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German Pages 131 Year 1995
WOLFGANG PÖGGELER
Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht
Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History Vergleichende Untersuchungen zur kontinentaleuropäischen und anglo-amerikanischen Rechtsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Helmut Coing und Prof. Dr. Dr. h. c. Knut Wolfgang N ö r r
Band 16
Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht Ein Beitrag zur Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte 1748-1914
Von
Wolfgang Pöggeler
Duncker & Humblot - Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pöggeler, Wolfgang: Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht : ein Beitrag zur Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte / von Wolfgang Pöggeler. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Comparative studies in continental and Anglo-American legal history ; Bd. 16) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08194-3 NE: GT
D 21 Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-1167 ISBN 3-428-08194-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der A N S I - N o r m für Bibliotheken
Vorwort Diese Arbeit zur deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht lag der Juristischen Fakultät der Tübinger Eberhard-Karls-Universität im Sommersemester 1994 als Dissertation vor. Sie ist das Ergebnis einer alten Liebe zu England, seiner Geschichte und seinem Recht. Schon als Student fand ich in Köln und Tübingen Gelegenheit, diese Liebe durch kleinere Seminararbeiten zur Magna Charta und Johann ohne Land sowie zum englischen Verfassungsbegriff zu pflegen. Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Knut Wolfgang Nörr (Tübingen) bin ich aus vielerlei Gründen zu ganz herzlichem Dank verpflichtet, nicht allein für sein wohlwollendes Interesse und stets konstruktive und anregende Kritik. Dank schulde ich auch Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Thomas Oppermann und der Gerda-Henkel-Stiftung in Düsseldorf, die die Drucklegung großzügig unterstützte. Tübingen, im September 1994 Wolf gang Pöggeler
Inhaltsverzeichnis Α. Gegenstand der Untersuchung
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B. Zum Forschungsstand
12
C. Das 18. Jahrhundert: adagio
17
I. Montesquieu: eine falsche Fährte II. William Blackstone und sein deutscher Übersetzer H. F. C. von Colditz
18 21
III. Jean Louis de Lolme: ein treuer Begleiter der deutschen Rezeption und ihrer Irrtümer
25
IV. Caietan Filangieri
28
V. Gebh. Friedr. Aug. Wendeborn, Prediger in London VI. Johann Wilhelm von Archenholz und ein unbekannter Nachahmer .. D. Das 19. Jahrhundert bis zur Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung 1849: presto I. Der Geheime Justitz-Rath Theodor Schmalz II. Ludwig Freiherr von Vincke
28 32 36 36 39
III. Der Kontinent auf der Suche nach parlamentarischen Regeln: Jeremy Bentham im Dumontschen Gewände
42
IV. Constantin Bisinger verrät nichts
45
V. Thomas Jefferson VI. John Miliar, Esqu., in der Übersetzung von K. E. Schmid
46 47
VII. Johann Gotthelf Beschorners Pamphlet gegen England und die Engländer
49
VIII. Lord John Russeis Verfassungsgeschichte aus der Perspektive des Freiheitsbegriffs
52
IX. Eine weitere Verfassungsgeschichte: Hallam und sein Epigone F. A. Rüder
54
X. Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Reformbill XI. Murhards Englandartikel im Staatslexikon XII. P. F. Aiken's vergleichende Darstellung der Constitution Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika
55 59 63
XIII. Franz Schulte alias Abraxas
65
XIV. Ein konservativer Klassiker verteidigt das monarchische Prinzip: Friedrich Julius Stahl
68
Inhaltsverzeichnis
8
XV. Robert von Mohl, ein herausragender liberaler Staatsrechtler im deutschen Vormärz XVI. Ein Rezipient im Revolutionsjahr 1848: Traugott Bromme
69 71
XVII. Dr. Mittermaier betätigt die Notbremse
73
E. Von Gneist bis zum Ersten Weltkrieg: largo
75
I. Buchers Kritik am englischen Parlamentarismus II. Obertribunalrath Oppenheim übersetzt einen englischen Klassiker: Sir Thomas Erskine May
75 78
III. Rudolf von Gneist, ein Pfadfinder im Urwald
80
IV. Eine früh verstorbene Hoffnung: Eduard Fischel
88
V. Ein englischer Klassiker in deutscher Übersetzung: Walter Bagehot .... VI. Kreisgerichtsrath Assmann übersetzt Alpheus Todd VII. Homersham Cox, Barrister at Law: der letzte Tanz der Gewaltenteilung VIII. Zwei populärwissenschaftliche Darstellungen und eine bedeutende Suffragette IX. Josef Redlich und Julius Hatschek: die wichtigsten deutschsprachigen Kenner der englischen Verfassung am Beginn des 20. Jahrhunderts X. Georg Jellinek empfiehlt einen Engländer: Sidney Low XI. Paul Heibeck und Friedrich Naumann XII. Nochmals Klarheit: A. Lawrence Lowell
91 94 97 97 100 106 108 109
F. Die Entwicklung in Querschnitten
112
Literaturverzeichnis
119
Anhang: Chronologische Übersicht zur Rezeptionsliteratur
128
Α. Gegenstand der Untersuchung Der große englische Verfassungskampf der Neuzeit hat bekanntlich schon im 17. Jahrhundert stattgefunden. Hier entschied sich das Machtverhältnis zwischen König und Parlament in seinen Grundzügen. Charles I. bezahlte seine absolutistischen Grillen am 30. Juni 1649 mit dem Kopf. Nach dem anschließenden republikanischen Intermezzo unter den beiden Crom wells (1649-60) kehrte England zwar wieder zur Monarchie zurück. Aber das Parlament zeigte der Welt in der Glorreichen Revolution (1689), wer der wahre Souverän war; es vertrieb mit James II. den letzten Stuart und installierte nach eigenem Willen die Dynastie Oranien. In den folgenden Jahrhunderten konnte sich die englische Verfassung im wesentlichen in ruhigen Bahnen weiterentwickeln. Der große Verfassungskonflikt Frankreichs wird ein Jahrhundert später durch die Revolution von 1789 und ihre Folgen markiert. Genauso wie kurz zuvor in den Vereinigten Staaten entschied man sich für eine geschriebene Verfassung, die die wesentlichen staatsrechtlichen Fragen beantwortete. Deutschland sah seine grundlegenden Verfassungskämpfe erst im 19. Jahrhundert, vorbereitet vom Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, begleitet von der Emanzipation des Bürgertums und von vier großen Kriegen, 1 kulminierend im Revolutionsjahr 1848 und vollendet mit der Weimarer Reichsverfassung 1919. Angesichts des zeitlichen Verhältnisses zur englischen und französischen Verfassungsentwicklung lag in Verfassungsfragen der Blick zu diesen westlichen Nachbarn natürlich nahe. Gegenstand dieser Arbeit ist der deutsche Blick nach England. Sie untersucht zweierlei: Werke deutscher Autoren, die sich dem englischen Staatsrecht widmeten, und deutsche Übersetzungen fremdsprachlicher Texte zum Thema, wobei naturgemäß englische Autoren überwiegen. Der Schwerpunkt liegt auf dem ersten Bereich, also der deutschen Wissenschaft, die sich als Teildisziplin zusammenfassen läßt in dem Begriff der deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht. Zugang zur englischen Verfassung fand das deutschen Publikum, und zwar auch das gebildete, im 19. Jahrhundert fast ausschließlich über Werke in deutscher Sprache. Auch die Wissenschaft fand erst spät den Zugang zu englischen Quellen, wie ein Blick in die Literaturhinweise der entsprechenden Bücher zeigt.
1 Nämlich dem Befreiungskrieg gegen das napoleonische Frankreich, dem österreichisch-preußischen Krieg 1866, dem deutsch-französischen 1870/71 und dem 1. Weltkrieg.
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Α. Gegenstand der Untersuchung
Da die vorliegende Arbeit nicht nur ein Beitrag zur Wissenschafts-, sondern auch zur Rezeptionsgeschichte sein möchte, stellen die einzelnen Quellen nicht immer staatsrechtliche Werke im engeren Sinne dar. Eine Einschränkung auf Staatsrechtsliteratur im engeren Sinne hätte zur Konsequenz gehabt, daß die gesamte deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts ausgeschlossen worden wäre, darüber hinaus auch der wirkungsgeschichtlich bedeutsame Artikel Murhards im Staatslexikon und eine Anzahl populärwissenschaftlicher Arbeiten. Mit dieser Ausgrenzung hätte sich der Anspruch nicht vertragen, auch einen Überblick über die deutsche Rezeption englischen Staatsrechts zu geben. Eine weitere Eingrenzung orientiert sich am Umfang der betrachteten Arbeiten. Auf Darstellungen einzelner Institutionen mußte verzichtet werden, ebenso auf die Wiedergabe von Einzelbemerkungen. Allein Hegel, Stahl und von Mohl bilden Ausnahmen. Montesquieus „De l'esprit des lois" steht am Anfang der untersuchten Quellen, obgleich er weder der deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht zuzuordnen ist, noch eine zeitgenössische deutsche Übersetzung existiert. Hieran bestand allerdings auch kein Bedarf im Deutschland des 18. Jahrhunderts, war doch das Französische die Sprache des Hofes und der Gebildeten. So sprach und korrespondierte der preußische König Friedrich II. bekanntlich fast ausschließlich französisch und sein Deutsch besaß, wie er selbst erklärte, das Niveau eines Kutschers. — Montesquieu gehört an den Beginn jeder kontinentalen Rezeptionsgeschichte des englischen Staatsrechts, weil seine (wenigen) Aussagen zu England das Englandbild der Welt und der Wissenschaft für fast einhundert Jahre beherrschten. Bei jeder historiographischen Arbeit stellt sich die Frage nach der Perspektive des Betrachters. Soll der untersuchte Gegenstand auf jene Aspekte reduziert werden, die ihn als Vorläufer der Gegenwart ausweisen? Oder soll der historische Gegenstand in seiner Zeit und gewissermaßen „als solcher" im Brennpunkt stehen? Sicher hat die erste Betrachtungsweise in bestimmtem Umfang ihre Berechtigung: Es ist völlig legitim nach der Herkunft der Ideen und Einrichtungen der Gegenwart zu fragen. Aber der Schwerpunkt muß, will man dem Gegenstand gerecht werden und nicht in unseriösen Eklektizismus verfallen, auf der zweiten Betrachtungsweise liegen. Hieraus ergibt sich für die vorliegende Untersuchung die besondere Bedeutung des historischen und biographischen Zusammenhangs, in dem die Protagonisten der deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht stehen. Hinweise auf Vorläufer und Anklänge gegenwärtiger Einrichtungen und Diskussionen bleiben dennoch erlaubt. Mancher Leser wird sich vor dem Hintergrund der einschlägigen englischen Literatur fragen, warum unser Titel von Staatsrecht spricht, nicht von Verfassungsrecht. Tatsächlich beziehen sich englische Titel in aller Regel auf die Begriffe constitution2 oder (seltener) government. 3 Die Disziplin führt den Namen constitutional law. Ganz anders in Deutschland. Hier spricht man vorzugsweise
Α. Gegenstand der Untersuchung
von Staatsrecht.4 Für die deutsche Rechtsentwicklung stand der Staat als solcher im Mittelpunkt der Betrachtung, besonders im 19. Jahrhundert, während man den Staat in England immer nur als Produkt der historischen und gesellschaftlichen Verhältnisse verstand und ihm keinen übermäßigen Eigenwert zusprach.5 Der deutsche Begriff des Staates ist nun keineswegs neutral und ohne weiteres übertragbar auf andere Länder. Es sei nur an die eigentümliche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft erinnert und an ihre Funktion im Zusammenhang mit der Emanzipation des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert. Mit einigem Recht spricht Isensee vom Dilemma der Staatsbegriffe. 6 Im Ergebnis denkt sich der deutsche Jurist beim Begriff Staatsrecht also eine bestimmte Methode und einen bestimmten Inhalt. Trotzdem wählten Gneist, Redlich und Hatschek, und damit die maßgeblichen deutschen Englischrechtler ihrer Zeit, den Begriff Staatsrecht. Auch die modernste deutsche Gesamtdarstellung, Karl Loewensteins zweibändiges Werk aus den 1960er Jahren, folgt dieser Tradition in völliger Selbstverständlichkeit und ohne irgendeine Erklärung. — Da es der deutsche Blick nach England ist, den zu beschreiben sich diese Arbeit vornimmt, war der deutschen Terminologie zu folgen. Also sprechen wir von Staatsrecht, nicht von Verfassungsrecht. Ein beachtenswerter Schaden in bezug auf die Erkenntnis der englischen Verfassung entsteht im übrigen nicht. Die Gegenstände sind im Kernbereich weitgehend identisch: Es wird nach Staatsorganen, Gesetzgebungsverfahren, Grundrechten, Mitwirkung des Bürgers an der politischen Willensbildung etc. gefragt.
2 Zum englischen Verfassungsbegriff die Ausführungen „What is a Constitution" von J. Harvey and L. Bather, The British Constitution, London 1964, S. 1 ff. 3 Beispiele für das 19. Jahrhundert: Sir George Bowyer's The English Constitution: a Popular Commentary on the Constitutional Law of England ; W. E. Hearn's The Government of England, its Structure and its Developement; Sir William Anson's Law and Custom of the Constitution. Vergl. auch Holdsworth, vol. XV, p. 275. 4 Früher begründete man die unterschiedliche Entwicklung von englischem und deutschen Staatsrechts damit, daß sich das englische Staatsrecht im Gegensatz zum deutschen nicht in Anlehnung an das römische Recht entwickelt habe. Vergl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 10. 5 Der Versuch Edmund Burkes, den Staatsbegriff aufzuwerten, muß wohl als Episode in der Auseinandersetzung mit der französischen Revolution verstanden werden: „The state ought not to be considered as nothing better than a partnership agreement in a trade of pepper and coffee, calico or tobacco, or some other such low concern, to be taken up for little temporary interest, and to be dissolved by the fancy of the parties." (Edmund Burke, Reflections on the French Revolution, 1790, Everyman's Library, London 1953, p. 93.) 6 Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Bd. I, Heidelberg 1987, S. 602.
Β. Zum Forschungsstand Überblickt man die Arbeiten deutscher Juristen und Historiker zum englischen Recht und zu den gesellschaftlichen Bedingungen seiner Rezeption, so fallen für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg besonders die Namen Kluxen, Birke, Loewenstein, W. Mommsen und G. A. Ritter auf. Kluxen legt das Hauptgewicht seiner Englandforschungen auf Entstehung und Funktionieren des Parlamentarismus. Den in der vorliegenden Arbeit angesprochenen Fragen des Gewaltenteilungsprinzips geht er ebenfalls nach und legte darüber hinaus kürzlich eine Arbeit zur englischen Verfassungsgeschichte im Mittelalter vor. 1 In gewisser Weise steht der 1973 verstorbene Karl Loewenstein in einer Reihe mit Gneist und Hatschek. Denn er krönte seine Englandforschungen mit einem großen zweibändigen Werk zu „Staatsrecht und Staatspraxis von Grossbritannien" 2 und kehrte damit zurück, wie er im Vorwort des ersten Bandes sagt, „zum Ausgangspunkt seiner wissenschaftlichen Jugend in jenen entschwundenen Jahren der Weimarer Republik." Der hier angeschlagene wehmütige Ton kommt nicht von ungefähr. Wohl kein deutscher Jurist mit Interesse an rebus Anglicis kann auf eine solche tiefe und ambivalente Verbindung zu Deutschland verweisen, wie der 1933 wegen seines jüdischen Glaubens in die Vereinigten Staaten emigrierte Max Weber Schüler Karl Loewenstein, der nach dem Krieg wieder nach Deutschland zurückkehrte. Seine Arbeit gewinnt hierdurch ein besonderes Gewicht. 1
Kurt Kluxen, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des englischen Parlamentarismus, in: Politische Vierteljahresschrift, Bd. III (1963), S. 2 ff; ebenfalls in: ders. (Hg.), Parlamentarismus, 5. Α., Königstein 1980. Ders., Die Entstehung des englischen Parlamentarismus, Stuttgart 1966. Ders., Das Problem der politischen Opposition. Entwicklung und Wesen der englischen Zweiparteienpolitik im 18. Jahrhundert, Freiburg etc. 1956. Ders., Die Herkunft der Lehre von der Gewaltentrennung, in: Aus Mittelalter und Neuzeit, Festschrift zum 70. Geburtstag von Gerhard Kallen, hg. von Josef Engel u. Martin Klinkenberg, Bonn 1957, S. 219 ff. Ders., Prinz Albert — Wegbereiter moderner Kulturund Sozialpolitik, in: Viktorianisches England in deutscher Perspektive, hg. von Adolf M. Birke und Kurt Kluxen, München etc. 1983, S. 13 ff. Ders., Englische Verfassungsgeschichte. Mittelalter, Darmstadt 1987. 2 Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Grossbritannien, Bd. I u. II, Berlin etc. 1967. Weitere einschlägige Literatur: Ders., Der britische Parlamentarismus, Entstehung und Gestalt, Hamburg 1964. Ders., Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England vor der ersten Reformbill, in: Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen 1961, S. 34 ff. Ders., Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England nach der großen Reform: Das Zeitalter der Parlamentssouveränität (1832-1867), in: Beiträge zur Staatssoziologie, S. 65 ff.
Β. Zum Forschungsstand
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Der Historiker Gerhard A. Ritter übersetzte „Das britische Regierungssystem" von Sir Ivor W. Jennings. Anschließend trat er mit einer Reihe eigener Publikationen zum englischen Rechtssystem und zur englischen Geschichte hervor, wobei der Schwerpunkt bei den Aspekten Parlamentarismus, Regierung und Demokratie in England liegt und Fragen der Entwicklung des Sozialstaates und der Arbeiterbewegung eine Rolle spielen.3 Die Entwicklung der englischen trade unions vor dem Hintergrund des Verfassungsrechts und die Frage der Rechtspersönlichkeit von Gewerkschaften ist Gegenstand einer überaus hilfreichen Untersuchung des Thomas Nipperdey Schülers Adolf M. Birke. 4 Birke griff später auch jenen Topos auf, der für ein spezielles deutsches Interesse an englischen Zuständen steht: die englische Krankheit. 5 Gemeint ist das englische Tarif- und Gewerkschaftssystem, das in jüngerer Zeit nicht immer zum Vorteil der englischen Wirtschaft gereicht hat. (Interessanterweise taucht hier die englische Krankheit als Begriff schon zum zweiten Mal in der deutschen Englandbetrachtung des 20. Jahrhunderts auf, wenngleich er beim ersten Auftauchen einen völlig anderen Inhalt hatte: Der anglophobe Nationalökonom Sombart verstand unter der englischen Krankheit in einer Kriegsschrift von 1915 die übermäßige Kommerzialisierung der Gesellschaft, eine Vorstellung, die schon bei Hegel zu finden ist.) 6 Überhaupt hat das deutsche wissenschaftliche Interesse an der englischen Gewerkschaftsgeschichte und an Entstehung des Tarifwesens in England und die entsprechenden Einflüsse auf Deutschland seit vielen Jahren Konjunktur; hinzu kommen Fragen der Entstehung des Sozialversicherungssystems und allgemein die Sozialpolitik am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Zu nennen sind etwa die von Wolfgang J. Mommsen mitherausgegebenen Sammelbände7 und zum Einfluß des Gewerkschafts- und Tarifwesens besonders die 3 Sir Ivor W. Jennings, Das britische Regierungssystem, übersetzt von Gerhard A. Ritter, Köln etc. 1958. Gerhard A. Ritter, Deutscher und britischer Parlamentarismus. Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich, Tübingen 1962. Ders., Parlament und Demokratie in Grossbritannien, Göttingen 1972. (= Eine Sammlung überarbeiteter Aufsätze.) 4 Adolf M. Birke, Pluralismus und Gewerkschaftsautonomie in England. Entstehungsgeschichte einer politischen Theorie, Stuttgart 1978. 5 Adolf M. Birke, Die englische Krankheit. Tarifautonomie als Verfassungsproblem in Geschichte und Gegenwart, in: Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte, 30. Jahrgang 1983, S. 621 ff. Darüber hinaus ist der Aufsatz „Die Revolution von 1848 und England" zu nennen, in: Viktorianisches England in deutscher Perspektive, hg. von Adolf M. Birke und Kurt Kluxen, München etc. 1983 (= Prinz-Albert-Studien, Bd. 1). Das am Ende des Bandes gegebene Mitgliederverzeichnis der Prinz-Albert-Gesellschaft liest sich wie ein Who is Who der deutschen Englandforschung. 6 Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München 1915, S. 99. 7 Wolfgang J. Mommsen / Wolfgang Mack (Hg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850-1950, Stuttgart 1982. Wolfgang J. Mommsen / Hans-Gerhard Husung (Hg.), The Development of Trade Unionism in Great Britain and Germany 1880-1914, London etc. 1985. Von Mommsen stammt auch ein sehr
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Β. Zum Forschungsstand
Forschungen von Rütten,8 Engelhardt, 9 und Eisenberg. 10 Die Beziehungen zwischen England und Deutschland im Bereich der Entwicklung des Arbeitsrechts wurden in umgekehrter Richtung in diesem Jahrhundert bekanntlich stark durch das Wirken eines deutschen Emigranten, nämlich Sir Otto Kahn-Freund geprägt. 11 Der Blick des deutschen Juristen nach England war in den letzten Jahren auch von aktuellen Fragen motiviert, Fragen, die auch auf der Insel diskutiert wurden und werden. So wurde nach den Auswirkungen des Beitritts Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft, die einstmals als bloße Wirtschaftsgemeinschaft begann, gefragt. Genauso wie in anderen Ländern der Gemeinschaft ist der Verlust von Souveränitätsrechten der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaft erst nach und nach in das allgemeine Bewußtsein gedrungen. Besonders eklatant erscheint der Souveränitätsverlust vor dem Hintergrund der englischen Tradition. 1 2 Hiermit verwandt ist die Frage, wie die Europäische Menschenrechtskonvention und andere internationale Verbürgungen der Menschenrechte sich auf die Rechtslage der Insel auswirkt und die englische Diskussion über einen geschriebenen Grundrechtskatalog. 13 instruktiver Abriß „Zur Entwicklung des Englandbildes der Deutschen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts" in der Festschrift für Paul Kluke „Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen, hg. von L. Kettenacker, M. Schlenke u. H. Seier, München 1981, S. 375 ff. 8 Wilhelm Rütten, Der Einfluß des englischen Tarifwesens auf die Entwicklung des deutschen Tarifvertragsrechts, in: Studien zur Einwirkung der Industriealisierung auf das Recht, hg. von Helmut Coing, Berlin 1991 (= Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History, Bd. 9, hg. von Helmut Coing u. Knut Wolfgang Nörr), S. 129 ff. Ders., Der Taff Vale Case und das deutsche Gewerkschaftsrecht, in: Archiv für Sozialgeschichte 31, 1991, S. 103 ff. 9 Ulrich Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark". Die Anfänge der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1862/63-1869/70, Stuttgart 1977. !o Christiane Eisenberg, Deutsche und englische Gewerkschaften. Entstehung und Entwicklung bis 1878 im Vergleich, Göttingen 1986. 11 Sir Otto Kahn-Freund, Labour and the Law, 2. ed. London 1977. 12 Eine kleine Auswahl aus dem umfangreichen Schrifttum: Richard Johannes Giesen, Die Auswirkungen des Beitritts Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf das britische Verfassungsrecht, Diss. Bonn 1967. Sir Lionel Heald, Die britische Souveränität und der Vertrag von Rom, in: EA 17 (1962), S. 843 ff. Bernhardt Raschauer, Der Beitritt Großbritanniens zu den Europäischen Gemeinschaften, in: ZaöRV 32 (1972), S. 616 ff. Hans G. Petersmann, Die Souveränität des Britischen Parlaments in den Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden, 1972. Klaus Thelen, Die Vereinbarkeit des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit der Britischen Verfassung, Köln etc. 1973. Auch hier gibt es eine Vielzahl von Artikeln und Monographien von deutscher und natürlich englischer Seite, eine kleine Auswahl: M. Glenn Abernathy, Should the United Kingdom Adopt a Bill of Rights? In: AJCL 31, (1983), S.431 ff. Ernest J. Goodman, Zum gegenwärtigen Stand eines Grundrechtsschutzes in der britischen Verfassung, in:ZPolit. 32 (1985), S. 412 ff. Wilhelm A. Kewenig, Die europäische Menschenrechtskonvention und die Kontrolle des nationalen Gesetzgebers in Großbritannien, in: NJW 1968, 2179 ff. Michael Koch, Zur Einführung eines Grundrechtskataloges im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, Berlin 1991. Alexander
Β. Zum Forschungsstand
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Nicht vergleichbar mit der von Rudolf von Gneist so wirkungsvoll losgetretenen literarischen Lawine zum sogenannten Selfgovernment und zum local government sind die jüngeren und wesentlich nüchterneren Ausführungen zu Lokalverwaltung und Regionalismus.14 Die Beharrlichkeit der deutschen Wissenschaft auf diesem Gebiet ist jedoch bemerkenswert. Insgesamt kann man sagen, daß die juristische deutsche Englandforschung auch in den letzten Jahren ganz überwiegend das englische Verfassungsrecht bearbeitete, Zivilrecht spielte hier eine spürbar geringere Rolle. Neben den genannten rechtshistorischen Untersuchungen finden sich Arbeiten über die Verantwortlichkeit der Minister, 15 parlamentarische Vertrauensfrage, 16 das Recht der Untersuchungsausschüsse17 und immer wieder über die sogenannte Parlamentssouveränität. 18 Auch die Parlamentskorruption des 18. Jahrhunderts, 19 der vom deutschen abweichende Staatsbegriff 20 und das ganz besondere Verhältnis der Engländer zur geschriebenen Verfassung 21 und die aus deutscher Perspektive eigenartigen Konventionairegeln 22 interessierten deutsche Betrachter. Elemente der Verfassung, die aus kontinentaler Perspektive besonders hervorstechen, ja bizarr wirken, scheinen stets eine besondere Anziehungskraft auszuüben. Hierzu gehört auch das englische Wahlrecht, zugeschnitten auf ein Zweiparteiensystem, McLeod, Is Britain's Magna Carta Outdated? In: The Christian Science Monitor v. 13.3.1992. Ε. H. Riedel, Die Habeas Corpus-Akte — 300 Jahre Tradition und Praxis einer Freiheitsgarantie, in: EuGRZ 7 (1980), S. 192 ff. 14 Gerald Gollob, Local Government und Planning in London, Frankfurt etc. 1978. Peter Malanczuk, Region und unitarische Struktur in Großbritannien. Die verfassungsrechtliche und verwaltungsorganisatorische Bedeutung der Region in England, Wales und Schottland, Berlin etc. 1984. •5 Rainer Klemmt, Die Verantwortlichkeit der Minister in Großbritannien, Tübingen 1983. 16 Roland Kleinhenz, Königtum und parlamentarische Vertrauensfrage in England 1689-1841, Berlin 1991. 17 Burkhard Ziemske, Das parlamentarische Untersuchungsrecht in England — Vorbild einer deutschen Reform? Berlin 1991. is K. Streifthau, Die Souveränität des Parlaments. Ein Beitrag zur Aufnahme des Souveränitätsbegriffs in England im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1963. Und schon früher Paul Ritterbusch, Parlamentssouveränität und Volkssouveränität in der Staats- und Verfassungsrechtslehre Englands, Leipzig 1929. H. Wellenreuther, Korruption und das Wesen der englischen Verfassung im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. CCXXXIV (1982), S. 33. 20 Friedrich Darmstaedter, Der englische Staatsgedanke und die deutsche Theorie, in: Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosophie, Festschrift für Rudolf Laun, hg. von D. S. Constantopoulos u. Hans Wehberg, Hamburg 1953, S. 537 ff. 21 Detlev Dicke, Englisches Verfassungsverständnis und die Schwierigkeiten einer Verfassungskodifikation, DÖV 1971, S. 409 ff. Und schon früher: Walther Rothschild, Der Gedanke der geschriebenen Verfassung in der englischen Revolution, Tübingen 1903. 22 Karl-Ulrich Meyn, Die Verfassungskonventionalregeln im Verfassungssystem Großbritanniens, Göttingen 1975.
16
Β. Zum Forschungsstand
das mit seiner Vernachlässigung kleinerer Parteien vor dem Hintergrund des kontinentalen Verhältniswahlrechts hin und wieder mit dem Prädikat „ungerecht" versehen wird, das im Gegenzug aber stets zu praktikablen Mehrheiten führt. Die Arbeiten Oppermanns hierzu standen allerdings auch unter dem Eindruck der noch nicht vollends festgefügten staatsrechtlichen Lage der frühen Bundesrepublik und der Wahlrechtsreform durch den Representation of the Peoples Act 1948, der neben anderem die Abschaffung des Universitätsstimmrechts brachte und gleichzeitig das Ende einer langen Wahlrechtsentwicklung markiert, die im Jahre 1832 begann.23 Möglicherweise wird der Blick in den nächsten Jahren wieder verstärkt hierauf gerichtet werden, falls sich nämlich herausstellt, daß auch unsere 5 %-Hürde nicht ohne weiteres regierungsfähige Mehrheiten produziert, wie es in den politischen Gutwetterzeiten der Bundesrepublik bisher üblich war. Wenn die genannten Arbeiten auch nicht immer genuin rechtshistorisch sind, findet sich doch meist ein rechtshistorischer Abriß des jeweils betrachteten Rechtsinstituts: Ein Charakteristikum der Wissenschaft vom englischen Recht. Eine Arbeit, die die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht mit ihren Besonderheiten im Blick hat und von den Anfängen bis ins frühe 20. Jahrhundert verfolgt, existiert, falls ich nichts übersehen habe, noch nicht. Die Arbeiten von Wilhelm, Klenk, Lamer und Kaufmann betrachten stets nur einen Ausschnitt. 24 Die hier durchgeführte wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungsweise konnte daher die Situationsgebundenheit der gesamten Rezeption zum ersten Mal in ihrem vollen Umfang offenlegen.
Thomas Oppermann, Britisches Unterhauswahlrecht, Karlsruhe 1961. Ders., Universitätsvertretung im Britischen Unterhaus 1603-1950, in: Zeitschrift für d. ges. St. W. 113 (1957) 314 ff. Ders., Realitäten des britischen Wahlrechts, in: Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", Β 1/60 vom 6.1.1960. Aus jüngerer Zeit ist zu nennen: Hans Setzer, Das britische Parteiensystem. Institutionelle, soziale und ökonomische Faktoren seiner Entwicklung, in: JöR NF 32 (1983) S. 71 ff. 24 Theodor Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus, Stuttgart 1928. Friedrich Klenk, Die Beurteilung der englischen Verfassung in Deutschland von Hegel bis Stahl, Murrhardt 1930. Georg Kaufmann, Die englische Verfassung in Deutschland, in: Hansische Geschichtsblätter XXVIII (Jg. 1900), S. 3 ff. Reinhard J. Lamer, Der englische Parlamentarismus in der deutschen politischen Theorie im Zeitalter Bismarcks (1857-1890), Lübeck etc. 1963.
C. Das 18. Jahrhundert: adagio Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschien in den deutschen Ländern eine steigende Zahl von Publikationen, die England zum Gegenstand hatten.1 Ein beträchtlicher Teil gehörte der Reiseliteratur an, 2 was allerdings nicht bedeutet, daß hierin keine Aspekte des englischen Rechtssystems angesprochen worden wären, 3 wenngleich Kritik an der mangelnden staatsrechtlichen Bildung der Reisenden auch nicht gefehlt hat. 4 Überhaupt steht am Anfang der kontinentalen Kenntnisnahme von England und der englischen Verfassung die literarische Gattung des Reiseberichts, so etwa die einschlägigen „Lettres Philosophiques" Voltaires (1734) und die vorangegangenen „Lettres sur les Anglais et les Français et sur les Voyages" des Beat von Murait (1725).
1
Rudolf Muhs, Freiheit und Elend. — Die Diskussion der sozialen Frage Englands und ihr Stellenwert im Bereich grund- und freiheitsrechtlicher Werthaltungen im deutschen Vormärz, in: Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, hg. von Günter Birtsch, Göttingen 1981, S. 486. 2 Robert Elsasser, Über die politischen Bildungsreisen der Deutschen nach England (vom achtzehnten Jahrhundert bis 1815), Heidelberg 1917, S. 12 ff. 3 Als spätes Beispiel sei an dieser Stelle Heinrich Heine genannt, der seine Reiseeindrücke in die „Englischen Fragmente" von 1828 einbrachte. Hierin reflektiert er auch darüber, inwieweit England tatsächlich, dem literarischen Topos entsprechend, das „Land der Freiheit" sei, als das es gepriesen wurde. Heine kritisierte, die englische Freiheit vollziehe sich mehr im häuslichen Bereich und ihr mangele vor allem das Element der Gleichheit (s. Sämtliche Schriften Bd. II, hg. von K. Briegleb, Darmstadt 1969, S. 533 ff). In diesem Zusammenhang findet sich auch das unvergleichliche Bonmot, der Engländer liebe seine Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib, daß er zwar nicht absonderlich zärtlich behandele aber notfalls verteidige; der Franzose liebe die Freiheit glühend wie seine erwählte Braut und begehe für sie tausenderlei Torheiten, während der Deutsche die Freiheit lediglich liebe wie seine Großmutter. Ein weiterer Beleg für die Bedeutung von Reiseberichten für das deutsche Bild von der englischen Verfassung findet sich bei einem Blick in das Literaturverzeichnis der 1821 erschienenen zweibändigen „Prüfung der englischen Staatsverfassung und Vergleichung derselben mit der deutschen" von J. G. Beschorner; hierzu unten mehr. 4 Niebuhr schreibt 1815 hierüber: „Unsere Reisenden hingegen, denen eigene Anschauungen verschaffen sollte, was der Bücherleser nicht haben kann, sind fast alle ohne eigene Erkenntnis von den Elementen dieser Kunst (gemeint ist Verwaltung und Regierung, Rechtskunde und Rechtspflege, d. Verf.) und der bürgerlichen Verwaltung: sie begreifen daher gerade hierüber gar nichts, indem sie alle ihnen bekannte Einrichtungen vermissen, und die für sie unerhörten, welche sie, unter sehr uneigentlich scheinenden Namen, antreffen, durchaus nicht verstehen können. Denn sie wissen gar nicht was sie suchen sollen." S. B. G. Niebuhr in seiner Vorrede zu L. Freiherr von Vincke, Darstellung der inneren Verwaltung Großbrittanniens, S. V., Berlin 1815. 2 Pöggeler
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C. Das 18. Jahrhundert: adagio
I. Montesquieu: eine falsche Fährte Für den gesamten Kontinent, keineswegs nur für das deutsche Verständnis des englischen Staatsrechts besaß zunächst Montesquieu eine herausragende Bedeutung. Man meinte sogar, „von einer öffentlichen Meinung über die englische Verfassung und von ihrem Einfluß in Deutschland" könne erst seit Montesquieu gesprochen werden. 5 Im sechsten Kapitel des elften Buches seines 1748 erschienen Hauptwerkes „De l'esprit des lois" behandelt Montesquieu die englische Verfassung. Allerdings weist im Text nicht allzuviel darauf hin, daß ein konkretes Staatswesen geschildert wird. Wäre die Überschrift nicht, man möchte zunächst an ein verfassungsrechtliches Idealprogramm glauben. Die Rezeption dieses Werkes hatte für das Bild von der wahren englischen Verfassung „eine ungeheuer weittragende und verderbliche Bedeutung".6 Diese Bewertung beruht nach einer Ansicht darauf, daß Montesquieu „die zeitgenössische Praxis in England, die Quelle seiner Inspiration, gründlich mißverstanden" 7 habe. Montesquieu betont als Machtmittel des englischen Königs dessen Vetorecht gegenüber Parlamentsbeschlüssen und das Recht zur Einberufung und Auflösung des Parlaments. Im Zeitalter der Tudors (1485-1603) war das Veto tatsächlich ein gängiges Instrument. So erteilte zum Beispiel Elisabeth I. am Ende einer Session die Zustimmung zu 43 Gesetzen, legte ihr Veto aber gegen 48 Gesetze ein. 8 Das Veto wurde im Laufe der Jahre immer sparsamer verwendet, eine Entwicklung, mit der das Wachsen der Macht des Parlaments einherschritt. Das Recht der Krone, einem Gesetz das Veto entgegenzusetzen, wurde zuletzt im Jahre 1707 durch Königin Anna (1702-1714) ausgeübt. Annas Nachfolger, der aus Hannover stammende Georg I. (1714-1727), sprach nicht einmal englisch.9 Und 5 Georg Kaufmann, Die englische Verfassung in Deutschland, Hansische Geschichtsblätter, Bd. X (1900), S. 7. 6 Theodor Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus, Stuttgart 1928, S. 9. Eduard Fischel schrieb 1862: „Da das Studium Englands bisher aber fast nur nach der Montesquieu'sehen und de Lohne' sehen Methode betrieben wurde, so kam man zu den seltsamsten Resultaten," s. Eduard Fischel, Die Verfassung Englands, 2. A. Berlin 1864, S. 24. 7 Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis in Grossbritannien, Bd. I Berlin etc. 1967, S. 84. 8 Eduard Fischel, Die Verfassung Englands, 2. A. Berlin 1864, S. 481 Anm. 2. 9 Georg I. sprach mit seinen Ministern, soweit möglich, französisch und mit Sir Robert Walpole, dem ersten (faktischen, nicht formellen) Prime Minister, Latein, was beide schlecht beherrschten, s. Karl Loewenstein, Der britische Parlamentarismus, Hamburg 1964, S. 68. Georg I. wird von anderer Seite beschrieben als „an elderly and unprepossessing German prince, ignorant alike of the language and character of his new kingdom and profoundly attached to his Hanoverian electorate . . .," s. David Lindsay Keir, The Constitutional History of Modern Britain Since 1485, 8. A. London 1966, S. 289.
I. Montesquieu
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infolgedessen fehlte ihm bereits die für die Ausübung des Vetos zweifellos nützliche sprachliche Kompetenz. Im wesentlichen mangelte ihm jedoch das Interesse für englische Angelegenheiten, was ihn mit seinem Nachfolger Georg II. (1727-1760) verbindet. Tatsächlich war das königliche Veto, entgegen den Ausführungen Montesquieus, von der wahren englischen Verfassung des 18. Jahrhunderts weit entfernt. Weiter schreibt Montesquieu: „Die vollziehende Gewalt muß in den Händen eines Monarchen liegen. Denn dieser Teil der Regierung, der fast immer der augenblicklichen Handlung bedarf, ist besser durch einen als durch mehrere v e r w a l t e t . . . " 1 0 Da sich diese Aussage innerhalb seines Englandkapitels findet, muß man wohl davon ausgehen, daß hiermit der englische Monarch gemeint ist, jedenfalls scheint allgemein hiervon ausgegangen worden zu sein. — Das Ministerkabinett als in gewissem Umfang eigenständiger Träger der Exekutive, das seine Legitimität primär vom Parlament erhält, paßt nicht in dieses Montesquieusche Bild. Wenn der Hannoveraner Georg II., der zur Zeit Montesquieus in England regierte, selbst sagt: „Ministers are kings in this country", 11 zeigt das die Problematik der Montesquieuschen Aussage zur Exekutivgewalt des Monarchen. Weittragender war eine andere Montesquieusche Fehldarstellung: die Gewaltenteilung. 1 2 Josef Redlich meinte: „Nichts ist irriger und für das Verständnis der englischen Verfassung verhängnisvoller gewesen als die von Montesquieu ersonnene, von Blackstone mit dem Schein der Rechtsgelehrsamkeit aufgestellte Theorie von der Teilung der Gewalten, als dem Wesen der englischen Verfassung." 13 Montesquieu geht zunächst von der These aus, die Trennung von Legislative und Exekutive sei Bedingung der politischen Freiheit. Der Leser, der den geläufigen Topos von der englischen Freiheit kennt, muß nun schließen, in England seien Legislative und Exekutive getrennt. So hat Montesquieu es wohl selbst verstanden. Darüber hinaus meint er, das englische Parlament habe nur eine Möglichkeit, auf die Exekutive des Königs einzuwirken, und zwar mittels 10 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, übersetzt von Ernst Forsthoff, Tübingen 1951, Bd. I (Buch XI Kap. 6) S. 221. 11 Julius Hatschek, Englische Verfassunggeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Viktoria, 2. A. München 1913 (Reprint Aalen 1978). S. 564. 12 Die Gewaltenteilungsdoktrin stammt nicht originär von Montesquieu. Ihre Entwicklung läßt sich bis zu antiken Ansätzen (Aristoteles und Polybius) zurückverfolgen und erfuhr bereits im 17. Jahrhundert in England zunächst durch Richard Temple und dann durch John Locke neue Impulse. Montesquieu soll die Lockeschen Vorstellungen über seinen englischen Freund Bolingbroke vermittelt bekommen haben (s. Julius Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. I. S. 19 ff). Wenn in einem Atemzug mit der Gewaltenteilungsdoktrin der Namen Montesquieus genannt wird, hat das dennoch seine Berechtigung. Denn es „gab die Autorität Montesquieus dieser Konzeption eigentlich erst Gewicht." (Horst Dreitzel, Absolutismus und Ständische Verfassung in Deutschland, Mainz 1992, S. 106.) *3 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, Leipzig 1901, S. 46 f.
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Ministeranklage. Diese Beschreibung ging erheblich an den wahren Verhältnissen vorbei. Die Minister waren nämlich in stetig steigendem Maße von den Mehrheiten im Parlament abhängig und in stetig sinkendem Maße vom Willen des Königs. Tatsächlich lag die Exekutive immer mehr in Händen des Kabinetts. Dieses wiederum rekrutierte sich aus Mitgliedern des Parlaments, in der Regel Mitgliedern der Parlamentsmehrheit. Mit einem Wort: Man findet eben keine Trennung von Parlament und Regierung, vielmehr die lebhafteste Verschränkung. 14 Von antiken Ursprüngen der Gewaltenteilungsidee geleitet, meinte Montesquieu, der König verkörpere das monarchische Prinzip, das House of Lords stehe für das aristokratische und das House of Commons für das demokratische. Hier übersah er die tatsächliche Zusammensetzung beider Häuser. Denn sowohl im Ober- als auch im Unterhaus saß im wesentlichen dieselbe soziale Schicht: der Adel. Die rangmäßigen Unterschiede waren graduell. Entschieden zu weit ging deshalb die Annahme, beide Häuser verkörperten die volonté générale, wenn man hierunter den Willen des gesamten Volkes versteht. In Wahrheit kam nicht der Volkswille, sondern der jenes Adels zum Ausdruck. Ober- und Unterhaus waren „Organ einer aristokratischen Oligarchie." 15 Bei Montesquieu findet sich kein Wort über die immense Korruption im Zusammenhang mit der Entstehung der parlamentarischen Regierung seit dem beginnenden 18. Jahrhundert. Die gesamte Regierungsform wurde später sogar bezeichnet als „government by corruption" 16 und Hatschek spricht von einem „Bestechungssystem, in dem der ältere Walpole ein Meister war." 17 Schon Montesquieus Zeitgenosse Voltaire bemerkte zur englischen Parlamentskorruption spöttisch: „Der beste Beweis, daß ihr Briten mehr seid als wir, ist der, daß man sich die Mühe gibt, euch zu kaufen." 18 Ebensowenig brachte Montesquieu Klarheit über das willkürliche Wahlsystem auf der Insel, dessen markantestes Element die rotten boroughs darstellten. Hatschek übersetzte treffend als „faule Städte".19 Die rotten boroughs waren teilweise verschwindend kleine Wahlbezirke mit nur einer Handvoll Wahlberechtigter, in denen das Entsendungsrecht zum Unterhaus faktisch von einem großen Grundbesitzer oder Finanzbaron ausgeübt wurde. Das Entsendungsrecht wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts zum Gegenstand eines schwunghaften Handels. Auf der anderen Seite fanden sich große Städte, die überhaupt nicht parlamentarisch vertreten waren. Auf das Problem der rotten boroughs hatte bereits 1690 John Locke in seinen „Two Treatises on Civil Government" hingewiesen. 14 Diese Verschränkung wird für das 18. Jahrhundert beispielsweise von David Lindsay Keir beschrieben, aaO, S. 295. 15 Theodor Wilhelm, S. 12. 16 Karl Loewenstein, Staatsrecht I, S. 16. 17 Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 565. is Eduard Fischel, S. 18 Anm. 2. 19 Hatschek, Engl. Verfassungsgeschichte, S. 394.
II. William Blackstone
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Der Unterschied zwischen seiner Darstellung der englischen Verhältnisse und der englischen Wirklichkeit scheint auch Montesquieu aufgefallen zu sein. Denn am Ende des Englandkapitels meint er: „Es ist nicht an uns zu untersuchen, ob die Engländer gegenwärtig diese Freiheit wirklich genießen oder nicht. Es genügt nur, zu sagen, daß sie durch ihre Gesetze eingeführt ist. Um weiteres kümmere ich mich nicht." 20 Gelegentlich stützen sich die Verteidiger Montesquieus auf diese Passage, also das Argument, er habe eben nichts anderes als die Gesetze dargestellt. 21 Doch innerhalb einer Ausführung mit dem Titel „Von der Verfassung Englands" ist eine solche Reduzierung nicht legitim; jedenfalls kommt der Hinweis auf die Besonderheit des Vorgehens zu spät und nicht deutlich genug. Überhaupt kann die englische Verfassung, als unwritten constitution, nicht allein durch Interpretation von Gesetzen im formalen Sinne behandelt werden. Die tatsächliche Übung war, spätestens seit den Anfängen der parlamentarischen Regierung zu Beginn des 18. Jahrhunderts, ein nicht wegzudenkendes Moment dieser Verfassung.
