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German Pages 18 [21] Year 1953
DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN VORTRÄGE UND S C H R I F T E N H E F T 47
DIE DEUTSCHE WISSENSCHAFT IN IHREM VERHÄLTNIS ZUR SOWJETUNION von Arthur
Baumgarten
1952 AKADEMIE-VERLAG
BERLIN
Angenommen in der Gesamtsitzung vom 14. 12. 1950 für die Vorträge und Schriften
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH.» Berlin NW 7, S c h i f f b a u e r d a m m 19 Veröffentlicht unter der Lizenznummer 1218 des Amtes für Literatur und Verlagswesen der Deutschen Demokratischen Republik Satz und Druck der Druckerei „Thomas Müntzer 4 * Langensalza Bestell- und Verlagsnummer 2003/47 Preis: DM 1.25 P r i n t e d in Germ an y
Unsere Freundschaft, die Freundschaft der Bevölkerung unserer Deutschen Demokratischen Republik mit der Sowjetunion ruht auf einem festen Fundament. Wir brauchen nur die Verhältnisse im Westen Deutschlands mit den unseren zu vergleichen, um uns darüber klar zu werden, daß, wenn wir selbständig sind in dem, worauf es vor allem ankommt, wenn wir aus eigenen vereinten Kräften an einem Neubau unserer Gesellschaft arbeiten können, wir dies der Sowjetunion verdanken. Und wenn wir nicht nur an unsere partikularen Angelegenheiten denken, wenn wir das Ziel ins Auge fassen, das uns allen vorschwebt, die Wiedervereinigung der Gebiete West- und Ostdeutschlands in einem freien, friedlichen demokratischen Deutschen Nationalstaat, dann fällt der Blick wiederum auf den großen Freund, der sich in der internationalen Arena für die Erfüllung unserer nationalen Hoffnungen so nachdrücklich und machtvoll einsetzt wie sonst niemand auf der Welt. Man sage nicht, die Sowjetunion braucht den Frieden und weil nichts den Frieden mehr sichern kann als ein geeintes Deutschland, darum tritt sie ein für die Befriedigung unserer nationalen Wünsche; es handele sich also um eine Interessengemeinschaft, nicht um echte Freundschaft. Aber wo wäre eine Freundschaft, die nicht auf einer Interessengemeinschaft beruht, und wo findet sich heute ein Interesse, das die Menschen enger aneinanderschließt als das Interesse an der Erhaltung des Friedens, an der Vermeidung der furchtbaren Katastrophe, die ein dritter Weltkrieg für die Menschheit bedeuten würde. Allerdings gibt es ein Interesse, das l*
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nicht so elementar wie das an der Erhaltung des Friedens ist, aber dafür als ein noch höheres gelten darf, ich meine das Interesse an einer besseren, glücklicheren Zukunft der ganzen Menschheit, und auch dieses Interesse ist ein Unterpfand für unsere unverbrüchliche Freundschaft mit der Sowjetunion. Da hier von Freundschaft die Rede ist, wird es nicht ganz unangebracht sein, eine persönliche Note anklingen zu lassen, und so will ich Ihnen denn sagen, wie es gekommen isfc, daß ich zu einem Freund der Sowjetunion geworden bin. Ich darf annehmen, daß mein Fall eines gewissen typischen Charakters nicht entbehrt. Nach dem ersten Weltkrieg war es den meisten Menschen klar, daß eine durchgreifende Umgestaltung unserer Gesellschaft erfolgen müsse, wenn ähnliche Katastrophen vermieden werden sollten. Woher kann man die erforderliche Reform an Haupt und Gliedern erwarten ?, so fragten sich damals Millionen, so fragte auch ich mich. Daran, daß sie aus dem Osten kommen könnte, dachte ich nicht. Die Oktoberrevolution, die sich mir später als eines der wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte enthüllte, hatte, als ich sie vom Westen her erlebte, keinen starken Eindruck auf mich gemacht, sie lag für den bürgerlichen Liberalen, der ich war, nicht nur räumlich, sondern auch innerlich in allzu großer Ferne. So hoffte ich zunächst auf Wilson und hielt mich, als ich sah, daß sein Kampf vergeblich war, an Staatsmänner