und um seine Geschichte wissen. Es spricht also viel dafür, dass wir es bei den Ascheedelsteinen mit einer spätmodernen Ausprägung der Privatreliquien14 zu tun haben, die keines Sakralraumes und keiner kirchenchristlichen Devotion mehr bedürfen. Beglaubigung, Kontakt und Handhabung sind komplett in die private Sphäre verlagert. Diese Form einer radikal individualisierten Reliktauratisierung kommt gut ohne Gott aus. Das Erinnern wird hier ganz bewusst einer öffentlichen Erinnerungskultur entzogen15 und auf ein individualisiertes Erinnern in einer quasi sakralisierten Privatsphäre reduziert.

2.  DER UMGANG MIT PRIVATRELIQUIEN Von Oktober 2018 bis zum September 2019 hat das Team um Thorsten Benkel und Matthias Meitzler (beide Soziologie, Universität Passau) und Thomas Klie (Theologie/Universität Rostock) in einem interdisziplinären Forschungsprojekt den Umgang mit den Erinnerungsdiamanten erforscht. Es wurden Kunden der Fa. Algordanza, Schweiz – zumeist telefonisch – anhand eines Leitfadens befragt, um zu eruieren, welche Rolle die aus der Kremierungsasche gepressten Industriediamanten im Trauerprozess von Hinterbliebenen spielen. Die Forschungshypo13 Von der Firma Algordanza erhalten die Kunden ein Zertifikat mit einer Herkunftsgarantie, die Herstellung des Diamanten ausschließlich aus der übergebenen Asche wird damit garantiert. Unmittelbar nach dem Erhalt wird die Urnenasche mit einer eindeutigen Codierung versehen, über die der Ursprung der Asche jederzeit zurückverfolgt werden kann. Jeder Diamant erhält eine Lasergravur, die ihn auf Lebens­dauer eindeutig identifizierbar macht (vgl. www.algordanza.com/de/ueber-uns/zertifikate-gutachten (Zugriff 03.10.2019). 14 In historischer Perspektive vgl. u. a. Kalinowski, Anja: Frühchristliche Reliquiare im Kontext von Kultstrategien, Heilserwartung und sozialer Selbstdarstellung, Wiesbaden 2011, S. 19f. 15 Viele der Befragten zeigten entweder kein Interesse an der für die Produktion nicht benötigten „Restasche“ bzw. ließen sie auf einer firmeneigenen Streuwiese in der Schweiz verstreuen. Andere hingegen (eine deutliche Minderheit) haben die Restasche in ihrer Heimat ordnungsgemäß auf einem Friedhof beisetzen lassen.

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these war dabei: Im Umgang mit Erinnerungsdiamanten zeigt sich eine neue, stark individualisierte Form der Trauer; die Artefakte werden für die eigene Erinnerung in Dienst genommen. Diese Trauerform meidet den öffentlichen Raum (z. B. den Friedhof) und lädt demgegenüber den privaten Nahraum über den Präsenzund Ewigkeitsgenerator Diamant sepulkral auf. Für die Gegenwartsgesellschaft scheint es offenbar von besonderer Relevanz, der persönlichen Erinnerung auch dinglich Ausdruck zu geben. Man will sich erinnern und man weiß dabei sehr gut um die Flüchtigkeit von Erinnerungen und um das Vergessen. Und darum bedient man sich zur Sicherung der Vergangenheit vielerlei Erinnerungsgegenstände und Rituale. Das Gefühl einer sich beschleunigenden Gegenwart, das Wissen um instabile Beziehungen und die Kontingenzen des Lebens lassen nach materiell haltbaren Vergewisserungen suchen. Man sehnt sich nach Dingen, die bleiben und die augenscheinlich dem Werden und Vergehen entzogen sind. Und was ist da besser geeignet als ein Diamant, der seinem Besitzer immerhin „ewigen Glanz“ verheißt? Die Diamantpressung ist kulturell beispiellos. Neu ist, dass hier der Verstorbene postmortem einen materiellen Anteil hat an dem Artefakt, das an ihn erinnert. Neu ist auch eine Trauer- und Erinnerungsform, die sich an tragbarem und flexiblem Totenschmuck festmacht. In der Alltagskultur sind solche „Trauerdinge“ durchaus präsent: Fotos von Verstorbenen in der Brieftasche, Schmuckstücke aus dem Besitz der Verstorbenen, Utensilien aus der Wohnumgebung – all diese Dinge können im Todesfall als Katalysatoren des Erinnerns dienen. Bei den Erinnerungsdiamanten wird die Erinnerung an die Verstorbenen allerdings postum veredelt, wenn man so will: transzendiert. Erde, Asche und Grab lassen eher Endlichkeit assoziieren, aber ein Diamant glitzert im Dienst der Ewigkeit. Er ist mathematisch exakt geschliffen, um die Lichtreflexion zu optimieren, die Transformation ist also ästhetisch total. Das Körperschema ist komplett aufgehoben. Man hat es nur noch mit einem glitzernden Ewigkeits‑„ding“ zu tun, das über die pure Materialität Präsenz und Authentizität ausstrahlt. Neu ist auch, dass der Kunde bzw. der Angehörige bei der Beauftragung eines Erinnerungsedelsteins verschiedene Optionen kumulieren (latein. cumulus – Haufen) wie auch panaschieren (frz. panacher – mischen) kann. Da für die Herstellung der edlen Artefakte nur ein Teil der Kremierungsasche benötigt wird, sind folgende Varianten möglich: a. Pressung mehrerer Diamanten („Familiendiamanten“), mit und ohne Aschereste, b. ein Diamant (oder mehrere) mit Verstreuung der Restasche in der Schweiz,

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c. ein Diamant (oder mehrere) und Mitnahme der Restasche (für Deutsche mit Beisetzungsverpflichtung). Die Asche kann (legal) beigesetzt, (illegal) verstreut und (ebenso noch illegal) zuhause aufbewahrt werden. d. die Wahl eines Schmuckstückes, das den Diamanten rahmt (Kette, Brosche, Ohrring); wenn man so will: das Reliquiar und schließlich e. die Kombination von Erinnerungsedelstein und kirchlicher bzw. weltlicher Bestattung der Restasche. Erinnerungsdiamanten stehen also nicht zwingend im Widerspruch zum traditionel­len Grab auf einem Friedhof. Ein juristisch offenes Problem – zumindest in Deutschland, nicht jedoch in der Schweiz – ist allerdings noch die Aufteilung der Asche. Die mit der traditionellen Beisetzung vorausgesetzte immobile Verortung der sterblichen Überreste (Totenruhe) gerät hier in einen Gegensatz zur Mobilität. Schließlich gibt man einen Diamanten in Auftrag, um ihn dann in der Regel auch körpernah als Schmuck zu tragen. Der Verstorbene wird als glitzernde Verewigung am eigenen Leib erfahren. Die physische Trennung soll hierbei bewusst vermieden werden. Analog zum biologischen Gestaltwechsel der Leiche im Grab ist auch im Prozess der Diamantpressung die Transformation den Blicken der Angehörigen entzogen. Sinnlich wahrnehmbar (taktil, optisch) ist jeweils ein zunächst invariantes Endprodukt. Doch anders als das immobile Grab auf dem Friedhof entsteht hier ein Erinnerungsgegenstand, der für die Angehörigen ambulant handhabbar wird. Es entstehen also – überspitzt ausgedrückt – ansehnliche Tote-to-go. Man hat „seinen“ Toten jederzeit und allerorts verfügbar. In kristalliner Form ist der Angehörige der Vergänglichkeit allen Lebens absolut entzogen. Auch in 100 Jahren wird der Erinnerungsdiamant noch genauso aussehen wie zum Zeitpunkt der Veredelung. Ein Diamant ist schließlich das härteste Kristall, das in der Natur vorkommt.16 Und darum haben auch fast alle Befragten angegeben, dass sie das Vererben ihrer Aschepreziose schon beim Kauf mit eingeplant haben. Die Angehörigen sind also nicht nur Hinterbliebene, sondern über den Diamanten nun auch Eigentümer ihres Toten – wenn auch in einer doppelt transformierten Gestalt. Der Erwerb des Diamanten stellt eine formalisierte Form der dinglich-materiellen Wiederaneignung des Verstorbenen dar. Die Toten „kehren heim“, allerdings nicht zu ihrem himmlischen Vater, sondern in die Privatheit der persönlichen Wohnumgebung. Diese Heimkehr – eine beliebte Metapher in 16 Diamant leitet sich ab aus diamas (spätlateinisch; Akkusativ: diamantem). Es handelt sich um eine latinisierende Abwandlung von adamas (griech.: unbezwingbar). Im klassischen Latein bezeichnete man mit adamas außerordentlich harte Materialien, wie etwa Plinius d. Ä. den Saphir in seinem Werk Naturalis Historia.

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Traueranzeigen und Bestattungspredigten – ist gewissermaßen von der Vertikalen in die Horizontale gekippt. Wir haben es bei der Diamantpressung also auch (aber nicht nur) mit einem Säkularisierungsphänomen zu tun. Das Subjekt der Trauer sieht sich durch die neuen technischen Möglichkeiten ermächtigt, jetzt auch sein eigener Seelsorger und sein eigener Priester zu werden.17 Die funerale Individualisierung ist hier also total: In der Alltagskommunikation mit der diamantenen Privatreliquie fallen sepulkrale, poimenische und priesterliche Zuwendungsformen in eins. Oder andersherum: Mit der Rückkehr des Verstorbenen als Diamant und der dinglichen Auratisierung der Trauer wird die unmittelbare Kommunikationsumgebung postum re‑sakralisiert. Bemerkenswerterweise berichteten sogar einige (wenige) Interviewpartner von para-natürlichen Phänomenen nach der Rückkehr des Aschediamanten in die heimische Wohnung. Auch dies wäre eine weitere – kulturhermeneutisch völlig unerwartbare – Parallele zur Reliquienverehrung, wird doch traditionellen Reliquien immerhin eine Kraft zugesprochen, von sich aus verändernd auf die Wirklichkeit einzuwirken („wundertätige Reliquien“). Wenn bei der Diamantherstellung Veredelungen in Form von Schmuckeinfassungen oder Glaskunst von den Hinterbliebenen bzw. Kunden angewählt werden, dann erhöht dies natürlich die Komplexität der Person-Sach-Relation. Denn wenn man voraussetzt, dass für die allermeisten Besitzer von Erinnerungsedelsteinen dieser den Verstorbenen nicht nur bezeichnet, sondern dieser auch ist, dann ist hier gar nicht mehr so klar zu bestimmen, „was Sache ist“18 bzw. ob die Person nun „dinglich“ oder das Ding „persönlich“ geworden ist. Die entsprechenden Interviewpassagen legen die Deutung nahe, dass beide Identifikationsprozesse wechselseitig aufeinander bezogen sind: die Verdinglichung der Person und die Personalisierung des Dings. Die Herstellung von Erinnerungsedelsteinen eröffnet also eine ganz neue Form der Trauer – über die Koordination verschiedener Artefakte und die Zuschreibung von Vitalität und Authentizität. So war in den Interviews mit den Diamantbesitzenden von besonderem Interesse, wie und wo die Erinnerungsdiamanten positioniert, welche Arrangements bevorzugt werden und wie sich möglicherweise 17 Man darf hierüber nicht vergessen, dass im Protestantismus 500 Jahre lang das „Priestertum aller Glaubenden“ ein wirkmächtiger Aspekt der Glaubenslehre war, semantisch natürlich mit einer ganz anderen Ausrichtung. Vgl. hierzu den jüngst erschienenen Sammelband: Kunz, Ralph/Zeindler, Matthias: Alle sind gefragt. Das Priestertum aller Gläubigen heute, Zürich 2018. 18 In der dogmatischen Tradition spielt die Differenz zwischen significare (bezeichnen) und esse (sein) im innerprotestantischen Verständnis des Abendmahls eine zentrale Rolle. Vgl. hierzu Korsch, Dietrich (Hg.): Die Gegenwart Jesu Christi im Abendmahl, Leipzig 2005.

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beides im Trauerprozess verändert. Ein Augenmerk lag auch darauf, inwiefern sich aus der häuslichen Aufbewahrung bestimmte Sachzwänge ergeben, wie z. B. die Geheimhaltung (oder Offenlegung) gegenüber Gästen, die intensivierte Präsenz des Verstorbenen im häuslichen Umfeld, vielleicht sogar die Mutation des Artefakts zum Fetisch. Wird etwa die häusliche Umgebung durch die Reliquie zu einem fluiden Privatfriedhof? Oder wird der Trauernde im Falle von körpernah getragenem Schmuck selbst zu einem „Friedhofsträger“? Klar ist, dass die Trauernden mit dem Verzicht auf die Fixierung von Namen, Lebensdaten und Ort, mit dem Verzicht auf Identifizierbarkeit und Lokalisierung selbst als ein lebendes Todeszeichen in Erscheinung treten. Sie sind schließlich die einzigen, die bei dieser Form der Nicht-Bestattung über den Toten noch Auskunft geben können. Die Untersuchung ergab, dass die mit den Diamanten konfrontierten Personen spezifische Todes-Deutungen hervorbringen, die sich auch wandeln können (bis hin zur ritualisierten bzw. individualisierten Entsorgung, dies kommt allerdings äußerst selten vor19). In jedem Fall konstituieren sich durch die Anwesenheit der Diamanten neue (familiale) Sinnzusammenhänge, in denen die Artefakte in besonderer Weise in Erscheinung treten und in eine geordnete Beziehung zu anderen Gegenständen, Handlungen und Wahrnehmungsweisen gesetzt werden. So sehen die absolut meisten Diamantkunden vor, den oder die Erinnerungsdiamanten auch an die Kinder und Enkel zu vererben. Wie man es normalerweise mit wertvollem Eigentum macht, so erfolgt es hier mit den kristallisierten Überresten der Anverwandten.

3.  E IN KONKRETER FALL – MARTINA KELLER (SCHWEIZ) Frau Keller ist Schweizerin und zum Zeitpunkt des Interviews 53 Jahre alt.20 Sie arbeitet als Pflegekraft in einem Krankenhaus und ist verheiratet. Ihre Religionszugehörigkeit gibt sie mit evangelisch-reformiert an; ihr Mann ist katholisch. Das Paar har vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter. Ihre 26-jährige Tochter ist vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Nach einer Organspende, die den Eltern noch etwas Zeit gab, um zu überlegen, welche Bestattungsform für sie infrage käme, trafen sie die Entscheidung, die Kremierungsasche auf drei Urnen zu verteilen. Eine der Urnen sollte für den Lebenspartner sein, eine weitere für den älteren Bruder und eine für die Eltern 19 Vgl. Benkel, Thorsten: Fallanalyse II: Loslassen können. Eine Geschichte über Artefakt-Abstinenz, in: Th. Benkel/Th. Klie/M. Meitzler: Der Glanz des Lebens, S. 74–79. 20 Interview 2K; die einzelnen Zitate sind interlinear mit den Zeilennummern angegeben.

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(Z. 34ff.). Von der Asche, die die Eltern für sich beansprucht haben, sind dann insgesamt drei Diamanten gepresst worden. Einen trägt die Mutter in ihrem Ehering, die anderen haben die beiden jüngeren Brüder der Verstorbenen bekommen. Und ein kleiner Ascherest wurde im Anschluss an eine evangelische Trauerfeier in der Kirche, auf die die Familie Wert legte, auf Wunsch des Vaters im eigenen Garten verstreut. Rein arithmetisch wurden also die sterblichen Überreste der jungen Frau insgesamt sechsfach geteilt (drei Diamanten, zwei Schmuckurnen, eine Streuurne). Rechnet man die Organspende mit hinzu, dann hat es in diesem Fall sogar eine siebenfache Teilung gegeben. Die sechsfache Ascheteilung Der Lebenspartner der verunglückten Tochter hat seinen Teil der Asche in einer kleinen Schmuckurne zuhause ins Bücherregal gestellt. In seinem Garten hat er eine kleine Buche gepflanzt, die zunächst einmal ein, zwei Winter überstehen soll, bis er dann dort bei einer Gartenbank seinen Teil der Asche verstreuen wird. Der ältere Bruder hat seine Urne auf einem kleinen Schrank stehen, wo er sich „eine kleine Ecke gemacht hat mit Fotos und Erinnerungen“. (Z. 110f.) Irgendwann will er sie in einen großen Fluss schütten, der in den Rhein mündet: „und sie so eigentlich in ... die Welt hinausschicken. Weil, sie wollte noch sehr viel reisen.“ (Z. 114f.) Die beiden jüngeren Brüder der Verunglückten wollten nicht wie die Mutter einen geschliffenen Diamanten von ihrer Schwester, sondern jeweils einen Rohdiamanten. Beide bewahren ihre Edelsteine gesondert auf. Die Mutter trägt ihre Erinnerungsdiamanten in ihrem Ehering, den sie nie ablegt: „Den trag ich jeden Tag, immer, jede Stunde, jede Nacht.“ (Z. 152) Das Elternpaar hatte sich aus Anlass der Diamantpressung neue Eheringe anfertigen lassen.21 Der Ring des Vaters trägt keinen Stein – ihm war es wichtig, dass die Asche bzw. ein Teil der Asche „der Erde übergeben wird“. (Z. 36f.) Die Restasche, die nach der kirchlichen Feier im eigenen Garten verstreut wurde, ist dort nicht in besonderer Weise platziert worden. Es gibt keinen Stein, kein Kreuz. Sichtbar ist allerdings ein kleines Arreal, auf dem alle Blumen, die die Familie zur Trauerfeier geschenkt bekamen, eingepflanzt wurden. Und dort wurde dann auch die Asche verstreut: „Wir haben im Garten ... eine Ecke gemacht, wo wir eigentlich alle die Blumen, die wir geschenkt kriegten, also, all die Stöcke haben wir dort eingepflanzt. Das sind vor allem Blumen. Eine kleine Blumen21 „Ähm, die neuen Eheringe – also, ich muss so sagen: Ich muss, äh, ich habe dann den Stein gesehen und zuerst dachte ich mir, ich möchte irgendetwas Nahes beim He..., also ein Schmuckstück machen nahe dem Herzen.“ (Z. 139–141).

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ecke. Und dort haben wir die Asche übergestreut. Und das ist nicht markiert.“ (Z. 186–189) Für die interviewte Mutter war es ganz klar, dass sie ihre Tochter in Form des Diamanten am Ehering ständig bei sich tragen wollte: „Weil, ich möchte sie ja bei mir haben. Also ich, ich würd’ da nicht einfach so eine Schatulle, sie aufmachen und dann den Diamanten sehen, sondern ich möchte, dass, dass sie mit mir weitergeht.“ (Z. 163–165) Und weil der Tochter-Diamant nun immer bei ihr ist, spricht sie auch regelmäßig mit ihm. Auf langen Spaziergängen mit dem Hund beschreibt sie ihm, was sie dann sieht und erlebt. Aber auch ihren Zorn und ihre Wut über den Unfallverursacher teilt sie der Tochter mit: „Ja, es gibt wirklich oft Momente, wo ich, ja, manchmal auch die Wut über ihr Sterben und den Verursacher [des Verkehrsunfalls] dann so hochkommt ... Das muss ich irgendwo losmachen und ja, dann sprech‘ ich mit ihr. Eigentlich über den, über den Diamanten mit ihr.“ (Z. 292–297) Wir haben hier ein – für deutsche Verhältnisse – bemerkenswertes Beispiel für die Pluralisierung der Bestattungskultur bei nur einem Todesfall vor uns. Auch im Blick auf die Bestattungs- bzw. Nicht-Bestattungsformen kommt ein deutlicher Plural zum Ausdruck. Da ist zunächst die aufgeschobene Bestattung durch eine Interimsaufbewahrung zuhause. Die viel beschworene „Urne auf dem Kaminsims“ steht eben in vielen Fällen nicht im Widerspruch zu einer Beisetzung. Trauernde, die diesen Wunsch hegen, wollen die Urne im Grunde nur so lange zuhause behalten, wie sie es für ihre Trauer brauchen. Die häusliche Aufbewahrung ist Ausdruck einer zeitlich individualisierten Trauer, die sich nicht an amtliche Fristen halten will bzw. kann. Man beansprucht für seine Trauer die unmittelbare Nähe der sterblichen Überreste, und man nimmt sich dafür genau die Zeit, die man für nötig erachtet.22 In diesem Fall werden aber auch verschiedene Bestattungsarten kumuliert: naturreligiöse Formen (Fluss, Baum, Garten – ohne dabei einen öffentlichen Friedwald in Anspruch zu nehmen), ambulante Formen (Ascheaufbewahrung zuhause, Erinnerungsdiamanten, als Schmuck oder als Rohdiamant) und die eher klassische depositäre Form (Ascheverstreuung auf Privatgrund). Und all dies wurde nicht in einen Gegensatz zur religiösen Orientierung gebracht. Es fand schließlich ein öffentlicher Abschiedsgottesdienst in der Kirche statt.23

22 Vgl. zu diesem Phänomenbereich Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias/Preuß, Dirk: Autonomie der Trauer. Zur Ambivalenz des sozialen Wandels, Baden-Baden 2019, bes. S. 127–163. 23 Bei den deutschen Interviewpartnern begegnete des Öfteren die Opposition: klassisch kirchliche Beisetzung vs. Diamantpressung.

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Allen gerecht werden – in Freiheit Vor dem Hintergrund des deutschen Friedhofszwangs bzw. des strikten Verbots der Ascheteilung mutet die hier wie selbstverständlich in Anspruch genommene Pluralisierung bei nur einem Todesfall fremd, vielleicht sogar pathologisch an. Ist diese familiäre Ascheökonomie pathologisch? Die Selbstdeutung sieht es ganz anders. Schon der offene und unverkrampfte Duktus des Interviews, bei dem das stark individualisierte Bestattungshandeln ganz sachlich geschildert und jeweils begründet wurde, spricht dagegen. Statt der vom Interviewer erwarteten starken Emotionalisierung wurde die Ascheteilung ethisch legitimiert. Dominantes Motiv war die Verteilungsgerechtigkeit, denn nur so konnten die Eltern den unterschiedlichen Ansprüchen der nächsten Verwandten gerecht werden. Frau Keller drückt es so aus: „Wir haben verschiedene Bedürfnisse. Wir haben verschiedene Leute, die sehr eng mit ihr zusammen waren. Ja, also jeder hat irgendwo, darf auch Anspruch haben, einen Teil von ihr zu haben.“ (Z. 89–91) Dass Trauer individuell ausgelebt wird und sich darum je nach Gemütsverfassung auch unterschiedliche Formen sucht, erscheint hier völlig selbstverständlich. Kein Normierungszwang, sondern eine Kumulation individueller Bedarfe, denen man in großer Freiheit entspricht. Für Frau Keller ist der Diamant nicht identisch mit ihrer Tochter, obwohl sie mit dem Diamanten spricht. Er symbolisiert für sie vielmehr bestimmte Eigenschaften ihrer Tochter, die in ihrer Privatreliquie eine intensivierte Präsenz generiert: „Der Diamant ist für mich das Funkeln von, von ihr ... das Leuchten, das mich begleitet.“ (Z. 206 u. 212) Gefragt nach den Gründen für diesen insgesamt technisch sehr aufwändigen Umgang mit dem Tod, antwortet Frau Keller: „Bloß wir haben auch so gemerkt, das gibt dann auch Freiheit. Also, Freiheit für sich selber zu entscheiden. ... Also, wenn du das Ganze ja schon tragen musst, dann wenigstens mit der gewissen Freiheit.“ (Z. 356–360)

„Ich will jetzt Mutters Asche!“ Aushandlung, Aneignung und Autonomie am Beispiel kontroverser Gegenständlichkeit Matthias Meitzler

„Doch die ernstesten Dinge, da, wo es wirklich um die Wahrheit geht, sind immer die allerzerbrechlichsten.“1

„Ich will jetzt Mutters Asche!“ Diese Forderung mag sich zunächst ungewöhnlich anhören und dürfte im sozialen Alltagsleben auch nicht allzu häufig vernommen werden. Im vorliegenden Fall markiert sie indes den Gipfel eines familiären Konflikts, der sich anlässlich des Lebensendes einer hochbetagten Dame entfaltete. Die Erzählerin der Geschichte ist Hannelore Wagner,2 eine 65-jährige Künstlerin aus Süddeutschland und zugleich Tochter der Verstorbenen. Frau Wagner bezeichnet sich selbst als einen spirituellen Menschen, ohne sich einer konkreten religiösen Glaubensrichtung zugehörig zu fühlen. Ihr Vater starb bereits, als sie zehn Jahre alt war. Sie hat noch einen Bruder, zu dem allerdings schon seit Jahren kein intensiver Kontakt mehr besteht. Frau Wagners Mutter setzte sich schon längere Zeit vor ihrem Tod mit der eigenen Endlichkeit auseinander. Eine klassische Beerdigung, wie sie bei allen bisher verstorbenen Familienmitgliedern vollzogen wurde, kam für sie nicht in 1 Adorno, Theodor W.: Philosophische Terminologie. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1990, S. 84. 2 Der Name wurde pseudonymisiert. Frau Wagner ist einer von mehreren Interviewpartnern, die im Rahmen des Forschungsprojekts Autonomie der Trauer (Kooperation der Universitäten Passau und Erlangen-Nürnberg sowie dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen) zu ihren Erfahrungen mit Trauer und Bestattung befragt wurden. Nähere Informationen zur Durchführung der Studie finden sich weiter unten.

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Frage – zu sehr missfiel ihr die Vorstellung einer langsamen Verwesung unter der Erde. Viel schöner fand sie es stattdessen, wenn ihre Kremationsasche über einem nahe gelegenen Wasserfall ausgestreut würde, um von dort aus in der Natur aufzugehen, vielleicht sogar bis ins Meer getragen zu werden. Frau Wagner, die ihre an Parkinson erkrankte Mutter in den letzten Lebensjahren gepflegt hatte, reagierte positiv auf den ihr anvertrauten Wunsch. Sie selbst verspürt, wie sie sagt, nicht das Bedürfnis nach einem Grab als Trauerort. Wichtiger ist es ihr, die Verstorbene „im Herzen zu bewahren“. Als ihre 94-jährige Mutter im November 2012 starb, wusste Frau Wagner, was zu tun war. Wie besprochen, wurde der Leichnam im Krematorium eingeäschert. Dank eines kooperationswilligen Bestatters gelangte die Urne in die Hände der Hinterbliebenen. Der Umsetzung des mütterlichen Beisetzungswunsches schien nichts mehr im Wege zu stehen. Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende erzählt, vielmehr beginnt sie nun erst. Ein Detail gestaltete sich nämlich etwas anders als geplant: Inzwischen war es Winter geworden und der auserkorene Wasserfall zugefroren. Aus diesem Grund entschied sich Frau Wagner, noch etwas Geduld zu bewahren und das Vorhaben auf das nächste Frühjahr zu vertagen. In ihrem Atelier, wo die Urne solange verbleiben sollte, errichtete sie einen kleinen Altar mit Kerzen und Bildern. Im darauffolgenden März, der Frühling hatte sich bereits spürbar angekündigt, sollte es endlich soweit sein. Frau Wagner hatte in der Zwischenzeit alle notwendigen Vorkehrungen getroffen: Mit ein paar engen Freunden, die sie auf ihrem Weg zum Wasserfall begleiten sollten, wurden Uhrzeit und Treffpunkt vereinbart. Um unbeobachtet zu bleiben, sollte die Ausstreuung in den frühen Morgenstunden vor Sonnenaufgang stattfinden – diesen Rat hatte die Mutter ihr selbst noch mit auf den Weg gegeben. Zwei Tage vor dem verabredeten Termin klingelte Frau Wagners Telefon. Am anderen Ende der Leitung war ihr Bruder, der ihr mitteilte, dem Ansinnen überhaupt nichts abgewinnen zu können und stattdessen ein Friedhofsgrab zu benötigen. Seine Ausführungen mündeten schließlich in den markanten Worten, die diesem Artikel seinen Titel geben. Frau Wagner war schockiert und entrüstet ob des unverhofften Anrufs. Würde ausgerechnet ihr Bruder – der sich weder um Mutters Pflege bemühte noch ein sonderlich enges Verhältnis zu ihr hatte – sie an der Realisierung dieses letzten Willens hindern? Oder hat er als Hinterbliebener das Recht, eine öffentlich zugängliche Grabstätte einzufordern? Obwohl wir es bei dieser Fallgeschichte mit einer recht spezifischen Konstellation zu tun haben, darf man davon ausgehen, dass sich das postmortale Konfliktpotenzial nicht nur hier, sondern auch in anderen Familien offenbart. Ein Mensch, der sich in Asche verwandelt hat, ist zu einem Gegenstand geworden, den man sich autonom aneignen, den man mitnehmen und transportieren, um den man aber auch ringen und streiten kann.

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Der vorliegende Band befasst sich mit den Dingen, die bleiben. In meinem Beitrag möchte ich die Kremationsasche als etwas derartig Bleibendes betrachten. Ob dieses Bleibende tatsächlich bloß ein Ding ist oder vielleicht noch mehr, lässt sich jedoch weniger leicht beantworten, als es zunächst den Anschein haben mag. Die Asche ist das materielle Relikt eines Verstorbenen, aber sie ist wohl keine Reliquie nach streng religiösem Verständnis. Zwar ist ihr „Ausgangssubstrat“ ein menschlicher Körper, um eine Reliquie handelt es sich aber schon deshalb nicht, weil die Toten, von denen dieser Text handelt, weder Heilige noch Märtyrer sind.3 Überdies ist Asche in aller Regel nicht etwas sichtbar präsent Bleibendes, sondern etwas, das im Zuge der Beisetzung verborgen wird – nicht immer an einem öffentlichen Ort. Möchte man den Begriff dennoch bemühen und bezieht man entsprechende Formen der Handhabung, ja Verehrung mit ein, dann ließe sich noch am ehesten von einer (profanen) Privatreliquie sprechen. Naturwissenschaftliche Nachweise über die Authentizität der Totenasche sind dabei von weit weniger Belang als die von Hinterbliebenen vorgenommene Zuschreibung. Mit anderen Worten: Aus Asche wird dann eine „Reliquie“ im Sinne einer wertbesetzten Materie, wenn sie von Menschen so gedeutet und behandelt wird. Nachfolgend versuche ich anhand eigener empirischer Daten zu zeigen, inwieweit Kremierungsasche darüber hinaus zur kontroversen Gegenständlichkeit und damit zum Ausgangspunkt von Aneignung, Aushandlung und Autonomie werden kann.

