Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz [1 ed.] 9783428484096, 9783428084098

Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht wird traditionell überwiegend als ein "verfassungsneutrales" Rechtsgebi

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German Pages 456 Year 1995

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Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz [1 ed.]
 9783428484096, 9783428084098

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BURKHARDT ZIEMSKE

Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 680

Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz

Von Burkhardt Ziemske

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ziemske, Burkhardt: Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz / von Burkhardt Ziemske. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 680) Zugl.: Köln, Univ., Habil.-Schr., 1994/95 ISBN 3-428-08409-8 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08409-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ®

Vorwort Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht wird traditionell überwiegend als ein "verfassungsneutrales" Rechtsgebiet angesehen, dessen Grundsätze nicht im Grundgesetz verankert sind. Die Folgen dieser traditionellen Sichtweise werden eindrucksvoll durch die seit gut einem Jahrzehnt andauernde Reformdiskussion um das Staatsangehörigkeitsrecht verdeutlicht: Politische Utopien und ideologische Positionen dominieren und setzen sich in die Artikulation eines vermeintlichen Reformbedarfs um. Noch in der laufenden 13. Wahlperiode ist mit einer Neuregelung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts zu rechnen. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Bestandskraft der traditionellen Sichtweise wird dann von höchster Relevanz sein. Wenngleich nämlich unter den parlamentarischen Parteien im wesentlichen darüber Einigkeit besteht, den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit weiter zu erleichtern, so ist doch zwischen ihnen streitig, wie weit man in diesem Bestreben gehen will: Sollen die bisher geltenden Grundsätze des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts beibehalten und nur Einzelheiten modifiziert werden oder sollen diese Grundsätze durchbrochen beziehungsweise völlig aufgegeben werden? Der folgende Entwurf einer Theorie der Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz bricht mit der traditionellen Sichtweise. Er stellt die verfassungsrechtlichen Garantien der Grundsätze des Staatsangehörigkeitsrechts heraus. Im Zentrum dieser Betrachtung steht das grundrechtliche Entzugsverbot und dessen Ausstrahlung auf den Erwerb der Staatsangehörigkeit. Darüber hinaus werden die staatlichen und internationalen Folgen dargelegt, die bei staatsangehörigkeitsrechtlichcn Reformen vom Gesetzgeber einen sorgsamen Umgang mit dem Institut der Staatsangehörigkeit fordern und die deren Ausgestaltung nicht seinem freien Belieben überlassen. Die vorliegende Abhandlung wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Wintersemester 1994/95 als Habilitationsschrift angenommen. Mein Habilitationsvater Prof. Dr. Martin Kriele förderte großzügig ihre Erstellung, wofür ich ihm herzlich danke. Seinen staatsrechtlichen und rechtspolitischen Schriften, insbesondere seiner Lehre über die Rechtsgewinnung aus Präjudizien, verdanke ich wertvolle Anregungen, die in meiner Arbeit fruchtbar wurden. Mein herzlicher Dank gebührt auch Prof. Dr. Joachim Burmeister für die Anfertigung des Zweitgutachtens sowie Prof. Dr. Hartmut Schiedermair für vielfältige Unterstützung. Köln, im März 1995

Burkhardt Ziemske

Inhaltsübersicht

Einleitung

25

Teil 1 Die Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

56

1. Kapitel: Über die Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit

56

2. Kapitel: Die deutsche Staatsangehörigkeit und die "Sammmeleinbürgerungen"

71

3. Kapitel: Die deutsche Staatsangehörigkeit in der ehemaligen DDR

93

4. Kapitel: Die deutsche Staatsangehörigkeit in ausgewählten völkerrechtlichen Verträgen

101

5. Kapitel: Zusammenfassende Darstellung zur Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit 118

Τ ei 12 Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

121

L Kapitel: Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht

121

2. Kapitel: Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

195

8

Inhaltsübersicht

Teil 3 Die Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit und der Gesetzgeber

209

1. Kapitel: Die Befugnis des Gesetzgebers zur Ausgestaltung der deutschen Staatsangehörigkeit

209

2. Kapitel: Der Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

217

3. Kapitel: Die verfassungsrechtliche Legitimation von Abweichungen

295

Teil 4 Schluß

319

Anhang: Ausländisches Staatsangehörigkeitsrecht im Überblick

333

Schrifttumverzeichnis

412

Personenregister

449

Sachregister

451

Inhaltsverzeichnis Einleitung

25

I. Statistisches

25

Π. Das deutsche Ausländerrecht

27

ΙΠ. Vorgetragene Gründe zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts

32

IV. Der Grundsätze-Streit im Staatsangehörigkeitsrecht

35

V. Die Reformvorschläge

36

VI. Zielsetzung der Untersuchung

39

VII. Herkömmliche Lehren im Staatsangehörigkeitsrecht

39

1. Lehre der Gestaltungsfreiheit

39

2. Lehre der materiellen Staatsangehörigkeit

45

3. Willkürverbotslehre

45

VIE. Die staatsangehörigkeitsrechtliche Institutionenlehre IX. Folgen des Vorrangs der grundrechtlichen Staatsangehörigkeitsgarantie X. Zum Inhalt der nachfolgenden Untersuchung

Teil 1 Die Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

46 48 53

56

1. Kapitel:

Über die Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit § 1 Verfassungsrechtliche Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit § 2 Völkerrechtliche Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit I. Völkervertragsrecht Π. Allgemeine Regeln des Völkerrechts 1. Erwerb der Staatsangehörigkeit

56 56 61 61 63 65

a) Originärer Erwerb (Geburtserwerb)

65

b) Derivativer Erwerb (nachträglich abgeleiteter Erwerb)

65

c) Gebiets Wechsel

65

2. Erlöschen der Staatsangehörigkeit a) Gebictswechsel b) Verlust der Staatsangehörigkeit

66 66 67

c) Entzug der Staatsangehörigkeit

68

nsverzeichnis 2. Kapitel:

Die deutsche Staatsangehörigkeit und die "Sammeleinbürgerungen"

71

1. Abschnitt: "Sammeleinbürgerungen" infolge Annexion und Okkupation

71

§ 3 Der staatsangehörigkeitsrechtliche Befund im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes

71

§ 4 Das Entzugsverbot und das Erste Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit

76

2. Abschnitt: Die "Sammeleinbürgerung" der Österreicher infolge des "Anschlusses"77 § 5 Das staatsangehörigkeitsrechtliche Problem

77

§ 6 Die Staatsangehörigkeitsentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Oktober 1954

79

§ 7 Die Kontroverse über das Entzugsverbot in den Beratungen des Zweiten Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit

85

§ 8 Die Auslieferungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 1955

89

3. Kapitel:

Die deutsche Staatsangehörigkeit in der ehemaligen DDR

93

§ 9 Die Fortgeltung der deutschen Staatsangehörigkeit

93

§ 10 Die deutsche Staatsangehörigkeit und der Grundlagenvertrag

96

§ 11 Die "Gespensterdiskussion" über die "Anerkennung" der "Staatsbürgerschaft der DDR"

98

4. Kapitel:

Die deutsche Staatsangehörigkeit in ausgewählten völkerrechtlichen Verträgen

101

§ 12 Die deutsche Staatsangehörigkeit und die Ostverträge von Moskau und Warschau

101

nsverzeichnis

11

§ 13 Die deutsche Staatsangehörigkeit und der "Z\vei-plus-Vier"-Vertrag vom 2. September 1990 sowie dessen Folgeverträge

106

I. Keine ausdrückliche Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit

106

Π. Endgültiger Gebietswechsel

108

ΙΠ. Auswirkungen des Gebietswechsels auf die deutsche Staatsangehörigkeit? 109 1. Weiterbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit

109

2. Mittelbare Auswirkungen

110

3. Wertung

110

§ 14 Die deutsche Staatsangehörigkeit und der Vertrag von Maastricht I. Die Europäische Union

111 111

Π. Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit durch "Relativierung" der deutschen Staatlichkeit?

113

5. Kapitel:

Zusammenfassende Darstellung zur Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

118

Teil 2 Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

121

1. Kapitel:

Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht

121

1. Abschnitt: Das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland

121

§ 15 Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit

121

I. Originärer Erwerb (Geburtserwerb) Π. Derivativer Erwerb (nachträglich abgeleiteter Erwerb) 1. Legitimation 2. Adoption 3. Einbürgerung a) Ermessenseinbürgerung b) Anspruchseinbürgerung § 16 Der Grundsatz der ausschließlichen Staatsangehörigkeit (Einzelstaatigkeit)... I. Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit 1. Erwerbsseite 2. Erlöschensseite Π. Grundsatz der Verringerung von Mehrstaatigkeit

121 123 123 123 124 124 127 131 131 131 131 132

nsverzeichnis

12

§ 17 Die Hinnahme von mehrfacher Staatsangehörigkeit (Mehrstaatigkeit) I. Hinnahme in Geburtsfallen

140 141

Π. Hinnahme bei Legitimation und Adoption

142

ΠΙ. Hinnahme in Härtefällen

142

IV. Hinnahme in Wiedergutmachungsfallen V. Hinnahme bei überwiegendem sonstigen staatlichen Interesse § 18 Das Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit I. Die Entlassung

144 145 145 146

Π. Der Verzicht

146

ΙΠ. Der Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit

147

1. Der Grundtatbestand

147

2. Die Erweiterung

149

IV. Adoption durch einen Ausländer

150

§ 19 Das historische System des Entzugs der Staatsangehörigkeit

151

§ 20 Das Entzugs verbot in den Beratungen des Parlamentarischen Rates

155

§ 21 Verlust oder Entzug der Staatsangehörigkeit?

161

§ 22 Der Bruch mit dem historischen System des Entzuges der Staatsangehörigkeit 169 § 23 Zusammenfassung

171

2. Abschnitt: Das Staatsangehörigkeitsrecht der ehemaligen DDR

173

§ 24 Der Erwerb der "Staatsbürgerschaft der DDR"

173

I. Originärer Erwerb (Geburtserwerb)

174

1. lus sanguinis

174

2. Ergänzendes ius soli

174

Π. Derivativer Erwerb (nachträglich abgeleiteter Erwerb)

175

§25 Der Teso-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts

176

§ 26 Mehrstaatigkeit

180

§ 27 Das Erlöschen der "Staatsbürgerschaft der DDR"

182

I. Der Verlust 1. "Entlassung" 2. "Widerruf' Π. Der Entzug 1. "Widerruf' 2. "Aberkennung" a) Individuelle "Aberkennung" b) Kollektive "Aberkennung"

182 182 184 184 184 185 185 186

nsverzeichnis

13

§ 28 Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit durch Erlöschen der "Staatsbürgerschaft der DDR"?

187

I. Der Verlust

188

1. "Entlassung" auf Antrag

188

2. Antragsgemäßer Erwerb ausländischer Staatsangehörigkeit

188

Π. Der Entzug

189

ΙΠ. Die Mehrstaater-Verträge der ehemaligen DDR

190

§ 29 Zusammenfassende Darstellung über das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht 191 I. Die einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit

191

Π. Grundsätze der deutschen Staatsangehörigkeit

192

2. Kapitel:

Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich § 30 Der Erwerb der Staatsangehörigkeit I. Originärer Erwerb (Geburtserwerb) Π. Derivativer Erwerb (nachträglich abgeleiteter Erwerb)

195 195 195 197

1. Legitimation

197

2. Adoption

197

3. Einbürgerung

197

§ 31 Mehrstaatigkeit § 32 Das Erlöschen der Staatsangehörigkeit I. Der Verlust 1. Entlassung und Verzicht 2. Adoption und Legitimation 3. Erwerb ausländischer Staatsangehörigkeit 4. Rücknahme Π. Der Entzug 1. Auslandsaufenthalt 2. Illoyalität 3. Strafverurteilung 4. Eintritt in ausländische Staatsdienste 5. Mehrstaatigkeit §33 Die Besonderheit des deutschen Entzugsverbotes

199 201 201 201 203 203 204 204 204 205 205 206 207 207

nsverzeichnis

14

Teil 3 Die Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit und der Gesetzgeber

209

1. Kapitel:

Die Befugnis des Gesetzgebers zur Ausgestaltung der deutschen Staatsangehörigkeit § 34 Die Notwendigkeit der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber I. Die Kompetenz zur Ausgestaltung Π. Die Notwendigkeit zur Ausgestaltung §35 Die Grundrechtsunterworfenheit des Gesetzgebers

209 209 209 213 215

2. Kapitel:

Der Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes 1. Abschnitt: Die deutsche Staatsangehörigkeit als Institution

217 217

§ 36 Das Entzugsverbot als Abwehrrecht

217

I. Der negatorische Charakter 1. Negatorischer Individualbestandsschutz 2. Negatorischer Normenbestandsschutz Π. Der uneingeschränkte negatorische Charakter § 37 Der objektiv-rechtliche Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

217 218 218 219 221

§38 Der Kernbereich von Institutsgarantien

228

2. Abschnitt: Über die historische Komponente der Staatsangehörigkeit

230

§39 Die Entwicklung der Staatsangehörigkeit in Deutschland

230

I. Grundsatz der ausschließlichen Staatsangehörigkeit Π. Der Grundsatz des ius sanguinis

231 231

§ 40 Die Entscheidung zugunsten des ius sanguinis

238

§ 41 Die Zugehörigkeit in der Antike I. Athenische Republik Π. Römisches Reich

239 239 240

§ 42 Das Personalitätsprinzip im Mittelalter I. Frühes Mittelalter

243 243

nsverzeichnis

Π. Hohes Mittelalter

15

244

§ 43 Die Verfestigung des Personalitätsprinzips und der Übergang zum ius soli im Fall des Robert Calvin

245

§ 44 Die Übernahme des ius soli in den Einwanderungsstaaten

247

§ 45 Das ius sanguinis in der Französischen Revolution

250

§ 46 Zusammenfassung

251

3. Abschnitt: Über die Entwicklungsperspektive der Staatsangehörigkeit

252

§ 47 Zum Staatsangehörigkeitsverständnis

252

§ 48 Der verfehlte Ansatz der Rechtsverhältnistheorie im Staatsangehörigkeitsrecht

260

§ 49 Über die Perspektive der Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft

264

§ 50 Zusammenfassung

271

4. Abschnitt: Die staatsangehörigkeitsrechtliche Bestandsgarantie als Komponente der Institutsgarantie § 51 Die Kongruenz von Entzugsverbot und Erwerb der Staatsangehörigkeit I. Auswirkungen auf das Erlöschen Π. Auswirkungen auf den Erwerb § 52 Das permanente Konfliktpotential aus Mehrstaatigkeit I. Wahlrechtsgleichheit

271 271 271 273 277 277

Π. Kreation nationaler Minderheiten und ihre Folgen

280

ΙΠ. Internationales Strafrecht und Auslieferungsverbot

281

IV. Verlust ausländerrechtlicher Ausweisungs- und Abschiebungsrechte

284

V. Aufgabe anderer ausländerrechtlicher Ordnungsmittel

284

VI. Einschränkungen völkerrechtlicher Verpflichtungen

286

VII. Namensrecht

286

VIE. Aufgabe staatlichen Entscheidungsspielraums

287

§ 53 lus sanguinis und Einzelstaatigkeit als Grundsätze der Bestandsgarantie

289

§ 54 Zusammenfassende Darstellung über die Gewährleistung der Erwerbsgrundsätze aus der Institutsgarantie 292

16

nsverzeichnis 3. Kapitel:

Die verfassungsrechtliche Legitimation von Abweichungen § 55 Ausnahmsweise Zulässigkeit der Mehrstaatigkeit I. Geburtsfalle

295 295 296

Π. Hinnahme bei Adoption und Legitimation ΙΠ. Wiedergutmachungsfälle

297 298

IV. Unzumutbarkeitsfalle

298

1. Menschenrechtsfalle

299

2. Deutschen-Vorbehaltsfälle

299

a) Beibehaltungsfälle

299

b) Statusdeutschenfälle

300

§ 56 Ober die fehlende Legitimation des ius soli und der Mehrstaatigkeit I. Aus dem demokratischen Prinzip? Π. Aus dem europäischen Integrationsgedanken?

301 301 304

ΙΠ. Aus staatlichem Interesse?

306

IV. Aus dem Gleichheitssatz?

308

1. Diskriminierung von Ausländern? 2. "Umgekehrte" Diskriminierung deutscher Altbürger? V. Rechtsethische Gründe?

308 309 315

§ 57 Zusammenfassung

317

Teil 4 Schluß

319

§ 58 Ausblick: Einbürgerung als Verfahrensgarantie?

319

I. Die grundrechtsdogmatische Problematik

320

Π. Zur Gestaltungsfreiheit im Einbürgerungsrecht

322

§ 59 Zusammenfassung: Der Befund der deutschen Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz 325

Anhang: Ausländisches Staatsangehörigkeitsrecht im Überblick

333

1. Abschnitt: Das Staatsangehörigkeitsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union

333

§ 1 Königreich Belgien

333

§ 2 Königreich Dänemark

338

nsverzeichnis

17

§ 3 Republik Finnland

342

§ 4 Republik Frankreich

345

§ 5 Republik Griechenland

350

§ 6 Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland

354

§ 7 Republik Irland

358

§ 8 Republik Italien

362

§ 9 Großherzogtum Luxemburg

365

§ 10 Königreich der Niederlande

369

§ 11 Bundesrepublik Österreich

374

§ 12 Republik Portugal

379

§ 13 Königreich Schweden

382

§ 14 Königreich Spanien

385

2. Abschnitt: Das Staatsangehörigkeitsrecht in weiteren ausgewählten (europäischen) Staaten

389

§ 15 Königreich Norwegen

389

§ 16 Eidgenossenschaft Schweiz

391

§ 17 Republik Türkei

397

3. Abschnitt: Das Staatsangehörigkeitsrecht in klassischen Einwanderungsstaaten 401 § 18 Dominium Kanada

401

§ 19 Vereinigte Staaten von Amerika..

405

Schrifttumsverzeichnis

412

Personenregister

449

Sachregister

451

2 Ziemske

Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. ABl. A H K ABl. EG ABl. KR abgedr. Abs. abw. a.E. a.F. AFG AHK AJCL AJL Anh. Anm. AO AöR ArchVR Art. AStG AsvlVfG Aufl. AuslG AVV BAföG BAnz BayVBl. BavVerf BavVerfGH BavVGH BavVGHE

BBG Bd. Bearb. Bek.

andere(r) Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt der Alliierten Hohen Kommission in Deutschland (1949-1955) Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland abgedruckt Absatz abweichend am Ende alte Fassung Arbeitsförderungsgesetz Alliierte Hohe Kommission American Journal of Comparative Law American Journal of Law Anhang Anmerkung Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Archiv des Völkerrechts Artikel Außensteuergesetz Gesetz über das Asylverfahren (Asylverfahrensgesetz) Auflage Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet (Ausländergesetz) Allgemeine Verwaltungsvorschrift Berufsausbildungsförderungsgesetz Bundesanzeiger Bayerische Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946 Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Sammlung von Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs mit Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, des Bayerischen Dienststrafhofs und des Bayerischen Gerichtshofs fur Kompetenzkonflikte Bundesbeamtengesetz Band Bearbeiter Bekanntmachung

Abkürzungsverzeichnis

bes. betr. BeurkG BGB BGBl. Nord. Bd. BGBl. BGH BGHSt BGHZ BR-Drs. BReg. BRRG BSHG BT Sten. Ber. BT-Drs. Buchholz BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE BVFG BWahlG BYIL bzw. DA DDR ders. dgl. dies. d.h. Diss. DJT DNotZ Doc DÖD DÖV DR DRiG DRiZ dt. DVB1. DVO E EA

19

besonders betreffend Beurkundungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes (1867-1870) Bundesgesetzblatt der Bundesrepublik Deutschland Bundesgerichtshof Entscheidungen des BGH in Strafsachen Entscheidungen des BGH in Zivilsachen Drucksachen des Bundesrates Bundesregierung Gesetz zur Vereinheitlichung des Beamtenrechts (Beamtenrechtsrahmengesetz) Bundessozialhilfegesetz Verhandlungen des Deutschen Bundestages Drucksachen des Bundestages t Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des BVerwG Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge Bundeswahlgesetz The British Yearbook of International Law beziehungsweise Deutschland-Archiv Deutsche Demokratische Republik derselbe dergleichen dieselbe/dieselben das heißt Dissertation Deutscher Juristentag Deutsche Notar-Zeitschrift Document Der öffentliche Dienst. Fachzeitschrift für Beamte und Angestellte der Verwaltung Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Recht Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung deutsch Deutsches Verwaltungsblatt Durchführungsverordnung Entscheidung Europa-Archiv

20

EGBGB EGV Einl. EMRK ErbStG Erl. EStG etc. EU EuGH EuGRZ evtl. EWG f. FamRZ FAZ fdk ff. Fußn. GBl. DDR gem. GG ggf. GMB1. GO GS HK h.M. Hrsg. hrsg. v. IC J Reports i.d.F. i.e.S. IGH IGR InfAusR insbes. IPBürgR IPR IPRax i.S.d. i.V.m. i.w.S.

Abkürzungsverzeichnis

Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einleitung Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Erbschaftssteuergesetz Erlaß Einkommenssteuergesetz et cetera Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift eventuell Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende [Seite] Zeitschrift für das gesamte Familienrecht - Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht Frankfurter Allgemeine Zeitung freie demokratische korrespondenz fortfolgende [Seiten] Fußnote Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik gemäß Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland v. 23. Mai 1949 gegebenenfalls Gemeinsames Ministerialblatt [Bund] Geschäftsordnung Gesetz-Sammlung für die Kgl. Preußischen Staaten, (ab 1907: Preußische Gesetzsammlung) Herder-Korrespondenz herrschende Meinung Herausgeber herausgegeben von International Court of Justice. Reports of Judgements, Advisory Opinions and Orders In der Fassung im engeren Sinne Internationaler Gerichtshof Gesetz über die internationale Rechtshilfe in strafrechtlichen Angelegenheiten Informationsbrief Ausländerrecht insbesondere Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts im Sinne des in Verbindung mit im weiteren Sinne

Abkürzungsverzeichnis

JA JöR JR JuS JZ KG Komm. KR KRG Lfg. LG lat. lit. Lit. m.a.W. MDR MLR MittHV m.w.N. NÄG n.F. NJ NJW Nr. NVwZ NZWehrr. Österr. o.g. OLG OLGZ OVG Pari. Rat PartG Preuß.ALR Prot. PVS RabelsZ RdErl. Rdnr. RdSchr. RegEntw. RegErkl. RG RGBl. RGSt RGZ

21

Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung Gesetz über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse (Konsulargesetz) Kommentar Kontrollrat Kontrollratsgesetz Lieferung Landgericht lateinisch litera (Buchstabe) Literatur mit anderen Worten Monatsschrift für Deutsches Recht Modern Law Review Mitteilungen des Hochschulverbandes mit weiteren Nachweisen Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen (Namensänderungsgesetz) neue Fassung Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Wehrrecht Österreich/österreichisch oben genannt(e/r/s) Oberlandsgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen einschließlich der freiwilligen Gerichtsbarkeit Oberverwaltungsgericht Parlamentarischer Rat Parteiengesetz Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Protokoll(e) Politische Vierteljahresschrift Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Runderlaß Randnummer Rundschreiben Regierungsentwurf Regierungserklärung Reichsgericht Reichsgesetzblatt (1871-1945) Entscheidungen des RG in Strafsachen Entscheidungen des RG in Zivilsachen

22

Richtl. ROW RPflG Rspr. RuP RuStAÄndG 1974 RuStAG Rz. s. S. sect. SED SG SGB-AT SGS s.o. sog. Sp. StabüG Stang 1. StARegG 2. StARegG StAZ Sten. Ber. StGB StPO st. Rspr. StuR s.u. SZ u. u.a. UN UN-Publ. Urt. US USA usw. UTR u.U. v. VB1.BW Verf. VersG

Abkürzungsverzeichnis

Richtlinien Recht in Ost und West Gesetz über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und des Verfahrensrechts (Rechtspflegergesetz) Rechtsprechung Recht und Politik Gesetz zur Änderung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes v. 20. Dezember 1974 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz Randziffer siehe Seite section (Abschnitt; Paragraph) Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Soldatengesetz Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze siehe oben sogenannte(r/n) Spalte Staatsbürgerschaftsgesetz der (ehemaligen) DDR Staatsangehörigkeit Erstes Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit v. 22. Februar 1955 Zweites Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit v. 17. Mai 1956 Das Standesamt (Zeitschrift für Standesamtswesen) Stenographische Berichte Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung ständige Rechtsprechung Staat und Recht siehe unten Süddeutsche Zeitung und unter anderem(n) United Nations (Vereinte Nationen) United Nations Publications Urteil US-amerikanisch United States of America und so weiter Umwelt- und Technikrecht unter Umständen von/versus Verwaltungsblatt Baden-Württemberg Verfasser Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz)

Abkürzungsverzeichnis

VG VGH vgl. VO vol. VR VRÜ VVDStRL VwGO VwVfG WehrpflG WissR WP WRV ZaöRV ZAR z.B. ZfP Ziff. zit. ZK ZPO ZRP z.T. zust. z.Z.

23

Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verordnung volume (Band) Verwaltungsrundschau Verfassung und Recht in Übersee Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes Wehrpflichtgesetz Wissenschaftsrecht Wahlperiode Die Verfassung des Deutschen Reiches v. 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Zeitschrift für Politik Ziffer zitiert Zentralkomitee Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik zum Teil zustimmend zur Zeit

Einleitung Die Staatsangehörigkeit ist der Rechtsbegriff, der das Staatsvolk definiert. 1 Sie ist mittelbar ein Element der Staatlichkeit. Denn nach der unangefochtenen Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek (1851-1911) stellt das Staatsvolk neben dem Staatsgebiet und der Staatsgewalt die dritte Säule der Staatlichkeit im staatsrechtlichen Sinne dar. 2 Die Staatsangehörigkeit ist nach h.M. rechtliche Eigenschaft. 3 Sie ist Status der Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft und hat den Sinn, von Nichtangehörigen abzugrenzen. 4 Sie trennt Inländer von Ausländern. 5

I. Statistisches Ende 1992 lebten ca. 6,5 Millionen Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, was einem Bevölkerungsanteil von 8% entspricht. 6 Im Vergleich mit westeuropäischen Staaten nimmt der Ausländeranteil der Gesamtbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland einen Spitzenplatz ein.

1 Sie definiert nicht ausschließlich (Zippelius. Allgemeine Staatslehre, § 11 I), aber doch überwiegend. Nach Art. 116 Abs. 1 GG setzt sich nämlich das deutsche Staatsvolk neben Staatsangehörigen auch aus sog. "Statusdeutschen" zusammen. Art. 116 Abs. 1 GG lautet: "Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande v. 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat". Vgl. zu den Statusdeutschen: Makarov / v. Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Bd. 1, Gruppe 2, Art. 116 Rdnr. Iff. 2 Allgemeine Staatslehre, S. 394ff; 406ff. 3 Kriele, Einführung in die Staatslehre, § 22; Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, Einf. S. 4; Randelzhofer, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz: Kommentar zum Grundgesetz, Art. 16 Rdnr. 8 m.w.N.; zur Bedeutung der Staatsangehörigkeit im völkerrechtlichen Bereich s. Randelzhofer, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 16 Rdnr. 9 m.w.N. 4 Dazu: Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 4 I, Me ir e is, Aspekte einer Neuregelung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, in: StAZ 1994, S. 24Iff. (243). 5 Ausländer ist gem. § 1 Abs. 2 AusIG jeder, der nicht Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist. 6 Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer (Hrsg.), Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland 1993, S. 11.

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Von je 1000 Einwohnern sind Ausländer in: 7 - der Schweiz 164. - Belgien 86. - Bundesrepublik Deutschland 78 - Frankreich 73. - Schweden 60. - den Niederlanden 40. - Großbritannien 31. - Dänemark 27. - Griechenland 27. - Irland 24, - Portugal 9, - Spanien 9, - Italien 7. Etwa 1.5 Millionen (ca 23,2%) der hier lebenden Ausländer stammen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ihr Anteil hat seit 1990 (29,9%) innerhalb von zwei Jahren konstant um ca. 6% abgenommen, während die Zahl von Personen aus Osteuropa im gleichen Zeitraum um ca. 6% ständig gewachsen ist. 8 Die größte Gruppe von Ausländern bildet die türkische Bevölkerung mit ca. 1,85 Millionen (28,6%), gefolgt von Personen aus dem ehemaligen Gesamtstaat Jugoslawien mit 916.000 (14,1%), Italienern mit 558.000 (8,6%), Griechen mit 346.000 (5.3%), Polen mit 286.000 (4,4%), Österreichern mit 185.000 (2,7%), Rumänen mit 168.000 (2,6%) und Spaniern mit 134.000 (2,1%). 9

Mehr als 1.5 Millionen Ausländer sind Flüchtlinge 10 . Darunter befinden sich etwa 230.000 Asylberechtigte 11 einschließlich ihrer Familienangehöri-

7 Nachfolgende Statistik ist entnommen: Bundeszentrale fiir politische Bildung (Hrsg.), Informationen zur politischen Bildung, Heft 237, S. 2. 8 Beauftragte der Bundesregierung fir die Belange der Ausländer (Hrsg.), Bericht 1993, S. 11 und Tabelle 2 (S. 144). 9 Ebenda, S. 11. 10 Im Sinne des Abkommens der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v. 28.7.1951 (Genfer Konvention) ist ein Flüchtling: "Jede Person, die infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind, und aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse. Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugungen sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlos infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will" (Art. 1 Nr. 2). Durch Zusatzprotokoll v. 31.1.1967 (BGBl. II, S. 1293) wurde die Stichtagseinschränkung aufgehoben. 11 Personen, die vom Bundesamt fiir die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge oder von einem Gericht als politisch Verfolgte im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. bzw. ab 28.6.1993 Art. 16a GG (BGBl. I, S. 1002) rechtskräftig anerkannt sind.

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gen, 38.000 Kontingentflüchtlinge 12 , 28.000 heimatlose Ausländer 13 , 640.000 de-facto-Flüchtlinge 14 und 610.000 Asylbewerber. 15

IL Das deutsche Ausländerrecht Ausländer unterliegen besonderer staatlicher Reglementierung, dem sog. Ausländerrecht. 16 Ausländer besitzen danach nicht alle Rechte und Pflichten wie Inländer. Sie haben einen anderen Rechtsstatus als Inländer. Der Ausländerstatus ist aber nicht immer einheitlich. Das deutsche Ausländerrecht differenziert Ausländer nach ihrer Herkunft sowie dem Grund und der Verfestigung ihres Aufenthaltes. 17 Besondere Regeln gelten für Ausländer aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie für politisch Verfolgte. 18 Ausländer unterliegen im Unterschied zu Inländern ausschließlich der Gebietshoheit und damit nur insoweit der Staatsgewalt, solange sie sich innerhalb des Staatsgebietes aufhalten (Territorialprinzip). Staatsangehörige dagegen unterstehen dem Personalitätsprinzip, d.h. sie sind der Staatsgewalt

12 Flüchtlinge, die aus humanitären Erwägungen in bestimmter Zahl ("Kontingent") aufgenommen werden. Nach Erschöpfung des Kontingents wird niemand mehr aufgenommen. Sie haben auf Grund des Gesetzes über Maßnahmen im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen v. 20.7.1980 einen eigenen Rechtsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention v. 28.7.1951. Am bekanntesten sind die vietnamesischen boatpeople und Personen mosaischen Glaubens aus der ehemaligen Sowjetunion. 13 Ausländische Staatsangehörige oder Staatenlose, die am 30.6.1950 der besonderen Obhut der Vereinten Nationen unterstanden. Vgl. dazu Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet v. 25.4.1951 (BGBl. I, S. 269); abgedr., in: Weidelener / Hemberger, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, S. 185ff. 14 Personen, die keinen Asylantrag gestellt haben oder deren Asylantrag abgelehnt worden ist, die aber gleichwohl aus humanitären oder politischen Gründen nicht abgeschoben werden. Ihr Bleiberecht ergibt sich aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. §§5Iff. AuslG; dazu: Hein, "De Facto" Flüchtlinge und vorläufiger Rechtsschutz im Völkerrecht und Rechtsvergleich, in: Vom Ausländer zum Bürger, S. 592ff. 15 Beauftragte der Bundesregierung fur die Belange der Ausländer (Hrsg.), Bericht 1993, S. 13. Asylbewerber sind Flüchtlinge, die einen Asylantrag an der Grenze oder bei einer Ausländerbehörde gestellt haben (§ 7 AsylVfG), solange, bis ihr Begehren rechtskräftig beschieden ist. 16 Hauptsächliche Rechtsgrundlage ist das Ausländergesetz (AuslG) v. 9.7.1990 (BGBl. I, S. 1354) i.d.F. v. 30.6.1993 (BGBl. I, S. 1062). 17 Kanein / Renner, Ausländerrecht, Kommentar, § 1 Rdnr. 14 und § 2 Rdnr. 7ff. 18 Den weitestgehenden völkerrechtlichen Bindungen im Bereich des Aufenthaltsrechts für Ausländer unterliegt die Bundesrepublik Deutschland als Mitglied der Europäischen Union. Die Vorschriften des Europäischen Unionsrechts über die Freizügigkeit haben, soweit sie unmittelbar gelten, Vorrang vor den innerstaatlichen Regelungen. Soweit sie nicht unmittelbar gelten, sind sie verbindliche Vorgaben für die innerstaatliche Rechtsetzung. Der Bedeutung des Europäischen Freizügigkeitsrechts entsprechend ist diese Materie insgesamt im Aufenthaltsgesetz / EG-sondergesetzlich geregelt. Das neue Ausländergesetz läßt den Vorrang dieser Regelung vor dem allgemeinen Ausländerrecht ausdrücklich unberührt (§ 2 Abs. 2 AuslG).

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nicht nur im Inland unterworfen, sondern auf Grund der besonderen personalen Beziehung zum Staat auch im Ausland, unabhängig vom Aufenthaltsort. 19 Ausländer sind insbesondere hinsichtlich der Einreise und des Aufenthalts weder nach dem Grundgesetz noch nach Völkerrecht Inländern gleichgestellt. Für Ausländer wird ein Recht auf Einreise und Aufenthalt im Regelfall erst durch die ausländerrechtliche Regelung geschaffen. 20 Nur Deutsche (Art. 11 und 16 Abs. 2 GG) und asylrechtgenießende Ausländer (Art. 16a GG) haben ein Grundrecht 21 auf Aufenthalt und damit grundsätzlich auch das Recht, ihre Menschenrechte im Bundesgebiet zu verwirklichen. 22 Das Grundgesetz differenziert zwischen In- und Ausländern des weiteren bei den staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten im engeren Sinne, wie dem Wahlrecht (Art. 38 GG) und der Wehrpflicht (Art. 12a GG), die grundsätzlich nur auf Deutsche bezogen sind. Beide Grundgesetznormen sind zwar staatsangehörigkeitsrechtlich neutral formuliert. Art. 38 Abs. 2 GG lautet für die Wahl zum Deutschen Bundestag: "Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt."

Und Art. 12a Abs. 1 GG bestimmt: "Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden".

Doch in beiden Fällen ist die Reduktion auf Deutsche allgemeingültig anerkannt 23 und einfach-gesetzlich ausgestaltet in §§ 12 und 15 BWahlG sowie

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Kriele, Einführung in die Staatslehre, § 22; Blackburn , Rights of Citizenship, 1993. Auch nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts ist es zulässig, aufenthaltsrechtlich Fremde und eigene Staatsangehörige unterschiedlich zu behandeln. Es entspricht der internationalen Rechtsüberzeugung und -praxis, fremden Staatsangehörigen grundsätzlich keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt im eigenen Hoheitsgebiet zu gewähren. Vgl. Hans v. Mangoldt, Ausländerrecht, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 1, Sp. 124ff. 21 Aus einfachem Recht haben daneben u.a. sog. Kontingentflüchtlinge und heimatlose Ausländer Aufenthaltsrechte, vgl. oben Fußn. 12f. 22 Auch Art. 6 GG, der Ehe und Familie - auch von Ausländern - unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, verschafft Ausländern keinen grundrechtlichen Anspruch auf Aufenthaltsgewährung (BVerfGE 76, S. Iff). Vgl. aber §§ 17ff. AuslG., die den Aufenthalt teils in das Ermessen stellen, teils aber unter ausdrücklicher Berufung auf Art. 6 GG auch Rechtsansprüche enthalten. Auch können Ausländer nicht unter Berufung auf Art. 3 GG oder andere menschenrechtliche Gewährleistungen von Rechts wegen die Einreise ins und Aufenthalt im Bundesgebiet beanspruchen; zum eingeschränkten Bleiberecht für EG-Ausländer vgl. BVerwGE v.29.7.1993, abgedr. in: NVwZ 1994, S. 38 Iff.; vgl. auch Kemper, Die neuere Rechtsprechung des BVerwG zum Ausländerund Staatsangehörigkeitsrecht, in: NVwZ 1993, S. 746ff. 23 Vgl. zum Wahlrecht insbes. BVerfGE 83, 37ff. u. 60ff.; dazu: Isensee / Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, Dokumentation der Verfahren, 1993. 20

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§ 1 WehrpflG. 24 Allerdings gibt es seit Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht am 1. November 1993 das Wahlrecht bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum Europäischen Parlament für "Unionsbürger 2 5 Unionsbürger ist gem. Art. 8 EGV, "wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt". Unionsbürger haben nach Art. 8b EGV aktives und passives Wahlrecht auch in den Mitgliedstaaten, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, in dem sie aber ihren Wohnsitz genommen haben. 26 Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG enthält für das Kommunalwahlrecht die entsprechende verfassungsrechtliche Grundlage: 27 "Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar".

Weitere, nur Deutschen verbürgte Grundrechte sind: Freizügigkeit (Art. 11 GG), Berufsfreiheit (Art. 12 GG), Ausweisungsfreiheit (Art. 16 Abs. 2 GG)

24 Nach § 2 Abs. 1 WehrpflG können zwar auch in besonderen Fällen Ausländer verpflichtet werden. Das betrifft aber nur "Ausländer, deren Heimatstaat Deutsche gesetzlich zum Wehrdienst verpflichtet". Die dazu erforderliche Rechts Verordnung ist bis heute noch nicht erlassen (§ 50 WehrpflG). Sie beträfe auch nur Australier. Israelis und Norweger. Denn nur in deren Heimatstaaten werden Deutsche zum Wehrdienst herangezogen; vgl. dazu Walz, Ausländer zu den Waffen? Rechtliche Aspekte eines neuen Themas, NZWehrr. 1982, S. 4Iff. (44). Vertrag über die Europäische Union v. 7.2.1992 (Abi. EG Nr. C 191, S. 1 v. 29.7.1992), Zustimmungsgesetz v. 28.12.1992 (BGBl. II, S. 1251) i.d.F. v. 24.6.1994 (Abi. EG Nr. C 241; S. 22); der Vertrag ist wegen der erforderlichen Wiederholung der Abstimmung in Dänemark, der aus diesem Grunde verspäteten Abstimmung in Großbritannien, insbesondere aber wegen der erst am 12.10.1993 vom BVerfG (E 89, S. 155ff.) beschiedenen Verfassungsbeschwerden mit zehnmonatiger Verspätung in Kraft getreten; vgl. Meesen, Maastricht nach Karlsruhe, NJW 1994, S. 549ff.; Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, in: NJW 1994, S. 545ff. 26 Für die Teilnahme an den Kommunalwahlen und Europäischen Parlamentswahlen gelten für den Unionsbürger grundsätzlich dieselben Bedingungen wie fur den Angehörigen seines Wohnsitzlandes. Zur einheitlichen Wahlrechtsausübung war der Rat aufgerufen, bis zum 31.12.1993 für Europawahlen weitere Einzelheiten festzulegen. Der Rat hat auf seiner Tagung am 6. und 7.12.1993 den Vorschlag der Kommission fiir eine Richtlinie (93/ 109/ EG) des Rates v. 6.12. 1993 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen (ABl. EG Nr. L 329, S. 34), angenommen. Mit der Umsetzung dieser Richtlinien in dem Europawahlgesetz und der Europawahlordnung ist begonnen worden. Unionsbürger konnten an der Wahl zum Europäischen Parlament im Jahre 1994 in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat auch dann teilnehmen, wenn sie nicht dessen Staatsangehörigkeit besaßen. Hinsichtlich der Einführung eines Kommunalwahlrechts für Unionsbürger war der Rat aufgerufen, bis zum 31.12.1994 weitere Einzelheiten festzulegen. Ein erster Richtlinienentwurf ist noch in Ausarbeitung. Vgl. dazu Lenz, Ein einheitliches Verfahren fur die Wahl des Europäischen Parlaments, S. 23ff. 27 Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG wurde im Rahmen der Ratifikation des Maastrichter Vertrages durch Gesetz v. 21.12.1992 (BGBl. I, S. 2086) ergänzend in die alte Fassung des Art. 28 Abs. 1 GG eingefügt.

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und grundsätzlich auch das Zugangsrecht zu den öffentlichen (Art. 33 Abs. 2 GG). 28

Ämtern

Doch insgesamt betrachtet sind die vom Inländerstatus trennenden ausländerrechtlichen Vorgaben unter der Herrschaft des Grundgesetzes gering. Das für Ausländer maßgebliche deutsche Recht widerspricht dem völkerrechtlichen Mindeststandard 29 nicht nur nicht, sondern übertrifft ihn im Gegensatz zu vielen anderen Staaten sogar bei weitem. 30 Denn in der Mehrzahl der Grundrechte wird die Berechtigung ohne personale Einschränkung gewährt, was beispielsweise durch die Formulierungen "Menschen", "jeder" bzw. "jedermann" oder "niemanden" ausgedrückt wird. Es handelt sich um die Kennzeichnung sog. Menschenrechte, die In- und Ausländern wegen ihrer Menschenqualität gleichermaßen zustehen. Das gilt beispielsweise für die: - Lebensschutzrechte und Freiheit vor willkürlicher Inhaftierung (Art. 2 Abs. 2 und 104 GG), - Kommunikationsgrundrechte (Art. 5 GG), - Glaubens-,Bekenntnis- und ungestörte Religionsausübung (Art. 4 GG), - Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 GG), - Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), - Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG), - Eigentums- und Erbrechtsfreiheit (Art. 14 GG), -Rechtswegefreiheit (Art. 19 Abs. 4 GG). Verfassungsbeschwerde beim BVerfG (Art. 93 Abs. 1 Nr.4a GG) und die Prozeßgrundrechte (Art. 101 und 103 GG), - Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), - Gleichheitsrechte (Art. 3 GG). Insbesondere der vom BVerfG beschrittene Weg. den Grundrechtsschutz des Ausländers über die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG zu erweitern, stärkt die Rechtsposition der Ausländer erheblich. Über Art. 2

28 Vgl. zu den einzelnen Grundrechten Wiessner, Die Funktion der Staatsangehörigkeit, insbes. zu den Durchbrechungen im Bereich des öffentlichen Dienstes S. 313ff.; Durchbrechungen der beamtenrechtlichen Berufungsvoraussetzungen sind einfachgesetzlich durch Neufassung des § 4 BRRG und § 7 BBG v. 20.12.1993 (BGBl. I, S. 2137), in Kraft seit 23.12.1993, för Unionsbürger eingeführt worden. 29 Randelzhofer hat diesen Mindeststandard wie folgt zusammengefaßt: "Jeder Ausländer ist Rechtssubjekt; Ausländer können grundsätzlich Privatrechte erwerben; rechtmäßig erworbene Privatrechte der Ausländer sind grundsätzlich zu achten; der innerstaatliche Rechtsweg steht Ausländem offen; Verhaftungen dürfen nur im Fall eines emsthaften Verdachtes einer strafbaren Handlung vorgenommen werden; der Aufenthaltsstaat ist verpflichtet. Ausländer gegen Angriffe auf Leben, Freiheit, Eigentum und Ehre zu schützen; Ausländer haben keinen Rechtsanspruch auf politische Rechte, noch auf Ausübung bestimmter Rechte": Der Einfluß des Völker- und Europarechts auf das deutsche Ausländerrecht, S. 23ff.; ferner Schiedermair / Wollenschläger, Handbuch des Ausländerrechts, zweiter Teil B, S. 6ff.; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, S. 801ff.; Ipsen, Völkerrecht, S. 66Iff. 30 Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, S. 1038.; vgl. zum grundrechtlichen Schutz für Ausländer auch Quaritsch. Der grundrechtliche Status der Ausländer, S. 663ff.

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Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht kann sich ein Ausländer auch in den Freiheitsrechten auf Menschenrechtspositionen berufen, in denen die Spezialgrundrechte nur Deutschen vorbehalten sind. 31 Die Bundesrepublik Deutschland ist nach der durch den Maastrichter Unionsvertrag 32 aufgewerteten Konvention des Europarats zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten 33 darüber hinaus verpflichtet. 34 Angehörigen der Vertragsstaaten Versammlungs- und Vereinsfreiheit zu gewähren. Art. 11 Abs. 1 EMRK lautet: "Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen, einschließlich des Rechts, zum Schutze ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten."

Ausländer aus den Vertragsstaaten können sich somit grundsätzlich unter gleichen Bedingungen versammeln wie Deutsche. Auch ist ihnen wie Inländern die Vereinsfreiheit gewährt, was im Vereinsgesetz und im Bürgerlichen Gesetzbuch konkretisiert ist.32* Ausländer verfugen schließlich auch unterhalb der Staatsebene über besondere Partizipationsrechte im Sozialversicherungs- 36, Arbeits- 37 und Kommunalrecht 38 . 31

Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 , S. 1041. Vertrag über die Europäische Union v. 7.2.1992 (ABl. EG Nr. C 191, S. 1.) i.d.F. v. 24.6.1994 (ABl. EG Nr. C 241. S. 22); Art. F Abs. 2 EUV lautet: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind..."; vgl. dazu Streinz, Europarecht, Rdnr. 358; dOliveira. European Citizenship: Its Meaning. Its Potential. S. 126ff. (133). 33 EMRK v. 4.11.1950 (BGBl. 1952 IL S. 685, 953). 34 Die EMRK ist in innerstaatliches Recht mit dem Rang eines Bundesgesetzes transformiert worden (Art. 59 Abs. 2 GG). Sie ist nicht zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts i.S.d. Art. 25 GG zu rechnen, da sie nicht Grundsätze der zwischenstaatlichen, sondern der staatlichen Ordnung behandelt; Maunz / Zippelius. Deutsches Staatsrecht, § 17 II 3. 35 Soweit erleichterte Beschränkungen für Ausi ander ver ei ne gem. §§ 40fF. VereinsG gelten, stehen sie im Einklang mit der EMRK. insbesondere mit Art. 11 Abs. 2, wonach die Vertragsstaaten berechtigt sind. Einschränkungen „im Interesse der äußeren und inneren Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Verbrechensverhütung, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer" vorzunehmen. 36 Sie besitzen das aktive und passive Wahlrecht zu den Selbstverwaltungsorganen der Sozialversicherungsträger gem. §§50 und 51 SGB IV. 3 ' Darüber hinaus vertilgen ausländische Arbeitnehmer über das aktive und passive Wahlrecht bei Betriebsrats- und Personalratswahlen. Eine Ausnahme gilt für die Länder Bayern und Baden-Württemberg. In diesen beiden Ländern beschränkt sich das Wahlrecht ausländischer Arbeitnehmer bei Personalratswahlen auf das aktive Wahlrecht. Vorgesehen ist darüber hinaus, Ausländern die Beteiligung an der Selbstverwaltung der Bundesanstalt fur /Vrbeit zu ermöglichen. Diesbezüglich ist beabsichtigt, § 196 Abs. 1 v\FG entsprechend zu ändern. 38 Auf kommunaler Ebene haben sich darüber hinaus Ausländerbeiräte und -ausschüsse gebildet. Wahlmodus. Zusammensetzung und Befugnisse dieser Einrichtungen unterscheiden sich je nach Bundesland und Kommunalverfassung. In einigen Bundesländern sind diese Einrichtungen aus von der ausländischen Wohnbevölkerung gewählten Vertretern und vom Gemeinde- oder Stadtrat ent32

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III, Vorgetragene Gründe zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts Seit Anfang der 80ger Jahre wird zunehmend angestrebt, den Statusunterschied von hier seßhaften Ausländern zu Deutschen weiter anzugleichen. 39 Insbesondere wurde der Versuch unternommen, ihnen politische Mitwirkungsrechte zuzugestehen.40 Diese Vorhaben scheiterten jedoch am Grundgesetz. In den Entscheidungen zum Ausländerwahlrecht aus dem Jahre 1990 zeigte das BVerfG verfassungsrechtliche Grenzen der Anpassung des Ausländerrechts an den Inländerstatus. 41 Das Wahlrecht zu den Parlamenten wurde Ausländern mangels Zugehörigkeit zum Staatsvolk versagt. 42 Zugleich verwies das BVerfG aber auf die Möglichkeit, Wahlrechtsgleichheit über die Verleihung der Staatsangehörigkeit herzustellen. 43 Seitdem ist die deutsche Staatsangehörigkeit vermehrt in Zusammenhang mit der Integration von Ausländern in die öffentliche Diskussion geraten. Das Staatsangehörigkeitsrecht ist seit den oben genannten Entscheidungen mehrmals geändert worden und hat die Einbürgerungsvoraussetzungen für diesen Personenkreis mehrfach erleichtert. Die Einbürgerungszahlen sind - ohne statistische Erfassung der jüngsten Erleichterungen durch die Novelle 44 des Jahres 1993 - seit den Entscheidungen zum Ausländerwahlrecht um ca. 100% (!) gestiegen.45 Während die Statistik im Zeitraum von 1974 bis 1990 pro Jahr durchschnittlich 12.000 bis 14.000 Einbürgerungen von Ausländern auswies, wuchs sie für das Jahr 1991 auf ca. 27.000 an. Nicht miteingerechnet ist der weitaus größte Anteil von Einbürgerungen, nämlich ca. 114.000 im Jahre 1991. Denn sie betrafen sandten deutschen Vertretern zusammengesetzt. Eine bundeseinheitliche Regelung liegt aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland nicht vor. Als erstes Bundesland hat Hessen die Gemeindeordnung dahingehend geändert, daß ab einer bestimmten Einwohnerzahl die Wahl von Ausländerbeiräten verpflichtend ist. Die Ausländerbeiräte und -ausschüsse verfügen in der Regel über beratende Funktionen. Entscheidungskompetenzen haben sie nicht. In Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sind die Ausländerbeiräte in Arbeitsgemeinschaften zusammengeschlossen, um sich auf diesem Weg zusätzlich öffentliches und politisches Gehör zu verschaffen. 39 Renner, Verhinderung von Mehrstaatigkeit bei Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit, in: ZAR 1993, S. 18ff. (19). 40 Quaritsch, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht, in: DÖV 1983, S. Iff.; ders., Einbürgerungspolitik als Ausländerpolitik?, in: Der Staat 1988, S. 481ff. 41 Normenkontrollverfahren zum schleswig-holsteinischen Gesetz zur Änderung des Gemeindeund Kreiswahlgesetzes v. 21.2.1989 (BVerfGE 83, 37ff.) sowie zum hamburgischen Gesetz zur Einfuhrung des Wahlrechts für Ausländer zu den Bezirksversammlungen v. 20.2.1989 (BVerfGE 83, 60ff.). 42 BVerfGE 83. 37ff. (52). 43 Ebenda. 44 Gesetz v. 30.6.1993 (BGBl. I, S. 1062); in Kraft seit 1.7.1993. 45 Daraufhinweisend auch: Rittstieg. Ausländerwahlrecht - eine Nachlese, in: Vom Ausländer zum Bürger, S. 365ff. (368).

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Deutsche ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die nicht als Ausländer zählen. Es handelte sich größtenteils um Flüchtlinge und Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit sowie deren Ehegatten und Abkömmlinge i.S.d. Art. 116 Abs. 1 GG. 4 6 Die Zielsetzung, Ausländer beschleunigt in den deutschen Staatsverband aufzunehmen, wird unterschiedlich begründet. Zum überwiegenden Teil wird sie auf das Anwachsen der Aufenthaltszeiten der ausländischen Bevölkerung gestützt. Ende 1991 hatten 25% hier lebender Ausländer Aufenthaltszeiten von über 20 Jahren, 40% von 15 Jahren und 55% von über 10 Jahren aufzuweisen. 47 Daraus wird in breiter parlamentarischer Übereinstimmung geschlußfolgert: 48 "Kein Staat kann es auf Dauer hinnehmen, 'daß ein zahlenmäßig bedeutender Teil der Bevölkerung über Generationen hinweg außerhalb der staatlichen Gemeinschaft und außerhalb der Loyalitätspflichten ihm gegenübersteht'".

Als weitere Gründe werden im öffenlichen Diskurs vor allem vorgetragen: Beschleunigte Verleihung der Staatsangehörigkeit beseitige die als "ungerecht" angesehene (Rest-) Ungleichheit von In- und Ausländern 49 , verfestige das demokratische Prinzip des Grundgesetzes 50, fördere (zumindest) den Europäischen Einigungsprozeß und minimiere Gewalttätigkeiten.51 Anläßlich der seit September 1991 vermehrt öffentlich registrierten Anschläge und Übergriffe 52 auf "Ausländer", die zu etwa 90% aller Fälle gegen Asylbewerber

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Beauftragte der Bundesregierung fiir die Belange der Ausländer (Hrsg.), Bericht 1993, S. 166. 47 Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer (Hrsg.), Bericht 1993, S. 13. 48 Begründung des Gesetzentwurfs v. 10.3.1993 der SPD-Bundestagsfraktion (BT-Drs. 12 / 4533, S. 5) unter Zitation der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD zur Fortentwicklung des Ausländerrechts v. 3.10.1984 (BT-Drs. 10 / 2071). 49 BR-Drs. 403 / 93, Anlage, S. 1: "Die Erweiterung der Möglichkeit der Zuerkennung der deutschen Staatsbürgerschaft auch unter Hinnahme von Doppelbürgerschaft ist ein wichtiger Beitrag dazu, die bei uns lebenden Menschen ausländischer Herkunft rechtlich nicht mehr als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse zu behandeln". 50 BT-Drs. 12 / 4533, S. 5.: "Vollständige rechtliche Gleichstellung ist ein unverzichtbarer Schritt zu den von allen demokratischen Kräften im Interesse der Stabilität unserer Demokratie gewollten Abbau politischer und sozialer Spannungen". 51 BT-Drs. 12 / 4533: BT-Drs. 12 / 7424; BR-Drs. 402 / 93. 52 In den Jahren 1987 bis 1990 wurden durchschnittlich 250 ausländerfeindliche Straftaten gezählt. Seit September 1991 stiegen ausländerfeindlich motivierte Straftaten sprunghaft an. Dies geschah nach einzelnen besonders dramatischen Vorfallen, wie z.B. in Hoyerswerda (Sachsen) Spätsommer 1991 oder Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) Spätsommer 1992. Im Jahre 1991 wurden insgesamt 2.426 Straftaten registriert. 1992 nahmen die ausländerfeindlichen Straftaten auf 6.336 zu. Darunter waren 596 Brandanschläge und 608 Angriffe auf Personen. 6 Menschen wurden dabei getötet. Für das 1. Halbjahr 1993 weist die Statistik 3.967 ausländerfeindliche Straftaten aus. 5 Menschen wurden getötet; Beauftragte der Bundesregierung fiir die Belange der Ausländer (Hrsg.), Bericht 1993, S. 117f. 3 Ziemske

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und ihre Unterkünfte gerichtet sind, 53 ist das Staatsangehörigkeitsrecht zunehmend in den Mittelpunkt der Ausländerpolitik gerückt. 54 So wird als Motiv vorgetragen: 55 "Fremdenangst und Ausländerfeindlichkeit kann nur dann dauerhaft der Boden entzogen werden, wenn die gesellschaftliche Integration der inländischen Ausländer die staatsangehörigkeitsrechtliche Seite einbezieht".