wie Macdonald, Briand, Stresemann, merkte aber bald, so wenig politisch geschult ich war, daß ich mich an Strohhalme klammerte, während die Flut des Faschismus immer bedrohlicher anschwoll. Erst jetzt beschloß ich, das sogenannte Experiment des Bolschewismus etwas eingehender zu prüfen, kam aber nicht weit damit, denn die Ereignisse überstürzten sich, und eine neue Hoffnung tauchte auf. Es war die Hoffnung, daß sich, nachdem der Faschismus in Form des Nationalsozialismus in Deutschland zur Macht gelangt war und ein Land nach dem anderen bedrohte, das liberale Bürgertum aufraffen und im Kampf gegen den Faschismus die moralischen
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Potenzen entwickeln werde, die für die Begründung einer neuen Gesellschaftsordnung, die ich seit dem ersten Weltkrieg erwartet hatte, erforderlich waren. Es sollte ganz anders kommen. Als ich bald nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus in Deutschland ins Ausland kam, fand ich in den herrschenden Kreisen des Bürgertums überall statt eines kraftvollen Widerstandswillens Resignation und Defaitismus oder gar ein geheimes Einverständnis. In den darauffolgenden Jahren wurde es dann immer offensichtlicher, daß diese Kreise den Faschismus mit einer Konnivenz behandelten, die von aktiver Begünstigung kaum zu unterscheiden war. Wenn man, wie ich mit sc vielen anderen, den unerschütterlichen Glauben hat, daß es so etwas gibt wie einen Fortschritt in den menschlichen Dingen, mußte sich als Gegenstück zu der ungeheueren negativen Dynamik des Faschismus eine positive Kraft ermitteln lassen, die fähig wäre, in der Auseinandersetzung mit dem Faschismus das Rad der Geschichte vorwärts zu treiben. Wo war eine solche positive Kraft zu suchen — so erschien es mir damals und erscheint es mir heute noch, — wenn nicht in der Sowjetunion ? Daher machte ich mich nochmals an eine Untersuchung des sowjetischen Phänomens, wobei ich gründlicher vorging als das erste Mal. Ich lernte russisch und reiste 1935 nach der Sowjetunion, um mir ein einigermaßen anschauliches Bild von der dortigen gesellschaftlichen Neuordnung zu verschaffen. Ich machte mich mit den Werken Lenins vertraut, die ich zuvor nicht gelesen hatte, und suchte mich in die Gedankenwelt von Marx und Engels, von der ich bisher nur eine ungenügende Kenntnis besessen hatte, zu vertiefen. Das Ergebnis war, daß ich zur Überzeugung gelangte, die russische Oktoberrevolution sei in der Geschichte der Gesellschaft eine entscheidende Wendung zum Besseren und ihre Auswirkungen würden sich mit der Zeit in Formen, die sich im Einzelnen unmöglich voraussehen lassen, auf die übrigen Länder erstrecken. Ich will den vielverschlungenen Fäden der Ent-
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wicklung, die von der Kapitulation von München über den zweiten Weltkrieg bis zum gegenwärtigen geschichtlichen Zeitpunkt führen, nicht nachgehen und nur noch hinzufügen, daß mich nach allem, was vorausgegangen war, die Wendung der herrschenden Kreise des Westens nach dem zweiten Weltkrieg zum Neofaschismus, der die Freiheit da unterdrückt, wo sie am meisten sinnvoll ist, und einen dritten Weltkrieg vorbereitet, nicht überraschen konnte. Das Gesagte genügt, um zu zeigen, auf welchem Wege ich zum Freund der Sowjetunion geworden bin und daß ich dauernd ihr Freund bleiben werde. Vielleicht habe ich schon zuviel von Politik gesprochen, ist doch mein eigentliches Thema das freundschaftliche Verhältnis, das uns als Wissenschaftler mit der Sowjetunion verbindet. Aber der Marxismus, der geradezu der noeud vital (Lebensknoten) des sowjetischen Gesellschaftslebens ist, steht in so engen Beziehungen zur Praxis, und zwar besonders zur politischen Praxis, daß sich bei ihm Wissenschaft und Politik von vornherein nicht trennen lassen. Was dem