1.  AM ANFANG WAR DIE ASCHE All das lässt sich freilich nur verstehen, wenn man die gesellschaftlichen Voraussetzungen berücksichtigt, unter denen Aneignung, Aushandlung und Autonomie im sepulkralen Kontext möglich werden.4 Dass man um den Verbleib der Asche streiten kann – ob mit Geschwistern, wie im referierten Beispiel, oder mit Behörden, wie in vielen anderen Fällen – und dass ihre wie auch immer geartete Handhabung als Ausdruck von Selbstbestimmung gedeutet werden kann, kennzeichnet die moderne Bestattungskultur. Die in ihr zum Ausdruck kommenden Gewohnheiten, Regeln, Ansichten und Muster sind nicht von Anfang an da gewesen, son-

3 Zur katholischen Reliquienklassifizierung vgl. Laube, Stefan: Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort, Wunderkammer, Museum, Berlin 2011. 4 Vgl. Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias: Sinnbilder und Abschiedsgesten. Soziale Elemente der Bestattungskultur, Hamburg 2013.

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dern bilden das Resultat eines „So-und-nicht-anders-geworden-Seins“5. Was sich entwickelt hat, das entwickelt sich weiter, was entsteht, kann wieder vergehen – auch der Umgang mit Sterben, Tod, toten Körpern, Trauer und Bestattung unterliegt der Permanenz des Wandels. Dahinter stehen gesellschaftliche Triebkräfte wie Säkularisierung, Privatisierung, Individualisierung, Pluralisierung, aber auch Ökonomisierung und Digitalisierung.6 Einen toten Körper den Flammen des Feuers zu übergeben, ist zugegebenermaßen keine Innovation der Moderne, sondern lässt sich bereits für Prähistorie und Antike nachweisen.7 Spätestens im frühen Mittelalter wurden Leichenverbrennungen unpopulär (und unter Karl dem Großen 785 offiziell verboten), weil sie mit dem sich ausbreitenden christlichen Glauben an die fleischliche Auferstehung in Konflikt standen. Fortan fungierten sie nur mehr als Sanktionsvollzug gegen missliebige, vor allem als Hexen und Häretiker stigmatisierte Personen.8 Erst die Aufklärung und Reformation brachten erneute Veränderungen: Der Verlust von Macht und Deutungshoheit der Kirchen, Platzknappheit und damit einhergehende hygienische Probleme auf den Friedhöfen, technische Fortschritte im Laufe der industriellen Revolution sowie weitere Faktoren9 nährten die Forderung nach einer Wiedereinführung der nun technisch aufgerüsteten, d. h. nicht mehr unter freiem Himmel vollzogenen Feuerbestattung. Noch in den Jahren nach Inbetriebnahme der ersten deutschen Krematorien Ende des 19. Jhd. (in Gotha, Heidelberg und Hamburg) besetzte die Einäscherung lediglich eine Nischenposition im ohnehin wenig ausdifferenzierten Sepulkralangebot. Zwar nahm sie sukzessive der traditionellen Körpererdbestattung ihre Mo5 Weber, Max: Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 146­­–214, hier S. 170f. 6 Vgl. Meitzler, Matthias: „Der Moment ist mein“. Die Evokation von Lebendigkeit durch Bildpräsenz, in: Klie, Thomas/Sparre, Sieglinde (Hg.): Erinnerungslandschaften. Friedhöfe als kulturelles Gedächtnis, Stuttgart 2017, S. 125–144. 7 Es sei aufmerksam gemacht, dass es in der Geschichte „mehrfache Wechsel zwischen Erd- und Brandbestattung“ gegeben hat. Nicht allein religiöse Gründe waren hierfür entscheidend; so geht etwa der Traditionsabbruch der Leichenverbrennung in der Spätantike primär auf pragmatische Ursachen zurück: Brennholzmangel führte dazu, dass „die ab dem Beginn des 3. Jahrhunderts allgemein geübte Erdbestattung eine praktische Folge der veränderten Umweltsituation war“ (Sörries, Reiner: Ruhe sanft. Kulturgeschichte des Friedhofs, Kevelaer 22011, S. 36). 8 Vgl. ebd., S. 37. 9 Vgl. dazu ausführlich Uhrig, Max-Rainer: Auf den Spuren des Phönix. Zur Kulturgeschichte der Feuerbestattung, Würzburg 2017.

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nopolstellung und versprach eine platzsparende, kostengünstige und hygienische Alternative zu sein. Von einer ernstzunehmenden Konkurrenz konnte seinerzeit allerdings nicht gesprochen werden. An ihrem stetigen Bedeutungsgewinn in den darauffolgenden Dekaden bis hin zum heutigen Stellenwert lässt sich geradezu paradigmatisch aufzeigen, was sozialer Wandel in diesem Zusammenhang bedeutet. Wird heutzutage eine Feuerbestattung veranlasst, so sieht man darin wohl nur noch in betont konservativen Kreisen eine provokative Avantgarde. (Der katholische Priester, der mir gegenüber kürzlich in einem Interview betonte, keinerlei Urnenbeisetzungen zu begleiten, bildet mittlerweile eher die Ausnahme als die Regel.) Vielmehr blickt das, was früher als radikaler Traditionsbruch verstanden wurde, angesichts seiner flächendeckenden Verbreitung inzwischen selbst schon auf eine gewisse Tradition zurück.10 Die aktuellen Einäscherungszahlen sprechen jedenfalls eine deutliche Sprache.11 Dass die Leiche in der Asche ihre Fortsetzung findet, ist somit längst zu einem Charakteristikum der modernen (Bestattungs-)Kultur geworden. Doch in welchem Verhältnis steht der Tote zu seiner Asche? Nichts von ihr erinnert an den Menschen, aus dessen Körper sie entstanden ist, und es braucht viel Fantasie, um entsprechende Analogien herzustellen. Das vertraute Körperschema wird durch die Oxidationsprozesse im Kremationsofen buchstäblich pulverisiert. Gleichwohl stellt sich dieser morphologische Bruch dank der Unsichtbarmachung der Kremierungsreste als unproblematisch heraus. Üblicherweise verschwinden sie in einem intransparenten Urnengefäß, das in den meisten Fällen (etwa durch die Beisetzung unter der Erde) noch dazu selbst aus dem Blickfeld der Lebenden gerät. Der Asche wird damit das gleiche Schicksal zuteil wie einer unkremierten Leiche. Letztere kann für einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum zwischen Todesfeststellung und Bestattung zwar prinzipiell präsent sein (z. B. auf dem „Totenbett“ bzw. bei einer Aufbahrung), ihre unmittelbare visuelle, olfaktorische und haptische Erfahrbarkeit unterliegt heutzutage aber weniger denn je den Angehörigen, sondern vielmehr solchen Todesexperten wie Medizinern und Bestattern. Standen 10 Vgl. Benkel, Thorsten/Klie, Thomas/Meitzler, Matthias: Der Glanz des Lebens. Aschediamant und Erinnerungskörper, Göttingen 2019, S. 101. 11 Laut der Gütegemeinschaft Feuerbestattungsanlagen e.V. waren im Jahr 2018 im Durchschnitt 73% der Bestattungen in Deutsch­land Einäscherungen (vgl. Gütegemeinschaft Feuerbestattungsanlagen e.V.: Das Verhältnis von Sarg- und Urnenbestattungen in Deutschland in den Jahren 2014 bis 2018, in: Bestattungskultur 71 (2019), Heft 11, S. 70–71). Auch wenn die Quote je nach Region und Bundesland variiert – im mehrheitlich katholischen Süden ist sie niedriger als im protestantischen Norden, wo sie wiederum unter dem ostdeutschen Schnitt liegt –, spricht aktuell wenig für eine baldige „Renaissance“ der Körpererdbestattung.

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tote Körper in früheren Zeiten typischerweise im Zentrum familialer Fürsorge und gemeinschaftlicher Abschiedsgesten, so zeichnen die zurückliegenden Jahrzehnte ein gegenläufiges Bild – was u. a. am Popularitätsverlust des Aufbahrungsrituals erkennbar wird. Während ein unverbrannter, unverwester Leichnam detaillierte Auskünfte über die Identität des Toten zulässt (und im Rahmen klinisch-pathologischer bzw. rechtsmedizinischer Untersuchungen auch über dessen Sterbeumstände), verhält es sich nach seinem Gestaltwandel zur in jeder Hinsicht unvertrauten Asche gänzlich anders. Weder das bloße Auge noch die modernsten technischen Apparaturen helfen hier weiter. Wer weiß schon, welcher Aschepartikel von welchem Körperteil stammt – und ob es sich überhaupt um Körpermaterie und nicht etwa um ein Stück vom Verbrennungssarg handelt? Wer will das überhaupt so genau wissen? Hat man es mit Totenasche zu tun, dann ist selten die Rede vom letzten Antlitz – geschweige denn von einer letzten Berührung. Asche fasst man nicht an, sondern allenfalls die Schmuckurne, die in dieser Situation gewissermaßen als „Ersatzkörper“ fungiert. Gleichzeitig ermöglicht die Kremation alternative Anschlusshandlungen. Asche lässt sich leichter transportieren – ein Umstand, der einer hochmobilen Gesellschaft entgegenkommt, die vom Wechseln des Lebensmittelpunktes geprägt ist. Je mehr Selbstverständlichkeit der Feuerbestattung als kultureller Praxis zukommt, desto weniger selbstverständlich erscheint ihre irreversible Verortung, für die klassischerweise der Friedhof steht. Der öffentlichen Bestattungskultur entzogen, können die Toten in Form von Asche in ihren vormaligen Lebensraum „heimkehren“, ob auf den ominösen Kaminsims oder – was empirisch häufiger vorkommen dürfte – ins Wohnzimmerregal bzw. auf den Nachttisch. Hier ist die Asche im wahrsten Sinne etwas, das bleibt und eben nicht etwas, das geht. Eine derartige Wiederaneignung des unkremierten Leichnams wäre demgegenüber so unpraktisch wie befremdlich.12 Die portable Asche ist nicht auf einen bestimmten Ort festgelegt, denn Teile von ihr lassen sich beispielsweise in einem Medaillon am Körper tragen. Damit 12 Dass es sich dabei keineswegs um ein universelles Prinzip handelt und die Toten in manchen Regionen der Erde tatsächlich nicht nur eine symbolische, sondern auch eine körperliche Präsenz erhalten, demonstriert das Beispiel der Toraja, eines indonesischen Inselvolks. Gemäß einem alten Brauch werden die verstorbenen Verwandten alle drei Jahre aus ihren Gräbern hervorgeholt, gewaschen, neu eingekleidet und für ein paar Tage in den Kreis der Lebenden aufgenommen. Auf den außenstehenden Betrachter mag dieses Ritual mindestens eigenwillig, wahrscheinlich sogar verstörend wirken, weil Leichen in der westlichen Kultur eben keine legitime Sichtbarkeit und körperliche Fortpräsenz genießen (vgl. Barley, Nigel: Tanz ums Grab, München 2000, passim).

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ist das Ende aber noch lange nicht erreicht – in manchen Fällen ist die Asche sogar nur der Anfang. Seit einigen Jahren finden sich Anbieter auf dem Bestattungsmarkt, die auf die Herstellung von Edelsteinen (Rubine, Saphire, Diamanten) aus Totenasche spezialisiert sind. Nach der Kremation wird die Asche, häufig durch einen Bestatter vermittelt, zu den jeweiligen Produktionsstätten gebracht, wo dann einzelne Elemente aus ihr herausgelöst und weiteren technischen Prozeduren unterzogen werden.13 Mit der Verwandlung zum Juwel kehrt jene Visualität und Haptik zurück, die die Kremationsasche für gewöhnlich entbehrt. Ästhetik, Beständigkeit und Mobilität sind die typischen Attribute, die dem Erinnerungsartefakt sowohl vonseiten der Anbieter als auch von vielen ihrer Kunden zugeschrieben werden. Hieraus ergibt sich eine weitere Verschiebung: Während der Leichnam nicht eigentumsfähig ist, kann man den Toten in kristalliner Form besitzen, vererben, verschenken – ja sogar: verkaufen. Die bis hierhin aufgeführten Beispiele lassen nur ansatzweise erkennen, welche Karrieren die Aschereste eines menschlichen Körpers nehmen können. Die Kremation markiert den Ausgangspunkt einer stetig wachsenden Optionenvielfalt. Manches davon ist derzeit mehr Fußnote als verbreitete Praxis – aber eben doch sepulkrale Wirklichkeit: • Eine Künstlerin fertigt Gemälde an, deren Farbe sie mit Totenasche anreichert. • In einer Glasmanufaktur werden Skulpturen in unterschiedlichen Formen und Größen hergestellt – mit der delikaten Besonderheit, dass ein kleiner Teil der Kremationsasche darin eingearbeitet wird. • Asche lässt sich mittlerweile aber auch zu einer Schallplatte pressen, auf der dann wahlweise die Lieblingsmusik oder Sprachaufnahmen des Verstorbenen zu hören sind. • Noch ein wenig exotischer klingt die aus Neuseeland stammende Technik, sich mit Tinte vermengte Aschereste eintätowieren zu lassen. Was bislang nur mit Tierasche vollzogen wurde,14 ist prinzipiell auch mit der von Menschen möglich. • Für den buchstäblichen Höhepunkt an Skurrilität sorgt der niederländische Designer Mark Sturkenboom mit einem Konzept namens twenty one grams. Es handelt sich um nichts Geringeres als um einen mit Asche befüllbaren Glasdildo. Angesichts dieser höchst eigenwilligen Melange aus Erotik und Sterb-

13 Siehe hierzu ausführlich Th. Benkel/Th. Klie/M. Meitzler: Der Glanz des Lebens. 14 Vgl. Meitzler, Matthias: Animalische Avantgarde. Zeitgenössische Kundgaben von Trauer um verstorbene Heimtiere, in: Tierethik 11 (2019), Heft 1, S. 109–133, hier S. 118.

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lichkeit fühlt man sich ein wenig an den „petite mort“ erinnert, an den „kleinen Tod“, der bekanntlich in der französischen Sprache für den Orgasmus steht. • Möchte man die Asche hingegen nicht in seiner Nähe haben und sie stattdessen auf eine „letzte Reise“ schicken, so kann man eine geringe Menge in einer Kapsel mittels Rakete ins Weltall schießen lassen. • Für diejenigen, die nicht ganz so hoch hinaus möchten und sich mit einer bescheideneren Variante begnügen, gibt es die Option, die Asche mit einem Feuerwerkskörper in die Luft zu jagen. • Aus Großbritannien wird wiederum berichtet, dass eine Witwe die Kremierungsasche ihres Gatten zu 275 Munitionspatronen verarbeiten ließ, die – nach der Segnung durch den ansässigen Pfarrer – von den Jagdfreunden des Verstorbenen verschossen wurden. Wie konventionell und antiquiert muss im Vergleich dazu die Ausstreuung im Wald, im Meer, im See, im Fluss oder von einem Heißluftballon aus wirken?15 Diese Orte befinden sich ausdrücklich nicht auf dem Friedhof und das allein macht sie zu alternativen Beisetzungsstätten. Wenn in diesem Zusammenhang von Delokalisierung gesprochen wird, dann ist damit nicht zwangsläufig gemeint, dass Menschen keinerlei Interesse mehr an der Verortung der sterblichen Überreste ihrer Verstorbenen haben und dass sich Trauerorte generell auflösen. Im Schatten der vielzitierten „Friedhofsflucht“ werden neue Orte (insbesondere in der Natur) mit sepulkraler Bedeutung aufgeladen, die ursprünglich nicht dafür vorgesehen waren.16 Um Missverständnissen vorzubeugen: Die allermeisten der oben zitierten Beisetzungsformen – von der Ascheverwahrung zu Hause über das Verstreuen in der Natur bis hin zu den befremdlichsten Aneignungspraxen – sind zwar prinzipiell möglich, in Deutschland jedoch momentan verboten, weil sie der hierzulande gel15 Wer entsprechende Absichten hat, müsste auf Nachbarländer wie Frankreich, Schweiz, Niederlande oder Tschechien ausweichen. In einigen deutschen Bundesländern sind Ascheausstreuungen auf speziell dafür vorgesehenen Friedhofsrasenflächen gestattet. Ob ein solches Feld eingerichtet wird, obliegt dem jeweiligen Friedhofsträger (vgl. Diefenbach, Joachim: Aschenaus- bzw. Aschenverstreuung, in: Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel (Hg.): Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur, Bd. 3, Frankfurt a. M. 2010, S. 33–34, hier S. 34). In Bremen und Nordrhein-Westfalen bestehen – unter strengen Auflagen – zudem Möglichkeiten zur Ausstreuung der Asche außerhalb von Friedhöfen. 16 Vgl. Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias: Trauerkultur in der Moderne, in: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V. (Hg.): Raum für Trauer. Erkenntnisse und Herausforderungen, Kassel 2019, S. 8–21, hier S. 15.

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tenden Friedhofspflicht widersprechen. Immer häufiger wird Totenasche deshalb zum Streitpunkt, der zwischen Selbst- und Fremdbestimmung oszilliert.

2.  TRAUER UND AUTONOMIE In einer modernen individualisierten Gesellschaft, in der Selbstverwirklichung zum Zauberwort geworden ist, hat die Entscheidungshoheit über die wesentlichen Aspekte der persönlichen Lebensführung (z. B. die Wahl des Berufs, des Wohnorts oder des Lebenspartners, die Gestaltung der arbeitsfreien Zeit usw.) eine besondere Signifikanz erlangt.17 Autonomie ist nicht zuletzt auch eine körperliche Kategorie – Beispielkontexte sind das medizinische Eingriffsrecht, die sexuelle Selbstbestimmung oder das Geschlechterverhältnis. Und warum sollte dieser Gedanke ausgerechnet bei den „letzten Dingen“ Halt machen? Umso interessanter sind all jene Situationen, in denen Körperautonomie an ihre institutionell gesetzten Grenzen stößt, oder solche Fälle, in denen die Autonomiebestrebungen des einen in Konflikt mit den Interessen des anderen geraten. Ist der ausdrückliche Wunsch eines Verstorbenen bezüglich seiner postmortalen Körperzukunft grundsätzlich zu respektieren und umzusetzen? Welche Problemlagen mit dieser Frage verbunden sind, deutet folgende Anekdote an: Ein Pfarrer berichtet von einem ihm bekannten Verstorbenen, der zu Lebzeiten mit einem sehr speziellen Anliegen an seine Angehörigen herantrat. Dass er nach seinem Tod kremiert werden wollte, wäre wohl nicht der Rede wert, hätte der Betroffene nicht noch eine kleine Zusatzbedingung gestellt: Seine Asche möge weder auf einem Friedhof beigesetzt noch in einer Wohnung aufbewahrt noch im Garten, im Wald, im Fluss, im Meer oder sonst irgendwo verstreut werden – stattdessen solle man sie auf dem Boden ausschütten, mit einem Kehrbesen zusammenfegen und anschließend der Mülltonne überantworten. Nachdem der Mann starb, wandte sich sein Sohn, der sich mit der Umsetzung dieses Wunsches aus nachvollziehbaren Gründen schwertat, an den Pfarrer und bat ihn um Rat. So drastisch und außergewöhnlich sich das Beispiel anhören mag, so zeigt es doch, dass der materielle Körperrest und dessen postmortale Relevanz einer größer werdenden Deutungspluralität unterliegen. In diesem konkreten Fall riet der Pfarrer von der Umsetzung des väterlichen Wunsches mit der Begründung ab, dass dem Befinden der Hinterbliebenen Priorität einzuräumen sei. Ganz unabhängig davon stellt sich die bereits erwähnte rechtliche Problematik der Friedhofspflicht, die sowohl Körpererdbestattungen als auch die Beisetzung 17 Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986.

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von Kremationsasche betrifft. Legale Ausnahmen wie die Seebestattung, Beisetzungen an den Bäumen speziell gekennzeichneter Waldgebiete, Kirchenkolumbarien oder gar die jüngsten Entwicklungen im Bundesland Bremen18 ändern nichts daran, dass Deutschland im europäischen Vergleich diesbezüglich nach wie vor zu den Ländern mit den strengsten Regularien gehört. Das Spannungsverhältnis zwischen Autonomiebestreben auf der einen Seite und den juristischen Einschränkungen auf der anderen bildet den Ausgangspunkt für ein empirisches Forschungsprojekt zur Autonomie der Trauer, das ich in Zusammenarbeit mit Thorsten Benkel und Dirk Preuß durchgeführt habe.19 Anhand von Leitfadeninterviews sollte ermittelt werden, welche Vorstellungen von Selbstbestimmung Menschen im Umgang mit Trauer hegen und welche konkreten Erfahrungen sie damit gemacht haben. Wie stark ist Trauern zu einer Angelegenheit geworden, die individualistisch gedacht und betrieben wird? Zunächst interessierte sich die Studie ganz allgemein für Trauererfahrungen von Menschen. Im Fokus des Erkenntnisinteresses standen aber insbesondere jene Personen, die sich über die bestehende Friedhofspflicht in Deutschland hinweggesetzt, d. h. für einen alternativen Umgang mit der Asche ihres Verstorbenen gesorgt haben (Aufbewahrung in der Wohnung oder in einem Schmuckanhänger, Ausstreuung in der Natur usw.). Derartige Vorgehensweisen sind, wie gesagt, in Deutschland formal verboten, werden aber – auf Umwegen über das angrenzende Ausland – faktisch vollzogen.20 Da der betreffende Personenkreis und seine Handlungslogiken erstmals wissenschaftliche Aufmerksamkeit erlangen, kann unser Forschungsvorhaben als Pionierstudie verstanden werden.

18 Dort kann seit 2015 Kremationsasche auch auf Privatgrundstücken beigesetzt werden – sofern diverse Voraussetzungen erfüllt sind: Die betroffene Person muss ihren letzten Wohnsitz im Bundesland Bremen haben und über die Beisetzung außerhalb des Friedhofs muss schriftlich verfügt werden. Ferner muss sich der Beisetzungsort in privatem Eigentum befinden, der Grundstückseigentümer seine Zustimmung erklärt haben und benachbarte Grundstücke dürfen durch die Beisetzung nicht beeinträchtigt werden (Gesetz über das Friedhofs- und Bestattungswesen in der Freien Hansestadt Bremen, § 4, Abs. 1a). 19 Vgl. Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias/Preuß, Dirk: Autonomie der Trauer. Zur Ambivalenz des sozialen Wandels, Baden-Baden 2019. 20 In diesem Fall wird die Einäscherung im Ausland (z. B. Schweiz, Niederlande, Tschechien) vorgenommen bzw. die Urne von einem ausländischen Beerdigungsinstitut angefordert. Fortan unterliegt die Asche nicht mehr den deutschen Bestattungsgesetzen. Unter Einhaltung einer bestimmten Frist gelangt die Urne schließlich über den Postweg zurück nach Deutschland oder wird vor Ort von den Angehörigen abgeholt.

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Der Umstand, dass es sich bei den Zielpersonen um eine sogenannte spezielle Population handelt,21 die ihrem Charakter nach schwer zugänglich ist und nur wenige gesicherte Erkenntnisse bereit hält, machte die Suche nach geeigneten Interviewpartnern zu einem herausforderungsvollen Unterfangen. Schon bei der Akquise jener Akteure, die regelkonforme Bestattungswege gegangen waren, war ein forschungsmethodisches Fingerspitzengefühl gefragt22 – umso mehr aber galt das für diejenigen, die davon bewusst abgewichen waren. Allein aufgrund potenzieller juristischer Sanktionsbedrohungen erscheint es gerechtfertigt, ihnen ein erhöhtes Interesse daran zu unterstellen, dass ihre Geschichte im Verborgenen bleibt. Mit Bedacht auf diese und andere Unwägbarkeiten entschieden wir uns für eine Kontaktaufnahme auf indirektem Weg. Dabei konnten wir auf ein Netzwerk aus Bestattern zurückgreifen, das sich im Zuge vorangegangener Forschungstätigkeiten gebildet hatte. Einige von ihnen berichteten uns in der Vergangenheit von Kunden, die sie bei der Umsetzung entsprechender Wünsche unterstützt hatten. Da unsere Bitte um Kontaktvermittlung glücklicherweise auf positive Resonanz stieß, ließen wir den Bestattern ein von uns verfasstes Anschreiben mitsamt vorfrankiertem Briefumschlag zur Weiterleitung an die jeweiligen Zielpersonen zukommen. Letzteren stand es völlig frei, ob und in welcher Form ihre Rückmeldung und die spätere Befragung erfolgen sollten. Fast alle Interviews fanden fernmündlich statt, in zwei Fällen wurde der schriftliche Weg präferiert. Die telefonisch geführten Befragungen orientierten sich an einem Interviewleitfaden, der jedoch nur den groben Rahmen vorgab, über alles Weitere (etwa die Dauer des Gespräches oder die inhaltlichen Schwerpunkte) konnten die Teilnehmenden frei entscheiden. Dies erschien uns als vertrauensbildende Maßnahme angesichts der Sensibilität des Forschungsgegenstandes wichtig. Ferner sollte die Gewährung von Diskretion und Anonymität der etwaigen Befürchtung entgegenwirken, aufgrund bestimmter Aussagen in Misskredit geraten oder gar rechtlich belangt werden zu können. 21 Vgl. Schütte, Miriam/Schmies, Tobias: Befragung von speziellen Populationen, in: Baur, Nina/Blasius, Jörg (Hg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Wiesbaden 2014, S. 799–809. 22 Während die explizite Thematisierung von Trauererlebnissen üblicherweise dem engen sozialen Umfeld vorbehalten ist, sind andere, davon abweichende Besprechungskontexte eher untypisch – einmal abgesehen von Seelsorge, Psychotherapie oder Trauerbegleitung. Vor diesem Hintergrund drängte sich zunächst die Vermutung auf, dass wir während unserer Suche nach auskunftswilligen Interviewpartnern aus verschiedenen Gründen (Intimität der Thematik, Konfrontation mit schmerzhaften Erinnerungen, Möglichkeit des emotionalen Kontrollverlustes usw.), auf vielfache Zurückweisung stoßen würden (vgl. Th. Benkel/M. Meitzler/D. Preuß: Autonomie der Trauer, 94f.).

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Auf diese Weise gelang es, im Erhebungszeitraum von Januar 2015 bis Dezember 2018 insgesamt 126 qualitative Interviews zu realisieren (darunter befanden sich circa 30 Gespräche mit Personen, die sich die Asche ihres Verstorbenen aushändigen ließen). Wäre dafür der Platz gegeben, so könnte ich an dieser Stelle noch weiterführende methodologische Reflexionen anstellen: Aus welchen Gründen erklären Menschen sich dazu bereit, mit einem Sozialforscher, den sie nicht kennen, dem sie aber eine wissenschaftliche (und publizistische) Verwertungslogik zuschreiben, über derart intime Dinge zu sprechen? In welchem Verhältnis stehen die altruistische Hingabe „zum Besten der Wissenschaft“ und die Verwirklichung von Eigeninteressen? Welche Besonderheiten bringt die Interviewführung mit sich, wenn Sterben, Tod und Trauer die dominierenden Themen sind? Wie ist beispielsweise mit Tränen des Gesprächspartners umzugehen – und welche Rolle spielen Subjektivität und Affekte des Forschers?23 Um die spätere Transkription und inhaltsanalytische Auswertung zu ermöglichen, wurden die Gespräche (unter ausdrücklicher Einverständniserklärung der Teilnehmenden) aufgezeichnet. Dem Schwerpunkt dieses Artikels gemäß konzentriert sich die nachfolgende Ergebnisdarstellung auf die Interviews mit jenen Personen, die sich die Urne aushändigen ließen und somit gegenwärtige Bestattungsgesetze übertreten haben.

3.  ERGEBNISSE DES FORSCHUNGSPROJEKTS Die Beziehungskonstellation, die in unserem Datensample am häufigsten vorkommt, betrifft den Umgang einer Witwe mit der Kremierungsasche ihres verstorbenen Ehemanns. Schon mit Blick auf die demografische Wirklichkeit mag dies nicht weiter überraschen – aufgrund der geschlechtsspezifischen Mortalität und dem häufig höheren Lebensalter des Mannes innerhalb der Paarbeziehung gibt es hierzulande derzeit etwa viermal so viele Witwen wie Witwer.24 Auch der umgekehrte Fall, in dem ein Witwer von der Asche seiner Frau erzählt, ist im Interviewmaterial enthalten, wenn auch deutlich seltener. Ferner haben wir mit Personen gesprochen, die sich die Asche eines Elternteils aushändigen ließen. Die empirisch noch seltenere Situation, bei der Eltern ein Kind verloren haben, taucht

23 Zu diesen und anderen Aspekten der Interviewdynamik siehe meinen Beitrag in Th. Benkel/M. Meitzler/D. Preuß: Autonomie der Trauer. 24 Vgl. Stegmann, Michael/Bieber, Ulrich: Alters- und Renteneinkommen von Witwen und Witwern in Deutschland. Ein Überblick über die Leistungen der GRV und empirische Ergebnisse, in: Deutsche Rentenversicherung (2012), Heft 1, S. 45–68, hier S. 47.