Noch deutlicher kommt der Gesichtspunkt in dem Entschließungsantrag des Bundesrates vom 9. Juni 1993 zum Ausdruck, der in unmittelbarer Reaktion auf die Brandanschläge von Solingen 56 forderte: 57 "Angesichts der jüngsten Anschläge auf ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger hält es der Bundesrat für dringend erforderlich, die Möglichkeit des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit ohne Zwang zur Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit wesentlich zu erweitern".

Denn nach seiner Auffassung "bleibt" die öffentlich beständig wiederholte Bereitschaft zum friedlichen Zusammenleben mit der nichtdeutschen Bevölkerung "solange ein Lippenbekenntnis, wie nicht Taten folgen". 58 Wenngleich in den vorgetragenen Begründungen nicht immer unumstritten, herrscht doch politischer Konsens aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, den Anteil von Ausländern an Verleihungen der Staatsangehörigkeit weiter ansteigen zu lassen. In der Stellungnahme der Bundesregierung vom 16. September 1993 heißt es: 59 "Auch die Bundesregierung hält eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts für dringlich. Sie hat hierzu - entsprechend der Koalitionsvereinbarung - umfangreiche Vorarbeiten und Prüfungen eingeleitet. Von Bedeutung ist dabei u.a. die Frage, unter welchen Voraussetzungen ggf. weitere Erleichterungen des Staatsangehörigkeitserwerbs ermöglicht werden können".

53 Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer (Hrsg.), Bericht 1993, S. 119. Darüber hinaus wurden auch Behinderte und Obdachlose angegriffen sowie jüdische Friedhöfe geschändet und Gedenkstätten zerstört. 54 Die in den letzten Jahren steigende Gewaltbereitschaft gegen "bestimmte" Gruppen ist nach Ansicht der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung "ein mittlerweile häufig diskutiertes Problem, dessen Vielschichtigkeit nicht nur die Analyse, sondern auch die Entwicklung und Durchführung geeigneter Gegenmaßnahmen erheblich erschwert". Beauftragte der Bundesregierung ßr die Belange der Ausländer (Hrsg.), Bericht 1993. S. 116f. BT-Drs. 12/4533, S. 5. 56 Bei dem Brandanschlag in Solingen zu Pfingsten 1993 wurden fünf Türkinnen ermordet. Ihm folgten tagelange Auseinanderstzungen zwischen der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen und türkischen Gruppen. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer (Hrsg.), Bericht 1993, S. 118. 37 BR-Drs. 402 / 93. Anlage. S. 1. 58 Ebenda. 9 • BT-Drs. 12 / 5684, Anlage 2, S. 9.

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Aus diesem Grunde ist eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit der Aufgabe befaßt, konzeptionelle Vorarbeiten zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zu erarbeiten. 60

IV. Der Grundsätze-Streit

im Staatsangehörigkeitsrecht

Über die gesetzliche Ausgestaltung der zur Reform gestellten Erwerbsmodalitäten wird allerdings insofern politisch gestritten, als die Grundsätze des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts betroffen sind. Während die überwiegenden Teile der Regierungskoalition "weitere" Erleichterungen unter Achtung der geltenden Grundsätze im Staatsangehörigkeitsrecht schaffen wollen 61 , fordern insbesondere die parlamentarische Opposition im Bundestag62 und der Bundesrat 63 bei gleicher Zielsetzung eine Abkehr von ihnen. Verfassungsrechtlich stellt sich im Zusammenhang dieses GrundsätzeStreits folgende zentrale Frage: Darf der Gesetzgeber verfassungsrechtlich uneingeschränkt Grundsätze des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit regeln (aufstellen, aufheben oder ändern)? Das geltende Recht bestimmt den Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt (originär) und Ableitung in anderen Fällen (derivativ). 64 Bislang anerkannter ausschließlicher originärer Erwerbsgrund der deutschen Staatsangehörigkeit ist das Abstammungsprinzip (ius sanguinis). Die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt mit Geburt "kraft Gesetzes", wer zumindest von einem deutschen Elternteil abstammt. § 4 Abs. 1 Satz 1 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz - RuStAG 65 lautet: "Durch Geburt erwirbt ein Kind die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt."

Gemischt-nationale Abkömmlinge können durch Geburt mehrere Staatsangehörigkeiten erhalten, wenn beispielsweise das Heimatrecht des nichtdeutschen Elternteils ebenfalls vom Abstammungsgrundsatz beherrscht wird. Das deutsche Recht nimmt originär entstandene Mehrstaatigkeit hin. 6 6 Ab60 Vgl. dazu Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages, Stenographischer Bericht v. 29.4.1993 (12/155, S. 13196ff.). 61 Vgl. dazu BT-Drs. 12 / 5684. Anlage 2. S. 10. 62 BT-Drs. 12/4533. 63 BT-Drs. 12 / 5684. 64 Vgl. dazu unten § 15. 65 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz v. 22.7.1913 (RGBl. I, S. 583 - BGBl. III 102-1) in Kraft seit 1.1.1914; zuletzt geändert durch Gesetz v. 30.6.1993 (BGBl. I, S. 1062) in Kraft seit 1.7.1993. 66 Vgl. dazu unten § 17.

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kömmlinge von zwei ausländischen Elternteilen erwerben dagegen nicht originär die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie haben allerdings die Möglichkeit, sie derivativ, meist durch Einbürgerung zu erlangen. Einbürgerung setzt im Unterschied zum gesetzlichen Geburtserwerb einen entsprechend bekundeten Willen, in der Regel einen "Antrag" des Betroffenen, voraus. 67 Bislang ebenfalls geltender Grundsatz beim Einbürgerungserwerb ist, Mehrstaatigkeit zu vermeiden: Sie ist nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG "national und international von Übel". 68 Ein Ausländer kann daher die deutsche Staatsangehörigkeit bei Vorliegen sonstiger, in Einzelbestimmungen konkretisierter Voraussetzungen grundsätzlich nur dann erwerben, wenn er bisherige Staatsangehörigkeiten aufgibt oder spätestens mit Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit verliert. So führen etwa die Einbürgerungsrichtlinien aus: 69 "Die Vermeidung von Mehrstaatigkeit ist bis in die neueste Zeit das Ziel internationaler Abkommen - so u.a. des Übereinkommens über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatern - und der nationalen Gesetzgebung vieler Staaten. Deshalb soll eine Einbürgerung nur vollzogen werden, wenn nachgewiesen ist, daß der Einbürgerungsbewerber spätestens mit der Einbürgerung aus seiner bisherigen Staatsangehörigkeit ausscheidet."

V. Die Reformvorschläge Die Reformvorschläge 70 zum deutschen Staatsangehörigkeitsrecht halten zum Teil nicht mehr an den vorgenannten Grundsätzen fest. Für den originären Staatsangehörigkeitserwerb durch Geburt knüpfen einige von ihnen an das Territorialitätsprinzip (ius soli) an. Die deutsche Staatsangehörigkeit soll ausländischen Abkömmlingen "kraft Gesetzes", also automatisch durch

67

Vgl. dazu unten § 15. So Beschlüsse v. 21.5.1974 = BVerfGE 37, 217ff. (254f.) und v. 16.9.1990 = NJW 1991, S. 633; so auch: Bundesgesetzgeber (§§ 9, 25, 26 RuStAG, 85ff. AuslG, Transformationsgesetz v. 29.9.1969 zum Übereinkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatern - BGBl. 1969 II, S. 1953); so auch BVerwG in st. Rspr.: BVerwG NJW 1991, S. 2227 (gegenüber EG-Bürgern); BVerwG, Buchholz § 8 RuStAG Nr. 37. 69 Einbürgerungsrichtlinien des Bundesministers des Innern in Abstimmung mit den Innenministern (-Senatoren) der Länder v. 1.7.1977 i.d.F. v. 7.3.1989, Nr. 5.3.1; abgedr. etwa bei: Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 173ff. (182); Weidelener ! Hemberger, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, S. 247ff. (257). 70 BT-Drs. 12/4533; BT-Drs. 12/ 5253; BT-Drs. 12/ 5684; BT-Drs. 12/7318; BT-Drs. 12/ 7424; Umdruck Nr. 204, 12. WP / 27.4.1993 (Entwurf der F.D.P. BT-Fraktion), dazu: Beschluß des Bundesvorstandes der F.D.P. v. 29.4.1993, in: fdk, Sonderausgabe v. 30.8.1993; BR-Drs. 402 und 403 / 93. 68

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Geburl im Inland verliehen werden. § 4 Abs. 1 RuStAG soll etwa die Fassung erhalten: 71 "Die Staatsangehörigkeit erwirbt ein Kind 1. durch Geburt, wenn ein Elternteil im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit ist, und 2. durch Geburt im Geltungsbereich dieses Gesetzes, wenn zumindest ein Elternteil eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltsberechtigung besitzt und - beide Eiternteile ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben oder - der andere Elternteil verstorben ist".

Mit der Einführung des ius soli (§ 4 Abs. 1 Nr.2 des Entwurfs) ist beabsichtigt, die bisherige Integration im Wege der Einbürgerung zugunsten einer originären Geburtsintegration umzugestalten. Nach Ansicht dieser Reformer werde das deutsche Einbürgerungsverfahren als "abschreckend" empfunden, es enthalte zu "hohe Hindernisse" für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. 72 "Zentrales", aber nicht ausschließliches Einbürgerungshindernis sei der Grundsatz der auschließlichen Staatsangehörigkeit. Über den Geburtserwerb verlören die Einbürgerungshindernisse an Bedeutung.73 Originäre - ius-soli-bedingte - Fälle vermehrt eintretender Mehrstaatigkeit werden nicht problematisiert. Sie sollen hingenommen werden. Denn: 74 "Eine parallel vorhandene ausländische Staatsangehörigkeit wird nur formal bestehen und in aller Regel ineffektiv bleiben".

Dieselben Reformvorschläge weichen auch beim derivativen Erwerb durch Einbürgerung von dem Grundsatz der Vermeidung der Mehrstaatigkeit ab. Ausländer sollen unter Beibehaltung bisheriger Staatsangehörigkeiten Deutsche werden können, und zwar über die begleitende Einfuhrung der "Anspruchseinbürgerung" 5 als Regelfall: 6 "Die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit wird nicht mehr verlangt, da die jeweiligen Vorschriften die Voraussetzungen fiir den Einbürgerungsanspruch abschließend benennen".

71 72 73 74

Exemplarisch: Gesetzentwurf des Bundesrates v. 16.9.1993, BT-Drs. 12 / 5684, S. 4. Ebenda. S.6: vgl. ähnliche Begründung in BT-Drs. 12 / 4533, S.7. Ebenda. Ebenda.: Zitat aus der Begründung des nahezu identischen Gesetzentwurfs BT.Drs. 12 / 4533,

S.7. 75

Zum Begriff und zur Abgrenzung von "Ermessenseinbürgerungen" vgl. unten § 15 unter I I 3. BT-Drs. 12 / 5684, S. 6; so im Tenor auch Umdruck Nr. 204, 12. WP / 27.4.1993 (Entwurf der F.D.P. - BT-Fraktion), S. 12. 76

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Loyalitätsbindungen zu den Herkunftsländern müssen nach den Vorstellungen dieser Reformvorschläge nicht abgebrochen werden. 77 Deutsche Staatsangehörige, die ein Interesse am derivativen Erwerb ausländischer Staatsangehörigkeiten haben, sollen dagegen nach den Vorstellungen dieser Reformer auch weiterhin diese nur unter Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit erwerben können. Von diesen Reformern wird das Modell eines geteilten Staatsvolkes aus einzelstaatigen Altbürgern und mehrstaatigen Neubürgern präferiert. Nur auf der Aufhebung oder dem sonstigen Verlust der "fremden" Staatsangehörigkeit soll nicht mehr bestanden werden. Ein türkischer Staatsangehöriger 78 beispielsweise soll nach diesen Reformvorschlägen die deutsche Staatsangehörigkeit unter Aufrechterhaltung seiner bisherigen Staatsangehörigkeit erwerben können. Würde aber umgekehrt ein Deutscher in der Türkei die türkische Staatsangehörigkeit erwerben, würde auch weiterhin nach deutschem Recht gem. § 25 Abs. 1 RuStAG der automatische Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit eintreten. Als Türke hätte er dann allerdings wieder das Recht, unter Beibehaltung der türkischen Staatsangehörigkeit Deutscher zu werden. Nach einigen dieser Reformer bedarf der Ausschluß Deutscher von der Mehrstaatigkeit ebenfalls einer Neuregelung. Sie wird allerdings von ihnen nur in Aussicht gestellt, nicht gleichsam mit der Forderung nach Neuregelung zugunsten der ausländischen Bevölkerung zum Junktim erhoben. Im Hinblick auf die praktische Bedeutung und das verfassungspolitische Postulat der Kongruenz von Wohnbevölkerung und Staatsvolk "erscheine es vertretbar", die vorgesehenen Regelungen, die zur Hinnahme von Mehrstaatigkeit für Ausländer fuhren, "schon vorab" in Kraft zu setzen.79 In den meisten Reformentwürfen 80 fehlt selbst die "Inaussichtstellung" zukünftiger Gleichbehandlung deutscher Altbürger mit mehrstaatigen Neubürgern.

77 BT-Drs. 12 / 4533, S. 7; vgl. dazu auch BR-Drs. 403 / 93, Anlage, S. 2: "Die Eingebürgerten werden zu vollen Trägern aller politischen Rechte und Pflichten in Deutschland, ohne gezwungen zu sein, sich sofort vollständig von ihrer ursprünglichen Identität lossagen zu müssen". 78 Das Beispiel wurde gewählt, weil türkische Staatsangehörige den weitaus größten nationalen Ausländeranteil der hiesigen Gesamtbevölkerung stellen (vgl. oben unter I.) und die Türkei nicht dem Europaratsabkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatern v. 6.5.1963 beigetreten ist (vgl. dazu unten § 2). 79 BT-Drs. 12/4533, S. 7. 80 BT-Drs. 12 / 5684: BT-Drs. 12 / 7424; BR-Drs. 402 und 403.

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VI. Zielsetzung der Untersuchung Wie sind verfassungsrechtlich die Umstrukturierungen der Grundsätze im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht durch die: 1. Einführung des ius soli sowie 2. generelle Hinnahme der Mehrstaatigkeit (nur zugunsten von Ausländern) zu beurteilen? Traditionell verbreitet ist die Ansicht spezifisch verfassungsrechtliche Vorgaben hinsichtlich der Erwerbsmodalitäten der deutschen Staatsangehörigkeit gäbe es nicht. Die Reformdiskussion könnte unter Zugrundelegung dieser Auffassung im wesentlichen eine reine Zweckmäßigkeitsdiskussion bleiben. Es ginge nicht um Angriff auf und Verteidigung von Verfassungspositionen, sondern hauptsächlich darum, welche politischen Beweggründe den Gesetzgeber für die Beibehaltung der gegenwärtigen bzw. Änderung zugunsten der politisch "gewünschten" Rechtslage sprächen. Allenfalls der parlamentarische Stil, etwa die Konvention, Neuerungen zu rechtfertigen, würde Änderungen für begründungspflichtig erachten, mithin gebieten, daß die "besseren" Gründe für sie zu sprechen hätten.

VII. Herkömmliche Lehren im Staatsangehörigkeitsrecht Im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht werden herkömmlich drei unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten. 1. Lehre der Gcstaltungsfreiheit Nach der Lehre von der Gestaltungsfreiheit 81 ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nahezu vollständig frei, das Staatsangehörigkeitsrecht zu regeln. Er soll insbesondere im Hinblick auf die Erwerbsmodalitäten nur an die Schranken des Völkerrechts gebunden sein. Das deutsche Verfassungs81 Hailbronner, Rechtsfragen der Doppelten Staatsangehörigkeit bei der erleichterten Einbürgerung von Wanderarbeitnehmern und ihren Familienangehörigen, S. 2 I f f ; ders., Einbürgerung, S. 36ff ; ders., Mehrfache Staatsangehörigkeit und Einbürgerung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vom Ausländer zum Bürger, S. 393ff.; Renner, Verhinderung von Mehrstaatigkeit bei Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit, in: ZAR 1993, S. 18ff. (25); modifiziert Renner, Erleichterung der Einbürgerung - ein Ausweg?, in: Vom Ausländer zum Bürger, S. 372ff; Predeick, Staatsangehörigkeitsrecht und Ausländerpolitik, in: DVB1. 1991, S. 623; Wollenschläger / Sehr ami, lus soli und Hinnahme von Mehrstaatigkeit - Zulässige und notwwendige Elemente einer Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, in: ZRP 1994, S. 225ff. (226).

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recht biete etwa nach Kay Hailbronner 82 dem Gesetzgeber angesichts der uneingeschränkten Formulierung des Art. 116 Abs. 1 GG nur insoweit Vorgaben, als es völkerrechtliche Bindungswirkungen über seine Öffnungen entstehen lasse, nämlich: Völkervertragsrechtlich fließen staatsangehörigkeitsrechtliche Inhaltsvorgaben gemäß Art. 59 Abs. 2 bzw. Art. 23 und 24 Abs. 1 GG ein. Außerhalb des Völkervertragsrechts öffnet Art. 25 GG allgemeinen Regeln des Völkerrechts Zugang auch in die innerstaatliche Rechtsordnung. 83 Gestaltete der deutsche Gesetzgeber das Staatsangehörigkeitsrecht entgegen transformierten völkerrechtlichen Verträgen, handelte er innerstaatlich zwar gesetzeswidrig. Völkerrechtlich müßte er das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht anpassen oder den Versuch unternehmen, sich von völkerrechtlichen Bindungen zu lösen. Die zukünftige Ausgestaltung der Staatsangehörigkeit entgegen völkerrechtlicher Verpflichtungen bliebe aber grundsätzlich innerstaatlich wirksam. 84 Völkerrechtlich stießen diejenigen Reformvorschläge, die beabsichtigen, die Grundsätze des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts umzustrukturieren, an keine unüberwindbare Schranke. Der ius-soli-Erwerb ist wie der ius-sanguinis-Erwerb gleichermaßen völkerrechtlich anerkannt. 85 Auch besteht kein internationales "Verbot" der Mehrstaatigkeit. 86 Mehrstaatigkeit wird zwar nach allgemeiner Auffassung der Staaten als "unerwünscht" und "Übel" angesehen.87 Der Grundsatz der "Verringerung" der Mehrstaatigkeit ist aus diesem Grunde auch in bi- bzw. multilateralen Abkommen formuliert, wie etwa der Haager Konvention 88 aus dem Jahre 1930 oder dem Mehrstaaterübereinkommen 89 aus dem Jahre 1963. Aber auch sie enthalten nicht die 82 Hailbronner, Rechtsfragen der Doppelten Staatsangehörigkeit bei der erleichterten Einbürgerung von Wanderarbeitnehmern und ihren Familienangehörigen, S. 2Iff.; ders., Einbürgerung, S. 36ff.: ders., Mehrfache Staatsangehörigkeit und Einbürgerung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vom Ausländer zum Bürger, S. 393ff.; vgl. dazu auch unten § 34 unter I. 83 Vgl. dazu unten § 2. 84 H.M. vgl. Makarov / v. Mangoldt. Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, § 8 RuStAG Rdnr. 51; der IGH hat die Frage in der Nottebohm-Entscheidung ausdrücklich offengelassen (ICJ Reports 1955, S. 4ff, 20; dazu: Makarov / v. Mangoldt. Einl. I, Rdnr. 5); nach BVerfG beurteilt sich die Frage "nach innerstaatlichem Recht" (BVerlGE 1. 322fT., 329); Randelzhofer, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 16 Rdnr. 13; Kimminich. in: Bonner Kommentar, Art. 16 Rdnr. 18. 85 So schon BVerfGE 1, 322ff. (329). 86 De Groot, Staatsangehörigkeitsrecht im Wandel, 1989, S. 17.; Hailbronner, Einbürgerung, S. 38; Breunig. Zur rechtlichen Problematik der mehrfachen Staatsangehörigkeit, in: DVB1. 1975, S. 75 8f. 8 ' Wollenschläger / Schraml. lus soli und Hinnahme von Mehrstaatigkeit - Zulässige und notwendige Elemente einer Reform des Staatsangehörigkeitsrechts?, in: ZRP 1994, S. 225ff. (226) m.w.N.; Hailbronner, Einbürgerung, S. 39. 88 Abgedr. in: Lichter. Die Staatsangehörigkeit nach deutschem und ausländischem Recht, S. 845ff. 89 BGBl. 1969 I, S. 1953; in Kraft seit 18.12.1969 (BGBl. II, S. 2232).

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Wirkung eines "Verbotes". 90 Das Haager Abkommen ist überdies vom Deutschen Reich nur paraphiert, nicht aber ratifiziert worden, auch nicht von der Bundesrepublik Deutschland. Es bindet nur, soweit es allgemeine Grundsätze des Völkerrechts i.S.d. Art. 25 GG formuliert. 91 Das in die deutsche Rechtsordnung transformierte Mehrstaaterübereinkommen verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland nur einfach-gesetzlich. 92 Eine Umorientierung der geltenden Prinzipien des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts wäre bei vorausgehender Kündigung 93 des Abkommens durch Aufhebung des Transformationsgesetzes zulässig, nach Auffassung einiger Reformer gar nicht erforderlich. 94 Für die Lehre von der Gestaltungsfreiheit spricht ihre Intention. Sie will auf die Völkerrechtsfreundlichkeit 95 des Grundgesetzes aufbauend - das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland sehr weitgehend den Regelungsprinzipien der internationalen Staatengemeinschaft anpassen. Ihr Problem liegt allerdings in der Überforderung des Völkerrechts. Denn das geltende Völkerrecht der souveränen Staaten enthält selbst nur begrenzt klare und verbindliche Vorgaben für das Staatsangehörigkeitsrecht. Staatsangehörigkeit ist gerade nach internationaler Gepflogenheit Regelungsmaterie des Staatsrechts, nicht des Völkerrechts: 96 "International Law does not, with any great specifity establish how nationality is to be acquired, or even states must ensure that everyone has a nationality."

Das Völkerrecht setzt staatliche Vorgaben geradezu voraus. Es will sie nur begrenzen und harmonisieren, nicht dagegen primär schaffen. 97 Das Bedürfnis des Völkerrechts nach einer Harmonisierung und Begrenzung staat90 BVerfGE 37, 217ff. (218); Randelzhofer. Kommentierung zu Art. 16 GG, in: Maunz / Dürig/ Herzog / Scholz, Rdnr. 42; Rittstieg, NJW 1990. 1403. 91 Wollenschläger / Schraml, lus soli und Hinnahme von Mehrstaatigkeit - Zulässige und notwendige Elemente einer Reform des Staatsangehörigkeitsrechts?, in: ZRP 1994, S. 226f.; de Groot, Staatsangehörigkeitsrecht im Wandel, S. ìli., Randelzhofer, Nationality, S. 417. 92 H.M. Blumenwitz, Abstammungsgrundsatz und Territorialitätsprinzip, in: ZfP 1994, S. 246ff. (256); a.A. Bleckmann, Völker- und verfassungsrechtliche Probleme des Erwerbs und des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit, S. I / 7ff, der zumindest die verpflichtende Wirkung des Art. 1 verneint. 93 Dazu Zuleeg, Doppelte Staatsangehörigkeit - ein gangbarer Weg?, S. 255ff. (261, 266). 94 Ebenda, S. 254.; Rittstieg, Doppelte Staatsangehörigkeit im Völkerrecht, S. 112ff. (121ff.), insbes. zur Kündigung des Abkommens S. 128f. 95 Dazu u.a. Kimminich, Einfuhrung in das Völkerrecht, S. 273; Bleckmann, Die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, in: DÖV 1979, S. 309ff.; sowie unten § 2. 96 Jennings / Watts, Oppenheim's International Law, Bd. 1, S. 869 unter Verweis auf NottebohmCase (ICJ Rep. (1955), p. 23); vgl. weiter: BVerfGE 37, 217ff. (218); Kriele, Einführung in die Staatslehre, § 22; Randelzhofer, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 16 Rdnr. 10: ders., Nationality, S. 416ff.(417): Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, § 8 I. 97 Hannappel, Staatsangehörigkeit und Völkerrecht, S. 13f.

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licher Souveränität bei der Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen entsteht immer dann, wenn ein Staat durch seine staatsangehörigkeitsrechtliche Ausgestaltung die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates, also insbesondere dessen personales Band zu seinen Staatsangehörigen, wesentlich berührt. Wo allerdings die Grenzen der Regelungsbefugnis der Staaten verlaufen, ist in der Staatenpraxis vielfach umstritten. Daraus resultieren dann häufig internationale Probleme in den Beziehungen der Staaten zueinander. Ein übermäßig agierender nationaler Gesetzgeber könnte das Beziehungsgeflecht der Staatengemeinschaft erheblich belasten. Diese Problematik sollen folgende Gedankenspiele verdeutlichen: Könnte der Gesetzgeber, in weltbürgerlicher Intention handelnd, die deutsche Staatsangehörigkeit auf alle Menschen dieser Erde erstrecken? 98 Dürfte der Gesetzgeber "Sammeleinbürgerungen" vornehmen, etwa bezogen auf alle Österreicher, deutschsprachigen Schweizer oder deutschstämmigen Auswanderer und deren Abkömmlinge in den klassischen Einwanderungsstaaten USA und Kanada? Ist der Gesetzgeber gleichermaßen frei, das deutsche Volk zu minimieren oder in staatssuizidierender Weise die deutsche Staatsangehörigkeit gar insgesamt zum Erlöschen zu bringen, etwa durch Einschränkung oder Streichung aller Erwerbsmöglichkeiten? Bei Realisierung solcher Vorhaben stieße der Gesetzgeber an die Grenzen des völkerrechtlich Zulässigen, die er in einigen Fällen sicher verletzen würde. Nach geltendem Völkerrecht ist zwar jeder Staat berechtigt, seine Staatsangehörigkeit autonom zu regeln. Er hat hierbei aber die Souveränität anderer Staaten zu respektieren. 99 Vom Völkerrecht her muß der Erwerb der Staatsangehörigkeit an eine natürliche Verbundenheit - ein "genuine link" zum verleihenden Staat anknüpfen. 100 Im Falle der weltbürgerlichen Aus-

98 Diese Frage ist angesichts des Entschließungsantrags einzelner Abgeordneter und der Gruppe Bündnis 90 / Die Grünen v. 27.4.1994 (BT-Drs. 12 / 7424) nicht abwegig. Dort heißt es unter Punkt 4: "Durch Geburt erwirbt die deutsche Staatsangehörigkeit a) das eheliche Kind ausländischer Eltern und b) das nicht-eheliche Kind einer ausländischen Mutter." Möglichenveise ist die Auslassung jeglicher - beispielsweise territorialer oder abstammungsrechtlicher - Eingrenzung des Geburtserwerbs auf redaktionelles Versehen zurückzufuhren. Wenn dies aber bewußt geschehen ist, handelt es sich um eine Regelung, die Geburten auf der ganzen Welt miteinbezieht und so die deutsche Staatsangehörigkeit weltweit ausdehnt. 99 In diesem Sinne auch Art. 1 Satz 2 der Haager Konvention v. 12.4.1930: "Die anderen Staaten müssen diese Gesetzgebung (im Staatsangehörigkeitsrecht der Staaten) anerkennen, soweit sie mit den internationalen Verträgen, der internationalen Übung und den auf dem Gebiet der Staatsangehörigkeit allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen im Einklang stehen"; vollständig abgedruckter Text bei: Lichter, Die Staatsangehörigkeit, S. 845ff.; BVerfGE 1. 322ff. (329): "Das Ermessen des Staates, diese Angelegenheiten zu regeln, wird durch das allgemeine Völkerrecht begrenzt". 100 I G H im Nottebohm-Fall, ICJ Reports 1955. 4 (20); BVerfGE 1, S. 322ff. (328f.); BVerfGE 37, S. 217ff (228f.); EuGH, Urteil v. 7.7.1992, abgedr. in: DVB1. 1995, S. 32ff. (33); s.a. Makarov, Nottebohm-Fall, S. 695ff \\Hans v. Mangoldt, Nottebohm-Case, S. 213ff.

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dehnung der deutschen Staatsangehörigkeit auf alle Menschen fehlte unzweifelhaft diese Anknüpfung. Wie wäre der Fall aber völkerrechtlich zu beurteilen, beschränkte der Gesetzgeber sein internationales Integrationsvorhaben (zunächst) auf die Angehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union? Wäre die Vergrößerung des deutschen Staatsvolkes zwecks Förderung der "Europäischen Integration" unter Schaffung eines die "Unionsbürgerschaft" staatsangehörigkeitsrechtlich überbietenden Status ohne "genuine link"? Dieses Vorhaben würde den in der Präambel des Vertrages über die Europäische Union 1 0 1 zum Ausdruck kommenden Grundsatz der "immer engeren Union der Völker Europas" sprengen und als "unfreundlicher A k t " 1 0 2 von den anderen Mitgliedstaaten angesehen werden. Eine "natürliche Verbundenheit" aller Unionsbürger zum Nationalstaat Bundesrepublik Deutschland würde aus diesem Grunde völkerrechtlich nicht anerkannt werden. Auch der staatsangehörigkeitsrechtliche Suizid durch Streichung aller Erwerbstatbestände würde zwar möglicherweise den völkerrechtlichen Grundsatz verletzen, wonach Staatenlosigkeit zu vermeiden ist. 1 0 3 Staatenlosigkeit aber wäre zumindest für einen Großteil der zukünftigen Bevölkerung die Folge, würden alle Erwerbstatbestände durch den Gesetzgeber aufgehoben. Im Falle der Abwendung des Gesetzgebers von staatsuntergängerischer Zielsetzung könnten jedoch trotz Verkürzungen der Erwerbsmöglichkeiten potentielle Völkerrechtsverstöße zumindest minimiert werden, indem beispielsweise der Gesetzgeber den Erwerb nur für diejenigen Personen ausschlösse, die im Besitz einer anderen Staatsangehörigkeit wären. Nur für denjenigen, der bereits im gegenwärtigen Zustand die "Unionsbürgerschaft als Staatsangehörigkeit" wertet 104 , wären davon möglicherweise alle deut101 Vertrag über die Europäische Union v. 7.2.1992 (Abi. EG Nr. C 191, S. 1), Zustimmungsgesetz v. 28.12.1992 (BGBl. II, S. 1251) i.d.F. v. 24.6.1994 (Abi. EG Nr. C 241, S. 22); abgedr. bei Glaesner, Europarecht, Gruppe 1. 102 Vgl. dazu Isensee, Nachwort. Europa - die politische Erfindung eines Erdteils, S. 103ff. (133); Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, S. 63ff. (78ff.); Schrötter, Zur Rolle der Nation im Europa der Zukunft, S. 9ff. (20ff.); zu den völkerrechtlichen Schranken: Makarov, Staatsangehörigkeit, in: Strupp/ Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, S. 323ff. (324f). 103 Seit der Haager Kodifikationskonferenz (1930) beständiges Ziel der Staatengemeinschaft; dazu: Weis, Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit im gegenwärtigen Völkerrecht, Berlin 1962. 104 Bleckmann, Der Vertrag über die Europäische Union, in: DVB1. 1992, S. 335ff. (336) ordnet die Unionsbürgerschaft als Staatsbürgerschaft i.S.d. Völkerrechts ein. Überwiegend wird dies jedoch unter Verweis auf ein fehlendes umfassendes Treue- und Schutzverhältnis zwischen Union und ihren Bürgern Verneint. Vgl. dazu: Hailbronner, Einbürgerung von Wanderarbeitnehmern und doppelte Staatsangehörigkeit, S. 120; Hobe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Maastrichter Vertrag. Auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat?, in: Der Staat 1993, S. 245ff.; d'Olive ira, Tendenzen im Staatsangehörigkeitsrecht, in: ZAR 1990, S. 114ff. (119); Renner, Verhinderung von Mehrstaatigkeit

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sehen Staatsangehörigen betroffen und damit eine dem Staatssuizid vergleichbare Rechtssituation eingetreten. Denn die Unionsbürgerschaft ist nur "vermittelt". Sie existiert nicht unmittelbar, sondern ist abhängig vom Bestand der Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten. Geht aber letztere unter, folgt ihr die akzessorische Unionsbürgerschaft auf dem Fuße. Wenngleich völkerrechtlich auch die anderen vorgetragenen Fälle sicher Vereinbarkeitszweifel auslösten, so verdichteten sie sich nicht immer evident zu einem Verstoß mit völkerrechtlichen Erwerbsgrundsätzen. Insbesondere führte ein solcher Verstoß nicht grundsätzlich zur Unwirksamkeit der innerstaatlichen Regelung. 105 Von daher bliebe meistens staatsrechtlicher Klärungsbedarf: Wie stünden die jeweiligen nationalen angehörigkeitsrechtlichen Regelungen der Staaten der Völkergemeinschaft dazu? Die Lehre von der Gestaltungsfreiheit offeriert dem nationalen Gesetzgeber weitestgehend, die Völkerrechtslücken auszufüllen. Sie traut ihm uneingeschränkt: Er werde sich schon selbstbeschränkend in den Geist der Völkergemeinschaft einfügen und die Grenzen des Völkerrechts nicht überschreiten. Sollten die Grundgesetzväter angesichts der nationalsozialistischen "Heim ins Reich"-Ideologie und -Politik 1 0 6 in Fragen der Staatsangehörigkeit ähnlich gedacht haben? War ihr Zutrauen vergleichbar groß, dem Gesetzgeber unter der Herrschaft des Grundgesetzes keine verfassungsrechtlichen Schranken aufzuerlegen und ihn notfalls bis an die Grenzen des völkerrechtlich Zulässigen herumexperimentieren zu lassen? Die Lehre von der Gestaltungsfreiheit verkennt die historisch bedingte verfassungsrechtliche Einbindung der Staatsangehörigkeit in Deutschland: 107 Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz ist bewußt stabilisiert worden. Im Interesse der Pflege freundschaftlicher und friedlicher außenpolitischer Beziehungen gehen die beiden anderen im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht vertretenen Ansichten von der Notwendigkeit verfassungsrechtlicher

bei Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit, in: ZAR 1993, S. 24f.; Ress, Die Europäische Union und die neue Qualität der Beziehungen zur EG, in: JuS 1992, S. 985ff. (987); Rittstieg, Staatsangehörigkeit und Minderheiten in der transnationalen Industriegesellschaft, in: NJW 1991, S. 1389. 105 Vgl. hierzu: Weis, Staatsangehörigkeitsrecht und Staatenlosigkeit im gegenwärtigen Völkerrecht, S. 6: "Solange (jedoch) der Staat sein Recht nicht mit dem Völkerrecht in Einklang gebracht hat, hat das Individuum die Staatsangehörigkeit die ihm das innerstaatliche Recht zuschreibt, auch wenn es völkerrechtswidrig ist." Dies gilt vorbehaltlich der Ausstrahlung des Art. 25 GG. Vgl. auch: de Groot, Staatsangehörigkeitsrecht im Wandel, S. 22; Kammann, Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit, S. 12: Hannappel, Staatsangehörigkeit und Völkerrecht, S. 13f. 106 Vgl. dazu unten § 3ff. 107 Vgl. insbes. nachfolgenden Teil 1.

Einleitung B e g r e n z u n g e n d e r G e s t a l t u n g s f r e i h e i t des G e s e t z g e b e r s i n F r a g e n d e r S t a a t s angehörigkeit a u s 1 0 8 , die allerdings unterschiedlich hergeleitet werden.

2. L e h r e d e r m a t e r i e l l e n S t a a t s a n g e h ö r i g k e i t N a c h der Lehre der "materiellen Staatsangehörigkeit" 109 liegt d e m G r u n d gesetz

angesichts

"Identifizierung Bleckmann

seiner

mit

Präambel

der

und

Kulturnation"

den

Art. 20

zugrunde.

und

Daraus

116 G G zieht

die staatsangehörigkeitsrechtliche K o n s e q u e n z , daß n u r

eine Albert

solchen

Personen die deutsche Staatsangehörigkeit v e r l i e h e n w e r d e n dürfe, w e l c h e der deutschen K u l t u r n a t i o n angehörten, also i n " h i n r e i c h e n d e m M a ß e " integriert seien: "Eine solche Garantie liegt b e i Geburt nur vor, w e n n die E l t e r n die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. N u r dann ist n ä m l i c h gewährleistet, daß die K i n d e r i n der deutschen T r a d i t i o n erzogen werden... Das aber bedeutet etwa, daß der Gesetzgeber das ius-soli-Prinzip nur einfuhren darf, w e n n er weitere Garantien für die Integration i n den deutschen K u l t u r v e r b a n d vorsieht."

3. W i l l k ü r v e r b o t s l e h r e N a c h der Willkürverbotslehre bestehen h i n s i c h t l i c h der Enverbsmodalitäten der

Staatsangehörigkeit

neben völkerrechtlichen

Schranken

Art. 3 GG. Staatsangehörigkeitsrechtliche Erwerbsvorschriften j e d e andere staatliche R e g e l u n g , das W i l l k ü r v e r b o t beachten. dieser d e n a l l g e m e i n e n verfassungsrechtlichen rigkeitsrecht

besonders

ausdifferenzierenden

Grundsatz i m Ansicht

ist

auch die

des

müssen,

wie

Hauptvertreter StaatsangehöHans

von

108 Makarov / v. Man gol dt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Bd. 1, Art. 16 Rdnr. 12ff; v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, S. 477ff. (489); Badura, Schriftliche Stellungnahme, S. 147ff.; Bleckmann, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit, in: NJW 1990, S. 1397ff.; ders., Völker- und verfassungsrechtliche Probleme des Erwerbs und des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit, S. I / 54ff.: Lang, Grundkonzeption und Entwicklung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, S. 180ff.; Uhlitz, Deutsches Volk oder "Multikulturelle Gesellschaft"?, in: RuP 1986, S. 143ff. (146f.); ders.. Das Wiedervereinigungsgebot als verfassungsrechtliche Schranke der Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik, in: ZRP 1987, S. 19Iff. 109 Bleckmann, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit, in: NJW 1990, S. 1397ff. (1399).; ders., Völker- und verfassungsrechtliche Probleme des Erwerbs und des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit, S. I / 54ff; Badara, Schriftliche Stellungnahme, S. 147ff; Lang, Grundkonzeption und Entwicklung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, S. 180ff.; Uhlitz, Deutsches Volk oder "Multikulturelle Gesellschaft"?, in: RuP 1986, S. 143ff. (146f.); ders., Das Wiedervereinigungsgebot als verfassungsrechtliche Schranke der Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik, in: ZRP 1987, S. 19 Iff. 110 Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit, in: NJW 1990, S. 1397ff. (1399).

46

Einleitung

Mangoldt} u Nach ihm ist das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht durch Grundprinzipien "systematisch" ausgeformt. Durchbrechungen dieser Grundsätze dürfen nicht willkürlich sein. Sie müssen sachlich legitimiert sein. Sachliche Legitimation biete das deutsche Verfassungsrecht. Um beispielsweise das ius soli oder Mehrstaatigkeit hinzunehmen - entgegen den geltenden Grundsätzen im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht - bedürfte es nach ihm verfassungsrechtlicher Rechtfertigung, die gegenwärtig von den umstrukturierenden Reformwilligen nicht im ausreichenden Maße dargetan werde. Hans von Mangoldt lehnt sich an die "Willkürdiskussion" an, die bereits im Parlamentarischen Rat. allerdings im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Einführung des "Entzugsverbotes", geführt wurde. 112 Damals war es Hermann von Mangoldt, der den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit i.S.d. Art. 16 Abs. 1 GG auf "willkürliche" Fälle einschränken wollte. Er setzte sich im Ergebnis nicht durch. Der Wortlaut der noch heute unverändert geltenden Fassung des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ist uneingeschränkt: "Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden".

VIII.

Die staatsangehörigkeitsrechtliche

Institutionenlehre

Sowohl für die Lehre der "materiellen Staatsangehörigkeit" als auch für die "Willkürverbotslehre" sprèchen ihre Folgerungen. Im Unterschied zur Lehre von der Gestaltungsfreiheit wollen sie den Gesetzgeber strikt binden. Das Staatsangehörigkeitsrecht ist nach diesen Auffassungen "materiell" wie "systematisch" durch seine gewachsenen Grundsätze strukturiert. Abweichungen hiervon bedürfen verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. Zu diesem Ergebnis kommt auch die vorliegende Untersuchung. In der Begründung wird hier allerdings ein anderer Weg beschritten, um die Grundsätze des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts als verfassungsrechtlich abgesichert aufzuzeigen: Die deutsche Staatsangehörigkeit ist als "Institution" verfassungsrechtlich in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG - dem Entzugsverbot - garantiert, und zwar einschließlich ihrer geltenden Erwerbsprinzipien. Auf den Bedeutungsgehalt der Garantie des Art. 16 Abs. 1 GG wies bereits das BVerfG im

111 Die deutsche Staatsangehörigkeit, in: Handbuch des Staatsrechts, S. 650f.; ders., Öffentlichrechtliche und völkerrechtliche Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit aus deutscher Sicht, in: JZ 1993, S. 965ff. (969ff.); ders., lus sanguinis- und ius-soli-Prinzip in der Entwicklung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, in: StAZ 1994, S. 32ff. 112 Vgl. dazu unten § 20.

Einleitung

Mehrstaaterbeschluß 113 vom 21. Mai 1974 hin, der durch Kammerbeschluß 114 vom 16. September 1990 in seinem Rechtsgehalt bestätigt wurde: 115 "Der inneren Beziehung des freien Bürgers zu einem freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen entspricht es, daß seine Staatsbürgerschaft als grundsätzlich unentziehbar gewährleistet ist (Art. 16 Abs. 1 GG). M i t alledem wäre die Auffassung unvereinbar, die Entscheidung über den Erwerb eines derart bedeutsamen Status könne im freien Belieben von Staatsorganen stehen; auch würde es nicht genügen, die Regeln darüber lediglich sach- und systemgerecht auszugestalten".

Das BVerfG verband in der zitierten Entscheidung Unentziehbarkeit und Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit zu einer Garantie, ohne allerdings die gebotene Kongruenz von beiden Seiten der Staatsangehörigkeit näher zu begründen. Das Kongruenzgebot der deutschen Staatsangehörigkeit hat auch in der Staatsrechtslehre Anerkennung gefunden, namentlich durch Josef Isensee 116, Martin Kriele ul und Klaus Stern 1*, die das Entzugsverbot als "Institutsgarantie" würdigen. Allerdings hat sich die verfassungsrechtlich gebotene Kongruenz von Entzugsverbot und Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit angesichts der fehlenden Begründung des BVerfG noch nicht so recht durchgesetzt. Anläßlich der gegenwärtigen Reformdiskussion über den Erwerb der deutschen Staatsanghörigkeit wird die Institutsgarantie des Art. 16 Abs. 1 GG weitestgehend ignoriert. 119 Soweit ausländische Regelungen in internationalen Rechtsvergleichen dargestellt werden, enthalten diese zwar zum Teil Ausführungen zu dortigen Möglichkeiten der Entziehung der Staatsangehörigkeit. Daß wegen ihrer Existenz möglicherweise andersartige Erwerbsgründe als hierzulande bestehen, wird aber von ihnen nicht in die Gesamt-

113

BVerfGE 37. S. 217ff. BVerfG NJW 1991. S. 633f. (634). BVerfGE 37, S. 217ff. (239). 116 Antragsschrift v. 9.6.1989 zu dem Normenkontrollverfahren zum schleswig-holsteinischen Gesetz zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes v. 21.2.1989, abgedr. in: Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, hrsg. v. Isensee / Schmitt-Jortzig, S. 39ff. 117 Zur Rangordnung der Staatspflichten, S. 121ff. (141). 118 Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 , S. 814. 119 Siehe allerdings Löwer, Abstammungsprinzip und Mehrstaatigkeit, in: ZAR 1993, S. 156ff. (159); Ingo v. Münch, Darf es ein bißchen mehr sein? - Gedanken zur Mehrstaatigkeit, in: NJW 1994. S. 1199ff.(1200); Ziemske, Mehrstaatigkeit und Prinzipien des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit, in: ZRP 1993, S. 334ff ; ders.. Verfassungsrechtliche Garantien des Staatsangehörigkeitsrechts, in: ZRP 1994, S. 229ff.; auf die eingeschränkte Zulässigkeit von Erlöschenstatbeständen hinweisend: Hailbronner, Löwer. Wartenberg, Hans v. Mangoldt u. Renner, in: BT-Innenausschuß 12. WP. Prot.Nr. 75, S. 16, 30, 72, 101, 107, 124, 166f. 114

115

48

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Würdigung miteinbezogen. 120 Statt dessen wird ein Reformdefizit konstatiert: 1 2 1 "Der Vergleich mit anderen Staaten zeigt (hier), daß die Bundesrepublik etwa im Hinblick auf ein ergänzendes 'ius soli' (Territorialprinzip) im Staatsangehörigkeitsrecht oder der grundsätzlichen Hinnahme einer zusätzlichen Staatsangehörigkeit im Einbürgerungsrecht der Entwicklung anderer europäischer Staaten hinterherhinkt."

In den Begründungen von Änderungsentwürfen werden Erwerbsvorschriften anderer Staaten unter Vorenthaltung dortiger Entzugsregelungen einseitig zum "Vorbild" für die deutsche Reform erklärt: 122 "Die fur einen begrenzten Personenkreis beabsichtigte Ergänzung des bisherigen Abstammungsprinzips um das Territorialprinzip hat Vorbilder in zahlreichen europäischen Staaten (Frankreich, Niederlande, Spanien, Irland, Großbritannien)".

Der vorliegende Beitrag dient der wissenschaftlichen Ergründung der Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit. Er soll mögliche Konsequenzen aus ihrer verfassungsrechtlich gebotenen Kongruenz von Entzugsverbot und Erwerb für den Gesetzgeber aufzeigen und dadurch die gegenwärtige Reformdiskussion im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht anreichern.

IX. Folgen des Vorrangs der grundrechtlichen Staatsangehörigkeitsgarantie 1. Entsprechend der dargelegten Zielsetzung ist im vorliegenden Beitrag das Grundrecht der deutschen Staatsangehörigkeit in Art. 16 Abs. 1 GG zentraler Untersuchungsgegenstand. Die Untersuchung ist auch hinsichtlich der Beweisführung auf das Verfassungsrecht ausgerichtet.

120 Hailbronner, Einbürgerung von Wanderarbeitnehmem und doppelte Staatsangehörigkeit, S. 50-92: Hofmann, in: Senatsverwaltung für Soziales. Die Ausländerbeauftragte (Hrsg.), Doppelte Staatsbürgerschaft - ein europäischer Normalfall?, S. 68-102.; Laubach, Die europäische Unionsbürgerschaft-vom Bourgeois zum Citoyen?, in: Vom Ausländer zum Bürger, S. 457ff. (464ff.); Renner, Verhinderung von Mehrstaatigkeit bei Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit, in: ZAR 1993, S. 18-25; ders., Mehrstaatigkeit in Europa, in: ZAR 1993, S. 49-60.; Beauftragte der Bundesregierung fur die Belange der Ausländer (Hrsg.): Ausländerinnen und Ausländer in europäischen Staaten, Bonn 1994. 121 Beauftragte der Bundesregierung ßr die Belange der Ausländer (Hrsg.), Ausländerinnen und Ausländer in europäischen Staaten, S. 5; ähnlich auch: Leutheusser-Schnarrenberger für die F.D.P.-Bundestagsfraktion, Liberale Rechtspolitik in der 13. Legislaturperiode, in: ZRP 1995, S. 81flf. (85). 122 BT-Drs. 12/4533, S. 7.

Einleitung

2. Trotz dieser Ausrichtung verlangt es das Thema, daß auf andere Rechtsgebiete zurückgegriffen wird. a) Soweit für die Bestimmung von Inhalt und Umfang der Institutsgarantie aus Art. 16 Abs. 1 GG auf Herkunft und Entwicklung der Grundsätze des Staatsangehörigkeitsrechts einzugehen ist, erfolgt ein Rekurs auf ihre Rechtsgeschichte und Legitimation in der Staatslehre. b) Um die verfassungsrechtlichen Ausführungen zu den Erwerbsgrundsätzen der Staatsangehörigkeit zu veranschaulichen, wird auch auf die unterverfassungsrechtlichen statusbestimmenden Regelungen des Staatsangehörigkeitsrechts zurückgegriffen. Die Darstellung folgt dabei der im Staatsangehörigkeitsrecht eigentümlichen und international gebräuchlichen Systematik von statusbegründenden Erwerbs- und statusbeendenden Erlöschenstatbeständen. Neben ihrer einfach-rechtlichen Entfaltung im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht. insbesondere im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, zeigt die Arbeit auch ihre Ausgestaltungen im Völkerrecht und in ausgewählten ausländischen Staatsangehörigkeitskodifikationen. Der System- und Rechtsvergleich dient dazu, die internationalen Rahmenbedingungen zu vergegenwärtigen, in deren Wirkungskreis die souveränen verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien der deutschen Staatsangehörigkeit eingebettet sind. 3. Eine derartige gegenständliche Eingrenzung der Untersuchung ist nicht unproblematisch. Denn auch andere, innerstaatliche Rechtsgebiete weisen teils vielfältige - Beziehungen zur Staatsangehörigkeit auf. a) Beispielsweise ist im deutschen Internationalen Privatrecht 123 die Staatsangehörigkeit einer der kollisionsrechtlichen Anknüpfungspunkte und bestimmt bei einer Vielzahl von Sachverhalten mit einer Verbindung zum Recht eines ausländischen Staates, welche Rechtsordnung anzuwenden ist. 1 2 4 Staatsangehörigkeitsrecht und Internationales Privatrecht greifen darüber hinaus auch bei privatrechtlichen Vorfragen statusbestimmender staatsange-

123 Vgl. dazu besonders illustrativ Sturm, Ineinandergreifen von IPR und Staatsangehörigkeit, S. 499ff. mit dem Hinweis darauf, daß die im deutschen wie im anglo-amerikanischen Rechtskreis gebräuchliche "scharfe" Trennung von IPR und Staatsangehörigkeitsrecht insbesondere in Frankreich und Spanien nicht üblich ist. 124 Der Übergang vom Wohnsitz- zum Staatsangehörigkeitsprinzip erfolgte in Deutschland im Jahre 1900 mit dem Inkrafttreten des EGBGB (Kegel, Internationales Privatrecht, § 13 II 3). Auch die Reform des Internationalen Privatrechts im Jahre 1986 hielt am Staatsangehörigkeitsprinzip fest. Die Staatsangehörigkeit ist nach geltendem Recht maßgeblicher Anknüpfungspunkt im Personen-, Familien- und Erbrecht, vgl. zum ganzen Firsching / v. Hoffmann, Internationales Privatrecht, § 5 Rz. Iff.; Jay me, Nation und Staat im Internationalen Privatrecht - Einführung, in: Nation und Staat im Internationalen Privatrecht, S. 3ff.; Kegel, Internationales Privatrecht, § 13; Lüderitz, Internationales Privatrecht, Rz. 76ff.; ders., Fortschritte im deutschen internationalen Privatrecht, S. 271ff.

4 Ziemske

50

Einleitung

hörigkeitsrechtlicher Vorschriften ineinander. 125 Denn die Erwerbs- und Erlöschenstatbestände im Staatsangehörigkeitsrecht gehen vielfach auf Merkmale zurück, die dem Privatrecht zugehören, wie beispielsweise in § 4 RuStAG (eheliche Abstammung). § 5 RuStAG (Legitimation), §§ 6 und 27 RuStAG (Adoption) oder § 9 RuStAG (Eheschließung). b) Bezüge zur Staatsangehörigkeit hat daneben auch das Sozialrecht. 126 Die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit ist zwar im Sozialrecht die Ausnahme. 127 Sie gibt es aber beispielsweise im Sozialhilferecht. Im Inland wird soziale Hilfe uneingeschränkt nur Deutschen gewährt (vgl. § 120 BSHG). Grundsätzlich nur Deutsche kommen eingeschränkt in ihren Genuß auch im Ausland (§§ 119, 147b BSHG). 1 2 8 c) Als Ausfluß des Personalitätsprinzips ist die Anknüpfung der Steuerpflicht an die Staatsangehörigkeit grundsätzlich nicht ausgeschlossen.129 In der Bundesrepublik Deutschland wird Steuerpflichtigkeit jedoch ganz überwiegend durch den Wohnsitz (§ 8 AO) bzw. gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) bestimmt (Wohnsitz- bzw. Territorialprinzip). 130 Ausnahmen bestehen allerdings etwa hinsichtlich der Einkommenserzielung durch Tätigkeit im

125 Dazu: Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar, Einl. D, Rdnr. 12.; Makarov / v. Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Bd. 1, Einl. III, Rdnr. 9; Sturm, Ineinandergreifen von IPR und Staatsangehörigkeitsrecht, S. 499ff. (501ff., 503ff.). 126 Blumenwitz. Abstammungsgrundsatz und Territorialitätsprinzip, in: ZfP 1994, S. 246ff. (259): "Der Ausländer gewinnt mit der Staatsangehörigkeit des Einwanderungslandes in erster Linie die Gleichstellung, was das Aufenthalts-, Sozial- und Arbeitsrecht anbelangt." 127 Zur begrenzten Einwirkung des Personalitätsprinzips im Internationalen Sozialrecht vgl. Bley / Kreikebohm, Sozialrecht, Rdnr. 27Iff. m.w.N.; Fritz Franz, Benachteiligungen der ausländischen Wohnbevölkerung, in: Vom Ausländer zum Bürger, S. 615ff. mit Verweis auf die Zulässigkeit der Differenzierung nach In- und Ausländern trotz der Formulierung des Art. I § 30 Abs. 1 SGB-AT sowie auf einzelne exemplarische Fälle, etwa § 8 BAfoG (Ausbildungsförderungsrecht) und § 40 AFG (Berufsausbildungsbeihilfen); Schlikker, Diskriminierung von Ausländem im Bereich der sozialen Sicherheit mit rechtlichen Mitteln, in: Vom Ausländer zum Bürger, S. 53 Iff. 128 Zu den einzelnen Einschränkungen für Ausländer vgl. Oestreicher / Schelter / Kunz, Bundessozialhilfegesetz. Kommentar, Einf. Rdnr. 74, § 120 Rdnr. 15ff. m.w.N.; Schubert, in: Bundessozialhilfegesetz, hrsg. v. Knopp / Fichtner, § 120 Rdnr. Iff ; Schellhorn / Jirasek / Seipp, Das Bundessozialhilfegesetz, § 120 Rdnr.l: "Ausländern, die sich im Bundesgebiet aufhalten, muß grundsätzlich ebenfalls Hilfe nach dem BSHG gewährt werden. Es erscheint aber berechtigt, hier die zu gewährenden Leistungen auf einige notwendige Grundleistungen zu beschränken..."; a.A. Hailbronner, Ausländerrecht. Kommentar, Ordner 1, § 1 AuslG Rdnr. 11: "Das Sozialhilferecht unterscheidet entsprechend seiner humanitären Grundkonzeption, die Menschenwürde zu schützen, nicht zwischen Deutschen und Ausländern." 129 Vgl. zum ganzen: Kluge, Das deutsche Internationale Steuerrecht S. 12ff.; Korn / Debatin, Doppelbesteuerung, Bd. 1, Systematik, Rdnr. 22; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, S. 3Iff., 43ff.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1076f.; Vogel, Doppelbesteuerungsabkommen, Einl. I.: Wiessner, Die Funktion der Staatsangehörigkeit S. 263ff. 130 Zur Begrifflichkeit vgl. Schaumburg, Internationales Steuerrecht, S. 44; Tipke / Lang, Steuerrecht, § 9 Rz. 20ff.