Marxismus für den Wissenschaftler so interessant macht, sind nicht in erster Linie die auf diesem oder jenem Gebiet der Wissenschaft erzielten Ergebnisse, sondern es ist der umfassende LebensZusammenhang, in den er die Wissenschaft hineinstellt und die präponderierende Rolle, die er der Wissenschaft innerhalb dieses Zusammenhangs zuweist. Der Marxismus zielt ab auf die Beherrschung des gesellschaftlichen Lebens durch die Erkenntnis, die w i s s e n s c h a f t l i c h e Erkenntnis der Gesetze der Natur und der Gesellschaft. In der Sowjetunion wird nun zum ersten Mal der ernsthafte Versuch unternommen, die letzten Intentionen des Marxismus zu verwirklichen. Praktisch wirksam ist der Marxismus von Anfang an gewesen, aber seine Wirksamkeit war eine vorbereitende im Hinblick auf das Ziel, an dessen Erreichung man jetzt in der Sowjetunion unmittelbar herangehen kann. Zunächst handelte es sich darum, durch eine wissenschaftlich durchgearbeitete poli-
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tische Anweisung, die Arbeiterbewegung zu befähigen, die große gesellschaftliche Umwälzung herbeizuführen, nach der dann die siegreiche Arbeiterklasse unter Führung ihrer Avantgarde den Marxismus als panhumanistische Wissenschaft und Weltanschauung im Gesellschaftsleben voll zur Anwendung bringen kann. Machen wir einen Augenblick halt. Ist nicht der Gedanke, daß wissenschaftliche Erkenntnis das menschliche Zusammenleben in allen seinen Provinzen entscheidend gestalten soll von der Art, daß er auf die tiefsten Sympathien des Wissenschaftlers rechnen darf ? War es nicht das Ideal Piatos, daß der Staat von der höchsten Wissenschaft beherrscht werde ? Piatos von königlichen Philosophen geleiteter Staat ließ sich nicht in die Wirklichkeit übertragen. Er blieb Utopie und eine Utopie war es auch, wenn viele Jahrhunderte später Aug\iste Comte seine „philosophie positive" zur führenden Macht des Gesellschaftslebens bestimmte. Aber der Marxismus ist keine Utopie. Die marxistische Wissenschaft regelt auf immer weiterem Raum die wichtigsten Beziehungen zwischen den Menschen. Sie hat nicht den esoterischen Charakter der Platonischen Dialektik, die einer kleinen Elite vorbehalten bleiben sollte, sie hat demokratische Tendenzen. Zweifellos ist es nicht jedermanns Sache, den Marxismus bis in alle Verzweigungen und Einzelheiten hinein völlig zu bemeistern, aber die Grundprinzipien der Gesellschaftslehre des Marxismus, die sein Kernstück bilden, sind so einfach und einleuchtend, finden eine solche Bestätigung in den Erfahrungen des täglichen Lebens, daß jeder sie sich aneignen kann. Wenn man sie in der Sowjetunion zur Basis des gesamten Unterrichts macht, so ist das ergreifend für jeden Wissenschaftler, denn auf diese Weise werden allmählich in der ganzen Gesellschaft Aberglauben und Vorurteil vom Lichte der Wissenschaft verscheucht werden. Die Wissenschaft kann in der Sowjetunion auf die Totalität der Lebenserscheinungen maßgeblich und wohltätig einwirken,
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weil sie sich in den Dienst der gesamten werktätigen Bevölkerung stellt. Nicht erst Marx hat gesagt, daß es so sein müsse, sondern schon im Beginn der Neuzeit hat Englands größter Philosoph von der Wissenschaft ein „humanis commodis inservire" gefordert. Aber in der bisherigen Gesellschaft sind es nicht sowohl die humana commoda als vielmehr die Interessen der verhältnismäßig kleinen Machtgruppe, der, wie der Marxismus es nennt, herrschenden Klassen gewesen, denen die Wissenschaft vorwiegend gedient hat. Zu der zeitweiligen Überproduktion und den Krisen, die Marx als eine zwangsläufige Begleiterscheinung der kapitalistischen Produktion erwiesen hat, gibt es auf dem Gebiet der Wissenschaft ein Analogon. Wir haben unendlich viele wissenschaftliche Einsichten