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hingegen ausschließlich unter jenen Interviewpartnern auf, die sich für eine regelkonforme Variante entschieden haben. Ein Hauptanliegen der Studie besteht in der Erkundung all jener Motive, Erwartungen und Versprechungen, die die Befragten zur autonomen Aneignung der Kremationsasche geführt haben. Die Interviewführung und spätere Fallrekonstruktion wurde daher u. a. von folgenden Fragestellungen angeleitet: Durch welche Faktoren ist die Entscheidungsfindung beeinflusst bzw. überhaupt erst ausgelöst worden? Welche Wissensquellen wurden konsultiert, auf wessen Meinung wurde Wert gelegt, wessen Wortmeldung wurde möglicherweise übergangen? Auf wen ging der Wunsch nach dieser unkonventionellen Lösung ursprünglich zurück? Waren es die Verstorbenen selbst, die sich zu Lebzeiten dazu geäußert haben – oder haben ihre Angehörigen gewissermaßen in Stellvertretung entschieden und gehandelt? Unser Material liefert bezüglich dieser wie auch vieler weiterer Fragen kein einheitliches Bild. Das spricht nicht gegen die Qualität der Daten, sondern unterstreicht vielmehr die Ambivalenz des sozialen Wandels und die Pluralität des zeitgenössischen Umgangs mit dem Lebensende. Als wichtigster Zugangsweg der Befragten hat sich die selbstständige Onlinerecherche nach alternativen Bestattungsformen herausgestellt. Einmal mehr wird hieran der Stellenwert erkennbar, den das Internet mittlerweile nicht nur als mobiler Raum für Trauer,25 sondern auch als Wissensspeicher in sämtlichen sepulkralen Angelegenheiten hat. Die Suche nach offiziellen und weniger offiziellen Wegen hat das klassische Informationsgespräch mit dem Bestatter zwar nicht obsolet werden lassen, sie geht ihm in vielen Fällen jedoch voraus und prägt den weiteren Kommunikationsverlauf. Manchmal ist es aber auch der Bestatter selbst gewesen, von dem die Befragten erstmals etwas über die Möglichkeit der autonomen Ascheaneignung erfahren haben und der ihnen Ratschlage bezüglich des weiteren Verfahrens gegeben hat. Keiner der Interviewpartner wusste hingegen davon zu berichten, dass entsprechende Umgangsweisen zuvor schon einmal im eigenen Familien- oder Bekanntenkreis vollzogen wurden; alle bisherigen Beisetzungen erfolgten auf konventionellen Wegen. Das bekräftigt den „Pioniergeist“ der Betroffenen und zeigt zugleich, dass wir es mit einer recht neuen, bisher noch wenig verbreiteten Facette der Bestattungskultur in Deutschland zu tun haben.

25 Vgl. Offerhaus, Anke: Klicken gegen das Vergessen. Die Mediatisierung von Trauerund Erinnerungskultur am Beispiel von Online-Friedhöfen, in: Klie, Thomas/Nord, Ilona (Hg.): Tod und Trauer im Netz. Mediale Kommunikationen in der Bestattungskultur, Stuttgart 2016, S. 37–62; Stöttner, Carina: Digitales Jenseits? Virtuelle Identität im postmortalen Stadium, in: Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias: Zwischen Leben und Tod. Sozialwissenschaftliche Grenzgänge, Wiesbaden 2018, S. 185–209.

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Unterschiede ergeben sich wiederum hinsichtlich der Frage nach dem Urheber des Beisetzungswunsches. Einige der Verstorbenen haben ihre Vorstellungen vor ihrem Lebensende bekundet (so wie Frau Wagners Mutter), oftmals hat sich ihre Haltung auch erst im einvernehmlichen Austauschs mit den Angehörigen herauskristallisiert. Unter den Studienteilnehmern finden sich aber auch Personen, die davon losgelöst agieren mussten, weil sich der Verstorbene in ihrer Gegenwart nie zu seinen Absichten geäußert hat. In solchen Fällen konnte man also nur mutmaßen: Was hätte ihm gefallen? Wäre dieses oder jenes in seinem Sinne gewesen, wenn er von der Möglichkeit gewusst hätte? Oder wollte er bewusst nie darüber sprechen, weil solche Fragen ausschließlich seine Hinterbliebenen etwas angehen – die diesen Tod nicht sterben, aber mit ihm leben müssen? „Und so in der ersten Situation war das innerhalb von Sekunden klar, dass das eine richtige Entscheidung war und dann erst eigentlich Monate später dachte ich so, ja, wenn die Mama das so gewusst hätte von vornherein, wäre sie vielleicht nicht mit einverstanden gewesen. Aber jetzt wiederum hab’ ich ein ganz tiefes Gefühl, das ist das Richtige.“ (B2, 7:00)26

Nachdem der Interviewpartner zunächst von der Berechtigung seines Handelns überzeugt ist, wird erst mit zeitlicher Verzögerung auch die Perspektive der Mutter miteinbezogen und deren mögliche Haltung zu diesem Sachverhalt imaginiert. Vielleicht wäre „die Mama […] nicht mit einverstanden gewesen“? Das tatsächliche Urteil wird sich allerdings nie evaluieren lassen, sondern unterliegt allein der postmortalen Zuschreibung vonseiten der Weiterlebenden – man kann es eben nicht genau wissen, sondern allenfalls empfinden. Nicht zuletzt in psychologischer Hinsicht lässt sich leicht nachvollziehen, dass die befragte Person am Ende zu dem versöhnlichen Ergebnis kommt, „das Richtige“ getan zu haben. Ein wesentliches Problem aller Betroffenen besteht darin, dass sich dieser spezielle Beisetzungswunsch – gleich, auf wen er originär zurückgeht – nur innerhalb einer juristischen Grauzone umsetzen lässt, die von einigen auch moralischen Unsicherheiten geprägt ist. Das betrifft vor allem die möglichen Konsequenzen. Was passiert, wenn die Geschichte bei der falschen Person landet? Wird man sich für sein Handeln später einmal rechtfertigen müssen – und falls ja: wem gegenüber? Offenkundig haben sich die Betroffenen trotz allem nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen – doch nicht immer verlief dies gänzlich ohne Beigeschmack. „… denn im Grunde genommen hab’ ich mich ja … ungesetzlich verhalten. Ich sag’ mal, insofern mich ungesetzlich verhalten, dass ich tatsächlich, ähm, ’ne Urne in Deutschland ein26 Die Angaben hinter jedem Interviewzitat beziehen sich auf eine projektinterne Codierung.

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geführt habe, ohne einen, ja, Bestattungsplatz nachweisen zu können. Das war schon auch ein bisschen unangenehm für mich, obwohl für mich im Vordergrund stand, den Wunsch meines Mannes zu erfüllen.“ (B5, 7:24)

Die zitierte Person ist sich dem Regelbruch ihrer Handlung bewusst. Dass die Angelegenheit als „ein bisschen unangenehm“ empfunden wird, muss als Kollateralschaden hingenommen werden, um das höherwertige Ziel, „den Wunsch meines Mannes zu erfüllen“, nicht zu gefährden. Dennoch sehen sich die Befragten nicht als Täter, sondern vielmehr als Opfer einer repressiven Ordnungspolitik, die ihnen den nötigen Gestaltungsspielraum bei der Durchsetzung persönlicher Sepulkralinteressen verwehrt und sie schlechthin zur Illegalität zwingt. Tatsächlich hat keiner von ihnen ein langes Vorstrafenregister vorzuweisen oder ist bis dato in irgendeiner Weise kriminell aufgefallen. Allein die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, die unterschiedlichen Ansprüche – den persönlichen Wunsch auf der einen Seite, die deutschen Bestattungsvorschriften auf der anderen – miteinander zu versöhnen, wird als Belastung empfunden. Etwas weniger skrupelhaft klingt hingegen folgende Reaktion auf die Frage, ob die rechtliche Situation Sorgen bereitete: „Nee … also mir nicht, weil ich gern Untiefen auslote [lacht]. […] Aber darum ging’s nicht, weil meine Mutter wollte das und ich wusste, ich find ’nen Weg. Weil ich schade niemandem, ich mach’ nichts, was der Gesellschaft schadet.“ (B8, 27:20)

Dem Gesprächspartner gelingt es offenbar, die juristische Dimension vollends auszublenden, weil sie zum einen vom Versprechen an die Mutter überstrahlt wird und zum anderen niemand – weder eine konkrete Person noch die „Gesellschaft“ – Schaden davonträgt. Ob dies, unabhängig von der subjektiven Position des Befragten, tatsächlich so ist, wäre zu diskutieren.27 Ein weiterer Aspekt der Studie tangiert die Überlegung, ob und inwiefern die getroffene Entscheidung im sozialen Umfeld kommuniziert wird und welche Probleme bzw. Spannungen damit einhergehen. Diesbezüglich weisen einige Interviewpartner darauf hin, dass es keine weiteren Personen (mehr) im engeren Verwandten- oder Bekanntenkreis gibt, deren etwaige Ansprüche man bei der Entscheidungsfindung hätte mitberücksichtigen müssen. Andere weihten ihr Umfeld in das Vorhaben ein, ohne dabei auf größere Irritationen oder Widerstände zu stoßen – sei es, weil die Adressaten ohnehin keine größere Affinität zu einer festen Grabstelle auf dem Friedhof besitzen, weil sie der Entscheidung indifferent gegen27 Vertreter von Friedhofsverwaltungen wenden gerne ein, dass mit der privaten Ascheaneignung tatsächlich all jenen Grabbesitzern geschadet würde, die die hierdurch entstandenen Opportunitätskosten mit erhöhten Gebühren auszugleichen haben.

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überstehen oder weil die Initialabsicht auf den Verstorbenen selbst zurückgeht und sich niemand vor ihr versperren möchte. Hin und wieder kommt aber auch Bedauern zur Sprache: „Also, ne Schulfreundin von meiner Mutter, die hat schon mal gesagt: So schade! Wenn man ein Grab hätte, könnte man mal hingehen.“ (B2, 23:00)

Bei der Umsetzung solch eines alternativen Beisetzungswunsches lassen sich nicht in jedem Fall alle Interessen sämtlicher Mittrauernder antizipieren, geschweige denn berücksichtigen. Wie groß das Konfliktpotenzial ausfällt, hängt schließlich von der konkreten Angehörigenkonstellation ab; die Bandbreite reicht vom harmonischen Gleichklang bis zu tiefgehenden Familienstreitigkeiten, die mit der Bestattungsfrage losgetreten oder neu entfacht werden können. Um Letzteres gezielt zu vermeiden, hat es sich für manche der Befragten als geeignete Strategie herausgestellt, nur ganz bestimmte Personen aus dem sozialen Umfeld vollumfänglich über den tatsächlichen Stand der Dinge in Kenntnis zu setzen, während anderen nur die halbe Wahrheit zugemutet wird. Eine Gesprächspartnerin berichtete von ihrem verstorbenen Vater nordafrikanischer Herkunft, der zu Lebzeiten erklärte, dass seine Asche nicht auf einem deutschen Friedhof begraben, sondern im Mittelmeer nahe seines früheren Heimatortes verstreut werden solle. Allerdings dürfe seine nach wie vor in Afrika lebende Familie von all dem nichts erfahren. Wie würde nun die Tochter – nachdem ihr die Asche übergeben wurde, sie mit der Urne unter dem Arm zuerst ein Flugzeug, dann ein eigens gemietetes Boot betrat, auf das Meer herausfuhr, um die Asche dort auszustreuen – reagieren, wenn sie von Angehörigen jenes Familienteils auf den Beisetzungsort ihres Vaters angesprochen wird? Ihre Antwort: „Die haben nicht konkret gefragt und ich […] hab’s auch von mir aus einfach nicht konkret erzählt. Ich vermute, dass sie denken, dass er irgendwo in Deutschland beerdigt wurde. […] Ich war sehr dankbar, dass es keine konkrete Frage gab … ähm, ansonsten hätte ich … irgendwie versucht, den … wir haben hier am Krematorium, wo er kremiert wurde, gibt’s direkt daneben so ’nen Friedwald. Wenn sie ’nen Ort gebraucht hätten, hab’ ich mir halt überlegt, dass ich ihnen einfach diesen Ort nenne.“ (M8, 28:45)

Die notgedrungene Nennung eines alternativen Ortes fernab der eigentlichen Beisetzungsstelle pariert bohrende Nachfragen und stellt gleichzeitig eine mögliche Anlaufstelle für Trauerbezugnahmen in Aussicht. Ein besonders dominantes Motiv, das in den Äußerungen vieler Interviewpartner immer wieder zum Vorschein kommt, ist die Bedeutung von Nähe und Präsenz. Damit hängt zusammen, dass die Kremierungsasche häufig nicht ledig-

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lich als Materie wahrgenommen wird, sondern der Verstorbene durch sie noch da sei und auf diese Weise eine tröstende, beruhigende und mithin beschützende Wirkung ausübe. „Ich habe einen Ascheanhänger, ’nen sehr provokanten, wo man die Asche auch direkt sehen kann, ja? Und meine Mutti ist auf jeder Reise dabei, wo ich auch hingehe, ist meine Mutti. Sobald ich im Auto sitze und rausgehe, ist meine Mutti immer bei mir, ja? Und bei meiner Tochter, die fährt ’nen Vierzigtonner, Tanklastzug, ist die Oma auch immer dabei.“ (M98, 9:30)

Ob im Medaillon am Körper oder in der Urne zu Hause: Über seine Asche bleibt der eigentlich abwesende Verstorbene nicht nur materiell gegenwärtig und berührbar, sondern auch kommunikativ adressierbar. Diejenigen unter den Befragten, die sich für entsprechende Aufbewahrungsorte entschieden haben, sehen darin oft weit mehr als ein Schmuckstück oder einen bloßen Einrichtungsgegenstand, sondern nehmen das oben angesprochene Reliquienpotenzial von Totenasche durchaus wahr. Sie ist nicht etwas, sondern sie ist jemand. Dass sie dem Verstorbenen in keinerlei Hinsicht ähnelt, ändert augenscheinlich nichts an ihrer Personalisierung und dem Umstand, dass sie aus Hinterbliebenensicht diesen Menschen nicht nur repräsentiert, sondern in gewisser Weise dieser Mensch auch ist. Und so erscheint es nur folgerichtig, dass auch die „Mutti“ immer mit dabei ist, solange ihre Asche im Anhänger getragen wird. Umgekehrt würde die Trennung von der Asche einen (erneuten) Verlust der mit ihr assoziierten Person bedeuten. Doch nicht für alle Interviewpartner ist die physische Nähe des kremierten Körperrestes ein Generator sozialer Präsenz und Fortexistenz. Gerade unter denjenigen, die die Asche an einem bestimmten, mitunter fernen Ort ausgestreut haben, löste die zuvor kurzzeitig daheim zwischengelagerte Urne weniger Trost als Beklommenheit und Irritation aus. „Also, dieses Gefühl, einen Mann von 1,84 Meter, total durchtrainiert, in dieser Urne zu sehen, das war ganz schlimm. […] Mein Drang, diese Urne loszuwerden, war ziemlich groß.“ (B5, 12:50)

Anders als im vorherigen Beispiel wird der geliebte Mensch in der Kremierungsasche weder gefunden noch gesucht. Weil ihr temporäres Vorhandensein mehr das Fehlen des Toten als dessen Gegenwart anzeigt, ist die schmerzliche Trennung auch nicht auf diese symbolische Weise überbrückbar. Stattdessen führt die radikale Aufhebung der vertrauten Körperproportionen – aus 80 werden drei Kilogramm, aus einem menschlichen Leib mit Kopf, Rumpf und Gliedmaßen eine schwer definierbare Staubmasse – zur Dissoziation von Mensch und Materie, die

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sich durch entsprechende Projektionsleistungen nicht einfach aufheben lässt. Weder ist die Asche der Verstorbene, noch repräsentiert sie ihn. (Vielleicht ist es deshalb auch mehr als nur eine semantische Beliebigkeit, wenn Frau Wagners Bruder nach „Mutters Asche“ verlangt – und nicht schlichtweg nach: Mutter?) Die Fallgeschichten, die sich aus den Interviewdaten herauspräparieren lassen, legen nahe, dass der von außen zugeschriebene Personalisierungsgrad maßgeblich über den weiteren (kommunikativen) Umgang mit der Asche entscheidet. Ihr Status ist alles andere als einheitlich. Und selbst für diejenigen, die sie gezielt verstreuen und die räumliche Trennung von ihr mehr als Entlastung denn als Verlust empfinden, liegt hier offenbar nicht bloß reine Materialität vor. Denn hätte sie tatsächlich den gleichen Dingcharakter wie ein Stuhl oder ein Tisch, würde ihre zwischenzeitliche Präsenz in der privaten Wohnumgebung wohl weniger Unbehagen auslösen und es müsste erst gar nicht der Vergleich zwischen einem 1,84 Meter großen Mann und der von ihm übrig gebliebenen Asche angestellt werden. Die Bedeutung von Nähe und Distanz kommt auch bei der Auseinandersetzung mit der konventionellen Bestattungskultur und dem Friedhof als klassischem Beisetzungsort zum Tragen. „Was soll sie denn dort [auf dem Friedhof], wenn wir alle hier sind? Es ist so, wie man ja auch ’nen Familienangehörigen nicht einfach in ’nem Hotel 200 Kilometer weit weg unterbringt, auch wenn das ’n tolles Hotel ist, ja? Wenn ich sie jetzt einfach irgendwo auf den Friedhof lege, der weit weg ist, dann ist sie da so alleine [lacht].“ (B2, 37:00)

Der meist nicht in unmittelbarer Reichweite gelegene Friedhof bringt den hier zitierten Hinterbliebenen nicht nur auf räumliche, sondern auch auf soziale Distanz zum Verstorbenen. Haben Friedhöfe seit jeher die pragmatische Funktion der Körperaufbewahrung, wird gerade dieser Umstand zum Ausgangspunkt von Unzufriedenheit. Übernimmt man die oben vorgeschlagene Deutung, wonach einige Angehörige in der Kremationsasche nicht nur einen Dingcharakter, sondern auch die Persönlichkeit ihrer Verstorbenen erkennen wollen, so liegt es durchaus nahe, dass eine Beisetzung auf dem Friedhof als weitere schmerzliche Trennung erlebt wird. Der gelegentlich als „Wohnort der Toten“28 apostrophierte Friedhof wird in diesem O-Ton mit einem Hotel verglichen – auch dort kann man schließlich zeitweise „wohnen“. Doch selbst wenn solche Stätten schön gestaltet sind, handelt es sich nicht um ideale Unterbringungsorte für einen geliebten Menschen, sofern sie weit entfernt liegen und nicht nur man selbst, sondern auch der andere hierdurch „alleine“ ist. 28 Schmied, Gerhard: Friedhofsgespräche. Untersuchungen zum „Wohnort der Toten“, Opladen 2002.

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Dass unsere Teilnehmenden überwiegend kritisch gegenüber der traditionellen Bestattungs- und Friedhofskultur eingestellt sind, verwundert angesichts ihres zurückliegenden Handelns wenig. Die angeführten Gründe sind vielfältig: Neben dem Problem der räumlichen Distanz zum eigenen Lebensmittelpunkt werden u. a. die atmosphärischen Verhältnisse beklagt; häufig sind solche Adjektive wie „düster“, „gruselig“, „uniform“, „trist“ und „unpersönlich“ zu hören. Weitere Äußerungen beziehen sich auf finanzielle Belastungen durch hohe Nutzungsgebühren sowie auf Vorschriften in Form von Öffnungszeiten, Liegefristen oder Auflagen bei der Grabgestaltung. Anhand einer vielsagenden Analogie werden diese und andere Formalitäten im folgenden Zitat mit den persönlichen Bedürfnissen, die offenbar ganz anderen Prämissen folgen, kontrastiert: „Die klassischen Friedhöfe, […] wo man irgendwie so die Grabpflege betreibt, so wie du samstags in kleinen Orten bis um zehn Uhr tunlichst die Straße gefegt hast, das find’ ich grauenhaft und beengend und das hat nix … das hat was für mich mit Bedienen von Formalien, aber nichts mit Bedienen von eigenen Bedürfnissen zu tun.“ (M4, 69:16)

Unter den genannten Kritikpunkten befindet sich ferner der Druck auferlegter Verhaltenskonventionen durch die wahrgenommene soziale Kontrolle vonseiten anderer Friedhofsbesucher. Nicht zuletzt deshalb steht die Handhabung der Grabstätte für viele der Befragten mehr im Zeichen der Pflichterfüllung als im Dienste der selbstbestimmten Trauerbewältigung. Letztere könne, wie einige Interviewpartner bemerken, auch deshalb nicht ausgelebt werden, weil man sich auf dem Friedhof – anders als im privaten Raum – zu sehr beobachtet fühlt. Trauer wird als intimes Moment erlebt, das in der Öffentlichkeit keinen angemessenen Platz findet. Obwohl sich der hier vorgestellte Personenkreis für friedhofsferne Lösungen entschieden hat und dies oftmals aus einer tiefgreifenden Unzufriedenheit mit den derzeitigen bestattungskulturellen Möglichkeiten in Deutschland resultiert, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass der Friedhof als gesellschaftliche Einrichtung per se abgelehnt wird. Die Befragten als „Friedhofsfeinde“ zu bezeichnen, wäre nicht nur übertrieben, sondern würde dem Sachverhalt zudem nur unzureichend gerecht werden. Auch in diesem Zusammenhang überwiegt die Ambivalenz gegenüber der Eindeutigkeit. Einige der Interviewten wollten mit ihrem Handeln keineswegs ein persönliches Statement zur traditionellen Sepulkralkultur abgeben. Im Vordergrund stand vielmehr die stellvertretende Erfüllung des Wunsches einer geliebten Person. Nicht in jedem Fall korrespondieren Anliegen und Haltung des Verstorbenen mit den Ansichten seines Hinterbliebenen. Angesprochen auf die eigenen Bestattungswünsche räumt mancher ein, mit dem Friedhof prinzipiell kein Problem zu

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haben – sofern er „schön“ ist und im Einklang mit den Wünschen der Angehörigen steht. Und selbst diejenigen, die eine dortige Ruhestätte für sich selbst kategorisch ausschließen, geben zu bedenken, dass Friedhöfe für andere Menschen durchaus adäquate Beisetzungs- und Trauerorte sein können. Auffallend häufig wird darüber hinaus betont, dass Friedhof nicht gleich Friedhof sei und es tatsächlich sehr einladende und ansehnliche (insbesondere Park‑)Friedhöfe gebe, die man zwar nicht als Trauerstätten nutze, wohl aber als Orte des Rückzugs und der Erholung.

4.  SCHLUSSFOLGERUNGEN UND AUSBLICK Obschon diese Studie, ihre Ergebnisse und die davon berührte Problematik noch einige weitere Dimensionen aufweisen, sollten mithilfe des hier vorgestellten Materials nicht nur die Umbrüche in der Gesellschaft und der ihr inhärenten Mentalitäten evident geworden sein, sondern auch das konfliktträchtige Spannungsverhältnis zwischen einem autonomen Umgang mit Trauer und ihrer bürokratischen Verwaltung. Bei allen Unterschieden, die sich beim Vergleich der einzelnen Fälle konstatieren lassen, ist den Befragten die Unzufriedenheit mit den derzeitigen Bestimmungen gemeinsam. Ein juristisches Instrumentarium, wie es in Form der als repressiv eingestuften (Länder-)Bestattungsgesetze und Friedhofsverordnungen zum Ausdruck kommt, repräsentiert eine kollektivistische Trauerverwaltung, die den Eigenwert individueller Konstellationen, Haltungen, Bedürfnisse und Interessen unterläuft – ganz so, als gehe der Tod eines Menschen dessen Hinterbliebene nichts an. Die Personen, die in unserer Forschungsarbeit zu Wort gekommen sind, bilden freilich nicht die große Gesamtheit aller Bestattungskunden ab – vielmehr haben wir es mit einer überschaubaren, aber quantitativ zunehmenden Avantgarde zu tun. Nicht unterschlagen werden sollen diejenigen, die mit dem konventionellen Sepulkralangebot zufrieden sind und die bestehenden Gesetze nicht als Hindernisse, sondern als notwendige Ordnungsgaranten erleben.29 Doch gerade in den letzten circa 20 bis 30 Jahren sind vermehrt Versuche zu beobachten, sich mittels individualisierter Selbstaneignungsstrategien von kollektivistisch geprägten Konzepten zu emanzipieren. Die Gewichtung dürfte sich künftig noch stärker in 29 Dass diese Gruppe in der vorliegenden Studie unterrepräsentiert ist, überrascht nicht: Das Interesse, seine Ansichten und Absichten im Rahmen einer wissenschaftlichen Erhebung kund zu tun, fällt üblicherweise bei denjenigen höher aus, die mit einem bestimmten Status quo (hier: mit deutschen Bestattungsgesetzen und Friedhofsverordnungen) unzufrieden sind, als bei denen, die diesbezüglich keinen Interventionsbedarf sehen.

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Richtung Pluralität verschieben und zur weiteren Auslotung juristische Grauzonen führen. Das macht den Friedhof nicht automatisch zu einer bedrohten Gattung, die um ihre gesellschaftliche Daseinsberechtigung bangen muss. Dass selbst eine Aufhebung der Friedhofspflicht keine apokalyptischen Zustände bewirkt, zeigt schon der Blick in das europäische Ausland, wo trotz der Möglichkeit einer privaten Ascheverbringung aktuell kein Zusammenbruch der hiesigen Friedhofskultur zu verzeichnen ist. Die Institution Friedhof erfährt hierdurch also keine Abwertung, sondern erzielt sogar symbolische Gewinne, indem sie dort nicht Gegenstand einer auferlegten Verpflichtung, sondern einer selbstbestimmten Entscheidung ist. Wie sich die Friedhofsflucht in den nächsten Jahren entwickeln wird, hängt zum einen davon ab, wie die Friedhöfe der Zukunft aufgestellt sind, und zum anderen von der Flexibilität künftiger juristischer Rahmungen. Angesprochen sind also nicht lediglich die kommunalen und kirchlichen Verwaltungen, sondern insbesondere die politischen Entscheidungsträger. Zuletzt hat es in einzelnen Bundesländern Versuche gegeben, die Bestattungsgesetze zu liberalisieren – angesichts der jüngsten Entscheidungen in Niedersachsen, Hessen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt lässt sich allerdings konstatieren: mit mäßigem Erfolg. Einer der Gründe liegt in der eher geringen Priorität der Trauer- und Bestattungsthematik auf der politischen Agenda, deren Vertreter in dieser Angelegenheit bis dato nicht durch ein ausgeprägtes Sensorium für den sozialen Wandel und die nachweisbare Diskrepanz zwischen persönlichen Wünschen und juristischer Wirklichkeit aufgefallen sind.30 Während weitere Liberalisierungen die Situation jener Hinterbliebener, die es anders wollen, erleichtern würden, ginge eine solche Reduktion von Komplexität zugleich mit einer Erhöhung von Komplexität einher. Damit ist gemeint, dass ein Mehr an zugeschriebener Selbstbestimmung und Aneignungsmöglichkeiten auch ein neues Konfliktpotenzial und eine gesteigerte Aushandlungsnotwendigkeit erzeugt. Was geschieht beispielsweise mit der im Garten beigesetzten Urne, wenn das Grundstück verkauft werden soll? Wer bekommt die Asche des verstorbenen Ehepartners, wenn die Witwe bzw. der Witwer seinerseits verstirbt? Und wie ist schließlich zu verfahren, wenn sich Angehörige über den Verbleib der Asche nicht einig werden? Zugespitzt: Der eine möchte ein Grab auf dem heimischen Friedhof, der andere wünscht sich die Urne in der eigenen Wohnung, der nächste prä30 Die Situation in Bremen ist vor diesem Hintergrund zwar als Vorstoß, nicht aber als Dammbruch einzustufen. Dass die Zahl der tatsächlich durchgeführten Beisetzungen auf dem Privatgrundstück bislang noch recht überschaubar ausfällt, mag einerseits an den vorhandenen Hürden liegen, andererseits aber auch einen Hinweis geben, dass der Zuspruch des einen nicht zwangsläufig zur kollektiven Ablehnung des anderen führt.

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feriert eine Verstreuung im Wald, derweil ein vierter am liebsten einen Aschediamanten am Finger tragen würde usw. Vor diesem Hintergrund könnte die – aktuell in Deutschland verbotene und kontrovers diskutierte – Option der Ascheteilung als Lösungsansatz an Zuspruch gewinnen.31 Ferner wäre zu diskutieren, ob die Urne zwingend unmittelbar nach der Kremation einer festen Verortung bedarf oder den Angehörigen in Form von Interimslösungen mehr Zeit gegeben werden sollte, Klarheit und ggf. Einigkeit über den weiteren Verbleib zu gewinnen. Bei keinem der Fälle aus dem Datensample liegt der betreffende Todesfall länger als fünf Jahre zurück; um die weitere Bedeutungskarriere der zu Hause aufbewahrten Urnen nachzuvollziehen, wäre eine erneute Befragung zu einem späteren Zeitpunkt nötig. Es lässt sich zumindest nicht ausschließen, dass der Friedhof mittel- bis langfristig doch wieder eine relevante Option werden könnte – dann etwa, wenn die Asche keinen privatreliquienartigen Status mehr besitzt bzw. der richtige Ort nicht mehr im heimischen Umfeld gesehen wird. Ein im Rahmen der Studie befragter Bestatter weiß von dem einen oder anderen Kunden zu berichten, der sich Jahre nach der Urnenaushändigung verzweifelt mit dem Anliegen meldete, die Urne nun doch auf dem Friedhof beisetzen lassen zu wollen. Um Derartiges nicht weiterhin im Dunkelfeld aushandeln zu müssen, lohnt es sich, über Konzepte nachzudenken, die der Dynamik von Trauer und einer flexiblen Bedeutungszuweisung von Abschied, Tod, Erinnerung und Kremierungsasche Rechnung tragen. Voraussetzung hierfür wäre nicht nur die Entkriminalisierung entsprechender Praxen, sondern auch und vor allem die Loslösung vom apodiktischen Gedanken eines letzten, immobilen, öffentlich fixier- und identifizierbaren Ruheortes. Die Sepulkralkultur steht mehr denn je im Zeichen von Aneignung, Aushandlung und Autonomie. Diese drei Kategorien befinden sich in einem dynamischen Wechselverhältnis, das immer wieder neue Sinnzusammenhänge hervorbringt. Patentrezepte für alle denkbaren Problemvarianten werden in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft zunehmend unwahrscheinlich. Konflikte zwischen Angehörigen über Deutungs- und Entscheidungshoheiten treten jedoch nicht erst jenseits der Friedhofsmauer bzw. im juristischen Graubereich auf. Man denke etwa an die Option der anonymen Bestattung, die häufig zwar im (vermeintlichen?) Sinne des Verstorbenen vorgenommen wird, mit der aber – auch dies legen die empirischen Erkenntnisse nahe – nicht immer alle Hinterbliebenen gleichermaßen und langfristig glücklich sind. 31 Was in dieser Diskussion indes weniger berücksichtigt wird, ist der Umstand, dass in rein materieller Hinsicht bereits der Oxidationsvorgang im Kremationsofen eine faktische Teilung von Asche bedeutet, da eben nicht alle Aschepartikel in die Urnenkapsel gelangen – und somit immer etwas verloren geht.