Einleitung

Ausland (§ 1 Abs. 2 EStG) 131 sowie im Außensteuerrecht (§ 2 Abs. 1 AStG) 1 3 2 und geringfügig auch im Erbschaftssteuerrecht (§ 2 Abs. 1 N r . l lit. b und c ErbStG) 133 . 4. Gleichwohl erfolgt vorliegend kein Rückgriff auf die erwähnten, mit der Staatsangehörigkeit in Verbindung stehenden einfachen Rechtsgebiete. Denn entsprechend der Zielsetzung der vorliegenden Arbeit geht es ausschließlich um den verfassungsrechtlichen Kern von Art. 16 Abs. 1 GG, der sich aus dem Grundgesetz ohne Rückgriff auf das innerstaatliche, einfache Recht ergibt. a) Bislang war das Grundrecht der deutschen Staatsangehörigkeit nicht Gegenstand einer eigenen rechtsdogmatischen Untersuchung. Dafür mag es viele Gründe geben. Nach Roman Herzog liegt dies vor allem an der "stiefmütterlichen Behandlung, die die Staatsangehörigkeit in unserem Staate meist erfährt". 134 b)Daß aber eine gegenständlich auf das Verfassungsrecht konzentrierte Untersuchung des Art. 16 Abs. 1 GG lohnenswert und sinnvoll ist, folgt aus Art. 1 Abs. 3 GG. der insoweit, als der Gehalt eines Grundrechtes spezifisches Verfassungsrecht aufweist. einen normativen Vorrang vor dem einfachen Recht statuiert. 135 Das BVerfG verdeutlicht diesen Rechtsgedanken exemplarisch im "Spanier"-Beschluß vom 4. Mai 1971. In der Entscheidung ging es um Umfang und Bindungswirkung von Institutsgarantien, in diesem Fall der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 GG im Verhältnis zum einfachen Recht. 136 Dazu führte das BVerfG unter Berufung auf seine ständige Rechtsprechung aus: 137 "Mag auch das hergebrachte bürgerliche Recht weitgehend mit diesen Strukturprinzipien (der Institutsgarantie der Ehe) übereinstimmen, so kann nicht umgekehrt der Inhalt der Institutsgarantie überhaupt erst aus dem einfachen Recht erschlossen werden, so daß dieses niemals der Verfassung widersprechen könnte. Vielmehr müssen die einzelnen Regelungen des bürgerlichen

131 Littmann / Bitz / Hellwig, Das Einkommenssteuerrecht. Bd. 1, § 1 Rdnr. 78ff.; Schaumburg, Internationales Steuerrecht. S. 56ff. 132 Flick / Wassermeyer / Becker, Kommentar zum Außensteuergesetz, Bd. 1, § 2 Rz. 7ff. 133 § 2 Abs. 1 ErbStG knüpft grundsätzlich an den Begriff "Inländer" an, der nicht mit dem des "Staatsangehörigen" identisch ist. Vgl. dazu: Kapp / Ebeling, Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuergesetz. Kommentar, § 2 Rdnr. 8ff.; Meincke. Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuergesetz. Kommentar, § 2 Rdnr. 6. 134 Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, in: Festschrift fur Wolfgang Zeidler, Bd. 2, S. 1415ff. (1418). 133 Vgl. dazu Pitschas, Verfassungsrechtliche Vorgaben fur das Staatsangehörigkeitsprinzip des Internationalen Privatrechts. S. 93ff., insbes. S. 99ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 . S. 1238ff. 136 BVerfGE 31, S. 58ff. 137 BVerfGE 31. S. 58ff. (69f.).

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Rechts an Art. 6 Abs. 1 GG als vorrangiger, selbst die Grundprinzipien enthaltender Leitnorm gemessen werden".

Das BVerfG bekräftigte schließlich den Vorrang der Verfassung unter Einschluß eines eigenständigen verfassungsrechtlichen Kernbereichs der Institutsgarantien auch im Verhältnis zum Internationalen Privatrecht: 138 "Auch im Internationalen Privatrecht ist von der Leitnorm des Art. 1 Abs. 3 GG auszugehen, die im Geltungsbereich des Grundgesetzes alle staatliche Gewalt mit unmittelbarer Wirkung an die Grundrechte bindet."

"Als nationales, innerstaatliches Recht" seien die Vorschriften des deutschen Internationalen Privatrechts "in vollem Umfang" an den Grundrechten zu messen. Denn die Grundrechte bildeten den eigentlichen Kern der freiheitlich-demokratischen Ordnung des staatlichen Lebens im Grundgesetz: 139 "Ihre Reichweite (die Reichweite der Grundrechte) kann daher nicht davon abhängen, in welcher Weise eine bestimmte Materie durch das einfache Recht geregelt ist; sie ist vielmehr unmittelbar aus der Verfassungsnorm selbst zu erschließen."

Damit aber unterstreicht das BVerfG die Existenz eines eigenständigen verfassungsrechtlichen Kerns von Institutsgarantien am Beispiel des Art. 6 Abs. 1 GG. Diesen Kernbereich hinsichtlich der deutschen Staatsangehörigkeit aus Art. 16 Abs. 1 GG herauszustellen, ist das ausschließliche Anliegen der vorliegenden Arbeit. c) Es handelt sich mithin um eine rein verfassungsrechtliche Fragestellung, die einer möglichen und auch nicht von der Hand zu weisenden Rückwirkung innerstaatlichen, einfachen Rechts auf Inhalt und Umfang einer Institutsgarantie vorgelagert ist. Die verfassungsrechtliche Sichtweise auf die Strukturprinzipien der Staatsangehörigkeit will und kann den Stellenwert dieser sicher sehr ergiebigen Rückwirkungen auch keineswegs in Frage stellen. Doch die Untersuchung der Staatsangchörigkeitsvorgaben des Grundgesetzes ist vorrangig und muß in Kauf nehmen, nicht alle der vielseitigen Implikationen der Staatsangehörigkeit abdecken zu können. 5. Davon ist auch die Untersuchung der rechtspolitisch so bewegten und überaus facettenreichen Problematik der Mehrstaatigkeit betroffen. Diesbezüglich geht der vorliegende Beitrag von der ständigen Rechtsprechung des BVerfG aus, nach der Mehrstaatigkeit "von Übel" ist. 1 4 0 Die auch insoweit im Vordergrund stehende verfassungsrechtliche Untersuchung der Doktrin des BVerfG soll durch Anwendungsfälle aus einfach-gesetzlichen Rechtsgebieten 138

BVerfGE 31. S. 58ff. (72f.). BVerfGE 31. S.58ff. (73). 140 Beschlüsse v. 21.5.1974 in BVerfGE 37, S. 217ff. (254f.) und v. 16.9.1990 abgedr. in: NJW 1991, S. 633. 139

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nur angereichert werden. Eine solche Anreicherung, die auch das BVerfG im "Mehrstaater"-Beschluß vom 21. Mai 1974 vornimmt 1 4 1 , ist zwar notwendig, um die rechtliche und tatsächliche Tragweite dieser Doktrin ermessen zu können, nicht aber, um ihren verfassungsrechtlichen Kern zu begründen. Soll die Darstellung dieser Anwendungsfälle nicht Gefahr laufen, umfänglich auszuufern, muß - angesichts der Fülle von denkbaren Konstellationen der Mehrstaater-Problematik - eine Beschränkung auf ausgewählte Rechtsgebiete erfolgen. Dabei sollen hier die aus Gründen des einfachen Rechts besonders diffizilen Gebiete wie beispielsweise das Internationale Privatrecht 142 sowie das Sozial 143 - und Steuerrecht 144 ausgespart bleiben.

X. Zum Inhalt der nachfolgenden

Untersuchung

Die nachfolgende, auf die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und Grenzen des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit beschränkte Untersuchung, ist inhaltlich in vier Teile gegliedert. 1. Im ersten Teil wird die "Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit" aus der besonderen Rechtslage Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht. Es soll aufgezeigt werden, daß Art. 16 Abs. 1 Satz 1 14

J BVerfGE 37, S. 217ff. (254ff). Die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit im Internationalen Privatrecht wirft in Fällen mehrfacher Staatsangehörigkeit die Frage auf, an welche der in Betracht kommenden Staatsangehörigkeiten sie erfolgen soll. Die rechtspolitisch umstrittene Vorschrift des Art. 5 EGBGB regelt diesen Komplex nicht einheitlich. Während fiir den deutschen Mehrstaater dessen Rechtsstellung als Deutscher vorgeht (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EGBGB), ist in den Fällen der auschließlich ausländischen Mehrstaatigkeit die sog. effektive Staatsangehörigkeit entscheidend, die durch den "gewöhnlichen Aufenthalt" oder den "Verlauf des Lebens" zu bestimmen ist (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EGBGB). vgl. dazu BT-Drs. 10 / 504, insbes. S. 40ff; Kegel, Internationales Privatrecht, § 13 II 5; Lüderitz, Internationales Privatrecht, Rz. 114fT.; ManseL Personalstatut, Staatsangehörigkeit und Effektivität, 1988; Martiny, Probleme der doppelten Staatsangehörigkeit im deutschen Internationalen Privatrecht, in: JZ 1993, S. 1145ff. 143 "Wer zwei Staatsangehörigkeiten hat, § 119 und § 120 BSHG definieren Staatsbürgerschaft auch als Subsistenz-Schutzverband, ist auch Mitglied zweier Schutzverbände. ... Diese Dimension mag keine allzu große praktische Bedeutung haben, sie zeigt aber eine rechtliche Priviligierung." Löwer. in: Doppelte Staatsbürgerschaft - ein europäischer Normalfall?, S. 172f.; vgl. weiter: Kammann, Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit, S. 183ff; Löwer, Doppelte Staatsbürgerschaft als Gefahr fiir die Rechtssicherheit, in: VR 1990, S. 228; Wiessner, Die Funktion der Staatsangehörigkeit, S. 3291T. 142

144

Vgl. dazu: Blumenwitz, ZfP 1994, S. 246ff (259); Kammann, Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit, S. 19Iff.; Löwer, Doppelte Staatsbürgerschaft als Gefahr fiir die Rechtssicherheit, in: VR 1990, S. 22Iff, insbes. S. 224; ders., in: Doppelte Staatsbürgerschaft - ein europäischer Normalfall?, S. 156ff; Hans v. Mangoldt, Öffentlich-rechtliche und völkerrechtliche Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit aus deutscher Sicht, in: JZ 1993. S. 965ff, 973; Vogel, Doppelbesteuerungsabkommen. Kommentar. Einl. I.

54

Einleitung

GG eine herausragende Rolle im Zusammenhalt des in mehrere Staatlichkeiten zerfallenen deutschen Volkes hatte und auch nach dem "Zwei-plus-VierVertrag" über die abschließende (Staatsgebiets-) Regelung Deutschlands vom 12. September 1990 sowie seine Folgeübereinkommen noch nach wie vor hat (§ 13). Auch die Gründung der Europäischen Union infolge des Maastrichter Vertrages vom 7. Februar 1992 änderte nichts an der Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit (§ 14). 2. Im zweiten Teil soll dargestellt werden, daß sich das Entzugsverbot des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG nicht in der "Stabilitätsfunktion" erschöpft. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG enthält einen darüber hinausgehenden, inhaltlichen "Hinderungsgrund besonderer Art" für alle Staatsgewalten, einschließlich der mit generell-abstrakten Rechtssätzen agierenden Legislative. Seinetwegen ist absolut untersagt, Formen der zwangsweisen Wegnahme der deutschen Staatsangehörigkeit einzuführen (§21). Die Qualität des Vertrauensschutzes in die Inhaberschaft der deutschen Staatsangehörigkeit soll durch den "Bruch mit dem historischen Entzugssystem" erheblich gesteigert werden (§§ 22, 23). Um dies und die Besonderheit des Entzugsverbotes zu unterstreichen, wird die deutsche Staatsangehörigkeit im internationalen Vergleich dargestellt (§§ 3Off., Anhang). 3. Im dritten Teil wird untersucht, welche konkreten Bindungen dem Gesetzgeber aus seiner Grundrechtsunterworfenheit im Staatsangehörigkeitsrecht erwachsen (§ 35). Dabei wird im 2. Kapitel der Frage nachgegangen, welche Folgerungen aus der Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit zu ziehen sind. Es soll aufgezeigt werden, daß sie das Abwehrrecht der deutschen Staatsangehörigkeit (§ 36) objektiv-rechtlich als "Institution" verstärkt (§ 37). was den Gesetzgeber zur Achtung ihres Wesensgehaltes zwingt (§ 38). Bei der Bestimmung des Wesensgehaltes der Institution Staatsangehörigkeit werden neben ihrer historischen Komponente (§§ 39ff.) auch ihre Entwicklungsoffenheit (§§ 47ff.) sowie ihre charakteristische Erscheinung als Bestandsgarantie berücksichtigt (§§5Iff.). Es wird untersucht. ob der geschützte Bestand der Staatsangehörigkeit die Grundsätze des ius sanguinis und der Einzelstaatigkeit garantiert (§ 53). Anknüpfend daran wird im 3. Kapitel dargestellt, daß ein Abweichen von den geltenden Grundsätzen des Staatsangehörigkeitsrechts aus Gründen des Institutionenschutzes nur eingeschränkt unter verfassungsrechtlicher Legitimation zulässig ist (§ 55), die hinsichtlich der Einführung des ius soli und der generellen Hinnahme von Mehrstaatigkeit fehlt (§ 56).

Einleitung

4. Der Beitrag endet im vierten Teil mit einem Ausblick unter dem von Dieter Blumenwitz} 45 Joachim Burmeister 146 und Dietrich Murswiek 147 aufgeworfenen Gesichtspunkt der "Einbürgerung als Verfahrensgarantie" (§ 58) sowie einer Zusammenfassung des Befundes der deutschen Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz (§ 59).

143 Abstammungsprinzip und Territorialitätsprinzip, in: ZfP 1994, S. 246ff. (248f., 255); ders., Territorialprinzip und Mehrstaatigkeit in: ZAR 1993, S. 151ff. (152). 146 Grundgesetzliche Verfahrensstrukturierungsgebote komplexer Verwaltungsentscheidungen, S. 12 Iff. 147 Minderheitenschutz - für welche Minderheiten?, S. 3ff. (19f.).

Teil 1

Die Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

1. Kapitel

Über die Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit § 1 Verfassungsrechtliche Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit Die Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit liegen im Grundgesetz. Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG darf "die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden." Mit dieser Grundrechtsaussage ist zunächst dreierlei ausgedrückt: 1. Es gibt nach deutschem Verfassungsrecht nur eine "deutsche" Staatsangehörigkeit. Angehörige der Bundesrepublik Deutschland besitzen die deutsche, keine "bundesrepublikanische" Staatsangehörigkeit. 1 2. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist "einheitlich". Art. 16 Abs. 1 GG garantiert "die" Staatsangehörigkeit. Differenzierungen nach verschiedenen Graden der an ihr anknüpfenden Rechte und Pflichten sind verfassungsrechtlich untersagt. 2 Eine dem vorkonstitutionellen Gesetzgeber noch geläufige Unterscheidung in "Staatsangehörigkeit", "Reichsbürgerschaft" 3 und "Staatsangehörigkeit auf Widerruf , 4 ist mit Art. 16 Abs. 1 GG unvereinbar. Reichsbürger war nach Art. 2 Abs. 1 nur der "Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen". Die 1

BVerfGE 36, 1 (30). V. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz. Bd. 1, S. 481 f. m.w.N.; Randelzhofer, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 16 Rdnr. 4. 3 Reichsbürgergesetz v. 15. September 1935 (RGBl. I, S. 1146). vgl. zum ganzen Wiessner, Die Funktion der Staatsangehörigkeit, S. 32f. 4 Vgl. dazu Lichter, Die Staatsangehörigkeit, S. 182ff. 2

1. Kap.: Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit

57

Kategorie "Reichsbürger" trat neben die Kategorie "Staatsangehöriger". Nur der Reichsbürger war nach Art. 2 Abs. 3 "der alleinige Träger der vollen politischen Rechte nach Maßgabe der Gesetze". Der "Staatsangehörige" hatte fortan keine mehr. Durch das Reichsbürgergesetz waren insbesondere deutsche Juden aller politischen Rechte beraubt. Formal blieben sie aber "Staatsangehörige" des Deutschen Reiches und unterstanden damit seiner Personalhoheit. 5 Die "Staatsangehörigkeit auf Widerruf' wurde durch die 12. Verordnung zum Reichsbürgergesetz 6 vom 25. April 1943 eingeführt. 7 § 1 Abs. 1 lautete: "Die Staatsangehörigkeit kann widerruflich zuerkannt werden. Die Staatsangehörigen auf Widerruf bilden eine besondere Gruppe der Staatsangehörigen".

Nach der Ausfuhrungsverordnung 8 vom 25. April 1943 konnte der Reichsminister des Innern "für die Festigung des deutschen Volkstums" bestimmten Gruppen von Personen die "Staatsangehörigkeit auf Widerruf' verleihen. Dies ist mittels Aufstellung und Eintrags sog. Volkslisten für "gewisse Gruppen" von Personen in Polen, dem heutigen Slovenien (Untersteiermark, Kärnten und Krain) sowie Belgien (Eupen, Malmedy und Moresnet) geschehen. Die Staatsangehörigkeit konnte bei "fehlender Bewährung" vom Reichsminister des Innern widerrufen werden (§ 4). Das Widerrufsrecht war befristet auf zehn Jahre (§ 1 Abs. 3). Bei "voller Bewährung" konnte schon vorher auf seine Ausübung verzichtet werden (§ 9). Das l.StARegG v. 22. Februar 1955 hat die "Staatsangehörigkeit auf Widerruf' der "deutschen Staatsangehörigkeit" gleichgestellt (§ 28), soweit nicht bis zum 8. Mai 1945 von dem Widerrufsrecht Gebrauch gemacht wurde. Abzugrenzen von diesen Arten der "Staatszugehörigkeit" war die sog. "Schutzangehörigkeit". 9 Sie wurde ebenfalls durch die 12. Verordnung zum Reichsbürgergesetz 10 vom 25. April 1943 eingeführt und durch das Kontrollratsgesetz Nr. 1 aufgehoben. § 1 Abs. 2 lautete: "Außer dem Staatsangehörigen gibt es Schutzangehörige des Deutschen Reiches; ein Schutzangehöriger kann nicht zugleich Staatsangehöriger sein".

§ 3 definierte:

5 Durch § 2 der 11. Verordnung v. 25.11.1941 (RGB1.I S. 722) wurden Juden mit Wohnsitz im Ausland kraft Gesetzes zwangsausgebürgert, nicht aber automatisch im Inland. Die Ausbürgerungen inländischer Juden erfolgte dagegen durch Einzelakt auf der Grundlage des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit v. 14.7.1933 (RGBl. I, S. 480). 6 RGBl. I, S. 268. 7 Aufgehoben durch Kontrollratsgesetz Nr. 1. 8 RGBl. I, S. 269. 9 Vgl. Schätzet, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht. S. 252. 10 RGBl. I, S. 268.

Teil 1: Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

58

"Schutzangehörige ... sind solche nicht zum deutschen Volk gehörige Einwohner des Deutschen Reiches, denen die Schutzangehörigkeit durch allgemeine Anordnung oder durch Entscheidung im Einzelfall zuerkannt ist oder zuerkannt wird".

Ausgeführt ist der Status in der Ausfuhrungsverordnung 11 v. 25. April 1943. Die "rest"-polnische Bevölkerung erhielt ihn. Die Schutzangehörigkeit sollte völkerrechtlich eine "Art deutscher Staatsangehörigkeit" sein. Politische Rechte hat sie nicht gegeben. Polen hat sie nie anerkannt. Die Bundesrepublik Deutschland hat wegen des Mißbrauchs im "Dritten Reich" von allen Formen der Differenzierung im Staatsangehörigkeitsrecht Abstand genommen. Die Formulierung in Art. 16 Abs. 1 GG drückt dies unmißverständlich aus, indem sie "die" Staatsangehörigkeit garantiert. 12 Aus diesem Grunde ist auch eine dem spanischen Recht 13 geläufige Unterscheidung von "herrschender" und "ruhender" Staatsangehörigkeit mit Art. 16 Abs. 1 GG unvereinbar. Das Grundgesetz spricht dem klaren Wortlaut nach von einer einheitlichen Staatsangehörigkeit. Mit der "herrschenden" und "ruhenden" Staatsangehörigkeit käme man in die Nähe eines auf das römische Recht zurückgreifenden Differenzierungsmodells von Zugehörigkeitsverhältnissen. Mit dem Aufstieg Roms zu einer Weltmacht wurde ein System unterschiedlicher Mitgliedschaft eingeführt. Bedeutsam war die Unterscheidung der civitas cum et sine suffragio, d.h. zwischen Bürgern mit und ohne Stimmrecht, sowie der Status der latinitas und der soci et as 14 Rom etablierte damit unterschiedliche Status von Angehörigkeiten, wie sie heute beispielsweise auch in Mitgliedstaaten der Europäischen Union anzutreffen sind. Belgien differenziert zwischen der Staatsangehörigkeit basierend auf der "gewöhnlichen" oder "großen" Einbürgerung. 15 Spanien16 und Griechenland 17 unterscheiden verfassungsrechtlich die staatsangehörigkeitsrechtliche Stellung der "Neubürger" von "Altbürgern". Das Vereinigte Königreich differenziert einfach-gesetzlich in vergleichbarer Weise. 18 Auch in den USA wird staatsangehörigkeitsrechtlich differenziert. Neubürger haben nicht hinsichtlich aller Rechte den gleichen Status wie Altbürger. 19

11

RGBl. I, s. 271. Dazu Sturm, Deutsche wie Vater oder Mutter, in: FamZR 1974, S. 617ff., 622: "Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit. Es gibt nicht zweierlei Deutsche". 13 Vgl. dazu Anhang § 14 II. 14 Vgl. dazu unten § 41 II. 15 Vgl. Anhang § 1 II 2. 16 Vgl. Anhang § 14 III. 17 Vgl. Anhang § 5 III. 18 Vgl. Anhang § 6 I. 19 Vgl. Anhang § 19 I. 12

1. Kap.: Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit

59

Ausgehend von der Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit müssen alle Erwerbsgründe der deutschen Staatsangehörigkeit unabhängig davon, ob originär durch Geburt oder derivativ nach der Geburt erworben, den gleichen Stellenwert in der Begründung des existentiellen Status der Zugehörigkeit zum deutschen Staatsverband haben. 20 Das gleiche gilt für die Regelung des Besitzstandes. Auch er, insbesondere die Begründung von Verlusttatbeständen, muß alle Angehörigen gleichermaßen treffen. Dies ergibt sich ebenfalls aus dem Willkürverbot 21 des Art. 3 Abs. 1 GG, wonach "alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind". 3. Eine dritte Aussage enthält Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG insofern, als er schrankenlos den "Entzug" der deutschen Staatsangehörigkeit untersagt. Lediglich der "Verlust" der Staatsangehörigkeit ist unter Einschränkungen zulässig. 22 Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG schließt ihn im Falle des Eintritts der Staatenlosigkeit aus: "Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird".

Staatsangehörigkeitsrechtliche Aussagen enthält daneben auch Art. 116 GG. 23 Absatz 1 der Vorschrift beinhaltet einen Gleichstellungsanspruch für sog. Statusdeutsche24. "Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31.12.1937 Aufnahme gefunden hat".

Absatz 2, Satz 1 des Art. 116 GG gewährt früheren deutschen Staatsangehörigen, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus "politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist. und ihren Abkömmlingen" Einbürgerungsansprüche. Diese Personen "sind auf (ihren) Antrag wieder einzubürgern." Satz 2 enthält darüber hinaus sog. Einbürgerungsfiktionen für die in Satz 1 Bezeichneten25: 20

Makarov / v. Mangoldt, Bd. 1, Art. 16 Rdnr. 13ff. Ebenda, Art. 3 Rdnr. 3ff.; Bleckmann, Völker- und verfassungsrechtliche Probleme des Erwerbs und des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit, S. I / 58. 22 Randelzhof er, in: Maunz/ Dürig/ Herzog / Scholz, Art. 16 Rdnr. 55; Bleckmann, Völker- und verfassungsrechtliche Probleme des Erwerbs und des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit, S. I / 52ff.; ders., Staatsrecht II-Die Grundrechte, S. 966f. 23 Maunz, in: Maunz / Dürig/ Herzog/ Scholz, Art. 116 Rdnr. 4ff.; Bleckmann, Völker- und verfassungsrechtliche Probleme des Erwerbs und des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit, S. I / 54ff.; ders., Grundgesetz und Völkerrecht, S. 145ff. 24 Maunz, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 116 Rdnr. 13ff. 21

60

Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

"Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8.5.1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben."

Neben den vorgenannten, speziell auf die Staatsangehörigkeit bezogenen Verfassungsbestimmungen wirken aber auch andere, insbesondere Grundrechtsartikel auf das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht ein. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang einmal der "besondere Schutz" von Ehe und Familie 2 6 nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG 2 7 und zum anderen das Gleichstellungsgebot 2 8 des Art. 6 Abs. 5 GG, das die staatlichen Gewalten verpflichtet "den unehelichen Kindern die gleichen Bedingungen für ... ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen". Die wesentliche einfach-gesetzliche Grundlage des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts ist noch heute das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz 29 vom 22. Juli 1913, allerdings mit zahlreichen, durch die Verfassung unmittelbar sowie durch den nachkonstitutionellen Gesetzgeber vorgenommen Änderungen und Ergänzungen, deren kompetenzielle Ermächtigung Art. 73 Nr.2 GG zu entnehmen ist. 3 0 Die Alliierten haben das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz während der Besatzungszeit nicht außer Kraft gesetzt.31 Entsprechend Art. 123 Abs. 1 GG galten die vorkonstitutionellen Staatsangehörigkeitsvorschriften fort, und zwar gemäß Art. 124 GG als "Bundesrecht", soweit sie dem Grundgesetz nicht widersprachen. Widersprechendes Recht war mit Geltung des Grundgesetzes unmittelbar außer Kraft getreten. Das der Gleichberechtigung i.S.d. Art. 3 Abs. 2 GG 3 2 "entgegenstehende Recht" blieb allerdings bis zu seiner Anpassung an diese Grundrechtsbestimmung in Kraft, jedoch nicht länger als bis zum 31. März 1953 (Art. 117 Abs. 1 GG). 33

25

Ebenda, Rdnr. 27ff. Etwa im Einbürgerungsrecht bedeutsam zur Konkretisierung des § 9 RuStAG; BVerwGE DVB1. 1983, 1002ff. (1004), BVerwG NJW 1987, S. 2174; zum ganzen: Eva Marie v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 6 Rdnr. 24 27 Dazu BVerfGE 37, S. 217ff. (244ff.); OVG Münster, Urteil v. 28.10.1980, NJW 1981, S. 1920; Bleckmann, Völker- und verfassungsrechtliche Probleme des Erwerbs und des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit, S. I / 57f.; Löwer, Abstammungsprinzip und Mehrstaatigkeit, ZAR 1993, S. 156ff. (157). 26

28

Makarov / v. Mangoldt, Bd. 1, Art. 6 Abs. 5 Rdnr. 3ff. RGB1.I, S. 583. 30 Dazu und zur Abgrenzung der früheren, durch Gesetz v. 27.10.1994 (BGBl. I, S. 3146), in Kraft getreten am 15.11.1994, aufgehobenen konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Nr.8 GG, vgl. unten § 34 I. 31 Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar, Einl. B., Rdnr. 20ff. 32 Dazu BVerfGE 37, S. 217ff. (244ff). 33 Vgl. dazu: Makarov / v. Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Bd. 1, Art. 3, Rdnr. 4. 29

1. Kap.: Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit

61

§ 2 Völkerrechtliche Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit Staatsangehörigkeitsrecht ist Staatsrecht, nicht Völkerrecht. 34 Grundsätzlich sind Regelungen über den Erwerb. Verlust und Entzug der Staatsangehörigkeit mithin den Staaten selbst überlassen. Das Völkerrecht wirkt auf die staatlichen Staatsangehörigkeitsregelungen nur insoweit ein, als das Staatsrecht eine Öffnung für die verbindliche Wirkung von völkerrechtlichen Regelungen selbst enthält. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist völkerrechtsfreundlich. 3 5 Das Völkerrecht findet verbindliche Aufnahme auch für die innerstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des völkerrechtlichen Vertragsrechtes gem. Art. 59 Abs. 2 GG sowie Art. 23 und 24 GG, bezüglich der "allgemeinen Regeln" des Völkerrechts gem. Art. 25 GG.

I. Völkervertragsrecht Die Bedeutung bilateraler Verträge mit staatsangehörigkeitsrechtlichem Inhalt ist für die Bundesrepublik Deutschland eher gering. 36 Sie haben meist gewisse Einbürgerungshindernisse zum Inhalt wie beispielsweise im deutschpersischen Staatsangehörigkeitsvertrag aus dem Jahre 1929.37 Praktisch bedeutsamer sind die völkerrechtlich mehrseitig verpflichtenden Verträge. Hierzu zählen insbesondere: -das Übereinkommen 38 über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. September 1954. 34

Allgemeine Ansicht; vgl. auch oben Einl. VI., Fußn. 93; BVerfGE 37, S. 217ff. (218): "Das Staatsangehörigkeitsrecht ist nationales Recht. Unbeschadet einiger Völkerrechtsgrundsätze regelt jeder Staat selbständig, wann und unter welchen Voraussetzungen jemand seine Staatsangehörigkeit erwirbt oder verliert." Siehe weiter Makarov. Allgemeine Lehren, S. 58ff; Kimminich, Bonner Kommentar. Art. 16 GG, Rdnr. 6.; Hannappel, Staatsangehörigkeit und Völkerrecht, S. 24. 35 Bleckmann, Die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, in: DÖV 1979, S. 309ff.; Randelzhofer, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 24 Rdnr. 1.; Hannappel, Staatsangehörigkeit und Völkerrecht, S. 20ff. 36 Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar, Einl. E, Rdnr. 10 m.w.N. 37 Niederlassungsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und dem Kaiserreich Persien v. 17.2.1929 (RGBl. 1930 II, S. 1002. 1006), abgedr. bei Weidelener / Hemberger, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, S. 375ff. nebst Bekanntmachung seiner Fortgeltung v. 15.8.1955 (BGBl. II, S. 829), S. 378: zum sachlichen Anwendungsbereich des Schlußprotokolls bzgl. der "Einbürgerung" siehe Bleckmann, Völker- und verfassungsrechtliche Probleme des Erwerbs und des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit, S. II / 4Iff.; Makarov, Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, S. 339. 38 BGBl. 1976 II. S. 473: vgl. dazu: Hannappel, Staatsangehörigkeit und Völkerrecht, S. 40f. m.w.N.

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

-das Übereinkommen 39 über die Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen vom 20. Februar 1957, - das Übereinkommen 40 zur Verminderung der Staatenlosigkeit vom 30. August 1961 , -der internationale Pakt 11 über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 . Darüber hinaus ist die Bundesrepublik dem Übereinkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatern beigetreten. Das multilaterale Abkommen ist am 18. Dezember 1969 in Kraft getreten. Die Bundesrepublik Deutschland hat das Übereinkommen am 29. September 1969 in innerstaatliches Recht transformiert. 42 Dem staatsangehörigkeitsrechtlichen Teil des Übereinkommens gehören nach dem Stand vom 31. Dezember 1992 neben der Bundesrepublik auch Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Österreich und Schweden an. 43 Das Abkommen verfolgt das Ziel, mehrfache Staatsangehörigkeit zu verringern. Es sieht aus diesem Grunde vor, daß beim Antragserwerb einer fremden Staatsangehörigkeit die bisherige verlorengeht und deren Beibehaltung ausgeschlossen ist. Art. 1 Abs. 1 des Abkommens lautet: "Wer als Volljähriger infolge einer ausdrücklichen Willenserklärung durch Einbürgerung, Option oder Wiedereinbürgerung die Staatsangehörigkeit einer anderen Vertragspartei erwirbt, verliert seine vorherige Staatsangehörigkeit; deren Beibehaltung ist zu versagen."

Art. 1 Abs. 2 erweitert den Kreis der Betroffenen auf Minderjährige. Sie verlieren in den oben genannten Fällen ebenfalls ihre bisherige Staatsangehörigkeit, wenn sie ordnungsgemäß ermächtigt oder vertreten sind und das Heimatrecht für diese Fälle den Verlust der Staatsangehörigkeit vorsieht. Bei ledigen Minderjährigen tritt der Verlust auch dann ein, wenn ihre gesetzlichen Vertreter antragsgemäß eine andere Staatsangehörigkeit erwerben und sich der Erwerb auch auf Minderjährige erstreckt (Art. 1 Abs. 3). 39 Ratifikation durch Gesetz v. 27.8.1973. BGBl. 1973 II, 1249; vgl. dazu: Hannappel, Staatsangehörigkeit und Völkerrecht, S. 53f. m.w.N. 40 Ratifikation durch Gesetz v. 29.6.1977. BGBl. 1977 II , 597; Hannappel, Staatsangehörigkeit und Völkerrecht, S. 4Iff. m.w.N. 41 Ratifikation durch Gesetz v. 15.11.1973, BGBl. 1973 II, 1533; Hannappel, Staatsangehörigkeit und Völkerrecht, S. 3Iff. m.w.N. 42 Übereinkommen Ober die Verringerung der Mehrstaatigkeit und Ober die Wehrpflicht von Mehrstaatem v. 6.5.1963, von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert durch Gesetz v. 29.9.1969, BGBl. 1969 II. 1953; Hannappel, Staatsangehörigkeit und Völkerrecht, S. 46ff. m.w.N.; die Wirkung des Art. 1 im deutschen Rechtsraum verneinend: Bleckmann, Völker- und verfassungsrechtliche Probleme des Erwerbs und des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit, S. I / 7ff. 4 Nur dem auf die Wehrpflicht bezogenen Teil beigetreten sind das Vereinigte Königreich, Irland und Spanien.

1. Kap.: Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit

63

Um bereits eingetretene mehrfache Staatsangehörigkeit zu beseitigen, räumt Art. 2 des Abkommens die Möglichkeit des Verzichts auf bisherige Staatsangehörigkeiten ein. Die Vertragsstaaten haben sich verpflichtet, einen entsprechenden Antrag zu genehmigen.44 Art. 4 des Abkommens gestattet den Vertragsstaaten, "die Fälle von Mehrstaatigkeit in stärkerem Maße zu verringern".

II. Allgemeine Regeln des Völkerrechts Die vorgenannten bilateralen wie multilateralen Regelungen befassen sich allerdings nur mit Einzelfragen des Staatsangehörigkeitsrechts. Sie enthalten keine allgemeine Kodifikation der völkerrechtlichen Schranken innerstaatlichen Ermessens auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts selbst. Derartige allgemeine völkerrechtliche Schranken können in das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht nur gem. Art. 25 GG einwirken, soweit sie als "allgemeine Regeln des Völkerrechts" existieren und anerkannt sind. 45 Was im einzelnen als "allgemeine Regeln des Völkerrechts" geeignet ist, Grenzen staatlicher Staatsangehörigkeitsregelungen zu ziehen, ist umstritten. 46 Für die Bundesrepublik Deutschland ist anerkannt, daß die Ergebnisse der Haager Kodifikationskonferenz aus dem Jahre 1930 in ihrem mehrseitigen Vertragswerk derartige Regeln i.S.d. Art. 25 GG darstellen. 47 Ziel der Kodifikationskonferenz war es, die Fälle der Mehrstaatigkeit bzw. Staatenlosigkeit zu verringern und allgemeine Prinzipien des Staatsangehörigkeitsrechts festzulegen. 48 Diese Zielsetzung ist in der Präambel des Abkommens wie folgt ausgedrückt: "In der Überzeugung, daß es im allgemeinen Interesse der internationalen Gemeinschaft liegt, wenn alle ihre Mitglieder sich die Auffassung zu eigen machen, wonach jeder Mensch eine Staatsangehörigkeit, und zwar nur eine einzige, besitzen sollte, in der Erkenntnis also, daß das Ziel, dem die Menschen auf diesem Gebiet zustreben sollten, die gänzliche Beseitigung der Staatenlosigkeit und der Doppelstaatigkeit ist,...".

44

Dazu: Makarov, Die Behandlung staatsangehörigkeitsrechtlicher Fragen im Europarat, ZaöRV 33 (1973), S. 108ff. 45 Ipsen / Menzel, Völkerrecht, S. 300, 1086ff; Maunz, in: Maunz / Dürig/ Herzog/ Scholz, Art. 25 Rdnr. 13ff; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I / 1 , S. 120. 46 Vgl. dazu: Randelzhofer, Art. 16 Rdnr. 1 Iff. 47 Zum Inhalt: Makarov, Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, S. 143ff; Laun, Staat und Volk. S. 160fT. 48 Lichter, Die deutsche Staatsangehörigkeit, S. 82 Iff., S. 825ff

Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

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Das ausgearbeitete Vertragswerk umfaßt ein (Haupt-) Abkommen über spezielle Fragen beim Konflikt von Staatsangehörigkeitsgesetzen sowie drei Zusatzprotokolle, eins über militärische Pflichten in gewissen Fällen von Doppelstaatigkeit und zwei weitere über Spezialfragen der Staatenlosigkeit.49 Insbesondere das Hauptabkommen der Haager Kodifikationskonferenz vom 12. April 1930 ist, wenngleich nur von relativ wenigen Staaten ratifiziert, auch heute noch in Kraft. 5 0 Die dort enthaltenen Grundsätze sind in der Staatengemeinschaft als geltendes Völkergewohnheitsrecht anerkannt. 51 Das Deutsche Reich hat zwar dieses Hauptabkommen wie die Zusatzprotokolle nur unterzeichnet, nicht aber ratifiziert. 52 Nicht unproblematisch 53 sieht die wohl überwiegende Meinung im Schrifttum 54 die dort niedergelegten Grundsätze jedoch als allgemeine Regeln des Völkerrechts, die gem. Art. 25 GG "Bestandteil des Bundesrechts" sind und den Gesetzen vorgehen. Nach Art. 1 des Hauptabkommens steht es jedem einzelnen Staate zu, durch seine Gesetzgebung autonom zu bestimmen, wer seine Staatsangehörigkeit besitzt: "Die anderen Staaten müssen diese Gesetzgebung anerkennen, soweit sie mit den internationalen Verträgen, der internationalen Übung und den auf dem Gebiet der Staatsangehörigkeit allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen im Einklang stehen."

49

Abgedr. ebenda, S. 845ff. Das 1937 in Kraft getretene Abkommen ist von 24 Staaten ratifiziert worden. Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, S. 792; Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar, Einl. E, Rdnr 12. 51 "It is common view that this article, which as a treaty provision is valid only for a rather restricted number of states, describes a rule of general customary international law." Randelzhofer , Nationality, S. 417. Die Ergebnisse der Konferenz werden im Schrifttum häufig als gering bezeichnet. Doch Weis stellt deutlich heraus, daß der Wert solcher Konferenzen nicht nur nach der Anzahl der Ratifikationen beurteilt werden darf. Nach ihm hat die Haager Konferenz durch ihre Vorarbeiten und die Erklärungen der Staatenvertreter viel Aufschluß über die Staatenpraxis in Fragen der Staatsangehörigkeit gegeben. Indirekt hätten sich die Ergebnisse insbes. dadurch ausgewirkt, daß sie vielfach die Gesetzgebung der Staaten beeinflußt hätten. Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit im gegenwärtigen Völkerrecht, S. 4ff. 51 Hannappel, Staatsangehörigkeit und Völkerrecht, S. 28f. 53 Denn für Völkervertragsrecht enthält Art. 59 Abs. 2 GG eine Sonderregelung, die bei genereller Erstreckung des Art. 25 GG auf Vertragsrecht eingeengt und den Unterschied zwischen Vertrags- und Gewohnheitsrecht verwischen würde. Andererseits fassen aber die Abkommen der Haager Kodifikationskonferenz Regeln des allgemeinen Gewohnheitsrechts nur zusammen und geben sie lediglich in deklaratorischer Form wieder, sodaß ihre Inhalte Grundsätze im Sinne des Art. 25 GG darstellen. Vgl. zur Problematik Rojahn, Art. 25 GG, in: Ingo v. Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Rdnr. 8ff. 54 Makarov / v. Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Bd. 1, Einl. II, Rdnr. 7; SeidlHohenveldern, Völkerrecht, Rdnr. 1315f; Weis, Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit, S. 4f.; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, S. 792; Engel, Völkerrecht als Tatbestandsmerkmal deutscher Normen, S. 176ff.; de Groot, Staatsangehörigkeitsrecht im Wandel, S. 17f.; Randelzhofer, Nationality, S. 417. 50

1. Kap.: Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit

65

Der Besitz der Staatsangehörigkeit muß also an üblichen, objektiven Kriterien anknüpfen, ein genuine link besitzen, wie auch der Internationale Gerichtshof in der Nottebohm-Entscheidung bestätigte.55

1. Erwerb der Staatsangehörigkeit a) Originärer

Erwerb (Geburtserwerb)

Für den originären Erwerb der Staatsangehörigkeit sind allgemein anerkannte Anknüpfungspunkte das ius sanguinis (Abstammungsgrundsatz) und ius soli (Territorialitätsprinzip): Staatsangehöriger ist, wer entweder von Staatsangehörigen abstammt oder auf dem Territorium des betreffenden Staates geboren ist. 56

b) Derivativer

Erwerb (nachträglich

abgeleiteter Erwerb)

Für den derivativen Erwerb gelten als allgemein anerkannt die Anknüpfung an die Eheschließung57, Adoption 58 , Legitimation 59 , Eintritt in den Staatsdienst 60 , Wohnsitz 61 sowie Einbürgerung 62 .

c) Gebietswechsel Umstritten ist völkerrechtlich, ob und ggfs. welche Regeln des allgemeinen Völkerrechts über den Wechsel der Staatsangehörigkeit bei einem Ge-

" IGH im Nottebohm-Fall, ICJ Reports 1955, 4 (20); vgl. dazu BVerfGE 1, 322 (328f.); BVerfGE 37, 217 (228f.). 56 Eine Ausnahme gilt lediglich für den Vatikanstaat, dessen Staatsangehörigkeit ausschließlich durch Wohnsitzbegründung und Innehabung eines Amtes begründet wird. Zum Problem der Rechtsnatur des Staates der Vatikanstadt: Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1, S. 162ff. 57 Dazu: Die Anknüpfung hat angesichts des UN-Abkommens über die Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen v. 17.8.1958 i.d.R. nur erleichterte Bedingungen zum Staatsangehörigkeitserwerb zur Folge, aber keinen Automatismus; Gloria, in: Völkerrecht, § 24, Rdnr. 12; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht S. 790; Dahm, Völkerrecht, Bd. 1, S. 464.; Randelzhofer, Art. 16 Rdnr. 21.; Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar, Einl. E, Rdnr. 31; SeidlHohenveldern, Völkerrecht, Rdnr. 1320f. 58

Randelzhofer, Art. 16 Rdnr. 21. Ebenda. 60 Ebenda, Rdnr. 20; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 295. 61 Randelzhofer, Art. 16 Rdnr. 18; Wengler, Völkerrecht II, S. 988f. 62 Dazu: Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, S. 790; Gloria, in: Völkerrecht, § 24 Rdnr. 10; Weis, Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit im gegenwärtigen Völkerrecht, S. 7f. 59

5 Ziemske

66

Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

bietsübergang bestehen.63 Nach einer vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wenig verbreiteten Auffassung folgt die Staatsangehörigkeit der Bevölkerung dem Wechsel der territorialen Souveränität. 64 Die Bevölkerung eines Gebietes, das von der Herrschaft eines Staates in die eines anderen übergeht, verliert automatisch ihre bisherige Staatsangehörigkeit und erwirbt diejenige des neuen Staates.65 Die h.M. in der Bundesrepublik Deutschland lehnt diese Auffassung jedoch ab. 66 Gegen das Prinzip des automatischen Staatsangehörigkeitswechsels im Zusammenhang mit Gebietswechseln als allgemeine Regel des Völkerrechts spricht die uneinheitliche Staatenpraxis. 67 Die h.M. in der Bundesrepublik Deutschland fordert für einen Staatsangehörigkeitswechsel bei Gebietsveränderungen konkrete Regelungen durch Verträge oder durch Gesetz des Nachfolgestaates, die den betroffenen Personenkreis genau abgrenzen und etwaige Fristen bestimmen. 68 In den meisten völkerrechtlichen Verträgen, die eine Gebietsabtretung zum Gegenstand haben, wird der betroffenen Bevölkerung ein Optionsrecht eingeräumt. Die Verträge sehen einen Wechsel der Staatsangehörigkeit vor, gestatten aber den Bewohnern, sich innerhalb einer bestimmten Frist für die Beibehaltung der bisherigen Staatsangehörigkeit zu entscheiden.

2. Erlöschen der Staatsangehörigkeit a) Gebietswechsel Entsprechend problematisch ist die Behandlung des Gebietswechsels auf der Erlöschensseite der Staatsangehörigkeit. Auch hier ist fraglich, ob und

63 Vgl. dazu Randelzhofer, Art. 16 Rdnr. 27 m.w.N.; Hans v. Mangoldt, Die Staatsangehörigkeitsfragen in bezug auf die Deutschen in der Republik Polen, S. 6 Iff. (66f. ). 64 So Brownlie, Principles, S. 658; ders., The Relations of Nationality in Public International Law, S. 320; Jennings / Watts, Oppenheim's Internationsl Law, S. 877; Hansjörg Jellinek, Der automatische Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit durch völkerrechtliche Vorgänge, S. 50ff; Harry, Nationality and British Citizenship Laws, S. 274f.; siehe ferner die Nachweise bei Seifert, in: DÖV 1972, S. 673 Anm. 11; diese Auffassung ist stark geprägt durch die ausdrückliche Regelung in sec. 11 des British Nationality Act v. 1948 (11 & 12 Geo. 6, c. 56). 65 Insbes. vertreten von Hansjörg Jellinek, Erwerb, S. 50ff. 66 Vgl. Randelzhofer, Art. 16 Abs. 1 GG Rndr. 29 m.w.N.; Weis, Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit im gegenwärtigen Völkerrecht, S. 14; Wengler, Völkerrecht II, S. 993; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rdnr. 1324ff.; O'Connell, International Law I, S. 391; Verdross, Völkerrecht, S. 256f.; siehe auch BVerfGE 1, 322 (329); 4, 322 (327). 67 Makarov / v. Mangoldt, § 17 Rdnr. 33. 68 Vgl. unten §§ 3ff.

1. Kap.: Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit

67

ggf. welche Auswirkungen die Gebietsssukzession hat. 69 Die h.M. neigt auch diesbezüglich dazu, die automatische Wegnahme der Staatsangehörigkeit der betroffenen Bevölkerung erst auf Grund spezieller Verträge eintreten zu lassen.70

b) Verlust der Staatsangehörigkeit Die Haager Kodifikationskonferenz befaßte sich ihrer Zielsetzung nach nicht nur mit den Fragen der zulässigen Erwerbsgründe, sondern allgemein und umfassend mit den Regelungen des "Besitzes" der Staatsangehörigkeit. Das schloß das Erlöschen der Staatsangehörigkeit mit ein, also auch Regelungen des Verlustes und Entzuges.71 Entzug ist ein aliud zum Verlust. 2 Zwar bezeichnen beide Begriffe Erlöschensvorgänge der Staatsangehörigkeit. Doch in den Voraussetzungen unterscheiden sie sich wesentlich. Der Verlust ist die vom Staatsangehörigen willensgetragene Aufgabe seiner Staatsangehörigkeit. Der Entzug ist dagegen nach überwiegender Ansicht die vom Willen des Betroffenen unabhängige Wegnahme der Staatsangehörigkeit durch einseitigen staatlichen Akt. 7 3 Der Entzug umfaßt mithin alle anderen Fälle des Erlöschens der Staatsangehörigkeit, insbesondere die Zwangsausbürgerung, die auch gegen den Willen des Betroffenen durch Hoheitsakt angeordnet werden kann. 7 Klassische Verlustgründe sind die Entlassung und der Verzicht auf Antrag des Trägers der Staatsangehörigkeit. 75 Art. 6 des Haager Abkommens regelt die Möglichkeit des Verlustes durch Verzicht: 76 "Wer ohne eigene ausdrückliche Willenserklärung zwei Staaten angehört, kann auf eine der beiden Staatsangehörigkeiten mit Genehmigung des Staates verzichten, dessen Staatsangehörigkeit er aufgeben will."

69

Randelzhofer, Art. 16 Rdnr. 29f. m.w.N. Dahm, Völkerrecht I, S. 472; Wengler, Völkerrecht IL S. 994; Makarov, Allgemeine Lehren, S. 83; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, S. 632. 71 Weis, Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit, S. 4ff.; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rdnr. 1315ff.; Wengler, Völkerrecht II, S. 993. 72 Seifert, DÖV 1972, S. 672.; vgl. dazu unten § 21. 73 Vgl. dazu unten §21. 74 Gross, DVB1 1954, 802; Seifert, DÖV 1972, S 672, Randelzhofer, Art. 16 Rdnr. 49; Ingo v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 16 Rdnr. 11; Kimminich, Bonner Kommentar, Art. 16 Rdnr. 26; a.A. Makarov / v. Mangoldt, Art. 16 Rdnr. 9 - 1 2 m.w.N. 75 Makarov / v. Mangoldt, Bd. 1, Art. 16 Rdnr 4ff. 76 Abgedr. bei Lichter, Die Staatsangehörigkeit, S. 845ff.; vgl. dazu Kommentierung des Inhalts auf S. 82Iff. 70

Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

68

Art. 7 behandelt die "Entlassung". Sie führt insoweit zum "Verlust" der Staatsangehörigkeit des entlassenden Staates, soweit der Entlassene bereits eine zweite Staatsangehörigkeit besitzt, andernfalls erst zu dem Zeitpunkt, in dem er eine neue Staatsangehörigkeit erwirbt. Hierin konkretisiert sich das Bestreben der Konferenz, Fälle der Staatenlosigkeit zu minimieren, wie in der Präambel dokumentiert ist. 77 Indirekt enthält auch das dritte Kapitel des Hauptabkommens der Haager Kodifikationskonferenz Reglementierungen bezüglich des Erlöschens der Staatsangehörigkeit. Nach Art. 8 verliert eine Frau ihre Staatsangehörigkeit durch die Eheschließung mit einem Ausländer nur dann nach den Gesetzen ihres Heimatstaates, wenn die Frau durch die Eheschließung die Staatsangehörigkeit ihres Ehemannes erwirbt. Auch hierin kommt die Zielsetzung der Kodifikationskonferenz zum Ausdruck, nämlich die gänzliche Beseitigung der Staatenlosigkeit.78 Auch hinsichtlich des Verlustes der Staatsangehörigkeit von Minderjährigen enthält das Hauptabkommen in Art. 16 im Hinblick auf die Vermeidung der Staatenlosigkeit Regelungen:79 "Verliert ein uneheliches Kind nach dem Rechte des Staates, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, diese durch eine Änderung des Personenstandes (Legitimation, Anerkennung), so tritt der Verlust nur ein, wenn es die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates nach dessen Rechtsvorschrift über den Einfluß einer Änderung des Personenstandes auf die Staatsangehörigkeit erwirbt."

Die gleiche Zielsetzung verfolgt auch die im Haager Abkommen für zulässig erachtete Verlustregelung der Adoption. Nach Art. 17 ist der Verlust der Staatsangehörigkeit durch Annahme an Kindes Statt davon abhängig, daß das angenommene Kind die Staatsangehörigkeit des Annehmenden erwirbt. 80

c) Entzug der Staatsangehörigkeit Entzugstatbestände sind im Haager Abkommen bis auf den Erlöschenstatbestand der Eheschließung81 nicht weiter normiert worden. Der internationale Rechtsverkehr kennt und billigt sie aber.

77

Dazu auch Makarov, Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, S. 143ff. Ebenda, S. 148. 79 Ebenda, S. 149. 80 Ebenda, S. 147. 81 Früherer Erlöschenstatbestand gem. §§ 17 Nr. 6 RuStAG. Danach verlor eine deutsche Frau automatisch die Staatsangehörigkeit, wenn sie einen Ausländer heiratete. Das Erlöschen durch Eheschließung wird nach hier vertretener Ansicht als "Entzug" angesehen, da es willensunabhängige Wegnahme der Staatsangehörigkeit ist. Nach h.M. handelte es sich um "Verlust" im Sinne des Art. 16 78

1. Kap.: Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeit

69

Zwar statuiert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Art. 15 Nr. 2 ein Entzugsverbot hinsichtlich der Staatsangehörigkeit. Doch ist dieses auf willkürliche Fälle der Aberkennung der Staatsangehörigkeit beschränkt. Dort heißt es: 82 "Niemand darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen noch ihm das Recht versagt werden, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln."