gewonnen, für die in der überkommenden Gesellschaftsordnung keine ernsthafte Verwendungsmöglichkeit besteht. Man läßt sie zunächst brach liegen. Bisweilen läßt man sie nicht brach liegen, sondern benutzt sie zu Zwecken, die den humanen Bestrebungen der Wissenschaft konträr entgegengesetzt sind. Das eklatanteste Beispiel hierfür ist der ausschließliche Gebrauch der Entdeckung der Atomenergie zur Fabrikation von Waffen zur Massenvernichtung. Als in der Sowjetunion die Atomenergie dazu ausgenutzt wurde, eine wirtschaftlich bedeutungsvolle Flußkorrektion zu ermöglichen und durch die übrige Welt die Rede ging: Die Russen haben nun auch die Atombombe, wurde der Unterschied zwischen der sowjetischen und der kapitalistischen Wissenschaft unüberbietbar augenfällig. Man wird einwenden, wie ich wohl weiß, daß die Wissenschaft keinem anderen Zweck dienen dürfe als dem Fortschritt der Erkenntnis: La science pour la science. Auch die edelste, humanste Verfolgung von Zwecken, die nicht in ihr selbst begriffen wären, sei ihr nachteilig. Sie verliere ihre Verwendungsmöglichkeit für praktische Zwecke, sobald ein anderes Streben als das nach Erkenntnis sich in ihr geltend mache. Der Gebrauch, der von ihren Ergebnissen gemacht
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werde, liege außerhalb ihres Bereichs; sei er ein unzulässiger oder sogar verbrecherischer, so könne sie für ihn nicht verantwortlich gemacht werden. Indessen läßt sich in dieser Weise das Wesen des Menschen nicht aufspalten. Jede wissenschaftliche Betätigung hat noch einen anderen Zweck als den der Erkenntnis um der Erkenntnis willen, mag er ein individueller oder ein kollektiver sein, mag er dem Wissenschaftler bewußt sein oder vom Unbewußten her wirken. Die weite Verbreitung der gegenteiligen Ansicht erklärt sich aus der sich mit der Zeit immer mehr steigernden Arbeitsteilung, die die Wissenschaft in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Arbeitsteilung hat es mit sich gebracht, daß der eigentliche Sinn und Zweck der Arbeit uns vielfach völlig verborgen bleibt und uns auch gar nicht interessiert. Aber damit bezeichne ich nur eine Tendenz, eine Regel, kein Gesetz. Denn ganz so verhält es sich doch glücklicherweise nicht, daß alle Wissenschaftler gegenüber dem Gebrauch der von ihnen gewonnenen Erkenntnisse gleichgültig blieben und sich gänzlich unverantwortlich für ihn fühlten. Wir können, um das vorhin herangezogene Beispiel nicht zu verlassen, aus den Äußerungen zahlreicher Atomphysiker entnehmen, wie schwer sie darunter leiden, daß was als Wohltat gedacht war, zur Plage geworden ist. Es erhebt sich nun die Frage, ob wir bei bewußter prinzipieller Einstellung der Wissenschaft auf die Befriedigung der Bedürfnisse der ganzen Gesellschaft der Vorteile der Arbeitsteilung verlustig gehen, die nach der Ansicht so vieler damit verbunden sind, daß Wissenschaft nur um der Wissenschaft willen betrieben wird. Die Frage kann nur von der Erfahrung beantwortet werden. Hat die Sowjetwissenschaft gegenüber der Wissenschaft anderer Länder deshalb an Leistungsfähigkeit Einbuße erlitten, weil sie die Marxsche Forderung engster Verbindung von Theorie und Lebenspraxis so weit als irgend möglich zu erfüllen gesucht hat ? Wenn der Nutzerfolg den Maßstab bietet, offensichtlich nicht. Wie aber