II. William Blackstone22 und sein deutscher Übersetzer H. F. C. von Colditz Die umfangreichen „Commentaries on the Laws of England" sind William Blackstones Hauptwerk und überhaupt eines der bedeutendsten Werke der englischen Rechtsgeschichte. Sie waren die Frucht seiner Oxforder Vorlesungen. Der erste Band erschien 1765 und behandelt „The Rights of Persons". Der zweite Band (1766) betrifft „The Rights of Things", der dritte (1768) und vierte (1769) „Private Wrongs" und „Public Wrongs". Unter staatsrechtlichen Gesichtspunkten übertrifft der erste Band die anderen bei weitem an Bedeutung. Dessen erstes Kapitel beschreibt absolute Rechte der einzelnen, die in drei Gruppen gegliedert werden: das Recht der persönlichen Sicherheit (der einzelne solle sich unter dem Schutz des Rechtes seines Lebens, Körpers, seiner Gesundheit und seines Anse20
Montesquieu, S. 229 der Forsthoffschen Übersetzung. So etwa Theodor Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus, S. 8. 22 Sir William Blackstone (1723 -1780) war der Sohn eines Londoner Bürgers. Wegen des frühen Todes seiner Eltern überwachte ein Onkel seine Erziehung. 1736 wurde er fellow des Pembroke College in Oxford. Er studierte Literatur, Mathematik und Architektur. 1741 entschloß er sich zu einer juristischen Ausbildung in einer der Londoner Inns of Court, Middle Temple. 1746 begann seine erste praktische Juristenzeit; sie war insgesamt recht erfolglos, weil ihm die forensische Beredsamkeit fehlte. Aber er verlor in dieser Zeit nicht den Kontakt zur Wissenschaft, so daß er 1758 in Oxford die erste Vinersche Stiftungsprofessur antrat. Seine juristischen Vorlesungen und Werke brachten ihm rasch eine großartige Reputation. 1761 wurde Blackstone Mitglied des Unterhauses und 1763 Solicitor-General ihrer Majestät. 21
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hens erfreuen), das Recht der persönlichen Freiheit, 23 und das Recht am Privateigentum. 2 4 Bezeichnenderweise handelt erst das nächsten Kapitel vom Parlament und erst mit dem dritten Kapitel beginnt die Darstellung der Rechtsstellung der Krone. Es fragt sich daher zweierlei: Warum rangieren die Rechte der Individuen vor den staatlichen Institutionen und warum rangiert die Institution Parlament vor der Krone? Das erstgenannte Rangverhältnis ist vor dem Hintergrund des Blackstoneschen Rechtsverständnisses nur konsequent. Denn er unterscheidet zwei Kategorien von Rechten. Neben jene „absolute rights of individuals" stellt Blackstone eine geringere Kategorie von Rechten, und zwar „certain other auxiliary subordinate rights." Die Einteilung wirkt heute etwas gezwungen. Im Deutschen sollte man daher vielleicht besser von nachgeordneten Rechten und Institutionen sprechen, denn es handelt sich um die Einrichtung des Parlaments, die Begrenzung der königlichen Prärogative, das Recht zur Anrufung des Gerichts, das Petitionsrecht gegenüber beiden Häusern und dem König oder der Königin und das Widerstandsrecht (zu dessen Ausführung der einzelne Waffen besitzen dürfe). Aus dieser Differenzierung zwischen absoluten Rechten und Hilfsrechten folgt natürlich ohne weiteres, daß mit den ersteren zu beginnen ist. Denn die Hilfsrechte haben allein die Funktion, dem einzelnen den Genuß seiner absoluten Rechte zu sichern. 25 Die vorrangige Darstellung des Parlaments gegenüber der Krone kann damit erklärt werden, daß Blackstone im Parlament (bestehend aus king, lords und commons) die höchste und absolute Autorität im Staat sieht. 26 Darüber hinaus sei die Stellung der Krone letztlich nur eine durch Kontrakt entstandene, nämlich durch einen Gesellschaftsvertrag zwischen Volk und König. 27 23 Ansatzpunkt ist das Recht, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen; infolgedessen sind beispielsweise willkürliche Verhaftungen unzulässig; dieser Gedanke ist bekanntlich Gegenstand der Habeas Corpus Akte. 24 In diesem Zusammenhang nennt Blackstone auch die Freiheit von Steuern und Abgaben, es sei denn, der einzelne sei mit ihnen einverstanden oder aber das Parlament habe sie gebilligt (Vol. I, Chapter I = S. 140 der 18. Α. 1829). 25 „In the three preceding articles we have taken a short view of the principle absolute rights which appertain to every Englishman. But in vain would these rights be declared, ascertained, and protected by the dead letter of the laws, if the constitution had provided no other method to secure their actual enjoyment. It has therefore established certain other auxiliary subordinate rights of the subject, which serve principally as outworks or barriers to protect and maintain inviolate the three great and primary rights, of personal security, personal liberty, and private property" (Blackstone, Commentaries, Vol. I Chapter I = S. 140 der 18. A. 1829). 26 „It will be the business of this chapter to consider the British parliament, in which the legislative power, and (of course) the supreme and absolute authority of the state, is vested by our constitution" (Blackstone, Commentaries, Vol. I Chapter II = S. 146 der 18. A. 1829). 27 Blackstone, Commentaries, Vol. I Chapter VI = S. 233 der 18. A. 1829 und Vol. I Chapter VII.
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Montesquieus Irrtum über die Gewaltenteilung in England setzt sich in Blackstones Commentaries fort. Ganz zu Beginn des zweiten Kapitels erklärt Blackstone ein Merkmal der tyrannischen Regierungsformen: In ihnen sei die rechtsetzende und die das Recht ausführende Gewalt in der Hand derselben Person oder Körperschaft; woimmer die beiden Befugnisse vereinigt sind, könne keine Freiheit herrschen. Die Freiheit des einzelnen könne durch die Teilung von Legislative und Exekutive gesichert werden. Nach diesen Feststellungen kommt Blackstone zu seiner dergestalt vorbereiteten Erklärung: „With us, therefore, in England, this supreme power is divided into two branches; the one legislative, to wit, the parliament, consisting of king, lords and commons; the other executive, consisting of the king alone." 28 Zurecht kritisiert Josef Redlich die Ausführungen Blackstones zur Gewaltenteilung: „Als Blackstone diese Theorie niederschrieb, war für den tiefer eindringenden Beobachter das Parlament bereits ebenso sehr zur Oberleitung der Exekutive gelangt, wie es längst die Legislative besaß."29 Zweifellos hat Blackstone die königlichen Prärogativen übertrieben dargestellt. 3 0 Richtig und bedeutsam ist jedoch, was Blackstone ganz zu Anfang des VII. Kapitels im ersten Buch über die Prärogative sagt: Die königliche Prärogative sei begrenzt und ihre Grenze der öffentlichen Diskussion nicht entzogen (wie das insbesondere König James I, 1603-1625, in absolutistischer Manier und letztlich erfolglos, versucht hatte).31 Falsche Vorstellungen verursachte jedenfalls die Beschreibung des Vetorechts innerhalb der Prärogative. Danach konnte der König Gesetzesvorhaben des Parlaments nach eigenem Gutdünken zurückweisen.32 Daß die Staatspraxis völlig anders war, wurde oben schon erwähnt. Auch wurde bereits erwähnt, daß Blackstone die Exekutive als Materie des Königs betrachtete. Die Exekutive sei „wisely placed in a single hand" und alle, die bei der Ausübung behilflich sind, handelten „in due subordination to him". 3 3
28 Blackstone, Commentaries, Vol. I Chapter II = S. 146 der 18. A. 1829. 29 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung. S. 47. 30 Hatschek meint, Blackstone schildere die „Vollgewalt" der königlichen Prärogative „mit einer Farbenpracht, die auch für die Zeit eines Georg III. als übertrieben bezeichnet werden muß'4 und es sei „Wilhelm der Eroberer, der über solche Prärogativ-Befugnisse verfügt hatte, wie sie Blackstone den englischen Königen seiner Zeit zuschrieb." Julius Hatschek, Engl. Staatsrecht I. S. 19. 31 „It was observed in a former chapter, that one of the principle bulwarks of civil liberty, or (in other words) of the British constitution, was the limitation of the king's prerogative by bounds so certain and notorious, that it is impossible he should ever exceed them, without the consent of the people, on the one hand; or without, on the other, a violation of that original contract, which in all states impliedly, and in ours most expressly, subsists between the prince and the subject" ( Blackstone, Commentaries, Vol. I Chapter VII am Anfang). 32 „First, he is a constituent part of the supreme legislative power; and, as such, has the prerogative of rejecting such provisions in parliament as he judges improper to be passed" (Blackstone, Commentaries, Vol. I Chapter VII = S. 261 der 18. A. 1829). 33 Blackstone, Commentaries, Vol. I Chapter VII = S. 250 der 18. A. 1829.
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Kein Wort fällt über das Kabinett und insbesondere über das sich seit Anfang des 18. Jahrhunderts herausbildende parlamentarische Ministerkabinett. „Wie mit Scheuklappen versehen, geht er an der eben im Entstehen begriffenen parlamentarischen Regierung vorüber." 34 Blackstones Wirkung auf die politisch und wissenschaftliche Tätigen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist kaum zu überschätzen.35 Viele, darunter insbesonder Dahlmann, das Haupt der Göttinger Sieben, „haben ihren Blackstone so gut, oder besser noch, als ihren Montesquieu studiert." 36 Besonders reizvoll ist ein Vergleich der Commentaries mit ihrer zweibändigen deutschen (Teil-)Übersetzung von 1822/23. Sie wurde von H. F. C. von Colditz besorgt und enthält eine Vorrede des Kieler Rechtsprofessors N. Falck. 37 Dort, wo Blackstone die zentrale Bedeutung der absoluten Rechte des einzelnen besonders betont, nimmt die Übersetzung durch schlichte Auslassung die Schärfe der Aussage zurück. Blackstone schreibt: „For the principle aim of society is to protect individuals in the enjoyment of those absolute rights, which were vested in them by the immutable laws of nature." 38 In der Colditzschen Übersetzung fehlt diese Aussage vollständig. Zur Gewaltenteilung übersetzt Colditz: „In England teilt sich die oberste Gewalt in zwey Zweige, den gesetzgebenden oder das Parlament, welches aus König, Ober- und Unterhaus besteht, und den vollziehenden, den der König allein bildet." 39 Diese Aussage ist eine reine Beschreibung. Bei Blackstone hingegen findet sich darüber hinaus ein eindringlich vorgetragenes Postulat! Insbesondere bezeichnet er die Regierungsformen ohne Gewaltenteilung als „tyrannical governments" und stellt ausdrücklich fest: „wherever these two powers are united together, there can be no public liberty." 40 Ein drittes und abschließendes Beispiel soll zur Illustration der übersetzerischen Tendenz herangezogen werden: die königliche Prärogative. Colditz beginnt deren Darstellung mit einer Definition: „Unter dem Worte Vorrecht pflegen wir den 34 Julius Hatschek, Engl. Staatsrecht I, S. 18. 35 So basiert zum Beispiel noch die Arbeit von Custance am Beginn des 19. Jahrhunderts ganz und gar auf Blackstones Ausführungen, s. George Custance, A Concise View of the Constitution of England, London 1808; eine deutsche Übersetzung der dritten englischen Auflage erschien 1827 in Braunschweig. 36 Theodor Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus, Stuttgart 1928, S. 15. 37 Beide Bände wurden im Königlichen Taubstummen-Institut gedruckt und verlegt. Offensichtlich war die Übersetzung dem dänischen König nicht unangenehm. 3 8 Blackstone, Commentaries, Vol. I Chapter I = S. 124 der 18. Α. 1829. 3 9 W. Blackstone's Handbuch des Englischen Rechts, im Auszuge und mit Hinzufügung der neueren Gesetze und Entscheidungen von John Gifford Esqu. Aus dem Englischen von H. F. C. v. Colditz, Königl. Dänischem Landvogt, Bd. I Schleswig 1822 (im folgenden Colditz / Blackstone). S. 67. 40 Blackstone, Commentaries, Vol. I Chapter II am Anfang.
III. Jean Louis de Lolme
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besonderen Vorrang zu verstehen, welchen der König vor allen anderen Personen, als Ausnahme von der gewöhnlichen Ordnung des gemeinen Rechts, kraft seiner königlichen Würde hat." 41 Es folgen im wesentlichen einzelne Prärogativrechte. Ganz anders aber Blackstone! In einer ausführlichen Einleitung zum siebten Kapitel des ersten Buches („Of the King's Prerogative") behandelt er das im Verhältnis zu anderen Monarchien wesentliche Element der englischen königlichen Prärogative, nämlich ihre Begrenzbarkeit und Begrenzung. 42 Dieses Prinzip der Begrenzung sei „a first and essential principle in all the Gothic systems of government established in Europe." 43 Man kann sich gewiß nach der Legitimität einer Kürzung des Blackstoneschen Werkes fragen, Bedenken drängen sich massiv auf. Die hier angeführten Beispiele zeigen jedenfalls, daß es dem Übersetzer nicht allein um ein bloßes Zeilensparen geht. In Wahrheit wurden die Commentaries entschärft und damit für die restaurative Epoche nach dem Wiener Kongreß in Deutschland publizierbar gemacht.
I I I . Jean Louis de Lolme: ein treuer Begleiter der deutschen Rezeption und ihrer Irrtümer Auf den Blackstoneschen Commentaries basiert das Werk „La Constitution de l'Angleterre" des Genfer Anwalts Jean Louis de Lolme. De Lolme war im Zusammenhang mit dem Verfahren des Genfer Rates gegen Jean Jaques Rousseau als Endzwanziger nach England geflohen, wo er nach einjährigem Aufenthalt mit der Niederschrift begann. Das Werk erschien zunächst 1771 in Amsterdam in französischer Sprache. Die erste (erweiterte) englische Ausgabe stammt von 1775,44 die zweite (ebenfalls erweiterte) von 1781. Die letzte (wiederum erweiterte) vom Autor selbst besorgte Ausgabe ist die vierte von 1784. Der Bezug zu den Blackstoneschen Commentaries wird in der Gliederung des ersten Buches deutlich. Wenn man von einer Vergleichung mit den Verhältnissen in Frankreich absieht, ergibt sich eine deutliche Parallele: Auf die Darstellung der Freiheit der englischen Nation folgt die der gesetzgebende Macht, der vollziehenden Macht und der Beschränkung der königlichen Prärogative durch die Verfassung. Das zweite Buch verfolgt im wesentlichen einen einzigen Zweck, nämlich die Vorzüge der englischen Verfassung hervorzuheben. Eine spezifische Bedeutung des Werkes liegt in der Beschreibung der Teilung des englischen 41
Colditz / Blackstone, Bd. I. S. 128. (Eine wortgetreue Übersetzung einer Textstelle, die Blackstone keineswegs am Anfang seiner Ausführungen zur Prärogative bringt, sondern erst im vierten Absatz.) 42 Vergl. das Blackstone-Zitat in Fußnote 56. 4 3 ibd. 44 Jean Louis de Lolme, The Constitution of England; in wich it is compared both with the republican form of government, and the other monarchies in Europe, 1775.
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C. Das 18. Jahrhundert: adagio
Parlamentes in Ober- und Unterhaus. Nach einer Ansicht liegt hierin „die literarische Wurzel aller späteren Lobpreisungen auf das englische Zweikammersystem." 45 Für diese Auffassung spricht insbesondere das Werk Dahlmanns, des Hauptes der Göttinger Sieben und glühenden Verehrers des Zweikammersystems. Die zweite deutsche Übersetzung des de Lolmeschen Werkes datiert 1819 und ihr vorangestellt wird ein Vorwort Dahlmanns, der de Lolme im übrigen in eine Reihe stellte mit Blackstone, Burke und John Locke. 46 Vorangegangen war eine deutsche Übersetzung, die bereits 1776 in Leipzig erschien, also fünf Jahre nach Erscheinen der Amsterdamer Originalausgabe und nur ein Jahr nach der ersten englischen Übersetzung. Offensichtlich wartete der Büchermarkt auf ein Werk dieser Art. Die dritte und letzte deutsche Übersetzung besorgte C. F. Liebetreu; sie erschien 1848.47 So wurde de Lolme zu einem treuen Begleiter der deutschen Rezeption englischen Staatsrechts und ihrer Irrtümer. Die zeitgenössische Kritik war auch durchaus nicht nur positiv. Dahlmann berichtet, daß beispielsweise die „Wiener Jahrbücher der Literatur" das Werk de Lolmes ein zwar „verständiges aber oberflächliches Buch" genannt hätten.48 Dahlmann selbst gehört allerdings zu den Verehrern de Lolmes. Er findet Gefallen an de Lolmes Versuch, die Vereinbarkeit von Freiheit und Königtum zu begründen. Und auch de Lolmes Liebe zur englischen Preßfreiheit wird von Dahlmann erwähnt, ebenso wie die Bewunderung dafür, daß die Gegensätze unter englischen Politikern nicht so groß seien wie unter deutschen Politikern. Insgesamt bringt de Lolme nichts Neues im Verhältnis zu Montesquieu und Blackstone. Durch seine frühe deutsche Übersetzung und ihre zwei Nachfolger erlangte er für die deutsche Rezeption aber eine ganz unverhältnismäßige Bedeutung. Die bereits angesprochenen Irrtümer beziehen sich auf de Lolmes Unfähigkeit, die Parlamentsherrschaft und die damit verbundene parlamentarische Regierungsweise zu erkennen. De Lolme läßt dem König das Veto ohne Einschränkung; der König scheint kaum begrenzt in der Einberufung und Auflösung des Parlaments; seine Prärogativen werden in den schönsten Farben gemalt. 49 Das geht dem Autor dann bald 45 Theodor Wilhelm, S. 18. 46 Friedrich Christoph Dahlmann, F. C. Dahlmanns kleine Schriften und Reden, hg. von C. Varrentrapp, Stuttgart 1886, S. 11. 47 In K. W. Krüger*s Verlagsbuchhandlung. 48 J. L. de Lolme, Die Verfassung von England dargestellt und mit der republicanischen Form und mit anderen europäischen Monarchien verglichen, Altona (Johann Friedrich Hammerich) 1819, Vorrede Dahlmanns, S. XII. 49 Beispiele aus der Ausgabe von 1848: Zum Vetorecht — die Übersetzung spricht von der Negativen — vergl. S. 50, zur Einberufung des Parlaments vergl. S. 46 ff, wo man im übrigen den falschen Eindruck von korruptionsfreien Wahlen erhält; zum gesamten Strauß der Prärogativen vergl. S. 55 ff.
III. Jean Louis de Lolme
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selbst zu weit. Er versucht eine Anpassung an die Wirklichkeit: „Wenn man die im Vorigen gegebene Aufzählung der Gewalten, welche die Gesetze Englands dem Könige anvertraut haben, liest, so weiß man nicht recht, wie man sie mit der Idee von einer, wie gesagt, beschränkten Monarchie vereinigen soll. Der König vereinigt in sich nicht nur alle Zweige der exekutiven Gewalt, er verfügt nicht nur . . . ohne Kontrolle über die ganze Militärmacht des Staates, sondern er ist überdies, wie es scheint, Herr des Gesetzes selbst, da er nach seinem Willen die gesetzgebenden Körper beruft und entläßt. Wir finden ihn daher, auf den ersten Blick, mit allen Vorrechten bekleidet, welche je von den absolutesten Monarchen beansprucht wurden; und wir sind in Verlegenheit, die Freiheit aufzufinden, deren die Engländer so vertrauensvoll sich rühmen." Eine wirkliche Verlegenheit! Wie hätte er korrekt aus ihr herauskommen sollen? Die Antwort fällt aus heutiger Perspektive unendlich viel einfacher als in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts. Und man muß sich hüten, unserem Autor Unrecht zu tun. Die Antwort liegt darin, daß Gewohnheitsrecht und bloße Konvention die Prärogativen immer mehr auf das Parlament oder die aus seiner Mehrheit gebildete Regierung verlagert hatte. Aber de Lolme findet einen anderen Ausweg aus seiner Verlegenheit. Der König hänge, modern gesprochen, in der Bewilligung des Budgets von den Repräsentanten des Volkes ab. Das gelte im allgemeinen und besonders für die Armeen, deren Befehlshaber der König zwar sei, die er jedoch ohne jährliche Zustimmung des Parlaments nicht unterhalten könne. 50 Durchaus handelt es sich hier um Verlegenheiten, die im Zeitpunkt der Entstehung der Schrift verständlich waren. Allerdings waren die deutschen Neuausgaben von 1819 und 1848 wohl kaum in ähnlicher Weise zu entschuldigen. Zumal die letzte mußte schon damals als veraltet gelten. 51 Ein Verdienst der Schrift de Lolmes darf aber auch nicht unterschlagen werden: Er läßt keinen Zweifel daran, daß sich der König wie jeder andere auch an die einmal gemachten Gesetze zu halten habe und keineswegs über ihnen steht. Diese Situation war in den deutschen Ländern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs selbstverständlich, wie am Beispiel der Göttinger Sieben gezeigt werden kann. Vielleicht liegt hier der Grund für die Popularität des Buches in Deutschland.
50 De Lolme (dt. Übersetzung 1848), S. 58. 51 In aller Deutlichkeit wandte sich z. B. eine kleine 1821 in Berlin bei Duncker und Humblodt erschienene anonyme Schrift gegen die Irrtümer de Lolmes (und damit Montesquieus und Blackstones): Ueber die Verfassung von England und die hauptsächlichsten Veränderungen, welche sie, dem Wesen und der Form nach, seit ihrem Ursprung bis auf unsere Tage erlitten hat. Mit einer Bemerkung über die alte Verfassung von Frankreich, aus dem Französischen übersetzt von A. Grafen von Voß.
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C. Das 18. Jahrhundert: adagio IV. Caietan Filangieri
Im Gegensatz zu Montesquieu, Blackstone und de Lolme zeichnet der Neapoletaner Caietan Filangieri ein negatives Bild der englischen Verfassung. Sein „System der Gesetzgebung" erschien 1784 in deutscher Übersetzung und behandelte England unter dem typologischen Aspekt der „vermischten" Verfassung. 52 Filangieri meint, die englische Regierungsform habe „drey ihrer Verfassung anklebende Fehler" und zwar „die Unabhängigkeit desjenigen, welcher die Vollziehung hat", außerdem „der geheime und gefährliche Einfluß des Fürsten auf die Versammlung des Corps" (d. i. das Parlament) und als Drittes „die Unbeständigkeit der Verfassung." 53 Die hier behauptete Unabhängigkeit des Königs war ebenso ein Fehlurteil wie seine Beurteilung der Verfassung als unbeständig. Richtig war in gewissen Grenzen der Hinweis auf den „geheimen und gefährlichen Einfluß des Fürsten" auf das Parlament. Damit deutet Filangieri die Bestechung der Mitglieder des Parlaments durch die Krone an. Nach einer Ansicht sei in dem Hinweis auf diese Korruption Filangieris Bedeutung innerhalb der deutschen Rezeption zu sehen. Rotteck und Friedrich Murhard seien durch Filangieri zu einem weniger positiven Englandbild bewegt worden. 54 Hieran läßt sich durchaus zweifeln. Denn die Ausführungen Filangieris waren zu Rottecks und Murhards Zeiten schon veraltet und es gab eine Reihe anderer Darstellungen zur englischen Parlamentskorruption. Außerdem kann man zumindest Murhard kein wirklich negatives Englandbild unterstellen. Insgesamt sind die Ausführungen Filangieris zur englischen Verfassung vor allem zu wenig umfangreich und profund, als daß sie weitere Wirkung hätten entfalten können.
V. Gebh. Friedr. Aug. Wendeborn, Prediger in London 55 Wendeborns vierbändiges Werk, dessen ersten drei Bände 1785 in Berlin erschienen, ist „die erste deutsche Schrift, welche eine ausführliche Darstellung der englischen Constitution, der Staatsverwaltung, des Zustandes der Religion, der Künste, Wissenschaften, Sitten, Gewohnheiten in England" enthält. 56 Wie 52 Caietan Filangieri, System der Gesetzgebung, Bd. 1, Anspach (Ansbach) 1784, S. 202. In der Schreibweise seines Namens orientiere ich mich an der deutschen des 18. Jahrhunderts, die sich in jener Ausgabe findet. 53 Filangieri, S. 207. 54 Theodor Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus, S. 27. 55 Gebhard Friedrich August Wendeborn, geboren 1742 (Wolfsburg), gestorben 1811 (Hamburg). Studierte Theologie und übernahm die zerstrittene deutsche Gemeinde in London. In Edinburgh ehrenhalber zum Doktor der Rechte ernannt. Konkurrenzverhältnis zu Archenholz, den W. als „falschen Propheten" schildert. Vergl. ADB Bd. XLI, S. 713. 56 Gebh. Friedr. Aug. Wendeborn, Der Zustand des Staats, der Religion, der Gelehrsamkeit und der Kunst in Grosbritannien gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts,
V. Gebh. Friedr. Aug. Wendeborn, Prediger in London
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viele vor und nach ihm kennzeichnet er England durch den geläufigen literarischen Topos „Land der Freiheit". 57 Er weiß zwar, daß die Insel in Deutschland übertrieben positiv dargestellt wurde. Jedoch in seinen „Augen bleibt die englische Nation noch immer eine der Vornehmsten, wo nicht die Erste auf der Erde." 58 Wendeborn, Prediger einer deutschen Gemeinde in London, hatte viele Jahre in England gelebt, bevor er mit der Niederschrift begann. Er selbst teilt uns mit, siebzehn Jahre zuvor (d. h. vor Niederschrift der Vorrede), also im Jahre 1767, zum ersten Mal die Insel betreten zu haben. Schon bald beherrschte er das Englische,59 was ihn von vielen anderen Autoren desselben Gegenstandes in seiner Zeit angenehm unterscheidet. Seiner so begünstigten Annäherung an den Gegenstand gingen vereinzelte kleine Beiträge 60 über England voraus, die einige Jahre zuvor in Deutschland erschienen waren und regen Absatz fanden, wenn man den Angaben glauben darf. ; Wendeborn schöpft seine staatsrechtlichen Kenntnisse in der Regel nicht primär aus eigenen Beobachtungen. Sein erster Gewährsmann ist de Lolme, dessen englische Ausgabe (1775) er benutzt und die er für die beste zur englischen Staatsverfassung hält. Sein zweiter Gewährsmann ist William Blackstone mit seinen „Commentaries on the Laws of England". 61 Von Montesquieus Englandkapitel im „Geist der Gesetze" rät Wendeborn ab; denn Montesquieu habe „sich vorgenommen alles zu loben, daher verschweigt er die Fehler und Mängel" 62 der englischen Verfassung. Es verwundert angesichts seiner Gewährsmänner nicht, daß Wendeborn die Gewaltenteilungsdoktrin an den Anfang seiner Ausführung stellt. Er unterscheidet potestas legislativa, potestas judiciaria und potestas executiva und hält diese Gewalten in England für voneinander getrennt. Die potestas executiva setzt er mit dem König gleich. Eine Aussage, die angesichts der tatsächlichen Machtverhältnisse in England an der Wirklichkeit vorbeigeht. Diese Ausführung spiegelt jedoch den damaligen Stand der Rechtswissenschaften. Originell ist die Ansicht, die beiden ersten Gewalten gehörten „eigentlich" dem Volke, worunter Wendeborn hier auch den Adel subsumiert. 63 4 Bände Berlin 1785-1788. Das Werk wurde von Wendeborn selbst ins Englische übersetzt: A View of England towards the Close of the eighteenth Century, London 1791. Nachdruck Dublin, eine holländische Übersetzung. 57 Wendeborn, Bd. I, Vorrede S. 3. 58 Wendeborn, vorstehende Fußnote. 59 Im zweiten Band, S. 328, beschreibt Wendeborn wie er mit einigen in Deutschland erworbenen Englischkenntnissen zunächst in England Schwierigkeiten hat, sodann aber in London und Umgebung die Landessprache immer besser zu beherrschen lernt. 60 Zu diesen anderen Werken, zum hier besprochenen und zu Wendeborns Vita äußert sich auch Robert Elsasser, Über die politischen Bildungsreisen der Deutschen nach England, S. 24 ff. 61 Über Blackstone berichtet Wendeborn zur Illustrierung der englischen Wertschätzung der Gelehrsamkeit, er habe für seine Commentaries 16 000 Pf. St. erhalten. 62 Wendeborn, Bd. I S. 6 (Fußnote). 3 Wendeborn, Bd. I S. .
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Wendeborn bezeichnet die Magna Charta, die Petition of Rights, die Habeas Corpus Acte, die Bill of Rights und den Act of Settlement etwas irreführend als „Reichsgrundgesetze" und erweckt ein wenig den Eindruck einer geschriebenen Verfassung. Und das Widerstandsrecht in Artikel 70 der Magna Charta ist ihm Beleg dafür, „wie sehr man damals darauf bedacht gewesen sey, die englische Freiheit in Sicherheit zu setzen, und wie wenig man zu der Zeit die Würde der Könige geachtet" habe.64 Natürlich weiß auch Wendeborn die widersprüchliche staatsrechtliche Doktrin seiner Zeit zur Stellung des englischen Königs nicht entscheidend zu verbessern. Der Krönungseid, in dem der König oder die Königin sich unter die Statuten des Parlaments, unter Gesetze und Gewohnheiten des Landes stellen, solle die Einschränkung der königlichen Gewalt illustrieren. Doch sofort wird klargestellt: „Ohnerachtet der Einschränkungen, welche die köngliche Gewalt durch diesen Krönungseid und durch die Rechte des Parliaments zu leiden scheint, ist dieselbe dennoch sehr groß." 65 Wie üblich folgt nun eine Aufzählung der formalen Rechtsposition des Königs und deren Gleichsetzung mit materieller Inhaberschaft. So hänge die Besetzung kirchlicher und militärischer Stellen allein vom Willen des Königs ab, ebenso Einberufung und Auflösung des Parlaments, dessen acts er durch sein Veto vernichten könne. Hier hören wir im Wendebornschen Gewände Montesquieus staatsrechtliches Idealprogramm aus dem sechsten Kapitel seines elften Buches über den „Geist der Gesetze", kritiklos gleichgesetzt mit der englischen Wirklichkeit. Mit Georg I. (1714-1727) verlor der englische König das Recht, den Vorsitz im Kabinett zu führen. Seit Robert Walpole (1721 -1742 faktischer Prime Minister) anerkannte das Kabinett einen ersten Minister, der die Leitlinien der Politik bestimmte und Einzelministern gegenüber weisungsberechtigt war. Auch mußte ein Minister stets die Unterhausmehrheit hinter sich haben. „Am Ende des 18. Jahrhunderts rechnete Europa damit, daß der politische Wille Englands durch seinen Ministerpräsidenten bestimmt und vertreten wurde." 66 Blackstone und erst recht Montesquieu haben das Wesen der sich zu ihrer Zeit entwickelnden Kabinettsregierung nicht erkannt, zumindest nicht beschrieben. An dieser Stelle gebührt daher Wendebom ein gewisses Verdienst; es zeigt sich, wie vorteilhaft seine unmittelbare Vertrautheit mit den englischen Dingen war. Zwar meint Wendeborn zunächst, der erste Minister könne als Bediensteter des Königs von ihm nach Belieben entlassen werden. 67 Aber er betrachtet an64 Wendeborn, Bd. I, S. 3. Hier muß man natürlich berücksichtigen, wie wenig würdig sich Johann ohne Land, auch wenn man den groben mittelalterlichen Kontext bedenkt, benahm. Zur Illustration sei an die verschiedenen Versionen seines Todes erinnert. 65 Wendeborn, Bd. I, S. 8. 66 Paul Hartig, Englisches Staats- und Gesellschaftsleben in Vergangenheit und Gegenwart, in: Englandkunde, hg. von Paul Hartig, 4. A. Frankfurt etc. 1960, S. 83, 95. 67 Wendeborn, Bd. I, S. 19.
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schließend die Verfassungswirklichkeit, das nämlich, was er und seine Zeitgenossen „neulich sahen". Es könne, wie gesehen, „der König durchs Parlement genöthiget werden, seine Minister zu verändern und solche anzunehmen, die nur das Volk zu haben wünschet." 68 Außerdem müsse „der erste Minister . . . seinen Kopf ein wenig in Acht nehmen, wenn er siehet, daß er die Mehrheit der Stimmen zu verlieren anfängt. Es kan(n) alsdenn leicht geschehen, daß man ihn als einen Staatsverbrecher anklage, welches man hier impeach nennet, und alsdenn stehet es um seinen Hals etwas mißlich." 69 In diesen Bemerkungen findet sich doch zumindest die Andeutung des Systems der Kabinettsregierung und der parlamentarischen Verantwortlichkeit des Kabinetts. Zutreffend schildert Wendeborn das Gesetzgebungsverfahren. Auch vor den Negativa der englischen Verfassungswirklichkeit verschließt er die Augen nicht. Bestechung und Bestechlichkeit werden deutlich angesprochen,70 insbesondere im Zusammenhang mit Parlamentswahlen. Er widerlegt auch die These, die englische Nation sei im Parlament repräsentiert, indem er die Zahl der Wähler (260 000) der Zahl der Einwohner von England und Wales (6-7 Million) entgegenhält. Und auch das Unwesen der rotten boroughs wird angesprochen.71 Positiv erwähnt Wendeborn innerhalb der englischen Rechtspflege das Geschworenensystem. Und er weiß auch: „Die Tortur, diese Schande der Menschlichkeit, ist in diesem Lande nicht üblich. Niemand braucht hier sein eigener Ankläger zu werden." 72 Andererseits wird die Häufigkeit der Todesstrafe bemängelt und Wendeborn findet die Bestrafung oftmals zu hart, besonders wenn Diebstahl mit dem Tode bestraft wird. In diesen Bemerkungen liegt sicher eine literarische Wurzel für negative Äußerungen über das gesamte englische Rechtssystem, wie man sie später beispielsweise bei Johann Gotthelf Beschorner trifft. Diese Wirkung hatte Wendeborn zweifellos nicht erzielen wollen. Denn er schreibt: „Die Art, die Gerechtigkeit in England zu verwalten, hat, im Ganzen genommen, vor allen übrigen Ländern etwas voraus." 73
68 Wendeborn, Bd. I, S. 19. 69 Wendeborn, Bd. I, S. 20. Der so angeklagte Minister kann sich dem Verfahren und einem eventuellen, sicherlich mißlichen, Verlust seines Kopfes entziehen, indem er ins Oberhaus berufen wird, was dann aber gleichzeitig das Ende seiner bisherigen politischen Laufbahn bedeutet. 70 Wendeborn, Bd. I, S. 62 f. 71 Wendeborn, Bd. I, S. 68. 72 Wendebom, Bd. II, S. 35. Die Aussage zur Folter scheint auf den Reisebericht Beat Ludwig von Muralts von 1725 zurückzugehen, der in England die Abschaffung der Folter, „dieses Schandmals der Christenheit" konstatierte; s. Ursula Jauch Staffelbach, Un Suisse qui sait penser. Die Reisebriefe des Beat Ludwig von Murait, in: Neue Zürcher Zeitung v. 26. März 1993, S. 47 f. 73 Wendeborn, Bd. II, S. 15.
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VI. Johann Wilhelm von Archenholz und ein unbekannter Nachahmer Der ehemalige preußische Offizier Archenholz lebte ebenso wie Wendeborn mehrere Jahre in England und beherrschte die Landessprache. 74 Zwischen 1769 und 1779 hielt er sich mehrfach auf der Insel auf, insgesamt sechs Jahre. Er gibt England im Vergleich mit Italien den Vorzug; 75 der erste Band seines „England und Italien" iiberschriebenen Werkes, 76 der England zum Gegenstand hat, ist auch deutlich umfangreicher. Ein staatsrechtlicher oder sonstwie methodisch zu fassender Grund für die Zusammenfassung ist nicht ersichtlich. Die Ursache liegt allein darin, daß Archenholz beide Länder bereist hatte. Ebenso wie im Falle Wendeborns kann das Werk nicht ohne weiteres einer literarischen Gattung zugewiesen werden. Es ist sowohl Reisebeschreibung als auch Darstellung der Konstitution und allgemeine Landeskunde. Die englische Freiheit ist Archenholz ein Dogma. Aus diesem Blickwinkel sieht er England. Es sei „eine ausgemachte Wahrheit, daß kein aufgeklärtes Volk je so frei war, als die heutigen Engländer." 77 Schon die Titelvignetten der beiden Bände zeigen England symbolisiert durch eine „reife weiblich Schönheit", 78 versehen mit einer Reihe von Attributen, stets aber mit einem Hut als Sinnbild der Freiheit. In der Vignette des Englandbandes liegt der Hut in der Schale einer Waage, die durch Gesetzestafeln in der anderen Schale im Gleichgewicht gehalten wird. Archenholz weiß, daß man in England „fast nie die Gesetze aus den Augen verliert," 79 und daß sie zum Wohle des Ganzen in England herrschen, will er im Lauf seiner Abhandlung an Beipielen nachweisen. Zum Lobe der englischen Staatsverfassung beruft sich Archenholz auf Montesquieu. Die „Hauptvorrechte" des englischen Volkes bringt er unabhängig von Montesquieu in folgende Reihenfolge: 1. die Preßfreiheit, 2. die Habeas Corpus Akte, 3. die öffentlichen Tribunäle, 4. die Prozeßurtheile durch Geschworene und 5. die Repräsentation im Parlament. Die mittels Pressefreiheit hergestellte Öffentlichkeit solle der Kontrolle der Minister dienen. Und „wäre man nicht so aufmerksam auf Kleinigkeiten, so 74 Johann Wilhelm von Archenholz, geboren 1743 bei Danzig, gestorben 1812 bei Hamburg. Diente bis 1763 in der preußischen Armee, zuletzt als Hauptmann. Bereiste unter anderem England, Frankreich, Italien und kehrte 1780 nach Deutschland zurück. Verehrer Friedrichs d. Gr.; 1789 „Geschichte des Siebenjährigen Krieges", daneben umfangreiche weitere publizistische Tätigkeit. Vergl. ADB Bd. I, S. 511. Weitere Biographische Angaben und eine Sichtung seines Werkes findet sich bei Robert Elsasser, Über die politischen Bildungsreisen der Deutschen nach England, S. 31 ff und 70 ff. 75 Goethe hat den Italienband übrigens während der Italienreise gelesen und mit einer vernichtenden Kritik versehen. 7 6 Johann Wilhelm von Archenholz, England und Italien, 2 Bd. Leipzig 1786. 77 Archenholz, Bd. I, S. 16. 7 8 So die danebenstehende Erklärung der Vignette. 7 9 Archenholz, Bd. I, S. 13.
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würde die Krone unmerklich ihre Vorrechte ausdehnen und endlich ihr großes Ziel, die absolute Gewalt, erreichen." 80 Schon Wendeborn hatte lobend von der englischen Pressefreiheit berichtet. Er nennt Zeitungen für und gegen das Ministerium, „und in den letzteren werden oft den Großen wichtige und unangenehme Dinge gesagt."81 Und er meint: „Das ganze Publikum ist hier das Tribunal, dem alles zur Beurtheilung vorgelegt wird." 8 2 Wendeborn zeigt sogar, wie während seines Englandaufenthaltes die Pressefreiheit in bezug auf Parlamentsberichterstattung zugenommen hatte.83 Die englische Pressefreiheit scheint deutschen Beobachtern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Tat etwas Besonderes gewesen zu sein. Archenholz bewunderte diese Einrichtung wohl noch mehr als Wendeborn. Archenholz meint: „Die Engländer nennen mit Recht die Preßfreiheit das große Palladium ihrer politischen Freiheiten." 84 Und so sieht er sie selbst. Archenholz hat das Procedere von Parlamentswahlen mit eigenen Augen beobachtet. Wenngleich er das System als solches für gut hält, kritisiert er deutlich die Bestechung bei Parlaments wählen 85 und die ungleiche Repräsentation; er meint: „Nichts scheint dem gesunden Menschenverstände auffallender zu seyn, als daß Städte von 40 000 und mehr Einwohnern gar keine Repräsentanten haben, weil sie zur Zeit der Magna Charta noch nicht existierten, dahingegen elende Flecken, die oft nur von Tagelöhnern bewohnt werden, die Wahlfreiheit beybehalten haben, weil sie vor einigen hundert Jahren ansehnliche Städte waren." 86 Wie nicht anders zu erwarten, überzeichnet Archenholz allerdings zunächst die Rechtsstellung des Königs in Montesquieuscher Manier 87 und unterscheidet sich hierin kaum von Wendeborn. Aber immerhin weiß Archenholz an ganz anderer Stelle, daß das Übergewicht des Königs gegenüber Ober- und Unterhaus nur scheinbar ist, „da er . . . kein Gesez, wäre es gleich noch so unbedeutend, für sich machen . . . " 8 8 könne. Archenholz' Deutung der Gewaltenteilungsdoktrin hat weniger Tiefe als die Version Montesquieus. Er findet: „das Gleichgewicht der drey Theile, welche die gesezgebende Gewalt hier ausmachen, ist bewundernswürdig." 89 Er unterscheidet König, Oberparlament und Unterparlament. Alle drei Institutionen seien „immerfort auf einander wachsam". 90 Das Unterparlament halte sowohl dem so Archenholz, 81 Wendeborn, 82 Wendeborn, 83 Wendeborn, 84 Archenholz, 85 Archenholz, 86 Archenholz, 87 Archenholz, 88 Archenholz, 89 Archenholz, 3 Pöggeler
Bd. I, S. 18. Bd. II, S. 115. Bd. II, S. 275. Bd. IV, S. 32. Bd. I, S. 17. Bd. I, S. 25. Bd. I, S. 32 f. Bd. I, S. 32 f. Bd. I, S. 444. Bd. I, S. 443.
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König als auch dem Oberparlament die Waage, weil sich in Händen des Unterparlaments der „Nationalschaz befindet, zu dem das Haus der Gemeinen nur allein den Schlüssel hat" 9 1 und „das Geld nun die größte Triebfeder unter dem Monde" sei. Das System der Kabinettsregierung wird nur einmal kurz beleuchtet. Denn „die Reden, die der König im Parlament hält, werden allemal von einem Minister gemacht und . . . ungeachtet sie aus dem königlichen Mund kommen, doch als Reden des Ministers" 92 betrachtet. Recht originell ist Archenholz' Ansicht zur Rolle der Oppositionspartei im Parlament, die er für „durchaus nöthig" hält. 93 Er beruft sich auf Walpole, der zu sagen gepflegt habe, „daß, wenn sich keine Gegenpartei von selbst finde, man sich eine durch Geld selbst verschaffen müßte." 94 Der Vergleich des Archenholzschen Englandbandes mit den ein Jahr zuvor erschienen drei Bänden Wendeborns zeigt eine Reihe von Parallelen. Die staatsrechtlichen Ausführungen sind hingegen wesentlich weniger umfangreich und profund. Archenholz scheint de Lolme und Blackstone nicht ausgewertet zu haben. Seine Betrachtungen über Italien und England sollten allerdings auch „eigentlich nur zwei Skizzen seyn, die sich ein jeder nach eigener Erfahrung und Kenntniß ausmalen"95 könne. Sein Beitrag zur deutschen Kenntnis der englischen Verhältnisse beschränkt sich nicht auf „England und Italien". Als Fortsetzung dieses Werkes versteht Archenholz seine „Annalen der Brittischen Geschichte".96 Insgesamt erschienen zwanzig Bände dieses Jahrbuchs. Der erste Band betrifft das Jahr 1788 und enthält eine rezeptionsgeschichtliche Besonderheit von großem Interesse: ein „Verzeichniß der Pränumeranten und Subscribenten". Etwa 200 Erwerber werden namentlich erwähnt, weitere 400 Exemplare gingen an den Buchhandel oder an Ungenannte.97 Nach Art einer Zeitschrift berichten die Annalen besonders über Verhandlungen im Parlament, Regierungsaktivitäten, den Zustand der Kolonien, gesellschaftliche Gruppen (z. B. die Philanthropen), Literatur, Gerichtsverhandlungen, insbesondere Strafprozesse. 90 Archenholz, Bd. I, S. 444. 91 Archenholz, Bd. I, S. 444. 92 Archenholz, Bd. I S. 65. 93 Archenholz, Bd. I S. 35. 94 s. vorstehende Fußnote. 95 Archenholz, Bd. I Vorbericht S. IX. 96 Johann Wilhelm von Archenholz, Annalen der Brittischen Geschichte, (17881796), 20 Bd. incl. eines Registerbandes von Dr. J. S. Ersch, Braunschweig, Hamburg, Wien, Mannheim, Tübingen 1789-1799. 97 Zu den namentlich genannten Subskribenten gehört auch das braunschweigische regierende Fürstenhaus. Bedenkt man, daß die Annalen gegen Ende eine englandfeindliche Tendenz bekommen, kann vielleicht ein Zusammenhang mit der späteren Braunschweigischen Verfassung, die dem englischen Muster nicht folgte, vermutet werden.
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Der neunzehnte Band betrifft das Jahr 1796 und ist der letzte, der sich inhaltlich mit England befaßt, da der zwanzigste Band das Gesamtregister enthält. Das vermittelte Bild Englands wandelt sich vom ersten bis zum letzten Band sehr erheblich. Es beginnt mit den Berichten eines Bewunderers und endet mit denen eines Enttäuschten. Lobte Archenholz noch zu Anfang englische Freiheit und Pressefreiheit, sieht er beides im letzten Band bis auf wenige Spuren getilgt. 98 Es lassen sich eine Reihe dieser Beispiele finden. Archenholz sieht sich durch die Entwicklung Englands im Laufe der neun Jahre von 1788 bis 1796 enttäuscht. Das Land sei im letztgenannten Jahr ein völlig anderes als zu Beginn der Annalen. An der Richtigkeit dieser Begründung ließe sich zweifeln; jedenfalls wandelte sich Archenholz im Anschluß an die französische Revolution vom Anglomanen zum Gallomanen. Da die Annalen jedoch keine spezielle Verfassungsdarstellung sind, sollen diese Zweifel nicht im Rahmen der vorliegenden Betrachtung weiterverfolgt werden. In den Veröffentlichungszeitraum der Annalen fällt ein ganz ähnliches Werk eines anonymen Korrespondenten. Der Schwerpunkt liegt noch mehr auf Reisebeschreibungen, wenngleich auch hier wiederum staatsrechtlich Relevantes angesprochen wird. 99 So findet sich etwa eine Beschreibung einer Parlamentswahl in Liverpool und Berichte über verschiedene Verhandlungen des Unterhauses. Mir scheinen diese Ausführungen mit Rücksicht auf den Büchermarkt gemacht zu sein; denn in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts lag bereits eine große Zahl bloßer Reisebeschreibungen vor.