Diese Erklärung setzt jedoch als "Resolution" der Generalversammlung der UNO für sich genommen kein verbindliches Recht, weil solche Resolutionen nur empfehlenden Charakter haben.83 Ihr wird auch insoweit allgemein die Wirkung der Geltung als Völkergewohnheitsrecht abgesprochen, weil die Staaten beim Abschluß des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte84, der den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz auf eine verbindliche vertragliche Grundlage stellte, von einer entsprechenden vertraglichen Regelung abgesehen haben. Auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 8 5 enthält keinen dem Art. 15 Nr.2 Allgemeine Menschenrechtserklärung vergleichbaren Tatbestand. Daraus ist im Umkehrschluß zu folgern, daß die Staaten nicht von der rechtlichen Verbindlichkeit des Verbotes willkürlicher Ausbürgerungen ausgehen.86 Vereinzelt wird allerdings unter Bezugnahme auf die Konvention über die Verminderung der Staatenlosigkeit die völkerrechtliche Unzulässigkeit des Entzuges der Staatsangehörigkeit begründet. Nach Art. 8 dieser Konvention soll kein Vertragsstaat jemandem seine Staatsangehörigkeit entziehen, wenn dieser dadurch staatenlos würde. Art. 9 der Konvention bestimmt darüber hinaus, daß ein Vertragsstaat keiner Person aus rassischen, ethnischen, religiösen oder politischen Gründen ihre Staatsangehörigkeit entziehen darf. Doch die vorgenannten Bestimmungen untersagen gerade nicht generell den Entzug. Sie beabsichtigen, ihn nur für den Fall des Eintritts der Staatenlosigkeit bzw. auf bestimmte Eigenschaften, Merkmale oder Verhaltensweisen, die dem Schutz der grundlegenden Menschenrechte unterstehen, zu beAbs. 1 Satz 2 GG. Konsequenzen aus der unterschiedlichen Einordnung: Nach hier vertretener Ansicht war § 17 Nr.6 RuStAG mit Inkrafttreten des Grundgesetzes wegen Verstoßes gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG unwirksam. Nach h.M. ist seine Wirkung erst mit Ablauf des 31.3.1953 entfallen, da er lediglich dem Art. 3 Abs. 2 GG widersprach (Art. 117 GG).; vgl. zum Streitstand: Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 98. 82 Resolution 217(111) Universal Declaration of Human Rights, in: United Nations, General Assembly, Official Records, third Session (part I) Resolutions (Doc. A / 810, S. 71). 83 Maunz / Zippelius , Deutsches Staatsrecht, § 17 II 3. 84 Vom 19.12.1966 (BGBl. 1973 II, S. 1534); fur die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten mit Ausnahme seines Art. 41 am 23.3.1976 (gem. Bek. v. 14.6.1976, BGBl. 1976, S. 1068). 85 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.1950 (BGBl. 1952 II, S. 689, 953); fur die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am 3.9.1953 (gem. Bek. v. 15.12.1953, BGBl. 1954 II, S. 14). 86 Jennings / Watts, Oppenheim's International Law. S. 869; Randelzhofer, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 16 Rdnr. 33.

Teil 1: Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

70

grenzen. Aber auch insoweit ist im Völkerrecht umstritten, ob die konträr hierzu vorgenommenen Ausbürgerungen nur als "unerwünscht" oder als "völkerrechtswidrig" anzusehen sind. 87 Zu den völkerrechtlich zulässigen Entziehungstatbeständen zählen: 88 - Entzug infolge dauerhaften 89 Auslandsaufenthalts 90, - Entzug infolge Nichterfullens der Wehrpflicht 91 , - Entzug infolge Eintritts in die Armee oder den öffentlichen Dienst oder des Wahlamtes eines anderen Staates92, - Entzug infolge Nichtbefolgens einer Rückkehraufforderung des Heimatstaates 93 , - Entzug infolge Strafverurteilung 94, - Entzug infolge Illoyalität 95 , - Entzug infolge mehrfacher Staatsangehörigkeit 96, - Entzug infolge Steuerflucht 97, - Entzug infolge Widerruf. 98

87

Dazu: Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht. Komm., Einl. E, Rdnr. 50ff. m.\v.N. Die nachfolgende Aufzählung gibt einen vorläufigen Überblick, der keine Ausschließlichkeit beansprucht. Sie ist nicht in allen Punkten unumstritten; siehe dazu jeweils die Anmerkungen. Zur Abgrenzung "Verlust" und "Entzug" siehe auch unten §§ 21 f. 89 An der Zulässigkeit des Entzuges bei "vorübergehendem" Auslandsaufenthalt bestehen wegen des Interventionsverbotes erhebliche völkerrechtliche Bedenken; dazu: Hailbronner, Staatsangehörigkeitsrecht. Komm., Einl. E, Rdnr. 50. 90 Hans v. Mangoldt (JZ 1993, S. 972) bezeichnet diesen Tatbestand als "Wegnahme", die den Schutzbereich des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG berührt; vgl. zur Problematik auch Makarov / v. Mangoldt, Bd. 1, § 17 Rdnr. 20. 91 Lichter / Hoffmann, Staatsangehörigkeitsrecht, Art. 16 Rdnr. 5; Maßfeiler, S. 65, Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 105. 92 Maunz, in: Maunz / Dürig/ Herzog, 4. Aufl. 1974, Art. 16 Rdnr. 18; Schätzet, S. 224ff; Bergmann / Korth /Ziemske, Rdnr. 106. 93 Maunz, in: Maunz/ Dürig/ Herzog, 4. Aufl. 1974, Bd. 1, Art. 16 Rdnr. 18; Lichter / Hoffmann, Art. 16 Rdnr. 5; Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 106. 94 Lichter, Das Bonner Grundgesetz und die Staatsangehörigkeit, in: StAZ 1954, S. 241ff. (266f.); Seifert, DÖV 1972, S. 672 m.w.N. 95 Maunz, in: Maunz / Dürig / Herzog, 4. Aufl., Art. 16 Rdnr. 22; Seifert, DÖV 1972, S. 672; Schätzet. Die Grundrechte II, S. 570; Lichter / Hoffmann, Art. 16 GG Rdnr. 5 9(5 So: Otto, FamRZ 1974, S. 656; Sturm, FamRZ 1974, S. 622; a.A. Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar, Art. 16 Rdnr. 16. 97 Unstreitig als "Entzug" anerkannt, vgl. Makarov / v. Mangoldt, Bd. 1, § 17 Rdnr. 18. 98 Unstreitig als "Entzug" anerkannt; vgl. dazu: Randelzhofer, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 16 Rdnr. 52f.; Kimminich, in, Grundgesetz-Kommentar, hrsg. von Ingo v. Münch, Art. 16 Rdnr. 38; Makarov / v. Mangoldt, § 17 RuStAG, Rdnr. 24; Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar, Art. 16 Rdnr. 16. 88

2. Kap.: Staatsangehörigkeit und "Sammeleinbürgerungen"

71

2. Kapitel

Die deutsche Staatsangehörigkeit und die "Sammeleinbürgerungen"

1. Abschnitt: "Sammeleinbürgerungen" infolge Annexion und Okkupation § 3 Der staatsangehörigkeitsrechtliche Befund im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes Die junge Bundesrepublik Deutschland stand vor der fast unlösbaren Aufgabe, zumindest für eine rechtliche Beseitigung der furchtbaren Folgen der Annexions- und Okkupationspolitik des nationalsozialistischen Regimes und des von ihm provozierten Zweiten Weltkriegs zu sorgen." Das Ausmaß des Durcheinanders umschrieb der Abgeordnete Wilhelm Laforét (1877-1959) im Parlamentarischen Rat knapp wie folgt: 1 0 0 "Heute liegt auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts ein Chaos vor".

Die Ursachen hierfür lagen zum einen in den nationalsozialistischen Maßnahmen auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts. Sie hatten folgende Zielsetzung: 101 1. In nationalsozialistischer Zeit herrschte die Ideologie, zunächst die deutschstämmige Bevölkerung, die infolge des Versailler Vertrages von 1919 unter andere Staatsgewalten gekommen war, "Heim ins Reich" zu holen. Nach dem Versailler Friedensvertrag büßte Deutschland erhebliche Teile seines Staatsgebietes ein. Die Gebiete Posens und Oberschlesiens wurden an Polen, das Memelland an Litauen, das Hultschiner Ländchen und das 01sagebiet an die neugeschaffene Tschechoslowakei, Nordschleswig an Dänemark, das Gebiet Eupen, Malmedy. Moresnet an Belgien, Elsaß und Lothringen an Frankreich abgetrennt. Danzig erhielt den Status eines Freistaates, das Saarland wurde der Verwaltung des Völkerbundes unterstellt. Betroffen waren von diesen Gebietswechseln ca. 6 Mio Deutsche. Sie verloren aufgrund der Regelungen im Versailler Vertrag sowie in den später von Deutschland geschlossenen Staatsangehörigkeits- und Optionsverträgen die deutsche 99

Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 108. Zweite Sitzung v. 22. September 1948. abgedr. in: Der Parlamentarische Rat: 1948-1949, Akten und Protokolle, hrsg. v. Deutschen Bundestag und Bundesarchiv, Bd. 3, S. 27. 101 Vgl. dazu: Schätzet, Der heutige Stand des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, AöR 1948, Bd. 74, S. 273ff. (292f.). 100

Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

72

Staatsangehörigkeit. Art. 278 des Versailler Vertrages 102 aus dem Jahre 1919 verpflichtete Deutschland, die neuen Staatsangehörigkeiten ehemaliger vom Gebietswechsel betroffener Deutscher anzuerkennen und sie von jeder Pflicht gegenüber Deutschland zu entbinden. 103 2. Die "Heim ins Reich"-Politik wurde darüber hinaus auf die sonstige deutschstämmige Bevölkerung in den verschiedenen Staaten Europas ausgeweitet und diente als Vorwand, diese Staaten militärisch anzugreifen. 104 Nach der Besetzung dieser Gebiete durch deutsche Truppen wurden die entsprechenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen geschaffen, und zwar unabhängig davon, ob der kriegerischen Besetzung eine vollständige und auf Dauer angelegte Einverleibung in das deutsche Staatsgebiet folgte (Annexion) oder nicht (Okkupation). Staatsangehörigkeitsrechtlich wurde entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie in der Regel mit "Sammeleinbürgerungen" der Deutschstämmigen in den betroffenen Gebieten verfahren. 105 Begleitet wurden diese Maßnahmen von Umsiedlungen und gezielten Einzeleinbürgerungen 106 sowie von Ausbürgerungen 107 politisch, rassisch oder religiös "unerwünschter Personen". Sammeleinbürgerungen fanden seit 1938 statt und betrafen folgende Perso108

nengruppen: Deutsche Volkszugehörige in 1. den annektierten Gebieten: Sudetenland109 (1938), Böhmen und Mähren 1 1 0 (1939), Memelland 111 (1939), Danzig 1 1 2 (1939) und "eingegliederte Ostgebiete" 113 (Posen und Oberschlesien - 1939), Untersteiermark, Kärnten und Krain 1 1 4 (1941), 102

Vgl. Gesetz über den Friedensschluß v. 16.7.1919 (RGBl. 1687). Vgl. zu den Ausfuhrungsverträgen insbes. Schleser, Die deutsche Staatsangehörigkeit, S. 65ff. 104 Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 108. 105 Ebenda, Rdnr. 35ff. 106 Ebenda, Rdnr. 46ff. 107 Ebenda, Rdnr. 49ff.; diesem Ziel diente das am 14.7.1933 erlassene Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit (RGBl. I S. 430ff.) mit Ausführungsbestimmungen v. 26.7.1933 (RGBl. I S. 538ff). 108 Schätzet, AöR 74, S. 292ff. 109 Deutsch-tschechoslowakischer Vertrag v. 20.11.1938 (RGBl. II 896). 110 Verordnung v. 20.4.1939 (RGBl. 1815). 111 Gesetz über die Wiedervereinigung des Memellandes mit dem Deutschen Reich v. 23.3.1939 (RGBl. I 559). 112 Gesetz über die Wiedervereinigung der Freien Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich v. 1.9.1939 (RGBl. 1 1547); Verordnung über die deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten v. 4.3.1941 (RGBl. I 118) i.d.F. der Verordnung v. 31.1.1942 (RGBl. 151). 113 Erlasse v. 8.10. und 2.11.1939 sowie 29.1.1940 (RGBl. 1939 I 2042 und 2135 sowie RGBl. 19401251). 114 Verordnung v. 14.10.1941 (RGBl. 1648). 103

2. Kap.: Staatsangehörigkeit und "Sammeleinbürgerungen"

73

2. dem "Anschlußgebiet" Österreich 115 (1938). 3. den okkupierten Westgebieten116 (Elsaß-Lothringen 1942, Luxemburg 1942, Belgien und Niederlande 1940). 4. der okkupierten Ukraine 117 (1943). Weitere Kollektiveinbürgerungen erfolgten im Zuge der Umsiedlung u.a. aus den baltischen Staaten, Ostgalizien, Wolhynien, Bukowina, Kroatien, Südtirol. 118 Die deutschstämmigen Angehörigen der Wehrmacht, Waffen-SS, Polizei und Organisation Todt sowie des Reichsarbeitsdienstes erwarben nicht automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit, wohl aber erleichtert in Einzelfallen durch das sog. Feststellungsverfahren. 119 Für das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland drängte sich die Frage auf, wie mit den zahlreichen Ein- und Ausbürgerungsmaßnahmen im "Dritten Reich" umzugehen sei. 120 Hierbei spielte Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG eine nicht unerhebliche Rolle im Umgang mit der Abwicklung historischen Unrechts. Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG darf die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden. Wie sollte aber die junge Bundesrepublik Deutschland vor allem dann auf die im nationalsozialistischen Regime betriebenen Sammeleinbürgerungen reagieren, wenn die reorganisierten, ehemals besetzten Gebiete ihre davon betroffenen ehemaligen Staatsangehörigen wieder als eigenes Staatsvolk in Anspruch nahmen? Sollte die unter nationalsozialistischer Herrschaft zwangsweise erworbene deutsche Staatsangehörigkeit ebenfalls durch Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG garantiert sein? Würde man nicht damit nationalsozialistische Zwangsmaßnahmen auf Dauer fortschreiben? Die Antwort auf diese Fragen setzte natürlich voraus, daß die Sammeleinbürgerungen wirksam die deutsche Staatsangehörigkeit begründen konnten. Nach innerstaatlichem Recht war die Wirksamkeit der Sammeleinbürgerung nicht ernstlich angezweifelt worden. 121 Bedenken gegen die Wirksamkeit der Einverleibung in den Staatsverband taten sich aber aus Gesichtspunkten des Völkerrechts auf. 1 2 2 Die Sammeleinbürgerungen waren Folgen völ-

115

Verordnung v. 3.7.1938 (RGBl. 1790). Verordnung über die Staatsangehörigkeit im Elsaß, in Lothringen u. in Luxemburg v. 23.8. 1942 (RGBl. I 533); Verordnung über die Staatsangehörigkeit der Bewohner von Eupen, Malmedy und Moresnet v. 18.5.1940 u. 23.9.1941 (RGBl. 1940 1777 u. 803 sowie RGBl. 1941 I 584 u. 652). 117 Verordnung v. 19.5.1943 (RGBl. I 321). 118 Sc h lese r, S. 106ff.; Lichter, S. 346ff. 116

119 Vgl- § 10 des 1. StARegG.; Hailbronner / Renner, Kommentar zum Staatsangehörigkeitsrecht, Einl. B, Rdnr. 19. 120 Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 109. 121 Die Praxis der Behörden und Gerichte war zwar je nach den Besatzungszonen uneinheitlich. Doch rechtserhebliche Zweifel taten sich allenfalls unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten auf. Vgl. dazu Hailbronner / Renner, Kommentar, Einl. B, Rdnr. 29 m.w.N. 122 Ebenda.

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

kerrechtswidriger Annexionen bzw. Okkupationen. 123 Konnte dies zu einer rückwirkenden Aufhebung des innerstaatlichen Erwerbstatbestandes fuhren? Art. 25 GG bot hierfür eine Öffnung. Danach sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts. Allerdings fehlte nach den Feststellungen des BVerfG eine einheitliche Völkerrechtsgewohnheit, wonach völkerrechtswidrige Staatensukzessionen zur Unwirksamkeit der Staatsangehörigkeitsverleihung führten. Aus diesem Grunde war für das BVerfG 1 2 4 zumindest für die Fälle der völkerrechtswidrigen Annexion von einer grundsätzlich wirksamen Staatsangehörigkeitsverleihung durch Sammeleinbürgerungen auszugehen. Das BVerfG 1 2 5 hatte in der Entscheidung vom 28. Mai 1952 zu der streitigen Frage grundsätzlich Stellung genommen und ausgeführt: "Aus den völkerrechtswidrigen Annexionen durch das Deutsche Reich seit dem 1. Januar 1938 kann nicht gefolgert werden, daß alle mit der Annexion zusammenhängenden Zwangsverleihungen der deutschen Staatsangehörigkeit als nichtig zu betrachten sind."

Die betreffenden Personen seien nur dann als Nichtdeutsche zu betrachten, wenn sie seit 1945 ständig den Willen bekundet haben, nicht als deutscher Staatsangehöriger behandelt zu werden. Zumindest für die Staatsangehörigkeitsverleihungen infolge völkerrechtswidriger Annexionen mußte also der Bestandsschutz des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG Geltung beanspruchen. Nach der Völkerrechtslehre mochte etwas anderes für den Fall völkerrechtswidriger Okkupationen gelten. 126 Aber zumindest die Staatenpraxis war diesbezüglich nicht einheitlich: 1. Hinsichtlich der Regelung der staatsangehörigkeitsrechtlichen Fragen der zwangseingebürgerten Bevölkerung Elsaß-Lothringens, Luxemburgs, Belgiens und der Niederlande wurden die M Sammeleinbürgerungen" für von Anfang an als null und nichtig erklärt. Die staatsangehörigkeitsrechtlichen Maßnahmen während der nationalsozialistischen Herrschaft waren Folge einer unstreitig als völkerrechtswidrig angesehenen Okkupation. Sie wurden von den Alliierten aus diesem Grunde selbst für unwirksam erklärt. 127 123 1928 hat sich mit dem Briand-Kellog-Pakt ein völkerrechtliches Gewaltverbot etabliert (Vertrag über die Ächtung des Krieges. RGBl. 1929 II, S. 97). Das Annexionsverbot geht aus dem Gewaltverbot hervor (Stimson-Doktrin v. 7.1.1932; Foreign Relations of the United States, Bd. 1932, Kap.: Femer Osten, S. 8); Scheuner, Die Annexion im modernen Völkerrecht, in: Die Friedens-Warte 1949, S. 8Iff. (85ff). 124 BVerfGE 1, 322ff; 2, 98ff. 125 BVerfGE 1, 322ff. 126 Vgl. dazu Makarov / v. Mangoldt, vor § 1 StAngRegG, Rdnr. 4 m.w.N. 127 Dies unterstrich bereits die Alliierte Hohe Kommission im Gesetz Nr. 12 über die Nichtigkeit von nationalsozialistischen Rechtsvorschriften betreffend die Staatsangehörigkeit v. 17.11.1949.

2. Kap.: Staatsangehörigkeit und "Sammeleinbürgerungen"

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2. Eine besondere Rolle nahm dagegen die Regelung der Sammeleinbürgerungen Volksdeutscher Ukrainer ein. Wenngleich die Ukraine auch zu den okkupierten Gebieten gehörte, wurden - im Unterschied zu der Rechtslage anderer ebenfalls nur okkupierter "Westgebiete" - die über die Sammeleinbürgerung in den deutschen Staatsverband aufgenommenen Personen grundsätzlich als deutsche Staatsangehörige behandelt. Die Sammeleinbürgerungen galten mithin nicht von Anfang an als null und nichtig. 1 2 8 3. Ein weiteres Problem stellte die Schwierigkeit dar, zwischen Annexion und Okkupation zu unterscheiden. Wie sollte die Bundesrepublik Deutschland mit den Fällen umgehen, die nicht klar abgrenzbar waren? War beispielsweise Polen nur kriegerisch besetztes Gebiet oder zumindest auch in Teilen dem Deutschen Reich einverleibt? Wie stand es mit der Staatensukzession der ehemaligen Tschechoslowakei und Österreichs?

Darin ist die Verordnung v. 23.8.1942. soweit sie die zwangsweise Übertragung der deutschen Staatsangehörigkeit zum Gegenstand hatte, von Anfang an nichtig und rechtsunwirksam. Nach einer verbindlichen Auslegung dieses Gesetzes gilt als "zwangsweise Übertragung" der deutschen Staatsangehörigkeit "jede" Verleihung auf der Basis der genannten Verordnung. Die Sammeleinbürgerung betreffend die Bewohner von Eupen, Malmedy und Moresnet aufgrund der Verordnung v. 23.9.1941 i.d.F. v. 22.10.1941 (RGBl. I, S. 652) ist gleichermaßen völkerrechtswidrig und von Anfang an als nichtig anzusehen. Der belgische Staat wurde ebenfalls nicht annektiert, sondern nur okkupiert. Die betroffenen belgischen Staatsangehörigen wurden auch von Belgien als solche in Anspruch genommen. Soweit nach dem Kriege in Einzelfallen durch den belgischen Staat Bewohner der genannten Grenzgebiete wegen ihres Einsatzes für deutsche Interessen ausgebürgert worden sind, hat dies nicht den Weiterbesitz der durch Sammeleinbürgerung verliehenen deutschen Staatsangehörigkeit zur Folge, denn die Sammeleinbürgerungen waren von Anfang an als nichtig anzusehen. Die Betroffenen waren deshalb zunächst, soweit sie nicht eine andere Staatsangehörigkeit besaßen, staatenlos.Die in diesen Gebieten sammeleingebürgerten Personen wurden so behandelt, als hätten sie die deutsche Staatsangehörigkeit nie erworben. Sie fielen mithin nicht in den Schutzbereich des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Betroffenen wurden in ihren Heimatstaaten auch nach der Beendigung der Okkupation wieder als ihre Staatsangehörigen in Anspruch genommen. 128 Der durch Sammeleinbürgerung erfolgte Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit führte grundsätzlich nicht zum Verlust der sowjetischen Staatsangehörigkeit. Das sowjetische Staatsangehörigkeitsgesetz v. 19.8.1938 betrachtete nämlich den Erwerb einerfremden Staatsangehörigkeit, sei er automatisch oder auf Antrag, grundsätzlich nicht als einen Verlustgrund. Nach der Verordnung über die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an die in die deutsche Volksliste der Ukraine eingetragenen Personen v. 19.5.1943 (RGBl. I, S. 321) erwarben die ehemaligen Staatsangehörigen der UdSSR die Staatenlosen deutscher Volkszugehörigkeit mit Wirkung v. 21.6.1941 die deutsche Staatsangehörigkeit. Voraussetzung war, daß die betreffenden Personen die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Abteilung I oder II der deutschen Volksliste erfüllten und am 21.6.1941 im Gebiet des Reichskommissariats Ukraine ansässig waren. Eine Verordnung über die Errichtung einer deutschen Volksliste in der Ukraine wurde niemals veröffentlicht. Man kann jedoch unterstellen, daß diese Volksliste analog der Volkslisten in den annektierten Ostgebieten gestaltet war. Die sammeleingebürgerten Volksdeutschen wurden auch nach Beendigung der Okkupation von der sowjetischen Seite als sowjetische Staatsangehörige in Anspruch genommen. Es ist keine Regelung derart ergangen, daß sie aus der sowjetischen Staatsangehörigkeit ausgeschlossen sind.

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

Diese Fragen drängten sich auf und waren natürlich auch außenpolitisch von immenser Bedeutung. 129

§ 4 Das Entzugsverbot und das Erste Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit Das Problem des Geltungsumfanges des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG hinsichtlich der "Sammeleinbürgerungen" aktualisierte sich aber nicht in allen Fällen gleichermaßen. Es minimierte sich entsprechend dort, wo die Staaten die von Sammeleinbürgerungen betroffenen Personen nicht mehr als eigene Staatsangehörige für sich in Anspruch nahmen, ja sie teilweise sogar nachträglich zwangsausbürgerten und zwangsaussiedelten.130 Das war der Fall in den Staaten des im Entstehen begriffenen Ostblocks. Mangels außenpolitischer Interessenkollision war die Bundesrepublik Deutschland frei, den betroffenen Personenkreis trotz aller völkerrechtlicher Bedenken an der Wirksamkeit der Sammeleinbürgerungen als eigene Staatsangehörige aufzunehmen und sie von Anbeginn dem Schutz des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG zu unterstellen. Das war der Fall hinsichtlich sammeleingebürgerter deutscher Volkszugehöriger in der reorganisierten ehemaligen Tschechoslowakei und UdSSR, in Polen und im ehemaligen Jugoslawien.131 Um das Schicksal dieser Menschen staatsangehörigkeitsrechtlich aufzufangen, erließ der Gesetzgeber das "Erste Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit" 132 vom 22. Februar 1955. § 1 des l.StARegG. bestimmt in Satz 1 entsprechend: "Die deutschen Volkszugehörigen, denen die deutsche Staatsangehörigkeit aufgrund folgender (es folgt eine Aufzählung der einzelnen Sammeleinbürgerungsregelungen in obig genannten Gebieten) Bestimmungen verliehen worden ist,...: sind nach Maßgabe der genannten Bestimmungen deutsche Staatsangehörige geworden."

Damit stellte der Gesetzgeber klar, daß die Sammeleinbürgerungen für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland als von Anfang an verbind-

129 Schließlich galt es. das Vertreibungsschicksal anläßlich des Zweiten Weltkrieges vieler Millionen Menschen aufzufangen. Die Bundesrepublik Deutschland nahm sich in Pflicht, Volksdeutsche, ihre Ehegatten und Abkömmlinge auch staatsangehörigkeitsrechtlich den Deutschen gleichzustellen. Aus Wiedergutmachungsgründen gewährte das Grundgesetz darüber hinaus in Art. 116 Abs. 2 GG den aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen Zwangsausgebürgerten sowie ihren Abkömmlingen Einbürgerungsansprüche und -fiktionen. 130 Amt des amerikanischen Hochkommissars für Deutschland (Hrsg.), Bericht über Deutschland, Bd. 10, S. 64ff. und Bd. 11, S. 21 Iff. 131 Schätzet, Der heutige Stand des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, AöR 1948 (Bd. 74), S. 273ff. (298ff.) 132 BGBl. I, S. 65.

2. Kap.: Staatsangehörigkeit und "Sammeleinbürgerungen"

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lieh gelten sollten. 133 Um dieser Feststellung aber jede auch nur erdenkliche Ähnlichkeit zu nationalsozialistischen Zwangsmaßnahmen zu nehmen, folgte im Nachsatz: "Es sei denn, daß sie die deutsche Staatsangehörigkeit durch ausdrückliche Erklärung ausgeschlagen haben oder noch ausschlagen."

Anders dagegen verhielt es sich mit der staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelung sammeleingebürgerter Österreicher.

2. Abschnitt: Die "Sammeleinbtirgerung" der Österreicher infolge des "Anschlusses*' § 5 Das staatsangehörigkeitsrechtliche Problem Durch den "Anschluß" Österreichs am 13. März 1938 erwarben die Österreicher die deutsche Staatsangehörigkeit. 134 Dieser Erwerb beruhte auf dem Wechsel der Souveränität über das österreichische Staatsgebiet, der die völlige Einverleibung Österreichs in das deutsche Reich bezweckte und tatsächlich zur Folge hatte. Davon ging auch die Verordnung 135 über die Staatsangehörigkeit im Lande Österreich vom 3. Juli 1938 aus. § 1 dieser Verordnung bestimmte rückwirkend auf den 13. März 1938, daß die ehemalige österreichische Bundesbürgerschaft fortfiel und, daß es für Österreicher nur die deutsche Staatsangehörigkeit (Reichsangehörigkeit) gäbe. Die Wiederherstellung des österreichischen Staates am 27. April 1945 hat das Problem aufgeworfen, ob die Personen, die bei der Eingliederung Österreichs am 13. März 1938 in das Deutsche Reich (sog. Anschluß) Österreicher waren und an diesem Tage deutsche Staatsangehörige wurden sowie die Personen, die in der Zeit von 1938-1945 ihre Staatsangehörigkeit von ihnen abgeleitet haben, deutsche Staatsangehörige geblieben sind. "Unbestritten" 136 war die Auffassung, daß die mit der Wiederherstellung der Republik Österreich verbundene Verleihung der österreichischen Staats-

133 Schätzet, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 247.; vgl. allgemein dazu: Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 122ff. 134 Vgl. Art. 1 des Gesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich v. 13. März 1938, RGBl. I, S. 237. 135 RGBl. I, S. 790. 136 BVerfGE 4, S. 322ff. (326); ähnlich BVerwGE 1, S. 206ff. (207), das den Erwerb der österreichischen Staatsangehörigkeit ausdrücklich mit dem Vermerk unterstellte: "Der Senat glaubt, diese

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

bürgerschaft rechtswirksam war. Das diesbezüglich am 10. Juli 1945 erlassene "Gesetz über die Überleitung in die österreichische Staatsbürgerschaft" 137 lautete in § 1: "(1.) Österreichische Staatsbürger sind ab 27. April 1945 a)die Personen, die am 13. März 1938 die österreichische Bundesbürgerschaft besessen haben; b) die Personen, die in der Zeit vom 13. März 1938 bis 27. April 1945 bei Weitergeltung des Bundesgesetzes vom 30. Juli 1925, Bundesgesetzblatt Nr. 285, Über den Erwerb und den Verlust der Landes- und Bundesbürgerschaft in der am 13. März 1938 geltenden Fassung die Bundesbürgerschaft durch Rechtsnachfolge nach einem österreichischen Bundesbürger (Abstammung, Legitimation, Ehe) erworben hätten; alle diese Personen jedoch nur dann, wenn in ihrer Person vor dem 27. April 1945 kein Tatbestand eingetreten ist, mit dem nach den Bestimmungen in lit.b genannten Gesetzes der Verlust der Bundesbürgerschaft verbunden ist. (2.) Ausgenommen von dem Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft nach Abs. 1 sind alle Personen, die nach dem Verbotsgesetz als 'Illegale' zu behandeln sind."

Nach dieser Bestimmung waren "ab 27. April 1945" auch aus deutscher Sicht alle Personen österreichische Staatsbürger, die bei ununterbrochener Fortgeltung des österreichischen Staatsangehörigkeitsrechts an diesem Tage österreichische Staatsangehörige gewesen wären 3 8 "Umstritten" 139 war in Deutschland allerdings die Frage, ob dieser Personenkreis zugleich auch im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit geblieben ist. Die Staatsangehörigkeitsbehörden der süddeutschen Länder hatten den Fortbestand der auf der Eingliederung Österreichs beruhenden deutschen Staatsangehörigkeit immer verneint. 140 Die gleiche Auffassung vertrat der Bundesminister des Innern. 141 Dagegen hatten die Staatsangehörigkeitsbehörden der nord- und westdeutschen Länder die in Deutschland verbliebenen Angehörigen des umstrittenen Personenkreises bis ins Jahr 1951 auch als deutsche Staatsangehörige behandelt. 142 Seitdem war die Verwaltungspraxis im ganzen Bundesgebiet einschließlich Berlins einheitlich. 143 Die betreffenden Personen wurden von der Verwaltung ausschließlich als Österreicher behandelt. Frage nicht entscheiden, sondern ihre Beantwortung den Organen des österreichischen Staates überlassen zu sollen". 137 Staatsbürgerschaftsüberleitungsgesetz, österr. StGBl. 1945, S. 81. 138 Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 127. 139 BVerfGE 4, S. 322ff.(326). 140 Dazu Schätzet, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 320ff. 141 Ebenda, S. 321. 142 Ebenda, S. 322. 143 Ebenda.

2. Kap.: Staatsangehörigkeit und "Sammeleinbürgerungen"

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Die Rechtsprechung und das Schrifttum hatten allerdings überwiegend die gegenteilige Meinung vertreten. 144 Insbesondere die obersten deutschen Instanzgerichte bejahten die deutsche Staatsangehörigkeit zumindest der Österreicher, die nach dem Kriege in Deutschland lebten. Der B G H 1 4 5 vertrat diese Aufassung erstmalig in seiner Entscheidung für reichsdeutsche Frauen von Österreichern. Das BVerwG hatte in der vielbeachteten Entscheidung vom 30. Oktober 1954 ausgeführt, daß "gebürtige Österreicher, die im Zeitpunkt der Wiedererrichtung der Republik Österreich im Gebiet der jetzigen Bundesrepublik Deutschland lebten und hier geblieben sind, die deutsche Staatsangehörigkeit trotz der Wiederherstellung Österreichs behalten haben". 1 4 6 Die konträren Auffassungen beruhten auf einer unterschiedlichen Beurteilung der völkerrechtlichen Grundsätze im Staatsangehörigkeitsrecht. Während die gesamte innere Verwaltung der Überzeugung war, daß die staatsangehörigkeitsrechtlichen Folgen der Wiederherauslösung eines einem anderen Staat einverleibt gewesenen Staates147 durch das Völkerrecht in dem Sinne geregelt seien, daß die von der Einverleibung betroffene Bevölkerung die Staatsangehörigkeit des wiederhergestellten Staates erhalte und die des anderen Staates verliere, hatten die meisten Gerichte, insbesondere das BVerwG, die Existenz einschlägigen Völkerrechts verneint. 148

§ 6 Die Staatsangehörigkeitsentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Oktober 1954 Der Entscheidung des BVerwG lag folgender Sachverhalt zugrunde: 149 Die Klägerin war gebürtige Österreicherin. Sie wohnte im Zeitpunkt der Wiedererrichtung der Republik Österreich am 27. April 1945 im Gebiet der jetzigen Bundesrepublik Deutschland. Sie begehrte die Ausstellung eines deutschen Staatsangehörigkeitsausweises.

144 BGH v. 4.10.1951 (BGHZ 3, S. 178): BGH v. 29.12.1953 (BGHst. 3, S. 230); OVG Berlin v. 13.5.1953 (DVB1. 1953. S. 665): VGH Karlsruhe v. 12.2.1954 (DVB1. 1954, S. 253); BVerwG v. 30.10.1954 (BVerGE 1, S. 206ff.); Schätze/, AöR 1948, S. 293; Scheuner, DVB1. 1952, S. 647f.; Lauterhach, NJW 1952. S. 184; Dernedde, DVB1. 1953, S. 668; Rößler DÖV 1954, S. 156; a.A.: VGH Bebenhausen v. 21.1.1953. DÖV 1954, S. 154, Makarov, JZ 1952, S. 403; ders., DÖV 1953, S. 548; ders., JZ 1954. S. 280: Neuffer. DÖV 1954. S. 155; Werner Hoffmann, DVB1. 1954, S. 73. 145

BGHZ 3. S. 178. BVerwGE 1, S. 206ff.(212). Dieser Tatbestand darf nicht mit der Abtretung eines nichtselbstandig gewesenen Teils eines Staatsangehörigkeitsgebietes verwechselt werden. 148 BVerfGE 1. S. 206ff. (208ff.). 149 Ebenda. S. 206. 146 147

Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

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Das BVerwG gab dem Begehren der Klägerin statt. Gebürtige Österreicher, die im Zeitpunkt der Wiedererrichtung der Republik Österreich im Gebiet der jetzigen Bundesrepublik Deutschland lebten und hier geblieben sind, besaßen nach dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung die deutsche Staatsangehörigkeit. Das BVerwG konstatierte zunächst, daß die Klägerin die deutsche Staatsangehörigkeit nach Maßgabe des Gesetzes150 vom 13. März 1938 und der Verordnung 151 vom 3. Juli 1938 rechtswirksam envorben hatte. Dieser Erwerb erfolgte aufgrund des sog. "Anschlusses" Österreichs an das Deutsche Reich, den die Völkerrechtsgemeinschaft zunächst billigend in Kauf genommen hätte. Die Staaten der Völkergemeinschaft hätten dies in der Rücknahme der diplomatischen Vertreter aus Wien unter Erweiterung der Zuständigkeiten ihrer diplomatischen Vertreter in Berlin ausgedrückt. Allerdings hätten mit der Erklärung vom 30. Oktober 1943 auf der Moskauer Konferenz und durch die Drei-Mächte-Verlautbarung über die Krim-Konferenz 152 vom 11. Februar 1945 die Alliierten die Österreich vom Deutschen Reich aufgezwungene Annektion für völkerrechtswidrig erklärt. Sie hätten den Vorgang als "null und nichtig" bezeichnet und sich für die Wiederherstellung eines "freien, unabhängigen Österreichs" eingesetzt. Doch könne wegen der von den Allierten vertretenen Verletzung des Völkerrechts nicht ohne weiteres auf die Unwirksamkeit der Staatsangehörigkeitsverleihung geschlossen werden. Denn nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen sei jeder Staat grundsätzlich allein berufen, nach seinem Ermessen zu bestimmen, wie seine Staatsangehörigkeit erworben und verloren wird 1 5 3 . Das den Staaten völkerrechtlich eingeräumte Ermessen, die Staatsangehörigkeitsangelegenheiten zu regeln, sei allerdings nicht grenzenlos. Jeder Staat dürfe seine Staatsangehörigkeit nur an Personen verleihen, die zu ihm in einer näheren tatsächlichen Beziehung stünden. Das Völkerrecht enthielte allerdings keine allgemeinen Grundsätze über den Wechsel der Staatsangehörigkeit im Zusammenhang mit einer Gebietsveränderung (Staatensukzession). Die Staatenpraxis sei sehr unterschiedlich. 154 Nach der Annexionsentscheidung des BVerfG 1 3 5 betreffend die "Sammeleinbürgerung" Volksdeutscher in der ehemaligen Tschechoslowakei habe sich insoweit eine allgemeine Völkerrechtsregel herausgebildet, als alle mit Annexionen verbundenen Zwangseinbürgerungen nur dann als unwirksam zu betrachten seien, soweit die betreffenden Personen von den Staaten, deren Gebiet annektiert 150

RGBl. I. S. 237. RGBl. I, S. 790. 152 Abgedr. in: Verosta, Die internationale Stellung Österreichs 1938 bis 1947, S. 52f. u. 55ff. 153 Verdross, Völkerrecht, S. 209; BVerfGE 1, 322, 338, 329. 154 Vgl. hierzu Verdross, S. 194; Menzel. Art. : Staatensukzession, in: Strupp/ Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts. S. 306ff. (309); BGHZ 3, S. 185f. 155 BVerfGE 1, S. 322(331). 151

2. Kap.: Staatsangehörigkeit und "Sammeleinbürgerungen"

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wurde, als ihre Staatsangehörigen in Anspruch genommen wurden. 156 Sei dies nicht der Fall, seien völkerrechtlich unwirksame Staatsangehörigkeitsverleihungen innerstaatlich als wirksam zu betrachten. Im Unterschied zu den Zwangseinbürgerungen in den annektierten westlichen Nachbarländern Deutschlands (Frankreich, Luxemburg, Belgien und Niederlande) seien die zwangseingebürgerten Personen in den östlichen und südöstlichen Nachbarländern Deutschlands von ihren Staaten weder vor, während noch nach dem Krieg als Angehörige in Anspruch genommen. 157 Auch das österreichische Staatsbürgerschaftsüberleitungsgesetz 158 vom 10. Juli 1945 gehe ersichtlich von der wirksamen Staatsangehörigkeitsverleihung durch die nationalsozialistische Gesetzgebung aus und nehme auch nach Kriegsende und Wiedererrichtung die zwangseingebürgerte österreichische Bevölkerung nicht "ab" dem Tag des Anschlusses für sich in Anspruch. In § 1 des Gesetzes heißt es ausdrücklich, daß sie erst "ab 27. April 1945" österreichische Staatsbürger seien. Das österreichische Staatsangehörigkeitsüberleitungsgesetz nähme danach erstens "erst" ab dem 27. April 1945 Personen als österreichische Staatsbürger in Anspruch, die bei ununterbrochener Fortgeltung des österreichischen Staatsangehörigkeitsrechts an diesem Tage österreichische Staatsangehörige gewesen wären. Zweitens sei bemerkenswert, daß diese Inanspruchnahme nicht ausnahmslos gilt. Nach Abs. 2 des § 1 seien sog. Illegale von dem Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft ausgenommen. Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit für Österreicher zum Zeitpunkt des "Anschlusses" sei damit wirksam. 159 Das BVerwG prüfte daraufhin, ob die Klägerin die deutsche Staatsangehörigkeit nach deutschem Staatsangehörigkeitsrecht wieder verloren hatte. Es stellte zunächst fest, daß die Besatzungsmächte keine Sonderregelung für die zwangseingebürgerte österreichische Bevölkerung getroffen hatte. Besatzungsrechtliche Normen hätten die Alliierten nur beschränkt hinsichtlich der Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen erlassen. 160 Die diesbezüglich erlas156 Schätzet, in: AÖR 74 (1948), S. 298ff ; Hansjörg Jellinek, Der automatische Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit durch völkerrechtliche Vorgänge, S. 168. 157 BVerwGE 1, S. 206ff. (209). 158 Österr. StGBl. Nr. 59. 159 BVerwGE 1, S. 206ff. (211). 160 Proklamation Nr. 2 v. 20.9.1945 (ABl. Kontrollrat Nr. 1, S. 8) ist in Abschnitt I I Nr. 3 darauf beschränkt, die Rückführung der deutschen Behörden aus allen Gebieten außerhalb der Grenzen Deutschlands nach dem Stand v. 31.12.1937 anzuordnen. Die deutschen Behörden waren weiterhin verpflichtet, diejenigen Zivilpersonen aufzunehmen, deren Evakuierung von den alliierten Vertretern angeordnet werden sollte. In Art. III Abs. 2 des Kontrollratsgesetzes Nr. 5 v. 30.10.1945 (ABl. Kontrollrat Nr. 2, S. 27), das die Übernahme des deutschen Auslandsvermögens betrifft, haben die Besatzungsmächte nur bestimmt, welche Personen "im Sinne diese Artikels" als Personen deutscher

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senen Rechtsnormen hätten sich ausdrücklich nicht auf die Regelung der österreichischen Staatsangehörigkeitsverhältnisse bezogen. Im Gegenteil ließen die Einzelregelungen der Alliierten erkennen, daß die Frage der deutschen Staatsangehörigkeit der österreichischen Bevölkerung späterer Regelung vorbehalten werden sollte. Da die Besatzungsmächte im übrigen das deutsche Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz 161 vom 22. Juli 1913 nicht aufgehoben hätten, bliebe Rechtsgrundlage für einen möglichen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nur das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 selbst. 162 Nach § 25 Abs. 1 RuStAG träte ein automatischer Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit mit Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit aber nur dann ein, wenn der Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit vom Ausland her aufgrund eines Antrages erfolgte. Die österreichische Staatsangehörigkeit sei zwar hier als ausländische Staatsangehörigkeit wirksam durch Gesetz vom 10. Juli 1945 rückwirkend auf den 27. April 1945 envorben worden. 163 Allerdings erfolgte dieser Erwerb nicht auf Antrag und für die in Deutschland wohnhafte österreichische Bevölkerung nicht vom Ausland her. § 25 Abs. 1 RuStAG schied damit als automatischer Verlustgrund der deutschen Staatsangehörigkeit aus. Als Verlustgrund für die deutsche Staatsangehörigkeit kam das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz auch nach Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland nicht in Betracht. Zwar galt das Gesetz gem. Art. 123 GG fort und zwar als Bundesrecht gem. Art. 124, 73 Nr.2 GG. 1 6 4 Allerdings wurden bis zum Zeitpunkt des dem BVerwG zugrunde liegenden Sachverhalts keine weiteren Verlustgründe eingeführt. Als allgemeiner Verlustgrund kam somit nur noch Art. 25 GG in Betracht. Art. 25 GG transformiert allgemeine Regeln des Völkerrechts in innerstaatliches Recht mit bindender Wirkung. 1 6 5 Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß "allgemeine Regelungen" existieren und einheitlich in der Staatenpraxis angewandt werden. Staatsangehörigkeit angesehen werden sollen. Die Alliierte Hohe Kommission hat sodann mit Gesetz Nr. 12 v. 17.11.1949 (ABl. AHK, S. 36) festgestellt daß gewisse Rechtsnormen des nationalsozialistischen Staates von Anfang an nichtig gewesen seien, soweit sie die zwangsweise Übertragung der deutschen Staatsangehörigkeit auf französische und luxemburgische Staatsangehörige zum Gegenstand hatten. Das Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit für die im Jahre 1945 in Deutschland gebliebenen gebürtigen Österreicher ist aber weder durch Rechtsnormen noch durch sonstige Maßnahmen der Besatzungsmächte verfügt worden. RGBl. I, S. 583. 162 Die Besatzungsmächte haben das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahre 1913 nicht aufgehoben. Sie haben die Art. 123 bis 125 GG, durch welche die Fortgeltung bestimmt war, nicht beanstandet. Vgl. dazu oben § 1. 163 Österr. StGBl. Nr. 59. 164 Vgl. dazu oben § 1. 165 Vgl. dazu oben § 2.

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Hinsichtlich des Staatsangehörigkeitsverlustes in Zusammenhang mit Gebietsänderungen stellte das BVerwG das Bestehen einer allgemeinen Regel jedoch in Frage. Es stellte fest, daß namhafte Völkerrechtslehrer der damaligen Zeit die Auffassung vertraten, daß im Falle der Losreißung (Emanzipation) eines Teiles von einem Staat mit der Errichtung oder Wiedererrichtung eines neuen Staates ein automatischer Wechsel der Staatsangehörigkeit eintritt. 1 6 6 Mit dem Erwerb der neuen sollte nach Auffassung dieser Völkerrechtslehre zugleich der Verlust der alten Staatsangehörigkeit verbunden sein. Diese, insbesondere von Hansjörg Jellinek vertretene Auffassung war allerdings nicht unumstritten. 167 Selbst Jellinek räumte ein, daß der automatische Verlust der alten Staatsangehörigkeit ohne weiteres nur für diejenigen Personen eintritt, die sich im Machtbereich des neuen Staates befinden, also die Wohnbevölkerung im Zeitpunkt der Errichtung bzw. Wiederherstellung des neuen Staates.168 Wenn also überhaupt von einem Grundsatz des Völkerrechts hinsichtlich des Staatsangehörigkeitsverlustes bei Staatensukzession gesprochen werden konnte, bezog er sich nur auf die Wohnbevölkerung Österreichs, nicht dagegen auf die Auslandsösterreicher, insbesondere nicht auf die ca. 70.000 Österreicher, die sich zum damaligen Zeitpunkt in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten. 169 Darüber hinaus verwies das BVerwG in seiner Entscheidung darauf, daß eine einheitliche Praxis der Staaten in den Fällen der Staatensukzession nicht bestand. 170 Als Beispiel hierfür führte es die staatsangehörigkeitlichen Sukzessionsregelungen im Versailler Friedensvertrag von 1919 an. 1 7 1 Nach Art. 278 sei Deutschland verpflichtet gewesen, die neuen Staatsangehörigkeiten, die infolge der Versailler Friedensvertragsregelungen von seinen Angehörigen erworben waren oder wurden, anzuerkennen und diese von ihren Pflichten gegenüber dem Heimatstaat zu entbinden. Nach Art. 91 des Versailler Vertrages erwarben unter anderem die Deutschen in den an Polen abgetretenen Gebieten die polnische Staatsangehörigkeit unter automatischem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. Allerdings wurde den Betreffen166 Beispielsweise Hansjörg Jellinek, Der automatische Enverb und Verlust der Staatsangehörigkeit durch völkerrechtliche Vorgänge, zugleich ein Beitrag zur Lehre der Staatensukzession, S. 190ff, 209ff. 167 Verdross, Völkerrecht, S. 256f.; Isay, Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, S. 6.; zur Problematik auch BVerfGE 1, 322ff. (328f.) 168 Der automatische Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit durch völkerrechtliche Vorgänge, zugleich ein Beitrag zur Lehre der Staatensukzession, S. 190, mit Anfuhrung zahlreicher, zum Teil auch abweichender Äußerungen. 169 Schätzet, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 328. 170 BVerwGE 1, S. 206ff.(207). 171 Versailler Vertrag v. 28.6.1919; Reichsgesetz v. 16.7.1919 (RGBl. II, S. 678ff; abgedr. in Auszügen bei Lichter, Die Staatsangehörigkeit, S. 359ff. Der Vertrag ist am 10.1.1920 in Kraft getreten.

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

den ein Recht eingeräumt, fur die deutsche Staatsangehörigkeit zu optieren. 172 Dagegen hätte der Versailler Vertrag in Art. 53 und 54 eine andere staatsangehörigkeitsrechtliche Regelung für die Bewohner von Elsaß-Lothringen getroffen: Nur diejenigen Bewohner von Elsaß-Lothringen sowie ihre Nachkommen sollten die französische Staatsangehörigkeit erlangen, die ohne Abtretung vom Jahre 1871 an das Deutsche Reich Franzosen geblieben wären. Dieser Bevölkerungsgruppe wurde kein Optionsrecht zugunsten der deutschen Staatsangehörigkeit eingeräumt. Den nach 1871 aus Deutschland Eingewanderten wurde die französische Staatsangehörigkeit gänzlich verweigert. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sei nach Ansicht des BVerwG keine einheitliche Praxis festzustellen gewesen. Zum Beispiel habe die ehemalige Tschechoslowakische Republik den Sudetendeutschen die tschechische Staatsangehörigkeit gänzlich nicht gewährt. § 1 Abs. 1 des tschechoslowakischen Dekretes 173 vom 2. August 1945 bestimmte: "Tschechoslowakische Staatsangehörige deutschen (und ungarischen Volkstums), die entsprechend den Vorschriften einer fremden Besatzungsmacht die deutsche (oder ungarische) Staatsangehörigkeit erworben haben, haben mit dem Tage einer derartigen Erwerbung die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit eingebüßt."

Damit wurde allen tschechoslowakischen Staatsangehörigen deutschen Volkstums, die nach dem 29. September 1938 die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch erworben haben - sei es aufgrund des Vertrages vom 20. November 1938 in bezug auf die Sudetendeutschen, sei es aufgrund der Verordnung vom 20. April 1939 in bezug auf die Volksdeutschen des sog. Protektorats -, die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit entzogen. 174 Anders dagegen ist die Praxis der Republik Österreich zu bewerten. Sie hat grundsätzlich mit dem Staatsbürgerschaftsüberleitungsgesetz vom 10. Juli 1945 ihre Staatsangehörigkeit ihren früheren Staatsbürgern gewährt, wenngleich auch nicht ausnahmslos.175 Das BVerwG kam im Ergebnis dazu, daß ein automatischer Verlust der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 25 GG in Verbindung mit der allgemeinen Regel des Völkerrechts im Falle von Gebietsveränderungen nicht eingetreten ist. Stattdessen blieb es aber allgemeine Regel des Völkerrechts, daß jeder

172 Deutsch-polnische Verträge über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen v. 15.5.1922 (RGBl. I I ; S. 237) und v. 30.8.1924 (RGBl. II, S. 33). 173 Abgedr. in: Jahrbuch für Internationales und Ausländisches Öffentliches Recht Band 1, S. 212ff. 174 Dazu Schätzet, AöR 1948 (Bd. 74), S. 273ff. (298ff.) 175 Ebenda, S. 299.

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Staat grundsätzlich allein berufen ist, zu bestimmen, wie seine Staatsangehörigkeit erworben und verloren wird. 1 7 6 Aus den genannten Gründen stellte das BVerwG den deutschen Staatsangehörigkeitsverlust auch der Wohnbevölkerung Österreichs selbst in Frage "Es kann nicht bezweifelt werden, daß die Wohnbevölkerung des Staatsgebietes der Republik Österreich die österreichische Staatsangehörigkeit erworben hat, entweder bereits mit der Errichtung dieses Staates oder aufgrund des Staatsbürgerschaftsüberleitungsgesetzes vom Jahre 1945. Ob diese Wohnbevölkerung mit der Wiedererrichtung der Republik Österreich und dem Erwerb der Österreichischen Staatsbürgerschaft aber zugleich auch die deutsche Staatsangehörigkeit verloren hat, hatte der Senat nicht zu entscheiden".

Hinsichtlich der im Zeitpunkt der Errichtung der Republik Österreich im Gebiet der jetzigen Bundesrepublik Deutschland lebenden und hier gebliebenen gebürtigen Österreicher verneinte das BVerwG ein Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit: 178 "Eine Bestandteil des Bundesrechts gewordene allgemein anerkannte Regel des Völkerrechts über den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit der Klägerin gibt es nicht. Wollte man eine völkerrechtliche Pflicht der Bundesrepublik Deutschland annehmen, die gebürtigen Östereicher, die in der Bundesrepublik Deutschland geblieben sind, aus ihrer deutschen Staatsangehörigkeit zu entlassen, so bedürfte es (wie dargelegt) eines Gesetzes."

§ 7 Die Kontroverse über das Entzugsverbot in den Beratungen des Zweiten Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit Das Problem, ob einschlägiges Völkerrecht hinsichtlich der mit Staatensukzessionen verbundenen Staatsangehörigkeitsfragen existierte oder nicht, bot zweifellos die größten Schwierigkeiten. Denn das Völkerrecht war auch damals nicht kodifiziert, und als Rechtsquelle mußten - neben der meistens schwer feststellbaren Übung der Völker - die dem Völkerrecht immanenten Grundprinzipien berücksichtigt werden. Aus dieser Erwägung heraus hatte der Entwurf des Gesetzes zur Bereinigung deutsch-österreichischer Staatsangehörigkeitsfragen 179 sich die Aufgabe gesetzt, eine Lösung zu finden, die beide Meinungen möglichst weitgehend berücksichtigt. Er versuchte, dieses Ziel zu erreichen, indem er zwar das "Erlöschen" der auf der Eingliederung Österreichs beruhenden Staatsange176 177 178 179

BVenvGE 1. S. 206ff.(208); insbes. unter Berufung auf Verdross, BVenvGE 1. S. 206ff.(212) Ebenda, S. 212. Vom 3.2.1955 (BT-Drs. 2 /1184).