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stellt es mit den hochtheoretischen Leistungen ? Soweit es sich um Mathematik und Naturwissenschaften handelt, vermag ich mir über den vorliegenden Tatbestand kein eigenes Urteil zu bilden, von den Geisteswissenschaften werde ich gleich nachher reden. Aber eine ganz allgemeine Bemerkung kann ich an dieser Stelle nicht unterdrücken: Es ist doch wohl kaum vorstellbar, daß die bewußte und planmäßige Stellungnahme zu einem Zusammenhang, der objektiv vorhanden war, nämlich dem Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Lebensbedürfnis (also eine höhere Stufe im Entwicklungsstand des menschlichen Bewußtseins) dem geistigen Fortschritt in irgend einer Hinsicht hinderlich sein könnte. Zu der engen Verbindung von Theorie und Praxis, die ein Grundgesetz des sowjetischen Gesellschaftsbetriebs ist, gehört auch, daß man tunlichst jeden Fabrik- und Landarbeiter mit geeignetem wissenschaftlichen Rüstzeug auszustatten sucht. Der Unterschied zwischen Handarbeiter und Kopfarbeiter soll mit der Zeit verschwinden. Man will den Arbeiter geistig näher an die Wissenschaft heranbringen, aber es ist natürlich keine Rede davon, daß man ihn zum Wissenschaftler machen wollte. Er soll zum wissenschaftlichen Denken angeleitet werden und in dieser oder jener Disziplin mehr als oberflächliche Erkenntnisse erwerben. Damit wird man bei der heutigen außerordentlichen Kompliziertheit der Naturwissenschaften noch nicht zum Wissenschaftler. Die Steigerung der Ertragsfähigkeit, die die eben bezeichnete Gesellschaftspolitik zur Folge gehabt hat — es genügt, auf die Stachanowbewegung hinzuweisen—ist gewaltig. Ich denke aber augenblicklich weniger an die an sich so wichtige praktische Seite der Frage, als daran, wie erfreulich es für den Wissenschaftler ist, wenn Interesse und Verständnis für die Wissenschaft sich in den weitesten Bevölkerungsschichten verbreiten. Es ist ein, ich möchte fast sagen erregendes Schauspiel, das sich dem Auge des Wissenschaftlers bietet, wenn er beob-
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achtet, wie sich in der Sowjetunion die Schwerpunkte in der Wissenschaft je nach dem Stadium, das der Gesellschaftsprozeß durchläuft, verlagern, ist man doch bei uns geneigt anzunehmen, daß die Wissenschaft ihre eigenen Wege zu verfolgen pflegt, ohne sich um das, was um sie herum vor sich geht, sonderlich zu kümmern. Unter den Wissenschaften spielen natürlich die weitgehend mathematisierten Naturwissenschaften, weil sie durch Vermittlung der Technik den wirtschaftlichen Produktionsprozeß maßgeblich beeinflussen, eine hervorragende Rolle, und dabei ist besonders der Biologie zu gedenken, die sich bisher als lange nicht so fruchtbar erwiesen hatte wie Physik und Chemie. Aber als noch wichtiger erscheinen die Gesellschaftswissenschaften, weil sie die Grundlage des gesamten sozialistischen Aufbaus bilden. In der wissenschaftlichen Politik mußte eine Weiterbildung der Gedanken von Marx und Engels erfolgen, weil diese die seitherige Entwicklung natürlich nicht in allem vorwegnehmen konnten. Insbesondere galt es, die alte marxistische These, daß proletarische Revolution und Aufbau des Sozialismus nur im Weltmaßstab vor sich gehen könnten, einer Revision zu unterziehen, was seitens Lenins in meisterhafter Weise geschah. Sodann war in einer Gedankenführung, die sich wohl der marxistischen Methode bedienen konnte aber doch dabei schöpferischen Charakter tragen mußte, die Innen- und Außenpolitik der Sowjetunion seit der Oktoberrevolution in allen Stadien der Entwicklung wissenschaftlich zu fundieren. Lenin und Stalin stehen an der Spitze derer, die sich dieser Aufgabe unterzogen. Der marxistischen Wirtschaftswissenschaft, die sich vorwiegend mit den Gesetzmäßigkeiten der Struktur und Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft beschäftigte, war in einer Wissenschaft der sozialistischen Wirtschaft eine Ergänzung zu geben. In der Philosophie, unter der wir Erkenntnistheorie, Dialektik, Ideologienlehre, Ethik und Weltanschauungslehre verstehen wollen, enthalten die Werke von Marx, Engels,