98 Archenholz, Annalen, Bd. XIX, S. 443. 99 Beyträge zur Kenntnis vorzüglich des Innern von England und seiner Einwohner. Aus den Briefen eines Freundes gezogen von dem Herausgeber, 16 Stücke, Leipzig (Dykische Buchhandlung) 1791-1796. 3*
D. Das 19. Jahrhundert bis zur Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung 1849: presto Theodor Schmalz und Ludwig Freiherr von Vincke markieren am Anfang des 19. Jahrhunderts auch den Anfang einer fundierteren Beschäftigung der deutschen Wissenschaft mit dem englischen Staatsrecht. Schmalz faßt die damals allgemeinen oberflächlichen Ansichten über das englische Staatsrecht zunächst nur zusammen, während Vincke bereits einen speziellen Forschungsgegenstand, die englische Verwaltung, aufgrund eigener Beobachtungen aufzeichnet. Beide Werke unterscheiden sich von den Annalisten und Reiseschriftstellern erheblich. Die Arbeiten von Schmalz und Vincke fallen in die Zeit des staatliche Zusammenbruchs des Deutschen Reichs und die damit einhergehende napoleonische Oberherrschaft über die deutschen Länder. Diese mit Schmalz und Vincke beginnende Epoche endet wie sie anfängt: mit einem Zusammenbruch, diesmal der Revolution von 1848, manifestiert in der Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung und dem kurzen Intermezzo des Stuttgarter Rumpfparlaments 1849.
I. Der Geheime Justitz-Rath Theodor Schmalz1 Der auf sehr verschiedenen Rechtsgebieten bewanderte Jurist Theodor Schmalz offenbart in der Vorrede seiner 1806 erschienenen „Staatsverfassung Grossbritan1
Theodor Anton Heinrich Schmalz ( 1760 -1831) betätigte sich zeitweise in der preußischen Landesverwaltung und als Richter am Kammergericht. Im wesentlichen war er Jurist, wenngleich er auch zu Fragen der Kameralistik und Nationalökonomie publizierte. 1785 Privatdozent in Göttingen, 1788 ordentlicher Professor der Rechte, 1801 Kanzler der Universität Königsberg, 1803 Kanzler der Universität Halle. Diese Position gab er 1808 auf, da Stadt und Universität dem Königreich Westfalen eingegliedert wurden. Schmalz wurde zweimal von den Franzosen wegen des Verdachts der antifranzösischen Agitation verhaftet. 1810 wurde er Gründungskanzler der Berliner Universität. Im Jahre 1815 veröffentlichte er eine Flugschrift gegen sogenannte Geheimbünde, die ihn in ein gewisses denunziatorisches Licht rückte und dazu führte, daß sich verschiedene deutsche Protagonisten der Freiheitskriege beleidigt fühlten. Gegen die Flugschrift richtete sich erbitterter Widerstand (unter anderen von Niebuhr und Schleiermacher); die Wogen des Streits konnten erst durch königliche Verordnung vom 6. Januar 1816 geglättet werden, indem die Auseinandersetzung verboten wurde. Die rechtswissenschaftlichen Publikationen umfassen die Gebiete des Naturrechts, des deutschen Zivilrechts, des Römischen Rechts, des Kirchenrechts und besonders des Staats- und Völkerrechts. Hierin erwies er sich u. a. als Gegner der Gewaltenteilungsdoktrin. Hervorzuheben sind zwei staatsrechtliche Werke: das „Handbuch des teutschen Staatsrechts", Halle 1805 und „Das teutsche Staats-Recht", Berlin 1825. Stolleis kennzeichnet Schmalz und sein staatsrechtliches Werk als „scharf antikonstitutionell" und als „Vertreter des aufgeklärten Absolutis-
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niens" 2 die Intention, die „Gemiithsrichtung", die ihn während des Schreibens beseelte. Sein Obersatz lautet: „Einfachheit in allem." Und was er im staatsrechtlichen Sinne darunter versteht, definiert er sogleich: „Einheit der Regierung, Einfachheit ihrer Verwaltung! Nur Einer sey König und Herr, und unter ihm blühe unbeschränkte Freyheit jedes redlichen Erwerbes, Heiligkeit des Eigenthums, unentweiht von Klüglern, die das Recht, was der Allerhöchste gab, dem opfern wollen, was ihrer Beschränktheit Staatsklugheit dünkt." 3 Mir scheint die Forderung nach einem König und nach Einheit der Regierung 4 in subtiler Weise gegen die französische Herrschaft in den deutschen Ländern gerichtet zu sein, eine Parallele zu Vinckes Arbeit, die etwa zur selben Zeit entstand. Wenn Schmalz die als Schutzwehr der Freiheit gepriesene englische Verfassung von Kräften (vergeblich) bedroht sieht, „die unter dem Vorwande, die Freiheit zu sichern, sie allenthalben untergraben," 5 wird auch diese Bemerkung gegen Frankreich gerichtet sein. Hatten doch die französischen Okkupanten auch die Idee der Freiheit in ihrem Marschgepäck. Der Geheime Justitz-Rath Theodor Schmalz muß zweifellos als konservativ angesprochen werden. 6 Er hängt dem Ständestaat an. Das zeigt in signifikanter Weise das dritte Kapitel seines Werkes. Hierin handelt er von der naturgegebenen Ungleichheit der Menschen, wobei ihm — wie in England — das Grundeigentum ein zentrales Unterscheidungsmerkmal ist. Es folgt eine umfassende Darstellung der englischen Adelsstufen. Schmalz meint, es „entstanden unter allen kultivierten Staaten Unterschiede der Stände" und er wird ausgesprochen heftig: „Nur barbarische und wahnsinnige Tyrannen hoben diesen Unterschied auf, Caracalla in Rom und berauschte Deputierte der National-Versammlung Frankreichs im August Eintausend siebenhundert und neunzig."7 Vor diesem Hintergrund versteht sich, daß Schmalz seine staatsrechtliche Darstellung nicht mit einem Diskurs über die Freiheit des Engländers beginnt, wie das bei Blackstone und de Lolme der Fall war. Überhaupt findet sich unter
mus". (Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. II, S. 54 und 87.) Sein kritischer Biograph Ernst Landsberg meint zu Schmalzens vielfältigen Publikationen: „Daß dabei keine sonderliche Tiefe erreicht wird, ist bei derartiger Vielseitigkeit selbstverständlich." Und er charakterisiert ihn als „in der Nationalökonomie Physiokrat, in der Politik Absolutist, in der Jurisprudenz Anhänger des Naturrechts," s. Allgemeine Deutsche Biographie, 31. Bd. Leipzig 1890, S. 624, 626. 2 Theodor Schmalz, Staatsverfassung Grossbritanniens, Halle 1806. 306 S. mit einem Stichwortregister. 3 Schmalz, S. IV f. 4 Wenngleich die Konstatierung der Einheit des Staates und der Staatsgewalt in England literarisch auf de Lolme zurückzugehen scheint. 5 Schmalz, S. 1. 6 „Denn die Freyheit ist am sichersten, wo am schnellsten der Obrigkeit gehorcht wird." Schmalz, S. 55. 7 Schmalz, S. 29 f.
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den dreiundzwanzig Kapiteln des Buches keines, das im Blackstoneschen Sinne die Freiheit des einzelnen rühmte oder auch nur schilderte, nicht einmal in dem „Rechte" überschriebenen Kapitel des vierten Buches. Wenngleich Schmalz in aller epischen Breite staatsrechtlich eher belanglose Äußerlichkeiten ausbreitet (wie Anreden, Wappen, Flaggen, Kronjuwelen, Hofstaat; auch fehlt nicht die vollständigen Aufzählung aller 117 shires Großbritanniens und aller Bischöfe und Erzbischöfe), findet er doch erstaunlich profunde Worte zum Regierungssystem. Zunächst einmal berichtigt er den Irrtum über die Gewaltenteilung in England: „In Grossbritannien so wenig, als in irgend einem Staate, sind die Gewalten wirklich getrennt, welche die Theorie neuerer Schriftsteller zu trennen pflegt, die gesetzgebende und die vollziehende."8 Als nächstes findet er klärende Worte zum parlamentarischen Charakter der Regierung. Er differenziert zwischen Ministerial — Parthey und Oppositions-Parthey und weiß, die Könige aus dem Hause Hannover 9 „wählen nemlich ihre Minister stets aus der Parthey, welche die Mehrheit der Stimmen auf ihrer Seite" 10 hat. In demselben Kapitel skizziert der Autor mit wenigen Worten das Rechtsinstitut der Ministeranklage, das impeachment.11 Abschließend ist zum Schmalzschen Werk festzuhalten: Es hat an manchen Stellen den Charakter einer staatsrechtlich indifferenten allgemeinen Landeskunde, 12 findet aber Erhellendes zur Gewaltenteilung und zur parlamentarischen Regierung; das Werk ist zwischen den Zeilen und auch explizit antifranzösisch; letztlich aber fehlt der Geist der englischen Verfassung, die Idee der Freiheit in ihrem individuellen Aspekt und die Freiheit im Hinblick auf den Grundton der englischen Verfassungsgeschichte, den fortwährenden Kampf (teils offen wie im 17. Jahrhundert, meist latent und bewußt verschleiert) zwischen Monarchie und Parlament um die Herrschaft im Lande. Ein anderes Element der englischen Verfassung des frühen 19. Jahrhunderts findet hingegen eine Parallele in Schmalz' staatsrechtlichem Denken: denn er verwirft die Idee der Repräsentativverfassung und Grundeigentum ist ihm unabdingbare Voraussetzung der staatsrechtlichen Teilhabe des einzelnen. Man kann sicher davon ausgehen, daß sich die Arbeiten an seinem ersten Staatsrechtsbuch (1805) und dem Englandbuch (1806) zeitlich teilweise überschnitten.
s Schmalz, S. 120. 9 Also beginnend 1714 mit Georg I. 10 Schmalz, S. 120. π Schmalz, S. 130. ι 2 „Zwischen dem fünfzigsten und sechzigsten Grade der Nordbreite und zwischen dem siebten und zwanzigsten Grade gemeiner Ostlänge liegen zwey grosse Inseln, von mehreren kleinen umgeben." Schmalz, S. 1.
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II. Ludwig Freiherr von Vincke Der königlich preußische Oberpräsident Ludwig Freiherr von Vincke 13 wird gerühmt als „der erste gründliche Kenner englischen Rechts" in Deutschland14 und gilt als „der scharfsinnige Freund und Schüler des Freiherrn vom Stein." 15 Er bereiste zweimal die Insel, 1800 und 1807. Seine Schrift „Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens" schloß er 1808 ab. 16 Sie erschien jedoch erst 1815, herausgegeben von Vinckes Freund, Barthold Georg Niebuhr, 17 der im Gegensatz zu Vincke selbst noch ein Exemplar des Manuskripts besaß. Wegen der napoleonischen Besetzung der deutschen Länder war ein Erscheinen unmittelbar nach der Fertigstellung des Werkes verhindert worden. Die Hinwendung Vinckes zu England und dem englische Rechtssystem fällt in die Zeit der französischen Hegemoniebestrebungen. In dieser Hinwendung ist auch eine bewußte Reaktion gegen den französischen Einfluß in Deutschland zu sehen, insbesondere gegen oktroyiertes französisches Recht. Leicht despektierliche Bemerkungen über die deutsche Rezeption französischer Kodifikationen lassen hierauf schlie-
13 Friedrich Ludwig Freiherr von Vincke (1774-1844) studierte 1792 bis 1795 Rechtswissenschaften und „Cameralia" in Marburg, Erlangen und Göttingen. Nationalökonomisch betrachtet war er ein Gegner des Merkantilismus und verehrte zunächst Adam Smith, dessen Theorie von der völligen Nichteinmischung des Staates in die Wirtschaft er aber später kritisierte. Schon 1798 wurde Vincke zum Landrat in Minden ernannt; er erwarb sich durch seine tatkräftige Art rasch Ansehen in der Bevölkerung. 1804 folgte Vincke seinem Freund, dem Freiherrn vom Stein, an die Spitze der westfälischen Verwaltung. Während der napoleonischen Besetzung entfernte man ihn aus dem Amt. Die französische Verwaltung hatte stets ein wachsames Auge auf ihn. Er stand dem preußischen Widerstand nahe, war ein bedeutsamer Teil hiervon. 1808 verfasste er verschiedene Denkschriften, die Veränderungen innerhalb der Verwaltung betrafen. Er empfahl unter anderem für Landgemeinden die Übertragung der Polizeigeschäfte auf Organe der Selbstverwaltung, auch sprach er sich für Rede- und Pressefreiheit aus. Nach der Vertreibung der Franzosen trat Vincke sofort wieder als Oberpräsident an die Spitze der preußischen Verwaltung Westfalens. Vincke beklagte 1817 die in Preußen zu beobachtende Zentralisation der Verwaltung. Von der deutschen Verfassungsentwicklung nach der Befreiung von der napoleonischen Herrschaft hatte er sich deutlich mehr versprochen, besonders seine Forderung nach parlamentarischen Elementen blieb in Preußen erst einmal unerfüllt. Der Einfluß der englischen Verfassung auf sein Denken ist unverkennbar. Vergl. Alfred Stern, Stichwort:"Vincke", in: ADB Bd. 39, Leipzig 1895; Heide Barmeyer, Der Oberpräsident Vincke als Präsident des westfälischen Konsistoriums in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen in Preußen 1815-1834/35, Münster 1991; Siegfried Bahne, Die Freiherren Ludwig und Georg Vincke im Vormärz, Dortmund 1975. 14 Julius Hatschek, Engl. Staatsrecht, Bd. I., S. 24. ι 5 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung. S. 612, FN 1. i6 Ludwig Freiherr von Vincke, Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens, 1. A. Berlin 1815 (Realschulbuchhandlung). 163 S. Die 2. Auflage erschien 1848 bei G. Reimer in Berlin. ι 7 Niebuhr hielt sich von Juni 1798 bis zum Herbst des folgenden Jahres zu Studienzwecken in London und Edinburgh auf und war selbst ein Kenner des englischen Staatsrechts, s. Robert Elsasser, Über die politischen Bildungsreisen der Deutschen nach England, Heidelberg 1917, S. 114.
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ßen. 18 Darüber hinaus weist auch Niebuhr in seiner Vorrede daraufhin, es handele sich um eine Schrift, „welche dem französisch-westphälischen Verwaltungssystem den Krieg auf eine gar nicht zu verhehlenden Weise ankündigte" und daher „während der ganzen Dauer unsrer Knechtschaft freilich nicht im Druck erscheinen" konnte. Vincke will nicht Verfassungsrecht, sondern Verwaltungsrecht beschreiben. Niebuhr meint, Vincke sei von der Erkenntnis geleitet, „daß die Freiheit ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung beruhe." 19 Sein Verwaltungsrechtsbegriff ist allerdings recht weit gefaßt; er umfaßt beispielsweise den Tätigkeitsbereich der Krone und des Parlaments. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung zum Parlament, die eine Abkehr vom überkommenen Gewaltenteilungsschema enthält. Er hält nämlich das englische Parlament für „ein wunderbares Gemisch von Gesetzgebungs-, Aufsichts- und Ausführungsgewalt." 20 Vinckes Bewunderung des englischen Systems beruht auf der von ihm konstatierten Freiheit von einer zentralistischen Verwaltung mit von der Zentralgewalt besoldeten Beamten. Auch die geringe Anzahl von Soldaten gefällt ihm. 21 Allerdings kann nicht übersehen werden, daß auch die wirtschaftliche Prosperität Englands zu Vinckes positivem Englandbild beiträgt. 22 Im Laufe der Abhandlung beschreibt Vincke zunächst die allgemeinen Vorteile der Beteiligung des Bürgers an den Aufgaben der Verwaltung, sodann auf den Seiten 9 bis 89 die „Mittelspersonen der brittischen Verwaltung zwischen dem Volke und dem König" (Lordlieutenants, Sheriffs und Coroners, die Justices of the Peace, die Constables), als nächstes den Privy Council und den Staatssekretär des Innern (S. 89 bis 94), dann das Parlament als „diejenige Behörde, welche das große Ganze der Verwaltung leitet." 23 Im Schlußdrittel zeigt Vincke besonders die Verwaltung auf kommunaler Ebene und kommt damit wieder auf seine Grundforderung zurück: Wenig zentralistische Regierung zugunsten einer ausgeprägten Selbstverwaltung der Bürger. Hatschek hält die Schilderung Vinckes für „wahrheitsgetreu" und sieht in ihr den Grund, „daß der Freiherr vom Stein Abstand davon" genommen habe, „englische Verwaltungsorganisationen in Preussen nachzuahmen, trotzdem Vincke sie wärmstens empfiehlt." 24 Ganz anders beurteilt Josef Redlich den Einfluß Vinckes !8 Vincke, Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens, S. 5 (am Ende der Anmerkung). Niebuhr am Beginn der Vorrede zu Vinckes Werk. 20 Vincke, S. 2. 21 Hinsichtlich dieser beiden Punkte fällt wiederum der Kontrast zu den französisch besetzten deutschen Ländern ins Auge. 22 Ein Effekt, den wir heute bei der Rezeption des deutschen Systems in den im Aufbau befindlichen osteuropäischen Staaten beobachten können. 23 Vincke, S. 94.
II. Ludwig Freiherr von Vincke
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auf den Freiherrn vom Stein und dessen Ideen von einer Kommunalverwaltung. Er meint: „Der von Stein ausgearbeitete ,Aufsatz über die zweckmäßige Bildung der obersten Provinzial-, Finanz- und Polizeibehörden in der preussischen Monarchie4 (1807) zeigt eine weitgehende Übereinstimmung der Grundsätze beider Staatsmänner. Die Steinsche Städteordnung, die die Wahl des Magistrates der Bürgerschaft unmittelbar anvertraute, war die bedeutungsvolle Frucht dieser durch Vincke vermittelten Einwirkung der englischen Institution." 25 Ohne diesen rezeptionsgeschichtlichen Streit zu entscheiden, kann zumindest ein Einfluß der hier besprochenen Vinckeschen Arbeit auf den genannten Aufsatz Steins ausgeschlossen werden, da der Aufsatz vor Fertigstellung des Werkes Vinckes erschien. Allerdings ist durchaus möglich, daß Vincke seine Forschungsergebnisse dem Freiherrn vom Stein schon vorher auf anderem Wege mitgeteilt hatte. So ist ein Gutachten Vinckes vom 24. März 1808 über die englische Lokalverfassung bekannt; und E. R. Huber spricht von einer anregenden Wirkung auf die preußische Städtereform, nennt in diesem Zusammenhang aber noch Aufsätze und Memoranden anderer Autoren. 26 Die Vinckesche Darstellung erschien 1848 in zweiter (unveränderter) Auflage, die von Marcus Niebuhr, dem Sohn des ersten Herausgebers besorgt wurde und ihm zufolge durch „in den letzten Monaten" vermehrte Nachfrage notwendig erschien. In seiner Vorrede zur zweiten Auflage verbirgt Marcus Niebuhr nicht seine herausgeberische Intention: Auf der Suche nach einem neuen Verwaltungsorganismus für den preußischen Staat böten sich zwei Extreme an, die französische und die englische Verwaltungsform. Und Marcus Niebuhr meint in seiner Vorrede: „Wehe uns, wenn wir dem französischen Muster folgen." Angesichts dieser Intention geht er auch darüber hinweg, daß in den seit der ersten Auflage verstrichenen Jahren die englische Verwaltung eine Richtung genommen hatte, die der Verfasser nicht gutgeheißen hätte, nämlich ein Anwachsen der besoldeten Beamten und eine Steigerung des Einflusses der englischen Zentralverwaltung; Gneist hätte vom Zurückdrängen des Selfgovernmentprinzips gesprochen. Vinckes Werk steht wie dasjenigen des Geheimen Justitz-Rathes Schmalz für die erste deutsche Hinwendung zum englischen System im Augenblick eines staatlichen Zusammenbruchs in Deutschland und der damit verbundenen Phase der Neuorientierung. Dies gilt sowohl für die Entstehungszeit als auch für das Datum der Veröffentlichung der ersten und der zweiten Auflage. Vinckes Werk, wie vielleicht die deutsche Rezeption des englischen Kommunalverwaltungsrechts überhaupt, ist nicht zuletzt ein Dokument der postaufklärerischen Emanzipation des deutschen Bürgertums. Denn die Übernahme der Aufga24 Julius Hatschek, Engl. Staatsrecht, Bd. I, S. 24. 25 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1901, S. 812. 26 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, S. 173.
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ben der Kommunalverwaltung durch Ortsansässige oder die Wahl der entsprechenden Kommunalverwaltungsbeamten durch Ortsansässige mußte gleichzeitig zur Befreiung des Bürgertums führen, wobei hier Befreiung von „der einengenden Bevormundung durch den in der königlichen Regierungsgewalt verkörperten Centraiismus auf dem Gebiet der inneren Verwaltung" 27 gemeint ist. Immer noch richtig ist daher die Meinung Josef Redlichs: „Das Streben nach Selbstverwaltung' in Gegnerschaft gegen die centralistisch regierende und administrierende Staatsgewalt der deutschen Bundesstaaten war nur ein Teil der allgemeinen politischen Bestrebungen der bürgerlichen Klasse Deutschlands nach selbständiger und bestimmender Teilnahme an dem aktiven Leben des Staates überhaupt." 28 I I I . Der Kontinent auf der Suche nach parlamentarischen Regeln: Jeremy Bentham im Dumontschen Gewände Die Niederlage des napoleonischen Frankreich brachte auch dem schweizerischen Kanton Genf die Freiheit zurück. Das Genfer Staatswesen mußte nun neu geordnet werden. Das legislative Staatsorgan, der Rat der Stadt Genf, verlangte nach einer Geschäftsordnung. Das Ratsmitglied Etienne Dumont (1759-1829) wurde um einen Entwurf gebeten. Dumont, Freund und Schüler Jeremy Benthams (1748-1832), lebte zuvor eine Reihe von Jahren in England. Dumont griff zurück auf ein unvollendetes Werk seines Lehrers. Bentham hatte nämlich im Zusammenhang mit der Neubildung eines französischen Parlaments eine Art Denkschrift zur Verfügung stellen wollen. Ihr Gegenstand war eine Theorie der parlamentarischen Geschäftsordnung, wie sie Bentham für richtig hielt. Die Inhalte dieser Geschäftsordnung stimmten weitgehend mit der Verfahrensweise des englischen Unterhauses überein. Zeitliche Probleme und der französiche Widerstand gegen die Nachahmung englischer Institutionen ließ Benthams Arbeit unvollendet bleiben. Dumont bediente sich der Fragmente und faßte sie mit eigenen Erwägungen in seiner „Tactique des Assemblées législatives" 29 zu einem vollständigen Werk zusammen. Dieses vielgelesene Buch machte dem Kontinent die Ideen Benthams „mundgerecht". 30 Bereits ein Jahr darauf, 1817, erscheint eine deutsche Übersetzung. 31 Dumont teilt dem Leser schon bald die grundlegenden Anforderungen 27
Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. 812. Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. 813. 2 9 Et. Dumont, Tactique des Assemblées législatives suivie d'un Traité des sophismes politique. Ouvrage extrait des Manuscrits de M. Jérémie Bentham Jurisconsulte anglois, par Et. Dumont, Membre du Conseil représentatif du Canton de Genève; Genf 1816. 30 Julius Hatschek, Staatsrecht Bd. I, S. 428. 31 Et. Dumont, Tactik oder Theorie des Geschäftsganges in deliberirenden Volksständeversammlungen, von Jeremias Bentham, nach dessen hinterlassenen Papieren bearbei28
III. Jeremy Bentham im Dumontschen Gewände
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an eine Geschäftsordnung mit: „Die Freiheit aller Glieder sichern, die Minorität schützen, die Fragen, über die man berathschlagt, gehörig ordnen, eine methodische Verhandlung erzielen, und als letztes Resultat zum treuen Ausspruch des allgemeinen Willens gelangen, endlich Beharrlichkeit in allen Unternehmungen: Dies sind notwendige Bedingungen zur Erhaltung einer politischen Versammlung." 32 Dumont macht Interessengleichheit von Nation und Parlament zu einer grundlegenden Forderung an die Konstruktion eines Parlaments. Im sodann entstandenen Parlament solle der Grundsatz der öffentlichen Verhandlung gelten, um die „Oberaufsicht des Publikums" 33 zu ermöglichen. Vorbild waren die Verhältnisse in England: Nach den vorhandenen und bis ins frühe 18. Jahrhundert bestätigten Gesetzen war dem Publikum der Zugang verwehrt, ja die Mitteilung von Verhandlungsgegenständen durch Mitglieder der beiden Häuser war verboten. Jedoch hatte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts eine völlig abweichende Praxis herausgebildet, die in der Zeit Georgs III. dazu führte, daß im Unterhaus eine Tribüne für 150 bis 200 Besucher errichtet wurde. Später wurden sogar „Geschwindschreiber" 34 zugelassen, die in Diensten von Tageszeitungen standen. Die Zulassung des Publikums steht übrigens im engen Zusammenhang mit der allmählichen Einführung von Immunität und Indemnität der Parlamentsmitglieder. Solange dieses Schutzschild für Parlamentsmitglieder nicht bestand, hatten sie ein natürliches Interesse daran, ihre Äußerungen nicht nach außen dringen zu lassen. Mit der Einführung von Immunität und Indemnität verlor die Öffentlichkeit der Sitzungen ihre Gefährlichkeit für das Parlament. Dumont wägt in klassischer Weise verschiedene Vor- und Nachteile eines Zweikammersystems. Im Ergebnis überwiegen, orientiert am englischen Vorbild, die Vorteile. Die Ausführungen Dumonts finden sich etwa zwanzig Jahre später, verkürzt aber teilweise wörtlich, in Friedrich Murhards Englandartikel im Staatslexikon wieder. Einen Parlamentspräsidenten hält Dumont ebenso für notwendig, wie er die Gegenwart von Ministern bei Verhandlungen des Parlaments nach englischem Muster für zweckmäßig hält. In der französischen Nationalversammlung war Ministern der Zutritt verboten; in dieser Regelung sieht Dumont den wesentlichen Fehler der französischen Verfassung. Größeren Raum gewährt Dumont dem Gesetzgebungsverfahren, insbesondere der Debattenordnung, der Drei-DebattenRegel, dem Abstimmungsverfahren, der Anwesenheitspflicht, dem Verbot der geschriebenen Reden und der Ausschußtätigkeit. tet von Et. Dumont, Mitglied des repäsentativen Raths des Cantons Genf, übersetzt von Dr. Ludwig Friedr. Wilh. Meynier, Erlangen (J. J. Palm und Ernst Enke) 1817. 32 Dumont, S. IX. 33 Dumont, S. 11. 34 Dumont, S. 34.
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Im Anschluß an die Darstellung der im wesentlichen Benthamschen Ideen und englischen Institutionen läßt Dumont das „Reglement für den repäsentativen Rath der Stadt und Republik Genf 4 abdrucken, an dessen Entstehung er so lebhaften Anteil hatte. Damit ist der Band allerdings noch nicht am Ende. Den Abschluß bildet die Geschäftsordnung des House of Commons, „Regeln, welche in der Kammer der Communen des brittischen Parlaments bei dem Debattieren und Abstimmen beobachtet werden." Diese rund 50 Seiten des Bandes hatten eine veritable Odyssee hinter sich und ihr Autor ist nicht namentlich bekannt. Der Vorrede ist allerdings zu entnehmen, daß es sich um einen jungen Engländer handele. Dieser habe die Schrift für den französischen Grafen Mirabeau angefertigt, der wohl 1789 den ersten Druck veranlaßte. Die Arbeit sollte der staatsrechtlichen Diskussion Frankreichs Anregung sein. Dieses Unterfangen scheiterte allerdings zunächst. Denn als Mirabeau dem zuständigen Ausschuß der französischen Nationalversammlung das Memoire des jungen Engländers vorlegte, antwortete man ihm in gekränktem Nationalstolz: „Wir wollen nichts von den Engländern, wir wollen niemanden nachahmen.4'35 Dennoch hatte die französischen Constituante am 29. Juli 1789 eine Geschäftsordnung angenommen, die stark von der englischen beeinflußt war. 36 Der deutsche Übersetzer des Dumontschen Werkes wünschte, daß die Theorien Benthams und die britische Parlamentspraxis in den deutschen Staaten beachtet würden. Das ist gewiß auch der Fall gewesen, befand sich Deutschland doch am Beginn des Frühkonstitutionalismus. Der Ruf nach einer Verfassung war überall zu hören. Eine Reihe deutscher Fürsten versprach eine Verfassung. Sogar die Schöpfer der Bundesakte, die wahrhaftig keine Freunde parlamentarischer Regierungsweise waren, mußten den Verfassungsgedanken in ihre Kodifikation einbeziehen. Art. 13 der Bundesakte lautet: In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung stattfinden. 37 Eine andere Frage war, ob sich die englische Verfassung oder Teile hiervon für eine Übertragung eigneten. Dumont sieht dieses Problem durchaus kritisch. Zumindest die Übertragung des gesamten Systems hält er für nicht wünschenswert. 3 8 Bewunderung der englischen Verhältnisse dürfe nicht zu einer kopflosen 35 Dumont, S. XVI. 36 Julius Hatschek, Staatsrecht Bd. I, S. 427. Die Meinung Hatscheks, der Abriß der Geschäftsordnung des Unterhauses stamme von Bentham, scheint mir allerdings fraglich. 37 Die öffentliche Meinung verstand hierunter zweifellos eine moderne Volksrepräsentation und nicht eine Vertretungskörperschaft altständischer Art, denn dieses Modell wäre dem nach Beteiligung an der Macht strebenden aufgeklärten Bürgertum zu wenig gewesen, kannte man doch schon das französische und vom Hörensagen das amerikanische Modell; s. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, verbesserter Nachdruck der 2. Α., Stuttgart 1975, S. 641. 3 « Dumont, S. XII: „Um mit gutem Erfolg ein ganzes System zu verpflanzen, müßte man zu gleicher Zeit viele Nebenumstände übertragen können, besonders Gewohnheiten, die bei gewissen Unvollkommenheiten als Gegenmittel dienen. Diese oder jene Sitte, ζ. B., hat in England nicht empfindlich schlimme Folgen, weil sich eine Routine gebildet
IV. Constantin Bisinger
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Nachahmung führen. Zweifellos hält Dumont aber eine ganze Reihe von Verfassungsnormen und Geschäftsordnungsregeln für übertragbar, wenngleich teilweise in modifizierter Form. Dumonts Meinung in dieser Frage ist von einigem Interesse, weil man bei ihm davon ausgehen kann, daß ihr das Gift des Chauvinismus fehlt. Gerade hierin liegt ein Problem der deutschen Rezeption. In der nationalen Hochstimmung nach den Befreiungskriegen und dann 1848 fanden sich Rezeptionskritiker, deren Argumentation eher national als rational ist. In diesem Zusammenhang ist eine Ausgabe des Dumont von einigem Interesse, die sich in der Tübinger Universitätsbibliothek befindet. Das dort vorhandene Exemplar von „Tactic oder Theorie des Geschäftsganges in deliberirenden Volksständeversammlungen" enthält die handschriftliche Besitzanzeige „L. F. Griesinger 1817". 39 Es scheint sich um den württembergischen Rechtsgelehrten und Mitglied der württembergischen Ständeversammlung Ludwig Friedrich Griesinger 40 zu handeln. Man kann davon ausgehen, daß im Text vorhandene Unterstreichungen von ihm stammen.41 In der Vorrede Dumonts finden sich drei Stellen, die derart gekennzeichnet sind. Neben einer kleinen belanglosen Bemerkung über das Verhältnis von Mut und Disziplin betrifft die Kennzeichnung allein Ausführungen über die Schwierigkeit der Übertragung englischer Institutionen. 42
IV. Constantin Bisinger verrät nichts Bisinger, 43 Professor an der K. K. Theresianischen Ritter Akademie in Wien, berücksichtigte innerhalb eines Werkes über sämtliche europäischen Verfassun-
hat, welche dieselbe vermeiden lehrt oder sie beinahe aufhebt. Trage man dieselbe Sitte in eine andere Versammlung über, deren Constitution nicht dieselbe, oder doch noch neu ist: so bleibt das Übel in seiner ganzen Kraft, ohne daß man Mittel wüßte, ihm abzuhelfen." 39 Im Katalog der Universitätsbibliothek wird Bentham unter der Signatur Ec 177 als Autor des Bandes geführt. Das ist nicht ungewöhnlich; auch Hatschek sah in Bentham den Autor. Ich habe Dumont die Autorenschaft zugeschrieben, da es mir die Konsequenz aus der Entstehunsgeschichte zu sein scheint. 40 Ludwig Friedrich Griesinger (1767-1845), begleitete 1797 den Geheimen Rat v. Rieger auf einer Gesandtschaftsreise nach London, 1808 Dr. iur. in Tübingen, zwischen 1815 und 1824 verschiedentlich Mitglied der württ. Ständeversammlung, Publikationen über privatrechtliche Fragen, Hauptwerk: „Commentar über das herzoglich württembergische Landrecht", 1793-1808 (zehn Bände). 41 Der datierte Namenszug ist ebenso wie die Unterstreichungen mit roter Tinte vorgenommen, wenngleich die Unterstreichungen etwas blasser sind. 42 Dumont, S. XII, XIII, XIV. 43 Joseph Constantin Bisinger, geboren 1771 in Mähren, gestorben 1825 in Wien. Studierte bis 1795 in Wien Philosophie, die Rechte und politische Wissenschaften. Seit 1798 Prof. für Statistik, Natur-, Staats- und Völkerrecht. Vergl. Constantin von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, Bd. I, Stichwort: Bisinger, Wien 1856.
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gen natürlich auch die Verfassung Englands.44 Für das Parlamentsrecht beruft er sich auf Benthams Ausführungen, wie sie von Dumont ein Jahr zuvor mitgeteilt worden waren. Die Repräsentation im Unterhaus erscheint ihm mangelhaft und er macht diese Aussage an zweierlei fest: er bemängelt die antiquierte Wahlkreiseinteilung („35 elende Flecken") und bedauert eine zu geringe Repräsentation der Ackerbau treibenden Volksklasse, die er für die wichtigste hält. 45 In dem Teil seines Buches, in dem er die Grundgesetze 46 der europäischen Staaten bespricht, nennt er für England die Charta libertatum 1101, die Magna Charta 1215, die Petition of Rights 1628, die Habeas Corpus Akte 1679, die Bill of Rights 1689, den Act of Settlement 1701 und die Unionsakten mit Irland und Schottland. Inhaltlich hebt er die Freiheit vor willkürlicher Verhaftung und die Mitwirkung des Parlaments bei der Besteuerung hervor. Zu Bisingers Zeiten wußte der Kontinent, daß im englischen politischen System der Kauf von Parlamentssitzen und die Bestechung durchaus eine Rolle spielte. Bisinger warnt aber vor vorschnellen Urteilen; zumindest der einmal ins Parlament Gewählte sei Bestechungen gegenüber viel weniger empfänglich als allgemein angenommen, handele es sich doch allemal um unabhängige vermögende Männer und keineswegs um ein „Haufe feiler Menschen." 47 Wichtiger als das was er schreibt, ist allerdings was er nicht schreibt. An den Stellen, an denen er England zusammenhängend schildert, findet sich kein Hinweis auf die ungeschriebenen Regeln des englischen Staatsrechts, die dieser Verfassung erst ihr charakteristisches Gepräge gaben. Insbesondere kommt die Technik der parlamentarischen Regierungsweise überhaupt nicht zur Sprache. Die hiermit verbundenen Fragen sind für das deutsche Publikum nach der großen Neuordnung durch den Wiener Kongreß und zu Beginn des Frühkonstitutionalismus aber ganz gewiß von zentralem Interesse gewesen. Man fragt sich, warum Bisinger hierüber nichts verrät. V. Thomas Jefferson In Berlin erschien ein Jahr später, 1819, ein Handbuch des Parlamentsrechts von dem vormaligen amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson. 48 Er erläutert 44
Joseph Constantin Bisinger, Vergleichende Darstellung der Staatsverfassungen der europäischen Monarchieen und Republiken, Wien (Carl Schaumburg und Comp.) 1818. 578 S. Von einigem rezeptionsgeschichtlichen Interesse ist hier auch ein Verzeichnis zur Literatur des englischen Staatsrechts, S. XLV f. 45 Bisinger, S. 530. 46 „Unter den Grundgesetzen (leges fundamentales) der europäischen Staaten versteht man diejenigen öffentlichen Normen, welche über das Subjekt der Staatsgewalt und die Ausübungsart der Regierungsrechte positive Bestimmungen, folglich den Erkenntnißgrund der Rechtlichkeit der Oberherrschafts- und Regierungsform in den Staaten unsers Erdtheiles enthalten," s. Bisinger, S. 3. 47 Bisinger, S. 537.
VI. John Millar, Esqu.
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zu Anfang die Bedeutung des englischen Parlamentsrechts für die Vereinigten Staaten: Falls weder Bestimmungen der amerikanischen Verfassung noch spezielle Senatsbeschlüsse vorliegen, richte sich das Procedere im Senat „subsidiarischer Weise" nach „den Grundsätzen und Regeln, die im englischen Parlament befolgt werden." 49 Die 51 Kapitel des Handbuches beschreiben sowohl englisches als auch amerikanisches Parlamentsrecht, ohne eine deutliche äußere Trennung vorzunehmen. Die Betonung liegt auf dem amerikanischen Recht. Thomas Jefferson skizziert unter anderem Gesetzgebungsverfahren und impeachment, Indemnität und Immunität der Abgeordneten. Am Ende des Handbuchs findet sich eine Übersetzung der Verhandlungsregeln von Repräsentatenhaus und Senat und der Gemeinschaftlichen Verhandlungsregeln beider Kammern. Die deutsche Übersetzung basiert allerdings nicht auf dem amerikanischen Original, vielmehr auf einer 1814 von Pichon besorgten französischen Übersetzung. In den Bemerkungen des Übersetzers, Leopold von Henning, schwingt der enthusiasische liberale Geist des deutschen Frühkonstitutionalismus mit. Eine freiheitliche Verfassung sei geradezu „eine unabweisliche Forderung des Zeitgeistes." 50 Das Studium des Jeffersonschen Parlamentrechts solle auch das förmliche Vorgehen innerhalb verfassungsgebender Verhandlungen anregen; so hoffte Leopold von Henning, das Werk „noch vor dem Ende der diesjährigen Sitzungen der baierschen Ständeversammlung in die Hände des Publikums zu bringen." 51 VI. John Miliar, Esqu., in der Übersetzung von K. E. Schmid Die erste umfangreiche englische Verfassungsgeschichte in deutscher Sprache ist die Übersetzung einer Arbeit des Glasgower Rechtsprofessors John Miliar. Die erste Auflage des englischen Originals erschien 1786.52 Die deutsche Übersetzung umfaßt drei Bände und erschien in den Jahren 1819, 1820, 1821 in Jena.53 Der Übersetzer zog es vor, seine Anonymität zu wahren und firmiert als „K. E. S.". Es muß in Fachkreisen nicht sehr schwierig gewesen sein, die Identität des 48
Thomas Jefferson, Handbuch des Parlamentarrechts oder Darstellung der Verhandlungsweise und des Geschäftsganges beim englischen Parlament und beim Congreß der vereinigten Staaten von Nordamerika, übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Leopold von Henning, Berlin 1819 (Ferdinand Dümmler). 319 S. 49 Jefferson, S. VII. 50 Jefferson, S. 2 des nicht numerierten Vorworts des Übersetzers. 51 Jefferson, S. 5 des Vorworts. 52 John Millar Esqu., A historical View of the English Government from the Settlement of the Saxons in Britain to the Revolution in 1688. 53 John Millar's Professor's der Rechte zu Glasgow Historische Entwickelung der Englischen Staatsverfassung, aus dem Englischen von D(r). K. E. S., 3 Bände, Jena 1819 ff (August Schmid).
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Übersetzers zu ermitteln. Denn schon 1822 teilt der Kieler Rechtsgelehrte N. Falck in der Vorrede zur deutschen Blackstone-Übersetzung mit, es handele sich um Geheimrath „Schmidt" aus Jena.54 Gemeint ist der Jurist und Publizist Karl Ernst Schmid. 55 Erst kürzlich ist er von Michael Stolleis wiederentdeckt und gegenüber despektierlichen Bemerkungen Landsbergs in Schutz genommen worden. Stolleis sieht in Schmid einen Repräsentanten des klassischen Frühliberalismus und kennzeichnet dessen Staatsrechtsbuch als „eindrucksvoll in der Konsequenz seiner Anlage" und seiner „Modernität". 56 In unserem Kontext fallen Parallelen zwischen Schmids Staatsrechtslehre und der englischen Verfassung auf: Gesetzgebung durch ein Parlament im Zusammenwirken mit dem Monarchen, Rechtsstaatlichkeit und gleiche Grundrechte ohne Rücksicht auf Klassenzugehörigkeit. Berücksichtigt man, in welchem zeitlichen Zusammenhang Schmids Millar-Übersetzung und seine „Allgemeine Staatslehre" stehen, wird ein Einfluß der englischen Verfassung auf sein Werk überdeutlich. Miliar verfolgt die englische Verfassungsgeschichte von sächsischer Zeit bis zur Glorreichen Revolution 1688; vorher wirft er einen knappen Blick auf das römische Britannien. Er unterscheidet drei Epochen: von der Ansiedlung der Sachsen bis zur normannischen Eroberung durch Wilhelm den Eroberer 1066, sodann die Zeit nach der Eroberung bis zur Regentschaft des ersten Stuart, Jacobs I. (1603-1625), und zuletzt die Periode von den Stuarts bis in Millars Gegenwart, die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Jede Epoche entspricht einem Millarschen Band. Der letzte Band ist insoweit nicht ganz vollständig; er endet, bedingt durch den Tod John Millars im Jahr 1801, mit der Regierung des Oraniers Wilhelm III. und seiner Frau Mary (1689-1702; seit 1694 regierte Wilhelm III. allein). Immer wiederkehrendes Motiv ist die Freiheit und die Beschränkung der monarchischen Gewalt, wobei im Laufe der Darstellung eine positive Entwicklung im Sinne der Freiheit deutlich wird. 57 54 Blackstone / Colditz, Bd. I, S. V (Fußnote). 55 Karl Ernst Schmid (1774-1852) studierte 1793 bis 96 in Jena Jura und Philosophie. 1797 Redakteur der „Baireuther politischen Zeitung", 1803 Criminal-, 1804 Stadtgerichtsrath. 1809 o. Professor der Rechte in Jena. Diverse Tätigkeiten als Richter und Verwaltungsbeamter. Beteiligung am Entwurf der Verfassungen für Sachsen-Meiningen und Schwarzburg-Sondershausen. Sein Lehrbuch des deutschen Staatsrechts (Bd. I Jena 1821) basiert auf Montesquieus Gewaltenteilungsdoktrin und blieb unvollendet. Schmid schrieb eine Reihe von Artikeln, besonders staatsrechtlicher Art, in F. A. Brockhaus' „Hermes oder kritisches Jahrbuch für Literatur." Weitere mit K. E. S. bezeichnete Artikel dürften auf ihn zurückgehen. S. Ernst Landsberg, in: Allgemeine Deutsche Biographie, 31. Bd. 1890. In einer Ubersetzung englischer Gesetze durch den Jenaer Rechtsprofessor Reinhold Schmid findet sich übrigens eine Widmung für den Amtskollegen Karl Ernst Schmid, s. Die Gesetze der Angelsachsen. In der Ursprache mit Uebersetzung und Erläuterungen herausgegeben von Dr. Reinhold Schmid, Leipzig (F. A. Brockhaus) 1832. 56 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. II, S. 167. 57 „Durch das Zusammentreffen dieser besondern Umstände hatte die englische Verfassung schon vor der Thronbesteigung Jacobs's I. eine von allen übrigen Staaten Europa's abweichende Gestaltung bekommen. Die königliche Gewalt war mehr eingeschränkt
VII. Johann Gotthelf Beschorner
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Nach Ansicht des Übersetzers bedurfte das Deutschland des Jahres 1819 einer neuen Ordnung und diese Ansicht sei allgemein verbreitet. Die neue Ordnung solle möglichst nicht durch „gewaltsame Erschütterungen" (sprich: Revolution) entstehen, wenngleich der Übersetzer Karl Ernst Schmid dem deutschen Establishment mit dieser Möglichkeit durch die Blume droht. Der Inhalt der neuen Ordnung wird angedeutet: Beschränkung der Willkür und „Aufopfern vermeintlicher Vorrechte" der „Machthabenden".58 Offensichtlich geht der Übersetzer davon aus, daß die ihm für Deutschland vorschwebende Ordnung in England bereits existierte, denn er schreibt über Millars Werk: „Die Untersuchung, wie ein uns so nahe verwandtes Volk zu dem gelangte, was wir noch erstreben, kann daher nicht anders als zeitgemäß seyn." 59 Angesichts der so offenbarten Position des Übersetzers und vor dem Hintergrund der restaurativen und innenpolitisch repressiven Epoche nach dem Wiener Kongreß, erscheint der Wunsch des Übersetzers nach Wahrung seiner Anonymität nur allzu leicht verständlich.