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Dass anstelle eines beharrlichen Durchfechtens persönlicher Interessen nicht selten auch Zugeständnisse gefragt sein werden, zeigt der Fallbericht von Frau Wagner, dessen Ausgang ich noch schuldig bin. Der Anruf ihres Bruders ausgerechnet zwei Tage vor der geplanten Verstreuung führte sie zu der Erkenntnis, dass „das Schicksal manchmal andere Drehbücher schreibt“. Wäre der Wasserfall nicht zugefroren, wäre ihre Mutter schon längst dort, wo sie hinwollte. Inzwischen aber sei die Verstorbene längst in einer Welt angekommen, in der solche irdischen Begehrlichkeiten keine Rolle mehr spielen. Am Ende verwarf Frau Wagner ihr Vorhaben, um den Wunsch ihres Bruders zu ermöglichen.

Rechtliche Aspekte der funeralen Sachkultur Torsten Schmitt

1.  EINLEITUNG Verschiedenen Gegenständen oder Sachen, die in dieser Ausarbeitung juristisch näher beleuchtet werden, messen die Menschen im Zusammenhang mit Bestattungen eine besondere Bedeutung zu. Vermehrt in den Blickpunkt sind in jüngerer Zeit zum Beispiel Gegenstände geraten, die mit (kleineren) Teilen der Totenasche gefüllt oder hergestellt werden, wie Erinnerungsamulette. Auch Grabmale haben für Angehörige immer noch einen hohen persönlichen Wert. Rechtlich fraglich ist darüber hinaus, ob die sterblichen Überreste selbst als Sachen angesehen werden und ob sie wie eine solche behandelt werden dürfen. Mit diesem Beitrag wird ein Überblick zur rechtlichen Einordnung der Sachen gegeben, die im Zusammenhang mit einer Bestattung eine besondere Bedeutung erlangen (können). Außerdem wird anhand der Rechtsprechung und (gesetzgeberischen) Diskussionen die aktuelle Entwicklung bei deren rechtlicher und politischer Bewertung dargestellt.

2.  S  ACHEIGENSCHAFT VON TOTENASCHE UND LEICHNAM, TOTENSORGERECHT Nach herrschender Meinung handelt es sich bei einem Leichnam rechtlich um eine Sache.1 Eine Sache allerdings, an der man weder Besitz noch Eigentum er-

1 Bamberger, Heinz Georg et al. (Hg.): BeckOK BGB, München 51. Edition Stand 01.08.2019, § 90 Rn 32 m.w.N.; eine detaillierte Darstellung der Meinungen findet sich bei: Roth, Carsten: Eigentum an Körperteilen – Rechtsfragen der Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, Berlin 2009, S. 125 ff.

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werben kann.2 Das bedeutet, dass sie – rechtlich betrachtet – herrenlos ist. Solange der Leichnam noch die Persönlichkeit des Verstorbenen repräsentiert, hat niemand ein Aneignungsrecht an ihm.3 Ein gewisses „Verfügungsrecht“ ergibt sich aus dem sogenannten Totensorgerecht (Totenfürsorgerecht). Dieses ist insbesondere das Recht, über Art und Ort der Bestattung zu bestimmen. Wer Totensorgeberechtigter ist, bestimmt sich primär nach dem (mutmaßlichen) Willen des Verstorbenen.4 Nur wenn dieser nicht ermittelbar ist, ergibt sich der Totensorgeberechtigte nach Gewohnheitsrecht. Nach der gewohnheitsrechtlichen Rangfolge stehen an erster Stelle der Ehegatte und an zweiter die Kinder. Im Übrigen ist die Reihenfolge strittig, die wohl herrschende Meinung orientiert sich an der Reihenfolge der Bestattungspflichtigen in den Bundesländern.5 Eine Rechtsstellung mit eigenen Entscheidungsbefugnissen bezüglich Art und Ort der Bestattung haben die Totensorgeberechtigten allerdings nur, wenn und soweit sie nicht durch zu Lebzeiten getroffene Entscheidungen des Verstorbenen gebunden sind.6 Den Willen des Verstorbenen kann ein Totensorgeberechtigter notfalls auch auf dem Gerichtsweg durchsetzen.7 Die zum Leichnam erläuterten Grundsätze gelten ebenso für die Totenasche, da diese – jedenfalls zivilrechtlich – als gleichgestellt angesehen wird.8

3.  RECHTLICHE BEWERTUNG VON IMPLANTATEN 3.1  Zivilrecht Künstliche Körperteile eines Verstorbenen sind eigentumsfähig, sobald ihre feste Verbindung mit dem Leichnam gelöst wird. Als Folge der Einäscherung stehen die Implantate – wie Zahngold, künstliche Gelenke etc. – nicht mehr in fester Verbindung mit den sterblichen Überresten und sind folglich ab diesem Zeitpunkt eine bewegliche, eigentumsfähige Sache. Umstritten ist allerdings, wer das Recht hat, 2 Ebd., BeckOK BGB. 3 Ebd., BeckOK BGB. 4 Vgl. BGH, Urteil v. 26.02.2019, Az.: VI ZR 272/18, BeckRS 2019, 6882, Rn 16ff. 5 Vgl. Kurze, Dietmar/Goertz, Désirée: Bestattungsrecht in der Praxis, Bonn 2016, § 5 Rn 25. 6 Vgl. BVerwG, Urteil v. 19.06.2019, Az.: 6 CN 1.18 BeckRS 2019, 19065, Rn 33, unter Berufung auf BGH NJW 2014, S. 3786, Rn 32. 7 Vgl. BGH, Urteil v. 26.02.2019, Az.: VI ZR 272/18, BeckRS 2019, 6882, Rn 20. 8 Vgl. BeckOK BGB/Fritzsche, 51. Ed.010.8.2019, BGB § 90 Rn 32 mit Verweis auf RGZ 154, 269 (274).

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sich diese anzueignen. In Betracht kommen die Totensorgeberechtigten und die Erben, die hin und wieder nicht dieselben Personen sind. Dabei stellen auch diejenigen, die das Aneignungsrecht den Erben zuordnen, dieses zumeist unter den Vorbehalt der Billigung der nächsten Angehörigen bzw. Totensorgeberechtigten. Dies soll sicherstellen, dass das Pietätsgefühl und die Achtung vor dem Leichnam des Verstorbenen gewahrt bleiben.9 3.2  Bestattungsrecht Es ist umstritten, ob Implantate mit der Asche beigesetzt werden müssen. Zu der nach den Landesgesetzen beizusetzenden Totenasche gehört nach der wohl herrschenden Auffassung nur der pulverige, staubartige Verbrennungsrückstand, der nach dem üblichen Mahlen der Kremationsüberreste verbleibt. Metallteile dürfen im Falle eines Einverständnisses der Berechtigten entnommen werden.10 Anderenfalls müsste man konsequenterweise auch etwa für die Bestattung der hochgiftigen Filterstäube plädieren, weil diese dem Leichnam entstammen und bei der Kremation entstehen. In den Bestattungsgesetzen von Niedersachsen und Brandenburg ist inzwischen eine ausdrückliche Legalisierung der Entnahme metallischer Gegenstände aus der Totenasche erfolgt.11 Seit dem 01.03.2020 ist hingegen in Hamburg12 die Entnahme von Implantaten unzulässig. In dem neu in Kraft getretenen § 14 Abs. 2 des dortigen Bestattungsgesetzes heißt es nämlich: „Die Asche jeder Leiche einschließlich aller nicht verbrennbaren Rückstände ist im Krematorium in ein zu verschließendes Behältnis (Urne) aufzunehmen.“ Damit müssen in Hamburg alle Implantate mit in der Urne aufgenommen werden. Ob es sinnvoll ist, Metalle in die Friedhofsböden einzubringen, und ob dies unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten zu verantworten ist, ist allerdings fraglich.

9 Vgl. H. G. Bamberger et al. (Hg.): BeckOK BGB, § 958 Rn 3 m.W.N. 10 Vgl. Schmitt, Torsten: Die rechtliche Beurteilung von Implantaten in der Totenasche, www.aeternitas.de/inhalt/downloads/rechtsgutachten_implantate.pdf (Zugriff 24.10.2019); Lichtner, Horst: Der Umgang mit Aschen Verstorbener: Eine Spielwiese der Beliebigkeit?, in: Bestattungskultur (05/2016), S. 24. 11 § 23 Abs. 5 S. 3 BbgBestG; § 12 Abs. 4 S. 4 BestG Nds. 12 Drucksache 21/18145 der Hamburgischen Bürgerschaft.

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4.  ASCHETEILUNG Bislang wird die Ascheteilung, also die Entnahme von Teilen der Asche in ganz Deutschland fast einhellig als rechtswidrig erachtet.13 In Brandenburg ist dies nun bestattungsrechtlich sogar ausdrücklich klargestellt worden.14 Entgegen der gesetzlichen Lage werden Erinnerungsgegenstände mit Teilen von Aschen jedoch in allen Bundesländern alltäglich von Bestattern an Angehörige übergeben. Beim Reimport von im Ausland mit (Teilen der) Totenasche hergestellten Gegenständen ist die Rechtslage nicht eindeutig. Es ist umstritten, ob diese auf einem Friedhof beizusetzen sind. Hier stehen als bekannte Beispiele der Erinnerungsdiamant und der sogenannte „Tree of Life“. 4.1  Erinnerungsdiamant Hierbei geht es um das Angebot, aus Teilen humaner Asche einen Diamanten herzustellen. Legal möglich ist dies zum Beispiel in der Schweiz. Einer Ansicht nach unterliegen diese Diamanten nach einem Import der Bestattungs- und Friedhofspflicht.15 Es wird aber auch die Rechtsansicht vertreten, dass dies nicht der Fall ist.16 Einerseits wird vorgebracht, dass es sich bei der Transformation zum Diamanten lediglich neben der Einäscherung um eine weitere Transformation des Verstorbenen handele und der Diamant daher ebenso wie die Asche behandelt werden müsse. Andererseits wird argumentiert, dass schon begrifflich ein Diamant vorliege und keine Beziehung mehr zum Verstorbenen bestünde. Nach Ansicht des Verfassers ist die Beisetzungspflicht für Diamanten schon deshalb abzulehnen, weil man einem Verstorbenen auch völlig legal die Haare abschneiden darf17, und dieser Teil ebenfalls nicht wie der übrige Leichnam beizusetzen ist. Selbst aufgefundene Körperteile unterliegen im Übrigen nicht immer einer Bestattungs- und Beisetzungspflicht: So werden zum Teil – sofern sie als Einzelteile vorhanden sind – nur Kopf und Rumpf als Leiche angesehen. Die

13 Vgl. Gaedke, Jürgen/Diefenbach, Joachim/Barthel, Torsten F.: Handbuch des Friedhofs- und Bestattungsrechts, Köln 2019, S. 218f. 14 § 23 Abs. 5 S. 3 BbgBestG. 15 J. Gaedke/J. Diefenbach/T. F. Barthel: Handbuch, S. 218. 16 Spranger, Tade M.: Bestattungspflicht für Diamanten?, in: NJW (2017), S. 3622ff. 17 Im Detail vgl. Spranger, Tade M.: Der rechtliche Status der Haare, in: Friedhofskultur (10/2019), S. 39f.

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übrigen Körperteile werden als Leichenteile definiert, die aber nicht der Bestattungs- und Friedhofspflicht unterliegen.18 Außerdem kann man der Auffassung sein, dass das Verbot der Ascheteilung verfassungswidrig ist. Auch wenn die Gerichte den Friedhofs- und Bestattungszwang zuletzt immer noch für verfassungskonform gehalten haben – wobei das Bundesverfassungsgericht diesen zuletzt 197919 beurteilt und sich seitdem vieles an der Einstellung der Bürger geändert hat –, kann dieser durchaus grundsätzlich als verfassungswidrig angesehen werden.20 Wenn dies schon für die gesamte Totenasche gilt, muss dies aber umso eher und erst Recht für einen geringen Teil der Asche gelten. Überdies sprechen in dem Fall, dass der Verstorbenen sich einen entsprechenden Umgang mit seiner Totenasche gewünscht hat, ohnehin die besseren Argumente für die Abschaffung des Friedhofs- und Bestattungszwanges.21 Zwei Hauptargumente für den Friedhofszwang lauten, dass es einen öffentlichen Ort zur Trauer geben müsse und die Aufbewahrung im Privatbereich gegen die postmortale Würde des Verstorbenen verstieße. Schon heute besteht jedoch die Möglichkeit einer anonymen Beisetzung, bei der nicht einmal ein Angehöriger den Beisetzungsort erfahren muss. Die Würde des Verstorbenen ergibt sich primär aus seinem eigenen, zu Lebzeiten gebildeten Willen. Damit ist also gerade die Pflicht zur Befolgung des Willens der verstorbenen Person als Gebot der Würde anzusehen. Diese Sichtweise wurde auch vom Bundesverfassungsgericht22 bestätigt, das unter anderem ausführte, dass der Würdeschutz gegen das freiwillige und eigenverantwortliche Handeln der Person „die als Freiheits- und Gleichheitsversprechen zugunsten aller Menschen konzipierte Menschenwürdegarantie zu einer staatlichen Eingriffsermächtigung“ verkehren würde. Jeder soll grundsätzlich darauf vertrauen können, dass seine Bestattungswünsche respektiert und daher – soweit möglich – erfüllt werden. Zu Lebzeiten hat jeder die Möglichkeit, frei darüber zu bestimmen, ob er besucht werden will und wer in seiner Nähe sein soll. Weshalb soll dieses Recht mit dem Todesfall enden?

18 Vgl. zum Beispiel § 3 Abs. 1 S. 2 u. 3 in Verbindung mit § 17 Abs. 1 BestG Thür und § 2 Abs. 2 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 3 BestG Nds. 19 BVerfG NJW 1979, 1493, Urteil v. 28.02.1979, Az.: 1 BvR 317/74. 20 Vgl. im Detail: Schmidt am Busch, Birgit: Postmortaler Würdeschutz und Gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit, in: Der Staat 49 (2010), S. 211ff. 21 Im Einzelnen zu den Argumenten siehe Stellungnahme von Aeternitas e.V. als Teil der Ausschussvorlage in Hessen, Ausschussvorlage INA 19/71, S. 19ff. www.hessischerlandtag.de/sites/default/files/scald/files/INA-AV-19-71-T1.pdf (Zugriff 24.10.2019). 22 BverfG, Beschluss v. 09.05.2016, Az.: 1 BvR 2202/13.

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4.2  „Tree of Life“ Beim sogenannten „Tree of Life“ wird – im Ausland – die Asche des Verstorbenen nach Angaben des Anbieters in ein Substratgemisch gegeben, in welches ein ausgewählter Baum gepflanzt wird. Durch die sich anschließende Durchwurzelungszeit von mindestens einem halben Jahr soll gewährleistet sein, dass vom Baum die Nährstoffe aus der Asche absorbiert werden.23 Nach dieser Zeit wird der Baum dann an den Bestatter versandt und kann von den Angehörigen eingepflanzt werden. Einerseits wird die Rechtsansicht vertreten, dass es sich schon bei dem Verbringen der Asche in das Substrat um eine Beisetzung handelt, sodass nach einem Reimport keine Beisetzungspflicht mehr bestehen dürfte.24 Dann müsste dies aber bei jeglicher Umbettung zum Beispiel aus der Schweiz oder den Niederlanden nach Deutschland gelten, da die Aschen dort ja schon beigesetzt wurden. In überzeugenderer Weise wird andererseits vertreten, dass jedenfalls dann, wenn die Asche zum Zeitpunkt des Reimports noch in der Erde vorhanden und nicht vollständig vom Baum aufgenommen worden ist, diese weiter dem Friedhofs- und Bestattungszwang unterliegt.25 Diesem Einwand ist der Anbieter mit der Behauptung entgegengetreten, dass notariell bestätigt wird, dass an den versendeten Bäumen keine Totenasche mehr vorhanden ist.26 Hier stellt sich die Frage, was denn tatsächlich von der Asche des Verstorbenen an „Nährstoffen“ als Teil des Baumes noch nach Deutschland überführt wird. Nach Einschätzung des Autors gibt es im Wesentlichen zwei mögliche Tatsachenabläufe: Entweder werden noch relevante Teile der Asche mit dem Baum nach Deutschland überführt. Dann handelt es sich um bestattungspflichtige Totenasche und es wird nur ein legaler Weg der Umgehung des Friedhofszwangs vorgetäuscht. Oder es ist kein relevanter Teil der Totenasche am Baum bzw. in der Erde vorhanden. Dann stellt sich allerdings die Frage, warum die Angehörigen diesen Baum überhaupt noch erwerben möchten. Diese Variante wäre jedoch legal.

23 Vgl. die Angaben des Anbieters unter www.tree-of-life-baumbestattungen.de/serviceleistungen.html (Zugriff 24.10.2019). 24 Bisping, Antje: Tree of Life, in: Bestattungskultur (2/2014), S. 62. 25 J. Gaedke/J. Diefenbach/T. F. Barthel: Handbuch, S. 452f. 26 www.iflebenskunde.de/urne-zu-hause/ (Zugriff 30.10.2019); Leider ist der Originalbeitrag von Vera Wolfskämpf bei MDR Aktuell, der am 27.03.2017 auch im Radio gesendet wurde, nicht mehr abrufbar, ein Ausdruck liegt dem Verfasser jedoch vor.

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5.  SARG- UND GRABBEIGABEN 5.1  Erdbestattung In einigen Bundesländern gibt es gesetzliche Regelungen zu Urnen, Sarg, Sargausstattung und Bekleidung der Verstorbenen. Für diese wird dann in im Detail variierenden Formulierungen sinngemäß verlangt, dass sie innerhalb der Ruhezeit vergehen sollen.27 Mit Sargausstattung dürften tatsächlich nur die Bespannung des Sarges und eventuell noch die Decke und das Kissen gemeint sein, die den Sarg ausstatten und seiner typischen Benutzung dienen. Die Sargbeigaben hingegen sind solche, die die Trauernden dem Verstorbenen „mit auf den Weg geben“ wollen. Meistens sind dies Gegenstände, die dem Verstorbenen zu Lebzeiten besonders wichtig waren oder Symbole für etwas, was für den Verstorbenen in seinem Leben eine besondere Bedeutung hatte. Für diese Gegenstände gibt es in Nordrhein-Westfalen eine ausdrückliche Regelung bei der Erdbestattung. In § 11 Abs. 1 BestG NW heißt es: „[…] Beigaben […] müssen so beschaffen sein, dass ihre Verrottung und die Verwesung der Toten innerhalb des nach § 4 Abs. 2 festgelegten Zeitraumes [Anmerkung des Vf.: gemeint ist die Ruhezeit] ermöglicht wird.“ Auch aus der Formulierung des Bestattungsgesetzes in Niedersachsen (§ 13 Abs. 7 BestG) kann man eine ähnliche Anforderung entnehmen: „Die Verwendung von nicht biologisch abbaubaren Materialien bei der Durchführung von Bestattungen […] ist nicht gestattet. […].“ In den meisten Bundesländern werden die Grabbeigaben jedoch nicht erwähnt bzw. ist den Gesetzen zu deren notwendiger Beschaffenheit nichts zu entnehmen. Das heißt aber nicht, dass grundsätzlich jeder Gegenstand mit in den Sarg bzw. in das Grab gelegt werden darf. Es können umweltrechtliche Vorschriften zu beachten sein. Zu denken ist dabei etwa an bodenschutzrechtliche und wasserhaushaltsrechtliche Regelungen, die gegen die Einbringung bestimmter Materialien sprechen. Überdies können die Friedhofssatzungen bestimmte Materialien im Grab verbieten. Solche Verbote müssten aber für den Friedhofszweck zumindest förderlich sein, um zulässig zu sein. Zum Friedhofszweck hat das Reichsgericht schon 193828 eine bis heute anerkannte Definition erdacht: „Die Zweckbestimmung der Friedhöfe besteht in der Ermöglichung einer angemessenen und geordneten Leichenbestattung und der dem pietätvollen Gedenken der Verstorbenen entsprechenden 27 Siehe: § 24 BestV BW; § 30 Abs. 2 u. 3 BY; §§ 14, 15 BestV BE; § 5a BestG HB; § 1 BestV HH; § 13 Abs. 7 BestG NI; § 11 Abs. 1 BestG NW;§ 5 Abs. 1 BestV RP; § 16 Abs. 3 BestG SN; § 15 Abs. 2, 3 BestG SH. 28 RGZ 157, 246 (255), Urteil v. 25.04.1938, Az.: IV 7/ 38.

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würdigen Ausgestaltung und Ausstattung des der Totenbestattung gewidmeten Grundstücks.“ Zusammengefasst soll also eine geordnete und angemessene Bestattung ermöglicht und ein würdiger Platz für eine angemessene Totenehrung zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus ist anerkannt, dass der Friedhofszweck auch darin liegt, eine Verwesung während der Ruhezeit zu gewährleisten.29 Im Ergebnis unproblematisch wären also Regelungen, die eine „rechtzeitige“ Verwesung eines Leichnams gewährleisten würden. Dies betrifft kleinere Grabbeigaben jedoch regelmäßig nicht, da diese die Verwesung nicht hindern – im Gegensatz etwa zu bestimmten Kleidungsstücken. Es ist sehr fraglich, ob neben den existierenden Regelungen zu Urnen, Särgen, deren Ausstattung und der Bekleidung des Verstorbenen und über die umweltrechtlichen Regelungen hinaus weitere Einschränkungen verfassungsgemäß wären. Jedenfalls sehen die Friedhofsträger diesbezüglich bislang grundsätzlich keinen Regelungsbedarf. Es stellt sich rein praktisch auch die Frage, bei welchen Gegenständen die Friedhofsverwaltungen den Bürgern eine Trauerhandlung verbieten und deren Beigabe im Sarg etwa kontrollieren wollten. Ein Unterfall einer nach herrschender Meinung in allen Bundesländern zulässigen Grabbeigabe stellt die Asche von verstorbenen Tieren dar.30 5.2  Kremation Nur in einem Bundesland gibt es eine explizite Regelung zu den zugelassenen Materialien bei einer Einäscherung: § 5 Abs. 1 BestV RP lautet „[…] die Sargbeigaben und die Leichenbekleidung dürfen nicht aus Werkstoffen bestehen, die bei der Verbrennung stark rußen, giftige Gase oder starke Hitze entwickeln oder Schmelzrückstände hinterlassen.“ Außerdem existiert die VDI-Richtlinie 3891. VDI-Richtlinien werden vom Verein Deutscher Ingenieure erstellt. Darin sind Empfehlungen und Feststellungen im Bereich der Ingenieurswissenschaften zum Stand und den Regeln der Technik enthalten. Im Vertragsrecht haben solche Richtlinien regelmäßig die Be29 Vgl. zum Beispiel VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 28.06.2016, Az.: 1 S 1327/15, BeckRS 49509, Rn 24; J. Gaedke/J. Diefenbach/T. F. Barthel: Handbuch, S. 353: Benennt als weiteren Zweck den Schutz vor Gefahren. Dieser sollte aber schon in der allgemeinen Definition enthalten sein. Denn wenn etwa einem Trauernden während der Trauerfeier ein Grabmal (potentiell) auf den Fuß fällt, wäre dies wohl keine „geordnete und angemessene Bestattung“. 30 J. Gaedke/J. Diefenbach/T. F. Barthel: Handbuch, S. 20f; so auch die rechtliche Einschätzung des Gesundheitsministeriums in NRW in einem Rundschreiben vom 17.06.2015.

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deutung, dass man ohne abweichende Vereinbarung davon ausgehen darf, dass zumindest die „Regeln der Technik“ eingehalten werden. Dies soll bei der Verwendung von nur natürlichen oder naturnahen Produkten der Fall sein. Bei Kleidung könne man regelmäßig von dieser Naturnähe ausgehen, eine Ausnahme stellten an sich nur Kautschukprodukte (zum Beispiel Schuhe) und Motorradkleidung dar.31 Entsprechendes dürfte auch für die Sargbeigaben zu gelten haben, da bei diesen in gleicher Weise giftige Gasbildungen, starke Hitze und Schmelzrückstände zu vermeiden sind. Betreiber von Krematorien sind überdies an die 27. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes gebunden. Insbesondere sind die in deren § 4 genannten Emissionsgrenzwerte einzuhalten. Zuwiderhandlungen hiergegen stellen nach § 14 der Verordnung eine Ordnungswidrigkeit dar und können mit Bußgeldern belegt werden. Schon aus diesem Grund werden die Betreiber überzogene Emissionen vermeiden wollen.

6.  GESTALTUNGSVORSCHRIFTEN ZU GRABMALEN Grabmale sind Gedenk- und Erinnerungszeichen an der Beisetzungsstelle eines Verstorbenen. Die Gestaltung von Grabstätten und damit auch des Grabmals sind grundrechtlich von der sogenannten allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) geschützt.32 Dieses Grundrecht kann grundsätzlich durch jede Rechtsvorschrift eingeschränkt werden, für die eine ausreichende formell-gesetzliche (ein Gesetz, das im vorgesehenen Verfahren vom Parlament erlassen wird) Ermächtigung besteht. Die einschränkende Norm selbst kann daher auch eine Satzung wie die Friedhofssatzung darstellen. Entsprechende Satzungsregelungen dürfen jedoch nicht unverhältnismäßig zum verfolgten Friedhofszweck sein.33 Regelmäßig entzündet sich bei Grabmalen diesbezüglich Streit an der Frage, was für einen „würdigen“ Platz erforderlich ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Einzelgrabstätte als Teil eines Begräbnisplatzes für viele Verstorbene in einem gewissen Sinne gemeinschaftsbezogen und damit die individuelle Gestaltung nicht schran-

31 Pasic, Frank/Kriebel, Michael: in: Handbuch des Feuerbestattungswesens, Berlin 2014, S. 156. 32 BVerwG NJW 2004, 2844 (2845), Urt. v. 13.05.2004, Az.: 3 C 26/03; Böttcher, Günter (Hg.): Das aktuelle Handbuch des Friedhofs- und Bestattungswesens, Kap. 10/7.1, Stand April 2017. 33 Im Detail zur Definition siehe unter V./1.

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kenlos möglich ist.34 Dies wird im Sinne einer „Anpassungsklausel“35 verstanden, nämlich dass – wie es sinngemäß auch in vielen Friedhofssatzungen formuliert ist – die Grabgestaltung an die (unmittelbare) Umgebung anzupassen ist, damit die Würde des Ortes gewahrt wird. Zwar wird anerkannt, dass diese Regelungen nicht zu restriktiv ausgelegt werden dürfen, indem der Friedhofsträger gegen jede geringfügige Abweichung vom bisherigen Erscheinungsbild vorgeht.36 Alleine die ästhetischen Vorstellungen und der Geschmack des Friedhofsträgers dürfen hierbei aber jedenfalls nicht der Maßstab sein.37 Exemplarisch ist ein vom Verwaltungsgericht Hannover38 entschiedener Fall: Der Kläger wollte auf dem Grab seiner Frau ein 1,80 Meter hohes Grabmal in Form eines Fingers aufstellen lassen. Die gewünschte Skulptur wahrte laut Gericht die Würde des Ortes nicht ausreichend. Diese interpretationsbedürftige Skulptur würde sich nicht in die Umgebung des Friedhofs einfügen und bei den Friedhofsbesuchern zumindest Irritationen hervorrufen, wenn nicht gar Ärgernis erregen. Der Würde des Ortes würde das Grabmal noch genügen, wenn der herkömmliche Charakter des Friedhofs als Gemeinschaftsanlage bereits zuvor durch die Zulassung anderer außergewöhnlicher sowie interpretationsfähiger und -bedürftiger Grabmale „aufgeweicht“ worden wäre. Würde man dieser Auffassung folgen, könnte der Friedhofsträger jedoch aufgrund eigener Geschmacksentscheidungen erheblichen Einfluss darauf ausüben, was als würdig einzustufen ist. Daher ist die „Anpassungsklausel“ kritisch zu sehen. Der Würde des Ortes widersprechen nach Auffassung des Autors nur solche Gestaltungen, die geeignet sind, die Empfindungen der Mehrheit der Friedhofsnutzer und Besucher bzw. mindestens eines „Durchschnittsbesuchers“ zu verletzen. Um ein persönliches Gedenken zu ermöglichen, müssen auch individuelle Grabmale zugelassen werden, die nicht angepasst sind. Es sollte allein Aufgabe der Bereiche mit zusätzlichen (besonderen) Gestaltungsvorschriften sein, eine Einheitlichkeit in der Gestaltung für die Bürger mit einem entsprechenden Bedürfnis zur Verfügung zu stellen. Diese über den Friedhofszweck hinausgehenden, insbesondere nach Geschmacksvorstellungen aufgestellten Gestaltungsvorschriften, sind im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG zulässig, wenn der Grabnutzungsberechtigte die Gelegenheit hat, seine von derartigen Vorschriften abweichenden Vorstellungen an anderer

34 J. Gaedke/J. Diefenbach/T. F. Barthel: Handbuch, S. 352. 35 Begriff nach ebd., S. 353. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 VG Hannover Urteil v. 21.09.2018, Az. 1 A 12180/17, BeckRS 2018, 24181.