S. 256.

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hörigkeit mit Ablauf des 26. April 1945 feststellte, gleichzeitig aber dem Personenkreis, für den das BVerwG den Fortbestand der deutschen Staatsangehörigkeit anerkannte, die Möglichkeit eröffnete, sie durch einseitige Erklärung mit Wirkung auf den Zeitpunkt ihres "Erlöschens" wiederzuerwerben. 180 Das verfassungsrechtliche Problem der Vereinbarkeit des Entwurfs mit Art. 16 Abs. 1 GG tauchte allerdings nur für diejenigen auf, die vom Fortbestand der durch die Eingliederung Österreichs erworbenen deutschen Staatsangehörigkeit ausgingen. Nach der anderen Meinung bestand diese Staatsangehörigkeit schon seit April 1945 nicht mehr. Sie konnte durch das Gesetz in ihrem Bestände also nicht betroffen werden. Da es sich aber bei der ersterwähnten Auffassung nicht nur um einen vereinzelt vertretenen Standpunkt handelte, sondern um die Meinung mehrerer Zivil- wie Verwaltungsgerichte 181 einschließlich des BVerwGs, hatten der federführende Ausschuß und der Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht sich in zwei Berichten eingehend mit der Frage befaßt und geprüft, ob die vorgeschlagene Regelung auch vom Standpunkt des BVerwGs aus mit Art. 16 Abs. 1 GG vereinbar ist. 1 8 2 Dabei kam die Ausschußmehrheit zu folgendem Ergebnis: 183 "Abs. 1, Satz 1 des Art. 16 ist als Reaktion auf die Verhältnisse des nationalsozialistischen Staates entstanden. Er wollte Gesetze, wie sie seinerzeit zur Ausbürgerung der rassisch und politisch Verfolgten ergangen sind, von Verfassung wegen untersagen. Doch erklärt sich diese Vorschrift nicht allein aus der Reaktion auf jene nationalsozialistischen Maßnahmen: Sie entspricht vielmehr der allgemeinen Einstellung des Grundgesetzes zur menschlichen Würde und zu den Menschenrechten und richtet sich daher gegen Diskriminierung einzelner Personen wie ganzer Personengruppen. Niemand wird behaupten wollen, der vorliegende Gesetzentwurf ziele auf eine Diskriminierung der von ihm betroffenen Personen. Satz 1 kann daher nicht anwendbar sein. Satz 2 andererseits betrifft nur die Fälle, in denen bei Verwirklichung abstrakt bestimmter Tatbestände in der Zukunft automatisch Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit eintritt. Da der vorliegende Entwurf die Beendigung der deutschen Staatsangehörigkeit nicht an die Verwirklichung abstrakt bestimmter Tatbestände in der Zukunft knüpft, sondern sie (die Auffassung des BVerwGs unterstellt) unmittelbar verfügt, kann auch Satz 2 nicht einschlägig sein."

Nach Auffassung der Mehrheit in den Ausschußberatungen war Art. 16 Abs. 1 GG insgesamt überhaupt nicht anwendbar. Die Ausschußmehrheit

180 181 182 183

Vgl. hierzu die Regierungsbegründung BT-Drs. 2 /1184, S. 4ff. Vgl. dazu oben § 5. BT-Drs. 2 /1391 und BT-Drs. 2 / 2195. Insbes. in BT-Drs.2 /1391, S. 2.

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hielt dafür, daß diese Vorschrift völkerrechtliche Tatbestände, wie sie den Gegenstand des vorliegenden Entwurfes bilden, nicht regeln wollte. 1 8 4 "Wenn darüber in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates nicht gesprochen worden ist, so darf daraus entnommen werden, daß auch nach Auffassung des Parlamentarischen Rates völkerrechtliche Tatbestände nicht über Art. 16 Abs. 1 GG zu lösen sind."

Würde Art. 16 Abs. 1 GG auch für völkerrechtliche Tatbestände verbindlich sein, so wäre jeder Weg versperrt, die deutsche Staatsangehörigkeit für die in Österreich lebenden Österreicher zu regeln. Eine solche Regelung ist aber unumgänglich, wenn man sich auf den Standpunkt des BVerwGs stellt, daß die auf der Eingliederung Österreichs beruhende deutsche Staatsangehörigkeit nicht schon durch die "Desannexion" untergegangen sei. Ein Ausweg ergebe sich nur, wenn eine allgemeine Regel des Völkerrechts die in Österreich lebenden "Anschluß"-Deutschen anders behandelt hätte als die "Anschluß"-Deutschen außerhalb Österreichs. Eine solche allgemeine Regel des Völkerrechts konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Nach Überzeugung der Mehrheit handelte es sich bei der Regelung völkerrechtlicher Tatbestände im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts nur um ein "Aliud", das nicht unter Art. 16 Abs. 1 GG fiel. 1 8 5 Die Mehrheit stützte ihre Auffassung zusätzlich auf Art. 25 GG. Die "allgemeinen Regeln des Völkerrechts" gingen den Gesetzen, einschließlich "auch den Vorschriften des Grundgesetzes" vor und erzeugten Rechte und Pflichten unmittelbar gegenüber dem einzelnen. 186 Nach Ansicht der Ausschußmehrheit sei im Völkerrecht anerkannt, daß in Fällen eines Gebietshoheitswechsels die Staatsangehörigkeit der davon betroffenen Bevölkerung durch Staatsverträge der beteiligten Regierung geregelt werden könne. Diese Regel ginge auch Art. 16 Abs. 1 GG vor, wenn diese Vorschrift an sich anwendbar wäre. Die Beachtung dieses Vorranges allgemeiner Regeln des Völkerrechtes müsse auch für eine innerstaatliche Gesetzgebung gelten, wenn dieser Weg im Einvernehmen der beteiligen Staaten beschritten werde. 187 Im Gegensatz hierzu hielt die Minderheit im Ausschuß den Art. 16 Abs. 1 GG für einschlägig. 188 Sie verwies auf die Entstehungsgeschichte der Grundgesetzbestimmung, entsprechend derer Art. 16 Abs. 1 GG weit auszulegen sei. 189 Durch die Streichung des Wortes "willkürlich" in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 184 185 186 187 188 189

Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. S. 3. BT-Drs. 2/2135, S. 2f. Vgl. dazu unten § 20.

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des Entwurfs zum Grundgesetz habe besonders betont werden sollen, daß keine Ausnahme von diesem Verbot zulässig sei. 190 Daher müsse man - selbst wenn der Grundgesetzgeber an völkerrechtliche Tatbestände wie die Wiederherstellung Österreichs nicht gedacht haben sollte - von dem Wortlaut des Art. 16 GG ausgehen. Nach dem Wortlaut sei jede Form der Entziehung der Staatsangehörigkeit gegen den Willen des Betroffenen ausgeschlossen. Das binde auch den Gesetzgeber. Weder dürfe in Zukunft die Verwaltung einen Deutschen ausbürgern, noch dürfe der Gesetzgeber das tun oder die Verwaltung dazu ermächtigen. Die Bundesregierung sei daher auch gehindert, bei Regelung der Folgen eines Gebietshoheitswechsels Verträge, die eine Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit zum Gegenstand hätten, abzuschließen, soweit der Wille der Betroffenen dem entgegenstehe.191 Bei den früheren "Anschluß"-Deutschen, die in Österreich verblieben sind, könne man im Verbleib das konkludent geäußerte Einverständnis mit dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit sehen. Bezüglich der Personen, die ihren dauernden Aufenthalt in Deutschland behalten haben, müsse dagegen im Regelfall davon ausgegangen werden, daß sie deutsche Staatsangehörige bleiben wollten. 1 9 2 Diese Vermutung gelte allerdings als widerlegt, wenn der einzelne einen gegenteiligen Willen kundgetan habe. Die Minderheit hielt aus diesen Gründen die im Entwurf vorgeschlagenen Regelungen insgesamt für nicht vereinbar mit Artikel 16 Abs. 1 Satz 1 GG. 1 9 3 Der Ausschuß für Angelegenheiten der inneren Verwaltung hat entsprechend der Ansicht seiner Mehrheit beschlossen, dem Plenum des Bundestages zu empfehlen, den Entwurf anzunehmen. Um der Überzeugung seiner Mehrheit, wonach der im Zeitpunkt der Wiederherstellung Österreichs eingetretene Untergang der deutschen Staatsangehörigkeit Art. 16. Abs. 1 GG nicht berührte, zum Ausdruck zu bringen, hat der Ausschuß Änderungen des Entwurfs angeregt. Satz 1 der Präambel sollte wie folgt gefaßt werden: "Es wird festgestellt, daß ..."

Damit sollte der Beweggrund für die gesetzliche Regelung kundgetan werden, insbesondere unterstrichen werden, daß das Gesetz insgesamt nur deklaratorischen Charakter habe. 194 Zu § 1 empfahl der ebenfalls mit der Beratung dieses Entwurfes befaßte Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten aus demselben Grunde, das Wort "verloren" durch das Wort "erloschen" zu ersetzen und die Fassung des Satzes 2 des § 1 dieser Änderung anzupassen. Auch hierdurch sollte deutlich ge190 191 192 193 194

BT-Drs. 2/2135. S. 2. Ebenda. Ebenda. S. 3. Ebenda, S. 3. Ebenda. S. 4.

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macht werden, daß die Aufhebung der deutschen Staatsangehörigkeit automatische Folge der Änderung des völkerrechtlichen Status Österreichs gewesen war und keineswegs konstitutiv durch das Gesetz zur Bereinigung deutsch-österreichischer Staatsangehörigkeitsfragen eingetreten sein sollte. 195 Auf Vorschlag des Bundesrates wurde die Überschrift des Entwurfes geändert. Als "Zweites Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit" 1 9 6 ist es vom Bundestagsplenum - erweitert um die Änderungsvorschläge - verabschiedet worden und am 25. Mai 1956 in Kraft getreten. 197

§ 8 Die Auslieferungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 1955 Während der parlamentarischen Beratung hatte sich das BVerfG im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde mit der Frage befassen müssen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Wiederherstellung Österreichs den Untergang der auf der Eingliederung beruhenden deutschen Staatsangehörigkeit zur Folge gehabt hat. 1 9 8 Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde. Der Beschwerdeführer wurde am 12. Februar 1927 als Kind österreichischer Eltern geboren und erhielt damit nach österreichischem Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahre 1920 die österreichische Staatsangehörigkeit. 199 Nach Kriegsende wechselte er seinen Aufenthalt wiederholt zwischen Österreich und Deutschland. In beiden Ländern wurde er mehrfach bestraft, seit Oktober 1952 hielt sich der Beschwerdeführer dauerhaft in Deutschland auf. Wegen bezichtigter Straftaten ersuchte das Bundesministerium für Justiz der Republik Österreich um Auslieferung des Beschwerdeführers. Mit Beschluß vom 18. Juni 1954 hatte das OLG Celle die Auslieferungshaft angeordnet. 200 Gegen diese Anordnung machte der Beschwerdeführer geltend, er besäße nach wie vor die deutsche Staatsangehörigkeit, die er 1938 durch den "Anschluß" Österreichs an das Deutsche Reich erworben habe. Die Anordnung der Auslieferung verletze ihn daher in Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG (a.F ), wonach kein Deutscher an das Ausland ausgeliefert werden dürfe. Das BVerfG war aufgrund des Sachverhalts gehalten, sich in dieser Sache mit der Frage der Fortgeltung der deutschen Staatsangehörigkeit für Öster195

Ebenda. Vom 17.5.1956 (BGBl. I 431). 197 § 12 des Gesetzes. 198 Entscheidung v. 9.11.1955 (BVerfGE 4, 322ff.). 199 Zur Geschichte der Staatsangehörigkeit Österreichs: Schätzet, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 317ff. 200 BVerfGE 4, 322ff.(322). 196

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reicher, die im Bundesgebiet lebten, auseinanderzusetzen. Das BVerfG würdigte im Unterschied zum BVerwG den Fall der deutschösterreichischen Staatensukzession nicht als "Emanzipation11, sondern als "Desannexion". 201 "Desannexion" beträfe die Wiederherstellung eines Staates, "der wenige Jahre zuvor seine Selbständigkeit verlor und einem Nachbarstaat einverleibt wurde." 2 0 2 Für "Desannexion" sei nach Ansicht des BVerfGs nicht ausgeschlossen, daß sich der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit der Österreicher "aus einem anderen rechtlichen Prinzip" ergibt. Die Würdigung der politisch-historischen Zusammenhänge und die Interpretation des Verhaltens der Beteiligten bei der Wiederherstellung der Bundesrepublik Österreich bedingten, daß alle ehemaligen Österreicher die beim Anschluß erworbene deutsche Staatsangehörigkeit durch die Wiedererrichtung der Bundesrepublik Österreich "ipso facto" wieder verloren hätten. 203 Das BVerfG stellte entscheidend auf den Willen ab, die von der nationalsozialistischen Regierung beseitigte politische Selbständigkeit des Landes wiederherzustellen. Dieser Wille sei in Österreich "niemals" erloschen. 204 Er wurde nach Ansicht des BVerfGs während des Krieges durch die wiederholten Erklärungen der Alliierten, wonach die Wiederherstellung Österreichs zu ihren Kriegszielen gehöre, neu belebt. Bereits unmittelbar nach der Besetzung Wiens durch die Allierten hätten neugebildete antifaschistische Parteien, ohne entsprechende Maßnahmen der Besatzungsmächte abzuwarten, die Wiedererrichtung eines selbständigen österreichischen Staates verkündet und eine provisorische österreichische Regierung eingesetzt. Diese Proklamation vom 27. April 1945 lasse klar erkennen, daß die Republik Österreich wiederhergestellt, der "Anschluß" also rückgängig gemacht werden sollte. So sei dieser Vorgang auch "überall in der Welt" gesehen worden. Er sei als "eine so selbstv erständliche Folge" des Kriegsendes betrachtet worden, daß weder die Besatzungsmächte noch die in Deutschland neu entstandenen Gebilde sich veranlaßt sahen, die "Lostrennung" Österreichs vom deutschen Reiche amtlich zu verlautbaren oder gar durch förmliche Aufhebung der über den "Anschluß" ergangenen Reichsgesetze konstitutiv zu bekräftigen. Man hätte in Deutschland diese Gesetze mit Recht als durch die politische Entwicklung überholt und als gegenstandslos angesehen.205 Die "Desannexion" sei ein Akt der Wiederherstellung des Status quo ante. Aus ihm ergebe sich folgerecht, daß die zu diesem Staatsvolk gehörenden Personen vom Tage der Neubildung des österreichischen Staates an nicht 201 Zu den Begriffen und den Theorien der Verselbständigung Österreichs vgl. Schätzet, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 324ff.; Körber, Die Rechtsstellung der Deutschen aus Österreich in der Bundesrepublik Deutschland, 1955. 202 BVerfGE 4, S. 322ff.(327). 203 Ebenda, S. 329. 204 Ebenda, S. 327. 205 Ebenda, S. 328.

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mehr von Deutschland als Staatsangehörige in Anspruch genommen werden dürften. Um dies zu erreichen, müssen sie von diesem Tage an die deutsche Staatsangehörigkeit verloren haben. 206 Von besonderer Berücksichtigung sei auch, daß das österreichische Staatsvolk niemals im Staatsvolk des deutschen Reiches "vollständig" aufgegangen sei. Dies sei angesichts der Kürze der seit dem Anschluß verstrichenen Zeit nicht feststellbar. Die Feststellung des in das österreichische Staatsbürgerverhältnis zurückzuführenden Personenkreises sei also verhältnismäßig einfach. 207 Von der Wiedererrichtung des selbständigen österreichischen Staates an ist diesem Staate das ihm vor dem Anschluß zugehörige Staatsvolk ausschließlich zugeordnet. Seine Angehörigen verloren demgemäß - gleichgültig, wo sie sich am Tage der Unabhängigkeitserklärung aufhielten - die auf dem "Anschluß" Österreichs beruhende Staatsangehörigkeit genauso, wie sie sie am 13. März 1938 "ipso facto" erworben hatten. Auf einen etwa entgegenstehenden individuellen Willen einzelner Betroffener komme es indes nicht an. Denn es bestehe kein allgemeiner Völkerrechtssatz, wonach bei Neuentstehung von Staaten im Wege der "Lostrennung" der betroffenen Bevölkerung die Möglichkeit gegeben werden müßte, zwischen der Staatsangehörigkeit des neuen und der des bisherigen Staates zu wählen (Option). Noch weniger ließe sich aus der im vorstehenden gekennzeichneten Natur der "Desannexion" Österreichs ableiten, die Folge des Verlustes der deutschen Staatsangehörigkeit trete für die Personen nicht ein, die die deutsche Staatsangehörigkeit zu behalten wünschten. 208 Rechtspolitisch wurde die Entscheidung des BVerfGs in weitgehendem Maße begrüßt. Denn sie stellte fest, daß das österreichische Staatsvolk in seiner Gesamtheit bereits seit der Selbständigkeit Österreichs im April 1945 wieder diesem Staat "ausschließlich" zugeordnet war. Damit führte die Entscheidung zu einem Ergebnis, das im großen und ganzen geeignet erschien, die 1938 mit dem "Anschluß" geschaffene Rechtslage endgültig zu bereinigen und das Rechtsgewissen zu befriedigen. 209 Im übrigen aber blieb die Entscheidung aus rechtsdogmatischer Sicht umstritten. Hinsichtlich der deutsch-österreichischen Staatsangehörigen, die nach 1945 in Deutschland geblieben sind, wurde die Entscheidung als "Aberkennung" der deutschen Staatsangehörigkeit gedeutet, die jeder rechtlichen 206

Ebenda. S. 329. Ebenda. 208 Ebenda, S. 330. 209 So: Mann, Anmerkungen zu BVerfGE v. 9.11.1955, JZ 1956, S. 117ff.; kritisch aber: Schätzet, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 331: "Der Beschluß des BVerfG v. 9. Nov. 1955, welcher den Standpunkt der Bundesregierung bestätigte, hatte keine Aussicht, die besser begründete Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch nur zu beeinflussen". 207

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

Grundlage entbehrte. Das BVerfG hatte nach Ansicht seiner Kritiker weder eine innerstaatliche Vorschrift noch völkerrechtliche Prinzipien genannt, die eine derartige "Aberkennung" rechtfertigten. Der Unterschied zwischen "Emanzipation" und "Desannexion", den das BVerfG sich zu eigen machte, sei lediglich terminologischer Natur: In beiden Fällen läge ein Souveränitätswechsel vor und die völkerrechtlichen Regeln seien in beiden Fällen die gleichen. Nach diesen wechselt die Staatsangehörigkeit der Einwohner und nur der Einwohner des vom Souveränitätswechsel betroffenen Gebiets. 210 Die Entscheidung des BVerfGs betraf ein Auslieferungsersuchen der Republik Österreich und damit den Schutzbereich des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG (a.F.) 211 . Nach dieser Verfassungsbestimmung darf kein Deutscher an das Ausland ausgeliefert werden. Die Frage, ob der Beschwerdeführer als "Deutscher" diesen besonderen Auslieferungsschutz genießt, bezog sich damit nur mittelbar auf das staatsangehörigkeitsrechtliche Problem der Fortgeltung der deutschen Staatsangehörigkeit für gebürtige Österreicher. Wenngleich aus diesem Grunde Zweifel an der bindenden Wirkung über den Einzelfall hinaus i.S.d. § 31 Abs. 1 BVerfGG geäußert wurden 212 , hielten es die mit dem Entwurf befaßten Ausschüsse für zweckmäßig, von der Entscheidung des BVerfGs auszugehen. Denn zumindest in der Wirkung eines obiter dictum teilte das BVerfG offensichtlich die Rechtsüberzeügung der Ausschuß- und Parlamentsmehrheit. 213 Der Entwurf zum Zweiten Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit wurde damit ersichtlich von der Ausschlag gebenden Kontrollinstanz für verfassungsgemäß gehalten. Zu der noch von den Parlamentsauschüssen ins Auge gefaßten verfassungsgerichtlichen Prüfung des Gesetzes ist es dann auch nicht mehr gekommen. 214 Das in § 3 Abs. 1 des 2. StARegG. für den betroffenen Personenkreis eingeräumte Optionsrecht, die deutsche Staatsangehörigkeit durch Erklärung mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt des "Erlöschens" wiederzuerwerben. wird vermutlich darüber hinaus davon abgehalten haben, eine entsprechende Verfassungsklage vor dem BVerfG zu führen. Denn über diese Regelung waren die Interessen des betroffenen Personenkreises an der Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit ausreichend geschützt. Die außenpolitische Dimension der Regelung der deutsch-österreichischen Staatsangehörigkeitsfragen wird wohl auch die parlamentarische Minderheit 210

Dazu: Mann, JZ 1956, S. 119. Heute wortgleich in Art. 16 Abs. 2 GG; nur der Satz 2 des alten Art. 16 Abs. 2 GG ist im Zuge der Asylrechtsnovelle gestrichen und neu in Art. 16a GG inhaltlich neu gefaßt worden. 212 Vgl. dazu schon BVerwGE 1, S. 206ff. (211) im Hinblick auf BVerfGE 1, 322ff. (331); konkret auf BVerfGE 4. S. 322ff. verweist etwa: Schätze/, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 321 m.w.N. 213 Es verwies in der Entscheidung schon ausdrücklich auf den "Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung deutsch-österreichischer Staatsangehörigkeitsfragen", S. 330. 214 BT-Drs. 2/2195. S4. 2,1

. Kap.: Deutsche Staatsangehörigkeit in e r e h l i g e n

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davon abgehalten haben, die verfassungsrechtliche Problematik im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens vor dem BVerfG auszutragen. 215

3. Kapitel

Die deutsche Staatsangehörigkeit in der ehemaligen DDR § 9 Die Fortgeltung der deutschen Staatsangehörigkeit In der ehemaligen DDR galt ebenfalls das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz des Jahres 1913 bis zum Inkrafttreten des "Gesetzes über die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik" 216 am 23. Februar 1967. Bis zu diesem Datum hielt die ehemalige DDR von Beginn ihrer Staatsgründung am 7. Oktober 1949 an einer einheitlichen "deutschen Staatsangehörigkeit" offiziell fest 2 1 7 Art. 1 der DDR-Verfassung des Jahres 1949 bestimmte, daß 2 1 8 "Deutschland eine unteilbare demokratische Republik i s t . . . . Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit".

Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz galt jedoch nicht unverändert. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt war in der ehemaligen DDR seit ihrer Gründung über Mutter oder Vater gleichermaßen möglich, unabhängig davon, ob das Kind ehelich oder unehelicher Abstammung war. 2 1 9 Die Eheschließung mit einem Ausländer hatte im Unterschied zur Rechtslage der Bundesrepublik keinerlei Auswirkungen auf die deutsche Staatsangehörigkeit. 220 Hinsichtlich der Verlust- und Entzugsgründe waren ebenfalls Abweichungen von der in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Fassung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes vorgenommen worden. Seit dem 7. Oktober 1949 waren in der ehemaligen DDR die Verlustgründe des § 17 Nr. 5 RuStAG a.F. (Legitimation durch einen Ausländer) und § 17 Nr. 6 RuStAG a.F. (Eheschließung einer Deutschen mit einem Ausländer) sowie

Mann, JZ 1956, S. 119. GBl. DDR I. S. 3ff; Text in: Ingo v. Münch (Hrsg.), Dokumente des geteilten Deutschland, S. 369ff ; Makarov / v. Mangoldt, Bd. 1, Einl., Rdnr. 13ff 217 Stern, DVB1. 1982, S. 165ff.,(166f.). 218 Vgl. dazu: Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR, S. 528ff 219 Bergmann / Korth / Ziemske. Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Rdnr. 65ff, 162. 220 Ebenda. 216

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Teil 1: Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

§ 25 Abs. 1 RuStAG (freiwilliger Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit) entfallen. 221 Erst Ende der 50er Jahre häufte sich der Begriff "Bürger der DDR" in der Gesetzessprache, ohne daß hiermit konkrete Staatsangehörigkeitsveränderungen vorgenommen wurden. 222 Er wurde erstmals im Jahre 1957 im Konsulargesetz verwandt. Nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 war er geläufig. 223 Über den schrittweisen Wechsel zum Begriff "Bürger der DDR" wurde beabsichtigt, das Bestehen zweier selbständiger deutscher Staaten zu dokumentieren. Er sollte begrifflich zwei eigenständige deutsche "Staatsbürgerschaften" ausdrücken 224 . Das Staatsbürgerschaftsgesetz der ehemaligen DDR aus dem Jahre 1967 vollzog dann den förmlichen Wandel zur eigenen Staatsangehörigkeit. 225 Die Präambel des Gesetzes drückte die Zielsetzung und Erwartungen, die mit der Kreation der "Staatsbürgerschaft der DDR" verbunden war, besonders deutlich aus: 226 "Mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik entstand in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Sie ist Ausdruck der Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik und trägt zur weiteren allseitigen Stärkung des sozialistischen Staates bei. Die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik ist die Zugehörigkeit ihrer Bürger zum ersten friedliebenden, demokratischen und sozialistischen deutschen Staat, in dem die Arbeiterklasse die politische Macht mit der Klasse der Genossenschaftsbauern, der sozialistischen Intelligenz und den anderen werktätigen Schichten ausübt."

Die verfassungsrechtliche Grundlage dieses Gesetzes wurde allerdings erst rückwirkend durch die Änderung 227 vom 6. April 1968 geschaffen. Nach Art. 19 Abs. 4 der revidierten Verfassung 228 sollten die Bedingungen für den Erwerb, Verlust und Entzug der "Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik" durch Gesetz bestimmt werden. Zu dem Gesetz des 221

Ebenda. Makarov / v. Mangoldt, Bd. 1, Einl., Rdnr. 12. 223 Insbes. §§ 21 II, 22 I, 27f. des Konsulargesetzes v. 22.5. 1957 (GBl. DDR I, S. 313); dazu: Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, Einführung, S. 4. 224 So Graefrath, in: Lehrbuch des Völkerrechts, S. 314ff.; zum beabsichtigten Bedeutungsgehalt des Begriffs "Staatsbürgerschaft" vgl. Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hrsg.), Wörterbuch zum sozialistischen Staat, S. 331 f.; Zieger, Das Staatsbürgersöhaftsgesetz der DDR, S. 24f. 225 Vgl. dazu den anschaulichen Fall bei Rüfrter, Öffentliches Recht: Die Verleihung der Staatsbürgerschaft der DDR, in: JuS 1971, S. 419ff. 226 Abgedr. bei Makarov / v. Mangoldt, Bd. 2, Gruppe 19; aufgehoben mit Änderungsgesetz v. 29.1.1990 (GBl. DDR I, S.31). 227 GBl. D D R I 1968, S. 191. 228 Abgedr. bei Makarov / v. Mangoldt, Bd. 2 , Gruppe 18. 222

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Jahres 1967 erging im gleichen Jahr eine Durchführungsverordnung. 229 Das ergänzende Gesetz vom 16.Oktober 1972 sowie die Verordnung vom 21. Juni 1982 betrafen Ausbürgerungen von Personen, die die DDR verlassen hat230

ten. Die "Staatsbürgerschaft der DDR" sollte zwar die Loslösung von der "deutschen Staatsangehörigkeit" sichtlich propagieren. 231 Gesetzestechnisch knüpfte sie aber an die Existenz der "deutschen Staatsangehörigkeit" an, was gerade deren Bedeutung erheblich unterstrich und das Ansinnen des ehemaligen DDR-Gesetzgebers von vornherein konterkarierte. 232 Nach § 1 lit. a StabüG war nämlich "Staatsbürger, wer zum Zeitpunkt der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik deutscher Staatsangehöriger war.. , " 2 3 3 § 1 lit.b StabüG legte die deutsche Staatsangehörigkeit wie selbstverständlich zugrunde. Wer aus der Bundesrepublik Deutschland in die DDR übersiedelte, erlangte auch nach 1967 die Staatsbürgerschaft der DDR nicht durch Einbürgerungsverfahren, sondern durch ein bloßes Registrierungsverfahren. 2 3 4 Die DDR setzte darüber hinaus Doppelstaatsangehörigkeit ihrer Staatsbürger in ihren Ausbürgerungsbeschlüssen (z.B. Wolf Biermann) gewissermaßen voraus: Ausbürgerungen wären nämlich völkerrechtswidrig, wenn der Betroffene dadurch staatenlos würde. 235 Seit der Vollendung der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 gilt das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar auch in den Gebieten der ehemaligen DDR. Aufgrund des Vertrages über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 trat nach Kapitel III. Art. 8 ("Überleitung von Bundesrecht") mit dem Wirksamwerden des Beitritts der in den fünf neuen Bundesländern (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen) Bundesrecht in Kraft, soweit nichts anderes bestimmt wurde, was im Staatsangehörigkeitsrecht nicht der Fall war. 2 3 6 Art. 19 des Einigungsvertrages bestimmte ferner, daß die staatsangehörigkeitsrechtlichen Akte der ehemaligen DDR, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts getroffen worden

229

GBl. DDR II 1967. S 681. Vgl. dazu Makarov / v. Mangoldt Rdnr. 1. Abschnitte 18flf. 231 Makarov / v. Mangoldt, Bd. 1. Einl.. Rdnr. 17 m.w.N.: Zieger, Das Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR. S. 25. 232 Kriele, Der Streit um die Rechtslage Deutschlands und die völkerrechtliche Anerkennung der DDR, S. 408ff. (410). 233 Abgedr., in: Weidelener / Hemberger, S. 358ff. 234 Makarov / v. Mangoldt, Bd. 2, Gruppe 19, § 1 Rdnr. 7. 235 Kriele, Rechtspositionen, S. 137ff.(l41). 236 Abgdr. in Stern / Schmitt-Bleibtreu, Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Bd. 2 (Einigungsvertrag), 1990. 230

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

sind, grundsätzlich wirksam bleiben. Sie können jedoch aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar sind.

§ 10 Die deutsche Staatsangehörigkeit und der Grundlagenvertrag Die Frage des Entzugsverbots der deutschen Staatsangehörigkeit wurde im Verhältnis der DDR-Staatsbürgerschaft zur deutschen Staatsangehörigkeit von Bedeutung. Die Bundesrepublik Deutschland hatte am Fortbestand einer gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 stets festgehalten. Deutsche in der ehemaligen DDR blieben auch mit Erlaß des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft von 1967 Staatsangehörige im Sinne des Grundgesetzes. 237 Art. 16 Abs. 1 GG verpflichtete die Bundesrepublik Deutschland auch in den Beziehungen zur ehemaligen DDR, an der "deutschen Staatsangehörigkeit" festzuhalten. 238 Die Bürger der Bundesrepublik Deutschland besaßen von Anbeginn die "deutsche Staatsangehörigkeit", nicht nur eine reduzierte "bundesrepublikanische" Staatsangehörigkeit. 239 Deutscher Staatsangehöriger i.S.d. Grundgesetzes war nicht nur der Bürger der Bundesrepublik Deutschland, sondern u.a. auch der Bürger der ehemaligen DDR. Die Bundesrepublik Deutschland war "teilidentisch" mit dem Deutschen Reich, das "nicht untergegangen war". Diese Teilidentität erstreckte sich auf alle drei Staatselemente, so auch auf das Staatsvolk. Bürger der Bundesrepublik Deutschland waren zugleich teilidentisch mit dem Staatsvolk des Deutschen Reichs. Sie besaßen teilidentisch dessen "deutsche Staatsangehörigkeit", aber nicht als einzige. In der Aufnahme vertraglicher Beziehungen mit der ehemaligen DDR Ende der sechziger Jahre wurde zum Teil eine Vertiefung der damals bestehenden Spaltung Deutschlands und damit ein Verstoß gegen das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes gesehen, was "zudem Auswirkungen auf die Staatsangehörigkeit des Grundgesetzes habe". Diese Kritik wurde insbesondere von der Bayerischen Staatsregierung im Normenkontrollverfahren bezüglich des Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 8. November 1972 artikuliert. Zwar blieben auch nach Ansicht des Antragstellers Staatsangehörigkeitregelungen laut Protokollerklärungen zum

237

Dazu: Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 73ff.(82ff.). Vgl. hierzu Fall mit Lösung von Riifner, Öffentliches Recht: Die Verleihung der Staatsbürgerschaft der DDR, in: JuS 1971, S. 419ff, insbes. S. 421, auf der auf den besonderen Stellenwert des Art. 16 Abs. 1 GG hingewiesen wird. 239 Stern, DVB1. 1982, S. 165ff.,(167). 238

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Grundlagenvertrag ausdrücklich ausgeklammert. 240 Doch verhinderte dieser Vorbehalt nach Ansicht der Bayerischen Staatsregierung nicht, daß die DDR durch den Grundlagenvertrag den Menschen, die in ihrem Hoheitsgebiet lebten, die Staatsbürgerschaft rechtens zusprach. Denn jeder Staat könnte grundsätzlich selbst über die Vergabe seiner Staatsangehörigkeit entscheiden. 241 Nachdem die ehemalige DDR im Grundlagenvertrag 242 als ein "selbständiger Staat anerkannt" worden sei, könnte sie die in ihrem Hoheitsgebiet Lebenden als "ihre Staatsangehörigen" beanspruchen. Hieraus folgerte die Bayerische Staatsregierung ein Verbot für die Bundesrepublik Deutschland, zugunsten der Menschen in der DDR zu intervenieren. 243 Das BVerfG leugnete in dem Urteil zum Grundlagenvertrag vom 31. August 1973 diesen Regelungszusammenhang zwar nicht: 2 4 4 "... damit, daß eine Regelung der Staatsangehörigkeitsfragen nicht getroffen worden ist, ist die Frage nicht ausgeräumt, ob der Vertrag nicht Auswirkungen auf die Staatsangehörigkeit i.S.d. Art. 16 und des Art. 116 Abs. 1 GG hat und welche dieser Auswirkungen im Widerspruch mit den genannten grundgesetzlichen Vorschriften steht."

Das BVerfG sah (wie die Bayerische Staatsregierung) in dem Grundlagenvertrag die Anerkennung der ehemaligen DDR als Staat. Da eine solche "Anerkennung als Staat" in den Kategorien des Völkerrechts zu bemessen ist, sich dies aber wegen der historisch bedingten "Inter-Se-Beziehungen" 245 beider deutschen Staaten verbot, wählte es insoweit die Verlegenheitsbezeichnung "staatsrechtliche Anerkennung". Mit Martin Kriele 246 sollte diesbezüglich besser von einer sog. "eingeschränkten Anerkennung" oder "Anerkennung mit Vorbehalt" gesprochen werden. Doch auch nach ihm verband sich zwangsnotwendig, wie von der Bayerischen Staatsregierung befürchtet und vom BVerfG konstatiert, die "Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft". Denn: 2 4 7

240 BVerfGE 36. Iff. (9f.); vgl. hierzu: Der Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht, hrsg. v. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 1975.; Georg Ress, Die Rechtslage Deutschlands. 241 Abgedr., in: BVerfGE 36. Iff. (10); siehe insbes. auch Plädoyer von Blumenwitz, abgedr. in: Der Grundlagenvertrag, S. 276ff. 242 Zu den maßgelblichen Bestimmungen des Vertrages und seiner Zusatzprotokolle bezüglich der "Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR", vgl. Lang, Grundkonzeption und Entwicklung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, S. 185ff. 243 BVerfGE 36. S. Iff. (10). 244 BVerfGE 36, S. Iff. (32). 245 Ebenda, S. 23f. 246 Plädoyer für die Bundesregierung vor dem BVerfG. abgedr. in: Der Grundlagenvertrag, S. 302ff. 247 Kriele, Rechtspositionen, S. 411.

7 Ziemske

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

"Jeder Staat entscheidet selbst darüber, wen er als Staatsangehörigen in Anspruch nimmt. Staatsangehörigkeitsrecht ist Staatsrecht, nicht Völkerrecht."

Allerdings Schloß das BVerfG aus dieser Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft keineswegs eine Minderung oder Verkürzung des Status der "deutschen Staatsangehörigkeit". Denn "deutscher Staatsangehöriger i.S.d. Grundgesetzes ist nicht nur der Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Für die Bundesrepublik Deutschland verliert ein Deutscher diese deutsche Staatsangehörigkeit nicht dadurch, daß sie ein anderer Staat aberkennt." 248 Folglich besaßen auch nach dem Grundlagenvertrag "Staatsbürger der DDR" die "deutsche Staatsangehörigkeit" i.S.d. Art. 16 GG mit der daraus verbundenen Schutzpflicht des Heimatstaates. Das BVerfG 2 4 9 stellte fest, daß die Bundesrepublik Deutschland berechtigt und verpflichtet ist, "jeden Bürger der DDR, der in den Schutzbereich der Bundesrepublik und ihrer Verfassung gerät, gem. Art. 116 Abs. 1 und 16 GG als Deutschen wie jeden Bürger der Bundesrepublik zu behandeln." 250 Die Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland waren mithin verpflichtet die ehemalige DDR nicht als Ausland im völkerrechtlichen Sinne zu betrachten. Wenngleich staatsrechtlich anerkannt, blieben somit die DDRStaatsbürger für die Bundesrepublik Deutschland Inländer. 251

§ 11 Die "Gespensterdiskussion" über die "Anerkennung" der "Staatsbürgerschaft der DDR" Die ehemalige DDR betrachtete das im Grundlagenvertragsurteil des BVerfG geäußerte Staatsangehörigkeitsverständnis der Bundesrepublik Deutschland als "völkerrechtswidrige Annexion" 252 . Sie sah hierin einen Eingriff in ihre inneren Angelegenheiten und damit in das völkerrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht. Die Bundesrepublik wies diesen Vorwurf der Verletzung des Grundlagenvertrages zurück: Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht regelte nicht den Erwerb und Verlust der DDR-Staatsbürgerschaft, die im übrigen anerkannt war. Sie zwang einem DDR-Bürger auch nicht die deutsche Staatsangehörigkeit auf, sondern überließ es seinem Willen, ob er die deutsche Staatsangehörigkeit aktualisieren wollte. DDR-Bürger, die sich als solche in der Bundesre248

BVerfGE 36, S. Iff. (30). Ebenda. 250 Vgl. dazu auch Fritsche, Funktion und Bestand der deutschen Staatsangehörigkeit nach dem Grundlagenvertragsurteil, 1981. 251 Stern, DVB1.1982, S. 165ff. (168). 252 Riege, Staatsbürgerschaft, S. 320. 249

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publik Deutschland auswiesen, galten als voll legitimiert. Sie hatten keine Legitimationsprobleme bei der Ein- wie Ausreise noch sonst beim Aufenthalt innerhalb der Bundesrepublik Deutschland. 253 Bürger der ehemaligen DDR wurden auch seitens der Bundesrepublik als Angehörige der DDR respektiert, wenn sie dies wollten. Insofern verzichtete die Bundesrepublik in bezug auf DDR-Bürger auf die Anwendung des Völkerrechtsgrundsatzes, nach dem jeder Staat seine Bürger - auch wenn diese eine andere Staatsangehörigkeit zudem besitzen - nur als seine Bürger behandelt. 254 Offiziell forderte die DDR, insbesondere durch Erich Honecker in der Geraer Erklärung, die sog. "Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR". 2 5 5 Diese Forderung wurde auch in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland viel diskutiert. Nicht unbedeutende politische Kreise unterstützten sie bis in das Jahr 1987. 256 Da aber die DDR laut Grundlagenvertragsurteil seitens der Bundesrepublik Deutschland als Staat mitsamt seiner inneren Gesetzgebungshoheit respektiert war, respektierte die Bundesrepublik Deutschland selbstverständlich auch imiplizit dessen Staatsbürgerschaftsrecht. 257 Diese "Anerkennung" war bereits endgültig mit dem Grundlagenvertrag von 1972 erfolgt. Die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft ergab sich daraus, daß die DDR staatsrechtlich von der Bundesrepublik Deutschland als souveräner Staat anerkannt wurde. Lediglich völkerrechtlich durfte die ehemalige DDR nicht als Ausland behandelt werden. 258 Wenn aber die Staatsbürgerschaft der DDR bereits längst anerkannt war, worin lag dann der Inhalt der Forderung? Kriele bezeichnete dies zu Recht als eine "Gespensterdiskussion", die überhaupt keinen Bezug zur Realität mehr hatte, "wenn man die Forderung der DDR wortwörtlich verstand" 259 . Ginge es nämlich der ehemaligen DDR und ihren politischen Fürsprechern in der 253 Vgl. dazu Seiffert, Die Begriffe "Anerkennung" und "Respektierung" in den innerdeutschen Beziehungen, in: ROW, S. 49ff. 254 Kriele, Rechtspositionen, S. 159ff. 2,5 Erich Honnecker forderte am 13. Oktober 1980 in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des DDR-Staatsrats und Generalsekretär des SED-Zentralkomitees konkret auch die Streichung von Art. 116 Abs. 1 GG und die Änderung der "einschlägigen Gesetze"; vgl. dazu Fenner, Die Geraer Forderungen und das Karlsruher Urteil, in: DA 1985, S. 1062ff. (1065). Im Interview v. 31.1.1986 (Die Zeit, S. 3ff.) wurde allerdings die Forderung nach "Streichung" des Art. 116 Abs. 1 GG nicht mehr erhoben. Die Bundesregierung begrüßte dies ausdrücklich; vgl. FAZ v. 13.2.1986, S. 5; vgl. zum ganzen insbes.: Röper, Deutsche und andere Deutsche?, in: Der Staat 1987, S. 3 Iff. 256 Der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine verlangte anläßlich eines Besuchs in Berlin (Ost) die "Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft" (Interview in: Die Welt v. 6.12.1985, S. 9); andere Politiker forderten die "Respektierung" der DDR-Staatsbürgerschaft: Willy Brandt, Hans Ulrich Klose, Gerhard Schröder, Björn Engholm u.a. (Fundstellen abgedr. bei Röper, S. 32.). 257 Vgl. dazu Kriele, Rechtspositionen, S. 159ff. 2 8 · BVerfGE 36, lff.(30ff.) 259 Rechtpositionen, S. 173.

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

Bundesrepublik Deutschland tatsächlich um eine "Anerkennung", enthielte sie nur Selbstverständliches, worüber es keiner Diskussion bedurft hätte. 260 Sollte die Forderung dagegen Sinn machen - wovon auszugehen war mußte sie etwas anderes beinhalten. Es stellt sich die Frage, um was es der ehemaligen DDR und ihren hiesigen Fürsprechern im Zusammenhang mit der Staatsangehörigkeitsfrage wirklich gehen konnte? War es möglicherweise gar das Gegenteil der wortwörtlichen Fassung der Forderung? Ging das politische Gerangel um die "Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft" gar um die "Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit"? 261 Dieser Inhalt hätte nämlich folgenden Sinn gemacht. 1. den Fortbestand des Deutschen Reiches zu leugnen und 2. den Deutschen in der ehemaligen DDR das "Aufgehobensein" in der deutschen Staatsangehörigkeit zu entziehen. 262 Die ehemalige DDR mit ihren hiesigen Fürsprechern nutzte Unklarheiten im Dogmenstreit und verschleierte dadurch den Kernpunkt der ganzen Sache: Nicht die Bundesrepublik Deutschland sah sich vor das Problem gestellt, die Staatsbürgerschaft der DDR zu respektieren, sondern - wie die Forderung nach "Anerkennung" der DDR-Staatsbürgerschaft dokumentierte - hatte umgekehrt die DDR Probleme, das bundesdeutsche Staatsangehörigkeitsrecht zu respektieren. Das tat sie nur beschränkt, wenn es ihr - wie in den Fällen der Zwangsausbürgerungen ihrer eigenen Staatsangehörigen - zum Vorteil gereichte. Ebenso aber wie die Bundesrepublik Deutschland das Staatsbürgerschaftsrecht der DDR respektierte, war von der DDR zu verlangen, daß sie bundesdeutsches Staatsangehörigkeitsrecht ebenfalls achtete. 263 Spürbar führte die Forderung der ehemaligen DDR die Bundesrepublik Deutschland in eine "vertrackte Defensive". Die Vernebelung dieses Kernpunktes sollte die Bundesrepublik Deutschland in ihren "Rechtspositionen" zu Fragen der deutschen Staatsangehörigkeit aufweichen, die nach Kriele in drei Punkten zusammengefaßt werden konnten: 1. Eine Änderung der Statusfrage der deutschen Staatsangehörigkeit oblag gar nicht der Bundesrepublik Deutschland selbst, sondern sie fiel in die VierMächte-Verantwortung für Deutschland als ganzes. 2. Eine Änderung der deutschen Staatsangehörigkeit hätte darüber hinaus die Berliner der deutschen Staatsangehörigkeit beraubt und sie zu Angehörigen einer selbständigen politischen Einheit gemacht. 260

Ebenda. Schon das BVerwGE DÖV 1967. S. 94f. machte diesen Kontext deutlich: "Die Ablehnung der Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit wirkt sich wie eine Entziehung der Staatsangehörigkeit aus". 262 Kriele. Rechtspositionen, S. 159ff. 263 Ebenda. 261

4. Kap.: Deutsche Staatsangehörigkeit in völkerrechtlichen Verträgen

101

3. Schließlich wäre eine Änderung der Statusfrage verfassungsrechtlich unzulässig gewesen. Sie hätte im Gegensatz zum Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes gestanden und außerdem gegen Art. 16 Abs. 1 GG verstoßen, wonach die "deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden darf." 264 Wäre allerdings das Staatsangehörigkeitsverständnis der ehemaligen DDR auch in der Bundesrepublik Deutschland auf eine breite Mehrheit gestoßen, wäre Folge die kollektive Zwangsausbürgerung von ca. 17 Millionen Deutschen gewesen. Das aber hätte gegen den eindeutigen Wortlaut des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG verstoßen. Die Spaltung Deutschlands wäre sicherlich endgültig vollzogen gewesen.265 Ob es unter dieser Prämisse überhaupt noch zur Wiedervereinigung gekommen wäre, mag als Spekulation dahinstehen. Wenngleich diese Forderung der ehemaligen DDR innerhalb der Bundesrepublik Deutschland auf Sympathie stieß, kam es zu einer gesetzlichen Neuregelung des Verhältnisses der Staatsbürgerschaft der DDR zur deutschen Staatsangehörigkeit angesichts der historischen Entwicklung zur Wiedervereinigung nicht mehr. So blieb die Frage rein akademisch. Das BVerfG hatte also auch hinsichtlich des Verhältnisses der Staatsbürgerschaft der DDR zur deutschen Staatsangehörigkeit keine Gelegenheit, Inhalt und Umfang von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG verbindlich zu entscheiden.

4. Kapitel

Die deutsche Staatsangehörigkeit in ausgewählten völkerrechtlichen Verträgen § 12 Die deutsche Staatsangehörigkeit und die Ostverträge von Moskau und Warschau Kontrovers war die Frage der Vereinbarkeit des Art. 16 Abs. 1 GG mit den sog. Ostverträgen, dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepublik (Moskauer Vertrag) 266 vom 12. August 1970 sowie dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normali-

264 265 266

Ebenda, S. 179ff. Stern, DVB1. 1982, S. 165ff. Gesetz v. 23.5.1972 (BGBl. 1972 II, S. 353).

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

sierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (Warschauer Vertrag) vom 7. Dezember 1970. 267 Beide Verträge enthielten Grenzbestimmungen hinsichtlich der OderNeiße-Gebiete, die für Kritiker der Verträge mit Art. 16 Abs. 1 GG unvereinbare staatsangehörigkeitsrechtliche Folgen für die dort wohnenden deutschen Staatsangehörigen auslösten.268 In Art. 3 des Moskauer Vertrages verpflichteten sich die Vertragsparteien "die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten ... keine Gebietsansprüche gegen irgendjemand zu haben und solche in Zukunft auch nicht zu erheben ... heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich zu betrachten, einschließlich der Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet." Auch in Art. 1 des Warschauer Vertrages "stellen" die Vertragsparteien "übereinstimmend fest", daß die sog. Oder-Neiße-Linie "die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen" bildet. Beide Verträge waren Gegenstand von Verfassungsbeschwerden. 269 Nach Meinung der Beschwerdeführer hatten die Grenzregelungen des Moskauer und Warschauer Vertrages den automatischen Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit zur Folge und verletzten Art. 16 Abs. 1 GG. 2 7 0 Zur Begründung führten sie aus, durch die Verträge habe sich die Gebietszugehörigkeit und damit der völkerrechtliche Status der ehemaligen deutschen Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie geändert. Diese Gebiete seien nunmehr von der Bundesrepublik Deutschland als Ausland anzusehen. Der Wechsel der Gebietshoheit ftihre auch zu einem Wechsel der Personalhoheit, so daß die ehemaligen Bewohner der Ostgebiete ihre deutsche Staatsangehörigkeit automatisch verloren hätten. Da es die Bundesrepublik Deutschland unterlassen habe, durch Aushandeln einer Optionsklausel dem automatischen Eintritt dieser Rechtsfolge vorzubeugen, habe sie mit dem Abschluß der Ostverträge dazu beigetragen, daß den Beschwerdeführern ihre bis dahin innegehabte deutsche Staatsangehörigkeit in verfassungswidriger Weise entzogen worden sei. 2 1

267

Gesetz v. 23.5.1972 (BGBl. 1972 II, S. 361). Vgl. zum Streitstand: Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 108ff. (112ff); Kimminich, Der Warschauer Vertrag und die Staatsangehörigkeit der "Polen-Deutschen", in: DÖV 1971, S. 577ff. m.w.N. 269 Beschluß des ersten Senats v. 7.7.1975 (BVerfGE 40, S. 141ff). 270 Vgl. die ausdrückliche Rüge in BVerfGE 40. S. 141ff. (150). 271 Ebenda, S. 152. 268

4. Kap.: Deutsche Staatsangehörigkeit in völkerrechtlichen Verträgen

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Das BVerfG wies die Verfassungsbeschwerden als unzulässig zurück. 272 Ein Wechsel der Staatsangehörigkeit aus Gründen, wie sie im Falle einer Gebietszession gelten, komme schon deshalb nicht in Betracht, weil eine "Gebietszession durch die Ostverträge" nicht stattgefunden habe. Die Gebiete östlich von Oder und Neiße waren nach der Entscheidung des BVerfG ebenso wie das übrige Reichsgebiet in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 von den Siegermächten bei Kriegsende nicht annektiert worden. 273 Die drei Westmächte hätten einer endgültigen Zuweisung der deutschen Ostgebiete an die Sowjetunion und Polen nicht zugestimmt. 274 Die Sowjetunion und Polen hätten zwar schon bald nach Beendigung des Krieges Maßnahmen getroffen, die auf eine vollständige Einziehung der deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße in ihrem Herrschaftsbereich gerichtet waren. Doch führten nach Ansicht des BVerfG auch diese vorgenommenen Rechtsakte nicht zu einer Staatensukzession mit automatischer Rechtsfolge auch im Staatsangehörigkeitsbereich. 25 Staatsangehörigkeitsrechtlich hätten weder die Sowjetunion für die Bewohner des nördlichen Ostpreußen noch Polen für die Bewohner der restlichen Oder-Neiße-Gebiete gesetzliche Neuregelungen vorgenommen, die zum Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit führten. 276 Die dort lebenden deutschen Staatsangehörigen wurden von den dortigen Behörden zunächst als Ausländer angesehen.27' Sofern sie nicht "freiwillig" die sowjetische bzw.

272 Beschluß v. 7.7.1975 (BVerfGE 40. S. 141ff); ebenfalls als unzulässig wurden die Verfassungsbeschwerden gegen das Zustimmungsgesetz zum deutsch-tschechoslowakischen Vertrag v. 11.12.1973 zurückgewiesen (Beschluß v. 25.1.1977, BVerfGE 43, S. 203ff.); allerdings wurden die diesbezüglichen Beschwerden nicht auf Art. 16 Abs. 1 GG gestützt. 273 BVerfGE 40. S. 141ff..(157). 2 ™ Ebenda, S. 158. 275 Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR hatte aufgrund der Anordnung zur Neuregelung der Verhältnisse im nördlichen Ostpreußen v. 7. April, 2. Juli und 25. Dezember 1946 das Territorium der Stadt Königsberg und der umliegenden Alliance als Königsberger Gebiet dem Bestand der "Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik" eingefügt. Auch hatten die ostpreußischen Städte russische Ortsnamen erhalten. Ebenso wurde am 25. Februar 1947 die sowjetische Verfassung durch ein Gesetz geändert, welches das in Kaliningrad umbenannte Königsberger Gebiet zur Verwaltungseinheit (Oplast) der "Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik" erklärte. Vgl. dazu auch Makarov / v. Mangoldt, Einl., Rdnr. 135ff.

Hinsichtlich der im polnischen Machtbereich gelegenen deutschen Ostgebiete seien zwar ebenfalls zahlreiche innerstaatliche Rechtsakte auf Eingliederung des übernommenen Teils in den polnischen Staatsverband ergangen. Zu ihnen gehörten vor allen Dingen das Dekret v. 13. November 1945 über die Verwaltung der wiedergewonnen Gebiete, die Verordnung des Ministerrates v. 29. Mai 1946 über die vorläufige Verwaltungseinteilung der wiedergewonnenen Gebiete sowie das Gesetz v. 11. Januar 1949 über die Eingliederung der wiedergewonnenen Gebiete. Von polnischer Rechtsordnung her gesehen war damit jegliche Sonderregelung fur die von Polen übernommenen deutschen Ostgebiete beseitigt. Vgl. dazu Makarov / v. Mangoldt, Rdnr. 150ff. 276 BVerfGE 40, S. 141fT.,(160). 277 Vgl. Geilke, Das Staatsangehörigkeitsrecht der Sowjetunion, S. 235ff.

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

polnische Staatsangehörigkeit erworben hatten, war ihre deutsche Staatsangehörigkeit auch nicht untergegangen. 278 Die stufenweisen (Zwangs-)Aussiedlungen der deutschen Bevölkerung aus den Oder-Neiße-Gebieten führten zwar zu einem entsprechenden Bevölkerungsverlust, hatten aber keinerlei staatsangehörigkeitsrechtliche Auswirkung. 2 7 9 Auch soweit in Polen mit Gesetz vom 28. April 1946 der Versuch unternommen wurde, die Staatsangehörigkeitsfragen der deutschen Bevölkerung neu zu regeln,, führte dies nicht zum Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit. Das Gesetz betraf zum einen nicht alle Deutschen, sondern nur sog. Autochtone, also jene Gruppe deutscher Staatsangehöriger, bei denen der polnische Gesetzgeber davon ausging, daß sie von polnischer Abstammung und damit "assimilierungsfähig" seien. 2 8 0 Zum anderen sollten auch die Autochtonen die polnische Staatsangehörigkeit in der Regel nur nach dem erfolgreichen Abschluß eines besonderen Verifizierungsverfahrens erwerben. Das bevölkerungspolitische Ziel, die einheimische Bevölkerung der OderNeiße-Gebiete, soweit sie als deutsch angesehen wurde, auszusiedeln und die als autochton angesehenen Personen im Verifizierungsverfahren einzubürgern, wurde in den Jahren 1945 bis 1951 allerdings nicht erreicht. 281 Anfang 1951 hatten noch beträchtliche Teile der einheimischen Bevölkerung, d.h. die nicht verifizierten Autochtonen und die anerkannten Deutschen, nicht die polnische Staatsangehörigkeit. 282 Diese Rechtslage änderte sich mit dem polnischen Gesetz vom 8. Januar 1951. Das Gesetz gestattete den polnischen Behörden, die Autochtonen von Amts wegen erleichtert einzubürgern. In der Praxis führte dies zu einer Gesamteinbürgerung der Autochtonen auch ohne oder gegen ihren Willen. 2 8 3 Das Gesetz über die polnische Staatsbürgerschaft vom 15. Februar 1962 enthielt demgemäß nichts mehr, was auf eine besondere Stellung dieses Personenkreises im polnischen Staatsverband hinweisen konnte. Die als Deutsche angesehenen Personen wurden in der Nachkriegszeit zunächst als Ausländer behandelt. Dieser Bevölkerungsteil wurde auch durch das Gesetz vom 8. Januar 1951 nicht zwangsweise eingebürgert. Die polni278 Das BVerfG äußert sich allerdings nicht expressis verbis dazu, ob ein Untergang möglicherweise gem. § 25 RuStAG eingetreten ist für den Fall, daß dort wohnhafte deutsche Staatsangehörige auf Antrag die sowjetische Staatsangehörigkeit erworben haben. Das Problem, ob § 25 RuStAG tatbestandlich wegen des möglicherweise fehlenden "Auslandsbezuges" eingreift, wurde damit vom BVerfG nicht aufgeworfen, stellte aber in der deutschen Verwaltungspraxis ein ernstes Problem dar. Vgl. Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 102. 27 9 St oll. Die Rechtsstellung der deutschen Staatsangehörigen in den polnisch verwalteten Gebieten, 1968. 280 BVerfGE 40. S. 141ff.(161f.) 281 Ebenda, S. 162. 282 Ebenda. 283 Ebenda.