V I I . Johann Gotthelf Beschorners Pamphlet gegen England und die Engländer Fixpunkt der staatsrechtlichen Überlegungen des Johann Gotthelf Beschorner 60 ist sein Begriff der bürgerlichen Freiheit, die er in fast poetischer Weise bewertet: „Ein fester Punkt ist es, der dem Schiffer die Gegend anzeigt, wohin er steuern soll; ein fester, klarer, bestimmter Begriff der bürgerlichen Freyheit setzt erst den politischen Steuermann in den Stand, das Staatsschiff mit Sicherheit durch Nacht, Sturm und Ungewitter unverletzt in den Hafen zu führen." 61 Vor dem Hintergrund der bisher besprochenen Englandliteratur möchte man erwarten, daß Beschorner nun auf die englische Freiheit zu reden kommt und ihre Vorzüge preist. Unerwartet subsumiert er die englische Verfassung aber bald unter jene Verfassungen, die nur „Einzelwohl" und „Einzelfreyheit" im
und die Volksvertretung sowohl besser eingerichtet, als mit wichtigeren Befugnissen bekleidet, so wie die Rechtspflege durch die Schöffenurtheile unabhängiger war, und den Rechten der Einzelnen größere Sicherheit gewährte." Vergl. John Miliar, Historische Entwickelung der englischen Staatsverfassung, Bd. II, S. 342. 58 John Miliar, Historische Entwickelung der Englischen Staatsverfassung, S. IV. 59 John Miliar, Historische Entwickelung der Englischen Staatsverfassung, Bd. I, S. V. 60 Johann Gotthelf Beschorner (1769-1821), sächsischer Jurist. 1806 Doktor der Rechte, 1810 Obersteuerprocurator. Beschorner kann nicht als ausgewiesener Staatsrechtler bezeichnet werden. Insgesamt ist sein literarisches Werk eher von bescheidenem Umfang. Neben dem hier besprochenen Buch findet sich insbesondere ein „Sendschreiben an den Herrn Hauptmann Grävell, Verfasser der Schrift: Sachsens Wiedergeburt, von einem Dresdner Sachwalter", Dresden 1814. Vergl. Hamberger / Meusel, Das Gelehrte Teutschland, Bd. XXII, 5. A. Lemgo 1829, S. 246. J. G. Beschorner, Prüfung der englischen Staatsverfassung und Vergleichung derselben mit der deutschen, 1. Bd. Leipzig 1821 (Georg Joachim Göschen), S. III. 4 Pöggeler
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Auge haben, nicht aber „Gesammtwohl, Gesammtfreyheit". Und er läßt keinen Zweifel an der Geringwertigkeit der ersteren. Schon bald rechnet er es zu den Verdiensten seines Werkes, „zu dem Baue eines neuen Staatsgebäudes nicht nur einige Materialien geliefert zu haben, sondern auch meine Landsleute vor der englischen Staatsbaukunst, besonders aber vor den Grundsätzen der englischen Staatsbaumeister, gewarnt zu haben." 62 Alsbald teilt Beschorner uns ein Ergebnis seiner eigenen Englandstudien mit: er sei nämlich „zu der gewissen Überzeugung gelangt, daß das, was die Engländer Freyheit nennen, alles in sich begreift, was andere Staaten als egoistische Willkühr, als Pöbelherrschaft, als Tyrannei, Despotie und Anarchie verwerfen, und aus dem gesetzmäßigen Gebiete der Gesellschaft verbannen." 63 Folgerichtig meint Dr. Beschorner dann auch, es sei „endlich Zeit, die Abgötterey, die man bisher mit der englischen Constitution getrieben hat, zu vernichten und den Götzendienst des goldenen Kalbes zu zerstören." 64 Wenngleich Beschorner immer wieder die Suche nach der Wahrheit als Richtschnur seiner wissenschaftlichen Tätigkeit vorgibt, kann aus heutiger Perspektive der Einfluß eines gewissen chauvinistischen Nationalismus auf seine 1821 erschienene zweibändige Beschreibung der englischen Verfassung nicht übersehen werden. Sicherlich muß dieser Umstand vor dem Hintergrund seiner Zeit gesehen werden. Doch entwertet diese Einstellung Beschorners zweibändige Darstellung in gewissem Maße. 65 Denn offensichtlich ist nicht die Suche nach Wahrheit allein Motivation seines Forschens. Bevor das Werk näher betrachtet wird, muß noch auf eine rezeptionsgeschichtlich sehr interessante und dankenswerte Eigentümlichkeit eingegangen werden. Beschorner setzt seinen Ausführungen nämlich Verzeichnis und Kritik jener dreiundzwanzig Werke über die englischen Verhältnisse voran, die er selbst benutzt hat. Am Anfang dieser Liste finden sich Montesquieu und de Lolme (in der zweiten deutschen Übersetzung 1819). Die angegebene Literatur stammt zwar auch von Engländern (David Hume, John Miliar, Robert Southey, Lucie Aikin, P. Colquhoun), doch benutzt der Autor nur die deutschen Übersetzungen. Neben deutschsprachigen Werken finden sich allein solche in französischer Sprache. 62 Beschorner, Bd. I, S. VIII. 63 Beschorner, Bd. I, S. XI. 64 Beschorner, Bd. I, S. XII. 65 Die markanteste Belegstelle findet sich in Bd. I auf S. XII: „Es ist Zeit, daß in Deutschland ein auf gerechte Selbstschätzung gegründeter Nationalstolz erwacht. Es ist Zeit, den eiteln, stolzen englischen Pfau auf seine schmutzigen Füße aufmerksam zu machen, und ihm zu zeigen, daß — während er hungrig und geschäftig auf der Erde sein Futter sucht — der deutsche Adler zur Sonne geflogen ist, um an ihren Strahlen das geistige Leben zu stärken." Eine besonders drastische Kritik an Beschorners Werk findet sich bei Robert von Mohl. Ihm zufolge „bewies dieses Machwerk einen so geringen Grad von Einsicht, Kenntniss und gesundem Urtheile, dass der Verfasser nur für unzurechnungsfähig erklärt werden kann." (Robert von Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. II, Erlangen 1856, S. 61.)
VII. Johann Gotthelf Beschorner
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Ausführlich erläutert Beschorner in den ersten 98 Seiten des ersten Bandes das strafrechtliche System. Er kritisiert willkürliche Urteile, sowohl Verurteilungen als auch Freisprüche, und unverhältnismäßige Strafen anhand von Fällen, deren Sachverhalt er kurz schildert. Hieran wird nicht nur der weite Verfassungsbegriff des Autors deutlich, es zeigt auch eine merkwürdige Gewichtung, sollte die englische Strafrechtspflege auch noch so unverständlich gewesen sein. Das System des Zivilrechts wird im Anschluß ebenso negativ dargestellt. Die zweite Hälfte des ersten Teils des ersten Bandes widmet Beschorner der „Polizeyund Justizverwaltung." Er attackiert die positiven Bemerkungen v. Vinckes hierüber und sieht in der Unentgeltlichkeit öffentlicher Ämter einen Nachteil. Immer wieder fällt Beschorner zurück in die Nacherzählung von Straftaten und Merkwürdigkeiten ihrer Verfolgung („Mehrere Beispiele von Todtschlägen beim Boxen," „Freysprechung eines Verbrechers, weil die Geschworenen nicht beysammen geblieben waren," „Eine als Mörderin Angeklagte wird gehenkt, anatomirt, nachher aber für unschuldig befunden" etc.). Der zweite Teil des ersten Bandes behandelt die Kirche und enthält seitenlange „Allgemeine Bemerkungen über England und die Engländer, besonders in Hinsicht auf geistige und sittliche Bildung". Beschorner bleibt seinem Stil treu. Er bietet „Beyspiele, daß Kutscher und Bediente zu Bischöfen und Pfarrern gemacht worden sind" und beklagt die Lage der Katholiken und Dissenters oder die „Unwissenheit der Engländer in Beziehung auf ausländische Literatur." Im zweiten Band folgt die vollständige Wiedergabe des de Lolmeschen Werkes über die englische Staatsverfassung und eine etwa ebenso umfangreiche Kritik Beschorners hieran. Eine eigenständige Darstellung der zentralen Einrichtungen der englischen Verfassung fehlt hingegen. Beschorners Kritik an de Lolme sind allerdings einige Verdienste nicht abzusprechen. Während de Lolme die tatsächliche Schwäche des Königs und die damit korrespondierende Stärke des Parlaments in Blackstonescher Manier zweideutig, verschleiernd wiedergibt, sagt Beschorner in aller Deutlichkeit, daß das Parlament der „wahre eigentliche Regent in England sey" und spricht vom Parlament als „dem eigentlichen Gesetzgeber und Herrscher". 66 Das Verhältnis zwischen König und Minister findet sich bei Beschorner in dem eingängigen Begriffspaar „Nominalkönig" und „Realkönig". „Jener hat den Titel und die öffentliche Verehrung, dieser die Gewalt und die öffentliche Schmähung."67 Fragwürdig erscheint allerdings Beschorners Ausführung über das Verhältnis zwischen Ministern und Oberhaus. Er hält erstere nämlich für bloße Marionetten des letzteren. 68 Diese Ansicht kann wohl auch für die Zeit vor der großen 66
Beschorner, 2. Bd., 2. Abschnitt, S. 35 f. Diese äußere Tatsache findet Beschorner im Wortlaut des Krönungseides bestätigt, in dem der König verspricht, nach den Statuten des Parlaments und den Gesetzen und Gewohnheiten zu regieren. 67 Beschorner, 2. Bd., 2. Abschnitt, S. 41 68 Beschorner, 2. Bd., 2. Abschnitt, S. 41 4*
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Wahlrechtsreform 1832 in dieser Pauschalität nicht aufrecht erhalten werden. Daß die Mitglieder des Oberhauses in dem einen oder anderen Fall allein durch ihre finanziellen Möglichkeiten Einfluß auf die Mitglieder des Kabinetts ausübten, ist durchaus richtig. Aber die Wahlrechtsreform von 1832 zeigte den Einfluß anderer mächtiger politischer Faktoren, zumal einer erstarkenden öffentlichen Meinung, so daß es als falsch bezeichnet werden muß, allein den Einfluß der Oberhausmitglieder auf das Kabinett herauszustreichen. 69 Beschorner war innerhalb des deutschen rechtswissenschaftlichen Schrifttums des 19. Jahrhunderts der erste, der ein eindeutig negatives größeres Werk über England schrieb. 70 Anknüpfungspunkte hierfür waren eine Reihe als ungerecht empfundener Urteile, insbesondere Strafurteile, und die nicht zu übersehenden Korruption im politischen Betrieb Englands. Er war vor Hegel der deutlichste Gegenpol zur deutschen Anglophilie. Wie sehr Beschorners Anglophobie zu Anfang des deutschen Frühkonstitutionalismus aus dem Rahmen fiel zeigt eine zu recht als ironisch 71 bezeichnete Fußnote, die sich in der Vorrede des Kieler Rechtsprofessors N. Falck zur deutschen Übersetzung des Blackstone findet und Beschorners Werk betrifft: „Das Buch scheint nur in der Absicht geschrieben zu seyn, damit, wenn die Heiligsprechung Englands versucht werden sollte, der advocatus diaboli nicht fehlen möge." 72
V I I I . Lord John Russeis Verfassungsgeschichte aus der Perspektive des Freiheitsbegriffs Rüssel73 unterscheidet vier Kulturstufen der staatlichen Entwicklung. Am Anfang steht der Zustand der Wildheit, in dem sich die nordamerikanischen Wilden
69 Zur Kritik an Beschorners Ausführungen: Friedrich Klenk, Die Beurteilung der englischen Verfassung in Deutschland von Hegel bis Stahl, philos. Diss. Tübingen 1930, S. 5 ff. Klenk berücksichtigt in seiner Kritik allerdings zu wenig die postnapoleonische nationalistische Grundhaltung Beschomers, verliert insbesondere kein Wort über dessen merkwürdiges Vorgehen im ersten Bande. 70 Im 18. Jahrhundert hatte er einen Vorläufer: Heinrich Christoph Albrecht, Untersuchungen über die englische Staats-Verfassung, Lübeck und Leipzig (Friedrich Bohn) 1794. Der erste Teil dieses merkwürdigen Werkes beschreibt „Verfolgungen der herrschenden Kirche gegen Dr. Joseph Priestley", der zweite Teil sind reichlich unsystematische „Untersuchungen über das englische Parlement." Völlig zurecht meinte von Mohl, das Werk sei „gar zu platt und roh" (Robert von Mohl, Geschichte und Literatur, S. 61). 71 Knut Wolfgang Nörr, The European Side of the English Law: A Few Comments from a Continental Historian, in: Helmut Coing und Knut Wolfgang Nörr (Hg.), Englische und kontinentale Rechtsgeschichte: ein Forschungsprojekt, Berlin 1985, S. 15, 25. 7 2 Blackstone/Colditz, Bd. I, S. V. 73 Lord John Rüssel (1792-1878) war in den Jahren 1846 bis 52 und ein weiteres Mal 1865 und 66 liberaler Premierminister. Bereits 1813 wurde er ins Unterhaus gewählt. Seine erste bedeutende Rede richtete sich gegen eine Suspension der Habeas Corpus Akte (1817). Seine politischen Ziele waren religiöse Freiheit (u. a. Katholikenemanzipa-
VIII. Lord John Rüssel
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befänden oder die Bewohner Britanniens vor Cäsars Eroberung. Es folgt der Zustand der sich entwickelnden Verfassung, gekennzeichnet durch feste Niederlassungen und den zuvor entstandenen Eigentumsbegriff, aber noch ohne staatliche Organisation: Schutz für Leben und Eigentum gewährt die Subordination unter einen mächtigen Lehnsherrn oder unter Privat Verbindungen. Die dritte Stufe der Kultur sei der Zustand von Ordnung ohne Freiheit, wie er beispielsweise in den römischen Provinzen geherrscht habe. Am oberen Ende der Hierarchie sieht Rüssel die Vereinigung von Freiheit und Ordnung. Allein England gilt ihm als neuzeitliches Beispiel dieses Zustands; die Vereinigten Staaten müßten erst von der geschichtlichen Entwicklung auf die Stabilität ihrer Einrichtungen geprüft werden, um das Prädikat der höchsten Kulturstufe zu erhalten. Russeis Kulturstufentheorie legt die Bedeutung der Freiheit für seine Verfassungsgeschichte, die von Heinrich VII. (1485-1509) bis Georg III. (1760-1820) reicht, nahe.74 Er unterscheidet bürgerliche, persönliche und politische Freiheit und sieht in der Freiheit sogar die „mächtige Quelle eines jeden, und besonders des englischen Nationalreichthums." 75 Unter den Freiheitsrechten komme der Pressefreiheit ein Ehrenplatz zu. Ein Schwerpunkt seiner Ausführungen liegt bei der Gefahr des Mißbrauchs politischer Macht durch den Monarchen. In England sieht er diese Gefahr gezügelt vom alleinigen Recht des Parlaments zur Steuerbewilligung. Trotzdem spricht Rüssel von einer besorgniserregenden Ausdehnung der Macht der Krone unter Georg III. Tatsächlich war es dieser englische Monarch, der als letzter versuchte, gewissermaßen selbst zu regieren. Diese Umstände sind es wahrscheinlich, die mitursächlich für den größten Mangel des Buches sind. Die Stellung des Kabinetts mit dem Premierminister an seiner Spitze spielt eine lediglich marginale Rolle. Hierin zeigt sich auch die
tion), Demokratisierung des Wahlrechts, Einführung eines öffentlichen Bildungssystems, Demokratisierung der Verwaltung, Zurückdrängen der Todesstrafe, Einrichtung eines National Board of Public Health. Viele dieser Ziele konnten verwirklicht werden, so im Jahre 1847 auch die Einführung des 10-Stunden-Tages in Fabriken. Vergl. John Prest, Lord John Rüssel, London etc. 1972. 74 Lord John Rüssel, Geschichte der englischen Regierung und Verfassung von Heinrich VII. an bis auf die neueste Zeit, aus dem Englischen nach der zweiten bedeutend vermehrten Ausgabe übersetzt von Dr. P. L. Kritz, Leipzig (Breitkopf und Härtel) 1825. 343 S. Die erste englische Ausgabe erschien 1821 in London unter dem Titel „An Essay on the History of the English Government and Constitution, from the Reign of Henry VII. to the Present Time." Weitere Auflagen folgten 1823, 1865 und 1873. Lord Russeis englischer Biograph John Prest nennt zwei französische (1821 und 1865) und eine deutsche Übersetzung (1872), übersieht dabei die hier betrachtete viel frühere deutsche Übersetzung 1825. Ebenfalls in jenem Jahr erschien in Jena eine deutsche Übersetzung aus dem Französischen: Baron von Staël-Holstein, Ueber die Verfassung, Verwaltung und den politischen Gemeingeist Englands, aus dem Französischen von Dr. Karl Hermann Scheidler (A. de Staël-Holstein, Lettres sur l'Angleterre, Paris 1825). 7
5 Rüssel, S. 191.
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Schwierigkeit der rechtshistorischen und politischen Analyse, die von allzu großer zeitlicher Nähe zum Objekt begleitet ist. Trotz allem muß das Buch Lord Russeis, das die Freiheit zum großen Programm macht, im liberalen Bürgertum des restaurativen Deutschland für Begehrlichkeiten gesorgt haben; es hat den Topos von der englischen Freiheit gewiß noch einmal kräftig aufpoliert.
IX. Eine weitere Verfassungsgeschichte: Hallam und sein Epigone F. A. Rüder Henry Hallam 76 ließ seine englische Verfassungsgeschichte, dessen erste Auflage 1827 erschien, 77 mit Georg II. enden. Aus gutem Grund, denn er wäre seiner Gegenwart so nahe gekommen, daß die notwendige Distanz des Historikers vielleicht ins Wanken hätte geraten können. Sein deutscher Übersetzer F. A. Rüder kannte solche Bedenken ebensowenig wie Lord Rüssel. Er führte Hallams Arbeit, getrieben von einer Art Aktualitätsversessenheit, bis in das Jahr 1829 fort. 78 Im Grunde genommen kann das Werk nicht ohne weiteres als Verfassungsgeschichte deklariert werden. Zum einen liegt der Schwerpunkt keineswegs auf normativen Aspekten der Staatsmaschinerie, zum anderen erhält die Darstellung rein politischer Fragen eindeutigen Vorrang. Der literarischen Gattung nach handelt es sich daher um eine allgemeine Geschichte Englands. Eine Theorie zum Verhältnis der Verfassungsorgane untereinander fehlt. Rüders Ausführungen sind im Rahmen einer Rezeptionsgeschichte dennoch erwähnenswert. Er begründet seine Fortführung des Werkes nämlich damit, daß Hallam nicht berichte, was die Zeitgenossen in den 20er Jahren des 19. Jahrhun76
Henry Hallam (1777-1859), englischer Historiker, der in Eton und am Christ Church College in Oxford ausgebildet wurde. Er arbeitete einige Jahre in der juristischen Praxis. Nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1812 war er als dessen Erbe so wohlhabend, daß er sich ganz auf historische Studien konzentrieren konnte. Sein erstes einschlägiges Werk war „A View of the State of Europe During the Middle Ages" (1818). Mit seiner Verfassungsgeschichte (1827) erwarb er sich einen hervorragenden Ruf. Politisch muß er deutlich als Whig angesprochen werden. Vergl. E. R. Adair, Stichwort Hallam, in: Collier's Encyclopedia, ed. W. D. Halsey, Emanuel Friedman, London and New York, 1982; William Holdsworth, vol. XV., p. 275. 77 Henry Hallam, The Constitutional History of England from the accession of Henry VII. to the death of George II, Paris 1827. 7 8 Henry Hallam, Die Geschichte der Verfassung von England von Heinrich VII. bis Georg II., übertragen und fortgesetzt von F. A. Rüder seit dem Anfang der Regierung Georgs III. bis 1828, erster Teil Leipzig (C. H. F. Hartmann) 1828, zweiter Teil 1829. Kurz zuvor war erschienen: G. Philipps, Englische Reichs- und Rechtsgeschichte seit der Ankunft der Normannen, 2 Bde, Berlin 1827-28. In diesem Werk spielt allerdings das Verfassungsrecht eine weniger bedeutende Rolle; der Schwerpunkt liegt auf Zivilrecht und Strafrecht. Dasselbe gilt für seinen vorangegangenen „Versuch einer Darstellung der Geschichte des angelsächsischen Rechts", Göttingen 1825.
X. Georg Wilhelm Friedrich Hegel
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derts am meisten interessiere, nämlich die Verarmung der unteren Klassen angesichts eines steigenden Reichtums der herrschenden Klassen und das Verhältnis der englischen Verfassung hierzu. Wirft man eine Blick auf die Schlagworte, mit denen Rüder die Regentschaft Georg III. charakterisiert, zeigt sich noch einmal überdeutlich das Fehlen einer rechtswissenschaftlichen Fragestellung. Er hebt die Staatsverschuldung, den Einfluß der Nabobs, die Emanzipation der Kolonien, die Steigerung der Armensteuer hervor. Offensichtlich hatte Rüder ein negatives Englandbild, wobei soziale Mißstände den Ausschlag gaben. In Verbindung mit dem evident ungerechten parlamentarischen Repräsentationssystem ergab sich hieraus später für andere Autoren die Quelle eines negativen Bildes von der englischen Verfassung. Ebenso wie bei Lord Rüssel fehlt eine Theorie zur verfassungsrechtlichen Stellung des Kabinetts. Aber immerhin treten die Premierminister immer wieder als bedeutende Protagonisten der Macht auf. Und der Rekurs auf ihre jeweiligen Charaktere, Eigenheiten und Politik erweckt den Eindruck einer mächtigen verfassungsrechtlichen Stellung. In der Literaturgeschichte des englischen Verfassungsrechts gebührt Hallam aber aus einem anderen Grund ein Ehrenplatz. Seine Verfassungsgeschichte „was the background against wich most of the books on constitutional law were written during this period." 79
X. Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Reformbill Die englische Diskussion um die große Wahlrechtsreform, die dann 1832 Gesetz wurde, 80 erregte auch in Deutschland Interesse. Hegel äußerte sich hierüber 1831 in der Allgemeinen preußischen Staatszeitung.81 Zuvor jedoch ein Blick auf das englische Wahlrecht vor und nach 1832. Zwei Aspekte sind besonders im Auge zu behalten: die Wahlkreiseinteilung und das aktive Wahlrecht. Die Wahlkreiseinteilung basierte vor 1832 im wesentlichen auf mittelalterlichen Verhältnissen und nahm die seither stattgefundene Bevölkerungsentwicklung überhaupt nicht zur Kenntnis. Die Folge war aus moderner Sicht absurd. Orte, die vor Jahrhunderten einmal ansehnliche Städte waren, aber im Lauf der Zeit zu unbedeutenden Flecken (sogenannten rotten boroughs) herabsanken, entsendeten Abgeordnete ins Unterhaus. Neu entstandene Städte, insbesondere die neuen Industriestädte, waren dagegen überhaupt nicht vertreten. Dieser Zustand hatte schon im 18. Jahrhundert eine Vielzahl von Reformversuchen, die jedoch alle scheiterten, provoziert. 82 Die Wahlrechtsreform von 1832 79 William Holdsworth, A History of English Law, vol. XV, p. 276. so Representation of the People Act 1832 (2/3 William IV. c. 45.) 81 Georg W. F. Hegel, Über die englische Reform-Bill, in: Sämtliche Werke (Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden), hg. von Hermann Glockner, 20. Band, Stuttgart (Fr. Frommanns Verlag) 1930, S. 473 ff.
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brachte dann nach langen und heftigen parlamentarischen Kämpfen eine erste Besserung. Es verschwanden 56 rotten boroughs von der Wahlkreisliste; die damit verbundenen Sitze wurden vertretungsbedürftigeren Städten oder Grafschaften zugeteilt. Keineswegs war die Wahlkreiseinteilung hierdurch in einem modernen Sinne gerecht geworden: „Es gab noch immer Dörfer, die zum Parlament wählten, während Städte, wie z. B. Stoke upon Trent mit einer Einwohnerzahl von über 84.000 und andere Städte von ähnlicher Ausdehnung ganz unvertreten waren." 83 Auch wurde das Prinzip, wonach das Parlament die Kommunalverbände und keineswegs die Bevölkerung repräsentierte, nicht aufgegeben: eine Ursache für ungleiche Repräsentation. Ähnlich war der Erfolg der Reform in der Frage des aktiven Wahlrechts. Es wurde moderat erweitert. In den Grafschaften durften nunmehr nicht nur der freeholder (Eigentümer eines sogenannten Freisassengutes) wählen, 84 sondern auch der leaseholder (Pächter) und der copyholder (Besitzer eines Stückes Land als sogenannter Zinsbauer). Voraussetzung war allerdings ein bestimmter Mindestertrag aus dem jeweiligen Grund und Boden. In den Städten wurde das Wahlrecht sehr vereinheitlicht. Wahlberechtigt wurde jeder Bewohner oder Eigentümer einer Immobilie, deren jährlicher Ertrag 10 Pfund betrug, falls er zur Armensteuer eingeschätzt war und seine öffentlichen Abgaben entrichtet hatte. Man darf sich nun allerdings nicht vorstellen, daß ein überragender Anteil der Bevölkerung ab 1832 wahlberechtigt gewesen wäre. Bei einer Gesamtbevölkerung von 24 Million durften in Städten und Grafschaften zusammen etwa 650.000 Menschen wählen, gerade V33 der Bevölkerung, kaum ein Unterschied zur Situation vor 1832. Erst die Wahlrechtsreform von 1867 erhöhte den Quotienten auf V7,85 die Reform von 1884 auf V 6 · 8 6 Trotzdem spricht man heute von der großen Wahlrechtsreform 1832 und „einem der wichtigsten Daten der parlamentarischen Geschichte Großbritan82
Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 577 ff. 83 Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. I, S. 293. 84 Diese 40-Schilling-freeholders waren im Laufe der Rechtsentwicklung übrigens zu einer ausgesprochen inhomogenen Gruppe geworden. Von der ursprünglichen Idee her waren nur Eigentümer eines Landgutes mit einem jährlichen Ertrag von 40 Schilling gemeint. Aber bald erstreckte sich der freehold-Begriff auf mancherlei: „Grundrenten, Pfandbesitz, lebenslänglicher Pachtbesitz, Nutznießung des Ehemannes an der Mitgift der Frau, Kirchenstühle, die zu Eigentum besessen wurden, alle Kirchendignitäten. Denn entsprechend der mittelalterlichen Tendenz alles zu verdinglichen, wurde selbst die Würde eines Küsters als freehold angesehen. Im Jahre 1693 wählte sogar ein Kirchensänger der Kathedrale zu Ely in der Grafschaft von Cambridge auf Grund seines Amtes . . . , und im Jahre 1803 wählten der Brauer und Kellermeister der Westminsterabtei, ferner der Glockenzieher, der Gärtner, der Koch und der Organist, alle mit Rücksicht auf ihre Ämter . . . ; s. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 626. 85 Representation of the People Act 1867 (30 and 31 Victoria c. 102) 86 Representation of the People Act 1884 (48/9 Victoria c. 3). Zur Entwicklung s. Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. I, S. 250 ff.
X. Georg Wilhelm Friedrich Hegel
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niens." 87 Warum? Die Ursache liegt in zweierlei. Zum einen stand die Reform von 1832 am Beginn der Eroberung der politischen Macht durch das Bürgertum; zum anderen war mit dem alten Wahlrecht eine aristokratisch-oligarchische Festung schwer getroffen, gegen die fast hundert Jahre vergeblich angerannt worden war. Dieser Erfolg stand am Anfang einer nun recht kontinuierlichen Entwicklung zu einem modernen Wahlrecht. 1832 war der „Präzedenzfall für die Möglichkeit der Erweiterung des Stimmrechts auf größere Bevölkerungsschichten." 88 Man spricht zu recht von der großen Wahlrechtsreform. In den unmittelbaren Zusammenhang mit der Wahlrechtsentwicklung gehören die dramatischen Veränderungen im Verhältnis der Lokalverwaltung zur Zentralverwaltung. Nach 1832, aber immer noch in den 1830er Jahren, begann die große Reform, die England eine zentral istische Verwaltung brachte. Die dilettantische kleinadelige Friedensrichterverwaltung hatte vor den sozialen Problemen der Industrialisierung völlig versagt. Unter der Führung des bedeutenden BenthamSchülers Edwin Chatwick zog England die Konsequenz hieraus: Die Armenverwaltung wurde dem Friedensrichter entzogen und auf lokale Armenräte übertragen, die von einer zentralen Londoner Armenbehörde überwacht wurden. Dieser Kraftakt steht am Beginn der Zentralisierung der englischen Verwaltung. 89 Hegel kannte die Entwicklung natürlich noch nicht. Er beginnt in seinem Aufsatz mit einer schonungslosen Analyse der sozialen Verhältnisse und konstatiert einen bemerkenswerten „Kontrast von ungeheurem Reichthum und von ganz rathloser Armut." 9 0 Ein Kirchenzehnt drücke die Bevölkerung, obwohl er nicht der Seelsorge, sondern der Versorung des nachgeborenen Adels diene. Sogar irische Katholiken, ohnehin ihres Glaubens wegen benachteiligt, seien zum Zehnt an die Anglikanische Kirche verpflichtet. Wilderei werde mit unverhältnismäßig harten Strafen sanktioniert, während die jagende Gentry in Verfolgung ihrer Jagdleidenschaft der Landwirtschaft Schaden zufüge. Allgemein sei die Rechtsverfolgung in England nur dem Reichen möglich und darüber hinaus das englische Zivilrecht zersplittert, unüberschaubar und chaotisch, mit einem Wort: hinter dem Rechtstandard der zivilisierten Welt zurück. 91 Das Wahlsystem kennzeichnet er durch drei Hauptmängel, nämlich willkürliche Repräsentation, Korruption (Bestechung der Wähler etc.) und Käuflichkeit der Sitze. 92 87
Thomas Oppermann, Britisches Unterhaus Wahlrecht und Zweiparteiensystem, S. 5. Eine Skizze der Reformbill zeichnete in seiner treffsicheren Art Theodor Heuss, in: T. H., Profile, Nachzeichnungen aus der Geschichte, Hamburg (Rowohlt) 1966, S. 65. 88 Oppermann, S. 7. 89 Hatschek, Engl. Staatsrecht I, S. 4; eingehend: Redlich, Engl. Lokalverwaltung, S. 133 ff (mit einer Kurzbiographie Chatwicks, S. 143 f.). 90 Hegel, Bd. 20, S. 511. 91 Hegel, Bd. 20, S. 480. 92 Dogmatisch lag die Erwägung zugrunde, daß das Wahlrecht nur ein Ausschnitt des Eigentumsrechts am Grundstück war, und genauso wie andere Ausschnitte (etwa der Besitz), Gegenstand des Handels sein konnte.
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Vor diesem Hintergrund fragt Hegel, wer für die Verhältnisse in England verantwortlich sei und was die Reform des Wahlrechts verändern werde. Die Verantwortung gibt er den Mitgliedern des Parlaments und ihrer sozialen Klasse. Eine Analyse der gewollten Reform zeigt ihm, daß sich an der Zusammensetzung des Unterhauses in dieser Hinsicht nichts ändern werde. Insoweit hält er die Reform für nutzlos. Auch das bisher zugrunde gelegte Prinzip, nach dem der Grundbesitz und nicht die Eigenschaft als Individuum über das Wahlrecht entscheide, sieht er durch die Reform (zu recht) nicht berührt. Er erkannte die Dynamik des beginnenden Reformprozesses nicht. Es scheint allerdings auch durchaus fraglich, ob ein solches Erkennen damals überhaupt möglich war: eine reizvolle Frage an den Historiker, der hier leider nicht nachgegangen werden kann. Die Bedeutung der im Unterhaus sitzenden sozialen Klasse entfaltet sich erst vor dem Hintergrund der staatsrechtlichen Wertigkeit des Unterhauses. Die Regierungsgewalt befindet sich nach Hegel effektiv im Parlament. 93 Der König oder die Königin habe überhaupt keine ernst zu nehmende Regierungsgewalt, die monarchische Gewalt und die Regierungsgewalt seien sogar voneinander verschieden.94 Tatsächliche Regierungsgewalt werde vom Kabinett ausgeübt, dessen ersten Minister der Monarch bloß ernenne. Jener „Präsident des Minister-Konseils" bestimme nach eigenem Willen die Politik und das übrige Kabinett. Ein Ministerium könne nur regieren, sofern es das Parlament hinter sich habe. So sei „der Antheil des Monarchen an der Regierungsgewalt mehr illusorisch als reell, und die Substanz derselben befinde sich im Parlament. 4'95 Hegels Ausführungen zum englischen Regierungssystem sind von bis dahin in Deutschland einzigartiger Schonungslosigkeit, ohne die staatsrechtlichen Grundlagen zu verzeichnen. Er reißt der republikanischen Oligarchie die Maske des Monarchischen vom Gesicht. Doch sein Einfluß auf die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht blieb erstaunlich gering. Die Begründung wird man in zweierlei suchen müssen: Seine Ausführungen zu den Grundverhältnissen des englischen Staatsrechts sind bloßer Teil eines Artikels über die Wahlrechtsdiskussion und nicht Teil eines allgemeinen Werkes zum englischen Staatsrecht. Auch die im vorliegenden Kontext natürliche Knappheit — eine Auseinandersetzung mit positivem englischen Staatsrecht fehlt völlig — hinderte gewiß eine noch größere Wirkung. Entscheidend scheint jedoch ein anderes Moment, man könnte von Zeitgeist sprechen. Denn dem nach Gleichberechtigung strebenden Bürgertum diente das englische Muster als politisches Argument für die eigenen Ziele. Man muß sich nur die Forderung nach Freiheit der Presse anschauen. Diesem „Zeitgeist" kam eine harsche Englandkritik ganz und gar nicht recht. Die englische Verfassung, oder was man sich darunter vorstellte, sollte seine Eignung als positives Muster behalten. 93 Hegel, Bd. 20, S. 508. 94 Hegel, Bd. 20, S. 506 f. 95 Hegel, Bd. 20, S. 507.
XI. Murhard
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Man fragt sich nach den Gründen der Hegeischen Anglophobie. Sie liegen nicht ganz offen zu Tage. Einiges läßt sich vermuten. Neben den schon genannten Hegeischen Kritikpunkten an der englischen Verfassung findet sich in seinen Schriften an verschiedenen Stellen eine Abneigung gegenüber bestimmten Aspekten der englischen Gesellschaft, die man auch als nationale Stereotypen bezeichen kann und deren Wahrheitsgehalt bekanntlich nicht ohne weiteres zu ermitteln ist. Es handelt sich um das Verschrobene und Exzentrische, das man auch heute noch hin und wieder den Engländern nachsagt.96 Entscheidender aber ist eine grundsätzliche Verschiedenartigkeit des Denkens. Während Hegel stets nach allgemeinen Grundsätzen und ein in sich schlüssiges System zu konstruieren sucht, findet sich in England Pragmatismus und common sense. Hegel wird in diesem Zusammenhang eine Verfassungskodifikation für das zeitgemäße Instrument der staatlichen Organisation gehalten haben. Er kritisiert die englische nichtkodifizierte Verfassung als „aus lauter partikularen Rechten und besondern Privilegien zusammengesetzt."97 XI. Murhards Englandartikel im Staatslexikon Von besonderer Bedeutung war der Artikel des liberalen Universalgelehrten Friedrich Murhard 98 über Englands Staatsverfassung, der 1837 im fünften Band des Staatslexikons erschien. 99 Auf 88 Seiten beschreibt Murhard darin das gesam96 Hierzu drei Hegelzitate: „In England, wo überhaupt viel Marotten einheimisch sind, werden unendlich viel läppische Einfälle an Testamente geknüpft.' 4 „Der Engländer hat das Gefühl der Freiheit im Besonderen; er bekümmert sich nicht um den Verstand, sondern im Gegenteil fühlt er sich um so mehr frei, je mehr das, was er tut oder tun kann, gegen den Verstand ist, d. h. gegen allgemeine Bestimmungen ist." Der Engländer verfällt „auf eine bestimmte Narrheit, die ihm kein vernünftiger Mensch nachahmen wird, und nennt sich im Bewußtsein seiner Narrheit originell." S. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämliche Werke (Jubiläumsausgabe), Bd. 23 (= Hegel-Lexikon Bd. I), S. 509 f. 97 Vorige Fußnote, S. 510. 98 Friedrich Murhard (1778-1853), liberaler Publizist und Wissenschaftler, beschäftigte sich zunächst mit naturwissenschaftlichen und mathematischen Studien, später mit juristischen, politischen und historischen Fragestellungen und Sprachstudien. Er promovierte in Göttingen zum Dr. phil. und wurde dort Universitätsdozent. Studienreisen und politische Verfolgung trieben ihn mehrfach aus seiner kurhessischen Heimat. Der Anhänger der französischen Aufklärung diente dem Königreich Westphalen unter anderem als Präfektur — Rath des Fuldadepartements. Murhard stiftete gemeinsam mit seinem Bruder Karl die Murhardsche Bibliothek in Kassel. Zur Biographie: Herbert Schäfer, Friedrich Murhard (1778-1853): Zur Geschichte einer politischen Verfolgung, in: Friedrich und Karl Murhard, gelehrte Schriftsteller und Stifter in Kassel, hg. Stadtsparkasse Kassel, o. J., S. 14 f. Im Anschluß findet sich eine umfangreiche Bibliographie der Murhardschen Werke, zusammengestellt von Regina Saul. Zur Stellung innerhalb der Staatsrechtsgeschichte: Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992. S. 166 f. 99 Murhard in: Carl von Rotteck u. Carl Welcker (Hg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, 5. Bd., Altona (Johann Friedrich Hammerich) 1837, S. 84 ff.
D. Das 19. Jahrhundert bis 1849: presto
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te englische Staatsrecht. Im Hinblick auf die Wirkungsgeschichte des Artikels muß auf die weite Verbreitung des Staatslexikons verwiesen werden 100 und darauf, daß es von Rotteck (1775-1840) und Welcker (1790-1869) herausgegeben wurde, zweier liberaler Protagonisten des 19. Jahrhunderts. Beide waren Professoren und Abgeordnete und als letztere Führer der liberalen Opposition in der badischen zweiten Kammer (ab 1831). Welcker war später Mitglied im Vorparlament und der Frankfurter Nationalversammlung. Gerade Welcker zog in seinen Reden häufig das englische Beispiel heran. Das Staatslexikon gilt mit einigem Recht als „Bibel des deutschen Liberalismus im Vormärz" 101 oder sogar „als Kompendium des liberalen Denkens im 19. Jahrhundert" und man kann sagen, es „beherrschte . . . das politische Denken breiter Volksschichten." 102 Die inhaltliche Bedeutung des Artikels liegt unter anderem in der, allerdings teils halbherzigen, Loslösung von Montesquieuschen und Blackstoneschen Lehren. Murhard wußte sehr wohl, daß in staatsrechtlicher Hinsicht „namentlich in Deutschland die abenteuerlichsten Vorurteile über England" 103 existierten. Er studierte deshalb nicht nur die einschlägige Literatur, er reiste vielmehr selbst nach England, was er dem Leser ebenfalls nahe legt. Er erkannte dort, wie Montesquieus Ausführungen zur englischen Verfassung zu beurteilen waren, und schrieb, Montesquieu sei „weit entfernt, tief deren Geist zu erfassen." 104 Stellt Murhard die staatsrechtliche Position des Königs dar, bedient er sich in der Regel immer desselben Musters. Zunächst behauptet er dessen hervorragende Stellung, sodann schränkt er sie ganz erheblich ein: „An der Spitze der britischen Staatsordnung erblicken wir einen König, geschmückt mit allem Glanz der Majestät und grundgesetzlich ausgestattet mit großen und wichtigen politischen Prärogativen zur Erhaltung seiner hohen Würde und erhabenen Stellung." 105 An anderer Stelle meint er: „Der König ist in England das Haupt der ausführenden Gewalt" und „er hat unbedingt das Recht der freien Wahl seiner Minister, sowie seiner Geheimräthe. Er kann dieselben nach Belieben und Gutdünken ernennen und entlassen."106
ioo So fand sich das Staatslexikon beispielsweise im Nachlaß des wissenschaftlich und politisch einflußreichen Historikers und Anglophilen Friedrich Christian Dahlmann, Haupt der Göttinger Sieben und später Mitglied des 1848er Verfassungsausschusses; s. Katalog der von F. C. Dahlmann nachgelassenen Bücher, Bonn 1861, S. 8. ιοί Erwin Forster, in: Kleinheyer / Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 3. Α., S. 237. 102 Norbert Hempel, Richterleitbilder in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1978, S. 24. Michael Stolleis spricht von einem „großen publizistischen Erfolg", s. Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. II, S. 160. 103 Murhard, vorige Fußnote, S. 87. 104 Murhard, S. 91. los Murhard, S. 95. 106 Murhard, S. 98.
XI. Murhard
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Die Einschränkung folgt auf dem Fuß: Die Dispositionsfreiheit des Königs werde „durch äußere öffentliche Verhältnisse beschränkt, deren Macht. . . groß" sei. Und es gebiete die Staatsklugheit nur solche Männer zu Ministern zu ernennen, „die im Parlamente sitzen und dort bei ihren Motionen einer Stimmenmehrheit gewiß sind." Die Ministerwahl sei somit „freiwillig-gezwungen". 107 Nach demselben Muster erläutert Murhard die Stellung des Königs in bezug auf Krieg und Frieden: „Dem König steht auch die Macht zu, Krieg zu erklären und Frieden zu schließen; aber in beiden Fällen ist das Parlament befugt, von den Ministern, deren Rath der König muthmaßlicher Weise befolgt hat, Rechenschaft zu fordern, und ohne Beistimmung des Parlaments kann er keinen Krieg unternehmen, weil von diesem die Bewilligung der Subsidien und Truppen . . . abhängt." 108 Beispiele dieser Art lassen sich noch eine Reihe finden, etwa im Zusammenhang mit dem Vetorecht des Königs, das zu Murhards Zeiten schon fast 150 Jahre lang nicht mehr ausgeübt worden war und bis auf den heutigen Tag nicht mehr ausgeübt wurde. Dieser Aspekt des Artikels soll nun mit einem weiteren Zitat abgeschlossen werden: „Ein König von Großbritannien ist weit entfernt, . . . zu einer bloß passiven Rolle in den Staatsgeschäften verurtheilt zu sein. Nur braucht er allerdings nicht selbst zu regieren, wenn er nicht Lust dazu hat." 1 0 9 Polemisch wird man sagen können: An dieser Stelle finde das Lustprinzip Eingang in das englische Staatsrecht. Aber es ist zu fragen, inwieweit Murhard beim Abfassen seines Artikels von politischer Taktik geleitet war und das Ziel verfolgte, einer faktischen Republik das Kleid der Monarchie zu belassen, der Wirkung in den deutschen Ländern zuliebe. Auch die Literaturhinweise Murhards beziehen sich auf Werke, die entweder veraltet waren oder schon ihrer Natur nach keine profunde Auskunft über das englische Staatsrecht geben konnten. So nennt er neben de Lolme, Archenholz, Wendeborn und anderen noch Göde, den Autor einer vielbändigen Beschreibung einer Englandreise in den Jahren 1802 und 1803. 110 Der Pressefreiheit mißt Murhard eine besondere Bedeutung zu. Er sieht sie in England seit 1694 nicht mehr suspendiert und hält sie als Kontrolle der Exekutive für genauso wichtig wie das Prinzip der Verantwortlichkeit der Mini-
107 Murhard, S. 98 f. Zu dieser Frage heißt es an anderer Stelle: „Derjenige, dem der Platz eines ersten Ministers angeboten wird, unterläßt vor dessen Annahme nicht, den König mit den vornehmsten Maßregeln, welche die Basis seines politischen Systems ausmachen, bekannt zu machen, und versteht sich nur in dem Falle, daß dieser seine Zustimmung zu denselben ertheilt, die Bürde der Administration auf sich zu nehmen. Eine andere gewöhnliche Bedingung, welche der erkorenen Premierminister macht, besteht dann darin, daß ihm gestattet ist, dem Könige diejenigen Personen zu bezeichnen, die er sich im Ministerium als Collegen zuzugesellen wünscht." S. Murhard, S. 126. los Murhard, S. 98. 109 Murhard, S. 103. 1 1 0 Christian August Gottlieb Goede, England, Wales, Irland und Schottland; Erinnerungen an Natur und Kunst aus einer Reise in den Jahren 1802 und 1803, 2. A. (Arnoldische Buch- und Kunsthandlung) Dresden 1806.
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ster, die Unabhängigkeit der Richter und die Habeas-Corpus-Akte. Unerwähnt bleibt, daß es am Anfang des 19. Jahrhunderts in England mittels Strafrechts und Besteuerung durchaus Versuche gab, die Pressefreiheit faktisch zu behindern. An dieser Stelle wird deutlich, daß es Murhard auch darum geht, ein Postulat für die Verhältnisse in den deutschen Ländern zu formulieren. Ein biographisches Element liegt auf der Hand: Die Verfolgung des Literaten Friedrich Murhard begann 1806. Er wurde verhaftet wegen eines kritischen Artikels über die kurhessische Gerichtsverfassung. Den Beginn seines letzten Presseprozesses erlebte er als 66jähriger. Anlaß dazu gab der Artikel „Staatsgerichtshof 4 im vierzehnten Band des Staatslexikons. Der Prozeß und seine Umstände sollen Friedrich Murhards Lebenswillen gebrochen haben. 111 Murhard sieht das Oberhaus als Teil des Zweikammersystems durchaus kritisch, sieht im konservatorischen Element nämlich auch eine Behinderung beim Abstellen von Mißbräuchen; möglicherweise hat er an die Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der großen Wahlrechtsreform von 1832 gedacht. Im allgemeinen sei das Zweikammersystem aber positiv zu bewerten, da „das Staatsschiff, durch zwei Anker sichergestellt . . . eine Widerstandskraft gegen Stürme" 1 1 2 besitze. Das Oberhaus sei dafür verantwortlich, daß das Unterhaus sich in der Ausübung seiner Macht mäßige und sich an die eigene Geschäftsordnung halte. Murhards Resümee lautet: „Der Hauptzweck des Zweikammersystems nämlich ist, die Nationalrepräsentation vor Übereilungen in ihren Beschlüssen zu schützen und ihren Berathungen eine größere Reife und Umsichtigkeit zu verleihen." 113 Die von Murhard angesprochenen Aspekte des Zweikammersystems stammen übrigens keineswegs originär von ihm selbst. Sie sind vielmehr ohne Herkunftsangabe von Bentham und dessen Schüler Dumont, und zwar teilweise wörtlich, übernommen, wie ein Textvergleich zeigt. 114 In der Frage der Souveränität verläßt der Autor die deskriptive Methode und bringt gegenüber der englischen Rechtsdiskussion seine eigene Meinung zum tragen. Die Frage lautete: Wer ist Inhaber der Souveränität, das englische Volk oder das Parlament als Dreiheit von Oberhaus, Unterhaus und König? Murhard wendet sich gegen die von englischen Staatsrechtlern (unter anderen auch Blackstone) vertretene Doktrin von der Omnipotenz des Parlamentes. Dagegen sieht Murhard im Parlament nur den Stellvertreter der Volkssouveränität und meint unter Berufung auf John Locke und den anonymen Autor der berühmten Junius-
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Herbert Schäfer, Friedrich Murhard (1778 -1853): Zur Geschichte einer politischen Verfolgung, S. 14, 23; in: Friedrich und Karl Murhard, gelehrte Schriftsteller und Stifter in Kassel, hg. Stadtsparkasse Kassel, o. J. 112 Murhard, S. 130. 113 Murhard, S. 136. 114 Et. Dumont, Tactik oder Theorie des Geschäftsganges in deliberirenden Volksständeversammlungen, S. 36 ff, insbesondere S. 43, wo sich auch das Bild des durch zwei Anker gesicherten Staatsschiffs findet.