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Stelle in zumutbarer Entfernung auf einem Friedhof(-steil) zu verwirklichen.39 In den stärker reglementierten Bereichen darf der Friedhofsträger seine ästhetischen Vorstellungen und das Bedürfnis nach einer einheitlichen Gestaltung einiger Bürger als Maßstab anlegen.

7.  AKTUELLE ENTWICKLUNGEN 7.1  Kinderarbeit bei Grabmalen Seit 2007 ist in verschiedenen Gemeinden bzw. Bundesländern das Bedürfnis gewachsen, möglichst Grabmale zu vermeiden, bei deren Herstellung schlimmste Formen der Kinderarbeit im Sinne der ILO-Konvention 182 vorgekommen sein könnten. Die Voraussetzungen entsprechender Satzungsvorschriften waren sehr umstritten. Inzwischen hat das Bundesverwaltungsgericht ein Grundsatzurteil zu dieser Frage erlassen.40 Danach bedürfen entsprechende satzungsrechtliche Regelungen einer gesetzlichen Ermächtigung, die das Nachweissystem in seinen Grundzügen darstellt. Es muss klar sein, bei welchen Steinen aus welchen Ländern überhaupt ein Nachweis gefordert wird und in welcher Weise dieser (etwa Zertifikate von bestimmten Zertifizierern) erbracht werden kann, damit in die Berufsfreiheit der Steinmetze nicht in unverhältnismäßiger Weise eingegriffen wird. In neun Bundesländern gibt es bereits gesetzliche Regelungen, die eine Regelung zu Grabmalen aus Kinderarbeit treffen.41 Im Saarland soll die Regelung überarbeitet werden.42

39 Vgl. BVerwG, Beschluss v. 20.11.2007, Az.: 7 BN 5.07, BeckRS 2007, 28198, Rn 7 f; VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 28.06.2016, Az.: 1 S 1327/15, BeckRS 2016, 49509, Rn 25. 40 BVerwG Urteil vom 16.10.2013, Az.: 8 CN 1.12, NVwZ 2014, 527. 41 § 15 Abs. 3 BestG BW; Art. 9 a BestG BY; § 34 Abs. 1 BestG BB; § 4 Abs. 5 BestG HB; § 6 a BestG HE; § 13 a BestG NI; § 4 a BestG NW; § 6a BestG RP; § 8 BestG SL. Im Detail zu den Regelungen zur Kinderarbeit vgl. Schmitt, Torsten: Grabsteine aus Kinderhand – gesetzliche Regelungen und Urteile, in: Wirtschaft und Verwaltung 01/2020, S. 43ff. 42 Vgl. Saarländische Landtagsdrucksache 16/985.

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7.2  Friedhofszwang a) Nordrhein-Westfalen

Schon 2003 trat § 15 Abs. 6 BestG NW in Kraft. Nach diesem darf in der heute aktuellen Fassung eine Beisetzung von Totenasche (ohne Urne) auf einem Privatgrundstück stattfinden, wenn dies: aa) vom Verstorbenen schriftlich bestimmt und ab) nachgewiesen ist, dass der Beisetzungsort dauerhaft öffentlich zugänglich ist.

Außerdem muss die Behörde der Genehmigung Nebenbestimmungen beifügen, die die Achtung der Totenwürde gewährleisten. Diese Regel wird praktisch aufgrund der schwer erfüllbaren Bedingungen (Stichwort „öffentlicher Zugang“) kaum angenommen. Lieber scheinen die Bürger die entsprechenden „Umgehungsmöglichkeiten“ über das Ausland bzw. „kooperative“ Bestatter zu nutzen. b) Bremen

§ 4 Abs. 1a BestG HB trat 2015 in Kraft. Hiernach ist die Beisetzung für Bremer Bürger auf Privatgrundstücken zulässig, wenn: ba) dies vom Verstorbenen schriftlich verfügt ist, bb) das Einverständnis des Grundstückseigentümers vorliegt und bc) keine Beeinträchtigung der Nachbarn anzunehmen ist.

Auch darf die Beisetzung auf dem Privatgrundstück nicht gegen Entgelt geschehen, damit keine Privatfriedhöfe entstehen. Diese Möglichkeit wird zwar praktisch genutzt, doch bislang von weniger als einem Prozent der Verstorbenen. c) Die übrigen Bundesländer

Soweit Ausnahmen vom Friedhofszwang in besonderen Fällen zugelassen werden, wird dieser wie erwähnt als verfassungsgemäß angesehen.43 Das Bundesverwaltungsgericht hatte dazu ausdrücklich festgestellt, dass eine Ausnahme vom Friedhofszwang verfassungsrechtlich geboten sein kann. Zwar ist damit in allen Bundesländern in besonderen Fällen eine Ausnahme vom Friedhofszwang zuzulassen44 und zum Teil auch im Gesetz45 enthalten. Diese Ausnahmen werden jedoch sehr restriktiv gehandhabt. Immer wieder wird betont, dass etwa allein eine 43 BVerfG NJW 1979, 1493, Urteil v. 28.02.1979, Az.: 1 BvR 317/74; die Gegenansicht vertritt: B. Schmidt am Busch: Postmortaler Würdeschutz, S. 211ff. 44 BVerwG NJW 1974, 2018 (2020), Urteil v. 26.06.1975, Az.: VII C 36/72. 45 Zum Beispiel: Art. 12 Abs. 1 BestG Bay; § 25 Abs. 2 BestG Bbg; § 4 Abs. 2 FBG Hess.

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besondere Beziehung zu einem bestimmten Grundstück dazu nicht genügen soll.46 Die Zulassung von Ausnahmen solle nicht zur Verkehrung der Regel führen.47 Es sollte jedoch sowohl in zukünftigen Urteilen als auch in Gesetzgebungsverfahren nicht außer Acht gelassen werden, dass sich die Einstellung der Bürger zum Friedhofszwang inzwischen sehr verändert hat – auch wenn dies selbst in den letzten Jahren vielfach noch in Rechtsprechung und Literatur anders behauptet wurde.48 So haben bereits 2016 in einer repräsentativen Umfrage 83 Prozent der Befragten geäußert, dass sie kein ungutes Gefühl hätten, wenn der Nachbar eine Urne bei sich im Garten oder Wohnzimmer aufbewahren würde.49 Auch haben schon 2013 rund zwei Drittel der befragten Bürger angegeben, dass sie den Friedhofszwang für veraltet halten.50 Aktuell wünscht sich überdies rund ein Viertel der Befragten einer ebenfalls repräsentativen Umfrage die Verstreuung der eigenen Asche in der freien Natur oder die Aufbewahrung bzw. Beisetzung der Urne zu Hause oder im eigenen Garten.51 Dies sind derzeit weitgehend bestattungsrechtlich unzulässige Formen. Wie erwähnt erscheinen die Argumente für die Lockerung des Friedhofszwanges insgesamt überzeugender als die für die Beibehaltung.52 7.3  Ascheteilung Versuche, die Aschteilung ausdrücklich als zulässig in die Bestattungsgesetze aufnehmen zu lassen, sind zuletzt in Niedersachsen und Brandenburg (knapp) gescheitert. In beiden Bundesländern gab es einen Gesetzesentwurf, nach dem es erlaubt sein sollte, wenn es dem nachweisbaren Wunsch der verstorbenen Person entspricht, Teile der Asche zu entnehmen. Diese sollten zur Verwendung in Erinnerungsschmuckstücken und auch für die Herstellung von Erinnerungsdiamanten verwandt werden dürfen. In Brandenburg ist das Gesetz am Ende mit einer 46 Z. B.: OVG Schleswig Urteil v. 10.03.2016, Az.: 2 LB 21/15, BeckRS 2016, 47212, Rn 39; auch schon die Vorinstanzen bestätigend: BVerfG NJW 1979, 1493, Urteil v. 28.02.1979, Az.: 1 BvR 317/74. 47 J. Gaedke/J. Diefenbach/T. F. Barthel: Handbuch, S. 216. 48 Ebd., S. 213–216 mit Verweisen auf verschiedene Urteile. 49 TNS/Emnid im Auftrag von Aeternitas: www.aeternitas.de/inhalt/marktforschung/meldungen/2016_aeternitas_umfrage_trends (Zugriff 24.10.2019). 50 TNS/Emnid im Auftrag von Aeternitas: www.aeternitas.de/inhalt/marktforschung/meldungen/2013_aeternitas_umfrage_friedhofszwang (Zugriff 10.09.2019). 51 Forsa im Auftrag von Aeternitas: www.aeternitas.de/inhalt/marktforschung/meldungen/2019_aeternitas_umfrage_wuensche/bevorzugte_bestattungsform_2019.pdf (Zugriff 29.10.2019). 52 Siehe oben.

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nur knappen Mehrheit gegen die Ascheteilung abgelehnt worden. Insgesamt verschärfte der Gesetzgeber mit dieser geringen Mehrheit das Gesetz sogar noch, indem nun zum einen die Ascheteilung explizit verboten wurde. Zum anderen wurde in § 38 Abs. 1 S. 1 Nr. 15 BestG BB weitergehend sogar bußgeldbewehrt, die Totenasche ganz oder teilweise der Beisetzung zu entziehen, die Möglichkeit zur Entziehung zu vermitteln, (Teile der) Asche bei der Herstellung von Sachen zu verwenden oder die Möglichkeit zur Herstellung zu vermitteln. Entgegen der an sich in der Branche erwarteten Liberalisierung ist es also zumindest teilweise sogar zu einer Verschärfung der Regelungen gekommen. Auch dies widerspricht dem Willen der Mehrheit der Bürger, die sich zu rund 70 % dafür aussprachen, dass die Entnahme von Teilen der Totenasche zulässig sein sollte.53 In Mecklenburg-Vorpommern ergab sich in der dort eingerichteten Expertenkommission zur Überarbeitung des Bestattungsgesetzes eine knappe Mehrheit gegen die ausdrückliche Zulassung der Ascheteilung.54 Ob der dortige Gesetzgeber den Empfehlungen der Kommission folgt, bleibt abzuwarten. 7.4  Ruhezeit Ruhezeit ist die Frist, innerhalb derer ein Grab nicht erneut belegt werden darf. In diesem Zeitraum sollen eine ausreichende Verwesung sowie eine angemessene Totenehrung stattfinden können. Die Bedeutung der Ruhezeit beim Umgang mit der Totenasche zeigt sich im besonderen Maße bei Umbettungen. Vor Ablauf der Ruhezeit ist für eine Umbettung auch von Totenaschen bzw. Urnen nämlich regelmäßig ein „wichtiger Grund“ erforderlich, der nur in seltenen Fällen von Gerichten angenommen wird. Ein Beispiel ist etwa, dass der Wille des Verstorbenen zum Bestattungsort versehentlich missachtet wird.55 Der Verfassungsgerichtshof in Brandenburg56 hat 2017 erwähnt, dass für eine Umbettung grundsätzlich geringere Anforderungen an den geforderten wichtigen

53 Forsa im Auftrag von Aeternitas: www.aeternitas.de/inhalt/aktuelles/meldungen/ 2019_10_29__08_51_08-Mehrheit-fuer-liberalen-Umgang-mit-Totenasche/ascheentnahme_2019.pdf (Zugriff 29.10.2019). 54 Vgl. www.landtag-mv.de/landtag/ausschuesse/expertenkommission-bestattungskulturin-m-v (Zugriff 24.10.2019). 55 Im Detail zu den Anforderungen an den wichtigen Grund: Schmitt, Torsten: Die Umbettung von sterblichen Überresten in der Praxis, in: DÖV (2019), S. 384ff. 56 Verfassungsgericht Brandenburg, Beschluss v. 24.03.2017, Az.: VfGBbg 68/15, BeckRS 2017, 105822.

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Grund gestellt werden könnten, da es nach dem brandenburgischen Bestattungsgesetz zum Beispiel verschiedene Ruhezeiten für Totenasche und Leichname gäbe. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 201857 festgestellt, dass einer zweijährigen Ruhezeit für Totenaschen (verfassungs-)rechtlich nichts entgegensteht. Hierbei ist allerdings in der strittigen Satzung festgelegt, dass die Nutzungszeit der Gräber zwölf Jahre beträgt. Lediglich wenn eine weitere Urne in ein solches Grab nach fast zehn Jahren zugebettet wird und sich die Angehörigen nicht für eine Verlängerung des Grabnutzungsrechts entscheiden, läuft das Grab dann bereits rund zwei Jahre nach der zweiten Beisetzung aus. Dann wird eine solche Urne satzungsgemäß in ein Sammelgrab umgebettet. Ein wesentlicher Aspekt der Begründung des Bayerischen Gerichts war, dass es einen Friedhofs- und Bestattungszwang für die Aschenreste Verstorbener europaweit fast nur noch in Deutschland gibt, und die Notwendigkeit eines allgemein zugänglichen öffentlichen Orts der Totenruhe auch hierzulande zunehmend in Frage gestellt wird. Daher könne nicht festgestellt werden, dass das Pietätsempfinden der Allgemeinheit der angegriffenen Ruhezeitregelung entgegenstehe.58 Das Urteil ist inzwischen vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt worden.59 Mithin scheint sich auch in der Rechtsprechung nunmehr die Erkenntnis durchzusetzen, dass sich die Einstellungen zum Umgang mit Urnen bzw. Totenaschen geändert haben und ändern.

8.  AUSBLICK Als Fazit ergibt sich für fast alle hier dargestellten Bereiche Handlungsbedarf für die Gesetzgeber und/oder die Friedhofsträger vor Ort. Allein bei den Sargund Grabbeigaben bestehen bislang anscheinend nur selten praktische Probleme, sodass hier kein aktueller Regelungsbedarf vorliegen dürfte. Die Bundesländer sollten – soweit dies nicht wie in Brandenburg und Niedersachsen schon geschehen ist – bei den nächsten Reformen ihrer Bestattungsgesetze die Entnahme von Implantaten aus der Totenasche ausdrücklich zulassen. Die Grabgestaltungsvorschriften der Friedhofsträger sollten insgesamt liberaler gestaltet werden, um individuelle Arten des Gedenkens zu ermöglichen. In der rechtlichen und politischen Diskussion zum Umgang mit Bestandteilen der Asche oder Erzeugnissen aus Teilen der Asche stehen sich vereinfacht regelmäßig zwei Positionen gegenüber: Einerseits wird die Ansicht vertreten, die am 57 Vgl. VGH Bayern Urteil vom 31.01.2018 zu Az.: 4 N 17.1197, BeckRS 2018, 3022. 58 VGH Bayern Urteil vom 31.01.2018 zu Az.: 4 N 17.1197, BeckRS 2018, 3022, Rn 31. 59 BVerwG, Urteil v. 19.06.2019, Az.: 6 CN 1.18, BeckRS 2019, 19065.

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Friedhofszwang und dem dauerhaften Verbleib der Totenasche in Gänze auf dem Friedhof festhält. Andererseits gibt es die Gegenansichten, nach denen es zum Beispiel zulässig sein sollte, (Teile der) Totenasche auch außerhalb eines Friedhofs aufzubewahren. Darüber hinaus wird auch gefordert, Umbettungen einfacher zu ermöglichen. Umfragen60 zeigen, dass die Mehrzahl der Bürger der Auffassung ist, dass der Umgang mit Totenasche liberalisiert werden sollte. Damit würde die Asche immer mehr „versachlicht“. Die rechtliche Grenze stellt jedoch weiterhin die Würde des Verstorbenen dar, die sich primär nach dessen Willen bestimmt. Entsprechende Handhabungen gegen den Willen des Verstorbenen würden und müssten also weiterhin rechtswidrig bleiben. In großen Teilen Europas gibt es weitaus vielfältigere, legale Möglichkeiten beim Umgang mit Totenaschen. Diese werden zur Umgehung der hiesigen Regelungen schon heute vielfach ausgenutzt. Sowohl Ascheteilung als auch die Aufbewahrung von Urnen im Privatbereich werden bereits regelmäßig auch in Deutschland praktiziert. Insofern würden entsprechende Gesetzesänderungen zur Legalisierung einer gelebten Praxis führen. Da der entsprechende Bedarf zu wachsen scheint, ist fraglich, ob sich Gesetzgeber und Rechtsprechung dem nicht in absehbarer Zukunft beugen (müssen).

60 Siehe oben; sowie die Forsa-Umfragen aus 2019 im Auftrag von Aeternitas: www.aeternitas.de/inhalt/marktforschung/meldungen/2019_aeternitas_umfrage_wuensche (Zugriff 29.10.2019) und www.aeternitas.de/inhalt/aktuelles/meldungen/2019_10_29__08_51_08-Mehrheit-fuer-liberalen-Umgang-mit-Totenasche/show_ data (Zugriff 29.10.2019).

IV.  Funerale Praxis

Mutters Kochlöffel Reflexionen pastoraler Erfahrung im Umgang mit Artefakten Dino Steinbrink

1.  EINLEITUNG Die Angehörigen äußern den Wunsch, ein Symbol bei der Trauerfeier einzusetzen: Sie denken an den hölzernen Kochlöffel, mit dem die Verstorbene über Jahre für die Familie kochte. Dieser war vor allem vom Anbraten der Rouladen ganz mitgenommen und verkohlt, wird erzählt. Das Problem ist, dass dieser Löffel bereits beim Umzug der Mutter ins Altenheim entsorgt wurde. Stattdessen möchte die Familie einen neuen Kochlöffel verwenden. Sie haben diesen bereits dabei. Er ist auch aus Holz, aber ohne jede Gebrauchsspur, fast weiß, und seine Oberfläche noch rau. Diesen wollen sie bei der Trauerfeier durch die Reihen wandern lassen, damit jeder Trauergast den Kochlöffel in die Hand nehmen kann und ihm einen guten Wunsch zuspricht. Danach sollte der Kochlöffel ins Grab gegeben werden. Kochlöffel, Luftballons oder Sargträger in Panzerknacker-Uniformen erwarten die wenigsten bei einer Beerdigung. Von letzterer Idee sind die Freunde eines verstorbenen Mittvierzigers und Disney-Fans dann selbst wieder abgerückt. Doch immer häufiger erlebe ich als Gemeindepastor, dass besondere Wünsche die Planung von Kasualien begleiten. Davon ist die Bestattung nicht ausgenommen. Stetig werden „Dinge“ wichtiger im Trauerprozess. Im Folgenden stelle ich drei Beispiele aus meiner Praxis vor, an denen für mich als pastoraler Akteur etwas deutlich geworden ist. Vorab aber scheint es notwendig, den Blick zunächst von den Dingen abzuwenden und dorthin zu sehen, wo zunächst einmal nichts mehr zu sehen ist. Der Tod eines anderen hinterlässt im Leben der zurückbleibenden Menschen eine Lücke. Was geschieht im Falle eines Verlustes, und welche Aufgabe kommt mir als Pastor dabei zu? Mit Bernhard Waldenfels verstehe ich den Tod als etwas Fremdes. Das Fremde verlangt nach besonderen Bewältigungsstrategien. Das Auftreten von Gegenständen, Dingen,

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Artefakten, (modernen) Reliquien bei Bestattungen stellt hier eine solche Bewältigungsstrategie dar. Die Trauerarbeit wird anhand von Melanie Kleins Konzept der Ablösung vom äußeren und Etablierung eines inneren Objektes erläutert. Anschließend werden „die Dinge“ selbst, ausgehend vom Reliquienbegriff, betrachtet, die bei Bestattungen auftauchen können: Welche Funktion kommt ihnen zu, die im Trauerprozess plötzlich an Bedeutung gewinnt? Da der erwähnte Löffel als Grabbeigabe mit ins Grab gegeben werden soll, wird auch das Modell zur Gabe nach Marcel Mauss mitgeführt. Schließlich werden die vorhergehenden Überlegungen auf drei Fallvignetten angewendet.

2.  DER TOD ALS DAS ABSOLUT FREMDE Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels richtet seine Aufmerksamkeit auf die Erfahrung, dass Menschen in ihrem Alltag Situationen, Begegnungen und Momenten ausgesetzt sind, die ihnen fremd sind und erscheinen. Im Alltag stehen sich immer wieder das Fremde und das Eigene gegenüber. Nach Waldenfels gilt als „eigen“, was ein Subjekt konkret erfahren hat und als einen Teil seiner Geschichte, seines Erlebens, seines Eigentums bewusst benennen kann.1 Das Eigene beschreibt Waldenfels als Eigenheitssphäre. Er definiert „Eigenheit […] im weiteren Sinne […] als Zugehörigkeit, Vertrautheit, Verfügbarkeit, sei es die Eigenheit des Leibes, der Kleider, […] der Freunde, der Kinder, […] oder wessen auch immer.“2 Die Eigenheitssphäre befindet sich innerhalb dessen, was im allgemeinen Sprachgebrauch vortheoretisch als Normalität bezeichnet wird. Was jenseits der Grenze der Ordnung der Normalität liegt, gilt nach Waldenfels als fremd. Damit sind Tod und Sterben dem Eigenen entzogen, denn sie entziehen sich unserer Erfahrung in dem Maße, wie sie nicht mehr als Teil der Geschichte benennbar sind, sie bleiben fremd: Jedes Subjekt, das diese Erfahrung gemacht hat, kann davon nicht mehr berichten. Zur Eigenheitssphäre gehört das Leben mit allen seinen Beziehungen. Diese entsprechen menschlichen Erfahrungen von Geburt an. Das Subjekt ist vom ersten Atemzug an bezogen auf und abhängig von anderen Menschen; die erste Bezugsperson ist in der Regel die Mutter. Tod und Sterben entziehen sich unserer Erfahrung. Der Kontakt, die Beziehung, reißt ab. Im Moment des Todes entzieht sich der bedeutsame Mensch der Eigenheitssphäre und wird zu etwas Fremden bzw. Fremdartigen. Und das, obwohl sich Geburt und Tod auch für Waldenfels nicht nur in einer Mitwelt abspielen, sondern immer auch den anderen widerfahren. „Geburt und Tod Anderer widerfahren uns unabhängig 1 Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1990, S. 59. 2 Ebd.

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davon, wie wir darauf antworten, beglückt, erschreckt, abwehrend, enttäuscht, schadenfroh oder – wie so oft – ambivalent.“3 Wie also bewältigt das Subjekt die Abwesenheit und die Nichtverfügbarkeit eines wichtigen Menschen?

3.  B  EWÄLTIGUNG DES FREMDEN DURCH TRAUERARBEIT Aufgabe der Bestattung und Kern pastoraler Arbeit ist die Begleitung von Trauernden im regressiven Moment einer Krise. Die Bestattung unterstützt die Trauerarbeit, die Menschen notwendig leisten müssen, um den Tod und damit die Abwesenheit eines bisher wichtigen Menschen in das eigene Leben zu integrieren. Die Art und Weise, wie das Individuum mit Verlust umgeht, wird bereits im Säuglingsalter angelegt. In der Theorie der Psychoanalytikerin Melanie Klein ist das Baby nach der Geburt noch ohne Wissen von seiner Umgebung. Der Säugling hält sich für einzigartig und allmächtig, weil er noch keine anderen Subjekte wahrgenommen hat. Auch die Mutterbrust, die ihn stillt, gehört in der Wahrnehmung des Säuglings zunächst zu ihm selbst. Hunger bedeutet für den Säugling nicht nur größtmögliches Unbehagen; weil er das Gefühl noch nicht einordnen kann, befindet sich der Säugling im Augenblick des Hungers in einer existenzbedrohenden Situation. Pure Panik befällt ihn. Der Säugling hat keinen Hunger, er ist Hunger. Die Mutter, dann endlich erschienen, stillt nicht nur den Hunger mit ihrer Milch, sondern nimmt im Kontakt und in ihrer Zuwendung auch die unerträglichen Gefühle des Kindes auf und gibt sie ihm verdaut – also verstanden und verstehbar – zurück. Der Säugling lernt mit der Zeit, dass es neben ihm auch noch andere gibt. Die Psychoanalyse spricht hier von Objekten, die mit dem Subjekt in Kontakt stehen und die das Subjekt als innere Objektrepräsentanzen in Abwesenheit der realen Objekte lebendig erhält: „Dem Konkretismus tiefer unbewußter Phantasien entsprechend, nimmt das Baby die Eltern, die es inkorporiert hat, als lebendige Menschen im Innern seines Körpers wahr – als ‚innere Objekte‘, wie ich [Melanie Klein, DS] sie genannt habe. So entwickelt sich das Unbewußte des Kindes eine innere Welt, die seinen realen Erfahrungen und den Eindrücken, die es von den Menschen und der äußeren Welt gewinnt, entspricht, zugleich aber durch seine eigenen Phantasien und Triebstrebungen verändert wird.“4 Der Säug3 Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie Psychoanalyse Phänomenotechnik, Frankfurt a. M. 2002, S. 444. 4 Klein, Melanie: Die Trauer und ihre Beziehung zu manisch-depressiven Zuständen, in: Dies.: Gesammelte Schriften, Band I, Teil 2. Schriften 1920–1945, hg. von Ruth Cycon, Stuttgart 1996, S. 165.

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ling erträgt die Abwesenheit der Mutter solange, wie er sie in seinem inneren Erleben lebendig erhalten kann. Donald Winnicott schlussfolgert zu der äußeren und inneren Realität einen dritten Bereich menschlichen Lebens, das „ist ein intermediärer Bereich von Erfahrungen, in den in gleicher Weise innere Realität und äußeres Leben einfließen. Es ist ein Bereich, der kaum in Frage gestellt wird, weil wir uns zumeist damit begnügen, ihn als eine Sphäre zu betrachten, in der das Individuum ausruhen darf vor der lebenslänglichen menschlichen Aufgabe, innere und äußere Realität voneinander getrennt und doch in wechselseitiger Verbindung zu halten.“5 Winnicott beobachtet, dass Kinder, um innere und äußere Realität in Einklang zu bringen, sich eines Übergangsobjektes bedienen. Ein Objekt, das zwar bereits da ist – etwa ein Teddybär –, das aber durch das Kind selbst geschaffen wird.6 Dieses Übergangsobjekt symbolisiert die abwesende Mutter und tröstet das Kind. „Das Wesentliche daran ist jedoch nicht so sehr der Symbolwert als vielmehr der tatsächliche Wert. Daß es, obwohl es real ist, nicht die Brust (oder die Mutter) ist – diese Tatsache ist ebenso wichtig, wie die andere, daß es die Brust (oder die Mutter) bedeutet.“7 Sigmund Freud beschreibt die Trauer als psychisch wichtigen Vorgang, um „alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem (verlorenen geliebten, DS) Objekt abzuziehen.“8 So werde schließlich die Realität anerkannt. Die Lösung vom Objekt ist allerdings schmerzhaft. „Er [der Auftrag der Trauer, DS] wird nun im Einzelnen unter großem Aufwand von Zeit und Besetzungsenergie durchgeführt und unterdes die Existenz des verlorenen Objektes psychisch fortgesetzt. Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, übersetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen.“9 Nichts Anderes ist gemeint, als dass die Liebe, die Menschen verbindet, kein Gegenüber mehr in der äußeren Realität hat. Sie läuft ins Leere. Beim Verlust des geliebten Objektes muss das Subjekt die libidinöse Energie vom äußeren Objekt abziehen. Gleichzeitig scheint damit das innere Objekt bedroht, ebenso zu sterben. Trauerarbeit heißt, dass das Subjekt durch den Schmerz des Verlustes hindurchgeht und mit der Realitätsprüfung annimmt, dass der reale Mensch ver5 Winnicott, Donald: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 71993, S. 11 (Hervorhebungen im Original). 6 Vgl. ebd., S. 13. 7 Ebd., S. 15. 8 Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie (1917 [1915]), in: Ders.: Psychologie des Unbewußten. Studienausgabe Band III, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt a. M. 92001, S. 193–212, hier S. 198. 9 Ebd., S. 199.

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storben ist, das innere Bild aber, die innere Repräsentanz, in Zukunft erhalten bleiben kann. Als gelingende Trauerarbeit gilt, wenn die innere Objektrepräsentanz überlebt. Freud beschreibt, dass die Trauer in die Melancholie (heute wohl das Krankheitsbild der Depression) übergeht, wenn dies nicht gelingt. Melanie Klein hat diesen Gedanken fortgeschrieben: „Als grundlegenden Unterschied zwischen der normalen Trauer einerseits und der anomalen Trauer und manisch-depressiven Zuständen andererseits betrachte ich folgendes Merkmal: Weder dem ManischDepressiven noch dem Menschen, der an der Trauerarbeit scheitert, ist es in der frühen Kindheit gelungen, seine inneren ‚guten‘ Objekte zu verankern und sich in seiner inneren Welt sicher zu fühlen – auch wenn ihre Abwehrmechanismen erheblich voneinander abweichen können. Sie haben die infantile depressive Position nie wirklich bewältigt. In der normalen Trauer hingegen wird die durch den Verlust des Liebesobjektes wiederbelebte frühe depressive Position erneut modifiziert und mit Hilfe ähnlicher Methoden bewältigt, wie sie das Ich auch in der Kindheit benutzt hat. Das Individuum stellt sein real verlorenes Liebesobjekt wieder her; gleichzeitig aber werden in seinem Innern auch die allerersten Liebesobjekte – letztendlich die guten Eltern – erneut verankert, die es mit dem realen Verlust ebenfalls zu verlieren fürchtet. Durch diese Wiederverankerung der ‚guten‘ Eltern sowie der real verlorenen Person und durch den Wiederaufbau seiner inneren Welt, die desintegriert war und in Gefahr schwebte, kann es seinen Gram überwinden, neue Sicherheit gewinnen und zu wirklicher Harmonie und innerer Ruhe finden.“10

4.  DIE DINGE: ARTEFAKT UND/ODER RELIQUIE? Nach den psychodynamischen Überlegungen nehmen wir nun die Funktion der Dinge in den Blick. In praktisch-theologischer Perspektive beschäftigt sich Sonja Beckmayer mit der Analyse von Artefakten. Artefakte sind zunächst einmal alle Dinge, die in irgendeiner Weise von Menschen hergestellt wurden. „Gebrauchsspuren an Gegenständen sind Ablagerungen des Gebrauchs und lassen sich analysieren.“11 Der Verwendung von Artefakten anlässlich der Kasualie Bestattung oder auch im weiteren Trauerprozess kommt eine besondere Bedeutung zu. Es geht dabei um 10 M. Klein: Die Trauer, S. 199. 11 Beckmayer, Sonja: Die Bibel als Buch. Eine artefaktorientierte Untersuchung zu Gebrauch und Bedeutung der Bibel als Gegenstand (Praktische Theologie heute Bd. 154), Stuttgart 2018, S. 73.