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Lenin und Stalin eine — wenn auch vielfach nur kurze — Beantwortung der Grundfragen. Überall, wo es mit Rücksicht auf die Zeitumstände zur Verteidigung oder Förderung der Sache des dialektischen und historischen Materialismus erforderlich erscheint, tritt die sowjetische Wissenschaft auf den Plan, wie es vor dem Oktober Lenin gehalten hatte, als die Lehren von Avenarius und Mach sich bei den russischen Marxisten einzubürgern drohten. Auf systematische Geschlossenheit zielt die sowjetische Wissenschaft auf diesem Gebiet nicht ab. Ich interessiere mich speziell für gewisse intrikate Fragen der Erkenntnistheorie und Ideologienlehre des dialektischen und historischen Materialismus. Wenn es mir nicht gelungen ist, in Erfahrung zu bringen, wie die sowjetischen Philosophen über sie denken, so kann das an der Schwierigkeit, einen vollständigen Überblick über das sowjetische Schrifttum zu erhalten, oder aber auch daran liegen, daß die sowjetischen Philosophen die eingehendere Beschäftigung mit den betreffenden Fragen nicht für vordringlich halten. Ich verzichte darauf, den Weg zu verfolgen, den die SowjetPädagogik in den letzten 30 Jahren gegangen ist. Daß gerade die Pädagogik in einem Lande, in dem die heranwachsende Generation für eine neue Gesellschaft zu erziehen ist, mit besonderem Eifer betrieben wird, ist einleuchtend. Dagegen sei noch ein Wort von der Stellungnahme der sowjetischen Wissenschaft zur Philologie gesagt, bevor ich mich zum Schluß meiner Ausführungen der Rechtswissenschaft zuwende. Es gibt mir dies Gelegenheit, das Mißverständnis zu vermeiden, als ob sich meiner Ansicht nach die Sowjetwissenschaft ausschließlich um die aktuellsten Fragen des sozialistischen Neubaus bekümmere. D i e s e W i s s e n s c h a f t will g e t r e u der p a n h u m a n i s t i s c h e n Tendenz des Marxismus k e i n e der Quellen v e r s i e g e n l a s s e n , aus denen v o n altersher der H u m a n i s m u s seine K r ä f t e g e s c h ö p f t hat. Daher liegt es ihr fern, das Studium der Sprache, dieses vor-
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nehmsten Ausdrucksmittels des menschlichen Geistes, zu vernachlässigen. Daß gerade hier die alten Methoden der bürgerlichen Sprachwissenschaft für die sozialistische Wissenschaft Wert behalten, hat gegenüber vorschnellen Neuerern jüngstens Stalin mit der ihm eigenen Klarheit dargetan, indem er den Nachweis führt, daß die Sprache, die Volkssprache, nicht zu dem gehört, was Marx als den geistigen Überbau bezeichnet. Und nun zur Rechtswissenschaft. Die überkommene Rechtswissenschaft — ich sage das nicht erst, seitdem ich für die sozialistische Gedankenwelt tieferes Verständnis gewonnen habe — ist keine Wissenschaft im strengeren Sinn des Wortes. Sie hat weder in der Philosophie noch in der Gesellschaftswissenschaft die erforderliche zuverlässige Grundlage. Ich muß dies kurz begründen: Im Anfang des 20. Jahrhunderts ließ der Philosoph Leonard Nelson ein Buch erscheinen, das den Titel trug: Rechtswissenschaft ohne Recht. Unsere Rechtswissenschaft führte der Verfasser aus, ist eine Rechtswissenschaft ohne Recht, d.h. ohne Rechtsidee. Nelsons eigene Rechtsphilosophie, die durch die Erkenntnistheorie von Jakob Fries beeinflußt war, konnte aus Gründen, die darzulegen zu weit führen würde, auf die Rechtswissenschaft ebensowenig nachhaltige Wirkungen ausüben wie die rechtsphilosophischen Systeme der Neukantianer Rudolf Stammler und Hermann Cohen. Das 17. und 18. Jahrhundert hatten eine Natur- oder Vernunftsrechtslehre hervorgebracht, die weltgeschichtliche Bedeutung erlangen sollte. Ihre erkenntnistheoretische Begründung war fragwürdig und ihre Reformprojekte blieben im Abstrakten, aber sie war getragen von den fortschrittlichen Kräften der Zeit und hat an der Revolution, die sich damals in der Gesellschaft vorbereitete, machtvoll mitgewirkt. Im 19. Jahrhundert geriet das Naturrecht immer mehr in Vergessenheit und wurde schließlich durch den Rechtspositivismus völlig verdrängt. Nach dem ersten Weltkrieg, als eine Erneuerung der Gesellschaftsordnung vielen unausweichlich schien, ertönte der Ruf: Zurück zum Natur-