4. Kap.: Deutsche Staatsangehörigkeit in völkerrechtlichen Verträgen

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sehen Behörden haben in der Folge die Staatsangehörigkeit dieser Personen vielmehr als "nicht festgestellt" betrachtet. Sie wurden daher in der Regel wie Staatenlose behandelt. Später wurden Versuche unternommen, auch diese Deutschen in das polnische Staatsvolk einzugliedern, in dem sie - ohne förmliche Feststellung ihrer Staatsangehörigkeit - z.T. als Wehrpflichtige in Anspruch genommen wurden. So erhielten sie das aktive und passive Wahlrecht bei den polnischen Parlamentswahlen. Damit wurde ihnen eine Rechtsstellung eingeräumt, die der Stellung eines polnischen Staatsangehörigen angenähert war. 2 8 4 Aber auch durch die vorgenannten Maßnahmen hatten die dort lebenden Deutschen ihre deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren. Denn ein Staat kann über die Staatsangehörigkeit in anderen Staaten nicht wirksam verfügen. 285 Nach der Feststellung des BVerfG konnten auch die Ostverträge insgesamt keinen Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit bewirken. Denjenigen, die vor Inkrafttreten der Verträge die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, stand sie weiterhin zu. 2 8 6 Die deutschen Staatsangehörigen in den Gebieten östlich von Oder und Neiße sind mit dem Inkrafttreten der Ostverträge aus der rechtlichen Zugehörigkeit zu Deutschland nicht entlassen worden. Weder der Moskauer noch der Warschauer Vertrag enthielten "endgültige" territoriale Zuweisung der Gebiete östlich von Oder und Neiße an die Sowjetunion und Polen. 287 Bei den Gebietsregelungen handelte es sich um Konkretisierungen des Gewaltverzichts. 288 Der Wille der Bundesrepublik Deutschland war nicht darauf gerichtet gewesen, Gebietszuweisungen auszusprechen, die die Staatsangehörigkeit derjenigen verändern, die in den von diesen Regelungen betroffenen Gebieten lebten. Dies hatte die Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Vertragspartnern erkennbar zum Ausdruck gebracht. 289 Darüberhinaus konnten sie die Bundesrepublik Deutschland gar nicht für befugt halten. Verfügungen zu treffen, die eine friedensvertragliche Regelung vorwegnehmen. 290

284

Ebenda, S. 162. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 11 IV 2: vgl. dazu auch oben Einl. V I und § 2. 286 Ebenda, S. 170. 287 Ebenda, S. 171. 288 Vgl. dazu Claus Arndt, Die Verträge von Moskau und Warschau, S. 83f.; BT.-Drs. V I / 3397, Ani. 1, S. 13. 289 Denkschrift der Bundesregierung zum Moskauer Vertrag, BT-Drs. V I / 3156, S. 12; Kommuniqué der Bundesregierung zum Warschauer Vertrag, Bulletin, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 8.12.1970, Nr. 171, S. 1818f.; vgl. auch Deutscher Bundestag, 7. Wp., 125. Sitzung, Sten. Ber., S. 8359. 290 Vgl. auch Denkschrift der Bundesregierung zum Warschauer Vertrag, abgedr. in: BT-Drs. VI / 3157, S. 11: "Die hat in den Verhandlungen ihren Standpunkt bekräftigt, daß ... die Bundesregierung nur im Namen der Bundesrepublik Deutschland handelt". 285

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

Auch haben die Verträge die deutschen Staatsangehörigen in den östlich von Oder und Neiße gelegenen Gebieten nicht in personaler Hinsicht der Hoheitsgewalt der Sowjetunion und Polens endgültig unterstellt. Die aus den Ostgebieten stammenden deutschen Staatsangehörigen waren auch weiterhin als solche zu behandeln. Ihnen waren auch nach den Ostverträgen der volle Gerichtschutz und die grundrechtlichen Garantien im Geltungsbereich des Grundgesetzes verblieben. 291 Wenn die betroffenen Personen nicht in der Lage waren, den sich aus ihrer deutschen Staatsangehörigkeit ergebenden Schutz in Anspruch zu nehmen, weil sie in den Gebieten östlich von Oder und Neiße lebten, so beruhte dies nach Ansicht des BVerfG nicht auf den Ostverträgen. Die Betroffenen hätten sich schon vor dem Inkrafttreten in der gleichen Lage befunden. 292 Nach alledem hatte das BVerfG in den Ostverträgen eine unmittelbare Betroffenheit der grundrechtlich geschützten Rechtsposition aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG verneint.

§ 13 Die deutsche Staatsangehörigkeit und der nZwei-plus-VierVertrag" vom 2. September 1990 sowie dessen Folgeverträge I. Keine ausdrückliche Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit Staatsangehörigkeitsrechtliche Fragen wurden im deutschen Einigungsprozeß nicht Gegenstand einer ausdrücklichen vertraglichen Regelung. Sie waren zwar seit dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 sowie aufgrund der Erklärung der drei Westmächte vom 3. Oktober 1954 einer "Friedensregelung (Peace Settlement)" vorbehalten. 293 Im Vertrag über die "abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" 294 vom 12. September 1990 wurde eine diesbezüglich endgültige Vertragsregelung von den vier Siegermächten einerseits und den beiden deutschen Staaten andererseits jedoch weder ausgehandelt noch vom wiedenereinigten Deutschland ge-

291

BVerfGE 40, S. 141ff.(175). Ebenda. 293 Abgedr. in: Ingo v. Münch, Dokumente, S. 135ff.; vgl. zur Problematik: Kriele, Rechtspositionen, S. 159ff. 294 BGBl. II, S. 1317 - 1329, in Kraft getreten am 15. März 1991, abgdr. in: Texte zur Deutschlandpolitik, hrsg. v. Bundesinnenministerium fir innerdeutsche Beziehungen, Reihe III, Bd. 8b, S. 672ff.; zur staatsrechtlichen Problematik der Wiedervereinigung sowie ihren diesbezüglichen "inter-se-Verträgen" zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der ehemaligen DDR: Stern / Schmidt-Bleibtreu, Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Bd. 1: Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, Bd. 2, Einigungs- und Wahlvertrag, 1990. 292

4. Kap.: Deutsche Staatsangehörigkeit in völkerrechtlichen Verträgen

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schlossen.295 Der "Zwei-plus-Vier-Vertrag" enthält auch in den Zusatzprotokollen sowie den anschließenden Folgevereinbarungen ausdrücklich keine Vereinbarung bezüglich der deutschen Staatsangehörigkeit. Dies gilt insbesondere für die Folgeverträge des wiedervereinigten Deutschland mit der Republik Polen. 296 Auch der deutsch-polnische Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag 297 vom 17. Juni 1991 enthält keine Regelung, die die deutsche Staatsangehörigkeit beeinträchtigen könnte. Wenn Art. 20 Abs. 1 des Vertrages die "Angehörigen der deutschen Minderheit" in der Republik Polen als Personen "polnischer Staatsangehörigkeit" definiert, so wird damit nach der Entscheidung des BVerfG vom 8. September 1993 deren "zusätzlich bestehende deutsche Staatsangehörigkeit nicht geschmälert". 298 Denn im Zusammenhang mit der Unterzeichnung hätten die Außenminister der beiden Vertragsstaaten gleichlautende Briefe ausgetauscht, aus denen sich ihr übereinstimmender Wille ergäbe, daß "der Vertrag sich nicht mit Fragen der Staatsangehörigkeit befassen soll". 2 9 9 Angesichts des beide Vertragsstaaten bindenden Art. 31 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit. a) des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge 300 könne aus "Art. 20 des Vertrages keine Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen entnommen werden". 301 Die vertragliche Ausgestaltung der deutschen Wiedervereinigung befaßte sich stattdessen ausdrücklich mit den Fragen der Zugehörigkeit der jenseits der Oder-Neiße-Linie gelegenen (ehemaligen) deutschen "Ostgebiete".

295 "Zwei" steht für die zwei deutschen Staaten, die den Vertrag mit den "vier" Alliierten USA, ehemalige Sowjetunion, Vereinigtes Königreich und Frankreich paraphierten. Ratifiziert wurde der Vertrag allerdings als "Eins-plus-Vier-Vertrag". Denn es war auf deutscher Seite das wiedervereinigte Deutschland, das den Vertrag nach Vollendung der Einheit v. 3.10.1990 am 15.3.1991 in Kraft setzte; vgl. zu den Vertragssubjekten Blumenwitz, Das vereinigte Deutschland und die europäische Friedensordnung, S. 17ff. 296 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die "Bestätigung" der zwischen ihnen bestehenden Grenze v. 14. November 1990, abgedr. in: Texte zur Deutschlandpolitik, S. 868f.; dazu die erläuternde Rede des damaligen Bundesaußenministers HansDietrich Genscher in Warschau am 16.11.1990, abgedr.: Texte zur Deutschlandpolitik, S. 870ff.; deutsch-polnischer Nachbarschafts-und Freundschaftsvertrag v. 17. Juni 1991. 297 Das Zustimmungsgesetz zu dem Vertrag v. 16. 12. 1991 (BGBl. 1991 II, S. 1328). 298 Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG über die Nichtannahme von Verfassungsbeschwereden gegen Zustimmungsgesetz zum deutsch-polnischen Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag - 2 BvR 2124 / 92 - und - 2 BvR 2127 / 92 - NJW 1994, S. 1402. 299 Ebenda, S. 3. 300 Vom 23. Mai 1969 (BGBl. 1985 II, S. 926). 301 - 2 BvR 2124 / 92 - und - 2 BvR 2127 / 27-, NJW 1994, S. 1402. 302 Vgl. zur völkerrechtlichen Problematik im Einigungsprozeß auch: Stern, Der Zwei-plus-Vier Vertrag, in: BayVBl. 1991, S. 523ff.; Blumenwitz, Der Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, in: NJW 1990, S. 3041ff; Rausch η in g, DVB1. 1990, S. 1275ff.

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

II. Endgültiger

Gebietswechsel

Nach Art. 1 des sog. "Zwei-plus-Vier-Vertrages" umfaßt "das vereinte Deutschland die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins". Deutschlands Außengrenzen "werden die Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland sein und werden am Tage des Inkrafttretens dieses Vertrages endgültig sein". In Abs. 2 des Art. 1 wurden Polen und Deutschland aufgefordert, ihre gemeinsame Grenze vertraglich "zu bestätigen", was zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen durch den Staatsvertrag vom 14. November 1990 auch geschehen ist. 3 0 3 Der Grenzvertrag zwischen der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland hat nur noch "bestätigenden" Charakter. 304 Das BVerfG fuhrt dazu aus: 305 "Im Vertrag wird nämlich nicht mit rückwirkender Kraft über die territoriale Souveränität oder Gebietshoheit in bezug auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete verfügt. Die Grenzregelung ist gegenwarts- und zukunftsbezogen: In Art. 1 bestätigen die Vertragsparteien die zwischen ihnen bestehende Grenze, um dem vereinten Deutschland für jetzt und für die Zukunft in Übereinstimmung mit den Vier Mächten endgültige Grenzen zu geben."

Um den "endgültigen" Charakter der Grenzregelung zu unterstreichen, verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland in Art. 1 Abs. 4 des "Zweiplus-Vier-Vertrages", sicherzustellen, daß "die Verfassung des Vereinten Deutschlands keinerlei Bestimmungen enthalten wird, die mit diesen Prinzipien unvereinbar sind". Insbesondere sollte dies für diejenigen Bestimmungen des Grundgesetzes gelten, die in der alten Fassung das Wiedervereinigungsgebot konkretisierten, nämlich die Prinzipien, "die in der Präambel und in den Artikeln 23 Satz 2 und 146 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland niedergelegt sind." 3 0 6 Folgerichtig stellte das BVerfG in den Verfassungsbeschwerden gegen den deutsch-polnischen Grenzvertrag fest: 307 "Das Wiedervereinigungsgebot, das mit Wirkung vom 29. September 1990 durch das an diesem Tag in Kraft getretene Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag aus der Präambel gestrichen worden ist, könnte mangels grundrechtlicher Qualität eine Verfassungsbeschwerde nicht begründen". 303 304 305 306 307

Dazu: Beschluß der 3. Kammer des BVerfG v. 5. Juni 1992, EuGRZ 1992, 306ff. Blumenwitz, NJW 1990, S. 3041ff.(3043f.). BVerfG EuGRZ 1992, S. 306ff.(306). Abgedr. in: Texte zur Deutschlandpolitik. S. 674. BVerfG EUGRZ 1994, S. 306ff.(308).

4. Kap.: Deutsche Staatsangehörigkeit in völkerrechtlichen Verträgen

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Damit war nach den Ausführungen des BVerfG das, was in den Ostverträgen nur einen "modus vivendi" für eine Übergangszeit darstellen sollte, durch den deutschen Einigungsprozeß Wirklichkeit geworden: Gebietsmäßig war ein Viertel des Territoriums des früheren Deutschen Reiches in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 "endgültig abgeschrieben" und der Republik Polen sowie der ehemaligen Sowjetunion zugesprochen worden. 308

III. Auswirkungen des Gebietswechsels auf die deutsche Staatsangehörigkeit? 1. Weiterbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit Nach h.M. in der Bundesrepublik Deutschland führt aber ein Gebietswechsel nicht automatisch zum Wechsel der Staatsangehörigkeit. 309 Es bedarf zusätzlicher vertraglicher Regelungen, an denen es im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung fehlte. Eine andere Sichtweise hatte das BVerfG nur hinsichtlich der österreichischen Staatensukzession.310 Diesbezüglich konzedierte das BVerfG, daß Gebietssukzessionen - zumindest unter bestimmten Voraussetzungen automatisch - auch ohne ausdrückliche vertragliche Regelung das Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit zur Folge haben. Während und nach dem deutschen Einigungsprozeß sind aber nur vereinzelt Stimmen erhoben worden, die die Vergleichbarkeit beider Regelungsmaterien vertrat. Nur wenige hielten den Einigungsprozeß wegen der endgültigen Gebietsabschreibung der Oder-Neiße-Gebiete und der "Schmälerung" der deutschen Staatsangehörigkeit für mit Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar. Entsprechende Verfassungsklagen einschließlich aller staatsangehörigkeitsrechtlichen Implikationen wurden vom BVerfG als "unzulässig" erachtet und zur Entscheidung erst gar nicht angenommen. Dabei ging das BVerfG entsprechend der h.M. in der Literatur von einer nach wie vor "bestehenden deutschen Staatsangehörigkeit" der in den jenseits der Oder-Neiße-Linie lebenden deutschen Minderheit aus. 311

308 309 310 311

Stern, BayVBl. 1991, S. 523f. Vgl. oben § 2. BVerfGE 4, S. 322ff ; vgl. dazu oben § 8. BVerfG v. 8.9.1993 - 2 BvR 2124 / 92 und 2BvR 2127 / 92 -, NJW 1994, S. 1402.

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

2. Mittelbare Auswirkungen Allerdings hat der Gebietswechsel mittelbare Auswirkungen auf die deutsche Staatsangehörigkeit. 312 Die jenseits der Oder-Neiße-Linie gelegenen Gebiete gelten nach Vollendung der Wiedervereinigung nicht mehr als "Inland" i.S.d. staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen. Das hat im Rahmen der Erlöschenstatbestände beispielsweise zur Folge, daß die dort lebenden deutschen Staatsangehörigen als "Auslandsdeutsche" gelten. § 25 Abs. 1 RuStAG ist damit uneingeschränkt auch auf diesen Personenkreis anwendbar, wenn er von dort antragsgemäß eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt. 313 Die Vorschrift lautet: "Ein Deutscher, der im Inland weder seinen Wohnsitz noch seinen Aufenthalt hat, verliert die (deutsche) Staatsangehörigkeit mit dem Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit, wenn dieser Erwerb auf seinen Antrag ... erfolgt."

Ähnlich wirkt sich die Zuweisung der "Ostgebiete" als Ausland auch auf der Erwerbsseite aus. Beispielsweise setzen auch die Einbürgerungsvorschriften i.d.R "Inlandsaufenthalt" voraus. § 8 RuStAG bestimmt als Regel: "Ein Ausländer, der sich im Inland niedergelassen hat, kann .... eingebürgert werden ..." (Es folgen weitere Voraussetzungen).

Einbürgerungen können mithin grundsätzlich nicht mehr von den ehemaligen "Ostgebieten" her betrieben werden. 314

3. Wertung Letztendlich hat das beharrliche Festhalten an der Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit die Dynamik des Prozesses zur deutschen Einheit nicht verlangsamt. Deutschland erhielt seine Einheit früher als erwartet. Die deutsche Staatsangehörigkeit in den jenseits von Oder und Neiße gelegenen Gebieten ist nicht erloschen. Die davon betroffenen Deutschen stehen auch nach Vollendung der Einheit unter dem Schutz des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. Auch sie dürfen nach wie vor darauf vertrauen, daß ihre deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden darf. 312 Vgl. dazu Hans v. Mangoldt, Die Staatsangehörigkeitsfragen in bezug auf die Deutschen in der Republik Polen, S. 61ff. (68ff). 13 Auf diese Problematik ist schon in den Entscheidungen zu den "Ostverträgen" hingewiesen worden (Bd. 40, S. 14Iff.), vgl. dazu oben § 13; Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 102. 31 Es bleibt aber für diese Fälle die Möglichkeit des § 1 der Verordnung zur Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen v. 20.1.1942 (RGBl. I., S. 40), wonach im Ausnahmefall ein "Ausländer ohne Begründung einer Niederlassung im Inland eingebürgert werden kann".

4. Kàp. : Deutsche Staatsangehörigkeit in völkerrechtlichen Verträgen

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Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß die deutsche Einheit sich aus deutscher Sicht nur auf Kosten der Gebietsabtretung, nicht aber zu Lasten der davon betroffenen Inhaber der deutschen Staatsangehörigkeit vollzogen hat. Die Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit hatte sich im deutschen Einigungsprozeß bewährt. Sie ist nach seiner Vollendung nicht entfallen.

§ 14 Die deutsche Staatsangehörigkeit und der Vertrag von Maastricht I. Die Europäische Union Mit dem Maastrichter Vertrag wurde der bereits eingeleitete Prozeß der europäischen Integration um eine "neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas" weitergeführt (Art. A Abs. 2 EUV). 3 1 5 Durch den Unionsvertrag gründeten die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft eine "Europäische Union" (Art. A Abs. 1 EUV) untereinander. Die Europäische Union besteht aus der Europäischen Gemeinschaft (EG), der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) sowie ergänzend aus zwei mit dem Unionsvertrag eingeführten Formen der Zusammenarbeit, nämlich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art. B, 2. Spiegelstrich, Art. J EUV) und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (Art. B, 4. Spiegelstrich, Art. Κ EUV). 3 1 6 Dieses sog. "Dreisäulenkonzept" 317 (Art. A Abs. 3 Satz 1 EUV) soll die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen ihren Völkern kohärent und solidarisch gestalten (Art. A Abs. 3 Satz 2 EUV).

315 Vertrag über die Europäische Union unterzeichnet zu Maastricht am 7.2.1992 (Abi. EG Nr. C 191 v. 29.7.1992, S. 1) i.d.F. v. 24.6.1994 (Abi. EG Nr. C 241, S. 22); Zustimmungsgesetz v. 28. 12. 1992, BGBl. II, S. 1251.; abgedr. in: Bundesanzeiger (Hrsg.), Der neue EG-Vertrag auf der Grundlage des Vertrages über die Europäische Union, 1992; Glaesner, Europarecht, Gruppe 1. 316 Vgl. zum ganzen: Schachtschneider / Emmerich-Fritsch e / Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, in: JZ 1993, S. 75Iff ; Lenz, Der Vertrag von Maastricht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1993, S. 3038ff; Henrichs, Der Vertrag über die Europäische Union und seine Auswirkungen auf die Verfassungen der Mitgliedstaaten, in: DÖV 1994, S. 368; Ress, Die Europäische Union und die neue Qualität der Beziehungen zur EG, in: JuS 1992, S. 985ff.; Murswiek, Maastricht und der pouvoir constituant, in: Der Staat 32 (1993), S. 161ff.; di Fabio, Der neue Artikel 23 GG, in: Der Staat 32 (1993), S. 191ff.; Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz, DVB1. 1993, S. 629ff.; Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, S. 585ff.; Wolf, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht, in: JZ 1993, S. 594ff.; Kirchner / Haas, Rechtliche Grenzen der Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft, in: JZ 1993, S. 760ff. 317 Maastricht-Entscheidung des BVerfG v. 12.10.1993 (BVerfGE 89, S. 155ff.

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

Politisches und rechtliches Führungsorgan ist der Europäische Rat, also die Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie des Kommissionspräsidenten 318 Von dem Rat sollen die für die Entwicklung erforderlichen Impulse sowie die weiteren allgemeinen politischen Zielvorstellungen gegeben werden (Art. D EUV). Die bisherige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ist gem. Art. G EUV zur Europäischen Gemeinschaft (EG) mit zusätzlichen Aufgaben und Befugnissen erweitert worden. Allerdings hält auch der erweiterte EGV-Vertrag am Prinzip der beschränkten Einzelermächtigungen fest (Art. 3b Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 Satz 2. Art. 4a. Art. 4b, Art. 189 Abs. 1 EGV) 3 1 9 Neu hinzugekommen ist das sog. Subsidiaritätsprinzip des Art. 3b Abs. 2 E G V . 3 2 0 Danach fällt der EG nur in den Bereichen die ausschließliche Zuständigkeit zu, in denen die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebenen der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene verwirklicht werden können. Weitere Aufgaben sind in der EG für - Bildungspolitik (Art. 126 EGV). - Berufsbildungspolitik (Art. 127 EGV). - Kulturpolitik (Art. 128 EGV), - Gesundheitspolitik (Art. 129 EGV). - den Verbraucherschutz (Art. 129a EGV) und - transeuropäische Netze (Art. 129b ff. EGV) begründet. Zugleich ist das seit 1972 geplante Wirtschafts- und Währungssystem gem. Art. 102a ff. EGV weiter entwickelt worden. 321 Die bereits am 1. Juli 1990 begonnene sog. Konvergenzstufe 322 der Wirtschafts- und Währungsunion ist am 1. Januar 1994 um eine zweite Stufe, die sog. Koordinierungsstufe 323 , erweitert worden. Gem. Art. 109e EGV ist zu diesem Zweck Vorsorge zur Erreichung von Preisstabilität, zur Sanierung der öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten und für einen angemessenen öffentlichen Schuldenstand der Mitgliedstaaten zu treffen. Nach Art. 4a i.V.m Art. 105 ff. EGV soll in einer spätestens am 1. Januar 1999 beginnenden dritten Stufe die gesamte Währungspolitik (Geld, Kredit, Zins- und Wechselkurspolitik) von der EG durch

318

BVerfGE 89. S. 155ff. (159). Ebenda. S. 159. 320 Zum Begriff: Geiger, EG-Vertrag. Kommentar zu dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Art. 3b Rdnr. 4ff.; Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: AöR 1994, S. 169ff. 321 BVerfGE 89. S. 155ff. (160f.). 322 Zum Begriff: Geiger, EG- Vertrag, Art. 103 Rdnr. 3ff. 323 Art. 109e EGV: dazu Geiger, EG-Vertrag. Art. 109e Rdnr. Iff. 319

4. Kap.: Deutsche Staatsangehörigkeit in völkerrechtlichen Verträgen

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eine zu diesem Zweck gegründete, unabhängige Europäische Zentralbank geregelt werden. 324 Beigefügt ist dem Unionsvertrag ein mit Ausnahme von England abgeschlossenes Abkommen über die Sozialpolitik. 325 Danach soll die EG die Tätigkeit der Mitgliedstaaten insbesondere in den Bereichen Arbeitsumwelt so\vie Gestaltung von Arbeitsbedingungen. Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz sowie berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen unterstützen. Schließlich führte der Unionsvertrag (Art. B, 3. Spiegelstrich EUV) eine sog. Unionsbürgerschaft 326 ein. Sie wird aus der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates zur Europäischen Gemeinschaft abgeleitet (Art. 8 EGV). Nach Art. 8a EGV vermittelt die Unionsbürgerschaft das Recht der Freizügigkeit. nach Art. 8b EGV das aktive und passive Wahlrecht zu kommunalen Vertretungskörperschaften sowie zum Europäischen Parlament im Wohnsitzstaat. Insoweit löst die Unionsbürgerschaft das Wahlrecht von der Staatsangehörigkeit. Subsidiär genießt jeder Unionsbürger diplomatischen und konsularischen Schutz eines jeden Mitgliedstaates nach Maßgabe des Art. 8c EGV. Darüber hinaus gewährt Art. 8d EGV jedem Unionsbürger das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament im Rahmen des Art. 138d EGV sowie das Recht, sich an den nach Art. 138e EGV eingesetzten Bürgerbeauftragten zu wenden. Art. 8e EGV beinhaltet die Möglichkeit und Form der Weiterentwicklung vorgenannter Rechte. 327

II. Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit der deutschen Staatlichkeit?

durch "Relativierung"

Die Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz vom 28. Dezember 1992 zum Vertrag 328 vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union sowie gegen das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes 329 vom 21. Dezember 1992 sind 324

Dazu: Kokott. Deutschland im Rahmen der Europäischen Union, S. 207ff.(226ff.). Das Vorhaben, über Art. 117 EGVff. hinausgehende sozialpolitische Bestimmungen aufzunehmen. scheiterte am Veto des Vereinigten Königreichs. Die übrigen elf Mitgliedstaaten schlossen jedoch ein Abkommen zur Sozialpolitik. Die dem Unionsvertrag beigefugte Protokollerklärung ermächtigt sie, das Abkommen als eine nur sie betreffende Regelung des Gemeinschaftsrechts zu behandeln. Geiger, Art. 117 Rdnr. 3. 326 Zum Begriff: Georg Fischer. Unionsbürgerschaft, 1992; vgl. auch: Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970. 327 Zum ganzen Streinz, Europarecht Rdnr. 696; d'Oliveira, European Citizenship: Its Meaning, Its Potential, S. 126ff. 328 Zustimmungsgesetz v. 28.12.1992: BGBl. II. S. 1251. 329 Vom 21.12.1992: BGBl. I. S. 2086. 325

8 Ziemske

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Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

zwar ausdrücklich nicht auf eine Verletzung des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG gestützt worden. 330 Doch betrafen die Rügen Grundrechte, insbesondere auch Art. 1 Abs. 1 GG i. V.m. 79 Abs. 3 GG, die in ihrem Inhalt und in ihrem Geltungsgrund auf den nach dem Grundgesetz verfaßten Staat angewiesen sind. Es wurde vorgetragen, daß die Beschwerdeführer ihren Grundrechtsadressaten und Garanten verlören und dadurch substantiell in ihren Rechten verletzt würden. Einer der Hauptvorwürfe bestand darin, daß das Maastrichter Vertragswerk das Prinzip der deutschen Staatlichkeit über die Maßen relativiere, was Art. 20 GG i. V.m. Art 79 Abs. 3 GG nicht zulasse. Unter Berufung auf die Entscheidungen des BVerfG zum kommunalen Ausländerwahlrecht 332 schlußfolgerten die Beschwerdeführer das Prinzip der deutschen Staatlichkeit u.a. aber auch aus Art. 116 GG. 3 3 3 Art. 116 Abs. 1 GG erhalte seinen Sinn erst dadurch, "daß der Träger der deutschen Staatsgewalt im Ausgangspunkt durch die Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen zu definieren ist". 3 3 4 Daraus leiteten die Beschwerdeführer ab. daß alle Staatsgewalt vom deutschen Volke ausgehen müsse und "ein freiheitliches Gemeinwesen des deutschen Volkes nur als deutsche Staatlichkeit" 335 verfaßt sein könne. Zwar sei es ein erstrebenswertes Ziel, daß die Europäischen Nationen sich in eine Europäische Nation wandeln, aber die Verfassungen der Völker seien noch national. Die geschichtliche Entwicklung zu einer Europäischen Nation könne nur durch neue Verfassungen rechtens gestaltet werden. Die europäische Bevölkerung, die Unionsbürger, wie sie Art. 8 ff. EGV nennt, seien weitestgehend durch ihre in hohem Maße säkularisierte politische Grundhaltung zwar homogen. Das erlaube jedoch nicht, über die Verfassungsentscheidungen der Völker, insbesondere des deutschen Volkes, hinwegzugehen. 3 3 6 Ohne Willensakt der Völker könne die Staatlichkeit des jeweiligen Volkes rechtens nicht aufgehoben werden. Selbstverständlich sei der Schritt zur Schaffung eines europäischen Volkes keinesfalls. Auch die sich als Vorstufe des Vereinten Europas verstehende Begründung einer Europäischen Union sei

330 Vgl. hierzu: Peter M. Huber, Maastricht - ein Staatsreich?, 1993; Murswiek, Maastricht - nicht ohne Volksentscheid, SZ Nr. 237 v. 14.10.1992, S. 11; Philipp, ZRP 1992, S. 433 - 438; Rupp, NJW 1993, S. 38ff. 331 Peter M. Huber, Maastricht - ein Staatsreich?. S. 15ff. 332 BVerfGE 83, S. 37ff. 333 Antragsschrift des Bevollmächtigten Schachtschneider v. 18.12.1992, S. 35; dazu auch Peter M. Huber, Maastricht - ein Staatsreich?, S. 31 f. 334 BVerfGE 83, 37ff. (51) 335 Schachtschneider. Antragsschrift S. 35. 336 Ebenda, S. 36.

4. Kap.: Deutsche Staatsangehörigkeit in völkerrechtlichen Verträgen

115

bereits ein wesentlicher Schritt zum Staate Europa, der die Staatlichkeit der Völker, wenn nicht beende, so doch wesentlich einschränke. 337 Die Einwirkung der europäischen Völker verändere auch den Grundrechtschutz der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik: 338 "Wenn das Volk der Europäischen Gemeinschaft, die Unionsbürger im Sinne der Art. 8 ff. EGV, die Staatsgewalt ausübt, mag das die Menschenwürde beispielsweise nicht schlechter schützen, als wenn das deutsche Volk diesen Schutz verantwortet, aber der Menschenwürdeschutz ist notwendig ein anderer. Voraussetzung für die Legalität des Menschenwürdeschutzes durch die Unionsbürger wäre, daß die staatliche Gewalt der EG von der Verfassung der Deutschen eingerichtet ist, so lange es noch einen deutschen Staat gibt. Die Aufhebung der deutschen Staatlichkeit setzt jedoch eine neue Verfassung voraus. Eine gesetzgeberische Verfassungsänderung genügt dafür nicht."

Die Weiterentwicklung der Gemeinschaften zur Europäischen Union überschreite diese Grenze deutlich. Die Staatlichkeit in Deutschland sei nach dieser Revision des primären Gemeinschaftsrechts nicht mehr hinreichend "deutsch". 339 Die Verfassungsrügen standen und fielen mit der Beurteilung, ob die deutsche Staatlichkeit substantiell durch die neue Kompetenzlage in einer Weise beeinträchtigt wird, die Art. 20 GG nicht zuläßt, weil die Staatsgewalt nicht mehr wesentlich von ausschließlich deutschen Organen nach dem Grundgesetz ausgeübt wird. Wenn die Beschwerdeführer das Thema der deutschen Staatsangehörigkeit auch nicht ausdrücklich zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde machten, so nahmen sie doch indirekt unter Bezugnahme auf die Ausübung der deutschen Staatsgewalt durch das deutsche Volk darauf Bezug. Unmittelbar hätte eine Verfassungsbeschwerde auf Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG deshalb nicht gestützt werden können, weil auch nach Ansicht der Beschwerdeführer die deutsche Staatsgewalt nicht gänzlich aufgehoben, sondern allenfalls in einen neu zu gründenden europäischen Bundesstaat übertragen wird. Selbst wenn aber der Gründungsvertrag zur Europäischen Union bereits einen europäischen Bundesstaat konstituiert haben würde, so wäre doch damit die Staatlichkeit seiner Gliedstaaten gerade vorausgesetzt geblieben. Denn in einer bundesstaatlichen Ordnung ist das Bestehen mehrerer Staatsangehörigkeitsverhältnisse zum Bunde wie auch zu den Gliedstaaten selbstverständlich. 340

337

Ebenda.; dazu auch: Schachtschneider / Emmerich-Fritsche

/ Beyer, in: JZ 1993, S. 75 Iff.

(754fr.). 338

Schachtschneider. Antragsschrift, S. 5. Ebenda. 340 Ingo v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 74 Rdnr. 31; Maunz/ Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 4 I 3. 339

116

Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

Das unterstrich ausdrücklich die bis zum 15. November 1994 geltende Fassung der kompetentiellen staatsangehörigkeitsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes zur Regelung der Staatsangehörigkeit im Bunde gem. Art. 73 Nr. 2 GG sowie der konkurrierenden Zuweisung zur Regelung der Staatsangehörigkeit in den Ländern gem. Art 74 Nr. 8 GG a.F. 341 Auch historisch sowie rechtsvergleichend betrachtet, wird deutlich, daß Staatsangehörigkeit in bundesstaatlichen Ordnungen immer eine mehrfache Staatsangehörigkeit war. Das veranschaulichen die Regelungen zur Staatsangehörigkeit nach der Reichsgründung des Norddeutschen Bundes von 1867 überleitend zum Deutschen Reich von 1871. dokumentiert durch das Gesetz zur Regelung von Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit aus dem Jahre 1870. 342 Rechtsvergleichend ist die Parallelität von Gliedstaatsangehörigkeit und Bundesstaatsangehörigkeit in den bundesstaatlichen Ordnungen der Vereinigten Staaten von Amerika 3 4 3 sowie der Schweiz 344 ausgedrückt. Auch das BVerfG sah keine unmittelbare Betroffenheit des Schutzbereiches der deutschen Staatsangehörigkeit gegeben. Das BVerfG wies die Verfassungsbeschwerde aus anderen Gründen als unbegründet zurück. 345 Es hält den Unionsvertrag in seiner Entscheidung vom 12. Oktober 1993 für verfassunsgemäß. Der Unionsvertrag begründet keinen Staat, sondern nur einen europäischen " Staatenverbund" 3 4 6 Dieser wird von den Mitgliedstaaten getragen. Deren nationale Identität und Souveränität werden weiterhin geachtet. Die Bundesrepublik Deutschland ist auch nach wie vor Mitglied einer supranationalen Organisation, nicht aber gehört sie einem europäischen Staate an. Der Europäischen Union fehlt es an einer ausreichenden Staatsgewalt.347 Sie ist nach wie vor an das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gehalten. Eine Kompetenz-Kompetenz für die Europäische Union ist auch mit dem Unionsvertrag nicht begründet worden. Zwar ist nicht zu leugnen, daß die Staatengemeinschaft ein vermehrtes Maß an Hoheitsbefugnissen eingeräumt bekommen hat. Doch dies ist durch die Offenheit für Bindungen in der Völkerrechtsgemeinschaft im Grundgesetz selbst angelegt. In der Präambel des Grundgesetzes sowie in Art. 23 und 24

341 Ohne die Staatlichkeit der Länder in Frage zu stellen, wurde Art. 74 Nr.8 GG durch Gesetz v. 27.10.1994 (BGBl. I, S. 3146) aufgehoben; vgl. dazu unten § 34 unter I. 342 Thedieck, Deutsche Staatsangehörigkeit im Bund und in den Ländern, S. 3 3 ff. 343 Eine rechtsvergleichende Untersuchung zur bundesstaatlichen Ordnung und ihre Auswirkung im Staatsangehörigkeitsrecht der USA enthält: Lang, Grundkonzeption und Entwicklung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, S. 14Iff.; vgl. auch Anhang § 19 unter I. 344 Häfelin / Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, S. 53ff. u. 163ff.; vgl. auch Anhang § 16 unter I. 345 BVerfGE 89, S. 155ff. (18Iff.). 346 Ebenda. S. 181. 347 Ebenda, S. 182f.

4. Kap.: Deutsche Staatsangehörigkeit in völkerrechtlichen Verträgen

117

GG ist ausdrücklich geregelt, daß die Bundesrepublik Deutschland ein gleichberechtigtes Glied in zwischenstaatlichen Einrichtungen und insbesondere bei der Weiterentwicklung der Europäischen Union sein soll. 3 4 8 Die Europäische Union ist nach ihrem Selbstv erständnis allerdings noch ein supranational organisierter Staatenverbund. Sie ist eine Union der Völker Europas (Art. A Abs. 2 EUV). Darin ist zwar ein dynamischer Entwicklungsprozeß angelegt. Dies ändert aber nichts daran, daß es sich gem. Art. C Abs. 1 EUV um einen "Verbund demokratischer Einzelstaaten" handelt. 349 Die Unionsbürgerschaft ist noch keine Staatsangehörigkeit. Denn die Union selbst ist mangels Staatsgewalt noch kein eigenständiger Staat. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß über die Unionsbürgerschaft ein auf Dauer angelegtes rechtliches Band geknüpft wird zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten. Dieses "rechtliche Band" besitzt aber noch keine einer Zugehörigkeit "zu einem Staat vergleichbaren Dichte". 3 5 0 Wenngleich der Unionsbürgerschaft in den Art. 8a bis c rechtlich verbindlichen Ausdruck verliehen ist. kommt ihr aber keine "existentielle Gemeinsamkeit" zu. 3 5 1 Denn jeder der Mitgliedstaaten ist nach wie vor Ausgangspunkt für eine auf ihn selbst bezogene Staatsgewalt. Die Staaten besitzen nach wie vor hinreichend bedeutsame eigene Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann. Nur die Mitgliedstaaten selbst sind es, die relativ homogen, geistig, sozial und politisch verbunden sind. 3 5 2 Die Europäische Union ist mithin selbst nicht souverän. Souverän sind nur die Einzelstaaten des "supranationalen Staatenverbundes". Darauf kann sich aber kein europäisches Staatsvolk stützen. Die Mitglieder bleiben als souveräne Staaten "Herren der Verträge". 353 Sie können die Zugehörigkeit zu dem "Staatenverbund" letztlich sogar auch durch einen gegenläufigen Akt, nämlich den Austritt, wieder aufheben. 354 Deutschland hat folglich mit dem Beitritt zur Europäischen Union den Status seiner souveränen Gleichheit mit anderen Staaten i.S.d. Art. 2 Nr. 1 der Charta der Vereinten Nationen 355 vom 26. Juni 1945 gewahrt. Die Union

348

Ebenda, S. 184. BVerfGE 89. S. 155ff. (184). 350 Ebenda. 351 Ebenda. 352 Vgl. hierzu Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 421, 427ff. 353 BVerfGE 89, S. 155ff. (190). 354 Dazu: Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union, S. 207ff. (223ff.). 355 BGBl. 1973 II, S. 430. 349

118

Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

besitzt weder im Verhältnis zu der EG noch zu den einzelnen Mitgliedstaaten eine besondere Rechtspersönlichkeit. Durch den Vertrag von Maastricht in der Interpretation des BVerfG hat es keine "Relativierung" der Staatlichkeit gegeben. Schon aus diesem Grunde sind keine relevanten Auswirkungen auf die deutsche Staatsangehörigkeit zu verzeichnen, die in die Nähe eines "Entzuges" einzuordnen wären.

5. Kapitel

Zusammenfassende Darstellung zur Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit 1. Deutschland stand nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum "Zwei-plusVier-Vertrag" vom 12. September 1990 unter Alliertem Vorbehalt. Auch staatsangehörigkeitsrechtlich hatte die besondere Rechtslage Deutschlands Folgen. 2. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG trug dieser besonderen Bedeutung im Staatsangehörigkeitsrecht Rechnung: "Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden". 3. Das in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG enthaltene Entzugsverbot stabilisierte für die am 23. Mai 1949 konstituierte und mit dem Deutschen Reich teilidentische Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland den Bestand der deutschen Staatsangehörigkeit, wie er vorgefunden wurde. 4. Die Stabilitätsfunktion beinhaltete die grundsätzliche Pflicht zur Aufnahme aller deutschen Staatsangehörigen in den Staatsverband, unabhängig davon, wo sie territorial lebten und unabhängig auch davon, wo sie die deutsche Staatsangehörigkeit erwarben. 5. Auch die millionenfachen "Sammeleinbürgerungen" nationalsozialistischer Zeit unterfielen grundsätzlich dem Schutz des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. 6. Eine Ausnahme galt - allerdings nicht unumstritten - für die infolge des Anschlusses vom 13. März 1938 kraft "Sammeleinbürgerung" aufgenommenen Österreicher. Für sie enthielt das" Zweite Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit" vom 17. Mai 1956 eine Sonderregelung: Ihre deutsche Staatsangehörigkeit galt mit dem Tag der Wiedererrichtung Österreichs am 27. April 1945 "als erloschen".

5. Kap.: Zusammenfassende Darstellung zur Stabilitätsfunktion

119

7. Die deutsche Staatsangehörigkeit wurde auch von den Staatsorganen der ehemaligen DDR konserviert. Bis zum Inkraftreten des Staatsbürgerschaftsgesetzes aus dem Jahre 1967 geschah dies ausdrücklich. 8. Auch nach offizieller Einführung der "Staatsbürgerschaft der DDR" setzte die ehemalige DDR die deutsche Staatsangehörigkeit als bestehend für ihre eigene Rechtsordnung voraus. 9. Die "Staatsbürgerschaft der DDR" war von bundesdeutscher Seite mit dem Grundlagenvertrag vom 8. November 1972 anerkannt, allerdings ohne die "deutsche Staatsangehörigkeit" für ihre Inhaber abzuerkennen. 10. Diese Anerkennung wurde im Grundlagenvertragsurteil des BVerfG vom 31. August 1973 ausdrücklich bestätigt. 11. Die von dem ehemaligen Vorsitzenden des DDR-Staatsrats und Generalsekretär des SED-Zentralkomitees Erich Honnecker initiierte, in der Geraer Erklärung vom 13. Oktober 1980 ausdrücklich formulierte und von Teilen westdeutscher Politiker befürwortete Forderung nach "Anerkennung" der ehemaligen DDR-Staatsbürgerschaft machte wortwörtlich daher keinen Sinn. 12. Diese Forderung löste eine "Gespensterdiskussion" aus. Denn die Formulierung "Anerkennung" verbarg die tatsächlich hinter ihr stehende Intention. Inhaltlich ging es der ehemaligen DDR-Führung um die kollektive, zwangsweise "Aberkennung" und damit den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit für ihre ca. 17 Millionen Staatsbürger. 13. Daß die vom BVerfG im Grundlagenvertragsurteil formulierte und in seiner Teso-Entscheidung vom 21. Oktober 1987 bestätigte "Rechtsposition" der Einheitlichkeit der deutschen Staatsangehörigkeit nicht ins Wanken geriet und somit den Weg zur Wiedenereinigung offenhielt, lag an der Stabilisierung der deutschen Staatsangehörigkeit durch das Grundgesetz, insbesondere am Wiedervereinigungsgebot, letztlich aber am Entzugsverbot des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. 14. Völkerrechtliche Verträge der Bundesrepublik Deutschland, wie etwa die Ostverträge mit der ehemaligen Sowjetunion (Moskauer Vertrag vom 12. August 1970) und der ehemaligen Volksrepublik Polen (Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970) sowie der Maastrichter Unionsvertrag vom 7. Februar 1992, haben den Bestand der deutschen Staatsangehörigkeit nicht unmittelbar berührt. 15. Im abschließenden Vertrag zur Regelung der Grenzen Deutschlands, dem "Zwei-plus-Vier-Vertrag" vom 12. September 1990 sowie seinen Folgeabkommen, sind staatsangehörigkeitsrechtliche Fragen ausdrücklich nicht angesprochen.

120

Teil 1 : Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit

16. Wenngleich territorial die Grenzen des wiedenereinigten Deutschlands damit endgültig festgelegt sind, bleibt den Deutschen in den östlich der OderNeiße-Linie gelegenen Gebieten die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Die "abschließende Gebiets"zuweisung hat nur mittelbar Auswirkungen im Staatsangehörigkeitsrecht. Soweit nämlich staatsangehörigkeitsrechtliche Regelungen an den Aufenthaltsort anknüpfen, gelten die jenseits der OderNeiße gelegenen Gebiete als "Ausland". 17. Dem Schutz der dort lebenden deutschen Staatsangehörigen dient auch nach Vollendung der Wieden ereinigung Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. 18. Das verfassungsrechtliche Entzugsverbot des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG und die in ihm angelegte Stabilitätsfunktion sind aus diesem Grunde nach wie vor von Bedeutung.

Teil 2

Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

1. Kapitel

Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht 1. Abschnitt: Das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland § 15 Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit

/. Originärer

Erwerb (Geburtserwerb)

Die deutsche Staatsangehörigkeit wird originär "durch Geburt" erworben (§ 3 RuStAG). Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 RuStAG erwirbt "ein Kind die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt". Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht folgt damit dem ius sanguinis (Abstammungsgrundsatz), und zwar ausnahmslos.1 Ein nichteheliches Kind erwarb gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 RuStAG a.F. bis zum 30. Juni 1993 die Staatsangehörigkeit nur, wenn seine Mutter Deutsche war. 2 Der deutsche Vater konnte sie automatisch nicht auf nichteheliche Abkömmlinge übertragen. Das Kind besaß nur befristete Einbürgerungsansprüche.3

1

Makarov / v. Mangoldt, § 4 Rdnr. 3; Weidelener / Hemberger, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Einl. S. 9f.: Hailbronner / Renner, Kommentar zum Staatsangehörigkeitsrecht, § 4 Rdnr. 4. 2

Dazu: Makarov / v. Mangoldt, § 4 Rdnr. 9.

122

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

Die Reform des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes anläßlich des Gesetzes zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften vollzog die gebotene staatsangehörigkeitsrechtliche Gleichstellung der nichtehelichen Kinder im Verhältnis zu ehelichen Abkömmlingen (Art. 6 Abs. 5 GG) sowie der Elternteile untereinander (Art. 3 Abs. 2 GG). Mit Wirkung zum 1. Juli 1993 wurde § 4 RuStAG entsprechend neugefaßt. 4 Nach der Novelle erwerben nunmehr auch nichteheliche Kinder deutscher Väter originär die Staatsangehörigkeit. Es bedarf allerdings aus Gründen der Mißbrauchsverhütung "zur Geltendmachung des Erwerbs einer nach deutschen Gesetzen wirksamen Feststellung der Vaterschaft". 5 Ebenfalls vom Abstammungsgrundsatz geprägt ist die Findelkindregelung des § 4 Abs. 2 RuStAG: 6 Ein Kind, das im Inland "aufgefunden" wird (Findelkind), "gilt" als Kind eines Staatsangehörigen.7 Teilweise wird in der Regelung für Findelkinder eine Anwendung des Territorialprinzips gesehen.8 Da ein Findelkind jedoch nicht zwingend an dem Ort geboren sein muß, an dem es aufgefunden wird, ist in dieser Regelung keine Anknüpfung an das ius soli zu sehen.9 Mangels anderer Anknüpfung wird vermutet, daß das in Deutschland aufgefundene Kind von Deutschen abstammt.

3 § 10 RuStAG sowie Art. 2 des Ausführungsgesetzes zum Übereinkommen über die Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit v. 29.6.1977 (BGBl. I, S. 1101).; abgedr. bei Weidelenerl Hemberger, S. 233f. 4 BGBl. 1993 I, S. 1062); vgl. dazu: Sturm, Der neue § 4 Abs. 1 RuStAG, in: StAZ 1994, S. 273ff.

Da die bei ehelich geborenen Kindern über die tatsächliche Abstammung vom Ehemann der Mutter geltende Vaterschaftsvermutung des § 1591 BGB bei den nichtehelichen Kindern durch die förmliche Feststellung der Vaterschaft (Anerkenntnis oder gerichtliche Entscheidung) ersetzt wird (§ 1600a BGB), war es erforderlich, die Geltendmachung des Abstammungserwerbs bei nichtehelichen Kindern deutscher Väter von einer wirksamen Feststellung der Vaterschaft abhängig zu machen. Damit ist zwar offensichtlich, daß das von keinerlei biologischem Nachweis abhängige Anerkenntnis der Vaterschaft die Möglichkeit eines Mißbrauchs dieser Vorschrift im Sinne der problemlosen Einwanderung nach Deutschland bietet. Andererseits erscheint es aber auch kaum vertretbar, an die Feststellung der Vaterschaft im Staatsangehörigkeitsrecht andere Maßstäbe anzulegen als im Familienrecht. Auch der Abstammungserwerb des ehelichen Kindes ist vor dem Hintergrund der familienrechtlichen Vorschriften geregelt. Der Mißbrauchsgefahr wird jedoch durch die Einführung einer Altersgrenze für die Feststellung der Vaterschaft teilweise Rechnung getragen; Begründung des Gesetzentwurfs: BT-Drs. 12 / 4450, S. 36. 6

Hailbronner

/ Renner, Kommentar, § 4 Rdnr. 26ff.

7

Mit Findelkind wird ein Kind bezeichnet, das infolge seines Alters hilflos ist und über dessen Herkunft keine hinreichenden Anhaltspunkte über seine Abstammung zu entnehmen sind V. Keller / Trautmann, S. 71. 8 9

Ebenda, Lichter / Hoffmann,

S. 65.

Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 75; Weidelener Renner, Kommentar, § 4 Rdnr. 27.

/ Hemberger, Einl. S. 9£; Hailbronner

/

1. Kap.:

IL Derivativer

123

eutsche Staatsangehörigkeit

Erwerb (nachträglich

abgeleiteter Erwerb)

1. Legitimation Nachträglich kann die deutsche Staatsangehörigkeit durch Legitimation erworben werden (§ 3 Nr.2 RuStAG). Unter Legitimation ist die "Verehelichung" nichtehelich geborener Kinder zu verstehen. 10 Sie erfolgt nach deutschem Recht in drei Arten: durch nachfolgende Eheschließung (§ 1719 BGB), durch Ehelicherklärung auf Antrag des Vaters (§ 1723 BGB) oder durch Ehelicherklärung auf Antrag des Kindes (§§ 1740a ff. BGB). 11 Die staatsangehörigkeitsrechtlichen Folgen des Legitimationserwerbs umschreibt § 5 RuStAG: "Eine nach deutschen Gesetzen wirksame Legitimation durch einen Deutschen begründet für das Kind die Staatsangehörigkeit des Vaters".

2. Adoption Gem. § 3 Nr. 3 RuStAG wird die deutsche Staatsangehörigkeit auch durch "Annahme als Kind" (Adoption) erworben. 12 Die Adoption dient der familienrechtlichen Eingliederung von Außenstehenden in die Adoptivfamilie. Sie begründet kraft Gesetzes ein Eltern-Kind-Verhältnis unter gleichzeitigem Erlöschen bisheriger Verwandtschaftsverhältnisse (§ 1741 BGB). Staatsangehörigkeitsrechtlich hat aber nicht jede Adoption den nachträglichen Erwerb der Staatsangehörigkeit zur Folge. 13 Der Erwerb tritt nur unter den nachfolgenden Voraussetzungen des § 6 RuStAG ein: "Mit der nach deutschen Gesetzen wirksamen Annahme als Kind durch einen Deutschen erwirbt das Kind, das im Zeitpunkt des Annahmeantrags das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, die Staatsangehörigkeit. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit erstreckt sich auf die Abkömmlinge des Kindes".

Nach § 6 RuStAG erwirbt damit nur das Kind bei Volladoption durch einen Deutschen die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Altersgrenze ist in der seit 1. September 1986 geltenden Fassung genau bestimmt und auf 18 Jahre festge10

Palandt, Kommentar zum BGB, § 1719 Rdnr. 1 m.\v.N.

11

Vgl. dazu: Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 76. Von der Legitimation zu unterscheiden ist die "Namenserteilung" (Einbenennung) i.S.d. § 1618 BGB. Sie hat keine über das bloße Recht zum Führen des Namens hinausgehende familien- oder staatsangehörigkeitsrechtliche Wirkung. 12 Zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen im einzelnen: Hailbronner keitsrecht, § 6 RuStAG, Rdnr. Iff. 13

/ Renner, Staatsangehörig-

Zur Wirksamkeit einer "ausländischen" Adoption: VGH Mannheim NJW 1992, S. 3117f.

124

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

legt. Staatsangehörigkeitsrechtlich hat damit die familienrechtliche Adoption Volljähriger (§§ 1767ff., insbes. auch § 1772 BGB) keine Auswirkung. 14

3. Einbürgerung Hauptsächlicher derivativer Erwerbstatbestand ist allerdings die Einbürgerung (§ 3 Nr.4 RuStAG). Einbürgerung ist die Verleihung der Staatsangehörigkeit an Ausländer. 15 In der Regel bedarf sie keines besonderen geburtsoder familienrechtlichen Bezuges. Sie erfolgt in der Regel durch Verwaltungsakt. 16 Die wesentlichen Einbürgerungstatbestände sind §§ 8ff. RuStAG; §§ 85 ff. AuslG; Art. 116 Abs. 2 GG; §§ 6 ff. l.StaRegG.

a) Ermessenseinbürgerung Der Regelfall der (Ermessens 17-)Einbürgerung ist in § 8 RuStAG formuliert: " ( l ) E i n Ausländer, der sich im Inland niedergelassen hat, kann auf seinen Antrag eingebürgert werden, wenn er 1. nach den Gesetzen seiner bisherigen Heimat unbeschränkt geschäftsfähig ist oder nach den deutschen Gesetzen unbeschränkt geschäftsfähig sein würde oder der Antrag in entsprechender Anwendung des § 7 Abs. 2 Satz 2 von seinem gesetzlichen Vertreter oder mit dessen Zustimmung gestellt wird, 2. keinen Ausweisungsgrund nach § 46 Abs. 1 bis 4, § 47 Abs. 1 oder 2 des Ausländergesetzes erfüllt, 3. an dem Orte seiner Niederlassung eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen gefunden hat und 4. an diesem Orte sich und seine Angehörigen zu ernähren imstande ist. (2) Vor der Einbürgerung ist über die Erfordernisse unter Nr.2 bis 4 die Gemeinde des Niederlassungsorts und, sofern diese keinen selbständigen Träger der Sozialhilfe bildet, auch der Träger der Sozialhilfe zu hören."