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die Logiken „des Anlasses (Gründe für die Existenz eines Artefaktes), der Produktion (Herstellungsarten), des Gebrauchs (Gebrauchsarten oder Zerstörung des Artfaktes) und der Sinnhaftigkeit (Bedeutungszuschreibung).“12 Mit dem Begriff der Reliquie werden zunächst schlicht körperliche Überreste besonderer Menschen bezeichnet.13 „Ihre Aufbewahrung und Verehrung wurzelt in mehreren […] weitverbreiteten Phänomenen: in der Verehrung der Ahnen bzw. ihrer Gräber und Erinnerungsstücke, im Glauben an ein Weiterleben des Toten, näherhin seine Präsenz im Grab, endlich in der Idee, daß für das postmortale Weiterleben die Gebeine zusammenbleiben müssen; […].“14, erklärt der katholische Kirchenhistoriker Arnold Angenendt. Im Christentum scheint sich diese Verehrung der Ahnen dann auf besondere Weise in eine Heiligenverehrung verschoben zu haben. Die Verehrung von Überresten war im frühen Christentum von geringem Interesse, da nach 1 Kor 15,40.44 Paulus bei der Auferstehung einen geistlichen Auferstehungsleib und das Vergehen des natürlichen Leibes predigte. Das leere Grab forcierte dann die Vorstellung einer Wiederauferstehung.15 Diese ging einher mit der „Auffassung, die Seele bleibe – aufgrund der bibl(ischen), ganzheitlichen Anthropologie – mit ihrem Leib in Verbindung, ja lasse in den Überbleibseln eine besondere Kraft (virtus) zurück, so daß R(eliquien) als ‚sakramental‘ galten: Sie garantieren Vergegenwärtigung des H(ei)l(ige)n auf Erden.“16 Da den Heiligen die Fähigkeit zu Wundertaten zugeschrieben wurde, haftete diese der Vorstellung nach auch deren sterblichen Überresten an. Die Kirchenhistorikerin Anneliese Felber sieht die Reliquienverehrung „auf dem Glauben [ge](gründet), daß diese Kräfte über das Grab hinaus dauerhaft wirksam sind, mit dem Ziel, dieser Macht oder des Segens teilhaftig zu werden […].“17 Mit der zunehmenden Individualisierung und der Abkehr von Institutionen kommt den Überbleibseln geliebter Menschen im Trauerprozess eine neue – oder eben eine alte – besondere Bedeutung zu. Diese säkulare Form der Reliquienkultes setzte in der Moderne ein: zum einen als Personenkult, der vor allem kommunistische Führer (Lenin, Stalin, Mao Ze Dong u. a.) als Ganzkörperreliquien bewahrte, zum anderen als Genie- bzw. Starkult.18 12 Ebd., S. 74. 13 Vgl. Angenendt, Arnold: Reliquien I. Allgemeiner Begriff. Abendland, in: Lexikon des Mittelalters Bd. 7 (2002), Sp. 702–704, hier Sp. 702; Felber, Anneliese: Art. Reliquie/ Reliquienverehrung I. Religionswissenschaftlich, in: RGG4 Bd. 7 (2004), Sp. 417. 14 A. Angenendt: Reliquien I, Sp. 702. 15 Vgl. ebd. 16 Ebd. 17 A. Felber: Reliquie/Reliquienverehrung I, Sp. 417. 18 Vgl. Mohr, Hubert: Art. Reliquien/Reliquienverehrung. II. Religionsgeschichtlich. 5. Moderner Personenkult, in. RGG4 Bd. 7 (2004), Sp. 425–426, hier Sp. 425.

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Wurden zunächst „die Körperrelikte der nationalen Gründerfiguren (neben ihren Denkmälern, Epitaphen und Grabmälern) […] zu Inkarnaten eines Heroenkults, der teils pagan-antike, teils christl. Züge aufnahm“19, so veränderte sich dies im 20. Jhd. hin zum Film-, Musik- oder Sportstar, „dessen Idolisierung einer ‚Fangemeinde‘ Sinn und Existenz verleiht.“20 Derzeit zeichnet sich hier jedoch eine Veränderung ab. Der Kult weitet sich aus auf das individuelle Verehren. Nicht die Gruppe – klammert man die Familie aus – teilt die Verehrung der Relikte, sondern dies spielt sich innerhalb der Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen Verehrendem und Verehrtem (in Abwesenheit) ab. Es sind nicht mehr die Reste der Heiligen, die bewahrt und verehrt werden. Es sind die Reste der persönlich zu einem Individuum in Beziehung stehenden verlorenen Person, denen eine besondere Bedeutung zufällt oder die ihnen bereits durch die Relevanz für das Individuum innewohnt. Für den Kulturwissenschaftler Stefan Laube zeichnen „Reliquien […] sich durch besondere Merkmale aus; neben der ihnen innewohnenden talismanischen Qualität war den Knochenpartikeln der Gedanke der Unsterblichkeit aufgeprägt. Gläubige heben Schädel und Knochen ihrer Vorfahren auf und verleihen den Verstorbenen dadurch über den Tod hinausgehende, gleichsam ewige Existenz – ein metaphysisches Potential, das sich ebenso dem Sammler und Besitzer einschreiben soll.“21 Dies kann man wohl auch von Erinnerungsdiamanten22 annehmen. Ob dies für alle Gegenstände gilt, die heute im Rahmen von Bestattungen auftauchen und Reliquiencharakter besitzen, bleibt zu überprüfen. Angenendt unterscheidet die Reliquien in Primärund Sekundärreliquien: Erstere sind die Körperreste, zweitere sind „alles, was der H(ei)l(ige) besessen, berührt oder besprochen hatte, desgleichen alles von seinem Grab, etwa der Staub von der Abdeckplatte oder das Öl der dort brennenden Lampen.“23 Der Religionswissenschaftler Wassilios Klein differenziert die zweite Kategorie nochmals: „Als Reliquie zweiten Grades gelten Kleidungsstücke oder Gebrauchsgegenstände der verehrten Person oder die Marterwerkzeuge, durch die sie das Martyrium erlitt. Der Wunsch, größeren Kreisen die Gnadengaben der Reliquie zukommen zu lassen, führte zu einer dritten Kategorie von Reliquien, nämlich Gegenständen, die mit der Reliquie in enge Berührung gebracht worden sind,

19 Ebd., Sp. 426. 20 Ebd. 21 Laube, Stefan: Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum. Berlin 2011, S. 145. 22 Benkel, Thorsten/Klie, Thomas/Meitzler, Matthias: Der Glanz des Lebens. Aschediamant und Erinnerungskörper, Göttingen 2019. 23 A. Angenendt: Reliquien I, Sp. 702.

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z. B. Öl, das über eine Reliquie fließt […].“24 Die bei Bestattungen auftauchenden Gegenstände lassen sich in diese Kategorien einordnen.

5.  GRABBEIGABEN Beigaben wurden in der Menschheitsgeschichte ins Grab mitgegeben, damit die Toten im jenseitigen Leben ihren Rang und ihre Stellung erhalten konnten.25 Dieser Gedanke scheint den Menschen der späten Moderne eher abwegig. Vielmehr ist anzunehmen, dass es sich bei der Grabbeigabe um eine Gabe zwischen zwei Parteien handelt, die im inneren Erleben bzw. im intermediären Bereich der Trauernden den Verstorbenen noch lebendig halten. Nach Marcel Mauss ist die Gabe kein Geschenk, sondern „Teil in einem System von Reziprozitäten von jeweils wechselnden Gebern und Empfängern.“26 Beteiligt an diesem System sind nicht nur aufeinander bezogene lebende Menschen, es können auch Tote (Ahnen) oder Götter sein.27 Die Gabe soll die „Beziehungen herstellen, stärken oder erhalten und damit Gemeinschaft bewirken.“28 Auch Grabbeigaben erfüllen – bewusst oder unbewusst – diesen Zweck. „Drei Aspekte sichern die Zirkulation: die Pflicht des Gebens, die des Nehmens und die des Erwiderns. Die Verweigerung einer dieser Verpflichtungen wird mit Sanktionen belegt und führt u. U. bis zum Abbruch der sozialen Beziehungen, zum Verlust der Teilhabe an der (Werte-)Gemeinschaft, denn das zirkulierende Gabensystem beschreibt den Akzeptanzbereich der verpflichtenden Normen.“29 So kann einerseits die Grabbeigabe als Erwiderung von zu Lebzeiten erhaltenden Gaben verstanden werden, die innerhalb der Reziprozität von Beziehungen die Gemeinschaft auch über den Tod hinaus aufrechtzuerhalten sucht. Andererseits könnte die Grabbei24 Klein, Wassilios: Art. Reliquie/Reliquienverehrung. I. Religionsgeschichtlich, in TRE 29 (1998), S. 67–69, hier S. 67. 25 Vgl. u. a. Prayon, Friedhelm: Die Etrusker. Jenseitsvorstellungen und Ahnenkult, Mainz am Rhein 2006, S. 31f. „Schon im Verlauf des 7. Jhs. v. Chr. traten die Kriegerbestattungen gegenüber ‚zivilen‘ zurück […] Naturalien als Beigaben sind nur noch selten anzutreffen, dafür umgibt sich der Tote weiterhin bevorzugt mit Gegenständen, die aus dem privaten Hausbereich stammen und einerseits zum Essen und Trinken dienten, andererseits zum persönlichen Wohlbefinden mitgegeben wurden […].“ 26 Mürmel, Heinz: Art. Gabe. I. Religionswissenschaftlich, in: RGG4 Bd. 3 (2000), Sp. 445. 27 Vgl. ebd. 28 Ebd. 29 Ebd.

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gabe auch der Besänftigung dienen. „Die taonga [materielle und ideelle Güter, DS] sind, zumindest in den Vorstellungen der Maori sehr eng mit der Person, dem Clan, dem Boden verknüpft; sie sind Träger ihres mana, ihrer magischen, religiösen und geistigen Kraft.“30 Das Mana können und die virtus der Reliquien können religionskulturell durchaus analog verstanden werden. Das hau im folgenden Zitat ist der Geist der Sachen, insbesondere des Waldes und des darin lebenden Wilds.31 Marcel Mauss lässt einen Maori-Juristen zu Wort kommen, der den Zusammenhang von hau und taonga erläutert: „[…] Das hau ist nicht der Wind, der bläst. Ganz und gar nicht. Stellen Sie sich vor, Sie besitzen einen bestimmten Gegenstand (taonga) und geben ihn mir; Sie geben ihn mir ohne festgesetzten Preis. Wir handeln nicht darum. Nun gebe ich den Gegenstand einem Dritten, der nach einer gewissen Zeit beschließt, irgend etwas [sic] als Zahlung dafür zu geben […], er schenkt mir irgendetwas [sic] […]. Und dieses taonga, das er mir gibt, ist der Geist (hau) des taonga, das ich von Ihnen bekommen habe. Die taonga, die ich für die anderen taonga (die von Ihnen kommen) erhalten habe, muß ich Ihnen zurückgeben. Es wäre nicht recht […] von mir, diese taonga für mich zu behalten, ob sie nun begehrenswert […] oder unangenehm […] sind. Ich muss sie Ihnen geben, denn sie sind ein hau des taonga, das Sie mir gegeben haben. Wenn ich das zweite taonga für mich behalten würde, könnte mir Böses daraus entstehen, ganz bestimmt, sogar der Tod.“32 Dieser Gedanke ist für den Umgang mit den Habseligkeiten eines Verstorbenen insofern von Bedeutung, als eine Antwort gefunden werden muss auf die Frage, warum sich Trauernde von den einen Gegenständen leichter als von anderen trennen können.

6.  DREI BEISPIELE AUS DER PASTORALEN PRAXIS Die „Dinge“ unterstützen die Trauerarbeit. Sie öffnen einen intermediären Raum, der zwischen innerer und äußerer Realität zu vermitteln hilft – zumindest gilt dies für die folgenden drei Beispiele, die mir besonders präsent geblieben sind. 6.1  Mutters Kochlöffel Beim Trauergespräch zum Tod einer 99-Jährigen wird viel davon erzählt, wie beschwerlich das Leben der Verstorbenen war: Verlust der ersten beiden Kinder 30 Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1968, S. 31 (Hervorhebungen im Original). 31 Vgl. ebd., S. 32. 32 Ebd., S. 32f. (Klammern im Original).

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während des Zweiten Weltkrieges, die Ehe „gescheitert“ – so das Narrativ; viel Arbeit ohne materiellen Wohlstand. Daneben leuchtet immer wieder das Motiv des Kochens auf. Die Verstorbene hatte in einer Großküche gearbeitet und den Kindern immer etwas mitbringen können. Zuhause hat sie dann selbst noch „den Kochlöffel geschwungen“. Die Angehörigen äußern darum den Wunsch, ein Symbol bei der Trauerfeier einzusetzen: Sie denken an den hölzernen Kochlöffel, mit dem die Verstorbene immer für die Familie kochte. Dieser war vor allem vom Anbraten der Rouladen ganz mitgenommen und verkohlt, wird erzählt. Das Problem ist, dass dieser Löffel bereits beim Umzug der Mutter ins Altenheim entsorgt wurde. Trotzdem kann ich ihn mir gut vorstellen: Vergilbt und speckig durch den jahrelangen Gebrauch in Fettdünsten, ganz glatt gerieben, in sich verdreht, weil er mal zu lange im Wasser lag, dazu an den Rändern schwarze Stellen, wo ihn die Hitze der Pfanne oder der Herdplatte versengte. Nun ist die Idee der Familie, für die Trauerfeier einen neuen Kochlöffel ins Spiel zu bringen. Sie haben diesen bereits beim Trauergespräch dabei. Er ist auch aus Holz, aber ohne jede Gebrauchsspur, fast weiß, und seine Oberfläche noch rau. Diesen wollen sie bei der Trauerfeier durch die Reihen wandern lassen, damit jeder Trauergast den Kochlöffel in die Hand nimmt und ihm einen guten Wunsch zuspricht. Der Kochlöffel soll danach ins Grab gegeben werden. Der Kochlöffel an sich ist ein eher ambivalentes Symbol. Der Anlass, die Gründe für sein Vorhandensein, liegen in der offenkundigen Art seines Gebrauchs, dem Kochen.33 Es verwundert nicht, dass einer Frau, die während des Ersten Weltkrieges geboren wurde, das traditionelle Rollenbild einer Frau und Mutter zugeschrieben wird, die sich um Haushalt und Kindererziehung zu kümmern hatte. Kochen gehört damit zu ihren Hauptaufgaben. Der intendierte symbolische Gebrauch bei der Trauerfeier und der anschließenden Beisetzung gibt dem Löffel einen neuen Sinn. Er steht für die Mutterliebe, die sich in der Versorgung ihrer Kinder zeigte. Die Mutterliebe ermöglichte den Kindern allerdings noch mehr. So weist Donald Winnicott mit Recht darauf hin, dass „die Liebe der Mutter […] nicht nur das Eingehen auf die Bedürfnisse nach Abhängigkeit (ist); sie erhält darüber hinaus die Bedeutung, diesem Kind […] die Möglichkeit zu verschaffen, aus der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit zu ge-

33 Neben der offenkundigen gibt es jedoch noch eine zweite, gerade in dieser Generation verbreitete Art des Gebrauchs, nämlich zur Züchtigung. (Wie auch die Zweckentfremdung von Gürteln, Linealen u. ä.) Dies wird seitens der Angehörigen allerdings nicht thematisiert und wird daher auch hier nicht weiterverfolgt.

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langen.“34 Winnicott spricht hier von einem potential space, einem potentiellen Raum, der dem Kind das Wachstum und die Progression ermögliche. 35 Zwei Dinge fallen auf: Erstens soll dem Löffel etwas zugesprochen werden, obwohl doch die Urne vor aller Augen steht. Möglicherweise wird hier der neue Löffel, indem er durch den Zuspruch guter Wünsche durch die Trauergemeinde gesegnet, „gut gesagt“ wird, für die Trauergemeinde selbst zu einer Reliquie zweiter Klasse, zumindest zu einem Symbol der Reziprozität. Als reziproke Gabe (M. Mauss) folgt er der Verstorbenen ins Grab. Und zweitens ist „Mutters orginaler Kochlöffel“ verloren gegangen. Der neue Löffel ist ein beliebiges Artefakt, dem über den häuslichen Gebrauch (noch) keine besondere Bedeutung beigemessen werden kann. Die besondere hermeneutische Herausforderung ist nun, dass der Signifikant „neuer Löffel“ nicht eindeutig auf das Signifikat „Mutters Löffel“ hinweist. Schließlich symbolisiert „Mutters Löffel“ nicht die abwesende Mutter, sondern die über den Tod hinauswirkende Verbundenheit der Mutterliebe, die sich zu Lebzeiten im Kochen (Nähren) der Kinder ereignete. Auch für die Angehörigen sollte es schwierig scheinen, diese Gefühle einem fabrikneuen Artefakt entgegenzubringen. Im konkreten Fall wurde das Problem so gelöst, dass noch eine alte Backform der Mutter aufgetrieben werden konnte, die nicht sofort wie der Löffel entsorgt worden war. Diese, ebenfalls eine Reliquie zweiter Klasse, wurde bei der Trauerfeier auf dem Rand der Kanzel zur Schau gestellt. Die Predigt ging dann auf die Koch- und Backkünste der Verstorbenen ein: „Hier vorn steht die alte Backform von N.N.. Viele hundert Mal ist sie im Ofen gewesen. Viele hundert Mal hat Ihre Mutter, Tante und Großmutter in der Küche gestanden, um für Sie zu backen und zu kochen. Der Form sieht man es an. Sie ist verbrannt, verbogen, hat Dellen. Auf dem Flohmarkt würde man wohl nicht viel dafür bekommen. Und doch ist diese Form unendlich wertvoll. Mit ihr hat N.N. ihrer Liebe eine Form gegeben. Jeder Kuchen, der hier langsam aufging, war in Form gegossene Liebe.“ Den neuen Löffel in der Hand, erklärte ich den Verlust des Originals und legte den neuen dann in die Backform. Mit dem Berühren, „luden“ wir den neuen Löffel symbolisch „auf“, damit er zum doppelten Symbolträger werden konnte: zum Signifikat

34 D. Winnicott: Spiel, S. 125. 35 Vgl. ebd., S. 124f: „Nach der völligen Verschmelzung mit der Mutter tritt das Kleinkind in eine Phase, in der es die Mutter vom eigenen Selbst trennt und in der die Mutter das Ausmaß ihrer Anpassung an die Bedürfnisse des Kindes einschränkt, um sich selbst nach weitestgehender Identifizierung mit dem Kind wiederzufinden und weil sie auf das veränderte Bedürfnis des Kindes, sie jetzt als unabhängiges Wesen zu erleben, eingeht.“

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„Mutters Löffel“ und damit zum Symbol der liebenden Mutter. Gleichzeitig wurde der neue Löffel zu einer Reliquie dritten Grades. Nach der Predigt leitete ich dann das Wandern des Löffels folgendermaßen ein: „N.N.s Lieblingswerkzeug war der Kochlöffel. Sie hatte damals einen alten, der schon ganz verbrannt war vom Anbraten z. B. der Rouladen. Mit dem hat sie sicher auch den einen oder anderen Teig angerührt. Den gibt es nicht mehr. Aber dieser Kochlöffel [Gestus des Zeigens] soll gleich stellvertretend durch die Reihen wandern. Frau R. wünscht, dass Sie ihn kurz in die Hand nehmen und an N.N. denken. Nachher werden wir ihn mit ins Grab geben.“ Der Löffel, ob neu oder nicht, hält während der Trauerfeier das Erinnern lebendig, muss danach aber nicht als Reliquie behalten und verehrt, sondern kann ins Grab gegeben werden. Hier wiederholt sich „spielerisch“ der Ablösungsprozess der Kinder von der Mutter. Die Trauernden werden leben und benötigen dafür den Löffel nicht mehr. Im Grab ist er gut aufgehoben. 6.2  Die Holzscheite Erst Monate nach der Beisetzung des Ehemannes lernte ich die Witwe kennen. Der Mann war an einer geplatzten Arterie innerlich verblutet. Zeit zur Verabschiedung oder Vorbereitung auf den Tod blieben nicht. Bei meiner Ankunft am Haus am Waldrand fallen mir die Mengen an Holz auf, die an Garagen- und Hauswand gestapelt und im Garten gelagert sind. Ich bin zum Abendbrot bei ihr eingeladen. Im Gespräch erzählt sie mir, dass das Haus nun, da ihr Mann verstorben und die Kinder aus dem Haus sind, für sie zu groß geworden sei. Sie überlegt, das Haus zu verkaufen und trennt sich nach und nach von seinen Kleidungsstücken und anderen Habseligkeiten. Als ich sie auf die unzähligen Kubikmeter Holz anspreche, erzählt sie, dass diese von ihrem Mann über Jahre bei seinen täglichen Waldspaziergängen gesammelt wurden. Er brachte stets einen Arm voll Totholz mit, das er dann zu Holzscheiten verarbeitete. Das Holz war durch die Bearbeitung zu einem Artefakt geworden (eine Reliquie zweiter Klasse?). Nachbarn hätten ihr schon angeboten, das Holz zu kaufen. Doch obwohl sie sich ohne weiteres von den Kleidungsstücken ihres Mannes habe trennen können, kann sie dies beim Holz nicht. Diese Hinterlassenschaft kann sie nicht abgeben. Vermutlich spielen hier Mechanismen von Gabe und Tausch eine Rolle. Anders als die vielen Kleidungsstücke, die dem Mann zwar gehörten, ist das hinterlassene Holz in besonderer Art und Weise durch seine Berührung (und seinen Schweiß) mit virtus (mana/Kraft) aufgeladen. Im Grunde kann sie diese Gabe nicht weitergeben, ohne den Erlös an den Mann zurückzugeben. Möglicherweise rührt daher ihr Unbehagen oder die Unfähigkeit, sich von den Holzstapeln zu

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trennen. Andererseits sitzt sie nun allabendlich allein in Erinnerung versunken in ihrem Wohnzimmer und verbrennt einen Scheit nach dem anderen im Kaminofen. Damit erfüllt sie den Zweck der Holzscheite. Sie zerstört damit zwar die Reliquien, fühlt sich aber bei dieser Metamorphose ihrem Mann nah, der sie über seinen Tod hinaus noch immer zu wärmen imstande ist. 6.3  Luftballons bei einer Kinderbeerdigung Ein vier Monate alter Säugling starb nachts. Unklar blieb, ob der Junge an einem angeborenen Herzfehler oder am plötzlichen Kindstod verstarb. Zu dieser Trauerfeier wurde ich erst spät hinzugezogen. Die Mutter war in Sachsen ohne kirchlichen Bezug aufgewachsen, wollte sich aber, wie ich dann erfuhr, anlässlich der Taufe des Säuglings, die bereits im Heimatort der Mutter angemeldet war, ebenfalls taufen lassen. Nach der ersten Wut auf einen Gott, der Kinder sterben lässt, sollte zunächst eine weltliche Beisetzung stattfinden. Die Gefühlslage bei den Eltern war diffus. Im direkten Kontakt trugen sie eine Fröhlichkeit zur Schau, die nicht so recht zu passen schien: „Wir wollen es dem Kleinen noch einmal richtig schön machen!“, war der Wunsch der Eltern. Hier war eine Menge Druck zu spüren. Ich nehme an, dass Schuldgefühle das Selbstbild stark infrage stellten, weil die Eltern sich vermeintlich an ihrer Aufgabe gescheitert sahen. So musste der Familie, Freunden und der Öffentlichkeit „bewiesen“ werden, dass sie der Aufgabe, gute Eltern zu sein, doch gewachsen waren. Und so sollte die Trauerfeier – eher unbewusst – einem Kindergeburtstag gleichen. Die Trauergäste wurden gebeten, in fröhlichen Farben zu erscheinen. Einige brachten auch kleine Geschenke wie Stofftiere36 mit. Eine Leichtigkeit war gewünscht, die der Kasus jedoch nicht einhalten konnte. Beim Betreten der Trauerhalle erhielten die Trauergäste einen handelsüblichen Luftballon am Band, der mit Helium gefüllt war. Während der Trauerfeier sollten die Ballons mit guten Wünschen bedacht werden. Dies ähnelt dem Umgang mit dem Kochlöffel im ersten Beispiel, war dann aber doch ganz anders gelagert. Das bloße Artefakt „Luftballon“ musste erst ideell aufgeladen werden, um es bei der Bestattung nutzen zu können. Die Ballons werden durch die guten Wünsche (Segen) zu Begleitern und (Seelen-?)Trägern auf dem Weg in den Himmel. Sie wurden nicht dem Grab beigegeben, sondern nach dem Erdwurf am Grab steigen 36 Diese Gaben der Trauergäste entstammen vermutlich auch dem System der Reziprozität, das sich in diesem Freundeskreis junger Eltern etabliert hatte. Auf den gemeinsamen fröhlichen Kindergeburtstagen in der Vergangenheit hatten die Eltern des verstorbenen Säuglings bereits die Kinder der Trauergäste beschenkt. Auf diese Gaben musste hier nun etwas folgen.

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gelassen. Die Mutter, die bis dahin kaum in Kontakt mit der Urne war, ließ ihren Ballon los, blickte ihm hinterher und sagte „Tschüß!“. Es schien, als würde ihr Kind nun durch den Ballon nach oben getragen. Dabei störte auch nicht, dass der Wind einige Ballons direkt in einen nahestehenden Baum trieb. Der Ballon der Mutter stieg auf. Und mit ihm – mental für die Mutter – auch das Kind. Im „Tschüß“ der Mutter vollzieht sich für sie der Abschied dieser Bestattung. „Rituale von Begrüßung und Abschied rühren an Geburt und Tod, falls man sie nicht auf bloße Formeln und leere Gesten reduziert, die man automatisch vollzieht.“37 Wenn wir im Weggehen heute automatisch Tschüß sagen, dann bleibt von dem ursprünglichen adieu (latein. ad Deum – [ich befehle dich] Gott) nur wenig übrig von seiner Bezogenheit auf den Tod. Auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass die Mutter sich dessen bewusst war, vollzieht sich hier rituell der Abschied von ihrem Kind. Der Luftballon, dem sie hinterherblickt, symbolisiert nur indirekt das Kind, vielmehr steht er für die Unverfügbarkeit von etwas, das man, hat man es einmal losgelassen, nicht wieder in Besitz nehmen kann. Indem sie den Luftballon in der äußeren Realität loslässt, kommt sie im intermediären Raum in Kontakt mit der inneren Realität, dass sie ihren Sohn loslassen muss. Sie schaut dem Ballon lange nach, wie er dem Wind ausgesetzt, mal hierhin mal dorthin geweht wird, schließlich aber an Höhe gewinnt und bald nicht mehr zu erkennen ist. Ich sehe, wie bei ihr still die Tränen fließen. Im Hinterherblicken reinszeniert sich das Himmelfahrtsgeschehen (Apg 1,10f.): „Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, siehe, da standen bei ihnen zwei Männer in weißen Gewändern. Die sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht gen Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen.“ Möglicherweise wäre dies ein angemessenes Votum am Grab gewesen, um den Trost über den Tod hinaus, der auch in diesem Loslassen steckt, den Eltern zuzusprechen.

7.  PASTORALER UMGANG MIT TRAUERARTEFAKTEN Gegenstände wie ein Kochlöffel sind zuallererst Symbole und keine Übergangsobjekte im eigentlichen Sinn. Sie können allerdings die Funktion eines Übergangsobjekts erlangen, insofern sie dazu dienen, das innere Objekt des Verstorbenen lebendig zu halten. Gerade in den letzten Tagen und Wochen eines Lebens bedeutet der Sterbeprozess für die Angehörigen großen Stress, wenn sie den Verfall des geliebten Menschen beobachten. Dieser Stress gründet im drohenden Verlust wie im Bewusstwerden der eigenen Vergänglichkeit. Der Kochlöffel erhält die Funk37 Bernhard Waldenfels in einer E-Mail-Korrespondenz im Oktober 2019.