XII. P. F. Aiken
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briefe: „Die Nation als der eigentliche Souverain steht höher als König und Parlament . . . " und „nie würden es die Träger der höchsten Gewalt in England wagen dürfen, die Oeffentlichkeit der Rechtspflege, die Geschworenen-Gerichte, die Habeas-Corpus-Acte aufzuheben oder die Rede- und Pressefreiheit zu unterdrücken." 115 Die Tätigkeit der Kommunen wird mit dem Begriff self government gekennzeichet und gibt dem Autor Anlaß zu einer wahren Hymne. Ohne den Verwaltungsmechanismus zu beschreiben, wozu sicherlich schwierige Forschungen notwendig gewesen wären, sieht er eine solche Selbständigkeit der Kommunen, daß sich „der Anblick von einer Menge sich selbst regierender Republiken" biete; auf diese Weise habe die öffentliche Verwaltung „herrlich Früchte" 116 erzeugt und zur Reife gebracht. Da Murhard am englischen Beispiel offensichtlich ein staatsrechtliches und politisches Idealprogramm für die deutschen Staaten entwirft, muß endlich auch noch erwähnt werden, daß er Indemnität und Immunität ebenso für hervorragenden Einrichtungen hält wie das Fehlen eines stehenden Heeres und die besondere englische soziale Mobilität. Daß in einem solchen Artikel kein Raum ist für die damals durchaus in Deutschland schon geäußerte ernsthafte Kritik an den sozialen Zuständen Englands, versteht sich von selbst, diente der Artikel doch indirekt der Kritik deutscher Verhältnisse. Diese Manier der Geschichtsschreibung ist kein tagespolitischer Zufall. Sie ist die Methode des „autodidaktischen" Freiburger Geschichtsprofessors Rotteck, Mitherausgeber des Staatslexikons. In seiner vielbändigen Weltgeschichte zeichnete Rotteck schon 1812 die Gestalt Alexanders des Großen so, daß in Deutschland die verhaßten Züge Napoleons erkennbar wurden. Diese Geschichtsschreibung hat unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten zurecht einen geringen Wert. Aber sie wirkte in ihrer Zeit; sie ist im Grunde nichts anderes als Politik. „Es ging ihm gar nicht um die gelehrte Richtigkeit." 117 X I I . P. F. Aiken's vergleichende Darstellung der Constitution Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika Das dem Buch 1 1 8 vorangestellte Motto symbolisiert, wie sich der deutsche Englandenthusiasmus, der seine Ursprünge besonders im ausgehenden 18. und us Murhard, S. 160 f. 116 Murhard, S. 162. 117 Theodor Heuss, Karl von Rotteck, in: ders., Deutsche Gestalten, Studien zum 19. Jahrhundert, Stuttgart etc. 1947, S. 19, 22. Heuss zeichnet Rotteck in dieser Kurzbiographie in unnachahmlicher und immer noch mit Gewinn zu lesender Art und Weise. us P. F. Aiken, Vergleichende Darstellung der Constitution Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika, bearbeitet von K. J. Clement und mit einer Vorrede von Franz Baltisch, Leipzig 1844 (F. A. Brockhaus). 253 S.
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dem beginnenden 19. Jahrhundert hatte, mit einigen politischen und sozialen Schräglagen der englischen Wirklichkeit auseinanderzusetzen beginnt: „England, with all thy faults, I love thee still!" Aber letztlich bleibt es bei dieser schüchternen Andeutung von Fehlern; 119 dem Werk selbst ist eine dezidierte Kritik an der sozialen und politischen Lage Englands nicht zu entnehmen. Der Autor der Vorrede zur deutschen Ausgabe, Franz Baltisch, charakterisiert Aiken: er sei ein „eifriger Tory", 1 2 0 was aber zur Hauptsache nichts tue. Dem Leser wird jedoch alsbald überdeutlich, daß dem nicht so ist. Aiken vergleicht die englischen und amerikanischen Verhältnisse stets aus der parteiischen Position eines unerschütterlich Konservativen, der sich politisch bedrängt fühlt. Seine Position ist antidemokratisch und antirepublikanisch. Das Leitmotiv seiner Darstellung könnte heißen: Die amerikanische Verfassung ist vielleicht für die Amerikaner in ihrer spezifischen Situation brauchbar, nicht aber für den europäischen Kontinent; und im übrigen ist die englische Verfassung stets Vorzugs würdig. So preist Aiken die völlige Unabhängigkeit der Mitglieder des House of Commons, was gewiß in dieser Weise auch für die Zeit nach der großen Wahlrechtsreform nicht gesagt werden kann, und kontrastiert sie mit amerikanischen „bloßen Deputierten und Abgeordneten, welche von Volksleidenschaften und Vorurtheilen influencirt und zum Voraus sich verbunden haben, so zu votieren, wie gewisse Wähler es dictirt haben." 121 Ohnehin bringe das amerikanische Wahlsystem, im Gegensatz zum englischen, keine bedeutenden Köpfe ins Parlament. Als Autoriät zitiert Aiken wieder einmal de Tocqueville, 122 diesmal mit einer vernichtenden Polemik: „Wenn du das Haus der Repräsentanten in Washington betrittst, so bist du erstaunt über die gemeine Erscheinung jener großen Versammlung. Vergebens blickst du umher nach irgend einem Mann von großem Ruhm. Die Mitglieder sind gewöhnlich obscure Individuen, deren Namen auf nichts Merkwürdiges deuten. Es sind meistens Dorfadvocaten, Gewerbetreibende oder Personen in einem geringen Geschäft. Obgleich Erziehung fast allgemein ist in Amerika, können die Volksrepräsentanten, heißt es, nicht immer richtig schreiben." 123 Im erfolgreichen Kampf der Engländer gegen die napoleonischen Armeen sieht Aiken ein Zeichen der Überlegenheit der Monarchie gegenüber der Republik. 124 Darüber hinaus sei die Demokratie wenig geeignet, kriegerische Anstrengungen über einen längeren Zeitraum zu ertragen. Aiken spürt hier eine gewisse Ungereimtheit im Hinblick auf den erfolgreichen amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen das englische Mutterland, findet jedoch wiederum Unterstützung bei de Tocqueville. 125 119 Offensichtlich macht Liebe auch im Verfassungsrecht blind. 120 Aiken, Vorrede S. VI. 121 Aiken, S. 61. 122 De Tocqueville bereiste 1831 /32 im Auftrage der französischen Regierung die Vereinigten Staaten, um das dortige Gefängniswesen zu studieren. 123 Aiken, S. 86. 124 Aiken, S. 58.
XIII. Franz Schulte alias Abraxas
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Die konservative rechtsvergleichende Arbeit Aikens erschien nicht von ungefähr im vorrevolutionären Deutschland des Jahres 1844. Mit ihrem Erscheinen sollte sie eine bestimmte Funktion erfüllen; welche das ist, sagt uns die Vorrede Baltischs. Er fordert eindringlich: „Statt nach Paris oder in die Schweiz zu reisen, mit den Socialisten und Communisten zu fraternisieren, lest und studirt dieses Buch, ihr deutschen Jünglinge." 126 Und Baltisch sieht „den innersten Grund der wahren und ehrlichen Politik" in seinem eigenen Motto enthalten: „Eigenthum und Freiheit! Nicht: Freiheit und Eigentum!" 127 Offensichtlich glaubte er das Eigentum in Deutschland bedroht. Spricht hieraus nicht eine praerevolutionäre bürgerlichkonservative Angst vor der Revolution? In diesen Kontext gehört das Erscheinen des Aikenschen Werkes in Deutschland. Eine, diesmal komparatistische, Arbeit über die englische Verfassung wurde wieder einmal tagespolitisch instrumentalisiert. Was diese Instrumentalisierung angeht, drängt sich eine Parallele und zwei wichtige Differenzen zu John Miliar geradezu auf. Sowohl die rechtshistorische als auch die komparatistische Darstellung des englischen Verfassungsrechts sollte in Deutschland als eine Argumentationshilfe gegen revolutionäre Bestrebungen verstanden werden. Einmal betrifft es die Phase des deutschen Frühkonstitutionalismus, ein andermal geht es um das 1848er Vorfeld. Wichtiger ist ein anderer Unterschied: Der deutsche Übersetzer John Millars favorisiert eine Umgestaltung der deutschen Verfassungen im Sinne einer Beschränkung fürstlicher Macht, letztlich im liberalen Sinne; die Übersetzung des Aikenschen Werkes soll den verfassungsrechtlichen status quo konservieren. Dasselbe Muster, nämlich das englische, diente einmal liberalen, ein andermal konservativen Zwecken.
X I I I . Franz Schulte alias Abraxas Ebenfalls 1844 legte Dr. Franz Schulte eine Abhandlung zum englischen Parlament vor. 1 2 8 Hierin findet sich eine völlig falsche Doktrin zum englischen Wahlrecht. Obwohl Schulte als Kenner des englischen Rechts angesprochen 125 Aiken, S. 56. 126 Aiken, Vorrede S. VI. 127 Aiken, Vorrede S. VII. 128 Franz Schulte, Das Englische Parlament, Organisation und Geschäftsverfahren, historisch-kritische Abhandlung mit Bezug auf heutige Zustände; Berlin (Schlesinger'sehe Buch und Musikhandlung) 1844. 128 S. Eine unreifes Frühwerk Schultes erschien zehn Jahre vorher unter dem Pseudonym Franz Abraxas: Die englische Staatsverfassung in ihrer Fortbildung durch Reform, von den frühesten Zeiten bis auf den heutigen Tag, Cöln 1834. Während von Mohl das hier besprochene spätere Werk noch als „eine ganz gute Uebersicht über die formelle Geschäftsbehandlung" durchgehen ließ, versah er das Früh werk mit einer vernichtenden Kritik (v. Mohl, Geschichte und Literatur, Bd. II, S. 19 bzw. 83). 5 Pöggeler
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werden darf, behauptet er, Grundlage des aktiven Wahlrechts sei die Erwägung, daß der Bürger, der dem Gesetz gehorchen muß, deshalb auch seinen Anteil an der Gesetzgebung durch Wahl eines Parlamentsabgeordneten haben müsse. 129 In Wahrheit sah die landläufige englische Doktrin zum Wahlrecht ganz anders aus. Zwar stand das Wahlrecht in verschiedenen Wahlbezirken unter sehr verschiedenen Voraussetzungen, besonders Stadt und Land unterschieden sich mächtig. Doch findet sich seit dem frühen 15. Jahrhundert stets ein und dieselbe Grundlage des aktiven Wahlrechts: das Grundeigentum. Die Erweiterungen des Wahlrechts im 19. Jahrhundert erfolgten auf dieser dogmatischen Basis. Als man dem Mieter am Ende des Jahrhunderts das Wahlrecht zubilligte, sah man in der Stellung des Mieters nur eine Abspaltung des Eigentumsrechts am Grundstück. In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, in denen Schulte die englischen Verhältnisse betrachtete, richtete sich das Wahlrecht nach dem Reformgesetz von 1832, das in keiner Weise die Idee eines allgemeinen Wahlrechts ausdrückte. Und noch am Beginn unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts konnte gesagt werden: „Das aktive Wahlrecht ist schon seit früher Zeit . . . als ein Annex des Grundbesitzes (freehold), als ein im Grundbesitz steckender Besitz aufgefasst worden und wird auch heute noch so aufgefasst." 130 Es fragt sich, warum Schulte diese Rechtslage ignoriert. Man könnte zunächst meinen, er habe versehentlich die Argumentation der Chartistenbewegung für die allgemeine englische Ansicht zum aktiven Wahlrecht gehalten. Diese radikale, auf ihre Art auch einflußreiche, in den 1830er Jahren entstandene Bewegung schrieb das allgemeine Stimmrecht für jeden mündigen Mann als erste Forderung in ihr berühmtes 6-Punkte-Programm. 131 Aber so naiv kann Dr. Schulte gar nicht gewesen sein. Denn er sieht beispielsweise ganz klar, daß das praktizierte Wahlrecht meilenweit vom one man-one vote-Prinzip entfernt war. Die Lösung des Rätsels ist nicht schwierig: Dr. Schulte ist ein Vertreter des Arbeiterstimmrechts. Dem Ziel zuliebe biegt er die englische Doktrin hin bis sie ihm paßt. Seine Ausführungen zur englischen Wahlrechtsdoktrin sind sicher nicht auf den englischen Leser gezielt. Bereits im ersten Satz seines Kapitels über das aktive Wahlrecht hatte er verdeutlicht, daß ein gleiches Wahlrecht Grundsatz jeder repräsentativen Verfassung sei. Im vormärzlichen Deutschland wird man diese Botschaft verstanden haben. Verpackt als englische Doktrin durfte Dr. Schulte vielleicht hoffen, daß die deutsche Obrigkeit sie nicht zum Anlaß für Repressalien nehmen würde, wie sie dem bedauernswerten Murhard angetan worden waren. Bevor Schulte einige parlamentarische Funktionen des englischen Königs (Einberufung des Parlaments, Thronrede etc.) beschreibt, kennzeichnet er dessen 129 Schulte, S. 79 f. 130 Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 253. 131 Eduard Fischel, S. 511 f.
XIII. Franz Schulte alias Abraxas
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Prärogative. Keineswegs versteht er hierunter solche Rechte des Monarchen, die ihm ohne Einflußmöglichkeit des Parlaments ungeschmälert zustehen. Vielmehr stellt er ausdrücklich fest, daß sich die Prärogative der Krone „bei Übereinstimmung der drei Stände des Reichs unterdrücken" 132 lasse und daß die Ausübung der Prärogative nicht ohne den Rat der Minister möglich sei, die sich wiederum dem Parlament gegenüber verantworten müssen. Schulte hebt zwei Rechte des Unterhauses besonders hervor: Steuerbewilligung und Wahlprüfung. Zu den Privilegien beider Häuser zählt er unter anderem Redefreiheit und Sicherheit gegen Arrest. Nachdem er das allgemeine Parlamentsverfahren und besonders die Gesetzgebung beschrieben hat, folgt am Ende seiner Schlußbetrachtung zunächst eine wahrhaften Apotheose: „Der Engländer ist der edelste und kräftigste Ast der großen germanischen Eiche, das m i t . . . Verstand und Scharfsinn am meisten begabte Volk der Erde... Es hat fast alle Bedingungen errungen, welchen bisher die freisinnigsten Männer zur zweckmäßigen Einrichtung des staatlichen Lebens für nöthig erachteten. England besitzt unbeschränkte Preßfreiheit, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit, Schwurgerichte, Gleichheit vor dem Gesetze, Freiheit der Person, Selbstbesteuerung und Selbstgesetzgebung, und sein Vertretungssystem ist seit der Reformbill, wenn auch noch sehr mangelhaft, wenigstens kein bloßer Name mehr." 133 Nach diesen engagierten Worten folgt jedoch ein kräftiger dialektischer Gegenschlag. Schulte fragt, wie es sich erkläre, „daß dieser herrlich bestellte Acker bis jetzt so wenig gute Früchte getragen hat, daß man fast nur Unkraut und Dornen antrifft, wo man die schönste Weizenernte erwarten sollte?" 134 Die gemeinten Übel sind wohl der elende Zustand des englischen Proletariats und, worauf Schulte besonderes Augenmerk legt, religöse Intoleranz, vertreten von der High Church zu Lasten aller Andersgläubigen, besonders der irischen Katholiken. Wie stets bei dialektischer Betrachtungsweise, hat nun die Auflösung zu folgen: „ . . . der Hauptgrund dieses abnormen Zustandes liegt in der hierarchisch-aristokratischen Selbstsucht, welche das britische Reich bis auf den heutigen Tag allein und in ihrem alleinigen Interesse regiert hat." 135 Diese englische Aristokratie sieht er als Oligarchie organisiert, ohne wirklichen Unterschied zwischen Whigs und Tories und geprägt von Humanitätslosigkeit. Die sozialen Zustände, die Ursache dieses heftigen Ausbruchs sind, werden dieselben sein, die wenig später von Friedrich Engels beschrieben wurden. Die Argumentations weise ist allerdings älter. Sie scheint auf Hegel zurückzugehen.
132 Schulte, S. 20. Die drei Stände sind hier die geistlichen und weltlichen Lords und die Gemeinen, also Ober- und Unterhaus. 133 Schulte, S. 114. 134 Schulte, S. 114. 135 Schulte, S. 115. 5*
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Die Übereinstimmung mit Hegels Artikeln zur englischen Reform-Bill ist überdeutlich. Allerdings zeigt sich auch eine erhebliche Differenz: Hegels Alternative zur Allmacht des Adels im Parlament scheint nicht eine Repräsentation der Bürger und Arbeiter, sondern eine starke Exekutivgewalt des Monarchen, verbunden mit strenger Gewaltenteilung.
X I V . Ein konservativer Klassiker verteidigt das monarchische Prinzip: Friedrich Julius Stahl 136 Im Vormärz blühte die Verfassungsdiskussion. Gerüchte sprachen von bevorstehenden bedeutenden Verfassungsänderungen. Einschlägige wissenschaftliche Abhandlungen hatten Konjunktur. Ein Begriff markiert die konservative Position: das monarchische Prinzip. Daß dieser Begriff nicht notwendig mit reaktonärem Inhalt gefüllt sein mußte, zeigte Friedrich Julius Stahl in seiner programmatischen Schrift „Das Monarchische Prinzip". 137 Stahl favorisiert ein staatsrechtliches Modell, in dem Gesetze nur bei Zustimmung durch ein ständisch organisiertes Parlament wirksam werden. Der Monarch ist in diesem Modell das wirkliche Haupt der Exekutive. Bevor Stahl sein Modell, stets die Garantie eines starken Monarchen im Auge, unter dem Titel des monarchischen Prinzips entwickelt, beschreibt er das real existierende Gegenmodell: das System des Westens, besonders Englands. 138 In ganzer Deutlichkeit erscheint als Gegensatz zum monarchischen Prinzip das parlamentarische Prinzip, „die überwiegende Stellung des Parlaments gegenüber dem Könige, die sich in England herausgebildet hat." 1 3 9 Die Machtstellung des Parlaments beruhe auf seiner rechtlichen Mitsouveränität und mehr noch auf bloßer Sitte und herrschender Ansicht. Im Gegensatz zu einem klassischen Königtum liege die Gesetzesinitiative beim Parlament. Hierin liege in England ein doppelter Schlag gegen die Macht des Königs, weil der Begriff des Gesetzes jede erdenkliche politische Frage betreffe. Aus dieser Gesetzgebungsmacht greift Stahl zwei Materien heraus, nämlich die Befugnis zur allgemeinen Budgetbewilligung und die jährliche Bewilligung des Militärhaushaltes, dessen Verweigerung nicht nur ein Versiegen der Mittel,
1 36 Zu Friedrich Julius Stahls ( 1802 -1861) beeindruckender und wechselvoller wissenschaftlicher und politischer Laufbahn s. Kleinheyer / Schröder, 3. Α., S. 265. 137 Friedrich Julius Stahl, Das Monarchische Prinzip, eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Heidelberg (J. C. B. Mohr) 1845. 44 S. !38 „Eben so gewiß ist es das dringendste Gebot, daß uns das politische System des Westens fern bleibe: die Volkssouveränität, die Theilung der Staatsgewalten, die Republik unter der Form der Monarchie, die Kammerherrschaft und deren Begleiterin die Kammerbestechung, . . . " (Stahl, S. IV). 139 Stahl, S. 2.
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sondern die Beendigung der militärischen Pflichten jedes einzelnen Soldaten zur Folge hat. Darüber hinaus könne das Parlament bei Übereinstimmung beider Häuser sogar einen Richter aus seinem Amt entfernen, was dem König nicht möglich ist. Überhaupt benötige der König für jede seiner Handlungen der Gegenzeichnung eines Ministers. Die Abhängigkeit der Minister vom Parlament lasse sie ohne Rücksicht auf den Willen des Monarchen, aber mit unbedingter Rücksicht auf den Willen des Parlaments handeln. Diese Regierungsform kennzeichnet Stahl als parlamentarische Regierung. Das Parlament kreiere seine Minister, die somit nicht Diener des Königs, sondern des Parlaments sind, oder vielmehr der dort überwiegenden Partei. So regierten die Führer der stärksten Partei das Land. Das englische parlamentarische Prinzip nähere sich der Republik, denn eine Republik sei ein Staatswesen, in dem die Nation keine selbständige entscheidende Macht (nämlich den König) über sich habe. Im englischen Staatsrecht findet sich der Grundsatz: „Der König kann nicht Unrecht tun." Dieser Satz wurde in verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Menschen unterschiedlich interpretiert. Am wenigsten bedeutete er eine archaische Unverantwortlichkeit des Königs. Einige erkannten eine Forderung und ersetzten „kann" durch „darf 4 . 1 4 0 Stahl interpretiert den Satz vor dem Hintergrund eines machtlosen Monarchen: er könne „nur deshalb nicht Unrecht thun, weil er überhaupt nichts thun kann." 141 Er vertieft mit diesen Ausführungen, was Hegel schon eineinhalb Jahrzehnte früher über England behauptete und vor ihm Beschorner. Und er bindet es ein in ein System verschiedener Staatskonstruktionen. Seine Ausführungen über England haben innerhalb seines Aufsatzes kein Gewicht an sich, dienen vielmehr dazu, sein favorisiertes gegenteiliges Staatsmodell zu entwickeln: das monarchische Prinzip. Dieser Einordnung wegen kann Stahls Arbeit auch nicht ohne weiteres der deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht zugeschrieben werden. Jedenfalls kann ein deutlicher Einfluß auf spätere Darstellungen des englischen Staatsrecht nicht ohne weiteres nachgewiesen werden. Im Gegenteil, man hat den Eindruck, als falle die wissenschaftliche Erkenntnis zunächst einmal hinter den Stand Hegels und Stahls zurück.
XV. Robert von Mohl, ein herausragender liberaler Staatsrechtler im deutschen Vormärz Ursprünglich meinte von Mohl, „die Regierung sei als verlängerter Arm des Monarchen dem Parlament nicht verantwortlich" und den „Sturz der Regierung 140 Fischel, S. 112. 141 Stahl, S. 9.
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durch parlamentarische Mißtrauenserklärungen durfte es für ihn nicht geben. Funktion des Parlaments war es vielmehr, die aus eigenem Recht agierende monarchische Exekutive zu begrenzen." 142 Man kann dieses Verhältnis von König, Regierung und Parlament auf den Nenner bringen: Der König ist tatsächliches Haupt der Exekutive, ihm gegenüber steht das Parlament, das ihn lediglich kontrolliert, aber kein Recht hat, die politischen Geschicke an sich zu reißen, insbesondere nicht über die Zusammensetzung der Regierung bestimmt und auch kein Recht zur Gesetzesinitiative hat. Parlament und Regierung stehen sich als natürliche Gegner gegenüber. Insgesamt kann man eine Nähe zu Stahl nicht von der Hand weisen. Mitten im Vormärz, 1846, vollzog von Mohl dann eine Wendung um 180 Grad. Den Anfang setzte ein Aufsatz in der „Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft": „Unsere constitutionellen Zustände muss ein frischer Lebenshauch durchziehen, den ganzen Baum muß ein reger Umlauf der Säfte kräftigen", 143 so verkündet er. Er sieht in Deutschland Stände, deren Mitglieder unter wesentlicher Mitwirkung der königlichen Regierung ernannt werden, die aber trotzdem keinen wirklichen Einfluß auf die Tätigkeit der Regierungen besitzen. Die Freiheit der Presse wird unterdrückt und es mangelt an einer kräftigen öffentlichen Meinung. Überhaupt sei der Bürger recht unselbständig in Fragen des Gemeinwesens; aber man gebe ihm auch gar keine Möglichkeit sich zu betätigen. Die Gemeindeverwaltung, die sich als Betätigungsfeld anbiete, sei bloßes Instrument der Zentralverwaltung, die die Gemeindebehörden zum Überwachen aller gesellschaftlichen Regungen benutze. Aber: „Wer immer gegängelt, regiert, eingeschüchtert wird, der kann auch . . . nicht selbständig stehen und handeln . . . " 1 4 4 Der Kern der Kritik am Zustand der deutschen Staaten läßt sich in heutiger Terminologie zusammenfassen im Vorwurf einer anachronistischen Entfremdung von Bürger und Staat. Was empfiehlt von Mohl? Seine Hauptforderung ist Bildung der Ministerien aus den Kammermehrheiten, wobei sich der Fürst „jeder persönlichen Betheiligung bei den Streitigkeiten über Staatsangelegenheiten"145 enthalten solle. Im Windschatten dieser grundsätzlichen Umgestaltung segeln fünf weitere Forderungen: von der Regierung unbeeinflußte Parlamentswahlen, Presse- und Versammlungsfreiheit, freie Wahl der Gemeindebeamten durch die Bürger und größere Selbständigkeit der Gemeindeverwaltung gegenüber der Zentralverwaltung. 142 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. II, S. 175. Hier findet sich auch ein guter Überblick über Leben und Werk von Mohls. 14 3 Robert von Mohl, Über die verschiedene Auffassung des repräsentativen Systems in England, Frankreich und Deutschland, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, Bd. III, Jg. 1846, S. 451. Der Aufsatz ist folgendermaßen aufgebaut: Einleitung, englisches Staatsrecht, französisches und deutsches (wobei er die gemeinsamen Grundzüge aller deutschen Staaten beschreibt), Reformvorschläge für die deutschen Staaten. 144 Robert von Mohl, S. 490. 145 Robert von Mohl, S. 481.
X V I . Traugott Bromme
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Diese Vorschläge fand von Mohl nicht im luftleeren Raum, sondern sie sind die Kopie dessen, was er dem Leser am Anfang seines Aufsatzes als staatsrechtliche Verhältnisse in England beschrieben hatte: „Auf das Beispiel Englands berufen wir uns", sagt er am Ende. Natürlich geht er der drängenden Frage nach, was seine Vorschläge aus der Macht des Monarchen machen. Seine Argumentation läuft parallel zur englischen. Das System der parlamentarischen Ministerien gebe dem König „eine weit höhere und reinere Stellung als . . . wenn das . .. Ministerium als der Ausdruck der persönlichen Ansichten des Staatsoberhauptes erscheint . . . " So seien auch die Könige von England in ihrem Ansehen völlig unabhängig vom tagespolitischen Streit und „gleich verehrt, in gleich heiterer, unerreichbarer Ruhe und Hoheit." 146 Die geschichtliche Entwicklung zeigte, daß zwar das deutsche Volk, nicht aber die deutschen Fürsten reif waren zu einem solch reinen und heiteren, aber wenig mächtigen konstitutionellen Monarchen. Wenngleich Robert von Mohl sein hohes wissenschaftliches Niveau nicht verläßt, findet sich im Aufsatz doch hin und wieder eine scharfe vorrevolutionäre Tonlage. So hält er den deutschen Regenten entgegen: „Wer sich auf einen zusammenregierten, willen- und kraftlosen Haufen und auf verbrauchte und verhasste Beamte stützen muss, der wird auf den großen Schutthaufen fallen." 147 Den braven Württembergern wars zu viel; man enthob ihn seiner Tübinger Professur und strafversetzte ihn 1846 als Regierungsrat nach Ulm. 1 4 8 Daß ein so herausragender Wissenschaftler der Lehre nicht allzu lange vorenthalten blieb, war ein badisches Verdienst; Mohl erhielt schon 1847 wieder einen Lehrstuhl, diesmal in Heidelberg. Ein Jahr später zog er in die Frankfurter Nationalversammlung ein. XVI. Ein Rezipient im Revolutionsjahr 1848: Traugott Bromme 149 Brommes Werk 1 5 0 ist im wesentlichen eine Dokumentensammlung zu verschiedenen Verfassungen. Sie soll Klarheit über deren Inhalte bringen. Die Notwendig146 Robert von Mohl, S. 481. 147 Robert von Mohl, S. 470. 148 Unmittelbarer Anlaß war ein obrigkeitskritischer Brief, den er an einen Schüler geschrieben hatte; s. Gerd Kleinheyer u. Jan Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 3. A. Heidelberg 1989, S. 192. 149 Traugott Bromme, geboren 1802 in Leipzig, gestorben 1866 in Stuttgart. Kompilierte Schriften aus verschiedenen literarischen Gattungen, besonders Reiseliteratur; war kein fachgelehrter Jurist. Vergl. ADB Bd. III (1876), S. 352. ι 5 0 Traugott Bromme, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, der Freistaaten Pennsylvania und Texas, der Königreiche Belgien und Norwegen, die Bundesverfassung der Schweiz und die englische Staatsverfassung. Zur Beantwortung der Frage: Ob Republik, ob konstitutionelle Monarchie? Stuttgart 1848 (Hoffmann'sehe Verlagsbuchhandlung). 178 S.
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keit der Sammlung wird damit begründet, daß auch diejenigen, die sich auf fremde vorbildhafte Verfassungen berufen, ihre Kenntnisse häufig nur vom Hörensagen oder aus dem Konversationslexikon bezögen. Bromme drückt seine Enttäuschung darüber aus, daß der Freiheitskrieg gegen Napoleon nicht die ersehnte Neuordnung in Deutschland, sondern lediglich den Deutschen Bund gebracht hatte. Den Bundestag hält er für „ein aufgedrungenes Mittelglied" 151 zwischen Volk und Fürst. Das deutsche Volk sei Inhaber der Souveränität, seine Fürsten die verkörperte Idee der Souveränität. Die neue Verfassung Deutschlands solle nicht wie in Frankreich Ergebnis einer Revolution sein, vielmehr sich in einem friedlichen, aber baldigem, Verfahren entwickeln. In diesen Gedanken schwingt das englische Vorbild mit. Dasselbe gilt für einen Katalog der „Wünsche und zeitgemäßen Forderungen," zu denen Bromme die folgenden zählt: „Preßfreiheit. . ., Geschworenengerichte . . ., Petitionsrecht . . ., freie Kommunalverfassung, insbesondere die selbständige Verwaltung des Gemeindevermögens . . ., Sicherung der persönlichen Freiheit, deren niemand beraubt werden kann, ohne vorhergegangenen Ausspruch des Gerichts, freie Wahl der Gemeindebeamten . . , " 1 5 2 In der Frage, ob Republik oder konstitutionelle Monarchie die richtige Staatsform für Deutschland sei, entscheidet er sich eindeutig für letztere. Obwohl die abgedruckten Verfassungen sowohl republikanische als auch monarchische sind, soll ihnen allen die englische Verfassung zugrunde liegen. Und alles, „was die englische Staatsverfassung Treffliches bietet" sei „deutschen Ursprungs". 153 Die Idee vom Herkommen der englischen Staatsverfassung aus den „deutschen Wäldern" ist nicht neu. Schon Dahlmann formulierte sie, um die englische Verfassung für Deutschland zu empfehlen. Schon Blackstone und Montesquieu 154 sprachen die Idee aus. Bei den ausgewählten englischen Verfassungsdokumenten handelt es sich um die Magna Charta (1215), die Bill of Rights (1689) und den Krönungseid. Da sie allein gewiß kein vollständiges Bild der englischen Verfassung liefern, stellt Bromme einen fast zwanzigseitigen Abriß der englischen Geschichte und eine grobe Beschreibung des englischen Staatsrechts im 19. Jahrhundert voran. Hierin bewundert er die Kommunalverwaltung (Ehrenämter anstatt besoldeter Beamter!), beschreibt Gerichtswesen und Zusammensetzung des Parlaments in Stichworten. Etwas ausführlicher widmet er sich dem passiven Wahlrecht nach 1832. Das Steuerbewilligungsrecht des Unterhauses hält er für wesentlich. 151 Bromme, S. VIII. 152 Bromme, S. XI. 153 Bromme, S. XIV. 154 „Wenn man das treffliche Werk des Tacitus über die Sitten der Germanen liest, so wird man finden, daß die Engländer von ihnen das Prinzip ihrer politischen Regierung entnommen haben. Dieses schöne System ist in den Wäldern erfunden worden." Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, dt. Übersetzung von Ernst Forsthoff Tübingen 1951, Bd. I (Buch XI Kap. 6), S. 228.
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Vom Ministerkabinett, das er „Kabinets-Rath" nennt, weiß Bromme, es sei „streng genommen von der Verfassung nicht anerkannt; doch wird er, dem Gebrauch gemäß, als eine vom Souverän erwählte Körperschaft betrachtet, welche die Staatsgeschäfte zu leiten hat und deren Mitglieder als die verantwortlichen Rathgeber der Krone angesehen werden." 155 Bromme schreibt, Zahl und Wahl der Minister hänge allein vom Souverän ab. Es ist fraglich, ob er insoweit seine tatsächliche Anschauung wiedergibt. So findet die Figur des ersten Ministers beispielsweise überhaupt keine Erwähnung. Entweder hat die Abhängigkeit des Ministerkabinetts vom Unterhaus nicht in Brommes politische Konzeption gepaßt oder er hielt es für klug, sie nicht deutlich auszusprechen, weil dann von Seiten der Verfechter des monarchischen Prinzips die Frage nach der Substanz der monarchischen Gewalt gedroht hätte.
X V I I . Dr. Mittermaier betätigt die Notbremse Mittermaiers Aufsatz über die englische Verfassung setzt bei der deutschen Verfassungsdiskussion an, soweit sie sich auf das englische Vorbild berief: „Noch in der neuesten Zeit bemerkt man leicht bei den Berathungen über Deutschlands künftige Verfassung, dass die ehrenwerthesten Männer es als eine unabweisliche Forderung betrachten, dass der Reichsregierung alle Vorrechte gegeben werden müssten, welche der Krone in England gebührten." 156 Wie problematisch eine solche Forderung im Jahre 1849 war, liegt nach dem bisher Gesagten auf der Hand. Es gab innerhalb der Wissenschaft vom englischen Staatsrecht wohl keinen so wenig geklärten Punkt wie den Umfang der Rechtsstellung der Krone. Eines ist jedoch klar: Die Rechtsstellung der Krone gleichzusetzen mit den traditionellen Prärogativen ohne ihre Einschränkung durch Gewohnheitsrecht und bloße Übung zu berücksichtigen, war jedenfalls falsch. Die Forderung nach Ausgestaltung der Verfassungsposition der Reichsregierung in Anlehnung an die englische Krone war deshalb zunächst einmal unverständlich. Der jeweils Fordernde hätte sagen müssen, wie er diese Position definiere. Mittermaier geht offensichtlich davon aus, daß hinter der Forderung die Idee der formalen (umfassenden) Prärogative stehe, eine Idee, der er sich überhaupt nicht anschließen will. Er entgegnet der Forderung allerdings nicht durch Beschreibung der tatsächlichen Rechtslage der Krone, womit er wissenschaftlich schwieriges Terrain betreten hätte. Er wählt einen anderen Weg zur Begründung fehlender Rezeptionsfähigkeit. Mittermaier knüpft die Einrichtung der englischen Krone an traditionelle gesellschaftliche Bedingungen Englands, die zweifellos •55 Bromme, S. 137. !56 Dr. Mittermaier, Die englische Staatsverfassung in ihrer Entwicklung nach der neuesten Schrift von E. S. Creasy, dargestellt von Dr. Mittermaier, Heidelberg (J. C. B. Mohr) 1849, S. 1.
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nicht mitübertragen werden können. Hierzu rechnet er die Verankerung des Freiheitsbegriffs in der Bevölkerung und die englische bürgerliche Tradition, die zur Verteidigung der Freiheit notfalls selbst die Waffen in die Hand nimmt, auch wenn es gegen den König geht. Die englische Verfassung sieht Mittermaier als Produkt von Kämpfen, aus denen das englische Volk als Sieger hervorgegangen sei. Diese Tradition findet er durch die Pressefreiheit und ein freies Vereinsund Versammlungsrecht gestützt. Natürlich kann eine solche Verfassung nicht von einer fremden Nation übernommen werden. Zumindest jedoch kann die formale Rechtsposition des Königs nicht auf Deutschland übertragen werden, da sie nur im Zusammenspiel mit einem bestimmten Volk, nämlich dem Englischen, den erwünschten englischen Verfassungszustand ergibt. Die Ansicht Mittermaiers wird man im Ergebnis für richtig halten müssen. Seine Argumentation scheint hingegen fragwürdig. Es ist durchaus denkbar, daß eine deutsche Verfassung die Stellung des Monarchen nach dem englischen Vorbild gestaltet hätte. Nur hätte diese Verfassung auch die gewohnheitsrechtlichen und auf bloßen Konventionen beruhenden Beschränkungen der Prärogative übernehmen müssen. Mittermaiers Berufung auf fehlende Rezeptionsfähigkeit aufgrund fehlender Identität von Geschichte und Freiheitsidee hat deshalb den Charakter eines Hilfsarguments, eben einer Notbremse. Warum betätigt er sie? Die Antwort liegt nahe: Bei zugestandener Rezeptionsfähigkeit des englischen Modells hätte Mittermaier den Kern dieses Modells und damit auch die tatsächliche Stellung des Monarchen offenlegen müssen. Dazu fehlten in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch die dogmatischen Grundlagen. Sogar Walter Bagehot forderte noch fast zwanzig Jahre später, ein tüchtiger Rechtsgelehrter möge sich einmal damit beschäftigen.
Ε. Von Gneist bis zum Ersten Weltkrieg: largo Die deutsche Verfassungsentwicklung verlief nach 1849 bis zum ersten Weltkrieg ungleich ruhiger als in dem knappen halben Jahrhundert zuvor und im wesentlichen ohne Beteiligung des Volkes. Das politische Interesse am englischen Staatsrecht versiegt aber auch jetzt nicht. Die früheste Arbeit Rudolf von Gneists zu den englischen Verhältnissen, seinem Forschungsschwerpunkt, datiert August 1849. Auch wenn seine Hauptwerke etwas später erschienen, prägt doch Gneist einen völlig anderen, tieferen Stil der deutschen Englandforschung, wenngleich nicht frei von Irrtümern und Eigenheiten. Die neue Epoche kann zu Recht mit seinem Namen verbunden werden.
I. Buchers Kritik am englischen Parlamentarismus Lothar Bucher 1 ist heute noch manchem als Mitarbeiter und persönlicher Freund Bismarcks bekannt, an dessen berühmten Memoiren er mitwirkte. Weniger präsent ist uns sein „Vorleben" als linker „48er", der 1850 wegen versuchten Aufruhrs verurteilt wurde und die nächsten elf Jahre im Londoner Exil verbrachte. Seine Annäherung an den erzkonservativen Bismarck hatte gewiß eine Wurzel in charakterlichen Gleichklängen. Doch schon früh sind Parallelen im politischen Denken zu finden, was am hier zu besprechenden Buch deutlich wird. Buchers Schrift „Der Parlamentarismus wie er ist" 2 von 1855 wird von ihm selbst als „ein Pamphlet, eine Gelegenheitsschrift" 3 bezeichnet. Diese Beschei1
Lothar Adolf Bucher (1817-1892) entstammte einer preußischen Juristen- und Beamtenfamilie und schloß das Studium der Rechte 1838 in Berlin mit dem Examen ab. Er saß 1848 in der preußischen Nationalversammlung, ein Jahr darauf in der zweiten Kammer. In seiner englischen Exilzeit schrieb er als Korrespondent für die „Nationalzeitung". Nach Deutschland zurückgekehrt nahm er mit Lassalle Kontakt auf. Diese „linke" Zeit ging zu Ende, als Bismarck ihn 1864 in das preußische Auswärtige Amt holte. Bucher war beteiligt am Bismarck-Entwurf zur Verfassung des Norddeutschen Bundes. Sein Anteil an der Entstehung des Sozialistengesetzes wurde vor einigen Jahren noch bestritten (Meisner), gilt heute aber als gesichert (Studt, S. 282 ff). Vergl. Heinrich Otto Meisner, Artikel: „Bucher", in: NDB Bd. 2, Berlin 1955, S. 698 f.; Theodor Heuss, Bismarcks „rechte Hand", in: Τ. H., Profile, Nachzeichnungen aus der Geschichte, Hamburg (Rowohlt) 1966, S. 84; besonders die hervorragende Biographie von Christoph Studt, Lothar Bucher (1817-1892). Ein politisches Leben zwischen Revolution und Staatsdienst, Göttingen 1992. Die Kritik Wehlers an dieser Biographie überzeugt nicht; im übrigen ändern seine Kritikpunkte nichts an der historischen Brauchbarkeit der Biographie. Vergl. Hans-Ulrich Wehler, Noch ein Revolutionär von oben, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.8.1993, S. 27.
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denheit ist angesichts des Umfangs und der nicht unerheblichen Leserschaft und Wirkung 4 allerdings nicht ganz angebracht. Bucher meint, in Deutschland beschäftige sich ein größeres Publikum noch nicht all zu lange mit dem englischen Staatsrecht. Und in der Vergangenheit sei „Paris der Pol für Alle, die sich in den eigenen Zuständen unbehaglich fühlten," 5 gewesen. In Deutschland will er eine unkritische Anglomanie feststellen. Um es vorweg zu nehmen: Buchers Blick auf den englischen Parlamentarismus ist ein kritischer und der Gegenstand kommt nicht all zu gut dabei weg. Schon in seiner Einleitung beschreibt er die Regierung des Premiers Earl of Aberdeen (1852-1855) nicht gerade schmeichelhaft: „Ein unproduktiveres Kabinet ist seit Menschengedenken nicht dagewesen."6 Anschließend meint er, die deutsche Diskussion über das englische Staatsrecht könne Deutschland Lehrgeld ersparen. Damit deutet Bucher schon an, daß er in der Schwäche des Aberdeenschen Kabinetts ein strukturelles Problem der englischen Verfassung sieht. Bucher stellt im übrigen zwei Regierungsformen einander gegenüber: den Parlamentarismus als die englische Staatsform und die beschränkte Monarchie oder Konstitutionalismus als die Staatsform, die aus der französischen Revolution für den Kontinent hervorgegangen sei.7 Der Kern seiner Kritik ist folgendermaßen zu beschreiben: Das englische Parlament habe es im Laufe der Geschichte verstanden, sich vom König und vom common law unabhängig zu machen. Das Instrument zur Beeinträchtigung des common law sei das statute law. 8 Delegiere das Volk die Gesetzgebungskompetenz, beginne damit der Kampf zwischen dem Volk und dem Gesetzgebungsorgan; letzteres verfolge nämlich durchaus auch eigene Interessen. Bucher nennt Beispiele von parlamentarischer Vetternwirtschaft. 9 Ganz allgemein verurteilt er das englische Parteiensystem, die Austauschbarkeit von Whigs und Torys aufgrund einer unterstellten Prinzipienlosigkeit, den Vorrang der politischen machterhaltenden Taktik gegenüber dem Suchen der für England richtigen Entschei2
L. Bucher, Der Parlamentarismus wie er ist, Berlin 1855 (Franz Duncker). 362 S. (Eine zweite Auflage erschien 1881.) 3 Bucher, S. 24. 4 Z. B. Fischel zitiert Bucher häufig; noch 1898 bemerkte G. Wendt in seiner Bibliographie ausdrücklich, Buchers Schrift sei nicht veraltet, s. G. Wendt, England. Seine Geschichte, Verfassung und staatlichen Einrichtungen, 2. A. Leipzig 1898. Meines Erachtens muß man diese Bemerkung im Zusammenhang mit anglophoben Tendenzen der damaligen Zeit sehen. Denn Parlamentarismuskritik, die Bucher formulierte, und allgemeine Englandkritik fanden Berührungspunkte. 5 Bucher, S. 7. 6 Bucher, S. 5. 7 Bucher, S. 21 f. In dieser Differenzierung folgt er F. J. Stahl. s „Die innere, ja man kann hinzusetzen auch die äußere Geschichte Englands ist erschöpfend bezeichnet als Kampf des Parlaments gegen das gemeine Recht." Bucher, S. 81. Gemeines Recht bedeutet hier common law. 9 Bucher, S. 125.