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recht, und wir hören ihn jetzt nach dem zweiten Weltkrieg von neuem. Das repristinierte Naturrecht ist über die abstrakten Formeln des Alten nicht hinausgekommen, nur wird heute, was ehemals progressiv sein sollte und auch tatsächlich progressiv war, meistens zu reaktionären Zwecken verwendet. Die Philosophie stößt heute in weiten Kreisen auf ein gewisses, vielleicht nicht ganz unberechtigtes Mißtrauen. Sehen wir zu, ob die Soziologie der Rechtswissenschaft dazu zu verhelfen vermag, zu einer echten Wissenschaft zu werden. Ich begnüge mich mit folgender Feststellung : Weder Max Weber noch Emile Dürkheim — jeder von ihnen der weitaus bedeutendste Vertreter der Soziologie seines Landes in der Vorkriegszeit — wollen oder können ihr diesen Dienst leisten. Weber lehnt es namens seiner Wissenschaft ausdrücklich ab, sich mit Sollensfragen zu beschäftigen, sie betreffe allein die Seinsfrage. Sie könne wohl einen hypothetischen Imperativ (im Sinne Kants) aufstellen, d.h. die Mittel angeben, mit denen sich ein vorausgesetzter Zweck erreichen läßt, aber ein kategorischer Imperativ liege außerhalb ihres Gebietes. Die Durkheimsche Soziologie hat eine enge Beziehung zum Recht, denn die faits sociaux, die für Dürkheim etwas Ähnliches sind wie die Atome oder Moleküle für den Naturwissenschaftler, werden bei ihm vorwiegend durch Rechtseinrichtungen repräsentiert. In seiner inhaltreichen kleinen Schrift : La méthode soziologique sagt Dürkheim: Die erste und wichtigste Regel ist, daß man die faits sociaux wie Sachen betrachten muß, was vor allem bedeutet, daß man nicht versuchen soll, sie psychologisch zu analysieren. Die Durkheimsche Soziologie ist bewußt an der Physik orientiert. Sie betrachtet die gesellschaftlichen Erscheinungen wesentlich von außen, während es, wie der amerikanische Soziologe Giddings, Dürkheim kritisierend bemerkt, um sie zu erfassen, einer subjektiven Interpretation bedarf. Die Durkheimschule, die wie es heißt in ihrem Heimatland im Absterben begriffen ist, hat der Rechtswissenschaft nichts Wesentliches zu bieten gehabt.
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Daß die herkömmliche Jurisprudenz es nicht dazu bringen konnte, zu einer Wissenschaft sensu stricto zu werden, sich vielmehr der Hauptsache nach damit begnügen mußte, eine fein ausgearbeitete Begriffstechnik zu besitzen und die Juristen in der Subsumtion der Lebenstatbestände unter die vom Gesetz verwendeten Begriffe zu schulen, liegt vor allem daran, daß die schweren materiellen Ungerechtigkeiten, die in den Rechtsordnungen aller Klassengesellschaften zum Ausdruck kommen, nicht offen zugegeben werden durften, sondern durch irgend welche Ideologien verschleiert werden mußten. Marx und Engels haben den Schleier zerrissen. Sie haben gezeigt, was die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft de facto ist. Sie haben eine eingehende Theorie dieser Gesellschaft gegeben und hätten für sie eine systematische Rechtslehre entwickeln können, denn das Recht ist nichts anderes als die positive Ordnung der Gesellschaft. Eine solche Lehre wäre eine Wissenschaft im modernen Sinne gewesen. Aber der Marxismus hat aus begreiflichen Gründen von einem derartigen Unternehmen Abstand genommen. Er hat seine Erkenntnis des Rechts der bürgerlichen Gesellschaft dazu verwertet, seinen wahren Charakter vor der Arbeiterschaft klar zu stellen und die der Lage der Sache nach durchzuführenden Rechtsreformen vorzuschlagen, die sich für die Erfüllung der historischen Aufgabe der Arbeiterschaft günstig auswirken würden. Er hat auch darauf verzichtet, solange man in der