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tion eines Übergangsobjekts, weil er einen intermediären Bereich aufschließt, an dem alle trauernden Familienangehörigen teilnehmen. Sie werden an die Zeit erinnert, als Mutter noch gesund und zugewandt war. Mit dem Kochlöffel wird das Bild von Mutter in Erinnerung gerufen (lebendig erhalten), das als inneres Objekt in Zukunft weiterleben soll. Allen Reliquien ist zu eigen, dass sie diesen intermediären Bereich öffnen, der zwischen der erlebten äußeren Realität und der dazu korrespondierenden inneren Realität vermittelt und so hilft, Kontingenz zu bewältigen. Reliquiar und Reliquie halten das innere Objekt „Reich Gottes“ bzw. den Glauben an das Reich Gottes lebendig. Von sakralen Reliquien wird erwartet, dass sie die gleichen Wunder vollbringen können, wie der Heilige, zu dem sie gehören. Auch diese Wunder sind Zeichen auf das Reich Gottes hin. In ihnen wird die Fremdheitserfahrung bewältigt, dass Christus präsent und zugleich entzogen ist. Oder um es mit Waldenfels zu sagen: „Das postmortale Leben dauert fort in einem Raum von Abschied und Erinnerung.“38 Im Auftauchen von Dingen, die als Reliquien klassifiziert werden könnten, zeigt sich auch der Versuch, das je individuelle Leben des Verstorbenen und die individuellen Lebensdeutungen der Hinterbliebenen bei einer Kasualie sicherzustellen. Denn „die Einbettung von Geburt und Tod in Erwartungs- und Erinnerungshorizonte findet […] ihre Grenze in der Singularität des Anderen.“39Anscheinend wird es kirchlichen Trauerfeiern immer weniger zugetraut, diese Singularität40, also die Einzigartigkeit jedes Menschen, angemessen zu würdigen. „Gedenktage […] verlören ihre Bedeutung, wenn es bei Geburt und Tod nur um In- und Outputdaten ginge. Tatsachen wollen berücksichtigt sein, sie lassen sich nicht feiern. Rituale, die auch bei Geburt und Tod auftreten, bewegen sich auf dem schmalen Grad einer Normalisierung des Nicht-Normalisierbaren; nimmt die Normalisierung überhand, so entleeren sich die Rituale.“41 Möglicherweise ist 38 B. Waldenfels: Bruchlinien, S. 444 (Hervorhebungen im Original). 39 Ebd., S. 445 (Hervorhebungen im Original). 40 Ebd., S. 446: „Die Singularität taucht […] auf im Abschied vom Sterbenden, in der Trauer um Verstorbene und in der Erinnerung an sie. Die Nachgeschichte hat eine Bestimmtheit, die der Vorgeschichte abgeht; das gilt selbst noch für den Leichnam. Dennoch gibt es auch hier Unerinnerbares in der Erinnerung, nämlich die Abwesenheit, die sich nicht darauf reduziert, daß jemand oder etwas nicht in der Welt existiert. Wer seine eigenen Eltern, sein eigenes Kind oder seinen eigenen Freund verloren hat, hat ein Stück von sich selbst verloren; ebendeshalb wendet sich das, was Freud Trauerarbeit nennt, nach innen und bleibt nicht bei einem äußeren, mehr oder weniger ersetzbaren Verlust stehen.“ (Hervorhebungen im Original). 41 Ebd. (Hervorhebungen im Original).

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hier ein Grund für den Rückgang kirchlicher Bestattungen im urbanen Raum zu finden.42 Ein Nebeneffekt des Rückgangs und eine Konsequenz für die pastorale Arbeit: Ich nehme mir in den letzten Jahren deutlich mehr Zeit für die Trauergespräche, um zu verstehen und den Angehörigen verstehen zu helfen, was der Verstorbene für sie war.

42 Ich benenne hier eine subjektive Erfahrung aus dem Kirchenkreis Hamburg-Ost.

Hinterhergeworfen. Ein Blick ins offene Grab Dirk Battermann

Als ich vor gut 15 Jahren im Jahr 2004 mit meiner Arbeit als Trauerredner begann, musste ich mir zunächst einmal eine eigene Agende erarbeiten, weil es eine solche für weltliche Rednerinnen und Redner nicht gibt. So kam ich auch zunächst nicht auf die Idee, dass Angehörige den Wunsch haben könnten, den Gestorbenen etwas mit auf den Weg zu geben. Diese Erfahrung machte ich erst im Verlauf meiner Arbeit. Heute gebe ich allerdings den Hinterbleibenden immer öfter den Rat, den Gestorbenen etwas mitzugeben. Der Kreativität sind da keine Grenzen gesetzt. Was dem Abschiednehmen dient, soll auch praktiziert werden. Folgende Beispiele sollen dies verdeutlichen. Sie decken eine ganze Palette von Artefakten ab, die bei den von mir geleiteten Trauerfeiern als Grabbeigaben fungierten. Kuscheltiere

Auf einer meiner ersten Trauerfeiern setzte ich einen jungen Mann bei, der gerade einmal 29 Jahre alt geworden war. Sein Freund, der viel älter als er war, war ein Jahr zuvor an AIDS gestorben. Der junge Mann hatte seine Medikation einfach abgesetzt, weil er seinem gestorbenen Freund folgen wollte. Es wurde nur eine kleine Trauerfeier, die Mutter, die Schwester und ich. Die Schwester hatte einen großen Rucksack dabei, was mich wunderte. Aber am Grab offenbarte sich der Inhalt: Sie holte ihren blauen Teddy heraus und stopfte ihn zu ihrem Bruder ins Urnengrab. Ihre Mutter meinte bloß „Dein Lieblingsteddy!“ Darauf antwortete ihre Tochter: „Ich brauche ihn nicht mehr. Thomas1 braucht ihn jetzt viel mehr.“ Mich beeindruckte diese Geste damals sehr, und in mir kam die Idee auf, die Hinterbleibenden auch von mir aus im Trauergespräch zu ermuntern, den Gestorbenen Grabbeigaben mitzugeben.

1 Name geändert.

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Spielkarten

Im Vorgespräch mit den Hinterbleibenden erfahre ich regelmäßig, womit die Gestorbenen sich am liebsten beschäftigten. Neulich erzählten mir die sechs Kinder ihrer gestorbenen Mutter, dass ihre Mutter, die fast 93 Jahre alt geworden war, bis zum Schluss gern mit ihren Kindern Rommé spielte. Die Trauerfeier sollte besonders werden2, und ich wies die Kinder darauf hin, dass sie doch die Spielkarten ihrer Mutter mit ins Grab geben könnten. So brachten sie am Tag der Trauerfeier das Blatt ihrer Mutter mit und legten die Karten wie ein aufgefächertes Blatt in die Sandschale für den Erdwurf. Nachdem ich als erster Erde und eine Karte geworfen hatte, traten die Kinder vor, warfen aber nicht einfach nur eine Karte hinterher, sondern suchten sich diejenige Karte aus, zu der sie etwas zu sagen hatten. Ein Sohn warf seine Mutter einen Joker mit den Worten hinterher, dass diese Karte die Lieblingskarte seiner Mutter war. Während eines anderen Gespräches erzählte mir der Sohn, dass seine Mutter täglich zum Skat „kloppen“ in ihre Lieblingskneipe ging. Wenn die anderen sich als Gewinner oder Gewinnerin fühlten, sagte sie bloß: „Nüschte is jewesen“ und gewann dann oft in letzter Minute. Oder auch nicht. Auf alle Fälle warf ihr Sohn seiner Mutter ihr gesamtes Skatspiel hinterher. Alkohol am Grab

In einem anderen Trauergespräch fuhr ich zu den Töchtern, deren Mutter gestorben war. Das erste, was sie mir erzählten, war, dass ihre Mutter ein eher langweiliges Leben geführt hatte. Es stellte sich heraus, dass der Vater im Jahr zuvor gestorben war und der Redner zur Vorbereitung der Trauerfeier gesagt hatte: „Jetzt müssen Sie aber mal ein bisschen was erzählen, damit ich meine 15 Minuten für die Rede voll bekomme.“ Dieses Mal war also ich gebucht. Während des Gesprächs erzählten mir die Töchter, dass die Mutter zum ersten Mal wieder gelacht habe, als sie an der Ostsee waren und einen „Mann un Fru“3 tranken. Sie brachten aus dem Urlaub eine Flasche mit, konnten ihn mit der Mutter aber nicht mehr trinken, da sie vorher starb. Deswegen wollten sie den Schnaps am offenen Grab ihrer Mutter ausschenken, worin ich sie bestätigte. Nach dem Erdwurf goss ich den Trauernden einen Schnaps ein, und wir stießen auf das Wohl der gestorbenen Mutter und ihr Lachen im Urlaub an. Ich goss meinen Schnaps dann ins Grab. Auf einer anderen Trauerfeier hatte die Gestorbene eine Agentur für Künstlerinnen und Künstler geführt. Sie und ihr Mann führten ein feudales Leben, hat2 Dieser Wunsch wird von den Hinterbleibenden fast immer geäußert. Und traurig soll sie auch nicht sein. 3 „Wat trink wie nu? Mann un Fru.“ Mit diesem Trinkspruch wurde der Lehmenter Aquavit berühmt. Vgl. www.keilerladen.de/lehment.html (Zugriff 30.09.2019).

Hinterhergeworfen. Ein Blick ins offene Grab | 235

ten aber keine Familie mehr. So kümmerten sich die Freunde um die Trauerfeier. Während des Gesprächs erzählte mir einer der hinterbleibenden Freunde, der zugleich der Hausarzt der Gestorbenen war, dass die Gestorbene einmal ganz entsetzt bei ihm anrief. Er befürchtete, es sei etwas Furchtbares geschehen, was es in den Augen der Gestorbenen auch war: Es war kein Champagner mehr im Haus. So musste er schleunigst welchen besorgen und vorbeibringen. Nach meinem Erdwurf trat er ans Grab, öffnete mit lautem Knall eine Flasche des Lieblingschampagners der Gestorbenen und schüttete ihn ins offene Grab. Für eine ordnungsbehördliche Bestattung organisierten die Fußballfreunde und -freundinnen eines Gestorbenen, alle Hertha-BSC-Fans, die Trauerfeier für ihren „Kumpel“. Es gab entweder keine Familie mehr oder diese kümmerte sich nicht um den Trauerfall. Jedenfalls übernahm die Gruppe der Hertha-Fans die zusätzlich anfallenden Kosten für mich als Redner. Ohne dass wir es abgesprochen hatten, brachten die Freunde viele „Kümmerlinge“4 mit, die sie am Grab verteilten. Und ein Fußballfreund goss seinem Kumpel einen „Flachmann“ mit den Worten hinterher: „Wir steigen wieder auf.“ Zu der Zeit befand Hertha sich in der Zweiten Liga, stieg dann aber eine Saison später wieder auf. Lebensmittel

Eine Gestorbene aß besonders gern saure Gurken, und der Sohn brachte seiner Mutter zur Trauerfeier eine ihrer Lieblingsgurken mit. Stein

Ein Sohn gab am Grab seines gestorbenen Vaters einen Stein durch die Reihe der Trauergäste. Er bat sie, dass jeder diesen Stein einmal berühren und ihm einen Wunsch mit auf den Weg geben solle. Diesen Stein hatte der Vater aus einem gemeinsamen Urlaub in der Südsee mitgebracht. Nachdem alle Trauernden ihre Wünsche und Gedanken dem Stein mit auf den Weg gegeben hatten, nahm der Sohn den Stein in die Hand, kniete sich vor das Grab und warf seinem Vater den Stein hinterher. Zigarette

Der Freund der Enkelin des gestorbenen Opas war beim Hausbesuch zum Vorgespräch mit anwesend. Er mochte den Opa seiner Freundin sehr. Während des Gesprächs erzählte die Witwe, dass ihr Mann mit dem Rauchen fast aufgehört hatte, sie ihm aber vier Zigaretten pro Tag noch gestattete. Kam der junge Mann, der ebenfalls rauchte, vorbei, musste er öfter mit dem Opa in den Hobbykeller, 4  Dies ist der Markenname für einen Kräuterlikör aus der Gruppe der Halbbitter mit 35 % vol. Alkohol.

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weil er ihm dort etwas zeigen musste. Dort schnorrte der Opa dann jedes Mal eine Zigarette von dem jungen Mann. Natürlich wussten das alle anderen auch, gönnten aber dem Opa sein Geheimnis und die zusätzlich ergatterte Zigarette. Ich fragte dann beim Trauergespräch den Freund, ob er dem Opa nicht eine Zigarette mitgeben wolle. Er stimmte dem zu, brachte diese seine letzte Gabe in einer bestimmten Form zum Ausdruck. Damit es nicht alle sahen, hatte er die Zigarette im Blumenladen mit einem schwarzen Band an eine Rose binden lassen. Alle anderen Trauergäste gaben auch eine Rose mit, allerdings ohne Zigarette. Tierasche

Unlängst hielt ich die Trauerfeier für die einzige Tochter eines Elternpaares. Es gab keine weiteren Angehörigen. Die Tochter wurde im Anschluss an die Trauerfeier kremiert und sollte zu einem späteren Zeitpunkt offiziell beigesetzt werden. Nun starb auch die Mutter, und ich wurde gebeten, auch diese Trauerfeier zu übernehmen. Während des Hausbesuches erzählte mir der Witwer, dass die Asche seiner Tochter bei ihm zuhause sei. Sie stand auf einem Tisch mit vielen Bildern geschmückt. Mittlerweile waren auch die beiden Hunde der Tochter gestorben, um die sich die Eltern nach dem Tod ihrer Tochter gekümmert hatten. Mit der Urne der Tochter standen auch die kleineren Urnen ihrer mittlerweile ebenfalls gestorbenen Hunde auf dem Tisch. Einige Wochen nach der Beisetzung seiner Frau rief mich der Witwer und Vater an, um seine eigene Trauerfeier mit mir besprechen. Wir besprachen seine beiden Trauerfeiern. Es sollte zuerst eine Sargfeier für die Freundinnen und Freunden in Berlin geben, anschließend möchte er kremiert und beigesetzt werden. Bei der zweiten Trauerfeier auf dem Friedhof in seiner Geburtsstadt wollte er dann gemeinsam mit der Asche seiner Frau, der Asche ihrer gemeinsamen Tochter und der Asche ihrer Hunde beigesetzt werden. Sammelleidenschaft

Eine Gestorbene sammelte Elefanten in allen Größen und Formen. Als ich den Witwer und die Tochter fragte, ob sie ihrer Frau und Mutter nicht einen kleinen Elefanten mitgeben wollten, nahmen sie dies als einen angemessenen Gestaltungsanlass auf. Sie spannten aber den Gedanken noch weiter, packten alle Elefanten der Toten ein, gaben der Mutter einen Elefanten mit ins Grab und baten die Trauergäste, dass sich doch alle nach dem Erdwurf einen Elefanten als Erinnerungsartefakt mitnehmen möchten.

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Rosenkranz

Vor kurzem entdeckte meine evangelische Schwiegermutter den Rosenkranz ihrer 1958 gestorbenen Großmutter, die zum Katholizismus konvertiert war. Sie bat mich, ihn auf ihrem Grab mit zu vergraben. Gesangbuch

Die Tage führte ich eine weltliche Trauerfeier durch. Anschließend warf die Tochter der Gestorbenen das Gesangbuch ihrer Mutter hinterher. Dieses Gesangbuch hatte ihre Mutter zu ihrer Konfirmation geschenkt bekommen und durch ihr Leben begleitet. Im Vorgespräch hatten wir darüber nicht gesprochen; es war auch kein einziges christliches Motiv für die Trauerfeier gewünscht worden. Gesungen wurde auf der Trauerfeier nicht; das Gesangbuch blieb die stumme Zeugin einer vergangenen protestantischen Liedkultur. Post

Häufig kommt es vor, dass Briefe für den Opa geschrieben, Bilder für die Oma gemalt und Fotos in Briefumschlägen mitgegeben werden. Ein letzter Gruß in Papierform; Nichtgesagtes bzw. Nichtsagbares wird der posthumen Lektüre anheimgegeben. Werkzeug

Ohne mein Hinzutun gab die Tochter ihrem Vater Hanf mit ins Grab. Er war Installateur, und der ganze Keller war voll mit Hanffasern, die zum Abdichten von Leitungen genutzt werden. Die Dichtungsfasern sollten an den Beruf ihres Vaters erinnern. Schmuck

Oft wird den Gestorbenen ihr Ehering mit auf den letzten Weg gegeben, meistens schon zur Kremierung. Aber oft wird noch einmal die Urne geöffnet und der Ehering dort platziert. Diesem funeralen Schmuckbegehren entspricht auch die Praxis, dass Särge und Urnen neuerdings auch mit Schmucksteinen verziert sind. Ungeachtet dieser Beispiele, mit denen ich in meiner Praxis als weltlichem Redner gehäuft konfrontiert bin, verbietet es das Friedhofsgesetz im Land Berlin, den Sarg vor der Trauerfeier in der Trauerhalle noch einmal zu öffnen5. Doch die funerale Praxis zeigt sich heute latent widerständig. So ließ ein Witwer den Sarg 5 § 14 Abs. 1 Satz 2 Gesetz über das Leichen- und Bestattungswesen (Bestattungsgesetz) in der Fassung vom 02. November 1973: „Das Öffnen oder das Offenlassen des Sarges während der Bestattungsfeierlichkeiten ist verboten.“

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seines Mannes noch einmal öffnen. Er hatte eine große Einkaufstasche dabei und gab seinem Mann eine Flasche seines Lieblingsrotweins, sein Parfüm, das Buch, das er noch nicht zu Ende gelesen hatte, und weitere Dinge mit auf seine letzte Reise. – Besonders faszinierend finde ich das Grab von Loriot6. Er starb bereits 2011 im Alter von 87 Jahren und liegt in Berlin gegraben. Sein Grabstein wurde damals mit „Quietschenten“ geschmückt7. Die Friedhofsmitarbeitenden meinten, dass diese irgendwann von selbst verschwinden würden. Ich komme mit meinen Trauerzügen immer wieder einmal an seinem Grab vorbei. Im September 2019 befanden sich ungezählte Quietscheenten brav auf seinem Grabstein aufgereiht.

6 Sein bürgerlicher Name lautet Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow. 7 www.bing.com/images/search?view=detailV2&ccid=9FJ5tVQ4&id=118D6B512 08C3E287921EE4DB50EA64A7D525DF7&thid=OIP.9FJ5tVQ40VOYMVMMnGGx1gHaE4&mediaurl=http%3A%2F%2Fwww.stadt-brandenburg.de%2Fuploads%2Fpics%2FIMG_7762.JPG&exph=527&expw=800&q=loriot+grab&simid=607986455655680140&selectedindex=3&ajaxhist=0&vt=0&sim=11 30.09.2019).

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V. Fazit

Die Toten und die Dinge Beobachtungen zur funerale8 Manuel Stetter

1.  EINFÜHRUNG Die achte funerale lenkt den Blick auf die materielle Dimension der Bestattungspraxis. Sie greift damit ein Thema auf, das in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit geraumer Zeit intensiv diskutiert wird und über verschiedene Disziplinen hinweg zu einer neuen Aufmerksamkeit auf die Welt der Dinge, Artefakte, Techniken oder Substanzen geführt hat.1 Die protestantische Kasualienforschung ist von diesem material turn bis dato kaum nachhaltiger beeinflusst worden. Die Ausrichtung der Tagung gewinnt vor diesem Hintergrund nochmals eigens an Relevanz und behaftet die praktisch-theologische Erkundung der Bestattung mit Nachdruck darauf, die „Objekte“ in ihre „Berichte eingehen“ zu lassen, mit ihnen also zu rechnen und sie zum analysierbaren Datum zu machen.2 Wenn die Beiträge der Tagung im Horizont des Reliquienbegriffs nach den Dingen, die bleiben, fragen, dann ist freilich nicht die Materialität des Sepulchralen überhaupt im Blick, sondern ein Fokus gesetzt, der ganz bestimmte funerale Artefakte anvisiert: Den Vorträgen war es um Dinge zu tun, die sich durch eine 1 Vgl. exemplarisch Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 22014; Samida, Stefanie/Eggert, Manfred K.H./Hahn, Hans Peter (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2014; Kalthoff, Herbert/ Cress, Torsten/Röhl, Tobias (Hg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn 2016 sowie im Blick auf den Bereich des Funeralen die einschlägige Studie von Elizabeth Hallam und Jenny Hockey: Dies.: Death, Memory and Material Culture, Oxford 2001. 2 So mit Bruno Latour formuliert. Vgl. Ders.: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S. 136.

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spezifische Verweisstruktur auf die Verstorbenen auszeichnen und im Rahmen der Bestattung sowie postfuneraler Trauerpraktiken einen Umgang erfahren, der sie – allgemein gesprochen – in irgendeiner Form besondert. Es gehörte dabei zum besonderen Reiz der Tagung, dass den Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht nur ein reiches Spektrum an Materialbeispielen präsentiert wurde; auch die Zugänge zum Thema nahmen sich pluriform aus: Empirische Analysen wechselten sich mit historischen Detailstudien ab; in angenehmer Selbstverständlichkeit knüpften soziologische, praktisch-theologische und kulturwissenschaftliche Reflexionsstränge ein interdisziplinäres Perspektivennetz; rechtliche Fragen wurden thematisch, konfessionelle Horizonte aufgerufen; und nicht zuletzt in den Diskussionen kamen auch konkrete Problemlagen aus der Praxis zur Sprache. Vor diesem Hintergrund kann der Anspruch der folgenden Überlegungen nur ein bescheidener bleiben. Ziel ist es nicht, die Beiträge und Diskurse der Tagung zu bündeln, geschweige denn angemessen zu resümieren. Vielmehr sollen einige Beobachtungen umrissen und hier und da manche der Gesprächsfäden auch probeweise ein Stück weitergeführt werden. Die Anmerkungen – die genrebedingt notwendig selektiv bleiben müssen und immer auch Reflexe subjektiver Wahrnehmungseindrücke sowie eigener Forschungsinteressen darstellen3 – umfassen fünf Themenkreise: Sie widmen sich dem methodologischen Rang des Reliquienbegriffs (2); sie vollziehen die Heterogenität des durch ihn indizierten Feldes nach (3); sie reflektieren auf die Konstitution der Dinge, die bleiben (4) sowie ihre Karrieren (5) und fragen zuletzt nach den Bezugsproblemen, die in den Praktiken, in die diese Artefakte involviert sind, eine Bearbeitung erfahren (6).

2.  F ORSCHUNGSOPTIK: DER RELIQUIENBEGRIFF ALS EXPLORATIVES TOOL Mit dem Titel der Tagung wurde der Begriff der Reliquie prominent platziert. Tatsächlich reichte der Rekurs auf das Reliquienkonzept über einen rhetorischen Kunstgriff weit hinaus. Fragt man nach der genaueren Funktion, die einem historisch so gesättigten Begriff im Rahmen der Erforschung aktueller Sepulchralkultur zukommen kann, wies die thematische Einleitung von Thomas Klie einen instruktiven Weg.4 Verstanden als „Interpretament“ dient das Aufgreifen des Reliquienkonzepts jedenfalls nicht dazu, bestimmte Phänomene unter diese Kategorie 3 Die folgenden Beobachtungen und Anmerkungen basieren wesentlich auf den Eindrücken der Tagung selber; die schriftlichen Ausarbeitungen der Vorträge wurden dafür nicht nochmals ausführlicher herangezogen. 4 Vgl. den Einführungsbeitrag von Thomas Klie in diesem Band.

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einfach zu subsumieren oder gemäß der Logik eines hypothesentestenden Verfahrens schlichtweg die Behauptung zu bewähren, dass auch unter spätmodernen Bedingungen im Umfeld der Bestattung Reliquienkulte vollzogen werden. Vielmehr lässt sich über den Begriff der Reliquie eine Forschungsoptik gewinnen, in der Facetten des funeralen Feldes auffällig werden können, die der Beobachtung ohne dieses Vokabular möglicherweise verborgen bleiben und in der sich auch bereits gewonnene Daten nochmals in einer neuen und überraschenden Weise zu zeigen vermögen. Der Reliquienbegriff wäre so besehen also eher ein „sensibilisierendes Konzept“ im Sinne von Herbert Blumer, denn eine definierende Kategorie.5 Dabei gibt er der empirischen Erkundung von Sterben, Tod und Trauer ein heuristisches Instrument und analytisches Tool an die Hand, das gerade auch im Rahmen einer dezidiert experimentellen Forschungshaltung eingesetzt werden kann. So verspricht das Reliquienvokabular, analytische Funken auch dort zu schlagen, wo die mit ihm aufgerufenen historischen Phänomene zunächst einmal eher abständig und disparat erscheinen. Über das Konzept der Reliquie lassen sich dann etwa „explorative Vergleiche“ organisieren und Befremdungsstrategien verfolgen, durch die die Situationen und Praktiken aktueller Bestattungskultur eine erkenntnisproduktive Neubeschreibung erfahren und jenseits offensichtlicher Gleichartigkeiten mittels Kontrastierung auf latente, leicht übersehene Dimensionen hin durchsichtig gemacht werden können.6 Der Rekurs auf den Reliquienbegriff ließe sich demnach als eine Suchbewegung beschreiben, die dezidiert auf Entdeckungen abzielt: auf neue Beobachtungen und frische Analysen.

3.  K  ONKRETIONEN: DIE ENTDECKUNG EINES HETEROGENEN FELDES Die Phänomene, die zu einem Experimentieren mit dem Reliquienkonzept Anlass geben bzw. durch seine explorative Ingebrauchnahme allererst sichtbar gemacht werden, sind vielfältig. Den Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Tagung wurde 5 Vgl. Blumer, Herbert: What is Wrong with Social Theory?, in: American Sociological Review 19 (1954), S. 3–10. 6 Zur Strategie des explorativen Vergleichens vgl. Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012, S. 99–129; zur Befremdung als Leitverfahren einer ethnographischen Erforschung der eigenen Kultur vgl. Amann, Klaus/Hirschauer, Stefan: Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm, in: Dens: Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, hg. v. Dens., Frankfurt a. M. 1997, S. 7–52.

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über die zehn Vorträge hinweg eine Fülle verschiedener Objekte präsentiert: Kuscheltiere in Weckgläsern, Aschediamanten, sog. Mama-Papa-Puppen, eine Bibel am Sterbebett, Urnen im Wohnbereich, ein Weinglas der Princess of Wales, fotographische Portraits, ein Zigarettenstummel. Die Liste ließe sich leicht erweitern. Dabei fällt schon in einer ersten Annäherung an diese reichhaltige Welt der funeralen Artefakte eine Reihe markanter Differenzen auf. So sind die Artefakte in ganz unterschiedliche materielle Umwelten eingebettet. Ihre räumliche „(An)Ordnung“7 variiert beträchtlich: Sie bilden Ensembles mit Grabmälern auf dem Friedhof; sie gehen mit Sarg, Kerze, Blumenkranz und anderen „Ritualdingen“8 in die Formation von Trauerfeiern ein; sie werden als mobile Accessoires am Körper getragen. Was für die Materialitätsforschung generell gilt, gilt also auch hier: Die Kontextuierung der Artefakte, ihre jeweiligen Arrangements und situationsspezifischen Konstellationen sind zu analysieren – und diese nehmen sich offensichtlich auch im Kontext des Sepulchralen sehr divers aus. Die aufgerufenen Beispiele weichen ferner hinsichtlich ihrer physischen Eigenschaften und Qualitäten9 voneinander ab. Dass solche Divergenzen keineswegs trivial sind, hat Matthias Meitzler am Beispiel von Asche und Leichnam vorgeführt: Die spezifische Stofflichkeit und Form eines Gegenstandes bestimmt den Spielraum seiner Ingebrauchnahmen und möglicher Anschlusshandlungen je mit.10 Materialitätstheoretisch wäre hier auf den Begriff der Affordanz zu verweisen, mit dem die Dinge auf ihre „Gebrauchsgewährleistungen“ befragbar werden und die Analyse auf „das Zusammenspiel und das Zusammenwirken von Teilnehmerinnen und Artefakten in Praktiken“ behaftet wird, womit die „dichotomen Gegenüberstellungen von (handelndem) Subjekt und (passivem) Objekt sowie von geistig-kognitivem Erkennen und körperlichem Handeln“ erodieren.11 Einfach ge7 Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 92017, passim. 8 Bräunlein, Peter J.: Ritualdinge, in: S. Samida/M. K. H. Eggert/H. P. Hahn (Hg.): Handbuch, S. 245–248. 9 Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias: Einleitung. Materialität in Kultur und Gesellschaft, in: Dies. (Hg.): Materialität, S. 11–41, hier S. 13 (Hervorhebung M.S.). 10 Vgl. den Beitrag von Matthias Meitzler in diesem Band. 11 Vgl. R. Schmidt: Soziologie der Praktiken, S. 62–69, hier S. 66. Der Begriff der affordances geht auf Gibson, James J.: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung, München u. a. 1982 zurück. Zu verwandten Konzepten wie dem des Aufforderungscharakters der Dinge vgl. etwa Meyer-Drawe, Käte: Herausforderung durch die Dinge. Das Andere im Bildungsprozeß, in: Zeitschrift für Pädagogik 45 (1999), S. 329–336. Dass mit den Affordanzen keine Festlegungen praktischer Vollzüge gemeint sind, sondern ein Spektrum an vielseitigen Einflussnahmen aufgerufen ist, das es je empirisch herauszuarbeiten gilt, bringt Bruno Latour in Form

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sagt: Ein Aschediamant ist klein und hart und dadurch hochgradig mobilisierbar; wer seine alltäglichen Geschäfte dagegen mit einem Weinglas verrichtete, würde wohl nicht nur irritierte Blicke auf sich ziehen, sondern wäre auch auf Grund von dessen Größe und Zerbrechlichkeit praktisch enorm eingeschränkt. Nicht zuletzt divergieren die Artefakte auch in dem, was sie eigentlich eint: in ihrem Bezug auf die Toten: Mal ist dieser Bezug durch direkte physische Kontinuität bestimmt (die Asche in der Zimmerurne); mal verläuft er über lebensweltlichen Gebrauch und Berührung (das Kuscheltier); mal vermittelt er sich über ein fotographisches Portrait.12 Wenngleich natürlich ganz im Sinne des Reliquienbegriffs kann dabei dennoch auffallen, dass in allen diesen Fällen der Bezug zum Verstorbenen stets über seinen Körper verläuft: ob im Sinne eines körperlichen Relikts, einer körperlichen Berührung oder eines körperlichen Abbilds. Es ist nicht zuletzt diese Überblendung von Körper und Ding, die das Reliquienkonzept zu einer so spannenden Suchformel für die Funeralforschung macht. Deutlich ist: Wer sich durch diese Suchformel zu einer Sondierung der Zusammenhänge um Sterben, Tod und Trauer anregen lässt, wird mit einer reichen, heterogenen materiellen Kultur konfrontiert. Und eine Stärke der Tagung war sicherlich, dass diese Vielgestaltigkeit dem Publikum auch vor Augen gestellt worden ist, dass in allen Beiträgen ein deutlicher Zug aufs Konkrete, den plastischen Einzelfall, das Besondere wahrzunehmen war. Die Erforschung der materiellen Komponenten der Bestattungspraxis bedarf solcher qualitativen, auf die Spezifik der Situationen orientierten, bestenfalls noch sehr viel stärker ethnographisch angelegten Erkundungsgänge.