I. Buchers Kritik am englischen Parlamentarismus
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dung. Infolgedessen spricht er auch nicht von Gesetzgebung, sondern etwas despektierlich von Gesetzesfabrikation. Ein weiterer Kritikpunkt ist ihm das englische Wahlsystem, sogar das reformierte nach 1832. Er hält den 40-PfundZensus als Kriterium für das aktive Wahlrecht für willkürlich; 10 er glaubt nicht, daß hierin ein Kennzeichen staatsbürgerlicher Tüchtigkeit zu sehen sei. Ob er allerdings einen anderen Zensus oder ein allgemeines Wahlrecht bevorzugt, wird nicht ganz deutlich. Einiges spricht für ein allgemeines Wahlrecht. 11 Man kann aber nicht sagen, Bucher sei ein grundsätzlicher Kritiker des Parlamentarismus. Das amerikanische Modell hält er nämlich für ein positives Beispiel. 1 2 Bucher ist vielmehr ein Kritiker des englischen Parlamentarismus, insbesondere der englischen Parlamentssouveränität. Nicht zu übersehen ist in diesem Zusammenhang, daß Buchers Meinung über den englischen Parlamentarismus sich unter dem Eindruck der schwachen Regierung Aberdeens entwickelte. Im Ergebnis haben sich die düsteren Prognosen zur Zukunft des englischen Staatswesens nicht bewahrheitet. Dieses Faktum wirft wiederum ein kritisches Licht auf die Analyse Buchers. Am Ende hat er sich durch eine Reihe von vorhandenen Mängeln des englischen Parlamentarismus den Blick auf das Positive verstellt. 13 Möglicherweise ist hieran in einer indirekten Weise auch der englandkritische Hegel nicht ganz unschuldig. Denn als Bucher in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts in Berlin studierte war die Stadt das Zentrum des Hegelianismus und es ist sicher, daß Bucher in den ersten beiden Semestern bei dem Hegelianer Leopold Dorotheus Henning gen. von Schönhoff und später bei dem Hegelschüler Eduard Gans hörte. 14 Damit läßt sich die Vermutung aufstellen, Bucher sei bereits mit einer englandkritischen Grundhaltung in sein Londonern Exil, wo er das Buch schrieb, gelangt. Falls wir recht haben, sehen wir in Buchers Parlamentarismuskritik einen konservativen Hegeischen Samen in einem linken Boden aufgehen und ihn sprengen.
io Bucher, S. 137. h Denn Bucher meint, daß die Beschränkung des Wahlrechts (im Jahre 1430) auf freeholder mit 40 Shilling Einkommen ein Verstoß gegen das common law gewesen sei, s. Bucher, S. 120. Die große Liebe des Autors zum common law hingegen kommt an manchen Stellen durch fast poetische Formulierungen zum Ausdruck. 12 Bucher, S. 116. 13 „Die innere Rechtsgeschichte Englands erzählt den tausendjährigen Verfall eines einfach großen Gebäudes. Seine heutige Verfassung ist die efeubewachsene und geflickte Ruine. Einige Spatenstiche legen die Grundmauern blos, aber an dem was steht, muß es dem flüchtigen Blick oft zweifelhaft bleiben, ob das Gemäuer die grüne Decke trägt, oder das Rankengeflecht den Stein an seiner Stelle hält." S. Bucher, S. 343 f. 14 Christoph Studt, S. 24.
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II. Obertribunalrath Oppenheim übersetzt einen englischen Klassiker: Sir Thomas Erskine May 1 5 Josef Redlich lobte Mays „weitberühmtes Werk" als höchst taugliches „Hilfsmittel für die englische Parlamentspraxis". Er bedauerte allerdings die mangelnde „theoretische und entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der Geschäftsordnung" 1 6 des englischen Parlaments. Diese Aussagen beziehen sich auf das erste der beiden Hauptwerke Mays, nämlich „Das englische Parlament und sein Verfahren". 17 Die erste englische Ausgabe erschien 1844. Die vierte, achte und neunte Auflage wurden von Oppenheim ins Deutsche übersetzt (in den Jahren 1860, 1879, 1888). May schildert das Parlaments verfahren aus der Sicht eines hohen Parlamentsbeamten. Er spricht zunächst von der Zusammensetzung, den Befugnissen und Privilegien des Parlaments, insbesondere von der Redefreiheit. Den größeren Raum nimmt anschließend das Verfahren ein. Hierin beschreibt er das Zusammentreten des Parlaments, das Stellen von Anträgen, Beratung und Abstimmung über sie, Amendments, die Arbeit der Ausschüsse, verfahrensmäßige Besonderheiten im Falle von Bills und die Gerichtsfunktion des Parlaments in Hochverratsfällen. Seiner Sichtweise entsprechend versteht May sein Werk nicht als Beitrag zur Staatsrechtswissenschaft, sondern mehr als Istbeschreibung der äußeren parlamentarischen Erscheinungen. Fragen nach Sinn und Zweck des Verfahrens genießen daher keinen besonderen Stellenwert. Insoweit ist der Kritik Redlichs zuzustimmen. Allerdings scheint die Kritik an mangelnder historischer Betrachtungsweise nicht völlig berechtigt. Denn es ist fraglos legitim, das parlamentarische Verfahren in einem bestimmten historischen Zeitpunkt zu schildern, zumal wenn das Werk genau dieser Praxis dienen soll. Zwischen dem ersten Werk, das ausschließlich das Parlamentsrecht thematisiert, nämlich dem Handbuch Thomas Jeffersons, und der ersten deutsche Übersetzung des Mayschen Werkes liegen genau vierzig Jahre. Berücksichtigt man, 15 Sir Thomas Erskine May (1815-1886), erster Baron Farnborough, wurde 1831 assistant librarian of the House of Commons, später clerk of the House of Commons, von 1866 bis 1884 president of the Statute Law Revision Committee, 1885 Mitglied des Privy Council. Seine beiden Hauptwerke über das Parlaments verfahren und die englische Verfassungsgeschichte zwischen 1760 und 1860 erwarben ihm einen Ruf als Autorität in diesem Gebiet. Er wurde 1866 zum Ritter geschlagen und 1886 in den Peersstand erhoben. Vergl. Victor Tunkel, in: Biographical Dictionary of the Common Law, ed. A. W. B. Simpson, London 1984, S. 359. 16 Josef Redlich, Recht und Technik des Englischen Parlamentarismus, Leipzig (Duncker & Humblot) 1905, S. IX. 17 Thomas Erskine May, Das englische Parlament und sein Verfahren. Ein praktisches Handbuch. Übersetzt und bearbeitet von O. G. Oppenheim. I.A. Leipzig (Hermann Mendelsohn) 1860. (592 S.) Die Zitate im Folgenden stammen aus der 2. A. 1880. Dank der Mühe späterer Bearbeiter gilt das Handbuch von May noch heute als aktueller Ratgeber in Fragen des Parlamentsrechts.
II. Oppenheim übersetzt Sir Thomas Erskine May
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daß Jefferson nicht nur das englischen Verfahren zeigt, sondern auch das amerikanische, berücksichtigt man weiterhin den deutlich geringeren Umfang, kann man ohne weiteres sagen: Die Übersetzung des Werkes schloß eine Lücke im deutschsprachigen Schrifttum. Mays Verfassungsgeschichte 18 schloß ebenfalls eine solche Lücke, wenngleich nur zum Teil. Die vorangegangene Verfassungsgeschichte Millars endet nämlich kurz nach der Glorreichen Revolution von 1688. May behandelt den Zeitraum 1760-1860. 19 Seine Ausführungen sind noch heute ein literarischer Genuß und mit Gewinn zu lesen. Als Parlamentspraktiker hatte er den Sinn für die menschlichen Motivationen der englischen Verfassungsstreitigkeiten des 18. Jahrhunderts. Der Blick hierauf ist in einem Land, in dem die staatsrechtliche Doktrin oftmals hinter der Übung zurückstand, von ganz besonderer Bedeutung. Man kann die zentrale englische verfassungsrechtliche Frage des 18. Jahrhunderts folgendermaßen stellen: Wer hat maßgeblichen Einfluß auf die Ernennung und die Politik des Kabinetts, der König oder das Parlament? Daß die Exekutive nicht durch den König in Person wahrgenommen werde, galt als gesicherte staatsrechtliche Doktrin. Da Georg I. (1714-1727) und Georg II. (1727-1760) teils das Verständnis und teils das Interesse an den Angelegenheiten fehlte, galt der königliche Einfluß auf das Kabinett in ihrer Regentschaft nicht als übermäßig bedeutsam.20 Völlig zu Recht legt May daher einen Schwerpunkt seiner Beschreibung auf die Versuche des ehrgeizigen Georg III. (1760-1820), Einfluß auf das Kabinett zu gewinnen, und auf dieselben Versuche der folgenden Könige, nämlich Georg IV. (1820-1830), William IV. (1830-1837) und der Königin Viktoria (18371901). Das Ende der Entwicklung ist bekannt. Im wesentlichen hatten die Nachfolger Georgs III. mit der Ministerernennung den Willen des Parlaments zu erfüllen und keinen eigenen Entscheidungsspielraum. Diesen Zustand hatte das englische 18 Thomas Erskine May, Die Verfassungs-Geschichte Englands seit der Thronbesteigung Georgs's III. 1760 bis 1860, übersetzt von O. G. Oppenheim, Bd. I Leipzig 1862 (Hermann Mendelssohn) und Bd. II Leipzig 1863 (Hermann Mendelssohn). 19 Der Beginn im Jahre 1760 läßt sich nicht historisch begründen, sondern allein damit, daß die Verfassungsgeschichte Hallams bis dahin ging. May sieht sich insoweit als Nachfolger Hallams. 20 „Georg I. und Georg II. räumten in Kopf und Herz der Politik Hannovers die erste Stelle ein. Von englischer Politik, englischer Gesellschaft und selbst englischer Sprache wußten sie wenig. Das unruhige Treiben des Parlaments war ihnen ein Räthsel, sie gaben der Ueberlegenheit befähigter Minister gern nach, welche Aufruhr unterdrückt und Prätendenten ihrer Krone niedergeworfen, welche über Opposition im Parlament zu siegen gewußt und die ganze Last der Staatsgeschäfte getragen hatten. Dem Hange ihrer persönlichen Neigung folgend, durch häufige Besuche ihres Heimathlandes, durch einen deutschen Hof, Günstlinge und Maitressen abgezogen, waren sie nicht gesonnen, sich mehr als nothwendig an den ungestümen Kämpfen einer konstitutionellen Regierung zu betheiligen. Sie liehen ihren Namen und ihr Ansehen kundigen Ministern, folgten ihrem Rathe und unterstützten sie mit allen dem Hofe zu Gebote stehenden Mitteln." S. May, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 6.
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Staatsrecht zwar nicht als Norm oder Doktrin formuliert. Aber es entsprach der Staatspraxis. May formuliert in klassischer Weise: „Die Krone hat sich ihrer Rechte weise, maaßvoll und in dem wahren Geiste der Verfassung bedient. Sie hat Ministern, welche das Vertrauen des Parlaments besaßen, das ihrige nicht vorenthalten. Heimliche Beeinflussung wie den Rath unverantwortlicher Rathgeber wiesen sie von sich. Ihre Politik leitete das Parlament und die öffentliche Meinung, nicht souverainer Eigenwille und Hof-Intriguen. Die Krone, auf dem Haupte der jetzt regierenden Königin, übte ihre weitreichende Macht nie ohne Beirath verantwortlicher Minister, stets in verfassungsmäßigen Grenzen." 21 Der erste Band beschreibt neben der Position der Krone noch Ober- und Unterhaus. Der zweite Band behandelt die Parteien, Presse-, und Meinungs-, Religions- und persönliche Freiheit, die Kirche, die Lokalverwaltung, Irland und die Kolonien.
I I I . Rudolf von Gneist,22 ein Pfadfinder im Urwald Mit Rudolf von Gneist gewinnt die deutsche juristische Englandforschung eine neue wissenschaftliche Qualität. Sicher ist dieses Attribut der um fast ein halbes Jahrhundert früheren Arbeit Vinckes ebenfalls nicht abzusprechen. Angesichts ihres geringen Umfanges, Hatschek spricht im Diminutivum von einem „Schriftchen", 23 und wenn man bedenkt, daß Vincke keine Arbeit mehr zum englischen Recht folgen ließ, gebührt Gneist diese Ehre zweifellos. Für die gleichzeitige Arbeit von Theodor Schmalz gilt etwas anderes: ihr fehlt die Tiefe. Gneists erste einschlägige Veröffentlichung behandelt den englischen Adel; sie erschien 1853 24 und schildert die filigranen Rangfolgen vom regierenden Königshaus bis hinunter zu den Esquires und Gentlemen, insgesamt 60 Stufen. 25 Diese hierarchische Ordnung erlebt Gneist nicht als statisch, sondern als enorm mobil. Die Durchlässigkeit, die Möglichkeit des Aufstiegs in dieses System und innerhalb dieses Systems und ebenso die Möglichkeit des Abstiegs erregte seine Bewunderung. 26 Hierzu gehört im einzelnen etwa, daß „auch im Privatrecht 21
May, Verfassungsgeschichte I, S. 113. Rudolf von Gneist, preußischer Jurist und Politiker, 1816-1895. Schon 1839 Dr. iur. und Privatdozent in Berlin, 1845 ao. Professor dort. Abgeordneter im Preußischen Landtag 1859 bis 1893 (linkes Zentrum und später Nationalliberale Partei), Reichstagsabgeordneter 1867-84. Erster Präsident des Vereins für Socialpolitik und langjähriger Vorsitzender des deutschen Juristentages, Gründer des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. Zu seiner Biographie und zur Stellung innerhalb der Staatsrechtsgeschichte s. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992. S. 385 ff. 2 3 Julius Hatschek, Englisches Staatsrecht, Tübingen 1905, Bd. I, S. 24. 24 Rudolph Gneist, Adel und Ritterschaft in England, Berlin 1853 (Ludwig Oehmigke). 103 S. 2 5 Gneist, Adel und Ritterschaft in England, S. 48 f. 22
III. Rudolf von Gneist
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niemals eine Sonderung der Gesetzgebung nach Ständen eintrat" und daß in England der Rechtssatz von der Standesmäßigkeit der Ehe nie gegolten habe.27 Den Worten Macaulys schließt er sich an: „Die Ritterwürde war keinem unzugänglich, der es durch Fleiss und Sparsamkeit zu einem hübschen Landgut bringen, oder durch seine Tapferkeit in einer Schlacht oder Belagerung Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Es galt für keine Schande für die Tochter eines Herzogs, selbst eines Herzogs vom königlichen Geblüt, einen ausgezeichneten Commoner zu heirathen." 28 Der Begriff des englischen Adels, wie Gneist ihn versteht, ist kein bloßer Adel qua Geburt, vielmehr betrifft er ebenso den Adel qua Bildung oder Einkommen. Mit diesem Begriff kontrastiert Gneist die soziale Schichtung und ihre fehlende Durchlässigkeit in Deutschland. Die Darstellung des englischen Adels sollte „dem preußischen Junkertum den Spiegel einer wahren Aristokratie vorhalten." 29 Die Forderung nach Durchlässigkeit der Standesgrenzen30 macht Gneists Werk über den englischen Adel zu einem späten Dokument der Emanzipation des Bürgertums. Was Gneist bewundert, ist allerdings nicht ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Adel und Bürgertum, sondern die Möglichkeit des Bürgers zum Aufstieg in den (weitgefaßten) Adel. Man kann Gneist als Anhänger eines durchlässigen Ständestaates bezeichnen. Autobiographische Momente sind nicht zu übersehen.31 Die Arbeit über den englischen Adel bereitete in gewisser Hinsicht den Boden für Gneists umfangreiches zweibändiges Hauptwerk „Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht". 32 Denn der so gepriesene Adel war Träger des kommunalen Selfgovernments und ebenso der Zentralregierung. Was nach Gneist in bezug auf Selfgovernment Trägerschaft bedeutet, kann am besten mit einem 26 Kriterium für Auf- oder Abstieg war der Besitz, dessen Erwerb oder Verlust jedem frei stand. 27 Gneist, Adel und Ritterschaft in England, S. 38. 2 8 Gneist, Adel und Ritterschaft in England, S. 93 f. Dieses Macauly-Zitat betrifft allerdings die Zustände am Ende des Mittelalters. 2 9 Erich Angermann, Artikel „Gneist" in: Neue Deutsche Biographie, 6. Bd. Berlin 1964. 30 Besonders deutlich auf S. 99, Gliederungspunkt 6) 31 Der Vater Gneists war Landgerichtsrat in Eisleben und Aschersleben und Sohn eines preußischen Hauptmannes; Gneist wurde 1888 in den preußischen Adel erhoben. Als Gneist um die Mitte des 19. Jahrhunderts begann, sich mit England zu beschäftigen, war auf der Insel gerade eine ganz besondere soziologische Entwicklung zu beobachten: Die zu Reichtum gelangten bürgerlichen Mittelschichten verlangten einen Anteil an der Macht; sie erreichten ihr Ziel durch natürlichen Aufstieg in die englische „Gentlemangesellschaft". Vergl. Christian Fenner, Mrs. Thatcher und der Gentleman, in: Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik Nr. 38 (1988), S. 66, 70. 32 Rudolph Gneist, Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Bd. I (Geschichte und heutige Gestalt der Aemter in England) Berlin 1857 (Julius Springer) und Bd. II (Die heutige englische Communalverfassung und Communalverwaltung oder das System des Selfgovernment in seiner heutigen Gestalt) Berlin 1860 (Julius Springer). 6 Pöggeler
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Ε. Von Gneist bis zum Ersten Weltkrieg: largo
Zitat belegt werden: „Das Gemisch von ständischen und Verwaltungsrechten, welches in England Selfgovernment heißt, hat seinen Schwerpunkt in Friedensrichtern, welche überwiegend aus Rittergutsbesitzern, sodann aus Ratsherren, angesessenen Juristen, geistlichen und anderen städtischen Honoratioren unter königlicher Autorität ernannt werden. Es bildet eine kreisständische Verwaltung, welche in gesetzlichen Schranken mit großer Selbständigkeit handelt." 33 In bezug auf die Zentralregierung bedeutet Trägerschaft, daß die Gentry, jene Mischung aus Ritterschaft und städtischen Honoratioren, die Mitgliedschaft des Unterhauses rekrutierte, „und mit der wachsenden Bedeutung des Unterhauses erhebt sich die Gentry zu einer regierenden Klasse." 34 Gneist wurde im Laufe seines wissenschaftlichen und politischen Lebens zum Propheten des Selfgovernment. Der erste Band enthält zunächst eine etwa 300seitige Geschichte der englischen „Aemter", sodann eine ebenso starke Darstellung dieses Gegenstandes im Zeitalter Gneists und zum Schluß Bemerkungen zur politischen und gesellschaftlichen Stellung des englischen Beamtentums und eine Vergleichung der englischen staatlichen Einrichtungen mit denen in Deutschland. Der zweite Band widmet sich vollständig der Kommunalverwaltung. Julius Hatschek kennzeichnete die Methode Gneists als historische und rechtsvergleichende und kontrastiert sie mit Vinckes bloß deskriptiver Methode. 35 Gneist findet einen neuen Ansatz zur Beschreibung der englischen Verfassung. Der Ansatz ist nicht ein wie auch immer gefaßter Begriff der englischen Freiheit, nicht das Verhältnis des Parlaments zum Monarchen und die entsprechende Entwicklungsgeschichte. Ansatzpunkt ist der Gneistsche Begriff von „Aemtern" und Verwaltungsrecht. Aus diesem formalen Blickwinkel sieht er die englische Verfassung. Zum damit korrespondierenden zentralen materiellen Begriff wird Gneist das Selfgovernment, das er zum tragenden Strukturprinzip der Verfassung erhebt. „Aemter" im Sinne Gneists sind m. E. alle institutionalisierten Tätigkeiten zugunsten des Staates und seiner Gliederungen. Das umfaßt innerhalb des Gewaltenteilungsschemas alle drei Gewalten, nur die konkrete Person des Königs oder der Königin und das Parlament als solches scheint ausgenommen zu sein; insoweit kann der moderne Begriff des Verwaltungsrechts, der sich allein auf die Exekutive bezieht, auf gar keinen Fall mit dem Gneists gleichgesetzt werden. Im ersten Band behandelt Gneist im wesentlichen die „Aemter" auf Reichsebene, wenn dieser Ausdruck an dieser Stelle erlaubt ist. Im zweiten Band geht es um die „Aemter" auf kommunaler Ebene. Die Spannweite reicht also vom Premierminister bis zum dörflichen Friedensrichter oder Constable. 33 Gneist, Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 629. Anzumerken ist, daß die Friedensrichter eben keine bloßen Richter waren; sie waren darüber hinaus mit mannigfaltigen Aufgaben der Kommunalverwaltung betraut. 34 Gneist, vorige Fußnote, S. 653. 35 Julius Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. I Tübingen 1905, S. 28.
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Das Verhältnis zwischen Königtum auf der einen und Ministerkabinett und Parlament auf der anderen Seite wird geprägt durch die englische Lehre von der Prärogative. Begriffe man die Prärogative des englischen Königs oder der Königin als Kompetenzen, die ihnen materiell zuständen und tatsächlich von ihnen ausgeübt würden, wäre das englische Staatsrecht unverständlich. Gneist schildert Blackstones Meinung zur königlichen Prärogative und versteht, daß man zunächst den Eindruck eines streng monarchischen Staates hat. 36 Diesen ersten Eindruck von der Prärogative korrigiert er sogleich durch das berühmte Zitat eines englischen Staatsanwalts: „Die sogenannte Gewalt des Königs ist der Staat selbst. Alle Gewalten des Staats, legislative und exekutive, sind nominell in ihm. Nicht reell; denn der König kann keine Gesetze machen ohne Beirath und mit Zustimmung der Lords und Gemeinen im Parlament. Er kann kein Gesetz ausführen anders als durch seine Richter und andere Diener der Justiz nach einer festgestalteten und regelmäßigen Ordnung. Er thut in der Wirklichkeit nichts, aber er thut nominell alles." 37 Gneist ringt nun darum, diesen Unterschied zwischen nomineller und realer Macht mit dem Begriff der Prärogative in Einklang zu bringen. Die Doktrin, wonach der König die Prärogative ausübe mit „Beirath" diverser Räte (nämlich Parlament, Pairs, Gerichtshöfen, Privy Council) hält er für „die normale Verfassung Englands, welche aber tatsächlich verändert ist seit der Revolution." 38 Diese Veränderung besteht darin, daß die Macht auf Parlament und Kabinett übergegangen ist. 39 Gneist erkennt die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, beschreibt sie auch, es fehlt aber noch das juristische Instrumentarium, die Begrifflichkeit, um die Staatspraxis innerhalb eines Rechtssystems zu fassen. Insoweit wird er nicht weit von der Situation des englischen Staatsrechts seiner Zeit entfernt gewesen sein. 40 Gneist beschreibt zutreffend die Bildung des Ministerkabinetts aus den Reihen der jeweiligen Parlamentsmajorität und die übergeordnete Stellung des Premierministers. 41 Beiden Bänden fehlt eine Darstellung des Parlamentsrechts, systematisch hätte sie in den ersten Band gehört, da der zweite allein der Kommunal Verwaltung geweiht ist. Das wesentliche Element innerhalb der Kommunalverwaltung ist in den Augen Gneists das Selfgovernment; das ist vornehmlich die Tatsache, daß die Aufgaben 36
Gneist, Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Bd. I S. 275. Gemeint ist eine unbeschränkte Monarchie. 37 Gneist, vorige Fußnote, S. 276. 38 Gneist, vorige Fußnote, S. 279. 3 9 Gneist, vorige Fußnote, S. 279 f. 40 „In Deutschland hat die Rezeption des römischen Rechts und die Fortbildung des letzteren auf den Universitäten ein System des Staatsrechts geschaffen. Beides hat in England gefehlt, daher der Mangel eines Systems des Staatsrechts bis auf den heutigen Tag," wußte Julius Hatschek noch 1905 zu sagen, s. Julius Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. I Tübingen 1905, S. 10. Gneist, vorige Fußnote, S. 333 f. 6*
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der Kommunalverwaltung von ortsansässigen Honoratioren, also Adel und Gentry, ausgeübt werden. Die Idee des Selfgovernment steht auch letztlich hinter der Institution der Geschworenengerichte, die Gneist schon im Jahre 1849 für Deutschland empfahl. Den Zusammenhang macht er schon im Vorwort seiner Arbeit über „Die Bildung der Geschworenengerichte in Deutschland" deutlich: „Geschworenengerichte und freie Gemeindeverfassung, Rechtspflege und selfgovernment, sind untrennbar verwachsen und bilden das massive Fundament eines deutschen Verfassungsbaues." 42 In Preußen waren die Geschworenengerichte gerade im Zuge der oktroyierten Verfassung vom 5. Dezember 1848 eingeführt worden. Allerdings orientierte man sich bei der Konstruktion der Geschworenengerichte in Deutschland, im Gegensatz zu den Vorschlägen Gneists, nicht am englischen, sondern am französischen Vorbild, ein Umstand, der sich vornehmlich bei der Auswahl der Jurymitglieder bemerkbar machte.43 Die auffallende Vernachlässigung des englischen Parlamentsrechts im 19. Jahrhundert, die wir in Gneists Verfassungs- und Verwaltungsrecht sahen, wird in seinem Werk erst recht spät korrigiert. Seine große „Englische Verfassungsgeschichte" von 1882, die bis dahin umfang- und kenntnisreichste deutsche Arbeit dieser Art, reicht nur bis ins 18. Jahrhundert. 44 Die kleinere Arbeit „Das Englische Parlament in tausendjährigen Wandelungen"45 von 1886 füllt diese Lücke aus, diente aber offensichtlich primär der politischen Kritik der englischen Rechtsentwicklung im Sinne der von Gneist diagnostizierten „Zersetzung des Selfgovernments durch die neugestalteten boards." Julius Hatschek wirft Gneist mit Recht vor, er verfalle in denselben Fehler wie Montesquieu, denn er konstruiere „England aus dem Blickwinkel seines Selfgovernments, wie Montesquieu aus dem der Dreiteilung der Gewalten." 46 Die wichtigste und profundeste Kritik am Werk Gneists erschien allerdings schon vier Jahre früher, nämlich 1901,47 und stammt von Josef Redlich, auf dessen Werk später noch breiter eingegangen werden muß. Redlich konstatiert „die große Autorität, die Gneists Schriften über die englische Verwaltung auf dem Festlande gewonnen" 48 hatte. Und er bringt Gneist 42 Rudolf von Gneist, Die Bildung der Geschworenengerichte in Deutschland, Berlin 1848 (Neudruck Aalen 1967), S. III. 43 Peter Landau, Schwurgerichte und Schöffengerichte in Deutschland im 19. Jahrhundert bis 1870, in: The trial jury in England, France, Germany 1700-1900, ed. Antonio Padoa Schioppa, Berlin 1987, S. 241, 275. 44 Rudolf Gneist, Englische Verfassungsgeschichte, Berlin 1882 (Julius Springer), 731 S. 4 5 Rudolf Gneist, Das Englische Parlament in tausendjährigen Wandelungen vom 9. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin 1886 (Allgemeiner Verein für Deutsche Literatur). 407 S. 4 6 Julius Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. I, S. 25. 47 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1901. 835 S.
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„das Gefühl dankbarer Verehrung" entgegen, „die diesem deutschen Altmeister der Wissenschaft vom englischen Staatsrechte dauernd gezollt werden muß." 49 Trotzdem erweise sich „seine Darstellung und Beurteilung des modernen englischen Staatswesens in vielen und entscheidenden Punkten als irrig, seine Theorie von der Selbstverwaltung' als unhaltbar, sein Einfluß auf die deutsche Staatsrechtswissenschaft und Politik als ungünstig vom Standpunkte einer objektiven entwicklungsgeschichtlichen Erfassung der Institutionen des öffentlichen Rechts." 50 Ohne auf alle genannten Kritikpunkte einzugehen, soll an dieser Stelle eine, wenngleich skizzenhafte, kritische Darstellung der Gneistschen SelfgovernmentDoktrin versucht werden. Diese Doktrin ist zum ersten Mal ausgesprochen im zweiten Band von „Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht". Gewissermaßen zum Vollbild entwickelt, finden wir die Doktrin in der 3. Auflage von „Selfgovernment, Communalverfassung und Verwaltungsgerichte in England" von 1871.51 Sie läßt sich folgendermaßen skizzieren. Ausgangspunkt sind die Begriffe von Staat und Gesellschaft. In der Gesellschaft finden sich besitzende und abhängige Klassen. Die besitzenden Klassen wollen die Unabhängigkeit, die ihnen der Besitz gewährt, erhalten und erweitern; die abhängigen Klassen wollen ihre Abhängigkeit vermindern und aufheben. Hieraus ergebe sich ein Interessengegensatz der verschiedenen Klassen. Genauso natürlich wie dieser Interessengegensatz sei jedoch die „menschliche Bestimmung", diesen Gegensatz zu überwinden. Der Überwindung dieses Gegensatzes der Klassen diene der Staat.52 Die Überwindung dieser Gegensätze habe die Freiheit der Gesamtheit und des einzelnen zum Ergebnis. Seine ausgleichende Funktion erreiche der Staat durch Zwang, nämlich in Gestalt von Militär-, Gerichts-, Polizei-, Steuer- und Schulpflicht oder allgemein formuliert: in Gestalt der Pflicht zum Gehorsam gegen Gesetz und Obrigkeit. Der Zwang dient natürlich der Durchsetzung der Gesamtinteressen, nämlich des Ausgleichs der verschiedenen Klasseninteressen. Deshalb existiert ein dauernder Gegensatz zwischen den Interessen der Klassen und dem Interesse des Staates, dem Gesamtinteresse. Dieser Gegensatz werde 48
Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. 745. 9 Josef Redlich, S. VII f. 50 Josef Redlich, S. VIII. Die Hervorhebung stammt von Redlich. 51 Rudolf Gneist, Selfgovernment, Communalverfassung und Verwaltungsgerichte in England, 3. A. Berlin 1871. 1018 S. 52 Gneist findet präwilhelminisch-pathetische Worte: „Wie der einzelne Mensch den Widerstreit seiner Triebe und Begierden mit seinen sittlichen Pflichten durch freien Entschluß überwinden soll: so ist es die ewige Bestimmung der Gemeinschaft der Menschen, jenes Gegensatzes der Interessen . . . Herr zu werden durch den Organismus des Staats," s. Rudolf Gneist, Selfgovernment, S. 880. 4
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durch das Selfgovernment überwunden. Nun fragt sich also: Was ist Selfgovernment? Nach Gneists eigener Definition ist Selfgovernment „ . . . die innere Landesverwaltung der Kreise und Ortsgemeinden nach den Gesetzen des Landes durch persönliche Ehrenämter, unter Aufbringung der Kosten durch communale Grundsteuern." 53 Zum materiellen Inhalt des Selfgovernment schreibt Gneist: „Die Gegenstände des selfgovernment sind die staatlichen Funktionen der inneren Landesverwaltung: der Geschworenendienst, die Verwaltung der Sicherheitsund Wohlfahrtspflege, die Militäraushebungen, die Vertheilung der Einquartierungs- und Vorspannpflicht, die Einschätzung der direkten Staatssteuern, die Verwaltung der Communalsteuern, die Verwendung des etwa vorhandenen communalen Stammvermögens zu öffentlichen Zwecken. Es sind die Funktionen der örtlich thätigen Staatsgewalt, die sich zu einer Handhabung durch das Personal und durch die Steuermittel des Nachbarverbandes eignen, mit Ausschluß derjenigen, die sich dazu nicht eignen." 54 Die Definition befriedigt nicht. Denn nachdem uns Gneist in die Welt der widerstrebenden Klasseninteressen und die Notwendigkeit ihrer Überwindung eingeführt hat, erwarten wir etwas, was seiner Natur nach über den Interessen steht, eine Institution oder Person von durchaus überirdischem Charakter. Aber Gneist antwortet mit einer blassen Definition, die keine konkrete Institution sichtbar macht, keine Person oder Personengruppe nennt. Daß es sie in der Welt Gneists gibt, steht außer Zweifel und im Buch zwischen den Zeilen. Denn kurz zuvor lehrt Gneist, das Selfgovernment verteile „die zur Ausführung der inneren Ordnung des Staates nothwendigen persönlichen Pflichten und Lasten nach der Leistungsfähigkeit der gesellschaftlichen Klassen." 55 Wer diese leistungsfähigen Klassen sind, liegt nach der Lektüre von „Adel und Ritterschaft in England" auf der Hand: Adel, Gentry, Honoratioren, aber gewiß nicht die Angehörigen anderer Klassen; andere Klassen wären auch bereits wegen der Untgeltlichkeit der Ehrenämter nicht zur Ausübung der entsprechenden Funktionen in der Lage gewesen. An dieser Stelle erhält Gneists Selfgovernment-Doktrin etwas Mysthisches. Denn zweifellos muß er dieser zum Regieren erwählten Klasse besondere sittliche Fähigkeiten qua Klassenzugehörigkeit zugestehen. Da wir oben bereits gezeigt haben, daß im Gneistschen Sinne der Besitz adelt, muß es auch der Besitz sein, der dem Besitzenden die sittliche Kraft gibt, seine eigenen Klasseninteressen zu vernachlässigen und als Amtsträger nur noch das Interesse der Gemeinschaft im Auge zu haben. Redlich kommentiert diesen Punkt drastisch: Er meint unter anderem, „daß die von Gneist aufgestellte Theorie vom ,obrigkeitlichen Selfgovernment' im Grunde genommen nichts anderes bezweckt als die Idealisierung der oligarchischen Klassenverwaltung des ancien régime Englands . . . " 5 6 Ge53 Gneist, Selfgovernment, S. 882. 54 Gneist, Selfgovernment, S. 882. 55 Gneist, Selfgovernment, S. 881. 56 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. 762 (Anm.).
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rechterweise muß allerdings auch gesehen werden, daß die englische Gentry in Gestalt der Konservativen Partei Disraelis die zweite Wahlreformbill (1867) aus eigenem Antrieb heraus initiierte und damit Macht an das einfache Bürgertum abgab. Redlich meint sogar, daß „die aristokratische Klasse Englands es verstanden (habe), immer mehr die großen Interessen der arbeitenden Klassen als Nationalinteressen anzusehen . . , " 5 7 Man wird in diesem Verhalten der Gentry eine auch sittliche Motivation nicht ausschließen können. Die eben genannte Definition des Gneistschen Selfgovernment-Begriffes ist unvollständig. Sie erweckt den Eindruck, Selfgovernment sei allein ein Element der Kommunalverwaltung. Tatsächlich ist Gneist auch vielfach in diesem Sinne verstanden worden. Sieht man jedoch genauer hin, so entdeckt man, daß Selfgovernment nicht nur die kommunale Ebene prägt, sondern auch die Ebene der Zentralverwaltung. Gneist schreibt: „In jeder ausgebildeten Verfassung ist das Centrum Abbild der Provinzial-, Kreis- und Orts-Verfassung, ebenso wie umgekehrt. Die Gestaltung des englischen Parlaments steht daher in untrennbarem Zusammenhang mit der Grafschafts- und Ortsgemeinde." 58 Das Unterhaus versteht Gneist als Vertretung „der sämmtlichen Communalverbände des Landes" 59 und einiger weniger bedeutender Corporationen (z. B. der Universitäten). Im Ergebnis führt die soziologische Identität der Inhaber der Kommunalämter und der Parlamentsmitglieder — beide Male spielt die Gentry die tragende Rolle — zum Übergreifen der Selfgovernments-Idee von der kommunalen Ebene auf die „Reichsebene". Pointiert gesagt, ist Selfgovernment die Herrschaft einer Klasse, in die aufzusteigen jederman durch entsprechende Leistung möglich ist. 60 Definiert man Selfgovernment als unbeschränkte Herrschaft von Adel und Gentry im Staat, kann man ihre Bedrohung durch eine bedeutsamer werdende öffentliche Meinung schon am Beginn des 19. Jahrhunderts feststellen. Zum Anfang vom Ende wurde die Erweiterung des Wahlrechts. Die SelfgovernmentDoktrin Gneists stimmte daher nicht mehr mit der englischen Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts überein, was er selbst später sehr bedauerte. Im Zuge der Wahlrechtsreformen gewannen andere Klassen immer stärkere Bedeutung und in diesem Zusammenhang wurden wichtige Verwaltungstätigkeiten von kommunalen Ehrenbeamten auf besoldete Wahlbeamte übergeleitet. Auch als dogmati57
Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. 213. 58 Gneist, Geschichte und heutige Gestalt der Aemter in England, Bd. I. S. 652. 59 Gneist, vorige Fußnote, S. 654. 60 Peter Landau formuliert, Selfgovernment sei für Gneist „Selbstverwaltung der bürgerlichen Gesellschaft unter Ausschaltung der Parteienherrschaft durch die vom König getroffene Auswahl »unparteiischer Männer4 aus dem Besitzbürgertum". Zu Recht weist Landau auch darauf hin, daß „unparteiisch" in der Terminologie Gneist geradezu ein Synomym für „konservativ" ist; s. Peter Landau, Schwurgerichte und Schöffengerichte in Deutschland, S. 275.
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sehe Begründung des Wahlrechts stand das Leistungsfähigkeitsprinzip, das im Selfgovernmentbegriff mitschwingt, von Anbeginn auf verlorenem Posten. Gneists Idee war bereits im Zeitpunkt ihrer Entstehung ein Anachronismus. Die Forderung „one man — one vote" und ihre sukzessive Realisierung hat Gneist sicherlich nicht nur mit Sorge erfüllt, 61 sondern hat seine Selfgovernment-Doktrin als Doktrin für das England seiner Zeit wie eine Seifenblase zerplatzen lassen. Dennoch enthalten seine Arbeiten über die englische Verwaltung eine Vielzahl wichtiger Aussagen und haben der deutschen Englandforschung einen mächtigen Impuls gegeben.62 Gneist ist, wie Josef Redlich sagte, der Pfadfinder, der den Gang durch den Urwald gebahnt hat. Der Reisende gedenke seiner auch dann dankbar, wenn er den Weg letztlich ganz anders fortsetze. 63
IV. Eine früh verstorbene Hoffnung: Eduard Fischel Zu diesen Reisenden gehörte Eduard Fischel. 64 In dessen „Verfassung Englands" 65 werden manche Vorarbeiten Gneists einbezogen, wenngleich noch nicht 61 Gneist hatte sich in einer seiner letzten Schriften für das Dreiklassenwahlrecht ausgesprochen: R. v. Gneist, Die Nationale Rechtsidee von den Ständen und das Preussische Dreiklassen-Wahlsystem, Berlin 1894. 62 Im Rahmen der Rezeptionsgeschichte wird unter anderen von Darmstaedter behauptet, daß der Begriff der Selbstverwaltung in der deutschen Staatslehre vom englischen Selfgovernment (in der Deutung Gneists) geprägt sei. Allerdings sei hiermit nur das „Dasein" des Selbstverwaltungsbegriffs, nicht das „Sosein" gemeint. Vergl. Friedrich Darmstaedter, Ist das englische selfgovernment als Grundlage der deutschen Selbstverwaltung anzusehen? In: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, München 1955, S. 535 f. Die Wirkung Englands auf den deutschen Selbstverwaltungsbegriff erst mit Gneist beginnen zu lassen, ist jedoch rechtshistorisch unvertretbar. Schon seit Vincke ist eine Rezeption zu beobachten, vergl. auch Eberhard Ramin, Die Geschichte der Selbstverwaltungsidee seit dem Freiherrn vom Stein, jur. Diss. Münster 1972. Darmstaedter verbrämt übrigens in der zweiten Hälfte seines Aufsatzes den englischen Freiheitsbegriff mit dem Selfgovernment und gibt dem letzteren in der Nachfolge Gneists einen eher unkritischen geheimnisvollen Schein. Eine Auseinandersetzung mit der Gneistkritik fehlt. 63 Josef Redlich, Englische Lokal Verwaltung, S. VIII. Gneists Bedeutung für die praktische Rezeption liegt besonders in seiner Wirkung auf die nationalliberale Partei. Friedrich Naumann meinte, „daß die nationalliberale Partei in ihrer größten und wichtigsten Periode (1866-1878) durch Gneist und andere mit dem englischen Parlamentarismus und der englischen Verwaltungspraxis bekannt gemacht wurde." S. Paul Heibeck, Wie das englische Volk sich selbst regiert. S. 159. 64 Eine Biographie über Fischel existiert nicht. Auch biographische Angaben in Sammelbiographien scheinen zu fehlen. — Sicher ist, daß Fischel 1863 auf einer Erholungsreise in Paris durch einen Unfall ums Leben kam; der Verleger teilt den Tod seines Autors in der Vorrede zur zweiten Auflage der Verfassung Englands mit. Betrachtet man Fischeis Publikationen, so zeigt sich zweierlei: Er war ein streitbarer und gebildeter Kommentator tagespolitischer Fragen und er kannte sich in der französischen und englischen Literatur, besonders der staatsrechtlichen, aus. Folgende politische Schriften meist geringeren Umfanges stammen von Fischel: Preußens Aufgabe in Deutschland. Rechtsstaat wider Revolution, Berlin 1859; Der entlarvte Palmerston, 2. A. Berlin 1860; Die Despoten als Revolutionäre. An das deutsche Volk, 1859; Deutsche Federn in Österreichs Doppeladler,
IV. Eduard Fischel
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überaus kritisch. Selbstverständlich finden sich im Banne Gneists Ausführungen zum Selfgovernment. Während Gneist diesem Begriff allerdings die Hälfte seiner umfangreichen Arbeit über „Das Englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht" widmete, rückt Fischel die Proportionen doch deutlich zurecht. Dem Selfgovernment widmet er weniger als ein fünftel seines einbändigen Werkes. Das ist immer noch ein erheblicher Umfang; jedoch überhöht Fischel das Selfgovernment nicht zu einer Doktrin oder zu einem grundlegenden politischen Postulat. Er unterscheidet deutlich die Verhältnisse der Kommunalverwaltung vor und nach der Reformbill von 1832. Im Zusammenhang mit der Reform wurde England zentralistischer, das heißt, die Einwirkung der Londoner Zentralregierung auf die lokalen Behörden verstärkte sich erheblich. Strukturell wurde dieser Effekt erreicht, indem einigen lokalen Ämtern Kompetenzen genommen wurden, indem Ämter nicht mehr von ehrenamtlich Tätigen, sondern von besoldeten Beamten versehen wurden, indem die Wahl der Amtsinhaber an die Stelle der früheren Ernennung trat. Mit der Erhöhung der Zahl der Wahlberechtigten erschien bald die Mittelklasse als politischer Faktor. Fischel betrachtet diese Inhaltsänderung des Selfgovernment im Gefolge Gneists zunächst als Negativum. 66 Aber später sieht er auch Positives: Mißbräuche in den Städten seien beseitigt und manches Nützliche sei geschaffen worden. 67 Überhaupt sieht Fischel im Gegensatz zu Gneist die Möglichkeit zur Rezeption des alten englischen Selfgovernments in Deutschland nicht. Die Begründung ist gewissermaßen eine soziologische: In Deutschland fehle eine der englischen Gentry entsprechende soziale Schicht, die das Selfgovernment zu tragen haben Berlin 1860; Gallischer Judaskuß. Antwort auf Edmond Abouts Schrift „Preußen im Jahre 1860", Berlin 1860. Mit seinem Werk über die Verfassung Englands konzentrierte Fischel seinen Witz und seine Bildung auf ein ernsthaftes wissenschaftliches Thema. 65 Eduard Fischel, Die Verfassung Englands, 1. A. Berlin 1862 (Ferdinand Schneider). 569 S. Die zweite Auflage erschien schon 1864; eine englische und eine russische Übersetzung existierten bereits. 66 „Der Geist der modernen Mittelklassen Englands versteht unter Selfgovernment vorzugsweise nur Theilnahme am Wahlrechte und Ausübung der eigentlichen Funktionen der Local ver waltung durch bezahlte Beamte. Grundsatz des alten Gemeinrechtlichen Selbstregiments ist dagegen Uebernahme von Ehrenämtern als Communallast. Zwischen Wählern und Gewählten besteht, da die neuen Aemter meistens geheim berathende Verwaltungsbehörden bilden, kein rechter Zusammenhang. Die Theilnahme an den Wahlen ist daher eine geringe und die Wahlen fallen meistens kleinen Coterien anheim. Dadurch werden die neuen Localbehörden discreditirt, und die Uebel, welche entstehen, werden nicht der mangelnden Selbstthätigkeit der Bürger zugeschrieben, sondern erzeugen nur den Ruf nach mehr Büreaucratie." S. Fischel, S. 261. Diese Stelle zeigt eine in sich nicht völlig stimmige Position. Es sei nur daraufhingewiesen, daß im Ernennungssystem überhaupt keine breitere Beteiligung der Bürger möglich war und daß zweifellos auch in dem alten System die Macht von Gruppen, Sippen oder, wie Fischel sagt, Koterien verteilt und ausgeübt wurde. 67 Fischel, S. 305.
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würde. 68 Dafür aber besitze Deutschland einen „wohlhabenden kleinen Freeholderstand," der sich für ein „democratisches Selfgovernment und eine auf dasselbe gestützte parlamentarische Verfassung" eigne. 69 Die preußische Kommunalverwaltung sei „trotz aller Reaction democratischer und . . . lebensfähiger als all die modernen englischen seit 1832 geschaffenen Institutionen." 70 Im Werk Fischeis findet sich ein bemerkenswertes systematisches Novum. Die Grundrechte werden in einer bisher nicht dagewesenen Art und Weise dargestellt. Der moderne Leser fühlt sich ein wenig an das deutsche Grundgesetz erinnert. Das erste der acht Bücher seines Werkes ist „Die Grundrechte der Engländer" überschrieben. In den dreizehn Kapiteln dieses Buches finden sich jeweils Beschreibungen einzelner Grundrechte, nämlich unter anderem Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, Unverletzlichkeit des Eigentums, Religionsfreiheit, Presseund Redefreiheit, Briefgeheimnis, Petitionsrecht, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Widerstandsrecht. In gewisser Weise steht Fischel hiermit in der Tradition Blackstones, der die Commentaries innerhalb seines römischrechtlichen Systems bekanntlich auch mit Ausführungen über die Freiheit beginnt. Allerdings findet sich eine umfangreiche Differenzierung in Einzelrechte weder bei Blackstone noch in einer der anderen bisher untersuchten deutschen oder deutschsprachigen Arbeiten. Fischel kommt im zweiten Buch zum englischen König. Die staatsrechtliche Beschreibung beginnt mit einer Reihe von Beispielen, die zeigen sollen, daß der König nach der Rechtslehre seit den Zeiten der Plantagenets durch „das Gesetz und dessen Organe" beschränkt gewesen sei. Auf dieser Grundlage verschafft er dem Leser Klarheit über den Charakter der Prärogative. Eine Darstellung des öffentlichen Rechts Englands müsse stets unterscheiden zwischen den theoretischen Rechten und der faktischen Macht des Königs. Die Prärogativen des Königs seien zwar noch vorhanden, aber Fischel stellt klar: „ . . . der eigentliche Schwerpunkt bei der Ausübung derselben ruht nun im Parlamente, und die Krone hat kaum noch wirkliche Macht genug, um ein wesentliches Hemmnis für Lords und Gemeine zu sein. 71 Diese Aussage findet sich bereits in Fischeis Einleitung, wonach man sich bei rechtshistorischer Betrachtung die Macht des Königs „hin68 „Freilich eine Gentry, welche fast die ganze Staatsverwaltung in der Grafschaft und im Parlamente unentgeltlich besorgt, haben wir in Deutschland nicht, und wenn ein Teil unseres kleinen Grundadels die englische Gentry copieren will, so will er nicht, wie der englische Friedesrichter, als Organ des Königs unter Aufsicht königlicher Gerichte die Verwaltung üben, sondern als kleiner König — gegen die Gesetze des allgemeinen Königs — auf seiner Scholle wirtschaften. Er will nicht die Staatsverwaltung, er will den Despotismus decentralisieren." S. Eduard Fischel, Die Verfassung Englands, S. 23 Fußnote 1). 69 Fischel, vorige Fußnote. 70 Fischel, vorige Fußnote. Fischel, S. 115. Er bezieht sich mit dieser Aussage auf die Ausführungen Stewards zur 23. Ausgabe des Blackstone von 1854.