§ 8 RuStAG setzt neben dem Antrag eines volljährigen Einbürgerungsbewerbers vor allem die inländische Niederlassung voraus. Nur ausnahmsweise kann ein Ausländer auch ohne Begründung einer Niederlassung im Inland

14

Vgl. Roman Dörr, StAZ 1978, S. 271ff. (272f.); Hellmuth Hecker sieht hierin einen Verstoß gegen Art. 3 I und Art. 6 I GG (StAZ 1988, S. 98ff. (99)). Nach Hailbronner / Renner ist die unterschiedliche Behandlung wegen der Volljährigkeit gerechtfertigt (Kommentar, § 6 Rdnr. 17). 15

Makarov, Allgemeine Lehren, S. 339.

16

Ebenda., S, 340ff.

17

Vgl. zum nachfolgenden: Makarov / v. Mangoldt, § 8 Rdnr. 7ff. m.w.N.

1. Kap.:

12

eutsche Staatsangehörigkeit

eingebürgert werden. § 1 der Verordnung zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit 18 vom 20. Januar 1942 setzt für diesen Fall aber ein entsprechend gewichtiges, staatliches Interesse an der Aufnahme in den Staatsverband voraus. 19 Eine zeitliche Mindestdauer des Aufenthaltes enthält § 8 RuStAG ausdrücklich nicht. Zudem muß der Einbürgerungsbewerber imstande sein, sich und seine Angehörigen am Aufenthaltsorte zu ernähren. 20 Ferner verlangt § 8 RuStAG das Fehlen spezieller Ausweisungsgründe nach den Bestimmungen des Ausländerrechts. Durch die Beschränkung auf spezielle Ausweisungsgründe nach dem Ausländergesetz sind Bagatellverstöße als Ablehnungsgrund einer Einbürgerung ausgeschlossen.21 Strafialligkeiten geringeren Ausmaßes, wie etwa die Verhängung von Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln nach dem Jugendgerichtsgesetz, Verurteilungen zu Geldstrafen bis zu 180 Tagessätzen und Verurteilungen zu Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt und nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen worden sind, bleiben damit außer Betracht. 22 Die Einbürgerung ist gemäß § 8 RuStAG in der Rechtsfolge in das pflichtgemäße Ermessen der Einbürgerungsbehörden gestellt; sie "kann" erfolgen. Bei der Ausübung des Ermessens gem. § 40 VwVfG ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerwG darauf abzustellen, ob ein staatliches Interesse an der beantragten Einbürgerung besteht.23 Individuelle Belange und Interessen des Einbürgerungsbewerbers sind nur insoweit von Bedeutung, als sie zugleich auch ein öffentliches Interesse an der Einbürgerung begründen. 24 Damit ist klargestellt, daß die Einbürgerung nicht dazu dient, das Staatsvolk planmäßig zu vermehren. Zielgerichtete Vergrößerung erfolgt nicht derivativ, sondern originär durch Geburtserwerb. 25 Zwecks gleichmäßiger Ausübung des Ermessens wurden zwischen dem Bundesminister des Innern und den Innenministern (Senatoren) der Länder 18

RGBl. I, S. 401; BGBl. III, 102 / 4.

19

Einbürgerungsrichtlinien 6.5.4; abgedr. bei Weidelener rigkeitsrecht, S. 247ff. (266f.).

/ Hemberger, Deutsches Staatsangehö-

20

Dazu Einbürgerungsrichtlinien 3.4; abgedr. bei Weidelener

21

BT-Drs. 12/4450, S. 36.

/ Hemberger, S. 247ff. (252).

22 Bis zum 1.7.1993 galt statt dessen der unbestimmte Rechtsbegriff "unbescholtener Lebenswandel". Wenn nunmehr die Entscheidung über das Einbürgerungsbegehren an das Vorliegen bestimmter Ausweisungsgründe geknüpft wird, ist damit insbes. der Forderung nach größerer Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zugunsten des Einbürgerungsbewerbers Rechnung getragen, vgl. BT-Drs. 12 / 4450, S. 36. 23 BVerwG NJW 1991, S. 226 im Anschluß an BVerwGE 75, S. 86ff. (88); BVerwGE 84, S. 93ff. (95). 24

Vgl. dazu auch: Einbürgerungsrichtlinien 2.2, abgedr. bei Weidelener

25

Vgl. dazu unten § 39.

/ Hemberger, S. 247.

126

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt Grundsätze für die Einbürgerung im Ermessenswege erlassen. 26 Die Einbürgerungsrichtlinien vom 15. Dezember 1977 ergänzen die in § 8 enthaltenen Mindestvoraussetzungen einer Einbürgerung um weitere "staatsbürgerliche und kulturelle Voraussetzungen" 27 , wie das Einstehen für die freiheitlich demokratische Grundordnung und Kenntnisse der deutschen Sprache. Als "zwischenstaatlichen Gesichtspunkt" verlangen sie insbesondere die Aufgabe oder den sonstigen Verlust bisheriger Staatsangehörigkeiten spätestens zum Zeitpunkt des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit. 28 Darüber hinaus stellen sie das Erfordernis der "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" auf. 29 In der Regel gilt diese Voraussetzung erst nach einem langjährigen, mindestens zehnjährigen Einleben in die deutsche Umwelt als nachgewiesen. Damit ist die Zielsetzung der Einbürgerung formuliert: Einbürgerung ist nicht Mittel, sondern Zweck der Integration. 30 Ehegatten deutscher Staatsangehöriger erwerben erleichtert die Staatsangehörigkeit. 31 Ihre Einbürgerung ist in das "gebundene Ermessen" gestellt. Gem. 9 RuStAG "sollen" sie unter den Voraussetzungen der Regeleinbürgerung des § 8 RuStAG die deutsche Staatsangehörigkeit erlangen. 32 Der Mindestaufenthalt ist für Ehegatten Deutscher darüber hinaus auf drei bis fünf Jahre reduziert. 33 Zusätzlich normiert § 9 Abs. 1 N r . l RuStAG ausdrücklich, daß die Betroffenen nur dann eingebürgert werden sollen, wenn sie "ihre bisherige Staatsangehörigkeit verlieren oder aufgeben".

26 Die Einbürgerungsrichtlinien sind nur abgestimmt. Es handelt sich nicht um "allgemeine Verwaltungsvorschriflen" i.S. des Art. 84 Abs. 2 GG. Die Veröffentlichung durch den Bund (GMB1. 1978, S. 16, ber. S. 27; GMB1. 1984, S. 521) ist für die Länder ohne rechtlich verbindliche Bedeutung. Für die Einbürgerungsbehörden werden sie erst dadurch verpflichtend, daß sie von den einzelnen Ländern als Verwaltungsvorschriften erlassen werden. 27

Einbürgerungsrichtlinien 3.1.

28

Zu den entwicklungspolitischen Interessen: BVerwG, NJW 1991, S. 650f. (651).; allgemein dazu: Einbürgerungsrichtlinien Nr.5, insbes. Nr.5.3. 29 30

Einbürgerungsrichtlinien Nr.3.2.; dazu auch: BVenvGE 85, S. 108ff. (119f.).

Bundesinnenministerium 1993, S. 15.

(Hrsg.), Mehrstaatigkeit hemmt Integration, in: Innenpolitik, I I I /

31 Nach der bis zum 31.3.1953 gültigen Fassung des alten § 6 RuStAG erwarben ausländische Frauen durch die Eheschließung mit einem Deutschen kraft Gesetzes die Staatsangehörigkeit ihres Mannes. Zwischen dem 1.4.1953 und 31.12.1969 besaßen mit einem Deutschen verheiratete ausländische Frauen einen Einbürgerungsanspruch. Wegen der Häufung von mißbräuchlichen "Scheinehen" zum Zwecke des Staatsangehörigkeitserwerbs stellte der Gesetzgeber die Ehegatteneinbürgerung zum 1.1.1970 wieder in das Ermessen der Einbürgerungsbehörden, wenngleich auch in "gebundener" Form. 32 Zur Ausübung des "gebundenen" Ermessens im Bereich der Ehegatten-Einbürgerung: BVerwG, NJW 1991, S. 650f.(651). 33

Einbürgerungsrichtlinien Nr.6.1.3.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

127

Zum 1. Juli 1993 ist die Gebühr für Einbürgerungen gem. § 38 RuStAG von 5000,- auf 500,- D M gesenkt worden. 34 Sie ist eine Festgebühr für den Regelfall, die deutlich unterhalb der Kostendeckungsgrenze liegt. 35 Aus Gründen der Billigkeit oder des öffentlichen Interesses kann eine Gebührenermäßigung oder -befreiung gewährt werden.

b) Anspruchseinbürgerung Das Einbürgerungsrecht unter der Herrschaft des Grundgesetzes stand zunächst vor der Aufgabe, den staatsangehörigkeitsrechtlichen Mißbrauch der nationalsozialistischen Zeit wiedergutzumachen sowie auf die kriegsbedingten Vertreibungen und Fluchtbewegungen großer Bevölkerungsteile insbesondere Osteuropas politisch zu reagieren. 36 In Art. 116 GG enthielt es die entsprechenden Voraussetzungen, angemessen auf die Bevölkerungsumwälzungen zu reagieren. Art. 116 Abs. 1 GG i.V.m. § 6 Abs. 1 des l.StaRegG gewährt auch Statusdeutschen einen Anspruch auf staatsangehörigkeitsrechtliche Gleichstellung. 37 § 6 Abs. 1 des l.StaRegG lautet: "Wer auf Grund des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes Deutscher ist, ohne die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen, muß auf seinen Antrag eingebürgert werden, es sei denn, daß Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß es die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik oder eines deutschen Landes gefährdet."

Nach § 8 des l.StaRegG haben unter gewissen Voraussetzungen auch deutsche Volkszugehörige, die die Rechtsstellung des Deutschen nach Art. 116 Abs. 1 nicht erworben haben und in ihre Heimat nicht mehr zurückkehren können, einen Anspruch, eingebürgert zu werden. 38 Vertriebene deutsche Volkszugehörige, die der deutschen Wehrmacht angehörten und keine neue Staatsangehörigkeit erworben haben, sind gem. § 9 Abs. 2 des l.StaRegG einzubürgern. 39 Gem. § 11 des l.StaRegG haben auch deutsche Volkszugehörige, die von den sog. "Sammeleinbürgerungen" im "Dritten Reich" ausgeschlossen waren oder die wegen Verfolgungsmaßnahmen in der damaligen Zeit eine fremde Staatsangehörigkeit erworben und dadurch die deutsche

34

Änderungsgestz v. 30.6.1993 (BGBl. I, S. 1062).

35

BT-Drs. 12/4450, S. 34.

36

Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 108.

37

BVerwGE 90, S. 173ff.; S. 181ff(186f.); zu den Einzelheiten: Liesner, Aussiedler, 1988.

38

Hailbronner

39

/ Renner, Kommentar, § 8 StangRegG, Rdnr. Iff. m.w.N.

Ebenda, § 9 StangRegG, Rdnr. Iff. m.w.N.

12

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

Staatsangehörigkeit verloren haben, einen entsprechenden Einbürgerungsanspruch. 40 Nach Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG haben während des "Dritten Reiches" aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen Zwangsausgebürgerte einen Anspruch auf Wiedereinbürgerung; 41 Satz 2 gewährt ihnen eine Einbürgerungsfiktion. 42 Für Personen, denen die Staatsangehörigkeit nicht entzogen wurde, sondern die sie aufgrund eines ausländischen Staatsangehörigkeitserwerbs (§ 25 RuStAG) verloren haben, enthält § 12 des l.StARegG eine Ergänzung des allgemeinen Wiedergutmachungsgedankens in Art. 116 Abs. 2 GG und gewährt einen darüber hinausgehenden Einbürgerungsanspruch: " ( l ) D e r Anspruch auf Einbürgerung steht auch dem früheren deutschen Staatsangehörigen zu, der im Zusammenhang mit Verfolgungsmaßnahmen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8.Mai 1945 vor Inkraftreten dieses Gesetzes eine fremde Staatsangehörigkeit erworben hat, auch wenn er seinen Aufenthalt im Ausland beibehält. (2) Der Anspruch auf Einbürgerung steht den Abkömmlingen der in Absatz 1 genannten Personen bis zum 31.Dezember 1970 zu."

Wegen des Bekenntnisses, Staatenlosigkeit zu verringern, wie es in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG zum Ausdruck kommt, haben gem. Art. 2 des Ausfuhrungsgesetzes zu dem Abkommen vom 30. August 1961 zur Verminderung der Staatenlosigkeit43 und zu dem Übereinkommen vom 13. September zur Verringerung der Fälle der Staatenlosigkeit44 unter gewissen Voraussetzungen auch Staatenlose einen Einbürgerungsanspruch. 45 Die Vorschrift lautet: 46 "Ein seit seiner Geburt Staatenloser ist auf seinen Antrag einzubürgern, wenn er 1. im Geltungsbereich dieses Gesetzes ...geboren ist,

40

Ebenda, §§ 10,11 StangRegG.

41

Zur Erstreckung auf "Abkömmlinge": BVerwG, Beschluß v. 20.3.1992, 1-B33 / 92, NVwZ 1992, S. 795f. 42

Grundlegend BVerfGE 23, 98ff.(108); vgl. dazu auch: Ziemske, ZRP 1994, S. 229ff (229).

43

BGBl. 1977 II, S. 598, ratifiziert für die Bundesrepublik durch Gesetz v. 29.6.1977 (BGBl. 1977 II, S. 597). 44 BGBl. 1977 II, S. 613, ratifiziert fur die Bundesrepublik durch Gesetz v. 29.6.1977 (BGBl. 1977 II, S. 597); abgedr. in: Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 1 lOfif. 45 BGBl. 1977 II, S. 597.; abgdr. in: Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 128flf.; Zur Einbürgerung von Staatenlosen (Palästinensern) allgemein: BVerwG, Urteil v. 23.2.1993 - I C 45 / 90 - NVwZ 1993, S. 782ff.; einschränkende Auslegung des Übereinkommens zur Verminderung von Staatenlosigkeit durch OVG Koblenz, Urteil v. 6.11.1990 - 7 A 10111 / 89 - DVB1. 1990, S. 545f. 46 Ausführungsgesetz v. 29. Juni 1977 (BGBl. I, S. 1101); abgedr. in Hailbronner I Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 132.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

12

2. seit fünf Jahren rechtmäßig seinen dauernden Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat und 3. den Antrag vor Vollendung des einundzwanzigsten Lebensjahres stellt, es sei denn, daß er rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von fünf Jahren oder mehr verurteilt worden ist".

Aus dem gleichen Grunde haben Staatenlose in anderen Fällen einen Anspruch auf Einbürgerung, etwa nach § 2 Abs. 2 Satz 2 WehrPflG: 47 "Hat ein staatenloser Wehrpflichtiger seinen Grundwehrdienst abgeleistet, so hat er einen Anspruch auf Einbürgerung, wenn er seinen dauernden Aufenthalt im Inland hat".

Das Einbürgerungsrecht hat nach den beiden Entscheidungen des BVerfG 48 zum kommunalen Ausländerwahlrecht vom 31. Oktober 1990 mehrfach neue Einbürgerungskriterien aufgestellt. Bereits die Novelle des Ausländergesetzes 49 zum 1. Januar 1991 enthielt in den §§ 85 ff. erleichterte Einbürgerungsvoraussetzungen für in Deutschland lebende Ausländer, die durch das Gesetz 50 zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften zum 1. Juli 1993 weiterhin erleichtert wurden. Nach § 85 AuslG haben nunmehr junge Ausländer unter folgenden Voraussetzungen einen Einbürgerungsanspruch: "(1) Ein Ausländer, der nach Vollendung seines 16. und vor Vollendung seines 23. Lebensjahres die Einbürgerung beantragt hat, ist einzubürgern, wenn er 1. seine bisherige Staatsangehörigkeit aufgibt oder verliert, 2. seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat, 3. sechs Jahre im Bundesgebiet eine Schule, davon mindestens vier Jahre eine allgemeinbildende Schule besucht hat und 4. nicht wegen einer Straftat verurteilt ist. (2) Ein Einbürgerungsanspruch besteht nicht, wenn der Ausländer nicht im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung oder Aufenthaltsberechtigung ist. Die Einbürgerung kann versagt werden, wenn ein Ausweisungsgrund nach § 46 N r . l vorliegt."

Der Rechtsanspruch auf Einbürgerung ist nach § 85 Abs. 2 Satz 2 AuslG nur im Falle des Vorliegens eines Ausweisungsgrundes nach § 46 Nr. 1 AuslG 47 Staatenlose sind nach § 2 Abs. 2 Satz 1 WehrPflG unter gewissen Voraussetzungen wehrpflichtig: "Staatenlose können durch Rechtsverordnung der Wehrpflicht unterworfen werden, wenn sie ihren ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben". Allerdings ist die erforderliche Rechtsverordnung (§50 WehrPflG) bis heute nicht erlassen worden. 48

BVerfGE 83, S. 37ff.

49

Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländem im Bundesgebiet (AusländergesetzAuslG) v. 9. Juli 1990 (BGBl. I, S. 1354, 1356), zuletzt geändert am 15. Juli 1993 (BGBl. II 1010). 50

Änderungsgesetz v. 30. Juni 1993 (BGBl. I, S. 1062).

9 Ziemske

1

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

ausgeschlossen. Das betrifft aber nach dieser Vorschrift nur denjenigen, der "die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet oder sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht". 51 Andere Ausländer haben gem. § 86 AuslG ebenfalls einen Einbürgerungsanspruch, vorausgesetzt, sie halten sich 15 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Der Inlandsaufenthalt braucht nicht ununterbrochen anzudauern. Unterbrechungen sind nach § 89 AuslG in weitem Umfang unschädlich. Auslandsaufenthalt bis zu sechs Monaten führt kraft Gesetzes zu keiner Unterbrechung. Bei zeitlich darüber hinausgehender Abwesenheit vom Bundesgebiet besteht Anrechnungsmöglichkeit früherer Aufenthaltszeiten. 52 Weitere Voraussetzungen für die erleichterte Einbürgerung gem. § 86 AuslG sind, daß Einbürgerungswillige nicht wegen einer Straftat verurteilt worden und in der Lage sind, den Lebensunterhalt für sich und ihre unterhaltsberechtigten Familienangehörigen zu bestreiten. Für die erleichterten Einbürgerungen gem. §§85 und 86 AuslG ist eine Festgebühr von D M 100,- festgesetzt (§ 90 AuslG). Sowohl § 85 als auch § 86 AuslG haben zur Voraussetzung, daß die bisherige Staatsangehörigkeit aufgegeben oder spätestens mit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit verloren wird. Damit dokumentierte auch der Gesetzgeber in den Novellen zum Einbürgerungsrecht, daß er am Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit festhält. 53 Im Ergebnis bleibt anzumerken, daß das deutsche Einbürgerungsrecht insgesamt nicht auf dem Stand des Erlasses des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes im Jahre 1913 stehengeblieben ist. Insbesondere seit den Entscheidungen des BVerfG zum kommunalen Wahlrecht für Ausländer sind mehrfach Erleichterungen in Kraft getreten, nämlich: - Anspruchs- statt Regeleinbürgerung für junge bzw. längere Zeit hier lebende Ausländer, - Senkung der Mindestaufenthaltszeit für junge Ausländer auf acht Jahre, - zeitliche Anrechnung von Unterbrechungen auf die Mindestaufenthaltszeit, - Senkung der Einbürgerungsgebühr, - Streichung bloßer Bagatellverstöße gegen die (Straf-)Rechtsordnung als Einbürgerungshindernis.

51

Vgl. dazu: BVerwG, Urteil v. 31.5.1994 - 1 C 5.93 -, in: DVB1. 1995, S. 37ff.

52

Vgl. dazu Kanein / Renner, Ausländerrecht. Kommentar, § 89 Rdnr. 8; auch BT-Drs. 11 / 6955, S. 63f. sowie BT-Drs. 11 / 6960, S. 28f. 53

Kanein / Renner, Ausländerrecht. Kommentar, § 85 Rdnr. 9.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

§ 16 Der Grundsatz der ausschließlichen Staatsangehörigkeit (Einzelstaatigkeit) Mehrfache Staatsangehörigkeit (Mehrstaatigkeit) kann aus vielen Gründen entstehen. Die wichtigsten sind: -

Zusammentreffen von Abstammungs- und Territorialprinzip, mehrfaches Abstammungsprinzip bei Kindern aus binationalen Ehen, Hinnahme von bisherigen Staatsangehörigkeiten bei der Einbürgerung und kein Verlust bisheriger Staatsangehörigkeiten beim Erwerb anderer Nationalitäten. 54

Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht tritt der Mehrstaatigkeit sowohl auf der Erwerbs- als auch auf der Erlöschensseite entgegen, und zwar zweifach: -durch Vermeidung ihres Entstehens (Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit) und -durch Verringerung bereits entstandener Mehrstaatigkeit (Grundsatz der Verringerung von Mehrstaatigkeit).

/. Grundsatz der Vermeidung

von Mehrstaatigkeit

1. Erwerbsseite Das geltende Einbürgerungsrecht verlangt von dem Einbürgerungswilligen grundsätzlich, seine bisherige Staatsangehörigkeit aufzugeben. 55 Durch diese Regelvoraussetzung soll sichergestellt werden, daß die Staatsangehörigkeit möglichst eine ausschließliche bleibt.

2. Erlöschensseite Der antragsgemäße Erwerb fremder Staatsangehörigkeit fuhrt zum automatischen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit (§ 25 RuStAG; Art. 1 Mehrstaaterübereinkommen).

54 Zu den Möglichkeiten des Entstehens mehrfacher Staatsangehörigkeiten: Kammann, Probleme der mehrfachen Staatsangehörigkeit, S. 36f. 55

Makarov / v. Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Kommentar, Bd. I, Einleitung II.

12

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

IL Grundsatz der Verringerung

von Mehrstaatigkeit

Darüber hinaus sieht das deutsche Recht Verzichtsmöglichkeiten auf die deutsche Staatsangehörigkeit vor (§ 26 RuStAG; Art. 2 Mehrstaaterübereinkommen). Die deutsche Staatsangehörigkeit erlischt, wenn auf sie verzichtet wird. 5 6 Das BVerfG begründete die Restriktionen gegen Mehrstaatigkeit in dem Beschluß vom 21. Mai 1974 damit, 57 "daß innerstaatlich und international doppelte oder mehrfache Staatsangehörigkeit als ein Obel betrachtet wird, das sowohl im Interesse der Staaten wie im Interesse der betroffenen Bürger nach Möglichkeit vermieden oder beseitigt werden sollte."

Das BVerfG sah den grundsätzlichen Einwand gegen mehrfache Staatsangehörigkeit in der mit ihr verbundenen Gefahr von Treue- und Loyalitätskonflikten. 58 Wesentliche Entscheidungen, an denen Mehrstaater als Bürger mitzuentscheiden berufen sind, könnten aus stärkerer Loyalität zu einem anderen Heimatstaat unter Gesichtspunkten fallen gelassen weden, die den Interessen des deutschen Staates abträglich, ja schädlich sein könnten. Das BVerfG stellte damit klar, daß mit der Staatsangehörigkeit verbundene Loyalität kein bloßes Relikt obrigkeitsstaatlichen Denkens oder eines wilhelminischen Verständnisses ist Auch in modernen, republikanischen Staatswesen behält sie eine Bedeutung als Element dauernder Verbundenheit mit einem Personenverband. 60 Im Anschluß konkretisiert das BVerfG den Loyalitätsgedanken und fuhrt staatliche, aber auch internationale Interessen an der Vermeidung der Mehrstaatigkeit an. Von den entgegenstehenden staatlichen Interessen hob es als Hauptgrund die Wehrpflicht hervor. 61 Gemäß § 1 WehrpflG sind nämlich deutsche Männer gleichermaßen wehrpflichtig, unabhängig davon, ob sie neben der deutschen noch andere Staatsangehörigkeiten besitzen. § 1 WehrpflG lautet: 62 "(1) Wehrpflichtig sind alle Männer vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an, die Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind und 56

Dazu Hailbronner

57

BVerfGE 37, 217ff. (254).

58

Ebenda, S. 255.

59

Hailbronner, (300). 60

/ Renner, Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar, § 26

Ausdruck der Zugehörigkeit und nicht der Abgrenzung, in: HK 1993, S. 295ff.

Dazu Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 963ff.

61

BVerfG 37, 217ff. (255).

62

WehrpflG v. 21.7.1956 (BGBl. I, S. 651).

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

1. ihren ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben oder 2 ".

Auch deutsche Mehrstaater können also dem Grundsatz nach von der Bundesrepublik in Pflicht genommen werden. 63 Haben aber neben der Bundesrepublik auch andere Heimatstaaten ihre Dienstleistungrechte realisiert oder ist deren Realisierung zu erwarten, läuft die Bundesrepublik Gefahr, auf ihre Inpflichtnahme verzichten zu müssen. Denn das Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 2 und 3 GG verpflichtet die Bundesrepublik zur Verhältnismäßigkeit in all ihren Handlungen. Der Gewaltunterworfene soll darauf vertrauen dürfen, nicht übermäßig belastet zu werden. 64 Mehrfache Inanspruchnahme von Wehrpflicht kann aber in Einzelfällen zu Unzumutbarkeiten für den Betroffenen führen. Diese Unzumutbarkeit wird gesetzlich in § 1 Abs. 2 WehrpflG vermutet: Danach ruht die Wehrpflicht von vornherein für Deutsche, die ihren Aufenthalt und ihre Lebensgrundlage außerhalb Deutschlands haben, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß sie beabsichtigen, ihren ständigen Aufenthalt im Ausland beizubehalten. Und Satz 2 bestimmt: "Das gilt insbesondere für Deutsche, die zugleich die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates haben".

Aus diesem Grunde hat sich die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich im Übereinkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatern verpflichtet, mehrfache Inanspruchnahme von Wehrpflicht zu vermeiden. 65 Ein Mehrstaater soll seine Wehrpflicht allein in dem Staate leisten, in welchem er seinen dauernden Aufenthalt und seine Lebensgrundlage hat. Art. 6 Abs. 1 des Übereinkommens regelt entsprechend: 66 "Der Betreffende ist gegenüber derjenigen Vertragspartei wehrdienstpflichtig, in deren Hoheitsgebiet er sich gewöhnlich aufhält."

Hat eine Person nach Maßgabe des Übereinkommens ihre Wehrpflicht gegenüber einer Vertragspartei erfüllt, so gilt gem. Art. 6 Abs. 3 "ihre Wehrpflicht auch gegenüber der oder den Vertragsparteien als erfüllt, deren Staatsangehörigkeit sie ebenfalls besitzt".

63 Maunz, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 12a, Rdnr. 2; dazu Wiessner, Staatsangehörigkeit, S. 261 f.

Funktion der

64 Zur Ausprägung der Verhältnismäßigkeit im Rechtsstaatsprinzip vgl. Herzog, in: Maunz/ Dürig / Herzog / Scholz, Art. 20, VII., Rdnr. 7Iff. 65 Kapitel II. Erfüllung der Wehrpflicht in Fällen von Mehrstaatigkeit, Art. 5 und 6 des Übereinkommens über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatern v. 6. Mai 1963 (BGBl. II 1969, S. 1954, ratifiziert für die Bundesrepublik Deutschland durch Gesetz v. 29.9.1969 (BGBl. II 1969 II, S. 1953. 66

Abgedr. in. Hailbronner

! Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 120ff(122f.).

1

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

Die Vertragsstaaten verpflichten sich selbst dann auf die Ableistung des Wehrdienstes von Mehrstaatern zu verzichten, wenn der betreffende Mehrstaater nach Ableistung seines Wehrdienstes im ausländischen Vertragsstaat später im Inland seinen Wohnsitz nimmt. So bestimmt Art. 6 Abs. 5 des Übereinkommens 67: "Wer seine aktive Wehrpflicht bei einer der Vertragsparteien, deren Staatsangehörigkeit er besitzt, gemäß Absatz 1 erfüllt hat und danach seinen gewöhnlichen Aufenthalt in das Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei verlegt, deren Staatsangehörigkeit er besitzt, kann nur von der letzteren zur Erfüllung der Reservewehrpflicht herangezogen werden".

Um Unzumutbarkeiten abzuwenden, hat die Bundesrepublik Deutschland auf derselben Grundlage auch bilaterale Verträge mit Nichtunterzeichnerstaaten des europäischen Mehrstaaterübereinkommens getroffen. 68 Die Bundesrepublik Deutschland hat hier zugunsten der Individualinteressen von deutschen Mehrstaatern ihre eigene Personalhoheit zurückgezogen. Das führt aber zu Problemen mit der Wehrgerechtigkeit. Wehrpflichtig bleibt in jedem Falle nur der Einzelstaater. Der Mehrstaater hat die teils bereits in bi- und multilateralen Abkommen angelegte erleichterte Möglichkeit, sich der deutschen Wehrpflicht zu entziehen. Mehrstaatigkeit als Regelfall würde die schon bestehenden Ungleichbehandlungen zwischen deutschen Einzelstaatern einerseits und deutschen Mehrstaatern andererseits ins Unerträgliche vertiefen. Darüber hinaus bleibt trotz der multi- bzw. bilateralen Regelungen ein weiterer denkbarer Kollisionsfall übrig. In welchem seiner Heimatländer sollte der Mehrstaater seiner Wehrverpflichtung nachkommen, wenn er in einem Drittstaat seinen ständigen Aufenthalt hat? Soll es ihm generell unter Hintanstellung der staatlichen Interessen an seiner Inpflichtnahme überlassen bleiben, frei wählen zu können? Schon die bestehenden "Wahlrechte", insbesondere im Mehrstaaterübereinkommen, wirken sich hinsichtlich der Wehrgerechtigkeit belastend aus. 69 Art. 6 Abs. 2 des Abkommens lautet: 70 "Wer seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei, deren Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, oder im Hoheitsgebiet eines Nichtvertragstaates hat, kann wählen, bei welcher Vertragspartei, deren Staatsangehörigkeit er besitzt, er seine Wehrpflicht erfüllen will".

67

Abgedr. ebenda.

68

Näher dazu: Kammann, Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit, S. 12Iff.; Walz, Ausländer zu den Waffen? Rechtliche Aspekte eines neuen Themas, in: NZWehrr. 1982, S. 4Iff. (44). 69

Vgl. zum "Wahlrecht" auch Kammann, Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit, S. 124ff, ohne allerdings die Wehrgerechtigkeit zu problematisieren. 70

Abgdr. bei Hailbronner

/ Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 123.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

Neben kollidierenden Staatsinteressen im Wehrwesen führte das BVerfG aus dem Bereich der internationalen Interessen den Konflikt konkurrierender Inanspruchnahme des Auslandsschutzes an. 71 Auslandsschutz beinhaltet Unterstützung der Staatsangehörigen gegen einen fremden Staat durch diplomatische und konsularische Aktivitäten. 72 Während der konsularische Schutz den Beistand gegenüber den lokalen Behörden des fremden Staates beinhaltet (z.B. gegenüber der Polizei, der Gefängnisverwaltung oder den Gerichten), erfolgt der diplomatische Schutz auf der Regierungsebene i.d.R. gegenüber dem Außenministerium oder anderen Zentralbehörden des fremden Staates. Der wichtigste Unterschied beider Formen des Auslandsschutzes liegt darin, daß diplomatischer Schutz immer nur bei völkerrechtswidrigem Verhalten des fremden Staates durch den Heimatstaat besteht. Konsularische Hilfe kann dagegen auch bei rechtmäßigem Handeln erfolgen. 73 Während konsularischer Beistand jederzeit gewährleistet werden kann, kommt diplomatischer Schutz i.d.R. erst nach Erschöpfung des Rechtsweges in Betracht, es sei denn, die Rechtsverfolgung ist von vornherein aussichtslos. Völkerrechtliche Grundlage des Auslandsschutzes sind die multilateralen Wiener Konventionen über die diplomatischen Beziehungen74 vom 18. April 1961 und über die konsularischen Beziehungen75 vom 24. April 1963. Im Grundgesetz ist der Schutz des Deutschen im Ausland demgegenüber nicht ausdrücklich erwähnt. 6 Die Verfassungsväter des Grundgesetzes wollten diese Frage wegen der besonderen Lage Deutschlands nicht erörtern. 77 Das BVerfG leitet die Schutzpflicht jedoch unmittelbar aus der Staatsangehörigkeit ab. 78 Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht gibt Deutschen aber kein subjektives Recht auf bestimmte diplomatische oder konsularische Maßnahmen, sondern lediglich ein subjektiv-öffentliches Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung bei der Entscheidung über den Schutzantrag. Dabei sind 71

BVerfGE 37, 217ff.(255).

72

Hierzu: Verdross / Simma. Universelles Völkerrecht, § 1225 - 1229 m.w.N.; Blumenwitz, Die deutsche Staatsangehörigkeit und die Schutzpflicht der Bundesrepublik Deutschland, S. 439ff. (44 Iff.). 73

Hoffmann

74

BGBl. 1964 II, S. 959.

75

BGBl. 1969 II, S. 1585.

/ Glietsch, Konsularrecht, Bd. 1. Vorbemerkung zum 1. Abschnitt, S. 18ff.

76

In früheren Verfassungen war der Schutz des Deutschen gegenüber dem Ausland ausdrücklich verankert: § 189 Verfassung des Deutschen Reiches von 1849, Art. 3 Abs. 6 Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867; Art. 3 Abs. 3 der Verfassung des Deutschen Reiches v. 16. April 1871 bestimmte noch ausdrücklich, daß alle Deutsche dem Ausland gegenüber gleichmäßigen Anspruch auf den Schutz des Reiches haben. Fast gleichlautend konzediert Art. 112 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung v. 11. August 1919, daß dem Ausland gegenüber alle Reichsangehörig^n inner- und außerhalb des Reichsgebietes Anspruch auf den Schutz des Reiches haben. 77 Doehring, Die Pflicht des Staates zur Gewährung diplomatischen Schutzes, S. 45.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, S. 258. 78

BVerfGE 37, 217ff (241).

16

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

die Interessen der Schutzsuchenden und der Allgemeinheit gegeneinander abzuwägen und die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten zu berücksichtigen. 79 Festzuhalten ist, daß aus dem Besitz der Staatsangehörigkeit ein Staat als Rechtsfolge das Recht auf Schutz seiner völkerrechtlich wirksam beanspruchten Angehörigen gegenüber fremden Staaten ableiten kann. Auch vom Völkerrecht aus gesehen ist der diplomatische Schutz kein Recht der Individuen, sondern ein außerordentlicher Rechtsbehelf der Staaten.80 Der Staat macht ein eigenes Recht geltend. Denn er ist durch die Verletzung der Rechte seiner Bürger indirekt selbst betroffen. Nach Art. 3 Abs. 1 Buchstabe d des Wiener Abkommens über diplomatische Beziehungen81 ist eine diplomatische Mission unter anderem berufen, die Interessen des Entsendestaates und seiner Angehörigen im Empfangsstaat innerhalb der völkerrechtlich zulässigen Grenzen zu schützen. Schutzmaßnahme ist insbesondere die "Rüge" der Verletzung einer völkerrechtlich geschützten Rechtsposition durch einen anderen Staat.82 M i t der "Rüge" kann beispielsweise Vertragserfüllung, Wiedergutmachung (Rückerstattung, Entschädigung), Genugtuung durch Entschuldigung (förmliche Erklärung des Bedauerns), Bestrafung des Schuldigen begehrt werden. Eine Rüge kann, aber muß nicht zur Retorsion (unfreundliche, aber rechtmäßige Gegenmaßnahme) oder gar zur Repressalie als Vergeltung (Friedensrepressalie) führen. 83 Das diplomatische Schutzrecht kann zu diplomatischer Intervention zugunsten des Staatsangehörigen beim Internationalen Gerichtshof bis hin zur Anwendung von Gewalt im Wege der sog. humanitären Intervention berechtigen. 84 Nach Art. 5 lit. a der Wiener Konvention über konsularische Beziehungen besteht die konsularische Aufgabe auch darin, die Interessen des Entsendestaates sowie seiner Angehörigen im Empfangsstaat innerhalb der völkerrechtlich zulässigen Grenzen zu schützen. Die Auslandsvertretungen haben 79 Nach BVerfGE 55, 349 sind zwar die Organe der Bundesrepublik Deutschland von Verfassung wegen zum Schutz deutscher Staatsangehöriger und ihrer Interessen gegenüber fremden Staaten verpflichtet. Der Bundesregierung steht aber aufgrund ihrer besonderen Verantwortung im auswärtigen Bereich ein weites Ermessen hinsichtlich der Frage zu, in welcher Form der Auslandsschutz gewährt wird. Unter Berufung auf diesen Beschluß entschied das Bundesverwaltungsgericht im Urteil v. 24. Februar 1981, Rudolf Hess habe keinen Anspruch auf bestimmte, über die bisher schon unternommenen Schutzmaßnahmen hinausgehende Aktivitäten (BVerwGE 62, 11). 80

Wiessner, Die Funktion der Staatsangehörigkeit, S. 385.

81

Wiener Diplomatenrechtskonvention v. 18.4.1961 (BGBl. II, S. 959), in Kraft seit 24.4.1964; für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am 11.12.1964 laut Bekanntmachung v. 13.2.1965 (BGBl. II, S. 147). 82

Hoffmann

/ Glietsch, Konsularrecht, Bd. 1, Vorb. zum 1. Abschnitt, Rdnr. 8.

83

Verdross

/ Simma, Universelles Völkerrecht, S. 907ff.

84

Anwendungsfalle dieses umstrittenen Rechtfertigungsgrundes sind die israelische Rettungsaktion in Entebbe im Jahre 1976 und die Intervention der USA in Grenada im Jahre 1984.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

17

gem. Art. 5 lit e Wiener Konvention den Angehörigen des Entsendestaates Hilfe und Beistand zu leisten. Die dem deutschen Staat obliegenden konsularischen Aufgaben sind im Konsulargesetz (KG) konkretisiert. 85 Die Hilfs- und Beistandsleistungen werden von deutschen Auslandsvertretungen unabhängig davon gewährleistet, ob der betreffende Deutsche lediglich Tourist im fremden Staat ist oder dort seinen ständigen Aufenthalt hat. Problematisch wird jedoch die deutsche Interessenvertretung im Wege des Auslandsschutzes in den Fällen, in denen deutsche Staatsangehörige gleichzeitig die Staatsangehörigkeit des Empfangsstaates haben.86 Zwar kann nach allgemein völkerrechtlich anerkannten Grundsätzen auch in diesen Fällen "Rat" erteilt werden. Aber eine Gewährung von "Beistand" gegenüber den Behörden des Empfangsstaates ist nicht möglich. 87 Es herrscht der Grundsatz der Staatengleichheit.88 Mehrstaatern, die neben ihrer deutschen Staatsangehörigkeit noch die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates besitzen, können die diplomatischen Missionen der Bundesrepublik Deutschland dann keinen Auslandsschutz gewähren, wenn sie als zweite Staatsangehörigkeit die Staatsangehörigkeit des Staates besitzen, vor dem sie geschützt werden wollen. Nach alter völkerrechtlicher Übung kann kein Staat einen Mehrstaater gegenüber dem Staat schützen, dessen Staatsangehörigkeit er als zweite besitzt. Denn Art. 4 der Haager Konvention des Jahres 1930 lautet: 89 "Ein Staat kann seinem Staatsangehörigen den diplomatischen Schutz nicht gewähren gegenüber einem Staate, dem der Beteiligte gleichfalls angehört".

Hintergrund dieser Bestimmung ist, daß der Staat, dem ein Mehrstaater angehört, sich nicht dazu verstehen wird, sich über die Behandlung seines Angehörigen von einem anderen Staate Verhaltensmaßregeln geben zu lassen. Art. 4 der Haager Konvention bezieht sich ausdrücklich nur auf den

85 In der Generalklausel des § 1 KG ist der Grundsatz. Deutschen nach pflichtgemäßem Ermessen Rat und Beistand im Ausland zu gewähren, erneut aufgeführt sowie im einzelnen in den folgenden Bestimmungen spezifiziert. Die Leistungen im einzelnen umfassen Hilfen in Katastrophenfallen (§ 6 KG), Hilfe für Gefangene (§ 7), Hilfe durch Vornahme von Eheschließungen, Anzeigen von Geburten und Sterbefallen (§ 8), Überführung Verstorbener und Nachlaßfürsorge (§ 9), Beurkundungen im Allgemeinen (§ 10), Anfertigung von Testamenten und Erbverträgen (§ 11), Entgegennahmen von Erklärungen, insbes. Auflassungen und eidesstattlichen Versicherungen (§12 ), Legalisation ausländischer öffentlicher Urkunden (§13) sowie Vernehmungen, Anhörungen und Zustellungen (§§ 15f.). Erweitert wird der Aufgabenkatalog durch die Generalklausel (§ 5) auch auf Soforthilfe in allen finanziellen Schwierigkeiten sowie sonstigen Notlagen. 86

Hoffmann

87

Ebenda, Vorb. 8.1.2.

/ Glietsch, Konsularrecht, Bd. 1, Vorb. 8.1.

88 Dahm, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1, S. 380; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, S. 73f., 274ff., 791.; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I / 1 , S. 233ff. 89 Abgedr. bei Lichter, Die deutsche Staatsangehörigkeit, S. 825ff.; vgl. zu den weiteren Inhalten oben § 2 II.

1

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

diplomatischen Schutz. Er gilt nach Völkerrecht modifiziert aber auch für den konsularischen Schutz. 90 Neben dem potentiellen Konflikt im direkten Verhältnis zwischen den jeweiligen Heimatstaaten kommt im Bereich des Auslandsschutzes das Problem der Behandlung von Mehrstaatern durch Drittstaaten vor. Art. 5 der Haager Konvention sieht für diesen Fall vor: "Wer mehreren Staaten angehört, ist in einem Drittstaat so zu behandeln, als besäße er nur eine Staatsangehörigkeit."

Die Haager Konvention räumt den Drittstaaten damit ein "Wahlrecht" ein, zu bestimmen, welche der in Betracht kommenden Staatsangehörigkeiten der Mehrstaater maßgeblich ist. Das "Wahlrecht" ist nahezu frei. 91 Art. 5 Satz 2 der Haager Konvention legt zwar Kriterien zur Bestimmung der "relevanten" Staatsangehörigkeit fest. Doch sind sie nicht verpflichtend formuliert: "Der dritte Staat braucht auf seinem Gebiet ... ausschließlich diejenige (Staatsangehörigkeit) des Staates anzuerkennen, in dessen Gebiet der Beteiligte seinen gewöhnlichen und hauptsächlichen Aufenthalt hat, oder die Staatsangehörigkeit des Staates, mit dem der Beteiligte den Umständen nach tatsächlich am meisten verbunden ist".

In der Staatenpraxis läßt die offene Formulierung des Art. 5 der Haager Konvention weiten Spielraum auch zum Mißbrauch und damit zu Lasten der Heimatstaaten und ihrer Staatsangehörigen. 92 Dieses Problem belastete insbesondere im deutsch-deutschen Verhältnis. Staatsbürger der ehemaligen DDR waren zugleich auch deutsche Staatsangehörige. Sie waren Mehrstaater. 93 Wegen fehlender Ausreisefreiheit aus der DDR versuchten viele Heimatmüde von ihrer deutschen Staatsangehörigkeit während des begrenzt zulässigen Aufenthaltes in einem "befreundeten, sozialistischen Bruderstaat" Gebrauch zu machen und unter Berufung auf die deutsche Staatsangehörigkeit aus dem Drittstaat Einreisemöglichkeit in die Bundesrepublik Deutschland oder in ein anderes westliches Land zu erhalten. Allerdings oblag es gemäß Art. 5 Satz 1 der Haager Konvention ausschließlich dem jeweiligen Drittstaat zu entscheiden, welche der deutsch-deutschen Staatsangehörigkeiten er für maßgeblich hielt. Gängige Praxis im sozialistischen Block war, die Staatsbürger 90 Löwer, Doppelte Staatsbürgerschaft als Gefahr für die Rechtssicherheit, VR 1990, S. 22Iff. (222f.). Die mehrfache Staatsangehörigkeit ist in diesen Fällen Hinderungsgrund für konsularische Eheschließungen, wenn auch nur ein deutscher Verlobter zugleich die Staatsangehörigkeit des Empfangsstaates hat. Sie ist darüber hinaus Hinderungsgrund bei Vernehmungen und Zustellungen, die auf Ersuchen deutscher Gerichte und Behörden erfolgen. Gottfried Hecker, Handbuch der konsularischen Praxis, S. 492. 91

Verdross

92

Vgl. Löwer, VR 1990, S. 223.

93

Vgl. dazu oben § 10.

/ Simma, S. 791 m.w.N. sowie Makarov, Allgemeine Lehren, S. 313f.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

der ehemaligen DDR auschließlich als solche zu betrachten. 94 Art. 5 Satz 2 der Haager Konvention bot hierfür den Anschein ausreichender völkerrechtlicher Legitimation für das menschenrechtswidrige, zwanghafte Festhalten. Auslandsschutz der Bundesrepublik war unter diesen Umständen äußerst erschwert und vielfach ergebnislos. 95 Eine nachhaltige Änderung dieser Problematik ist erst in den Sommermonaten des Jahres 1989 eingetreten. 96 Damals wollten mehrere tausend Bürger der ehemaligen DDR ihren Staat über Ungarn verlassen. Die ungarische Regierung stand vor der historischen Frage, an welcher der beiden deutschen Staatsangehörigkeiten sie sich orientieren sollte. Beide deutsche Staaten entfalteten in diesen Wochen gleichermaßen intensive diplomatische Beziehungen zu Ungarn. Letztlich entschied sich die ungarische Regierung unter heftigen Protest der ehemaligen DDR für die "deutsche Staatsangehörigkeit" und legte damit den Grundstein für die anschließende "Wende" zur Wiedervereinigung Deutschlands. Dieser exzeptionelle Ausgang ist dem verständigen Einlenken der ungarischen Regierung zu verdanken. Der Bundesminister des Auswärtigen sandte an den Minister für Auswärtige Angelegenheiten Ungarns, Gyulla Horn, Budapest, folgendes Dankschreiben vom 14. September 1989: 97 "Sehr geehrter Herr Außenminister, lieber Herr Horn, die mutige Entscheidung der ungarischen Regierung, die sich in Ungarn aufhaltenden Flüchtlinge aus der DDR in ein Land ihrer freien Wahl ausreisen zu lassen, hat mich tief bewegt. Die ungarische Regierung hat mit diesem Entschluß die KSZE-Schlußakte mit Leben erfüllt. Sie hat ein Zeichen der Menschlichkeit gesetzt, das Zeugnis ablegt von dem humanitären Geist, der die Reformbewegung hin zu einem neuen Ungarn beseelt.... Wir werden diesen Akt nicht vergessen. Mein tiefempfundener Dank gilt auch den ungarischen Organisationen und den vielen Ungarinnen und Ungarn, die sich in zwischenmenschlicher Solidarität um das Wohl der zufluchtsuchenden Männer, Frauen und Kinder aus der DDR gesorgt haben."

94 Schiedermair, Der völkerrechtliche Status Berlins nach dem Viermächte-Abkommen v. 3. September 1971, S. 140ff. 95

Ebenda, S. 145ff.

96

Eingängige dokumentarische Schilderung des Revolutionsjahres 1989 in: Texte zur Deutschlandpolitik, hrsg. v. Bundesministerium fir innerdeutsche Beziehungen, Reihe I I I / Bd. 7, 1989. 97 Abgedr. in: Texte zur Deutschlandpolitik, hrsg. v. Bundesministerium fir innerdeutsche Beziehungen, Bd. 7, S. 250.

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

1

Tatkräftig unterstützte auch Österreich, das den betroffenen Menschen großzügig Ein- und Durchreise gewährte. 98 Die glückliche Beendigung der Fluchtbewegung aus der ehemaligen DDR darf aber die Gesamtproblematik der Mehrstaatigkeit im Bereich des Auslandsschutzes nicht vergessen lassen.

§ 17 Die Hinnahme von mehrfacher Staatsangehörigkeit (Mehrstaatigkeit) Die Bundesrepublik Deutschland geht vom Grundsatz der ausschließlichen Staatsangehörigkeit aus; Mehrstaatigkeit ist zu vermeiden und zu verringern. Einfachgesetzlich ist der Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit in §§ 9, 25 RuStAG und in §§ 85, 86 AuslG ausgestaltet.99 Der Grundsatz der Verringerung von Mehrstaatigkeit ist § 26 RuStAG (Verzicht) zu entnehmen. Völkerrechtlich hat sich die Bundesrepublik Deutschland zu beiden Prinzipien durch Ratifikation des Europaratsabkommens aus dem Jahre 1963 verpflichtet. 100 Dieselben Ziele hat die Bundesrepublik auch international erneut bekräftigt. Zusammen mit 12 Mitgliedstaaten des Europarats hat sie sich im Verlaufe des Jahres 1992 geweigert, das dritte Zusatzprotokoll zum Abkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit zu unterzeichnen. 101 Gemäß Art. 25 GG wirken die Grundsätze auch insofern, als sie in der Zielsetzung des Haager Kodifikationsabkommens aus dem Jahre 1930 ausgedrückt ist. 1 0 2 In den Richtlinien zur Ermessenseinbürgerung, insbesondere zu § 8 RuStAG, ist die Zielsetzung ebenfalls enthalten. Dort heißt es: 103 "Die Vermeidung von Mehrstaatigkeit ist bis in die neueste Zeit das Ziel internationaler Abkommen - so u.a. des Übereinkommens über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatern - und der nationalen Gesetzgebung vieler Staaten. Deshalb soll die Einbürgerung nur voll-

98 Vgl. hierzu Dankschreiben v. 14. September 1989 an den Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Österreich, Alois Mock , Wien; abgedr. in: Texte zur Deutschlandpolitik, hrsg. V. Bundesministerium fur innerdeutsche Beziehungen, Bd. 7, S. 250f. 99

Vgl. oben § 16.

100

BGBl. 1969 II, S. 1954, ratifiziert für die Bundesrepublik Deutschland durch Gesetz v. 29.9.1969, BGBl. 1969 II, 1953. 101 BT-Drs. 12 / 2035 zu Frage 15; und zwar zusammen mit Belgien, Dänemark, Finnland, Island, Luxemburg, Norwegen, Österreich, Polen, Schweden, Spanien, der Tschechoslowakei und Ungarn. Unterzeichnungen des Protokolls erfolgten bislang nur von Frankreich und Italien (Stand: 1.7.1994); vgl. dazu auch Schade, Mehrstaatigkeit - neue Entwicklungen im Europarat, in: Vom Ausländer zum Bürger, S. 408ff. (412). 102 103

Vgl. oben § 2.

Einbürgerungsrichtlinien v. 1.7.1977, i.d.F. v. 7.3.1989, Nr.5.3.1., abgedr. bei: Hailbronner Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 173ff. (181); vgl. auch oben § 15.

/

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

zogen werden, wenn nachgewiesen ist, daß der Einbürgerungsbewerber spätestens mit der Einbürgerung aus seiner bisherigen Staatsangehörigkeit ausscheidet."

Das BVerfG hat die Grundsätze in der Mehrstaater-Entscheidung formuliert. 1 0 4 Im Kammerbeschluß aus dem Jahre 1990 hat es sie erneut bekräftigt: "Mehrstaatigkeit ist national und international von Übel".

Dennoch kennt die Bundesrepublik Ausnahmen. In einigen Fällen nimmt sie Mehrstaatigkeit hin. 1 0 6

/. Hinnahme in Geburtsfällen Tritt Mehrstaatigkeit originär ein, wird sie von der Bundesrepublik geduldet. Mehrstaatigkeit ist beispielsweise bei Geburt in gemischt-nationalen Ehen die Folge, wenn das Staatsangehörigkeitsrecht des ausländischen Ehepartners - ebenso wie das deutsche - ausnahmslos vom ius sanguinis Prinzip dominiert wird. Dasselbe gilt bei Geburt eines Deutschen in ius soli beherrschten Staaten. In jedem dieser Fälle erwirbt das Kind die deutsche, grundsätzlich daneben auch die ausländische Staatsangehörigkeit. Denn § 4 RuStAG konkretisiert den Abstammungsgrundsatz absolut: 1.Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ist geschlechtsneutral, d.h. er vollzieht sich gleichermaßen a matre wie a patre. 107 2. Der Erwerb tritt universell ein, d.h. nicht nur im Inland, sondern überall. § 4 RuStAG enthält diesbezüglich keinerlei Einschränkung. Das Motiv dieser Regelung lag von Anbeginn darin, Freizügigkeit zu ermöglichen und die

104

BVerfGE 37, S. 217ff.(254f.) = NJW 1974, 1609.

105

BVerfGE (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluß v. 16.9.1990 - 2 BVR 1864 / 88, abgedr. in: NJW 1991, S. 633f. 106 Zu den nachfolgenden Fallgruppen: Hans v. Mangoldt, JZ 1993, 965ff. (970ff.); Hailbronner, Einbürgerung, S. 17; BT-Drs. 12 / 4533, S. 5. 107 Ursprüngliche Fassung des § 4 RuStAG a. F. sah ausschließliche Ableitung vom Vater vor. Sie stand im Widerspruch zu Art. 3 Abs. 2 GG und ist damit gem. Art. 117 Abs. 1 GG mit Ablauf des 31.3.1953 außer Kraft getreten. Die anschließende Übergangsregelung verstieß nach Auffassung des BVerfG ebenfalls gegen Art. 3 Abs. 2 GG, weil sie nur im Falle sonstiger Staatenlosigkeit den Erwerb der deutschen Staatsangeghörigkeit von der Mutter vorsah (BVerfGE, 37, 217). Seit 1.1.1975 leiten eheliche Abkömmlinge ihre Staatsangehörigkeit gleichermaßen von beiden Elterteilen ab. Seit 1.7.1993 ist die Gleichstellung auch für uneheliche Abkömmlinge in Kraft. Vgl. zur Problematik der Gleichstellung: BT-Drs. 7 / 1880; 2175; 2814 und BT-Drs. 12 / 4533.; im internationalen Vergleich: de Groot, S. 190ff.