4.  KONSTITUTION: „RELIQUIEN“ ALS PRAXIS Es ist offensichtlich, dass ein bestimmtes Verhältnis zu den Toten einen Gegenstand noch nicht hinreichend als „Reliquie“ zu qualifizieren vermag. Für gewöhnlich gibt es viele Fotographien der Verstorbenen, eine Fülle von Objekten, mit einer offenen Liste konzis zum Ausdruck: „Außer zu ‚determinieren‘ und als bloßer ‚Hintergrund für menschliches Handeln‘ zu dienen, können Dinge vielleicht ermächtigen, ermöglichen, anbieten, ermutigen, erlauben, nahelegen, beeinflussen, verhindern, autorisieren, ausschließen und so fort“ (B. Latour: Eine neue Soziologie, S. 124). 12 Die Differenzierung zwischen Primär- und Sekundärreliquien ist ein Topos auch der klassischen Reliquienforschung. Vgl. dazu exemplarisch Angenendt, Arnold: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, Hamburg 22007, S. 156. Zu bildlichen Repräsentationen im Kontext der Reliquienverehrung vgl. a. a. O., S. 183–189.

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denen sie in Berührung waren, bestehen diverse Wege, mit physischen Relikten umzugehen. Insofern muss es nicht überraschen, dass die Frage nach der Konstitution der Dinge, die bleiben im Verlauf der Tagung immer wieder angeklungen ist: Was macht ein Artefakt zur „Reliquie“?13 Fragt man so, liegen konstruktivistische Intuitionen nahe. Entsprechend hat Thorsten Benkel mit Nachdruck auf die Zuschreibungslogik verwiesen, auf deren Grundlage eine analytische Beschäftigung mit Phänomenen, wie sie die Tagung in den Blick nahm, bestenfalls erfolge.14 Die Bedeutung haftet einem Ding nicht substanziell an; sie wird ihm im Rahmen unterschiedlicher Kontexte beigemessen. Oder pointierter formuliert: Es gibt keine sakralen Objekte; es gibt nur sakralisierte Objekte. In empirischer Hinsicht sind damit die spannenden Fragen freilich allererst aufgeworfen: Wie nehmen sich solche Sakralisierungsprozesse konkret aus? Wie sind die Situationen beschaffen, in denen Dingen eine besondere Bedeutung zu Teil wird? Welche Komponenten gehen in sie in welcher Form ein – Diskurse, Institutionen, Körper, Techniken, Architekturen, Medien, Artefakte etc.? Und welche Verschiebungen erfahren die Attribuierungszusammenhänge im historischen Verlauf? Um in Fragen wie diesen zu Antworten zu gelangen, scheint mir selbst ein praxeologisch inspirierter Zugriff instruktiv. Demnach wären die betreffenden Artefakte als „Partizipanden“15 situierter und miteinander verketteter Praktiken zu 13 Die Frage nach besonderen Dingen und ihrer Hervorbringung ist ein Topos der Reflexion auf materielle Kulturen und nicht zuletzt mit dem Diskurs um Sakralität resp. Sakralisierung verbunden. Vgl. etwa Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003 oder Beck, Andrea/Herbers, Klaus/Nehring, Andreas (Hg.): Heilige und geheiligte Dinge. Formen und Funktionen, Stuttgart 2017. Zur Diskussion um das Verhältnis von Sakralisierung und Besonderung vgl. Evans, Matthew T.: The Sacred. Differentiating, Clarifying and Extending Concepts, in: Review of Religious Research 45 (2003), S. 32–47 sowie auch den Beitrag von Christian Bauer in diesem Band. 14 Vgl. den Beitrag von Thorsten Benkel in diesem Band. 15 Hirschauer, Stefan: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns, in: Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 73–91. Der Partizipationsbegriff ist kritisch gegen die einseitig an der Idee der Handlung orientiert bleibende Konzeptionierung des Materiellen im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie gewendet. Vgl. dazu analog auch in: Kissmann, Ulrike Tikvah/van Loon, Joost (Hg.): Discussing New Materialism. Methodological Implications for the Study of Materialities, Wiesbaden 2019, S. 135–149, bes. S. 142. Zu praxistheoretischen Thematisierungen der Dinge vgl. des

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analysieren, in deren Vollzugszusammenhängen sie allererst ihre je spezifische Kontur erlangen. Ein solcher Zugriff hätte den Vorteil, die Zuschreibungsprozesse nicht exklusiv als verbale Akte ansetzen zu müssen. Sosehr schon die klassischen Reliquien in eine Reihe diskursiver Praktiken involviert sind, sowenig würde eine analytische Privilegierung sprachlicher Komponenten der Vielfalt des Umgangs mit Reliquien gerecht.16 Des Weiteren ließe sich auf Basis praxistheoretischer Überlegungen eine Untersuchungsperspektive etablieren, in der die Konstitution von „Reliquien“ nicht von vorneherein auf ein bewusst und intentional agierendes, über die Dinge frei und autonom verfügendes Subjekt zurückgeführt werden muss. Ihre Hervorbringung könnte heuristisch komplexer angelegt werden: eben im verwickelten Horizont eines Sets von Praktiken, in denen Körper mit ihren Sinnen und Dinge mit ihren Affordanzen einbezogen sind. Die Praxistheorie verspricht somit eine deutlich höher auflösende Optik auf Prozesse der Sakralisierung als weithin geläufige Versionen des Konstruktivismus. Ihr feines und symmetrisches Sensorium für die Heterogenität der Praktikenkomponenten führt jedenfalls zu verwickelteren Beschreibungen der Reliquienkonstruktion als einseitig über ein „Bild des Individuums als Macher und Erzeuger“ organisierte Deutungen.17 Zugleich zeigen sich praxeologische Zugänge aber auch empirieoffener als manche Spielarten des New Materialism, in denen die Fragen der agency auf ontologischer Ebene zu klären versucht werden, ohne den Wirkweisen der Dinge in den je spezifischen Praxiskomplexen nachzuspüren.18

Weiteren exemplarisch Hillebrandt, Frank: Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2014, S. 76–87; Schatzki, Theodore: Materialität und soziales Leben, in: H. Kalthoff/T. Cress/T. Röhl (Hg.): Materialität, S. 63–88; Scheffer, Thomas: Neue Materialismen, praxeologisch, in: BEHEMOTH 10 (2017), S. 92–106 sowie dezidiert mit Blick auf religiöse Phänomene Cress, Torsten: Sakrotope. Studien zur materiellen Dimension religiöser Praktiken, Bielefeld 2019. 16 Zu Berichten, hagiographischen Schreiben, Authentiken, Inschriften auf Reliquiaren und anderen diskursiven Elementen im Umfeld der Reliquienverehrung vgl. die Beiträge von Stefan Laube und Thies Jarecki in diesem Band sowie etwa Röckelein, Hedwig: Die „Hüllen der Heiligen“. Zur Materialität des hagiografischen Mediums, in: Reudenbach, Bruno/Toussaint, Gia (Hg.): Reliquiare im Mittelalter, Berlin 2005, S. 75–88. 17 Vgl. zu diesem Verständnis des Konstruktivismus und seiner Kritik Knorr Cetina, Karin: Theoretischer Konstruktivismus. Über die Einnistung von Wissensstrukturen in soziale Strukturen, in: Kalthoff, Herbert/Hirschauer, Stefan/Lindemann, Gesa (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 22015, S. 35–78, hier S. 36. 18 Vgl. dazu ausführlich Th. Scheffer, Neue Materialismen; R. Schmidt, Materiality.

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Fragt man nach den konkreten Vollzügen, an denen die funeralen Artefakte im Licht des Reliquienbegriffs partizipieren, sind über die Tagungsbeiträge hinweg verstreut immer wieder diverse Einzelhinweise gefallen, so dass sich dem Beobachter auch hier ein heterogenes Feld zeigt, das der weiteren Erforschung und nuancierten Analyse bedarf. Wie unter Punkt 2 schon angedeutet, wurde etwa auf Praktiken der Anordnung verwiesen; Dinge werden durch Einbau in bestimmte räumliche Arrangements besondert. Bedeutsam erscheinen ferner Praktiken der Adressierung; Artefakte finden sich in kommunikative Handlungen verwickelt, in denen sie personengleich angeredet werden. Des Weiteren wurden Praktiken des Betastens und inszenatorische Akte der Sichtbarmachung und Verbergung thematisiert; analog den klassischen Reliquienkulten scheinen auch die aktuellen materiellen Kulturen des Sepulchralen durch ein feines Spiel der Sinne ausgezeichnet, in dem Artefakte durch taktil-haptische Prozesse und Sehpraktiken sakral aktiviert werden. In diesem Zusammenhang gibt die Reliquienforschung über ihre Analysen der Reliquiare einen anregenden Reflexionshintergrund, sind es doch gerade die „Hüllen“19 der Reliquien, die sie in das Sinnenspiel einbeziehen, sie für es aufbereiten, drapieren, es antreiben, organisieren und selbst vollführen. Die Beobachtung und Analyse der aktuellen Phänomene gewinnt von hierher ein interessantes Sehinstrument: Es lenkt den Blick auf entsprechende Einfassungen, Umbauten, Medien, die die Bilder, Objekte oder Ascheüberreste der Toten bestimmten Wahrnehmungen anbieten resp. entziehen und lässt danach fragen, welche Rolle diese „Agenten der Sinne“ in der Konstitution der „Reliquien“ einnehmen.

5.  A RTEFAKTKARRIEREN: DIE DESAKRALISIERUNG DER DINGE Ein konstruktivistisch-praxeologischer Zugriff schärft den Blick für Prozesse der Deskralisierung. Mit ihm geht der Gedanke einher, dass „Reliquien“ auch wieder zu „bloßen“ Dingen „unter vielen“ werden können. Damit ist ein Gesichtspunkt angesprochen, der in der kulturwissenschaftlichen Materialitätsforschung etabliert und ausgiebig bedacht ist: Objekte durchlaufen Karrieren; sie besitzen eine Biographie.20 19 Vgl. H. Röckelein: Die „Hüllen der Heiligen“, zudem Toussaint, Gia: Kreuz und Knochen. Reliquien zur Zeit der Kreuzzüge, Berlin 2011, S. 39–43. 20 Das Konzept der Objektbiographie geht auf Igor Kopytoff zurück. In seinem berühmt gewordenen Aufsatz The cultural biography of things entfaltete er es primär am Beispiel der Kommodifizierung von Dingen, wobei er auch auf Prozesse der Singularisierung und Sakralisierung eingeht. Vgl. Ders.: The cultural biography of things.

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Interessanterweise begleitete diese Thematik die Diskussion der Vorträge von Beginn an – häufig verbunden mit dem Begriff der Entsorgung. Dinge, die bleiben, scheinen sich ganz offensichtlich auch wieder in Dinge verwandeln können, die gehen: die „weg“ müssen, die außer Reichweite gebracht, verborgen, entfernt werden, die ihre Bedeutung verändern oder verlieren. Und wenn im Rahmen der Diskussion bemerkt worden ist, dass es in historischer Hinsicht wohl nur schwer vorstellbar gewesen sei, dass Reliquien ihr sakraler Status auch wieder abhandenkommen konnte, so scheinen die Phänomene, die die Funeralforschung aktuell interessieren, gerade in diesem Punkt anders gelagert zu sein. Zumindest wäre genauer zu erkunden, ob sich Bedeutsamkeitszuschreibungen in den Zusammenhängen spätmoderner Bestattungskultur nicht nochmals spielerischer, zeitlich unverbindlicher und instabiler ausnehmen, ob man womöglich von Interimsreliquien sprechen müsste und sich die Prozesse der Sakralisierung, Desakralisierung und Resakralisierung funeraler Artefakte verwischter, unschärfer und überlagerter darstellen. In jedem Fall ist es m.E. äußerst fruchtbar, auch die Dinge, die sich in der Optik des Reliquienbegriffs funeral zeigen, methodisch konsequent zu temporalisieren. Sie sind als Prozess, in ihrer physischen Produktion, ihrer Gebrauchsgeschichte, ihren Ortsverlagerungen und Rekontextualisierungen etc. zu erforschen. Erforderlich wird damit ein mobiler Beobachterstandpunkt, der den Dingen nach dem Modell einer multi-sited ethnography21 durch die Praktiken, an denen sie partizipieren, hindurch zu folgen vermag und sie verteilt über verschiedene Zeiten und Orte hinweg untersucht. Auch wenn sich damit sicherlich keine lückenlosen Objektbiographien erstellen lassen, versprechen solche „transsequentiellen Analysen“22 doch, ausgewählte Passagepunkte aufzuhellen, an denen die Artefakte als commodization as process, in: Appadurai, Arjun (Hg.): The social life of things: Commodities in cultural perspective, Cambridge 1986, S. 64–91; vgl. dazu ferner Henning, Nina: Objektbiographien, in: S. Samida/M. K. H. Eggert/H. P. Hahn (Hg.): Handbuch, S. 234–237. 21 Einschlägig dazu Marcus, George E.: Ethnography in/of the World System. The Emergence of Multi-Site Ethnography, in: Annual Review of Anthropology 24 (1995), S. 95–117. 22 Verschiedentlich hat Thomas Scheffer eine transsequentielle, Situationen und Prozesse analytisch verkoppelnde Heuristik für die empirische Praktikenforschung eingefordert und dabei gerade auch die materielle Dimension des Sozialen einbezogen. Vgl. Ders.: Die trans-sequentielle Analyse – und ihre formativen Objekte, in: Hörster, Reinhard/ Köngeter, Stefan/Müller, Burkhard (Hg.): Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge, Wiesbaden 2013, S. 89–114; Ders.: Zug um Zug und Schritt für Schritt. Annäherungen an eine transsequentielle Analytik, in: H. Kalthoff/S. Hirschauer/G. Lin-

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dynamische, formbare Entitäten ausgewiesen werden können, die die Praktiken, in welche sie involviert sind, ihrerseits zugleich formieren.

6.  B EZUGSPROBLEME: DIE AMBIGUITÄT(EN) DER TOTEN Im Hinblick auf die Auswertung qualitativer Daten gibt die Frage nach den Bezugsproblemen, für die die erhobenen Praktiken eine Lösung darstellen, häufig eine produktive Erkenntnisstrategie.23 Fragt man in dieser Weise nach den Bezugsproblemen, die eine Bearbeitung erfahren, wenn sich jemand einen Aschediamanten anfertigen lässt oder ein Erinnerungsbildchen mit sich trägt, also im Sinne der Tagung in Reliquienpraktiken involviert ist, dann wird man vermutlich nicht das eine, auf alle Situationen und Phänomene passende Masterproblem abduktiv erschließen können. Was in den Vorträgen aber doch wiederholt angeklungen ist, sind beispielsweise Probleme der Präsenz: Wie erlangt die Abwesende Gegenwart? Oder Probleme der Relation: Wie bleibe ich in Kontakt mit dem von mir Getrennten? Oder Probleme der Person: Wie kann ich in einem Ding einen verstorbenen Menschen sehen? Vor diesem Hintergrund ist es nicht uninteressant, dass die von Thorsten Benkel unter dem Begriff der „Parasozialität“ beschriebenen Praktiken, alle drei Probleme sozusagen in einem bearbeiten.24 Am Beispiel der Adressierungsvollzüge formuliert: Indem im Umgang mit dem Diamanten der Tote in einen Kommunikationsakt verwickelt wird, wird er als personales Gegenüber konstituiert, als Abwesender lebensweltlich präsent gemacht, und in Beziehung mit der Sprecherin gebracht. Sollte sich eine solche Annäherung auch im Rahmen detailgenauer Analysen als tragfähig erweisen, böten die von den Beiträgen aufgerufenen Beispiele demann (Hg.): Theoretische Empirie, S. 35–78 sowie auch Ders.: Neue Materialismen. Zur Fruchtbarkeit dieser Perspektive für die Kasualienforschung vgl. Stetter, Manuel: Praktiken ritueller Präparation. Das Taufgespräch in liturgischer Perspektive (im Erscheinen). 23 Die Frage nach den Bezugsproblemen einer Praxis wurde insbesondere im Rahmen der Konversationsanalyse geprägt. Vgl. dazu etwa Bergmann, Jörg R: Konversationsanalyse, in: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/ Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 132019, S. 524–537, 532f. sowie auch Dellwing, Michael/Prus, Robert, Einführung in die interaktionistische Ethnografie. Soziologie im Außendienst, Wiesbaden 2012, S. 47–50. 24 Vgl. den Beitrag von Thorsten Benkel in diesem Band.

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Lösungen für Probleme, wie sie ähnlich auch in anderen Zusammenhängen und Formationen des Umgangs mit den Toten bearbeitet werden: im klinischen Kontext25, in Praktiken des virtual bereavement26 oder im Bestatterhandeln.27 Und wie hier werden die Verstorbenen auch in der Praxis mit Aschediamanten oder Erinnerungsbildchen als eigentümliche „Schwellenwesen“ enaktiert, bei denen die vermeintlich klaren Trennungslinien zwischen Ding und Person (und Körper), Abwesenheit und Anwesenheit, Separation und Beziehung sowie Leben und Tod gewissermaßen zu „schlingern“ beginnen.28 In der Tat fügen sich die im Rahmen 25 Vgl. etwa Streckeisen, Ursula: Der ganz gewöhnliche Tod. Professionelle Strategien rund um das Lebensende, Bern 1995, S. 17–134. So heißt es z. B. im Blick auf das Herrichten der Verstorbenen: „Schwestern [fühlen] sich mit jenen Praktiken ‚eins‘ […] die den Verstorbenen als eine ‚Person‘ behandeln, sei es der Immer-noch-Patient oder der Beinahe-Tote. […] Demgegenüber distanzieren sich die Schwestern von jenen Praktiken, die den Verstorbenen entpersonifizieren“ (ebd., S. 99). 26 Vgl. etwa Walter, Tony: The pervasive dead, in: Mortality 24 (2019), S. 389–404. Für Walter sind es gerade die diskursiven Adressierungspraktiken, die nicht über, sondern mit den Toten kommunizieren, die online zu einer Grundform des Umgangs mit den Verstorbenen avanciert sind und sie nach dem Modell der continuing bonds als aktuelle BeziehungspartnerInnen lebensweltlich präsent halten. Zum Hintergrund des in der Trauerforschung diskutierten Konzepts der continuing bonds vgl. einschlägig Klass, Dennis/Silverman, Phyllis R./ Nickman, Steven L. (Hg.): Continuing Bonds. New Understandings of Grief, New York/London 1996. 27 Aus dem Zusammenhang meines eigenen Projekts Reanimationen/Deanimationen. Der funerale Umgang mit den Toten in der religionspluralen Gesellschaft, das genauerhin danach fragt, was im Umgang mit den Verstorbenen aus ihnen gemacht wird, und u. a. teilnehmende Beobachtungen in Bestattungsunternehmen einschließt, ließ sich eine Reihe von Fallbeispielen beibringen, in denen z. B. im Rahmen von Abholungen, in Situationen der thanatopraktischen Versorgung oder in Trauerfeiern Praktiken sichtbar gemacht werden können, in deren Medium die aus ihrem lebensweltlichen Umfeld und sozialkommunikativen Raum zunehmend Ausgegliederten simultan Vergegenwärtigungen erfahren, als Personen rekonfiguriert werden und zu TeilnehmerInnen einer Beziehung avancieren. 28 Vgl. U. Streckeisen: Tod, S. 87. In diesem liminalen Status berühren sich die Toten mit anderen Entitäten „auf der Grenze“ wie Embryonen etwa oder Komapatienten, weshalb sich der qualitativen Praktikenforschung hier sehr aufschlussreiche Vergleiche anbieten (vgl. Hirschauer, Stefan/Heimerl, Birgit/Hoffmann, Anika/Hofmann, Peter: Soziologie der Schwangerschaft. Explorationen pränataler Sozialität, Stuttgart 2014; Hitzler, Ronald: Die rituelle Konstruktion der Person. Aspekte des Erlebens eines Menschen im sogenannten Wachkoma, in: Forum Qualitative Sozialforschung 13 [2012]). Vor diesem

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der Tagung präsentierten Artefakte nahtlos in das Set von Beispielen ein, die Michael Lambek, Ethnologe aus Toronto, in seinem anregenden Aufsatz After Life versammelt hat, um die Grenzen einer dichotomischen Verhältnisbestimmung von Leben und Tod für die Explikation vieler aktueller Trauerpraktiken aufzuzeigen. Auch in europäischen Kontexten nötige die Bestattungskultur dem ethnographischen Beobachter ein Beschreibungsvokabular ab, das Tod und Leben in ein flüssigeres, permeableres und ambigeres Verhältnis bringt. Gerade bestimmte Umgangsweisen mit „material relics“ oder „portraits“ und „photographs“ legten nahe, „opposed states of life and death“ als „connected processes of animation, de-animation, and reanimation“ zu reformulieren.29 So zeichnen sich hier am Ende Perspektiven ab, in denen sich womöglich auch das alte Thema der Eschatologie nochmals neu stellte und ganz anders aufrollen ließ: nicht als dogmatischer Topos, sondern als gelebte Religion. Für die empirische Forschung hieße das, nicht nach allgemeinen Jenseitsüberzeugungen der Menschen zu fragen, sondern Eschatologie als Praxis aufzufassen und die dinglich vermittelten, Körper involvierenden, vielfach schweigsamen Praktiken zu erkunden, in denen die Toten in ihren multiplen Ambiguitäten hervorgebracht und bearbeitet werden. Es ginge sozusagen um ein doing eschatology.

7.  AUSBLICK Schon diese wenigen Beobachtungen zeigen m.E., dass aus den aufschlussreichen Beiträgen und Diskussionen der Tagung ein kräftiger Impuls hervorgeht, die materiellen Komponenten der Praktiken im Feld der Bestattung auch in der praktisch-theologischen Kasualienforschung intensiver als bisher zu berücksichtigen. Dabei sind es nicht nur die durch das explorative Instrumentarium des Reliquienbegriffs in den Blick gerückten Artefakte, die instruktive Einblicke in die Kultur des Sepulchralen eröffnen. Auch eine Einholung der darüber hinausreichenden, vielfältigen, gerade auch unauffälligen Dinge in die fieldnotes, Skizzen, Beobachtungsprotokolle, Sammlungen, Memos, Interviews und explikativen BeschreiHintergrund muss es auch nicht überraschen, wenn Matthias Schulz anthropomorphe Reliquiare und Androiden über ihr schillerndes Mensch-Apparate-Verhältnis miteinander ins Gespräch bringt (vgl. Ders.: Märtyrerprothetik und Berührungsmaschinen. Kulturtechnische Parallelen zwischen Reliquiaren und Androiden, in: Zürn, Tina/Haug, Steffen/Helbig, Thomas [Hg.]: Bild, Blick, Berührung. Optische und taktile Wahrnehmung in den Künsten, Paderborn 2019, S. 191–206). 29 Vgl. Lambek, Michael: After Life, in: Das, Veena/Han, Clara (Hg.): Living and Dying in the Contemporary World. A Compendium, Oakland 2016, S. 629–647, hier S. 643.

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bungsversuche der Forschenden verspricht ein vertieftes Verständnis der gegenwärtigen Bestattungskultur. Noch stärker als es die Beiträge der Tagung selber taten, wäre dabei der breite Materialitätsdiskurs der letzten Jahre aufzugreifen und in produktive Heuristiken für die empirische Erkundung zu überführen. Wer mit einem so verfeinerten Sinn die Bestattung zu erforschen sucht, der hat dann freilich auch zu beherzigen, was Peter J. Bräunlein dem gesteigerten Interesse an der material religion generell ins Stammbuch schreibt: eine reflexive und kritische Selbstaufklärung der „Voreingenommenheiten der eigenen Wissenschaft“ und der in ihr eingelagerten historischen Ontologien, was das Verhältnis von Geist und Materie, Subjekt und Objekt oder Natur und Kultur anbelangt.30

30 Vgl. Bräunlein, Peter J.: Was ist uns heilig? Kulturwissenschaftliche Anmerkungen zu „sakralen“ Dingen, in: A. Beck/K. Herbers/A. Nehring (Hg.): Heilige und geheiligte Dinge, bes. S. 23–27, hier S. 27.

Autorinnen und Autoren

Dirk Battermann ist Theologe sowie Bestattungs- und Hochzeitsredner in Berlin. Prof. Dr. Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Dr. Sonja Beckmayer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Praktische Theologie der Universität Mainz und Buchwissenschaftlerin (M.A.). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Materielle Kulturforschung, Pastoraltheologie, Kasualtheorie und Frömmigkeitskulturen. Dr. Thorsten Benkel ist Soziologe und arbeitet als Akademischer Rat an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenssoziologie, Mikrosoziologie sowie Soziologie des Körpers, des Rechts und des Todes. Dr. Marcus Held ist Postdoc-Fellow an der Justus-Liebig-Universität Gießen und am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC). Seine Forschungsschwerpunkte sind Psychosoziale Studien, psychoanalytische Sozialpsychologie und Theologie, postmoderne Religionsphilosophie, politische (Kultur-) Theorie. Dr. Thies Jarecki ist Pastor der Ev.-luth. Kirchengemeinde Haßbergen u. Eys­ trup/Niedersachsen. Prof. Dr. Thomas Klie ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät an der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind Pastoral- und Religionsästhetik, spätmoderne Religions- und Kasualkultur und Religionshybride, Performanztheorie und Sepulkralkultur.

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Dipl. Theol. Jakob Kühn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät an der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind Homiletik, Kasualtheorie sowie Sepulkralkultur. PD Dr. Stefan Laube ist Kulturwissenschaftler und Historiker. Er lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind materielle Kulturen, Sammlungs- und Museumsgeschichte, Religion und Mentalitäten und Erinnerung und Gedächtnis. Prof. Dr. Dr. Hubertus Lutterbach M.A. ist Professor für Christentums- und Kulturgeschichte (Historische Theologie) an der Universität Duisburg-Essen. Zugleich ist er Supervisor und Diakon im Bistum Osnabrück. Seine Forschungsschwerpunkte sind Christliche Spiritualitäts- und Liturgiegeschichte (u. a. Sexualität, Frieden, Täufer, Ehrenamts- und Caritasgeschichte, Geschichte der Eucharistie) sowie Christentumsgeschichte im Dienst der Gegenwartsdiagnostik. Dr. theol. Matthias Marks ist Pastor in der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Alt-Rahlstedt (Hamburg). Sein wissenschaftliches Interesse gilt dem Dialog zwischen Psychoanalyse, Kunst und Theologie. Sein gegenwärtiges Forschungsprojekt an der Universität Rostock ist eine Religionspsychologie der Kasualien. Matthias Meitzler, M.A. ist Soziologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Soziologie des Wissens, des Körpers, des Alter(n)s und des Todes, den qualitativen Methoden und der Mediatisierungsforschung. Ulrike Peisker, Mag. Theol. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Systematische Theologie und Sozialethik an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sünde und zwischenmenschliche Schuld, Gestalt und Möglichkeit von Vergebung in zwischenmenschlichen Beziehungen. Prof. Dr. Michael Roth ist Professor für Systematische Theologie und Sozialethik an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Fundamentaltheologie, Grundfragen der Ethik, Erschließung der gegenwärtigen Relevanz lutherischer Theologie. Rechtsanwalt Torsten Schmitt ist Rechtsreferent der gemeinnützigen Verbraucherinitiative Aeternitas e.V. und selbständiger Rechtsanwalt in Königswinter.

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Dino Steinbrink ist Pastoralpsychologe (DGfP - Sektion Tiefenpsychologie) und Pastor der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Barsbüttel. Dr. Manuel Stetter ist Landeskirchlicher Assistent am Lehrstuhl für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Seelsorgelehre und Pastoraltheologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Homiletik, Kasualtheorie, Sepulchralkultur, empirische Religionsforschung.

Religionswissenschaft Bernhard Grümme

Aufbruch in die Öffentlichkeit? Reflexionen zum ›public turn‹ in der Religionspädagogik 2018, 254 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4227-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4227-2

Nora Kim Kurzewitz

Gender und Heilung Die Bedeutung des Pentekostalismus für Frauen in Costa Rica März 2020, 272 S., kart., 2 Farbabbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-5175-1 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5175-5

Thomas Klie, Jakob Kühn (Hg.)

Das Jenseits der Darstellung Postdramatische Performanzen in Kirche und Theater März 2020, 214 S., kart., 13 SW-Abbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5162-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5162-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Religionswissenschaft Isabella Schwaderer, Katharina Waldner (Hg.)

Annäherungen an das Unaussprechliche Ästhetische Erfahrung in kollektiven religiösen Praktiken Februar 2020, 272 S., kart., 23 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4725-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4725-3

Martin Tulaszewski, Klaus Hock, Thomas Klie (Hg.)

Was Heilung bringt Krankheitsdeutung zwischen Religion, Medizin und Heilkunde 2019, 218 S., kart., 4 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-5042-6 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5042-0

Oliver Wäckerlig

Vernetzte Islamfeindlichkeit Die transatlantische Bewegung gegen »Islamisierung«. Events – Organisationen – Medien 2019, 432 S., kart., 9 SW-Abbildungen 44,99 € (DE), 978-3-8376-4973-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4973-8

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