V. Walter Bagehot
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sichtlich der factischen Ausübung der Prärogative als in entschiedenem Verfall begriffen" vorstellen müsse.72 Und er meint, „die Regierung des Staates besorgen, wenn auch nicht rechtlich, so doch factisch, nicht die Diener der Krone, sondern ein aus der Mehrheit des Parlaments gebildeter Ausschuß, das Cabinet." 73 Im dritten Buch behandelt Fischel die Staatsverwaltung und zeigt hier unter anderem, daß die Einrichtung des Ministerkabinetts zwar schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts vorhanden war, aber auch noch zu Fischeis Zeiten ohne eine Grundlage im geschriebenen Recht. 74 Im zentralen, fast 150 Seiten starken, siebten Buch über das Parlament wird dann unter anderem die parlamentarische Regierung im einzelnen erläutert, ihre Rekrutierung aus der Parlamentsmehrheit, die Ersetzung der Ministeranklage durch ein Mißtrauensvotum, die Stellung des Premiers. In moderner Manier überschreibt Fischel das 12. Kapitel dieses Buches „Die Parteien und die öffentliche Meinung". Das Parteiwesen wird durchaus kritisch, zuweilen leicht despektierlich beschrieben. Die Tatsache, daß die Opposition politische Positionen vertritt, nicht weil sie sie für richtig hält, sondern weil sie die Gegenposition zur Regierung markiert, scheint Fischel nicht zu gefallen. Fischel spricht vom „Out- und in Spiel". 75 Sehr kritisch sieht er auch den Einfluß der „Times" auf die öffentliche Meinung und damit letztlich auf die Regierung des Landes. Fischel schreibt in deutlichen Worten viel Erhellendes zum englischen Staatswesen nach der Mitte des 19. Jahrhunderts. Spätestens mit ihm konnte in Deutschland die falsche Vorstellung von einem starken englischen Monarchen nicht mehr ernsthaft vertreten werden. Die von ihm stets durchgehaltene Methode ist die rechtshistorische. Er beginnt die Beschreibung gegenwärtiger staatlicher Einrichtungen oft im Mittelalter und verfolgt sie bis in seine Zeit. Sein Buch wirkt noch heute erstaunlich modern. Fischeis früher Tod war ein erheblicher Verlust für die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht.
V. Ein englischer Klassiker in deutscher Übersetzung: Walter Bagehot76 Eine weitere Übersetzung aus dem Englischen erschien 1868: eine Reihe von Aufsätzen Walter Bagehots zur englischen Verfassung. 77 Bagehots Aufsätze 72 Fischel, S. 21. 73 Fischel, S. 21. 74 Fischel, S. 153. 75 Fischel, S. 505. 76 Walter Bagehot (1826-1877), Sohn eines Bankiers, war einer der brillantesten Journalisten des 19. Jahrhunderts; seine Themen betrafen Fragen der Politik und der Ökonomie. Er gab die National Review heraus und schrieb für The Economist. 1858 heiratete er die Tochter des Herausgebers. 1861 stieg er selbst zum Herausgeber des Economist auf. Schon in den 1850er Jahren wandte er sich verstärkt der politischen
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waren zunächst zwischen 1865 und 1867 in der „Fortnightly Review" publiziert und anschließend unter dem Titel „The English Constitution" in einer Einzelausgabe. Franz von Holtzendorff erkannte in Deutschland den Wert der Arbeit Bagehots und regte ihre Übersetzung an. In einem gewissen Sinne ist die Übersetzung von Bagehots Arbeit ein vorläufiger Endpunkt im deutschen Ringen um ein irrtumsfreies Bild von der englischen Verfassung. Bagehot bringt nichts wesentlich Neues, aber er bringt es pointiert, er spricht es deutlich aus. Bagehots Aufsätze haben den Charakter von Essays und ein starkes komparatistisches Element, nämlich ein durchaus breitangelegter Vergleich mit dem nordamerikanischen Staatsrecht. Schon im ersten Essay markiert Bagehot unmißverständlich die Positionen des englischen Staatsschiffs: die Exekutive ruhe im Kabinett, nicht im Monarchen; innerhalb der Legislative spiele das Unterhaus und nicht das Oberhaus die dominierende Rolle; die überkommene Gewaltentrennungsdoktrin sei falsch, denn ein wesentliches Element der englischen Verfassung könne „in der engen Vereinigung, in der fast gänzlichen Verschmelzung der vollziehenden und gesetzgebenden Gewalt gefunden werden;" 78 Bindeglied zwischen Legislative und Exekutive sei das Kabinett, das seine Machtbasis in der Parlamentsmehrheit und nicht im Monarchen finde und das sogar die Möglichkeit zur Auflösung des Parlaments habe, falls es Neuwahlen für opportun halte. In zwei Essays zur Monarchie zeigt Bagehot neben dem Übergang der Exekutive vom Monarchen auf den Premier, daß die Königin kein Veto habe 79 und beleuchtet den Begriff der Prärogative kritisch. Er weist darauf hin, daß viele Prärogativrechte in der Vergangenheit zwar einmal wirkliche Rechte des Monarchen waren, daß sie aber nunmehr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu großen Teilen durch Nichtgebrauch verjährt seien.80 Was bleibt dem dergestalt entblätterten englischen Monarchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch übrig an staatsrechtlicher Funktion? Bagehot Theorie zu. Sein Meisterwerk ist die Artikelserie „The English Constitution", 1867 als Buch publiziert, 1872 in zweiter Auflage: „A witty, realistic analysis of the developement of the constitution between the 1832 and 1866 Reform Acts, it differentiated between ,dignified' (Monarchy, Lords) and ,efficient' parts and argued, that succesful working depended not on ,checks and balances' but on the fusion of executive and legal powers in Cabinet..." Vergl. Jenny Uglow, Stichwort Bagehot, in: A. W. B. Simpson, Biographical Dictionary of the Common Law, London 1984, p. 28. 77 Walter Bagehot, Englische Verfassungszustände, übersetzt von Β. Henry-Lehmann und mit einem Vorwort von Franz von Holtzendorff, Berlin 1868 (C. G. Lüderitz'sche Verlagsbuchhandlung). 350 S. 7 » Bagehot, S. 12. 7 9 Bagehot, S. 88. Hier findet sich die drastische Formulierung, die Königin müsse sogar „ihr eigenes Todesurteil unterschreiben, wenn die beiden Häuser es ihr einstimmig vorlegen." 80 Bagehot geht nicht auf einzelne Prärogativrechte ein, mit Ausnahme des bereits erwähnten Vetorechts. Er meint: „Es ist wünschenswert, daß ein tüchtiger Rechtsgelehrter diesen Gegenstand einmal ausführlich in einem Buche bespreche . . ." S. Bagehot, S. 89.
V. Walter Bagehot
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beantwortet diese Frage in klassisch gewordener Weise: „Um die Sache kurz darzustellen, so hat der Souverän in einer constitutionellen Monarchie wie der unsrigen drei Rechte, das Recht um Rath gefragt zu werden, das Recht anzuregen und das Recht zu warnen; und ein hochsinniger und weiser König wird nach andern Rechten kein Verlangen tragen." 81 Für monarchistische Träumereien vom starken König läßt diese Aussage keinen Raum. Dies wird an gleicher Stelle vollends klar: „Vorausgesetzt der König hat Recht, und besitzt, wie viele Könige, die Gabe ausdrucksvoller Rede, so muß er nothwendig seinen Minister in geistige Bewegung bringen. Er wird ihn nicht immer in eine andere Richtung bringen können, immer aber wird er ihn stutzig machen." 82 Mit einigem Recht ist nunmehr zu fragen, ob England angesichts dieser Stellung des Monarchen überhaupt noch eine Monarchie sei. Bagehot beantwortet auch diese Frage: Die ursprüngliche Monarchie sei „dem Wesen nach in eine Republik verwandelt worden," man habe lediglich „den früheren Schein" der Monarchie beibehalten.83 England sei eine „verkleidete Republik." 84 Aus der Perspektive der deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht fällt auf, daß Bagehot sich an keiner Stelle eingehend mit dem sogenannten Selfgovernment beschäftigt. Allerdings läßt sich auf die Position Bagehots hierzu schließen. Bagehot spricht von „Local-Autoritäten", die „in dem Kampfe mit der Krone" eine bedeutende Funktion gehabt hätten.85 Im Zeitpunkt der gesicherten Niederlage der Krone, so läßt sich folgern, sind diese „Local-Autoritäten" ihrer alten Funktion beraubt. Bagehot sieht in Tocqueville den literarischen Urheber des „Cultus der Corporationen". 86 Tocquevilles Darstellung hält er insoweit für eine Übertreibung. Franz von Holtzendorff versteht diese wenigen Ausführungen Bagehots daher auch als eine Abweichung von der Selfgovernment-Doktrin Gneists.87 Nachdem Gneist das Selfgovernment zum goldenen Kalb gemacht hatte, mußten Bagehots Ausführungen für einiges Aufsehen in der deutschen Englandforschung gesorgt haben.
si Bagehot, S. 108. 82 Bagehot, S. 108. Man muß meines Erachtens kein Monarchist sein, um es für sinnvoll zu halten, einen Minister in geistige Bewegung zu bringen und ihn hier und da stutzig zu machen. Es fragt sich aber selbstverständlich, ob der Anstoß für diese ministerielle Aktivität von einem Monarchen kommen muß. Entscheidend scheint mir, daß er kommt. 83 Bagehot, S. 330. 84 Bagehot, S. 342. 85 Bagehot, S. 333. 86 Bagehot, S. 334. 87 „Aus dem letzten Aufsatz zeigt sich übrigens, daß Bagehot, abweichend von der durch durch Gneist vertretenen Auffassung, eine weitere Verminderung der corporativen Selbständigkeit der Gemeindeverwaltung für wünschenswerth erachtet und einer mehr centralisierenden Richtung zuneigt." S. Vorwort, S. XI.
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Im vorletzten Essay beschreibt Bagehot das, was wir heute Parlamentssouveränität nennen. Er läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß hiermit nicht die bekannte Trias aus Unterhaus, Oberhaus und König gemeint ist, sondern allein die Oberherrschaft des Unterhauses. 88 Mit einigem Interesse wird man in Deutschland Bagehots Ausführungen zum Arbeiterstimmrecht registriert haben. Er hält nämlich die „organisierte und intelligente Klasse der Arbeiter" für eine, „die sich für das Stimmrecht eignet, und es ist wünschenswerth, daß sie es erhalte." Diese Aussage findet sich ganz am Ende der Aufsatzsammlung, der Leser wird mit ihr in das vorwilhelminische Deutschland entlassen.
VI. Kreisgerichtsrath Assmann übersetzt Alpheus Todd Einen deutlichen Kontrast zu Bagehots Vorstellungen über die verfassungsmäßige Stellung des Königs und zur Frage des Stimmrechts bildet die ein Jahr später in Deutschland erschienene Arbeit von Alpheus Todd, dem Bibliothekar des kanadischen Repräsentantenhauses,89 was allerdings keinen nachweisbaren Einfluß auf seine Ansichten hatte. Er scheint angetreten zu sein, der verfassungsrechtlichen Position der englischen Königin wieder Gewicht zu geben. Zu diesem Vorhaben hatte ihn die Beobachtung herausgefordert, die englische Königin werde „fast nur noch als ein ornamentales Anhängsel des Staates betrachtet und ihre rechtmäßige Gewalt verspottet oder ignorirt." 90 Diese Meinung finde er als landläufige im Volk und ebenso unter den Gebildeteten. Todd verfügte über ein anscheinend unerschöpfliches Reservoir an Quellen und Literatur zum Staatsrecht und zur Staatspraxis Englands, speziell im 18. und 19. Jahrhundert. Er bedient sich dieses Materials in eklektizistischer Manier. Sein Axiom lautet, das politische System Englands basiere auf dem monarchischen Prinzip und er verlangt: „ . . . ein politisches System, welches auf das monarchische Prinzip begründet ist, muß dem Herrscher etwas mehr als blos 88 Bagehot, S. 282 f. 89 Alpheus Todd, Ueber die parlamentarische Regierung in England, ihre Entstehung, Entwicklung und praktische Gestaltung; aus dem Englischen übersetzt von R. Assmann, 1. Bd. Berlin (Julius Springer) 1869, 2. Bd. Berlin 1871. Alpheus Todd (1821-84) emigrierte als Zwölfjähriger mit seinen Eltern nach Kanada. Bibliothekar des kanadischen Parlaments wurde er bereits 1836, mehr als eine geringe Tätigkeit wird es zunächst nicht gewesen sein. Doch er erschöpfte sich keineswegs in mechanischer Bibliotheksarbeit. Bereits mit 25 Jahren schrieb er eine kleine Abhandlung über das Parlamentsverfahren, die zur Anleitung für die kanadischen Provinzparlamentarier gedruckt wurde. Sein großes zweibändiges Werk „Parliamentary Government in England" erschien 1867 und 1869. Vergl. Holdsworth, vol. XV., p. 277, 278. Holdsworth lobt das Werk als „the fullest and most learned of all the books on the constitution," wobei eine Beschränkung auf die Zeit Todds mitzudenken ist. 90 Todd, Bd. 1, S. VII.
VI. Assmann übersetzt Alpheus Todd
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ceremonielle Funktionen einräumen." 91 Es fällt auf, daß hiermit kein Istzustand beschrieben, sondern eine Forderung formuliert wird. Allerdings wagt er anschließend eine Beschreibung der englischen Verfassung, die seiner Forderung nahe kommt. Eine besondere Schwierigkeit bereitet ihm dabei die Art und Weise, in der die Königin ihren Funktionen nachgeht; denn „gerade ihre heilsamsten Verrichtungen" seien diejenigen, die „sich dem Auge der Welt entziehen."92 Eine entscheidende Frage für die Machtstellung des Monarchen erhob sich, nachdem die Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren bedeutungslos geworden war, bei der Ernennung der Minister, insbesondere des Premiers. Diese Frage ist von besonderem Gewicht, da der englische Monarch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unstreitig nicht mehr selbst exekutiv handelte, wenngleich er nominell Haupt der Exekutive war. Nach Todd wählt der König seine Minister frei, die beiden Häuser des Parlaments seien lediglich berechtigt, Rat zu erteilen. 93 Ernennt der König einen Minister gegen die Parlamentsmajorität, sei sie sogar verpflichtet, dem Minister Gelegenheit zu Bewährung zu geben. Allein der Entzug des königlichen Vertrauens zwinge einen ernannten Minister zum Rücktritt. Todd beruft sich zur Stützung seiner Ansicht auf zweierlei: auf staatsrechtliche Autoritäten und auf Episoden in der Geschichte der Ministerwahl. Zu den staatsrechtlichen Autoritäten gehören Lord Brougham, Lord Grey, Lord Derby. Die Vorstellung eines mit dürftigen verfassungsrechtlichen Kompetenzen ausgestatteten Monarchen provozieren regelmäßig recht barsche Formulierungen; Todd spricht von einer Staatsnull, von einem bloßen Automaten oder einer Puppe der jeweiligen Regierung oder (mit den Worten Napoleons) von einem „Cochon à l'engrais à la somme de trois millions par an," einem mit jährlichen drei Million gemästeten Schwein. Diejenigen Autoren, die den Einfluß der Krone auf das Kabinett für gering halten, erscheinen überhaupt nicht namentlich, sondern nur als „gewisse Autoritäten". 94 Die von Todd herangezogenen historischen Begebenheiten taugen bei Lichte betrachtet wenig, eine starke Machtstellung der Krone in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu begründen. Die Ernennung Pitts gegen eine feindselige Parlamentsmajorität durch Georg III. im Jahr 1783 zeigt dies exemplarisch. Fast hundert Jahre Verfassungsentwicklung war seither vergangen. Vor allem aber muß die Herrschergestalt Georgs III. als eine Ausnahme seit der Wahl des Hauses 91 Todd, Bd. 1, S. VII. 92 Todd, Bd. 1, S. VII. 93 Todd, Bd. 1, S. 176 ff. 94 Todd benutzt ein Zitat Broughams: „Manche behaupten —ja es ist dies bei gewissen Autoritäten von nicht geringem Range die herrschende Ansicht —, daß der Souverain, nachdem er seine Minister gewählt habe, denselben die gesammte exekutive Gewalt übertrage." S. Todd, Bd. 1, S. 176.
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Hannover, also seit 1714, gesehen werden. Weder seine beiden hannoveraner Vorgänger noch seine Nachfolger hatten denselben Drang zur Herrschaft oder dieselbe Befähigung. Gerechterweise muß allerdings auch gesagt werden, daß Todd die englische Verfassung in manchen Punkten durchaus zutreffend schildert. So sieht er später, daß der Premierminister die maßgebende Stimme bei der Auswahl seiner Ressortminister hat. 95 Eine gewisse Spannung zu vorherigen Aussagen ist nicht zu übersehen. Wenngleich seine Position in Fragen der königlichen Prärogative die eines parteiischen Torys ist, bekennt er sich ohne Bedenken dazu, daß ein konstitutioneller König durch die Gesetze gebunden sei und keineswegs regieren dürfe, wie es ihm beliebt, sondern stets nur in Übereinstimmung mit Verfassungsrecht und -praxis. Alpheus Todd spürte in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts sehr stark diejenigen englischen Kräfte, die eine weitere Ausdehnung der Wahlberechtigung verlangten, bis hin zu einem allgemeinen Stimmrecht. Er sieht die Konsequenz mit aller Deutlichkeit: „Da die arbeitenden Klassen die große Majorität . . . der Bevölkerung bilden, so würde eine solche Verfassung denselben einen unwiderstehlichen Einfluß gewähren." 96 Von diesen Klassen glaubt er, daß sie ohne jede politischen Einsicht seien und allein auf ihren unmittelbaren Vorteil bedacht, ohne das Ganze zu bedenken. Daß der Tory Todd die Erweiterung des Wahlrechts für einen Fehler hielt, liegt auf der Hand. Ihm stand aber klar vor Augen, daß die Entwicklung nicht aufzuhalten war. In diesem Zusammenhang stellt er eine Reihe von Vorschlägen Lord Greys vor, die im Ergebnis alle darauf hinauslaufen, dem Establishment ein festes Sitzkontingent im Unterhaus zu garantieren. Wenngleich Todd seine politischen Positionen durchaus vehement vertritt, findet sich in seiner Arbeit eine große Zahl von nützlichen Hinweisen zur englischen Verfassung. Gerade sein politisches Engagement macht die beiden Bände über die parlamentarische Regierung in England zu einem eindrucksvollen Zeitdokument konservativen Denkens. Die Nützlichkeit seines Werkes für die Fragen der Parlamentspraxis stand von Anfang an völlig außer Frage. 97 Damit erfüllte er die selbstgestellte Aufgabe, kanadischen Staatsmännern am englischen Muster das Funktionieren der parlamentarischen Regierungsweise vorzuführen.
95 Todd, Bd. 1, S. 193. 96 Todd, Bd. 1, S. 14. 97 So schrieb 1867 die „Edinburgh Review", das Werk sei „one of the most useful and complete books which has ever appeared on the practical operation of the British Constitution." Vergl. Holdsworth, vol. XV., p. 278.
VIII. Zwei populärwissenschaftliche Darstellungen
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V I I . Homersham Cox, Barrister at Law: der letzte Tanz der Gewaltenteilung Appellationsgerichtsrat H. A. Kühne übersetzte „Die Staatseinrichtungen Englands" von Homersham Cox. 98 Das englische Original datiert von 1863. Gneist hatte durch manchen Hinweis übrigens zur staatsrechtlichen Aufklärung des Übersetzers beigetragen. Das wird auch notwendig gewesen sein. Denn die Arbeit Cox' verschleiert durchaus das eine oder andere. Merkwürdig ist schon der Ansatz. Montesquieu, de Lolme und Blackstone werden herangezogen um zu beweisen, daß das tragende staatsrechtliche Prinzip der englischen Verfassung die Gewaltentrennung sei. Demgemäß unterteilt Cox seine Arbeit in drei Bücher: die gesetzgebende Gewalt, die richterliche Gewalt, die Administrativ-Gewalt. Er beschreibt zutreffend die Rechtsentwicklung, die dazu führte, daß das Kabinett sich aus der jeweiligen Parlamentsmehrheit rekrutierte. 99 Er bleibt aber die Antwort auf die nun naheliegende Frage schuldig, wie es vor diesem Hintergrund mit der Trennung von Legislative und Exekutive steht. Cox benutzt letztlich einen in seiner Zeit bereits überwundenen Ansatz. Von rezeptionsgeschichtlichem Interesse ist die Motivation des Übersetzers zu seiner nicht geringen Tätigkeit. Ihn fasziniert die englische Verbindung von Fortschrittsgeist mit Ehrfurcht vor dem Überlieferten und er sieht hierin die Grundlage „einer gesichterten politischen Freiheit und zu einer sonst nirgends erreichten Stufe der wirtschaftlichen Entwickelung." 100
V I I I . Zwei populärwissenschaftliche Darstellungen und eine bedeutende Suffragette Der Jesuit Victor Cathrein, katholischer Staatsphilosoph und Naturrechtler, belehrte 1881 seine Leser über „die der englischen Constitution eigenthümliche parlamentarische Regierungsweise". Weil die Mitglieder des Kabinetts letztlich vom Unterhaus bestimmt würden, sei von einer Trennung von Administrativgewalt und gesetzgebender Gewalt nicht zu reden. 101 Genauso wie diese Aussage wahr ist, ist die Stellung des Königs falsch akzentuiert dargestellt. Wenn er meint, der König habe „das Recht, das Parlament einzuberufen, zu vertagen und aufzulösen, wann es ihm gefällt," 102 liegt er für 98 Homersham Cox, Die Staatseinrichtungen Englands, Berlin 1867 (Julius Springer). Übersetzt von H. A. Kühne. 661 S. 99 Cox, S. 220 f f . 100 Kühne, in: Cox, S. III. ιοί Victor Cathrein, Die englische Verfassung, Freiburg 1881 (Herder), S. 74, insgesamt 123 S. 102 Cathrein, S. 100. 7 Pöggeler
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das ausgehende 19. Jahrhundert völlig falsch. Die Versuche des Autors, einen starken Monarchen zu zeichnen, führen ihn alsbald in ein hübsches Paradoxon: Der König sei berechtigt, sich frei seine Minister zu wählen; da jedoch das Unterhaus indirekt den Premier bezeichne „und dieser die übrigen Stellen des Cabinets mit Mitgliedern seiner Partei besetzt" sei „dieses Recht ein bloß nominelles." 103 Aus Cathreins Schriftchen wird bald der tiefere Grund seiner schrägen Darstellung deutlich. Er ist ein Gegner der englischen Liberalen und sucht in England Parallelen zur Katholischen Kirche aufzudecken. Und da sich der Jesuit einen machtlosen Papst nicht vorstellen kann, darf auch der englische König nicht ohne eine veritable Machtposition sein. Es verwundert daher nicht, wenn der Autor den Engländern ein durch die Industrialisierung hervorgerufenes sittlich verkommenes Proletariat bescheinigt und für die damit verbundenen Gefahren für den englischen Staat ein vermeintlich probates Heilmittel empfiehlt: England müsse katholisch werden! — Das Buch bleibt qualitativ deutlich hinter Cathreins anderen Werken 104 zurück. Es erhebt allerdings auch nicht den Anspruch der Wissenschaftlichkeit, sondern scheint mehr auf eine einfachere katholische Leserschaft zugeschnitten. Eine zweite Auflage des Cathreinschen Werkes kam, im Hinblick auf seine sonst bedeutenden Leistungen: glücklicherweise, nicht zustande. Ganz anders der Englandband des Oberrealschulprofessors Gustav Wendt. 105 Er erlebte zwischen 1892 und 1927 die stattliche Zahl von sieben Auflagen. Das Buch stellt eine Art politischer Landeskunde dar und ist ein sehr brauchbarer Einstieg in die Englandkunde. Die englische Verfassung wird ohne Verzerrungen im wesentlichen zutreffend, allerdings holzschnittartig, gezeichnet.106
103 Cathrein, S. 102. 104 Victor Cathrein (1845 im Wallis geboren, gestorben 1931 in Aachen) wurde 1863 Mitglied der Gesellschaft Jesu, studierte Theologie und Philosophie. Nach der Vertreibung der Jesuiten in Deutschland beendete er seine Studien in den Niederlanden und England. Cathrein lehrte Philosophie im Rahmen des Ordens. Bedeutsam war er als Moralphilosoph und als wichtigster Protagonist der am Ende des 19. Jahrhunderts als zartes Pflänzchen wiederauferstandenen Naturrechtslehre, die angesichts des übermächtigen Positivismus keineswegs en vogue war. Vergl. die stellenweise etwas enthusiastische Kurzbiographie von Albert Hartmann, Stichwort: Cathrein, in: Neue Deutsche Biographie, hg. von der Histor. Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 3, S. 176; zu Cathreins Bedeutung in der Entwicklung des Naturrechts: Kristian Kühl, Stichwort: Naturrecht (neuere Diskussion), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 6, Basel und Stuttgart 1984, Spalten 609 ff, 105 Gustav Wendt, England. Seine Geschichte, Verfassung und staatliche Einrichtungen, Leipzig 1892 (O. R. Reisland). 350 S. Die Zitate im Folgenden stammen aus der 2. A. 1898. 106 Die zentralen Aussagen zum Verhältnis zwischen Parlament, König und Kabinett sind die folgenden: „Theoretisch ruht die Exekutive in der Hand der Königin; ihr zur Seite steht der Privy Council . . . ; aber seit 1688 hat sich eine ganz andere Praxis
VIII. Zwei populärwissenschaftliche Darstellungen
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Wendts Selfgovernment-Begriff weicht von dem Gneistschen signifikant ab. Er definiert Selfgovernment als die „Unabhängigkeit der Grafschaftsverwaltung und der städtischen Verwaltung von der Centraileitung." 107 Das Buch enthält eine Bibliographie, an der deutlich wird, daß die deutsche Englandforschung im ausgehenden 19. Jahrhundert mit völliger Selbstverständlichkeit im wesentlichen englischsprachige Quellen nutzte. Es verwundert daher nicht, wenn Wendt dem Leser am Ende der Beschreibung des englischen Wahlrechts im 19. Jahrhundert die Forderung der englischen Radikalen präsentiert: „One man — one vote." 108 In der Tat scheint die Entwicklung des englischen Wahlrechts in Deutschland von Interesse gewesen zu sein. Die erste deutsche Juristin, die bedeutende Frauenrechtlerin und Suffragette (in dem positiven Sinne von ius suffragii) Anita Augspurg 109 beschäftigte sich in ihrer Dissertation mit den Wahlen zum englischen Parlament im Mittelalter und der frühen Neuzeit. 110 Ihr Ausgangspunkt ist der Begriff der Volkssouveränität, die vom absolutistischen Prinzip nur vorübergehend überlagert worden sei. Anita Augspurgs Engagement für das Frauenwahlrecht scheint durchaus auch von den Verhältnissen in England motiviert gewesen zu sein.
herausgebildet. Nicht nur die ganze Legislative, auch die Exekutive, ja sogar ein Teil der Justiz werden thatsächlich vom Parlament und zwar vorwiegend vom Hause der Gemeinen ausgeübt, neben dem die Krone, das Herrenhaus, selbst die Minister in gewissem Sinne nur als Dekoration erscheinen. Nur theoretisch hat die Krone das Recht, den obersten Verwaltungsbeamten, den Premiermister, zu ernennen. Hat bei Neuwahlen die bisher in Opposition befindliche Partei die Majorität erhalten, so muß die Krone den Führer der Opposition . . . mit der Bildung eines neuen Ministeriums beauftragen; es ist ziemlich gleichgültig, ob die für die einzelnen Posten vorgeschlagenen Personen der Königin genehm sind oder nicht; entscheidend ist, wie das Unterhaus darüber denkt," s. Wendt, S. 132. An anderer Stelle heißt es: „Theoretisch hat die Krone eine sehr weitgehende Prärogative, die aber thatsächlich durch die Macht des Parlamentes so gut wie Null und auf einen gewissen Schein beschränkt ist. Sie kann manches thun und lassen, was kein Geld kostet . . . ; aber nicht einmal ihre Minister kann sie auswählen, noch einen Richter oder Bischof ernennen, ohne den Mister, d. h. den Mandatar des Parlamentes zu fragen," s. Wendt, S. 166. 107 Wendt, S. 150. ίο» Wendt, S. 115. 109 Anita Augspurg (1857-1943) wurde 1897 an der Universität Zürich promoviert und sah im Frauenstimmrecht nicht das Ziel ihrer Tätigkeit, vielmehr eine erste Voraussetzung für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Zu Leben und Werk: Ute Gerhard, Anita Augspurg (1857-1943), Juristin, Feministin, Pazifistin, in: Streitbare Juristen, hg. Krit. Justiz, 1. A. (Nomos) 1988. no Anita Augspurg, Über die Entstehung und Praxis der Volksvertretung in England, in: Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik, hg. von Georg Hirth und Max von Seydel, Jg. 1898, S. 499 ff. Ob einer der Herausgeber oder einer der „zahlreichen Fachmänner" (wie es in der Titelei heißt), die bei der Herausgabe mitgewirkt haben, für die Aufnahme der Dissertation in die Annalen sorgte, ist nicht ersichtlich. 7*
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IX. Josef Redlich und Julius Hatschek: die wichtigsten deutschsprachigen Kenner der englischen Verfassung am Beginn des 20. Jahrhunderts Redlich 111 und Hatschek schrieben nach langjährigen Forschungsarbeiten umfangreiche Werke über das englische Staatsrecht, dem sie sich etwa zeitgleich zuwandten. Beide hielten sich wiederholt auf der Insel auf und kannten die englische staatsrechtliche Literatur. Sie hatten Kontakt zu einer Reihe von Personen, die im englischen Staatsleben und der Wissenschaft eine Rolle spielten. Beide bedanken sich bei Sir Courtenay Ilbert, 112 dem Clerk of the House of Commons, dem Redlich sein Werk über die Geschäftsordnung sogar widmet. Daß beide Forscher den Umgang mit Ilbert gesucht haben, ist nicht verwunderlich, gehörte es doch zu dessen Aufgaben als Clerk des House of Commons, einen wichtigen Teil der Geschäftsordnungsregeln des Parlaments, nämlich die sogenannten Standing orders, zu sammeln und in regelmäßigen Abständen zu veröffentlichen. Betrachtet man Tiefe und Intensität ihrer Forschung, so wird man Redlich und Hatschek innerhalb der deutschen Wissenschaft als Nachfolger Gneists bezeichnen dürfen. Redlichs große Werke füllen allerdings nicht das gesamte Spektrum des englischen Staatsrechts. Er behandelt die englische Lokalverwaltung 113 und den englischen Parlamentarismus. 114 Seine Ausführungen im Werk über die englische Lokalverwaltung sind noch heute mit Gewinn zu lesen, besonders seine konsequente Beschreibung der staats111 Der Österreicher Josef Redlich ( 1869 -1936) studierte in Wien, Leipzig und Tübingen Geschichte und Jura. 1901 Privatdozent, 1907 a. o. Prof. für Staatsrecht und Verwaltungslehre in Wien. Er war von 1907 bis 1918 für die Fortschrittspartei Mitglied im österreichischen Abgeordnentenhaus, 1918 Finanzminister im Kabinett Lammasch. Der angesehene Parlamentarier wurde im Zuge des Ersten Weltkrieges Pazifist. 1926 folgte er einem Ruf nach Harvard (Professur für vergleichendes Staats- und Verwaltungsrecht). Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung, als er im Jahre 1931 zum zweiten Mal als österreichischer Finanzminister im Kabinett Buresch diente, lehrte er dort bis 1935. Vergl. New Century Cyclopedia of Names, ed. by Clarence L. Barnhart, vol. III, p. 3320; außerdem Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd. IX, Stichwort: Redlich. 112 Sir Courtenay Peregrine Ilbert (1841 -1924) war als Beamter maßgeblich beteiligt am Statute Law Revision Act 1881 und am Civil Procedure Act 1883. Als englischer Spitzenbeamter in Indien zog er sich dort den Zorn der Europäer zu als er vorschlug, die Jurisdiktion der indischen Magistrate auf Europäer zu erstrecken („Ilbert Bill"). Nach seiner Rückkehr von Indien hatte er verschiedene Posten in Londoner Ministerien, von 1902 bis 1921 war er Clerk of the House of Commons. Gegenstand seiner literarischen Produktion war die Regierung Indiens, das Gesetzgebungsverfahren und Verfassungsgeschichte. Vergl. Gerry Rubin, Stichwort Ilbert, in: Simpson, p. 268. 113 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer gegenwärtigen Gestalt, Leipzig (Duncker & Humblodt) 1901. 835 S. 114 Josef Redlich, Recht und Technik des Englischen Parlamentarismus, Die Geschäftsordnung des House of Commons in ihrer geschichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen Gestalt, Leipzig (Duncker & Humblodt) 1905. 881 S.
IX. Josef Redlich und Julius Hatschek
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rechtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des englischen 19. Jahrhunderts unter dem Aspekt der Demokratisierung. Redlich versteht Lokalverwaltung als Übersetzung des englischen terminus technicus des local government. Dieser falle zusammen mit dem deutschen Begriff der inneren Verwaltung. Redlich meint auch, der Begriff local government sei mit dem deutschen Begriff der Kommunal Verwaltung nicht zu übersetzen. Das wesentliche Charakteristikum der englischen Lokalverwaltung sei, „daß alle . . . Funktionen des Staates . . . zur Erhaltung der Ordnung, zum Schutze und der Förderung der Interessen des nationalen Gemeinlebens . . . von den Localities, den durch lokalen Zusammenhang natürlich gegebenen Verbänden der Staatsbürger innerhalb der dadurch bezeichneten Territorien, geführt wird." Ziel dieser Tätigkeit sei „die Verwirklichung der von der souveränen Staatsgewalt in Form von Parlamentsakten gegebenen Aufträge und verliehenen Befugnisse." 115 Von zentraler Bedeutung ist Redlich der Gegensatz zwischen örtlicher und zentraler Tätigkeit der Staatsorgane. Und das Entscheidende sei, „daß in England alle staatliche Verwaltung des Innern lokale Verwaltung ist und sein muß, d. h. Verwaltung, die von den natürlich gegebenen, örtlichen Verbänden der Staatsbürger geführt wird. Der Staat als souveräne Centralgewalt kann in England nach diesem Grundprincipe der Verfassung nur durch diese Medien lokal administrieren und nicht durch direkte Willensträger." 116 Trotz den Veränderungen in der englischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts sieht er das Grundprinzip nicht angetastet. Dennoch verhehlt er den Unterschied nicht. Im 18. Jahrhundert sieht er den lokal ansässigen Justice of the Peace als zentrale Figur der gesamten Verwaltungstätigkeit, nicht gegenüber einer Zentralbehörde weisungsgebunden und seine Entscheidungen nur im Rechtsmittelwege anfechtbar. Redlich beantwortet die Frage, warum das Parlament oder das Kabinett sich die Weisungsbefugnis gegenüber den lokalen Verwaltungsträgern (im wesentlichen der Justices of the Peace) nicht zugelegt habe, mit einem soziologischen Argument: „Die Identität der in der Lokalverwaltung und im Parlamente herrschenden Klasse ließ bei dieser selbst das Bedürfnis nach einer Kontrolle in der Lokalverwaltung gar nicht aufkommen." 117 Mit dieser Situation bis zum 18. Jahrhundert kontrastiert Redlich die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, dessen Ergebnis eine qualitativ völlig neuartige Stärke der englischen Zentralgewalt war. 118 Organisatorisches Instrument zur 115
Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. XX f. Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. XXI (Hervorhebung von Redlich). 117 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. 614. Er schreibt weiter: „Durch die dem ordentlichen Gerichte zustehende Befugnis, jeden Verwaltungsakt auf seine Legalität hin zu prüfen und gleichzeitig durch die längst feststehende völlige Unabhängigkeit des Richtertums war die verfassungsmäßige Kontrolle aller Ausübung der öffentlichen Gewalt vermittelst der gemeinrechtlichen Judikatur gesichert, der die Handlung eines Richters ebenso wie jeder Akt eines Friedensrichters unterworfen war." •is Redlich formuliert pointiert: „Das, was seit dem ersten Drittel des XIX. Jahrhunderts den Anstoß gab zur Schaffung einer wirksamen Centralverwaltung, d. h. einer
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Überwachung und Anleitung der lokalen Verwaltungsträger war eine Einrichtung auf Ministeriumsebene, das Local Government Board. Auf der anderen Seite blieb jedoch der größte Teil der gesamten Verwaltungstätigkeit eine Aufgabe, die von den lokalen Verwaltungseinheiten ausgeübt wurde. Die Struktur dieser lokalen Verwaltungseinheiten hat sich im 19. Jahrhundert ebenso geändert, wie die Stellung der Zentralgewalt. Die Machtstellung der Friedensrichter wurde erheblich beschnitten. Waren sie ursprünglich Verwaltungsorgane und Justizorgane in einer Person, verblieb ihnen am Ende der Reformen nur noch ihre Justizfunktion. Da die Friedensrichter ursprünglich die zentralen Figuren der gesamten Verwaltung auf lokaler Ebene waren, konnten sie in ihrer Verwaltungsfunktion natürlich nicht ersatzlos wegfallen. Sie wurden ersetzt durch ein neues Organe innerhalb der Gemeindeordnung. Dieses Organ ist innerhalb der Stadtgemeinde, die hier beispielhaft betrachtet werden soll, das council of the borough. Das Council war „der alleinige Träger aller der Stadtgemeinde vom Gesetz verliehenen Vollmachten und Befugnisse." 119 Es bestand aus dem mayor, den aldermen und den councillors. Letztere wurden von allen Wahlberechtigten der Stadt für drei Jahre gewählt. Sodann wählten jene councillors die aldermen und am Ende wählten councillors und aldermen den mayor. Das council of the borough bildete eine Reihe von Ausschüssen, die sich mit speziellen Verwaltungsmaterien zu beschäftigen hatten. Councillors, aldermen und mayor waren Ehrenbeamte. Die konkrete Ausführung der Verwaltungstätigkeit oblag den bezahlten Gemeindebeamten, an deren Spitze der town clerk 1 2 0 stand. Er vollzog die Beschlüsse des town council. Redlich äußert sich zum Einfluß der Zentralgewalt: „Das Gesetz giebt dem Town Council völlig freie Hand betreffs Anstellung und Entlassung der einzelnen Beamten, betreffs Besoldung und Organisation der ganzen Beamtenschaft. Die Stadtgemeinde wird in dieser Hinsicht in keiner Weise seitens der Centralgewalt beschränkt. . . Nur zwei Beamtungen werden als obligatorisch vom Gesetze . . . auferlegt . . . : es sind das der Town Clerk und der Treasurer." 121 effektiven Beeinflussung und Kontrolle der unmittelbar zur Durchführung der Verwaltungsgesetze berufenen Faktoren, war im letzten Grunde der Zusammenbruch der historischen Verwaltungsweise Englands vor den unabweisbaren Bedürfnissen der modernen industriellen Gesellschaft..." (Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. 615.) Die hier angesprochenen Bedürfnisse sind insbesondere die Armenverwaltung und das öffentliche Gesundheitswesen. n9 Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. 269. 12 0 „Der Town Clerk stellt ferner nach außen hin die Spitze der kommunalen Beamtenschaft vor . . . Die Town Clerks sind wie alle Beamte des Council during the Pleasure of the Council angestellt, d. h. mit dreimonatlicher Kündigungsfrist kündbar; gewöhnlich ist ihre Stellung aber praktisch so gut wie lebenslänglich. Infolge davon sind sie häufig das stabilste Element der Gemeindeverwaltung. Der Town Clerk, der oft jahrzehntelang sein Amt bekleidet, ist die lebendige Verkörperung der Tradition der Gemeindeverwaltung und besitzt daher beim Council das größte Ansehen." S. Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. 339. 121 Redlich, Englische Lokal Verwaltung, S. 336.
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Es wurde bereits erwähnt, daß Redlich das Prinzip der englischen Lokal Verwaltung durch die Reformen des 19. Jahrhunderts nicht angetastet sah. Diese Aussage gilt auch im Hinblick auf die Sanitätsgesetzgebung (man spricht auch von publichealth-Gesetzgebung). Im Zuge dieser Gesetzgebung wurden spezielle Verwaltungseinheiten geschaffen, denen ein ganzer Strauß von Aufgaben oblag. Die Begriffe Sanitätsakte und public health sind hier zunächst ein wenig irreführend. Denn sie umfassen unter anderem Aufgaben der Baupolizei, des Straßen- und Wegerechts, darüber hinaus die Beleuchtung der Gemeinden, das Friedhofswesen, die Trinkwasserversorgung und Fragen der Kanalisation. 122 In diese Bereiche konnte die Londoner Zentralregierung auf mannigfaltige Art hineinregieren, beispielsweise hatte sie das Recht, die wichtigeren Sanitätsbeamten zu ernennen und das Dienstverhältnis im einzelnen zu regeln. Redlich formuliert diesen Aspekt der Lokal Verwaltung behutsam: „Jene Städte Verwaltung nun, welche durch die Sanitätsgesetzgebung geschaffen worden ist, unterscheidet sich von der eigentlichen Municipalverwaltung vor allem dadurch, daß sie der Centraibehörde einen größeren Spielraum zur Entfaltung ihrer Oberaufsicht giebt." 123 Einen ebenfalls großen Spielraum zur Entfaltung ihrer Oberaufsicht hatte die Zentralregierung sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auch im Bereich des Armenwesens zugelegt; diese Entwicklung begann mit dem Poor Law Amendment Act von 1834, 124 ein Gesetz, das die vom Friedensrichter ernannten overseers of the poor abschaffte und durch örtlich gewählte guardians of the poor ersetzte. Diese wurden von der Zentralregierung durch die poor law commissioners überwacht. 125 Berücksichtigt man darüber hinaus das Ersetzen der Friedensrichter durch das council of the borough und die Ausdehnung des Wahlrechts seit 1832, ergibt sich am Ende des 19. Jahrhunderts ein völlig anderes Bild der englischen Lokalverwaltung als im 18. Jahrhundert. Der unwiderstehliche Machtanspruch der gentry ist verdrängt durch die Macht der Wahlberechtigten. Vor diesem Hintergrund scheint es nicht ohne weiteres verständlich, weshalb Redlich die Lokalverwaltung in ihrem Wesen für unangetastet hält. Letzten Endes ist sein Argument wohl ein völlig formales: Die Verwaltungsarbeit wird im wesentlichen auf lokaler Ebene erbracht. Aber man kann mit Recht einiges gegen Redlichs Kontinuitäts-These einwenden. Abschließend bemerkt, fällt aus heutiger Sicht besonders auf, daß Redlich der sich bereits deutlich abzeichnenden Machterweiterung der Zentralregierung nicht mehr Bedeutung beigemessen hat, zumal er das Verhältnis zwischen den lokalen Verwaltungseinheiten und den zentralen Staatseinrichtungen durchaus für ein 122 Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. 520. 123 Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. 531. 124 4 & 5 Will. IV. c. 76 125 Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Grossbritannien, Bd. II, Berlin (Springer) 1967, S. 135.