bürgerlichen Gesellschaft lebte, im Gedanken an kommende Zeiten ein ins einzelne gehendes Programm des sozialistischen Rechtes aufzustellen. Marx sagt ausdrücklich, daß er nicht daran denke, Rezepte für die Zukunftsküche des Sozialismus zu geben. In der Sowjetunion ist der Sozialismus nicht mehr etwas Zukünftiges, er ist zur Gegenwart geworden. Daher ist hier denn auch eine neue Rechtswissenschaft, eine sozialistische Rechtswissenschaft, zur Entstehung gelangt. Sie ist so eng mit der marxistischen Gesellschaftswissenschaft verknüpft, daß man sie als einen Teil von ihr anzusehen hat, und parti-
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zipiert an ihrem Charakter als dem einer echten Wissenschaft. In ihr findet der ganze Entwicklungsgang der sowjetischen Gesellschaft, den das Recht zu fördern und zu schützen berufen ist, seine deutlichste Abspiegelung. Die Deutsche Demokratische Republik ist kein sozialistischer Staat, aber sie ist ein Staat, der in vielen und wesentlichen Punkten durch sozialistische Tendenzen beeinflußt ist. Daher können wir viel von der sowjetischen Rechtswissenschaft und von den Erfahrungen der sowjetischen Juristen lernen: Vor allem im Recht der Wirtschaftsplanung, im Recht der volkseigenen Betriebe und im Strafrecht. Ich fasse zusammen: Die Sowjetwissenschaft ist ein neuer Typus der Wissenschaft. Sie ist eine Wissenschaft, die bewußt und gewollt mit dem Gesellschaftsleben in Beziehung tritt, um es durch eine stets fortschreitende Erkenntnis zu seinem Wohle zu lenken. Damit ist eine höhere Stufe im Bewußtwerden der Funktionen der Wissenschaft im Organismus des Gesellschaftsganzen erreicht und zugleich ist der Dienst, den die Wissenschaft den Menschen leistet, zu einem universellen, zu einem Dienst an allen geworden. Daher wird die Sowjetwissenschaft bei vielen Wissenschaftlern anderer Länder nicht nur Interesse, sondern auch aufrichtige Sympathie erwecken. Bei der Unteilbarkeit des sowjetischen Gesellschaftslebens wird die Sympathie, wenn sie sich anfänglich nur auf die sowjetische Wissenschaft beziehen sollte, sich bald auf die Sowjetunion als solche erstrecken. Bei uns Wissenschaftlern der Deutschen Demokratischen Republik kommen die anfänglich berührten Gründe hinzu, die dafür sprechen, der Sowjetunion echte Freundschaft entgegenzubringen. Das Band, das uns verbindet und sich immer mehr festigt, wird sich als unzerreißbar bewähren.
In
weiteren
Schriftenreihen
erschienen :
GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFT Carl Erdmann Forschungen zur politischen Ideenwelt des Frühmittelalters 1. Die nichtrömische Kaiseridee. 2. Königs- und Kaiserkrönung im ottonischen Ponti/ikale. 3. Die Würde des Palricius unter Otto III. 4. Zwei Gelehrte im Kreise Heinrichs III. 5. Onulf von Speier und Amarcius. — XXIV und 134 Seiten - 1951 (Bestell- und Verlagsnummer 5058) — Halbl. DM 16.75 Werner Hartke Römische Kinderkaiser Eine Strukturanalyse römischen Denkens und Daseins. — XII und 488 Seiten 1951 (Bestell- und Verlagsnummer 5029) — Brosch. DM49.— Halbl. DM52.— Ernst
Hohl
Um Arminius Biographie oder Legende t — 28 Seiten - 1951 (Bestell- und Verlagsnummer 2010I51IVI/1) - DM 2.10 Ernst Hohl Ein politischer Witz auf Caracalla Ein Beitrag zur Historia-Augusta-Kritik — 20 Seiten - 1950 (Bestell• und Verlagsnummer 2010/501VIjl) — DM 1.50 Ernst Die Siegesfeiern
des Tiberius
Hohl und das Datum
im Teutoburger
der Schlacht
Wald
24 Seiten - 1952 (Bestell- und Verlagsnummer 2010j52IVjl) Martin
— DM 2.10
Lintzel
Die Enstehung des Kurfürstenkollegs 54 Seiten - 1952 (Bestell- und Verlagsnummer 2026/99/2) — DM 4.25 Bestellungen an eine Buchhandlung erbeten Bitte fordern Sie einen Spezialprospekt oder das Gesamtverzeichnis vom A K A D E M I E - V E R L A G
• B E R L I N
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