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wesentliches hält. Er wußte auch, daß der Wirkungskreis der Gemeinden letztlich völlig in der Hand des souveränen Parlaments lag. Aber man darf wohl nicht vergessen, daß Redlich als Kontrastprogramm das Bild der preußischen Gemeindeordnung deutlich vor Augen hatte. 126 Vor dem Hintergrund dieses ausgeprägten preußischen Zentralismus mußte die tatsächliche Beteiligung der englischen Bürger an der Lokalverwaltung dem Demokraten Redlich als besonders wünschenswert erscheinen und ihn die Gefahren des Zentralismus, die auch in England lauerten, übersehen lassen. Vielleicht spielt auch die nicht zu verkennende Sympathie Redlichs für die demokratische Entwicklung in England eine nicht unwesentliche Rolle. Denn die Machtbeschneidung der lokalen, von Wählern in Gestalt von councillors mitbestimmten Verwaltungseinheiten, muß aus demokratischer Perspektive sicherlich als Rückschritt gesehen werden. Da Redlich das englische 19. Jahrhundert aber durch Demokratisierung gekennzeichnet sieht, paßt die Entwicklung in der Lokalverwaltung nicht in sein System. Zweifellos ein Stück Palmströmscher Logik, nach der nicht sein kann, was nicht sein darf. 127 Man wird sagen müssen, daß Redlich die englische Lokalverwaltung etwas zu stark durch die Brille der Demokratisierungsidee gesehen hat. Am Ende des 19. Jahrhunderts tauchte in der deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht ein weiterer Gegenstand auf: das Parlaments verfahren. Den deutschen Lesern lagen die Oppenheimerschen Übersetzungen der Werke Thomas Erskine Mays vor. Die erste umfassende Arbeit eines deutschsprachigen 1 2 8 Wissenschaftlers ist das große Werk Josef Redlichs über die Geschäftsordnung des House of Commons (1905). 129 In einem bibelstarken Band schildert Redlich die Geschäftsordnung nach der rechtshistorischen Methode. Redlichs Motivation scheint eine doppelte zu sein: Zum einen geht es ihm darum, eine Lücke in der deutschen Staatsrechtswissenschaft zu schließen, zum anderen soll das Werk das deutsche Mißtrauen gegen den Parlamentarismus mindern. Denn er meint: „ . . . nirgends hat der Parlamentarismus bisher so schwer Wurzeln gefaßt, nirgends sich auch sein Geist so wenig in die volksmäßige Anschauung 126
Redlich, Englische Lokalverwaltung, S. 309 f. Christian Morgensterns literarischer Held Palmström war als Fußgänger Opfer eines Autounfalls geworden, weil sich das Auto mit zu hoher Geschwindigkeit auf den Bürgersteig verirrte, auf dem Palmström spazierte. Zweifellos war das Befahren des Bürgersteiges verboten. Die Wirklichkeit wollte sich aber offenbar nicht an dieses Verbot halten. Diese Situation gibt Palmström Anlaß, über das Verhältnis von Sein und Sollen zu räsonieren. Er entschließt sich, dem Sollen den Vorrang einzuräumen und seinen Krankenhausaufenthalt als Hirngespinst abzutun: „Weil, so schließt er messerscharf, / nicht sein kann, was nicht sein darf." 128 Die Zurückhaltung, die sich aus heutiger Sicht aufdrängt, Redlich unter die deutschen Wissenschaftler zu subsumieren, hat er selbst nicht gehabt. Er beschreibt die deutsche Staatslehre als „unsere Wissenschaft". Damit reiht er sein Werk also ein in die deutsche Staatswissenschaft. 129 Josef Redlich, Recht und Technik des Englischen Parlamentarismus. Die Geschäftsordnung des House of Commons in ihrer geschichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen Gestalt, Leipzig (Duncker & Humblot) 1905. 881 S. 127
IX. Josef Redlich und Julius Hatschek
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vom Staate eingelebt wie auf diesem Boden." 130 Man wird diese Schwierigkeiten des Parlamentarismus im Deutschland jener Jahre auch im Zusammenhang mit anglophoben Tendenzen sehen müssen, wenngleich die wesentlichen Ursachen woanders zu suchen sind. Die Bedeutung des Parlamentsverfahrens kommt auch im Werk des Göttinger Staatsrechtlers Julius Hatschek zum Ausdruck. Im Auftrag des Reichstages verfaßte er „Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches" (1915). Der Schüler Georg Jellineks war zuvor besonders durch seine Darstellungen des englischen Staatsrechts hervorgetreten. In den Jahren 1905 und 1906 erschien sein zweibändiges „Englisches Staatsrecht", 131 ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine umfangreiche „Englische Verfassungsgeschichte". 132 Hatschek nimmt der englischen Lokalverwaltung endgültig das mystische Element. Er spricht vom traditionellen Selfgovernment, „das sich nur beim Mangel jeder staatlichen Aufsicht wohl fühlen konnte." 133 Und er sieht, wie mit der demokratischen Idee der gewählten lokalen councils eine starke staatliche Zentralisation Hand in Hand geht. Am Ende des 19. Jahrhunderts habe England in weiten Bereichen das gehabt, „was der Kontinent schon zwei Jahrhunderte hatte, nämlich einen hierarchischen Aufbau der Behörden-Organisation in der inneren Verwaltung." 134 Die Ausführungen Gneists zur Lokalverwaltung bezeichnet Hatschek ausdrücklich als „vollkommen veraltet". Und Redlichs Ausführungen erhalten vom streitbaren 1 3 5 Hatschek das Prädikat „Schönfärberei". 136 Einen besonderen Stellenwert räumt Hatschek den englischen Parteien ein. Er behandelt sie ganz am Anfang seines zweiten Bandes und zeigt, wie sie die Politik des Landes bestimmen. Er sieht Licht- und Schattenseiten der Parteiregierung. Die Schattenseiten kennzeichnet Hatschek durch den Begriff der Plutokratie 130
Josef Redlich, Recht und Technik des englischen Parlamentarismus, S. X. Wenn Redlich von „diesem Boden" spricht, meint er das Deutsche Reich und wohl auch Österreich. 131 Julius Hatschek, Englisches Staatsrecht mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, Bd. I (Die Verfassung), Tübingen (J. C. B. Mohr) 1905, Bd. II (Die Verwaltung), Tübingen (J. C. B. Mohr) 1906. 132 Julius Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Viktoria, München (R. Oldenbourg) 1913. 755 S. Ein mit umfangreichen Literaturnachträgen versehener und von Walther Kienast und Gerhard A. Ritter herausgegebener Neudruck erschien 1978 im Scietia Verlag, Aalen. 133 Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. I, S. 4 134 Hatschek, vorige Fußnote, S. 9. 135 Ein Kostprobe bietet die Auseinandersetzung mit seinem Kritiker Bernatzik (Deutsche Literaturzeitung 1906, Nr. 26), dem Hatschek plumpe Scholastik vorwirft und sich in diesem Zusammenhang zu dem Ausruf „O, heiliger Thomas von Aquino!" hinreißen läßt. S. Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. II, S. 661. 136 Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. II, S. 410. Das Verhältnis zwischen Hatschek und Redlich war nicht gerade harmonisch; ursächlich war u. a. eine Rezension, in der Redlich seinem Fachgenossen Hatschek Aneignung fremder Forschungsresultate vorwarf, s. Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. I, S. 23, FN 2.
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und er weiß, „Minister bringen Gesetzentwürfe nicht immer aus dem Grunde ein, weil sie von ihrer Güte überzeugt sind, sondern weil sie dazu dienen, gewisse Interessengruppen ihrer Partei in guter Stimmung zu erhalten. 4 ' 137 Es scheint Hatschek durchaus positiv, daß die englischen Parteien in erster Linie an dem Gewinn der Macht in einem sportlichen Sinne interessiert seien, nicht aber an Parteiprogrammen und ihrer Durchsetzung. Dieser Umstand bewirke nämlich, „dass in England der Parteienkampf nicht bis aufs Messer geführt wird, sondern mit jener leidenschaftslosen Ruhe, die auch sonst den Engländer auszeichnet."138 Damit kontrastiert er ein fehlendes Maßhalten in der Bekämpfung des Gegners bei den kontinentalen Parteien und eine daraus resultierende Regierungsunfähigkeit. Das Zweiparteiensystem sei in England das einzig denkbare, da nur dieses System dem sportlichen Geist der Engländer und ihrer Abneigung für Parteiprogramme entspreche. Der sich gerade entwickelnden Labour Party spricht er keineswegs alle Chancen ab, irgendwann einmal eine dieser beiden Parteien zu werden. Für das ganz frühe 20. Jahrhundert eine durchaus mutige Aussage, wenngleich Hatschek wohl nicht vermutet hätte, daß die Labour Party nicht ganz zwanzig Jahre später bereits eine Regierung bilden würde. Die Art und Weise, wie Hatschek seine Prognose zum Ausdruck bringt, zeigt deutlich, daß er das Parteiwesen nicht übermäßig liebt: Es solle nämlich keineswegs gesagt werden, „dass gerade die neue Arbeiterpartei und nicht etwa eine der bisherigen großen Parteien ins Gras beissen" müsse. Andererseits sieht Hatschek im englischen Parteiensystem den entscheidenden Motor der englischen Politik. Die Rezeption des englischen Parlamentsrechts sei aus diesem Grunde auch völlig verfehlt, da es nicht ohne das konkrete englische Parteiensystem gedacht werden könne. Die Rezipierbarkeit des englischen Parlamentsrechts sei ein Irrtum, der auf Bentham zurückgehe, 139 der das englische Parlamentsrecht als allgemeingültige Rechtsidee dargestellt habe. X. Georg Jellinek empfiehlt einen Engländer: Sidney Low 1 4 0 Formelle englische Gesetze betreffen nur einen Teil des gesamten englischen Verfassungslebens. Daneben existieren andere Regeln (mitunter bloße Gewohnheiten), die ebenso Beachtung finden und ohne die ein Bild der englischen 137 Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. II, S. 663. 138 Hatschek, vorige Fußnote. »39 Julius Hatschek, Staatsrecht Bd. I, S. 440. 140 Sir Sidney Low (1857-1932), englischer Journalist und Historiker. Er edierte 1888-97 die „St. James Gazette", arbeitete später im britischen Informationsministerium an Veröffentlichungen zum Ersten Weltkrieg. Er schrieb über britische Kolonien (z. B. über den Sudan: Egypt in Transition, 1914), vor allem aber über Regierung und Verfassung Englands: The Governance of England (1904), Political History of England: 1837-
X. Georg Jellinek empfiehlt Sidney Low
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Verfassung stets unvollständig oder falsch sein muß. Erschwerend kommt hinzu, daß manches formelle Gesetz, ohne jemals förmlich aufgehoben worden zu sein, im Widerspruch zu seit vielen Jahren beachteten Regeln steht. Hierin lag bis in dieses Jahrhundert hinein die wesentliche Schwierigkeit der englischen Staatsrechtswissenschaft und natürlich auch der deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht. Die Überwindung dieser Schwierigkeiten begann, von fragmentarischen Ansätzen abgesehen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; Walter Bagehot darf als einer der Protagonisten genannt werden und von deutscher Seite Eduard Fischel. Auf ein breiteres Publikum gezielt war eine Arbeit von Sidney Low, deren Übersetzung 141 durch Johannes Hoops 142 von dem großen Heidelberger Staatsrechtler Georg Jellinek angeregt wurde. Low sieht die englische Verfassung aus dreifacher Perspektive: aus der Perspektive des legalen Standpunktes, der Konventionairegeln und der tatsächlichen Verhältnisse. Er verdeutlicht die Methode zunächst an der dazu geeignetsten Institution, dem Kabinett. Vom legalen Standpunkt aus sei das Kabinett ein besonderer Teil des Privy Council, seine Mitglieder als bloße Beamte des Königs mit der Oberleitung der Verwaltung betraut und vom König, dem legalen Herrn der Exekutive, als Ratgeber herangezogen. Nach den Konventionalregeln sei hingegen nicht der König, sondern „das Kabinett die verantwortliche Exekutive, die die vollständige Aufsicht über die Oberleitung aller nationalen Geschäfte in Händen hat, aber diese ausgedehnten Vollmachten unter der strengen Kontrolle des Abgeordnentenhauses ausübt, welchem sie für alle ihre Handlungen und Unterlassungen Rechenschaft schuldet." 143 Übrig bleibt die Perspektive der tatsächlichen Verhältnisse. Hierzu rechnet Low, daß das Kabinett nicht ein Komitee des Parlaments sei, sondern einer Partei im Parlament und daß das Kabinett seine Existenz der bei Wahlen errungenen Majorität verdanke. Außerdem sei ein inneres Kabinett, bestehend aus dem Premier und drei bis vier der einflußreichsten Minister, als entscheidender Machtfaktor festellbar. Ein besonders eklatantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Position des Premierministers. Zweifellos ist er im 19. Jahrhundert schon, und erst recht am Beginn des 20. Jahrhunderts, die zentrale und mächtigste Gestalt der englischen Politik. Er benennt die Minister, er bestimmt die wesentlichen Inhalte der
1901 (1907), The British Constitution (1928). Vergl. New Century Cyclopedia of Names, ed. by Clarence L. Barnhart, vol. II, New York 1954, p. 2525. 141 Sidney Low, Die Regierung Englands, übersetzt von Johannes Hoops, mit einer Einleitung von Georg Jellinek, Tübingen (J. C. B. Mohr, Paul Siebeck) 1908. 309 S. Die erste englische Ausgabe erschien 1904 unter dem Titel „The Governance of England." 142 Johannes Hoops ( 1865 -1949), bedeutender Anglist, der trotz vielfacher Angebote seine Heidelberger Professur (1896 ao. Professor für Englische Philologie) nie aufgab und dort bis ins hohe Alter lehrte. 143 Low, S. 15.
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Politik. Aber: die förmlichen Gesetze kennen ihn gar nicht. „Der Premierminister ist, um eine abgedroschene Redensart zu gebrauchen, der Verfassung unbekannt." 144 Vor dem Hintergrund dieses normativ vielschichtigen englischen Verfassungslebens gewinnen Lows Ausführungen zur Rezeptionsfähigkeit englischer Verfassungsinstitutionen eine besondere Tiefe. Traditionen und Gewohnheiten entstehen in einem ganz bestimmten historischen, sozialen und lokalen Milieu. Ein angeführtes Beispiel betrifft die politische Klasse Englands vor Einführung der Abgeordnetendiäten am Anfang des 20. Jahrhunderts. Natürlich kann das Parlamentssystem nur mit Parlamentariern funktionieren, das heißt in bezug auf die Zeit unentgoltener Parlamentsarbeit: wenn sich im betreffenden Staat eine nicht ganz kleine Zahl von Personen findet, „die genügend Wohlstand und Muße hat, um das Mittelglied zwischen der Gesellschaft und der Politik zu bilden." 145 Jellinek sieht ein besonderes Verdienst Lows darin, das Verhältnis zwischen Kabinett und Unterhaus ins rechte Lichte gerückt zu haben. 146 Todd konnte noch sagen, die wesentliche Veränderung der englischen Verfassung seit der Glorreichen Revolution sei die Verschiebung des Zentrums der Macht von der Krone auf das Unterhaus gewesen. Hier setzt Lows Analyse der jüngeren Entwicklung an. Er fügt hinzu, „daß die Hauptveränderung, die sich seit 1832 vollzogen hat, die weitere Tendenz gewesen ist, dieses Zentrum und diese Macht vom Parlament auf das Kabinett zu übertragen und das letztere mehr der Kontrolle der Wählerschaften selbst, als derjenigen ihrer erwählten Vertreter zu unterwerfen." 147
XI. Paul Heibeck und Friedrich Naumann Hatscheks Theorie der Rezeptionsunfähigkeit des englischen Parlamentsrechts durch Staaten mit einem anderen Parteiensystem wird von dem Liberalen Paul Heibeck 148 zunächst einmal akzeptiert. 149 Aber beide unterscheiden sich wesent144 Low, S. 146. 145 Low, S. 43. 146 „Mit Staunen werden viele erst aus diesem Buch erfahren haben, welche außerparlamentarischen Mächte die Bedeutung des Unterhauses stetig herabgedrückt haben, wie das Kabinett, dessen Macht sich immmer stärker im Premierminister konzentriert hat, immer mehr der Herr des Parlaments geworden ist. Zwischen Kabinett und Wählermassen eingekeilt, ist das Unterhaus heute dem klarblickenden Politiker, der sich vom staatsrechtlichen Formalismus zu befreien weiß, nicht mehr das Zentrum, von dem die vorwärtstreibende Kraft des Staates ausströmt." Jellinek in: Low, S. V. 147 Low, S. 52. 148 Eine frühere Schrift Helbeks hilft, ihn politisch näher einzuordnen. In dem Buch „Die Lehren des Marxismus und die revisionistischen Strömungen in der Sozialdemokratie" (Elberfeld 1905) kritisiert er den sozialistischen Radikalismus und empfiehlt hiergegen energische Sozialreformen zur Überwindung des Elends der Arbeiter. Übergeordneter Zweck der Bemühungen ist, die innenpolitschen Voraussetzungen für eine erfolgreiche deutsche Weltmachtpolitik zu schaffen.
XII. A. Lawrence Lowell
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lieh in der Bewertung der deutschen Parteienlandschaft. Heibeck sieht nämlich im Deutschland des Jahres 1912 genau die Parteienkonzentration auf zwei Blöcke, die England schon lange hatte. 150 Auch Friedrich Naumann zögert in seinem Nachwort nicht, das englische Verfassungsrecht partiell für rezeptionsfähig zu halten. Er verlangt ausdrücklich: „Wir müssen lernen, das preußische Herrenhaus zu behandeln wie das englische Oberhaus. Aus der Welt hin wegblasen können wir es nicht, aber es muß noch viel mehr ein bloßes Museum werden als es heute ist." 1 5 1 Das Hauptanliegen des Buches scheint mir allerdings, dafür zu werben, daß das Zentrum der politischen Macht in Deutschland im Parlament liegen solle und nicht in der Hand des Kaisers. Diesem Zweck dient die Darstellung Heibecks, die im übrigen zwar skizzenhaft, aber durchaus zutreffend ist. Besondere Aufmerksamkeit widmet Heibeck der Entwicklung des englischen Wahlrechts, insbesondere den Bestrebungen, Arbeiterschaft und Frauen am aktiven und passiven Wahlrecht zum Unterhaus teilhaben zu lassen. Die Wahlberechtigung dieser beiden Gruppen hält er für sinnvoll und glaubt sie greifbar nahe. Die Ausführungen Heibecks sind exemplarisch für das deutsche Interesse am englischen Wahlrecht um die Jahrhundertwende. Auf ähnlich großes Interesse stieß übrigens die englische Parteienlandschaft, wobei die Entstehung der Labour Party hervorzuheben ist. Heibeck widmet den Parteien daher auch besondere Aufmerksamkeit und vergißt auch nicht zu erwähnen, daß die im Jahre 1911 erfolgte Einführung der Diäten für Unterhausmitglieder den Vertretern der Arbeiterschaft den Zugang zum Parlament erleichterten. 152
XII. Nochmals Klarheit: A. Lawrence Lowell 153 Fünf Jahre nach der letzten Übersetzung eines englischen Staatsrechtslehrbuchs, nämlich Sidney Lows, erschien in Deutschland die Übersetzung der zwei149 Paul Heibeck, Wie das englische Volk sich selbst regiert, mit einem Nachwort von Friedrich Naumann, Berlin (Fortschritt, Buchverlag der „Hilfe") 1912. 163 S. 150 Heibeck, S. 158. 151 Heibeck, S. 162. 152 Heibeck, S. 38. 153 Abbott Lawrence Lowell (1856-1943) entstammte einer prominenten Bostoner Familie. Sein Bruder Percival war ein bedeutender Astronom, seine Schwester Amy Dichterin. Die Universitätsausbildung erfuhr er in Harvard. Anschließend widmete er sich 17 Jahre lang der juristischen Praxis. 1900 wurde er in Harvard Professor der „science of government". 1909 folgte er Charles W. Eliot als Präsident Harvards. Er reformierte die Universität grundlegend und überaus erfolgreich. Die Studentenzahl verdoppelte sich und die finanzielle Ausstattung der Havard-Universität verbesserte sich enorm. Lowell ist heute vor allem wegen seiner Tätigkeit in der Universitätsverwaltung und als „educator" bekannt. Doch hinterließ er durchaus ein beachtliches rechtswissenschaftliches Gesamtwerk: u. a. Essays on Government (1889); Governments and Parties
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bändigen „Englischen Verfassung" des Harvard-Professors A. Lawrence Lowell. 1 5 4 Ausführlicher als Sidney Low zeigt er die Besonderheiten des englischen Verfassungsbegriffs und kontrastiert ihn mit den Verfassungsbegriffen der Vereinigten Staaten, verschiedener Commonwealth-Länder und Kontinentaleuropas. Er unterscheidet drei Ebenen, in denen Regeln für das englische Verfassungsleben gefunden werden: Gesetze, Gewohnheitsrecht (gemeint ist das common law, soweit es durch Gerichte erzwungen und weiterentwickelt wird) und bloßen Gewohnheiten (Konventionen). 155 Letztere können nicht im Rechtswege durchgesetzt werden, ihre Wirksamkeit ist jedoch nicht zu unterschätzen; sie steht in praxi der Wirksamkeit von Gesetzen und Gewohnheitsrechten nicht nach. Die englische Verfassung unterscheide sich von anderen Verfassungen auch deshalb, weil die Konventionen zahlreicher seien und sich auf ein größeres Anwendungsgebiet erstreckten als anderswo. Die bekannteste Konvention sei „der Grundsatz, daß der König nach dem Rate seiner Minister handeln muß, und daß diese ihrerseits zurücktreten oder das Parlament auflösen müssen, wenn sie das Vertrauen der Mehrheit des Unterhauses verlieren." 156 Lowell benennt die herausragenden Rechtsentwicklungen seit dem Regierungsantritt Edwards VII. (1901-1910). Man wird diese Punkte in Deutschland, neben der ständigen Wahlrechtsdiskussion sicherlich ebenfalls mit Interesse betrachtet haben: Einführung von Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, Vérin Continental Europe (1896); The Influence of Party upon Legislation in England and America (1902); The Government of England (1908); Conflict of Principles (1932). Vergl. The New Encyclopaedia Britannica, 15. ed., vol. 7, p. 523; New Century Cyclopedia of Names, ed. by Clarence L. Barnhart, vol. II, New York 1954, Stichwort: Lowell. 154 A. Lawrence Lowell, Die englische Verfassung, übersetzt von Regierungsrat Dr. Herr unter Mithilfe des Regierungs-Assessors Freiherrn von Richthofen, Bd. I und II Leipzig (Veit & Comp.) 1913. Die Originalausgabe hatte den Titel „The Government of England" und erschien 1908 zweibändig in New York. Im Vorwort geht Lowell besonders auf jene Kritiker der ersten Auflage ein, die ihm unterstellten, er unterschätze die zukünftige Bedeutung der Labour Party. Er entgegnet ihnen: „The strength of the party at this moment is certainly great"; doch für die Zukunft will er sich nicht festlegen: „. . . it is safer for an observer to observe than to prophesy." Die Aufnahme des Buches war grandios. Im Jahr der Erstveröffentlichung folgten zwei weitere Auflagen; es folgten Auflagen im Februar 1909 und zwei im darauffolgenden Jahr. 155 „Die politischen Grundlagen des Staatswesens findet man in den Gesetzen, im Gewohnheitsrecht, das durch die Gerichte erzwungen und weitergebildet wird, und einen Teil des Gemeinen Rechts ausmacht, und in Gewohnheiten („customs") im eigentlichen Sinne, die keinerlei gesetzlichen Kraft haben, und im Rechtswege nicht erzwungen werden können." S. Lowell Bd I, S. 8 f. Um sich unter der deutschen Übersetzung Gewohnheitsrecht das Richtige vorzustellen, muß man das Original betrachten: „The national political institutions are to be found in statutes, in customs which are enforced and developed by the courts and form a part of the Common Law, and in customs strictly so called which have no legal validity whatever and cannot be enforced by law. These last are very appropriately called by Professor Dicey the conventions of the constitution." S. Lowell (2. ed. 1910), vol. I, p. 9. 156 Lowell, Bd I, S. 9.
XII. A. Lawrence Lowell
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minderung der Macht der Lords, Herabsetzung der Legislaturperiode auf fünf Jahre und Gewährung von Diäten für Unterhausmitglieder. Bei dieser Gelegenheit findet sich im übrigen jenes Argument der Diätendiskussion, das heute noch Konjunktur hat: Es gehe nicht an, daß Abgeordnete sich selbst Diäten bewilligten. 1 5 7
157 Lowell, Bd. I, S. IX.
F. Die Entwicklung in Querschnitten Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht gestaltete sich teilweise als heftiges Ringen, verlief andernteils in ruhigen Bahnen. Hauptschauplätze des Ringens waren die Stellung des Königs und die des Kabinetts, man könnte sagen: die parlamentarische Regierungsweise. Bei der Frage nach der Stellung des Königs galt es, sie nach dem geschriebenen Recht, nach dem Gewohnheitsrecht im Sinne des Common Law und nach bloßen Konventionen zu unterscheiden. Alle Bemühungen standen am Anfang unter einem schlechten Stern. Denn Montesquieu verleitete seine Nachfolger, die traditionellen Prärogativen des Königs im Verhältnis zum Gewohnheitsrecht und zur Konvention völlig überzubewerten, ein Fehler, der sich exemplarisch am Vetorecht aufzeigen läßt. Auch die Gewaltenteilungsdoktrin verstellte lange Zeit den Blick auf die Verlagerung der Exekutive vom König auf ein parlamentsabhängiges Kabinett. Die wenigen Ausführungen Montesquieus haben die Wissenschaft vom englischen Staatsrecht lange irregeleitet und behindert. Allerdings herrschte durchaus immer Klarheit darüber, daß der englische König unter dem Recht stand und seine Prärogative begrenzbar und begrenzt ist. Diese Doktrin hatte sich bereits im 17. Jahrhundert klar entwickelt. Der Name des großen Edward Coke ist neben anderen rechtswissenschaftlicher Beleg hierfür. Mit besonders großem Interesse und zumeist voller Begehrlichkeit betrachtete man bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland die Pressefreiheit Englands. Allerdings war ihre Darstellung in aller Regel sehr verkürzt. 1 Der Topos von der englischen Freiheit, den im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ganz Europa kannte,2 wurde jedoch zweifellos stark hiervon genährt. Von allge1 Eine Ausnahme bildet die durch v. Hornthal besorgte deutsche Übersetzung eines Buches von Charles Cottu: Die peinliche Rechtspflege und der Geist der Regierung in England. Nach dem Französischen des Cottue frei bearbeitet von Dr. Johann Peter v. Hornthal, ordentlicher Professor der Rechte zu Freiburg im Breisgau, Weimar 1821, S. 255-345. (Widmung für Karl von Rotteck.) Hierin wird klargestellt, daß die Freiheit der Presse nichts anderes bedeutete als das Fehlen einer Zensur. Keineswegs bedeutete Pressefreiheit Narrenfreiheit. Autor und Drucker unterstanden mit ihren Äußerungen dem Recht, das im übrigen durchaus mit empfindlichen Sanktionen reagieren konnte. Das französiches Original erschien 1820 in Paris: Charles Cottu, De Γ administration de la Iustice criminelle en Angleterre et de l'esprit du Gouvernement anglais. 317 S. 2 Dieser Topos war gesamteuropäisch. Er findet sich beispielsweise in einem Gespräch zwischen Jacqes Casanova de Seingalt (Giacomo Casanova) und Voltaire, das im August 1760 stattfand. Voltaire fragte, ob sich Casanova in Venedig wohl und frei fühle. Casanovas Antwort: „So weit man dies unter einer aristokratischen Regierung sein kann. Die Freiheit, die wir genießen, ist nicht ganz so groß wie die Englands, aber wir sind
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meinem Interesse war später die Entwicklung der trade unions und das Wahlrecht. In den staatsrechtlichen Betrachtungen finden die trade unions und die Frage der Koalitonsfreiheit allerdings erstaunlich geringe Beachtung, ganz im Gegensatz zum Wahlrecht. In viel ruhigeren Bahnen lief die Erforschung des Parlamentsrechts. Nur die Arbeit Buchers sticht gegenüber denen Dumonts (Benthams), Jeffersons, Mays, Gneists und Redlichs hervor. Denn Bucher bringt eine scharfe Parlamentarismuskritik. Sein Einfluß sollte nicht unterschätzt werden. Aber letztlich hielt er die deutschen Parlamente nicht davon ab, zu schauen, ob das englische Parlamentsverfahren ihnen nicht in vielem Vorbild sein könne, in manchem hatte man es ohnehin schon übernommen. Immer wieder wurde die Frage nach der Übertragbarkeit der englischen Verfassungsinstitutionen auf deutsche Verhältnisse aufgeworfen. Die eine Partei verfocht, die englische Verfassung und ihre Teile seien nicht übertragbar, weil sie an die historisch gewachsene einzigartige Situation in England gebunden sei. Die Gegenmeinung berief sich vor allem darauf, daß das deutsche und das englische Volk verwandt seien und die englische Verfassung primär germanischrechtlichen Ursprungs sei. Nicht zu finden war eine aus heutiger Sicht naheliegende Position, die die Übertragbarkeit an derselben kulturellen und wirtschaftlichen Lage orientiert. Offensichtlich dominierte der Sinn für die Andersartigkeit des damaligen England. Das Charakteristikum des englischen Staatsrechts, jenes filigrane, von mystischen Nebeln umwallte, sich der plumpen Kodifizierung entziehende Verhältnis zwischen König oder Königin auf der einen Seite und Kabinett und Parlament auf der andern entzog sich der Übertragung völlig. Die Begründung in Einzigartigkeiten des englischen Nationalcharakters, worin er auch immer bestehe, zu suchen, ist müßig. Sie ergibt sich vielmehr aus Folgendem: Die Regeln, die das Verhältnis bestimmen, sind nur teilweise zu geschriebenen Gesetzen geronnen. Ungeschriebenes Gewohnheitsrecht und bloße Konventionen lagern darüber und wenden die Dinge in eine völlig andere Richtung als die vom geschriebenen Recht gewiesene. Es liegt nahe, daß die Wissenschaft Schwierigkeiten hatte, das Phänomen zu beschreiben. Das gilt für die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht besonders für die Zeit bis zur Revolution 1848. Bedenkt man das starke deutsche Interesse am englischen Staatsrecht, das sich zwischen Wiener Kongreß und 1848 in einer Vielzahl von Publikationen manifestierte, erkennen wir hierin den Zeitraum, den Bismarck im Auge hatte, als er schrieb, daß „eine ganze Schule von politischen Schriftstellern ein Vierteljahrhundert lang, das, was sie die englische Verfassung nannten, und wovon sie keine eindringende Kenntnis besaßen, dem Kontinent als Muster priesen." 3 damit zufrieden." (Henri de Régnier, Casanova bei Voltaire, Berlin 1931, S. 107. Es handelt sich um einen Auszug aus den Memoiren Casanovas.) 8 Pöggeler
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Um so verständlicher ist die geringe Rezeptionsfähigkeit einer so wenig präzise beschriebenen Einrichtung. Hinzu kommt eine Vorliebe des Kontinents für die geschriebenen Verfassung. Mit dieser Liebe war das Offenlassen der zentralen Verfassungsfrage nach dem wahren Ort der höchsten Gewalt nicht vereinbar. Für Deutschland kam hinzu, daß Systemdenker die Geisteswissenschaften beherrschten, Denker, die die Welt über Begriffe und Prinzipien zu verstehen und zu gestalten suchten. Diese Art zu denken bildet einen fast natürlichen Gegensatz zum englischen Pragmatismus, der sich wenig um Begriffe kümmert. 4 Hegels kritische Position zum englischen Staatsrecht wird sicher auch hieraus gespeist. Wenn man sich nach der Motivation für den deutschen Blick über den Kanal fragt, müssen auch Momente berücksichtigt werden, die nicht rein staatsrechtlicher Natur sind. Zweifellos hat die Bewunderung der wirtschaftlichen Prosperität Englands einen Beitrag geleistet; vielfach hatte auch die soziale Mobilität der englischen Gesellschaft in Deutschland Eindruck gemacht (Murhard und Gneist) oder die spezifische Verbindung von Fortschrittsgeist und Tradition (Kühne, der Übersetzer Homersham Cox'). Immer wieder findet sich auch offene Sympathie für Englands geringe Soldatenzahl (Vincke und Murhard). An der Universität Göttingen, gegründet vom hannoverschen Kurfürsten und englischen König Georg August II., scheint ein besonders günstiges Klima für die Rezeption englischer Institutionen geherrscht zu haben. Die anglophilen Historiker Dahlmann und Pauli 5 lehrten dort; Murhard wurde in Göttingen promoviert und erhielt eine Dozentenstelle; und die erste Gesamtdarstellung des englischen Staatsrechts aus der Feder eines deutschen Rechtswissenschaftlers stammt von Theodor Schmalz, der dort 1785 Privatdozent wurde. Es bot sich nach Durchsicht der Quellen die folgende wissenschaftsgeschichtliche Periodisierung an: ein erster Zeitraum geprägt von Montesquieu und vor allem de Lolme, auf deutscher Seite von den Annalisten Wendeborn und Archenholz; Theodor Schmalz und Vincke stehen am Anfang der zweiten Periode, die im ersten Dezennium des 19. Jahrhunderts beginnt und mit dem Jahr 1849 endet; eine dritte Periode beginnt mit Rudolf von Gneist, der hier einsam wie ein Fels in der Brandung herausragt: eine bei gebührender Beleuchtung hilfreiche Markie3 Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Bd. I Stuttgart und Berlin (Cotta) 1915, S. 350. An dieser Stelle berichtet Bismarck auch von der „Besorgnis vor Stuartischen Katastrophen", die die preußische Königin und spätere deutsche Kaiserin Augusta (1811 -1890) erfüllte. 4 Wenngleich ein anderer Systemdenker, nämlich Karl Marx, der Deutsche in London, durchaus für jenen Pragmatismus Bewunderung empfunden haben soll. 5 Seine kenntnisreiche dreibändige Englische Geschichte bringt allerdings in staatsrechtlicher Hinsicht nicht allzuviel; s. Reinhold Pauli, Geschichte Englands seit den Friedensschlüssen von 1814 und 1815, Bd. I Leipzig 1864, Bd. II Leipzig 1867, Bd. III Leipzig 1875.
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rung, aber immer noch sehr gefährlich für die Schiffahrt; Redlich und Hatschek vollendeten in gewisser Weise Gneists Werk. Aber letztlich ist der Unterschied wohl so groß, daß ihre Arbeiten eine Zäsur bewirken und die vierte Periode einläuteten, in der wir uns noch heute befinden; denn die Grundzüge des englischen Staatsrechts und der Staatsrechtsgeschichte wurden von beiden zutreffend und ohne Verzerrungen beschrieben. Besonders hervorzuheben ist die Abkehr Redlichs und Hatscheks von Gneists Fetisch des Selfgovernments. — Mit Gneist, Hatschek, Redlich und Vincke sind bis 1914 die großen Namen der deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht genannt. Von Schmalz muß man wohl absehen: er brachte zwar die erste Gesamtdarstellung aus der Feder eines deutschen Gelehrten, aber im wesentlichen kompilierte er bloß und erreicht keine übermäßige Tiefe. Zwar ist Vinckes Werk nicht annähernd so umfangreich wie die Arbeiten von Gneist, Hatschek und Redlich, aber er war der erste Deutsche, der eine wirklich ertragreiche juristische Forschungsreise nach England unternahm und seine Wirkung darf nicht unterschätzt werden. Der Mythos von der englischen Freiheit verblaßte in Deutschland nach 1848. Doch es blieb kein mythologisches Vakuum. Vielmehr erschien Gneists Begriff vom englischen Selfgovernment, seine inhaltlich und terminologisch originäre Entdeckung zwischen Dichtung und Wahrheit. Zwar zerstörten Redlich und Hatschek mit großem wissenschaftlichen Geschütz das Irreführende der Doktrin. Doch verblieb stets ein Rest, der mit der englischen Wirklichkeit korrespondierte, nämlich die Beteiligung des ehrenamtlich tätigen Bürgers an der Kommunalverwaltung, eine Idee, die dann auch in Deutschland aufgegriffen wurde und noch heute unverrückt als richtig betrachtet wird. Allerdings darf in diesem Zusammenhang auch ein wesentlicher Unterschied im heutigen Verhältnis der Kommunen zum Gesamtstaat nicht übersehen werden. Während sich Deutschland für einen unantastbaren Schutzbereich der Kommunen entschied und ihren Wert damit kräftig erhöhte, kennt England einen solchen Schutz nicht. Vielmehr erlaubt das englische Staatsrecht eine unbeschränkte Zugriffsmöglichkeit auf den Kompetenzbereich der Kommunen. Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht unterschied sich ursprünglich von der englischen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht erheblich. Fragestellungen an das englische Staatsrecht ergaben sich aus deutschen Bedürfnissen, die im Laufe der Verfassungkämpfe und -fragen des 19. Jahrhunderts entstanden.6 Allgemein kann man sagen, daß die Frage nicht primär lautete, wie das englische Staatsrecht ist, sondern, welche Elemente für den Bau deutscher
6
Der Historiker Pauli, der übrigens nicht nur in Göttingen, sondern auch in Tübingen lehrte, schrieb 1864, daß uns „unsere eigene Entwicklung zum ernstesten Studium der britischen Verfassung" hingedrängt habe; s. Reinhold Pauli, Geschichte Englands seit den Friedensschlüssen von 1814 und 1815, Bd. I, Leipzig (S. Hirzel) 1864, S. V. 8*
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Verfassungen entnommen werden konnten und sollten und welche Elemente, gleichgültig ob real oder bloß unterstellt, sich in der deutschen verfassungspolitischen Diskussion verwenden ließen. Das Verblassen des Rezeptionsinteresses, seine Verdrängung durch „bloßes" Erkenntnisinteresse, bildet die entscheidende Zäsur in der deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht. Die Arbeiten Hatscheks und Redlichs am Anfang des 20. Jahrhunderts, und als Vorläufer das Buch Fischeis, haben daher einen völlig anderen Charakter als das auf seine Art eindrucksvolle Werk Rudolf von Gneists. Doch man darf ihm nicht Unrecht tun. Sieht man nämlich von seinem Selfgovernment ab, dominiert auch bei ihm nüchterne Wissenschaftlichkeit. Selbstverständlich laufen die deutsche, die englische und die internationale Wissenschaft vom englischen Staatsrecht auch an vielen Stellen parallel. So wurde das Verhältnis von König, Unterhaus und Kabinett zum zentralen Problem. Die Geschichte der Wissenschaft vom englischen Staatsrecht ließe sich als Ringen um die Erkenntnis dieses Verhältnisses darstellen. Man kann das deutsche Interesse am englischen Staatsrecht auch im Hinblick auf den Grad der Bewunderung periodisieren. Bis in das 17. Jahrhundert hinein waren die kontinentalen Kenntnisse von England und dem englischen Staatsrecht rudimentär. Man kannte Gerüchte von einem gewalttätigen Adel, der Könige auf das Schafott schickte oder verjagte und man glaubte, daß Engländer vorzugsweise fast rohes Fleisch verzehrten. Im 18. Jahrhundert erst gelangten in höherem Maße Nachrichten von politischen und staatsrechtlichen Verhältnissen auf den Kontinent. Es begann der Siegeszug eines Topos: Die englische Freiheit! Dieser Topos war im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert mit einer ausgesprochenen Sehnsucht verbunden. Englandkritische Autoren waren stets eine Minderheit. Hierunter zogen wenige ihre Motivation aus blindem Chauvinismus. Ernst zu nehmen ist die frühe Englandkritik, die sich an katastrophalen sozialen Zuständen und evident ungerechter parlamentarischer Repräsentation orientierte. Um die Wende zum 20. Jahrhundert war das Interesse an England von anderer Qualität. Das Parlamentsverfahren wurde von jenem glutlosen aber beharrlichen Interesse betrachtet, das der Rechtstechnik gebührt. Allein die Beteiligung des Bürgers an der Kommunalverwaltung brachte liberale Herzen in Wallung. Nachdem der wirtschaftliche, gesellschaftliche und staatsrechtlichen Rückstand Deutschlands7 gegenüber England überwunden war, verschwand auch hier die glühende Verehrung. Der Aufstieg des Deutschen Reiches und die machtpolitischen Ambitionen seiner politischen Klasse führten am Ende des 19. und am Beginn unseres Jahrhun7 Wolfgang Mommsen, Zur Entwicklung des Englandbildes der Deutschen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in: Festschrift für Paul Kluke, Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen, München 1981, S. 375.
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derts zu einem deutsch-englischen Konkurrenzverhältnis und zu anglophoben Haltungen unter Deutschen.8 Vice versa findet sich in England zu dieser Zeit eine wenig freundliche Haltung gegenüber Deutschland. Allerdings verdrängte die Anglophobie die weiterhin vorhandene, schon traditionelle deutsche Anglophilie keineswegs. Das gilt ganz besonders für die Großen der deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht. Ihre tiefen Kenntnisse der englischen Verhältnisse und persönliche Bindungen machte sie gegenüber groben Anglophobien immun. Das deutsche Interesse an England nach den beiden Weltkriegen scheint mir eher von der Sehnsucht nach sicheren, ruhigen und kontinuierlichen sozialen und politischen Verhältnissen motiviert. Zu einem Zeitpunkt, zu dem dieser Zustand in Deutschland, zumindest bei oberflächlicher Betrachtung, erreicht ist, fällt der Blick viel eher auf anachronistisch wirkende englischen Einrichtungen, zum Beispiel die Monarchie und das Gewerkschaftssystem, das schon als „die englische Krankheit" bezeichnet wurde. 9 Der Kontrast der beiden Topoi „englische Freiheit" und „englische Krankheit" könnte größer kaum sein. Die landläufige Feststellung, das Bild, das der Betrachter sich vom Gegenstand macht, sage oft mehr über den Betrachtenden als über den betrachteten Gegenstand aus,10 trifft besonders auf die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht bis zum Beginn unseres Jahrhunderts zu. So war die Englandforschung von Vincke und Schmalz auch Widerstand gegen französische Besatzung, Murhards Bild der englischen Pressefreiheit ist nicht zu trennen von seinem Schicksal als Opfer der deutschen Zensur, Gneists Selfgovernment-Doktrin ist ein spätes Dokument bürgerlicher Emanzipation und persönlichen Aufstiegswillens. In dieser Weise lassen sich die meisten Protagonisten der deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht vor Redlich und Hatschek mit ihrem Fach in Beziehung setzen.11 Der große Heidelberger Staatsrechtler Georg Jellinek hatte die deutsche Englandforschung vielfältig gefördert. Auf seine Anregung hin wurde Sidney Lows „Regierung Englands" übersetzt und er war der akademische Lehrer Julius Hatscheks, der ihm sein eindrucksvolles „Englisches Staatsrecht" widmete. Jellinek 8 Hierzu der eben zitierte Aufsatz von Wolfgang Mommsen. 9 Adolf M. Birke, Die englische Krankheit, Tarifautonomie als Verfassungsproblem in Geschichte und Gegenwart, in: Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte 1982, S. 621. 10 Wolfgang Mommsen, Zur Entwicklung des Englandbildes der Deutschen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in: Festschrift für Paul Kluke, S. 375. n Das gilt schon für den Schweizer Beat Ludwig von Muralt, der 1694 England bereiste und dessen „Lettres sur les Anglois et les Francois et sur les Voiages" von 1725 europaweite Verbreitung und hymnische Anerkennung fanden. Die hiermit bewirkte Rehabilitation der angeblich „halbrohes Rindfleisch fressenden Engländer" sollte auch das Bild des tumben Schweizers in ein günstigeres Licht rücken; der „esprit libre des Anglais" wird zum Wunschbild Muralts vor dem Hintergrund mancher schweizerischen Unfreiheit, wie kürzlich von Ursula Pia Jauch Staffelbach festgestellt (Neue Zürcher Zeitung, 26. März 1993, S. 47 0-
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betrachtete einmal die kontinentale Rezeption des englischen Staatsrechts seit Montesquieu und meinte zum kontinentalen Englandbild, es habe sich „immer gezeigt, daß es nicht das England der politischen Wirklichkeit, sondern ein idealisiertes Gemeinwesen war, dessen Züge jeweilig durch den Kontrast mit bestimmten zu bekämpfenden oder umzuändernden kontinentalen Einrichtungen wirken sollten." 12 In dieser Einseitigkeit kann Jellinek vielleicht nicht gefolgt werden, aber immerhin formuliert er hier die grundlegende Tendenz der deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht im betrachteten Zeitraum. Zweifellos ging auch ein gewissermaßen reines Erkenntnisinteresse mit dieser Tendenz Hand in Hand. In der Ambivalenz beider Momente ruht jedoch aus heutiger Sicht der besondere Reiz der deutschen Wissenschaft vom englischen Staatsrecht im 19. Jahrhundert. Sie atmete stets den Geist ihrer Zeit.
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* Aufgenommen sind die im Text bearbeiteten oder erwähnten einschlägigen Titel bis zum Ersten Weltkrieg in der jeweils ersten Ausgabe. Damit erscheinen — mit zwei Ausnahmen: Montesquieu und die Originalversion Blackstones — entweder deutsche Autoren oder Übersetzungen ins Deutsche. Eine Lücke am Anfang des 19. Jahrhunderts beruht zum Teil auf der französischen Hegemonie, die Veröffentlichungen über das Staatsrecht des insularen Konkurrenten zu verhindern suchte. Eine besondere Häufung findet sich im Zusammenhang mit dem Frühkonstitutionalismus und im halben Jahrzehnt vor 1848. Damit macht die Übersicht deutlich, daß das Interesse an England bis 1848 mit deutschen Verfassungkämpfen korrelierte. Danach wird der Fluß der Veröffentlichungen gleichmäßiger und steht mehr im Zusammenhang mit dem Blühen der Wissenschaft als mit den Bewegungen der allgemeinen Geschichte.
Anhang: Chronologische Übersicht zur Rezeptionsliteratur 1825
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Henry Hallam / F. A. Rüder: Verfassungsgeschichte Teil 2
1831
G. F. W. Hegel: Über die Reform-Bill
1834
Franz Schulte (Abraxas)
1837
Murhard (Staatslexikon)
1844
P. F. Aiken Franz Schulte
1845
F. J. Stahl
1846
Robert v. Mohl
1848
Traugott Bromme Gneist: Bildung der Geschworenengerichte De Lolme: dritte Übersetzung
1849
Mittermaier
1853
Gneist: Adel und Ritterschaft
1855
Lothar Bucher
1857
Gneist: Verfassungs- und Verwaltungsrecht Bd. I (Aemter)
1860
Gneist: Verfassungs- und Verwaltungsrecht Bd. II (Selfg.) T. Erskine May: Parlamentsverfahren
1862
Eduard Fischel T. Erskine May: Verfassungsgeschichte Bd. I
1863
T. Erskine May: Verfassungsgeschichte Bd. II
1867 1868
1869 1871 1872
Homersham Cox Walther Bagehot Alpheus Todd: Bd. I Alpheus Todd: Bd. II Lord John Rüssel: zweite Übersetzung
1881
Victor Cathrein
1882
Gneist: Englische Verfassungsgeschichte
1886
Gneist: Das engl. Parlament in tausendjährigen Wandelungen
1892
G. Wendt
1898
Anita Augspurg
9 Pögg
130
Anhang: Chronologische Übersicht zur Rezeptionsliteratur
1901
Josef Redlich: Engl. Lokalverwaltung W. Rothschild
1905
Julius Hatschek: Engl. Staatsrecht Bd. I (Verfassung) Josef Redlich: Engl. Parlamentarismus
1906
Julius Hatschek: Engl. Staatsrecht Bd. II (Verwaltung)
1908
S. Low
1912
Julius Hatschek: Engl. Verfassungsgeschichte Paul Heibeck: Wie das engl. Volk sich selbst regiert
1913
A. L. Lowell