12

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

Staatsangehörigkeit machen. 108

nicht

von

Geburtsortszufalligkeiten

abhängig

zu

3. Der Erwerb ist zeitlos, d.h. unabhängig davon, ob der weitergebende Elternteil nur befristet im Ausland verweilt (z.B. besuchshalber) oder Auslandsdeutscher ist, dessen Vorfahren möglicherweise schon seit Generationen im Ausland leben. 109 4. Der Erwerb ist einheitlich, d.h. unabhängig vom Erwerbstatbestand des weitergebenden Elternteils, also davon, wie der Elternteil selbst in den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit gelangt ist (originär oder derivativ). 110 5. Der Erwerb ist bedingungslos, d.h. unabhängig davon, ob und ggf. wieviele fremde Staatsangehörigkeiten zugleich mit der Geburt erworben werden. 111

IL Hinnahme bei Legitimation und Adoption Weitere Fälle der Hinnahme mehrfacher Staatsangehörigkeit stellen die Legitimation (§ 5 RuStAG) und Adoption (§ 6 RuStAG) dar. In beiden Fällen ist in jeder Hinsicht Parallelität zum originären Erwerbstatbestand der Geburt gewährleistet. 112

III. Hinnahme in Härtefällen Mehrstaatigkeit wird auch im Einbürgerungsrecht in Ausnahmefällen hingenommen. Sie sind in § 9 RuStAG sowie im Ausländergesetz formuliert und in den Einbürgerungsrichtlinien für die Ermessenseinbürgerung gem. § 8 RuStAG konkretisiert. 1

108 Hans v. Mangoldt, StAZ 1994, S. 33ff. (36f.); vgl. dazu auch Lübbe, Abschied vom Superstaat. Vereinigte Staaten von Europa wird es nicht geben, Berlin 1994. 109

Hans v. Mangoldt, StAZ 1994, S. 33ff. (37).

110

V. Mangoldt / Klein, Das Grundgesetz, S. 480f.

111

Ebenda.

112

Hans v. Mangoldt, JZ 1993, 965ff.(971).

113

Vgl. dazu Kommentierung bei: Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, § 87 Rdnr. 12ff.; Kanein / Renner, Ausländerrecht, § 87 Rdnr. 4ff.; Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 971f.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

So bestimmt etwa § 87 Abs. 1 Satz 1 AuslG: "Von den Voraussetzungen des § 85 N r . l und des § 86 Abs. 1 N r . l wird abgesehen, wenn der Ausländer seine bisherige Staatsangehörigkeit nicht oder nur unter besonders schwierigen Bedingungen aufgeben kann."

Unzumutbarkeit wird gesetzlich in den in § 87 Abs. 1 Satz 2 AuslG angeführten Fällen vermutet: 114 "Das ist anzunehmen, wenn 1. das Recht des Heimatstaates das Ausscheiden aus der bisherigen Staatsangehörigkeit nicht vorsieht, 2. der Heimatstaat die Entlassung regelmäßig verweigert und der Ausländer der Einbürgerungsbehörde einen Entlassungsantrag zur amtlichen Weiterleitung an seinen Heimatstaat übergeben hat, 3. der Heimatstaat die Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit willkürhaft versagt oder über den vollständigen und formgerechten Entlassungsantrag nicht in angemessener Zeit entschieden hat, 4. bei Angehörigen bestimmter Personengruppen, insbesondere politischer Flüchtlinge, für die Forderung nach Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit eine unzumutbare Härte bedeuten würde."

Von der Voraussetzung der Aufgabe oder des Verlustes der bisherigen Staatsangehörigkeit kann gem. § 87 Abs. 2 AuslG ferner abgesehen werden, wenn der Heimatstaat die Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit von der Leistung des Wehrdienstes abhängig macht und wenn der Ausländer den überwiegenden Teil seiner Schulausbildung in deutschen Schulen erhalten hat und im Bundesgebiet in deutsche Lebensverhältnisse und in das wehrpflichtige Alter hineingewachsen ist. Auch die Einbürgerungsrichtlinien stellen für die Fälle der Ermessenseinbürgerungen insbesondere gem. §§8 und 9 RuStAG klar, daß in unzumutbaren, individuellen Härtefällen Mehrstaatigkeit hinzunehmen ist. Die dort ausformulierten Härtefälle gleichen im wesentlichen den in § 87 AuslG genannten Unzumutbarkeitsvermutungen. 115 Danach kommen Ausnahmen vom Einbürgerungshindernis eintretender Mehrstaatigkeit insbesondere in Betracht, wenn: "5.3.3.1 - das Recht des Heimatstaates das Ausscheiden aus der Staatsangehörigkeit überhaupt nicht ermöglicht, 5.3.3.2 - der Heimatstaat die Entlassung durchweg verwehrt oder von unzumutbaren Bedingungen abhängig macht, der Einbürgerungsbewerber die Voraussetzungen einer Einbürgerung nach internationaler Gepflogenheit zweifels114

Dazu: OVG Koblenz, Urteil v. 4.2.1992 - 7 A 10109 / 89, NVwZ 1992, S. 704ff.; BVerwG,

NJW 1991, S. 2226f.

115 Vgl. Einbürgerungsrichtlinien zu §§ 8 und 9 RuStAG Nr.5.3.3., abgedr. bei Weidelener Hemberger, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, S. 246ff. (258ff.).

/

1

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

frei erfüllt und die Verweigerung dadurch den Charakter des Willkürhaften erhält, 5.3.3.7-der Einbürgerungsbewerber zwar die Verweigerung der Entlassung zu vertreten hat, sich aber schon länger als 20 Jahre nicht mehr im Heimatstaat aufgehalten hat, davon mindestens 10 Jahre im Bundesgebiet, und 40 Jahre alt ist."

IV. Hinnahme in Wiedergutmachungsfällen Mehrstaatigkeit wird ebenfalls bei Wiedereinbürgerung Zwangsausgebürgerter hingenommen. 1. Art. 116 Abs. 2 GG drückt das Zumutbarkeitskriterium unmittelbar nicht über das Rechtsstaatsprinzip vermittelt - durch die Einbürgerungsfiktion des 2. Satzes aus. Mit der Einräumung, die deutsche Staatsangehörigkeit auch ohne ausdrückliche Erklärung wiederzuerwerben, wollten die Grundgesetzväter Zwangsausgebürgerten des "Dritten Reiches" nicht nur ein förmliches Einbürgerungsverfahren ersparen 116 , sondern auch einem etwaigen Verlust bisheriger, zwischenzeitlich erworbener Staatsangehörigkeiten vorschieben. 117 Soweit nämlich das ausländische Staatsangehörigkeitsrecht - wie das deutsche - an den antragsgemäßen fremden Staatsangehörigkeitserwerb die automatische Aufgabe der eigenen Staatsangehörigkeit knüpft, träfe dies einen Personenkreis, der aus guten Gründen nicht sicher sein konnte, was Geborgenheit, Schutz und Wert der deutschen Staatsangehörigkeit bedeuten. §12 des l.StagRegG trägt diesem Gedanken einfachgesetzlich Rechnung. Danach steht der Anspruch auf Einbürgerung "auch" demjenigen zu, der "eine fremde Staatsangehörigkeit" erworben hat. 2. Hinsichtlich des in Art. 116 Abs. 1 GG betroffenen Personenkreises wird ebenfalls Mehrstaatigkeit hingenommen. Für Statusdeutsche führen das Vertreibungsschicksal und dessen noch heute bestehenden Nachwirkungen zu unzumutbaren familiären und materiellen Ungewißheiten. Sie sind demzufolge gem. § 6 des l .StaRegG unter Beibehaltung bisheriger Staatsangehörigkeit(en) einzubürgern. 118

116

BVerfGE 23, 98ff. (106f.); BVerfGE 54, 53ff. (61f.).

117

BVerfGE 23, S. 108; 54, S. 62 sowie abweichende Meinung von Hirsch, S. 65f.

118

Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit v. 22.2.1955 (BGBl. I, S. 65); der Anspruch ist nur für den Fall ausgeschlossen, daß der Statusdeutsche die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik oder eines deutschen Landes gefährdet ( § 6 Satz 2); zum ganzen Makarov / v. Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Art. 116 Rdnr. 5ff.; BVerfGE 17, 224fT.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

V. Hinnahme bei überwiegendem sonstigen staatlichen Interesse Mehrstaatigkeit ist schließlich auch in den Fällen zulässig, in denen ein staatliches Interesse an ihrer Hinnahme besteht. 119 Verfassungsrechtliche Grundlage ist die verfaßte Staatlichkeit selbst. 120 Einfach-gesetzlich ist die Hinnehmbarkeit in § 25 Abs. 2 RuStAG formuliert. Der antragsgemäße Ervverb fremder Staatsangehörigkeit fuhrt danach nicht in jedem Falle zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit: "Die Staatsangehörigkeit verliert nicht, wer vor dem Erwerbe der ausländischen Staatsangehörigkeit auf seinen Antrag die schriftliche Genehmigung der zuständigen Behörde seines Heimatstaates zur Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit erhalten hat."

Die Genehmigung der Beibehaltung kann in Ausnahmefallen erteilt werden, wenn ein besonderes staatliches Interesse besteht, etwa aus Staatsschutz-, wirtschaftlichen oder entwicklungspolitischen Gründen. 121 Die Bundesrepublik hat sich damit einfach-gesetzlich die Möglichkeit offengehalten, gezielt staatliche Interessen auch staatsangehörigkeitrechtlich zu verfolgen, allerdings nur für den Ausnahmefall. Sie handelt entsprechend internationalem Standard und im Einklang mit dem Völkerrecht. 122 Auch andere Völkerrechtsubjekte halten sich die Möglichkeit offen, staatliche Interessen staatsangehörigkeitsrechtlich zu verfolgen, so etwa auch die Türkei. Der Nachfolgestaat des Osmanischen Großreiches hat zu seinem Interesse erklärt, daß seine Angehörigen bei Erwerb fremder Staatsangehörigkeit die eigene beibehalten dürfen. Die Türkei gestattet Mehrstaatigkeit, nicht - wie die Bundesrepublik Deutschland - im Ausnahmefall, sondern grundsätzlich. 123

§ 18 Das Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit Die Erlöschenstatbestände sind ebenfalls im wesentlichen im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz formuliert. Die deutsche Staatsangehörigkeit geht

119 Vgl. dazu Runderlaß des Auswärtigen Amtes an seine Auslandsvertretungen v. 19.10.1960, Neufassung v. 6.2.1987 sowie die landesrechtlichen Richtlinien, beispielsweise die "Grundsätze für die Erteilung von Genehmigungen zur Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit" v. 12. 11. 1981 des baden-württembergischen Innenministeriums (GABI. BW 1981, S. 1981), abgedr. in: Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeit, S. 204ff. 120

Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 971.

121

Hailbronner

122

De Groot, Staatsangehörigkeit im Wandel, S. 282f.

123

Vgl. Anhang.

10 Ziemske

/ Renner, Staatsangehörigkeit, § 25 Rdnr. 2f.

16

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

aber gem. § 17 RuStAG nur verloren. Ein Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit ist wegen Art. 16 Abs. 1 GG nicht vorgesehen. § 17 RuStAG lautet: "Die Staatsangehörigkeit geht verloren 1. durch Entlassung (§§ 18 bis 24), 2. durch den Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit (§25), 3. durch Verzicht (§ 26), 4. durch Annahme als Kind durch einen Ausländer (§ 27)."

I. Die Entlassung Die Entlassung auf Antrag ist in den §§ 18 bis 24 RuStAG näher geregelt. Sie ist eine vom Willen des Staatsangehörigen getragene Ausbürgerung durch Hoheitsakt mittels eines mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsaktes. 124 Nach dem Grundsatz der Entlassungsfreiheit 125 ist die "Selbstausbürgerung" für den Regelfall in das Belieben des betreffenden Staatsangehörigen gestellt. Er hat grundsätzlich einen Rechtsanspruch darauf, die Staatszugehörigkeit aufzukündigen. Einschränkungen enthält das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz nur zwecks Vermeidung der Staatenlosigkeit bzw. für den Fall eines staatlichen Interesses an der Aufrechterhaltung der deutschen Staatsangehörigkeit. Nach § 22 RuStAG liegt dieses vor, solange Deutsche in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnis stehen sowie hinsichtlich wehrpflichtiger Deutscher, solange seitens der zuständigen Behörde Bedenken gegen die Entlassung angemeldet werden. § 23 RuStAG verpflichtet darüber hinaus, Entlassungsurkunden nicht an Personen auszuhändigen, die verhaftet sind oder deren Verhaftung angeordnet ist.

II. Der Verzicht Mit Wirkung zum 1. Januar 1975 hat der Gesetzgeber in § 26 RuStAG für Deutsche, die mehrere Staatsangehörigkeiten besitzen, die Möglichkeit geschaffen, auf die deutsche Staatsangehörigkeit zu verzichten. Die Verzichtsmöglichkeit dient der "Verminderung" der Mehrstaatigkeit. 126 Mit der Einführung der Gleichrangigkeit des Staatsangehörigkeiterwerbs a matre und a patre durch § 4 Abs. 1 N r . l RuStAG a.F. - heute inhaltlich gleichbedeutend, aber in anderer wortwörtlicher Fassung in § 4 Abs. 1 Satz 1 RuStAG - wurde 124

V. Keller / Trautmann, S. 242f.

125

Hailbronner

126

Regierungsbegründung: BT-Drs. 7 / 2175, S. 8 zu Nr.3.

/ Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, Kommentar, § 18 Rdnr. 11.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

17

infolge der ansteigenden Zahl staatsangehörigkeitsrechtlicher Mischehen ein erhebliches Anwachsen der Fälle mehrfacher Staatsangehörigkeiten absehbar. 1 2 7 Dem zu begegnen, ist die Verzichtsmöglichkeit gemäß § 26 RuStAG eingeführt worden. 128 Der Verzicht auf die deutsche Staatsangehörigkeit ist ebenso wie das Entlassungsbegehren auf die Aufgabe der inländischen Staatsangehörigkeit gerichtet. Wie bei der Entlassung erfordert die Wirksamkeit des Verzichts eine staatliche Mitwirkung in Form der Genehmigung und Aushändigung einer Urkunde. 129 Verzicht und Entlassung unterscheiden sich allerdings nach Voraussetzungen - vgl. etwa § 26 Abs. 2 Satz 2 RuStAG einerseits und § 22 RuStAG andererseits - und dem Ziel. Die Entlassung auf Antrag ist das klassische Institut der Aufgabe der Staatsangehörigkeit zum Zwecke der Auswanderung und Erlangung einer anderen Staatsangehörigkeit. Während die Entlassung den Wechsel der Staatsangehörigkeit für die Fälle ermöglichen will, in denen ein ausländischer Staatsangehörigkeitserwerb nur unter Aufgabe bisheriger Staatsangehörigkeiten erfolgt, soll der Verzicht dazu dienen, Mehrstaatigkeit abzubauen.130

III. Der Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit 1. Der Grundtatbestand § 25 Abs. 1 RuStAG regelt den Fall der Entlassung kraft Gesetzes. Danach erfolgt die Ausbürgerung auch ohne ausdrücklichen Entlassungsantrag, wenn ein Deutscher auf seinen Antrag eine ausländische Staatsangehörigkeit erwirbt und zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen Aufenthalt im Ausland hat. § 25 Abs. 1 RuStAG bestimmt: "Ein Deutscher, der im Inland weder seinen Wohnsitz noch seinen Aufenthalt hat, verliert seine Staatsangehörigkeit mit dem Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit, wenn dieser Erwerb auf seinen Antrag oder auf den An127

Ebenda.

128

Weitergehende Regelungen zur Beseitigung der Mehrstaatigkeit etwa dadurch, daß Mehrstaater gezwungen werden, sich für eine ihrer Staatsangehörigkeiten zu entscheiden, hat die Regierungsbegründung nicht für empfehlenswert gehalten. Denn sie hätten wegen der völkerrechtlich beschränkten deutschen Regelungsbefugnisse nur die Pflicht zum Verzicht auf die deutsche, nicht aber auf fremde Staatsangehörigkeiten beinhalten können. Darüber hinaus bestand zum damaligen Zeitpunkt eine internationale Regelung der Verzichtspflicht bei mehrfacher Staatsangehörigkeit nicht und die Einführung einer solchen Verzichtspflicht war deshalb von fremden Staaten nicht zu erwarten. 129 Zur Einschränkbarkeit der Verzichtsfreiheit BVerwG, Beschluß v. 15.9.1993 - 1 Β 221 / 92 NVwZ, S. 386f. 130

Hailbronner

/ Renner, Staatsangehörigkeit. Kommentar, § 26 Rdnr. 7.; BT-Drs. 7/2175.

1

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

trag des gesetzlichen Vertreters erfolgt, der Vertretene jedoch nur, wenn die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach § 19 die Entlassung beantragt werden könnte."

Entscheidend ist. daß der Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit auf "Antrag" erfolgen muß. Ein solcher liegt in jeder Willenserklärung, die in positiver Weise auf den Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit gerichtet ist, wie beispielsweise auch in der Ausübung einer Option, die zum Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit führt. 131 Die Willenserklärung muß ausdrücklich auf den Erwerb gerichtet sein. Handlungen, die den automatischen Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit zur Folge haben, wie beispielsweise in bestimmten Staaten Eheschließungen oder Eintritt in den Militärdienst, genügen dieser Anforderung nicht. 1 3 2 Auch muß der Antrag "freiwillig" erfolgen. 133 Wenn der Betroffene Zwängen oder Drohungen ausgesetzt ist oder dem Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit gar nur zum Zwecke der Vermeidung einer unmittelbaren Gefahr für Leib oder Leben zugestimmt hat, liegt kein "Antrag" i.S.d. § 25 Abs. 1 RuStAG vor. 1 3 4 Weitere Voraussetzung ist, daß die fremde Staatsangehörigkeit auch erworben wurde. Der Erwerbstatbestand muß abgeschlossen sein, und es muß sich um eine "volle" Staatsangehörigkeit handeln. Nicht ausreichend wäre etwa der Erwerb bloßer Mandatszugehörigkeiten wie beispielsweise der palästinensischen.135 Schließlich muß der Erwerb vom Ausland her erfolgen. Der Betroffene darf "weder seinen Wohnsitz noch seinen dauernden Aufenthalt" im Inland haben. 136 Nach § 25 Abs. 1 Satz 2 RuStAG erstreckt sich der Verlust auf minderjährige Abkömmlinge und sog. Betreute 137 , sofern der Antrag auf Erwerb der

131

Bergmann I Korth / Ziemske, Rdnr. 102.

132

Ebenda.

133

BVenvGE, Buchholz 130, § 25 RuStAG Nr.5; Makarov / v. Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, § 25 Rdnr. 29f. 134

Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 102.

135

Makarov, Allgemeine Lehren, S. 232, Anm. 167; Hailbronner / Renner, Kommentar, § 25 Rdnr. 13; insbes. hinsichtlich der palästinensischen Mandatszugehörigkeit: BVenvGE v. 28.9.1993 I C 25 / 92 - NVwZ 1994, S. 387ff. 136 Bis zur Vollendung der Einheit Deutschlands galten auch die jenseits der Oder-Neiße-Linie gelegenen Gebiete als "Inland" i.S.d. § 25 RuStAG mit der Folge, daß "auch der freiwillige Enverb einer ausländischen Staatsangehörigkeit innerhalb dieser Gebiete die deutsche Staatsangehörigkeit nicht hat untergehen lassen" (BMI-Richtlinie v. 29.7.1976, in: StAZ 1979, S. 256). Diese Rechtslage hat sich nunmehr nach der Wiedervereinigung v. 3.10.1990 geändert, vgl. dazu oben § 14. 137 Früher sog. Entmündigte; neugefaßt in §§ 1896ff. BGB durch Betreuungsgesetz v. 12.9.1990 (BGBl. I, S. 2002).

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

ausländischen Staatsangehörigkeit durch den gesetzlichen Vertreter unter Wahrung der vormundschaftsgerichtlichen Zuständigkeiten gestellt wurde. 138 Der Verlust kann durch "Genehmigung zur Beibehaltung" gem. § 25 Abs. 2 RuStAG vermieden werden. Die Erteilung der "Genehmigung" muß vor dem ausländischen Staatsangehörigkeitserwerb beantragt und erhalten worden sein. Die zuständige Genehmigungsbehörde hat die Interessen des Antragstellers wie des Staates an der Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit abzuwägen. 139 Im Hinblick auf die Vermeidung der Mehrstaatigkeit ist die Beibehaltungsgenehmigung nur in besonders begründeten Ausnahmefällen zu erteilen. 140

2. Die Erweiterung Art. 1 des Europaratsabkommens über die Verringerung der Mehrstaatigkeit ergänzt den Anwendungsbereich des § 25 Abs. 1 RuStAG insofern, als der automatische Verlust unabhängig vom Aufenthaltsort des Antragstellers eintritt. 141 Gegenüber den Vertragspartnern führt der freiwillige Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaates auch vom Inland aus zum Verlust der bisherigen Staatsangehörigkeit. Art. 1 Abs. 1 des Abkommens 142 lautet: "Volljährige Staatsangehörige einer Vertragspartei, die infolge einer ausdrücklichen Willenserklärung durch Einbürgerung, Option oder Wiedereinbürgerung die Staatsangehörigkeit einer anderen Vertragspartei erwerben, verlieren ihre vorherige Staatsangehörigkeit; die Beibehaltung der vorherigen Staatsangehörigkeit ist ihnen zu versagen."

Darüber hinaus ist die in § 25 Abs. 2 RuStAG eingeräumte Möglichkeit der Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit eingeschränkt. Nach Art. 1, 2. Halbsatz des Abkommens ist die Beibehaltung der vorherigen Staatsangehörigkeit zu versagen. Damit soll unter den Vertragstaaten Mehrstaatigkeit unter allen Umständen vermieden werden. 143 Das Abkommen enthält in einer Anlage Vorbehaltsmöglichkeiten für jede Vertragspartei. Nach Nr. 3 dieser Vorbehaltsregelung kann sich jede Ver138

Dazu Hailbronner

139

Dazu: Hess. VGH Kassel, Beschluß v. 17.8.1992 - 12 UE 1113 / 92 - DVB1. 1992, S. 1552.

/ Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, Kommentar, § 19 Rdnr. 5.

140

Vgl. dazu etwa: Grundsätze für die Erteilung der Beibehaltung, abgedr. bei Hailbronner Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 204ff. 141

BGBl. 1969 II, S. 1953.

142

Abgedr., in: Weidelener

143

/

/ Hemberger, S. 238ff.

Zu dieser Zielsetzung und ihrem Ausdruck in der vorgenannten Bestimmung so auch Hailbronner, Einbürgerung, S. 45 sowie Zuleeg, in : Barwig / Lörcher / Schumacher (Hrsg.), Aufenthalt - Niederlassung - Einbürgerung, S. 255ff. (260).

1

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

tragspartei vorbehalten, "einem ihrer Staatsangehörigen zu gestatten, seine bisherige Staatsangehörigkeit beizubehalten, wenn die Vertragspartei, deren Staatsangehörigkeit er gemäß Art. 1 zu erwerben beantragt, dem vorher zugestimmt hat". 1 4 4 Die Bundesrepublik Deutschland erklärte am 8. September 1969 diesen Vorbehalt. Da nur Österreich denselben Vorbehalt aussprach, gilt er auch nur im Verhältnis zu diesem Vertragsstaat. 145 Dieser Vorbehalt ist auch nach wie vor in Kraft. 1 4 6

IV. Adoption durch einen Ausländer Der einzige familienrechtliche Verlusttatbestand ist die Adoption durch einen Ausländer. Nach § 27 RuStAG verliert ein Deutscher mit der nach den "deutschen Gesetzen wirksamen Annahme als Kind durch einen Ausländer die Staatsangehörigkeit." § 27 RuStAG trägt dem Gedanken Rechnung, daß durch die Adoption das Kind die (staatsangehörigkeits-) rechtliche Stellung eines gemeinschaftlichen Kindes der Ehegatten erlangen soll. 1 4 7 Wegen des in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Grundsatzes der Vermeidung der Staatenlosigkeit tritt der Verlust gemäß § 27 RuStAG aber nur dann ein, wenn der Betroffene durch die wirksame Adoption die Staatsangehörigkeit des Annehmenden erwirbt. Der ausländische Staatsangehörigkeitserwerb muß unmittelbar als Folge der Adoption eintreten. 148 Der Verlust bleibt ebenfalls aus, wenn der Adoptierte mit einem deutschen Elternteil verwandt bleibt (§ 27 Satz 2 RuStAG). 149 Der Verlust tritt sowohl bei Volljährigen als auch bei Minderjährigen ein. 1 5 0 Die Rechtslage ist mithin anders als beim Erwerbstatbestand der Volladoption durch einen Deutschen, vgl. § 6 RuStAG. 151 Gem. § 27, Satz 3 RuStAG erstreckt sich der Verlust auf minderjährige Abkömmlinge, aber auch nur dann, wenn sich der "Erwerb der Staatsangehörigkeit durch den Angenommenen nach Satz 1 auf die Abkömmlinge erstreckt". 152

144

Abgedr. in: Weidelener

/ Hemberger, S. 241f.

145

Vorbehaltserklärung v. 8.9.1969 (BGBl. II, S. 1962), abgedr. in: Weidelener S. 243f. 146

Dazu Hailbronner, Einbürgerung, S. 176.

147

BT-Drs. 7 / 3061,; BT-Drs. 7 / 5087.

148

Makarov / v. Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, § 27 Rdnr. 41.

149

Ebenda, Rdnr. 25

150

Ebenda, Rdnr. 26.

131

Vgl. oben § 15.

152

Makarov / v. Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, § 27 Rdnr. 35ff.

/ Hemberger,

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

§ 19 Das historische System des Entzugs der Staatsangehörigkeit Die Möglichkeit des Entzugs der Staatsangehörigkeit ist so alt wie die positiv-rechtliche Regelung der Staatsangehörigkeit im modernen Sinne überhaupt. Sie hatte und hat System. 153 In den deutschen Staaten vor der Reichsgründung von 1871 führte durchweg "Auswanderung" zur Staatsangehörigkeitswegnahme, teils ipso iure, teils über die Ausübung eines eingeräumten behördlichen Ermessens. 5 4 In Preußen 155 und in Sachsen156 konnte demjenigen, der einer amtlichen Aufforderung zur Rückkehr in das Inland nicht Folge leistete, die Staatsangehörigkeit aberkannt werden. In Baden 157 war der Aberkennungsgrund der "Entschlagung" vorgesehen, worunter die Vornahme gewisser staatsfeindlicher Handlungen verstanden wurde, z.B. Nichtbeachtung eines Heimrufs sowie beharrliche Landflüchtigkeit. In Bayern 158 , Sachsen-Altenburg 159 und Hamburg 160 war die Übernahme eines ausländischen Amtes bzw. der Eintritt in ausländische Militärdienste mit dem ipso iure Entzug der Staatsangehörigkeit bedroht. Nach dem Recht Sachsen-Weimars 161 wurde in dem Eintritt in ausländische Dienste eine "stillschweigende Entsagung" der Staatsangehörigkeit erblickt. Das Gesetz über den Erwerb und Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 hat in den §§ 20, 22 und 23 für den neu geschaffenen deutschen Bundesstaat (Norddeutscher Bund, Deutsches Reich) die Möglichkeit der Aberkennung der Staatsangehörigkeit wegen Nichtbeachtung einer im Kriege erlassenen Rückkehraufforderung sowie wegen Nichtbefolgung einer Aufforderung zum Austritt aus ausländischen Diensten statuiert. 6 2 Gem. § 21 konnte Deutschen, die das Reichsgebiet verlassen hatten 1,3

Lichter, Das Bonner Grundgesetz und die Staatsangehörigkeit, StAZ 1954, S. 241; Seifert, deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden, DÖV 1972, S. 67 Iff.

Die

154 V. Keller ! Trautmann, S. 404ff.; Maßfeiler, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, S. 80ff.; Lichter / Hoffmann, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 17ff.; Schätzet, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 236ff. 155

§ 22 des Gesetzes von 1842; abgedr. in: Lichter, Die Staatsangehörigkeit, S. 519ff.

156

§ 14 des Gesetzes von 1852; abgedr. in: Lichter, Die Staatsangehörigkeit, S. 533ff.

157

Verordnung v. 21.1.1818; Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 501f.

1,8

§ 10 des Edikts über das Indigenat von 1818; abgedr. in : Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 503ff.

159

Gesetz von 1831 und 1838; abgedr. in: Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 544ff.

160

§ 3 des Gesetzes von 1864; abgedr. in: Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 555ff.

161

Gesetz v. 6.4.1859; abgedr. in: Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 540ff.

162

BGBl. S. 355-360; abgedr. in: Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 491ff.

12

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

und sich zehn Jahre lang ununterbrochen im Ausland aufhielten, ihre Staatsangehörigkeit aberkannt werden, falls sie sich nicht in die Matrikelliste eines Reichskonsulats eintrugen. Nach § 21 Abs. 3 konnte die zehnjährige Frist durch Staatsverträge verkürzt werden, und zwar für Staatsangehörige, "welche sich in einem Staate des Auslands mindestens fünf Jahre ununterbrochen aufhalten und in demselben zugleich die Staatsangehörigkeit erwerben." Im Sinne dieser Ermächtigung hatte schon der Norddeutsche Bund den Vertrag vom 22. Februar 1868 mit den USA betreffend die Staatsangehörigkeit derjenigen Personen, welche aus dem Gebiet des einen Teils in dasjenige des anderen einwandern, geschlossen.163 Die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Hessen und Baden folgten im gleichen Jahr mit im wesentlichen identischen Regelungen. 164 Art. 1 der nach dem amerikanischen Gesandten George Bancroft (1800-1891) benannten Verträge lautete im Abkommen mit dem Norddeutschen Bund: "Angehörige des Norddeutschen Bundes, welche naturalisierte Staatsangehörige der Vereinigten Staaten von Amerika geworden sind und fünf Jahre lang ununterbrochen in den Vereinigten Staaten zugebracht haben, sollen von dem Norddeutschen Bund als amerikanische Angehörige erachtet und als solche behandelt werden."

Der Entzug der norddeutschen Staatsangehörigkeit ist in der Formulierung nicht ausdrücklich enthalten, er ist aber sinngemäß umschrieben. Die betreffenden Personen sollen "als amerikanische Angehörige erachtet und als solche behandelt werden". Insbesondere die spätere Einbindung der BancroftVerträge in den Regelungszusammenhang des § 21 des Gesetzes aus dem Jahre 1870 stellte klar, daß die Betroffenen einen Status haben sollten vergleichbar denjenigen Personen, die sich zehn Jahre im Ausland aufgehalten haben. 165 Wenngleich Abs. 3 des § 21 im Unterschied zu Abs. 1 die "Naturalisation" in die Angehörigkeit eines ausländischen Staates voraussetzte, handelte es sich doch um eine nachträgliche, unabhängig vom Willen des Betroffenen und unvermeidbare Wegnahme der (Nord-) deutschen Staatsangehörigkeit. 166 § 23 Abs. 1 des Steuerfluchtgesetzes 167 vom 25. Juli 1918 schuf die Möglichkeit der Entziehung der Staatsangehörigkeit aufgrund einer rechtskräftigen Verurteilung wegen Steuerflucht. Das Gesetz war allerdings nur befristet

163

Bancroft-Vertrag (BGBl. 228); abgedr. in: Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 474ff.

164

Dazu: Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 476ff.

165

Dazu: Lichter, ebenda; Schätzet, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 236f; v. Keller j Trautmann, S. 408ff. 166

Lichter, Staatsanghörigkeit, S. 477; v. Keller / Trautmann, S. 409.

167

RGBl. I S. 951.; abgedr. in: Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 497ff.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

bis zum 31. Dezember 1924 und wurde über seinen Fristablauf nicht verlan„ . 168 gert. § 27 RuStAG a.F. stellte die Ausbürgerung in das behördliche Ermessen für den Fall, daß ein Deutscher im Ausland im Falle eines Krieges oder einer Kriegsgefahr einer vom Kaiser angeordneten Aufforderung zur Rückkehr keine Folge leistete. Die Vorschrift des § 27, die dem alten § 20 des Gesetzes von 1870 entsprach, hatte in den Kriegen eine erhebliche Rolle gespielt. Die Hauptfolge der Entziehung der Staatsangehörigkeit war, daß das in Deutschland gelegene Eigentum des Ausgebürgerten unter Sequester gestellt werden konnte. 169 Nach § 28 RuStAG a.F. konnte einem Deutschen, der ohne Erlaubnis seiner Regierung in ausländische Staatsdienste getreten ist, die Staatsangehörigkeit aberkannt werden, wenn er einer Aufforderung zum Austritt aus diesem Staatsdienst nicht Folge leistete. 170 Die Aufhebungstatbestände der §§ 27 und 28 RuStAG a.F. erstreckten sich gem. § 29 RuStAG a.F. auch auf die Ehefrau und auf diejenigen Kinder, deren gesetzliche Vertretung dem Ausgebürgerten kraft elterlicher Gewalt zustand, soweit sich die Ehefrau oder die Kinder mit ihm in häuslicher Gemeinschaft befanden. 1 / 1 Möglichkeiten des Entzuges wurden im "Dritten Reich" teils aufgehoben, teils neu statuiert. Durch § 5 der Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 20. Januar 1942 wurde noch in nationalsozialistischer Zeit § 26 RuStAG (a.F.) aufgehoben. Nach letztgenannter Vorschrift verlor ein Deutscher, wenn er sich im Ausland aufhielt, mit der Vollendung des 31. Lebensjahres die deutsche Staatsangehörigkeit, sofern er bis zu diesem Zeitpunkt noch keine endgültige Entscheidung über seine Dienstverpflichtung herbeigeführt hat und auch eine Zurückstellung über diesen Zeitpunkt hinaus nicht erfolgt ist. Gleiches galt bei Fahnenflucht nach Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntmachung des Beschlusses, durch den der Betreffende für fahnenflüchtig erklärt wurde. 172 Der NS-Staat hat die Aufhebung der deutschen Staatsangehörigkeit zu einem politischen Kampfmittel gegen Emigranten und rassisch "Unerwünschte" gemacht. 173 § 2 des Gesetzes vom 14. Juli 1933 bestimmte, daß demjenigen die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt werden konnte, der 168

§ 30 des Steuerfluchtgesetzes.

169

Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 499; Schätzet, Das Staatsangehörigkeitsrecht, S. 240ff.

170

Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 500.

171

Maßfeiler,

112

Makrov / v. Mangoldt, Art. 16 Rdnr. 19.

173

Ebenda, Rdnr. 17.

Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, S 8If. m.\v.N.

1

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

"durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt" hatte. Nach vorsichtigen Schätzungen waren von den Bestimmungen des Widerrufsgesetzes 175 aus dem Jahre 1933 ca.40.000 Deutsche betroffen. Die 11. Verordnung 176 zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 erweiterte die Aberkennung kollektiv auf alle im Ausland ansässigen deutschen Juden und betraf etwa 150.000 deutschen Juden 177 im Ausland. 178 § 2 dieser Verordnung entzog einem Juden die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn er beim Inkrafttreten dieser Verordnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hatte bzw. nach dem Inkrafttreten der Verordnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt später im Ausland nahm. 1 7 9 Der Alliierte Kontrollrat hatte mit Gesetz 180 von 1945 diese nationalsozialistischen Maßnahmen auf dem Gebiet der deutschen Staatsangehörigkeit aufgehoben.

174 RGBl. I 1933, S. 480; abgedr. u.a. in: Weidelener Ziemske, Textsammlung, Rdnr. 170.

/ Hemberger, S. 183; Bergmann / Korth /

173 Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit v. 14.7.1933 (RGBl. I, S. 480); Ausführungsbestimmungen zu dem vorgenannten Gesetz v. 26.7.1933 (RGBl. I, S. 538). 176 RGBl. I 1941, S. 722; abgedr. u.a. in: Weidelener Ziemske, Textsammlung, Rdnr. 171.

/ Hemberger, S. 184; Bergmann / Korth /

177 Der Begriff "Jude" war bereits in der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz v. 14.11.1935 (RGBl. I, S. 1333) definiert: "§ 5 (1) Jude ist, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltem abstammt. (2) Als Jude gilt auch der von zwei volljüdischen Großeltern abstammende Staatsangehörige jüdische Mischling, a) der beim Erlaß des Gesetzes der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat oder in sie aufgenommen wird, b) der beim Erlaß des Gesetzes mit einem Juden verheiratet ist oder sich danach mit einem solchen verheiratet, c) der aus einer Ehe mit einem Juden im Sinne des Absatzes 1 stammt, die nach dem Inkraftreten des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre v. 15. September 1935 (RGBl. I, S. 1146) geschlossen ist, d) der aus dem außerehelichen Verkehr mit einem Juden im Sinne des Absatzes 1 stammt und nach dem 31. Juli 1936 geboren wird." 178 Die Zahlen stammen aus der sehr aufschlußreichen Schilderung der Einzelfolgen einschließlich der Vermögenseinziehungen von Liesner / Geißler / Steinebach, Menschenschicksale nach Originalakten, 1985. 179

V. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, S. 478.

180

Abi. Kontrollrat, S. 3, Art. 1 Abs. 1 lit. 1.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

§ 20 Das Entzugsverbot in den Beratungen des Parlamentarischen Rates Erstmalig in einer deutschen Verfassung ist das Entzugsverbot in Art. 6 Abs. 2 der Bayerischen Verfassung aus dem Jahre 1946 enthalten. 181 Dort heißt es noch heute: "Die Staatsangehörigkeit kann nicht aberkannt werden".

Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG übernahm diesen Gedanken im Kern: "Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden".

In den Beratungen zum Grundgesetz kam der Gedanke des Entzugsverbots relativ spät auf. 182 Der Herrenchiemsee-Entwurf enthielt noch keinen entsprechenden Vorschlag. 183 Das Entzugsverbot wurde erstmals in der 25. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 24. November 1948 angeregt. 184 Hermann v. Mangoldt (1895-1953) warf die Frage auf, ob gegen eine Gesetzgebung über die "Aberkennung" der Staatsangehörigkeit - wie sie etwa zwischen 1933 und 1945 auf Grund von Ausbürgerungsgesetzen stattfand 185 - verfassungsrechtlicher Schutz errichtet werden sollte: "Es gab doch das berüchtigte Gesetz über die Aberkennung der Staatsangehörigkeit. Es ist die Frage, ob man gegen Gesetze über die Aberkennung der Staatsangehörigkeit eine verfassungsrechtliche Sicherung vorsehen sollte".

Hermann von Mangoldt verwies aber zugleich auch auf die Aberkennungsprobleme der damaligen Zeit: 1 8 6 "Die Bestrebungen in der zwischenstaatlichen Welt gehen dahin, die Möglichkeit der Entstehung der Staatenlosigkeit zu beschränken. Die Frage der Staatenlosigkeit spielt jetzt im Verhältnis zu den Oststaaten eine große Rolle. Das Verfahren der Aberkennung der Staatsangehörigkeit, das wir in der Nazizeit gehabt haben, wird jetzt im Osten in großem Umfang geübt, anfangend 181 Dazu: Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Handkommentar, Art. 6 Rdnr. Iff; zur bayerischen Staatsangehörigkeit: Bornemann, BayVBl. 1979, S. 748ff; ders., BayVBl. 1982, S. 590ff; Gremer, BayVBl. 1981, S. 527f.; vgl. auch unten § 52. 182

Hermann v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, S. 107ff.

183

Ebenda.

184

Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Akten und Protokolle, hrsg. v. Deutschen Bundestag und Bundesarchiv, Bd. 5 / II, S. 709. 185 Vgl. dazu: Hirsch / Majer / Meinck (Hrsg.): Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus, ausgewählte Schriften, Gesetze und Gerichtsentscheidungen von 1933-1945, 1984; Hepp (Hrsg.): Die Ausbürgerungen deutscher Staatsangehöriger 1933-1945 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen, Bd. 1, 1985. 186

Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/II, S. 709f.

16

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

mit den Weißrussen, denen nach dem 1. Weltkrieg die Staatsangehörigkeit entzogen wurde. Genau das gleiche ist mit einer großen Zahl anderer Menschen getan worden, die so in der Welt herumschwimmen, ohne irgendwo Fuß fassen zu können, und dadurch in eine sehr bedenkliche Situation geraten".

Die Initiative erhielt spontan und unwidersprochen Zuspruch. In der 26. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 30. November 1948 kam es diesbezüglich zu einer ersten, eingehenden Behandlung der Aufnahme des Entzugsverbotes in das Grundgesetz. Hermann v. Mangoldt regte an, daß Art. 16 Abs. 1 Satz 1 folgenden Wortlaut erhalten solle: 187 "Niemand darf willkürlich seiner Bundesangehörigkeit beraubt werden."

Hermann v. Mangoldt wollte also nicht gänzlich das historisch auch in Deutschland gewachsene "System der Aberkennung" der Staatsangehörigkeit beseitigen. Er beabsichtigte statt dessen, die "Aberkennung" auch zukünftig "in gewissen Fällen" zuzulassen. Dabei wies er darauf hin, daß jedes Staatsangehörigkeitsrecht Verlust der Staatsangehörigkeit für bestimmte Fälle vorsehe, und vorsehen müsse, nicht aber dürfe eine "willkürliche", sachlich nicht gerechtfertigte Entziehung zugelassen werden. 188 Nur der "willkürliche" Entzug der Staatsangehörigkeit sollte zukünftig - nach ihm - ausgeschlossen sein. Aus diesem Grunde präferierte Hermann v. Mangoldt eine Wortlautanlehnung an die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen. 1 8 9 Die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung beschlossene Fassung enthielt ein Entzugsverbot beschränkt auf die "willkürlichen" Fälle in Art. 15Nr.2: 1 9 0 "Niemand darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen noch ihm das Recht versagt werden, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln."

Art. 15 Nr. 2 Allgemeine Menschenrechtserklärung beschränkte das Entzugsverbot auf "Willkürakte" des Staates. Zielrichtung des Entzugsverbotes auf völkerrechtlicher Ebene waren die Vermeidung von Ausbürgerungen wegen "unerwünschter" politischer Haltung. Die politisch motivierte Zwangsausbürgerung erreichte einen ersten Höhepunkt in den Jahren 1924/25, als die junge Sowjetrepublik etwa zwei Millionen ihrer Staatsangehörigen, die gegen das neue Regime agiert hatten oder von denen man an-

187

Ebenda, S. 714.

188

Ebenda.

189

Ebenda.

190

Resolution 217 (III) Universal Declaration of Human Rights, in: United Nations, General Assembly, Official Records third Session (parti) Resolutions (Doc. A / 810), S. 71.; zum Recht auf Staatsangehörigkeit aus Art. 15 Allgemeine Menschenrechtserklärung s. Bleckmann, Völker- und verfassungsrechtliche Probleme des Erwerbs und des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit, S. II / 13ff.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

17

nahm, daß sie in Opposition zu ihm standen, ausbürgerte. 191 Politisch, rassisch und religiös bedingte Zwangsausbürgerung hatte es auch in Deutschland gegeben. Auch nach dem 2. Weltkrieg waren Zwangsausbürgerungen insbesondere in den ehemaligen Staaten des Ostblocks keine Seltenheit. Aus nationalen Gründen wurden die als feindlich angesehenen deutschen Minderheiten in der CSSR, Polen und Jugoslawien, sowie die ungarische Minderheit in der CSSR ausgebürgert. 192 Politisch motivierte Zwangsausbürgerungen erfolgten in der ehemaligen UdSSR sowie in der ehemaligen DDR. 1 9 3 Der Abgeordnete Ludwig Bergsträsser wollte wegen der Anlehnung an die Zielsetzung des Art. 15 Nr.2 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von vornherein eine Beschränkung des Wortlautes auf "politisch" motivierte Entziehungen. 194 Zwangsausbürgerungen allein aus "politischen" Gründen sollten verfassungsrechtlich untersagt werden. Bergsträsser regte entsprechend folgende Fassung des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG an: 1 9 5 "Niemand darf aus politischen Gründen oder wegen seiner politischen Einstellung seiner Bundesangehörigkeit beraubt werden."

Das historische "System der Aberkennung" sollte also noch weitergehender als nach der Vorstellung Hermann v. Mangoldts aufrechterhalten werden. Gegen die Verkürzung des Entzugsverbotes auf "politische" Gründe wandte Hermann v. Mangoldt ein, daß in gewissen Fällen, z.B. beim Eintritt in fremden Staatsdienst oder in ausländisches Militär (Fremdenlegion) ohne Genehmigung des Heimatlandes oder bei Spionage das Gesetz Vorschriften über den Verlust der Staatsangehörigkeit enthalten könne, obwohl hier politische Gründe gegeben seien. 196 Um auch diese Fälle berücksichtigen zu können, schien es nach Hermann v. Mangoldt besser, eine Grenze durch das Wort "willkürlich" zu setzen, im übrigen aber diese Einzelfragen dem Gesetzgeber zu überlassen. Hermann v. Mangoldt hielt es für angebracht, "diese Dinge gemäß dem Satz der Vereinten Nationen" zu regeln: 197

191 Randelzhofer, in: Maunz / Dürig/ Herzog/ Scholz, Art. 16 Rdnr. 32.; vgl. auch Kloepfer, Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung, in: Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte, S. 35ff. (50f.) mit Verweis auf Feldmann / Geisel, Deutsches Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, S. 50 sowie Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, abgedr. in: Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, S. 9ff. (34). 192

Vgl. dazu: Liesner, Aussiedler, 1988; Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 111-126.

193

Ebenda.

194

Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Parlamentarischer Rat, Bd. 5 / II, S. 714f.

195

Ebenda, S. 715.

196

Ebenda.

197

Ebenda.

1

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

"Die Art der Regelung der Aberkennung der Staatsangehörigkeit war ein Schandfleck für uns und ist heute ein Schandfleck ftlr den Osten. Wie sich der Satz praktisch auswirken wird, muß man erst abwarten".

Schließlich beabsichtigte Hermann v. Mangoldt über die Aufnahme des Wortes "willkürlich" neben den "Sicherungen" gegen Staatenlosigkeit vor allem Vorkehrungen gegen Mehrstaatigkeit für verfassungsrechtlich zulässig zu erachten: 198 "Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf in Gesetzen nur für Fälle vorgesehen werden, in denen der Betroffene bereits eine andere Staastsangehörigkeit erworben hat. Das Gesetz kann also einen solchen Verlust der Staatsangehörigkeit vorsehen, aber nur für Fälle, in denen der Betroffene bereits eine andere Staatsangehörigkeit erworben hat".

Die Einschätzung der Mehrstaatigkeit als "Übel" wurde nicht unwidersprochen hingenommen. Sie erhielt aber überwiegend Zuspruch. 199 A m Ende der 26. Sitzung des Grundsatzausschusses erhielt der Vorschlag Hermann v. Mangoldts zunächst Zustimmung. 200 Es blieb zunächst bei der von ihm vorgeschlagenen Formulierung für Art. 16 Abs. 1 Satz 1: "Niemand darf willkürlich seiner Bundesangehörigkeit beraubt werden."

Hermann v. Mangoldt legte in der 1. Lesung des Hauptausschusses vom 4. Dezember 1948 noch einmal die Gründe dar, die den Grundsatzausschuß zu seiner Wortfassung veranlaßt hatten. 201 Er führte zur Erläuterung der vorgelegten Fassung Fälle auf, in denen ein "Verlust" der Staatsangehörigkeit auch weiterhin möglich sein sollte. Es könne die Notwendigkeit bestehen, "Doppelstaatlichkeit zu verhindern; der einzelne kann aus freien Entschlüssen die Staatsangehörigkeit wechseln wollen".

Sachlich erhob sich kein Widerspruch, doch wurde der Wortlaut des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 folgendermaßen abgeändert: 202 "Die Bundesangehörigkeit darf nicht willkürlich entzogen werden."

Der allgemeine Redaktionsausschuß beanstandete insbesondere das Wort "willkürlich" in der Fassung des Hauptausschusses.203 Damit werde nur ein gesetzliches Handeln erfaßt, nicht aber werde die Ausbürgerung in einem 198

Ebenda, S. 716.

199

Ebenda, S. 715ff.

200

Ebenda, S. 719.

201

Abgedr. in: JöR, N.F. Bd. 1, S. 160ff.

202

Ebenda.

203

Ebenda.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

gesetzlichen Verfahren ausgeschlossen. Er empfahl eine abgeänderte Fassung zu Art. 16 Abs. 1 Satz 1 in seinem Vorschlag vom 13. Dezember 1948: 204 "Die Staatsangehörigkeit darf nur aufgrund eines Gesetzes, doch nicht aus politischen Gründen entzogen werden."

In der 32. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 11. Januar 1949 erwiderte Hermann v. Mangoldt auf die Kritik des Allgemeinen Redaktionsausschusses, der Ausdruck "willkürlich" bedeute "ohne wesentlichen Grund". 205 Der Abänderungsvorschlag des Grundsatzausschusses zu Art. 16 Abs. 1 erhielt daraufhin wieder folgenden Wortlaut: 206 "Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht willkürlich entzogen werden."

In der 2. Lesung des Hauptausschusses vom 19. Januar 1949 kam es vor allem über das Wort "willkürlich" zur Debatte. Hermann v. Mangoldt führte erneut die Gründe an, welche den Grundsatzausschuß bewogen hatten, dieses Wort zu wählen und beizubehalten. Der Begriff bedeute "nicht ohne sachlichen Grund". Man solle unbedingt dem Gesetzgeber die Möglichkeit lassen, "gewisse Dinge" zu regeln. Diese "gewissen Dinge" konkretisierte er im einzelnen: 208 "Es gibt eine Reihe von Fällen, in denen etwas derartiges (Entzug) möglich sein muß. Etwa den, daß die Frau die Staatsangehörigkeit eines Ausländers erwirbt, indem dann also eine Deutsche durch Heirat aus der eigenen Staatsangehörigkeit entlassen werden soll. Weiter gibt es die Fälle, in denen jemand den Willen hat und dies klar bestätigt, seine Treueverpflichtung gegenüber dem eigenen Staatswesen nicht einzuhalten, indem der Betreffende etwa in fremde Dienste eintritt und in diesen fremden Diensten gegen den eigenen Staat arbeitet. Für diese Fälle würde ich eine solche Möglichkeit offen lassen, nur mit der Beschränkung, die dem Völkerrecht entspricht, daß die Staatsangehörigkeit nur dann aberkannt wrerden kann, wenn der Betreffende eine neue Staatsangehörigkeit erwirbt."

Dagegen erhob sich jedoch Widerspruch durch den Abgeordneten Friedrich Wilhelm Wagner 209 "Ich möchte durch einen ganz einfachen und klaren Satz den Grundgedanken festgestellt haben, daß die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen wer-

204

Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat, Bd. 5 / II, S. 884.

205

Ebenda, S. 947.

206

JöR, Bd. 1, S. 162.

207

Ebenda, S. 163.

208

Ebenda, S. 163f.

209

Ebenda.

16

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

den darf. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß alle faschistischen und Diktaturländer, wenn ihnen das politische Gesicht von irgendjemand nicht gepaßt hat, diesem die Staatsangehörigkeit abgesprochen haben. Ich w i l l nicht haben, daß ein Staat, eine Regierung und ein Parlament irgendeinem Deutschen aus politischen Gründen die Staatsangehörigkeit nimmt. Wenn Sie (an Hermann v. Mangoldt gerichtet) nun sagen, es könne sein, daß jemand im Dienst eines anderen Landes steht, dann müsse die Möglichkeit gegeben werden, ihm die Staatsangehörigkeit abzusprechen, so frage ich Sie: Hängt das nicht sehr von der Art der Betrachtung ab, von der ganzen politischen Atmosphäre und davon meinetwegen, daß in Deutschland an irgendeinem Tag neuer Nationalsozialismus heraufzieht - wir wollen hoffen, daß das nicht eintritt, aber es könnte sein -, der schon eine Propaganda für internationale Veränderung als ein Im-Dienst-Stehen beim Feind oder bei einem anderen Land betrachtet?"

Der Antrag des Abgeordneten Wagner, "willkürlich" zu streichen, wurde letztlich angenommen. Damit ergab sich für Art. 16 Abs. 1 Satz 1 folgende, noch heute unveränderte Fassung: 210 "Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden."

In der 3. Lesung des Hauptausschusses vom 8. Februar 1949 machte Hermann v. Mangoldt einen letzten Versuch, die Beschränkung des Entzugsverbotes auf "willkürliche" Fälle durchzusetzen. Zur Begründung führte er aus, daß die Fassung des Hauptausschusses aus zweiter Lesung widerspruchsvoll sei: Gem. Satz 1 des Art. 16 Abs. 1 des Entwurfs zum Grundgesetz dürfe die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden, während Satz 2 den "Verlust" einräume und damit einen "Entzug" doch zulasse. Deshalb müsse in Satz 1 "willkürlich" hinzugefügt werden. 211 Demgegenüber betonte der Abgeordnete Georg August Zinn, daß der "Entzug" in Satz 1 nicht identisch sei mit dem "Verlust" in Satz 2. Der "Verlust" der Staatsangehörigkeit im Sinne des zweiten Satzes trete nicht als Folge eines Verwaltungsaktes ein, sondern sei die Folge eines bestimmten, gesetzlich festgelegten Tatbestandes, z.B. einer Eheschließung mit einem Ausländer. Der erste Satz denke an ganz andere Fälle, nämlich daran, daß der Staat jemanden durch einseitigen Verwaltungsakt die Staatsangehörigkeit nehme. 212 Der Antrag Hermann v. Mangoldts wurde erneut abgelehnt.

210

JöR, Bd. l , s . 164.

211

Ebenda.

212

Ebenda.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

§ 21 Verlust oder Entzug der Staatsangehörigkeit? Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG gebietet: "Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden".

Satz 2 des Artikels bestimmt: "Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur aufgrund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird."

Die in diesem Grundgesetzartikel enthaltenen Begriffe "Entzug" und "Verlust" sind im Schrifttum umstritten. 213 Nach herrschender, auch vom BVerfG getragener Meinung ist "Entzug" der staatliche Erlöschensakt der deutschen Staatsangehörigkeit, den der Betroffene "nicht beeinflussen kann". 2 1 4 "Verlust" hingegen ist der Erlöschensvorgang, der auf unmittelbare staatsangehörigkeitsrechtliche Handlungen und dem "selbstverantwortlichen und freien Willensentschluß" des Betroffenen gründet. Die h.M. sieht demzufolge den "Entzug" als aliud zum "Verlust". Wegen der unterschiedlichen Rechtsfolgen beider Rechtsbegriffe sind sie streng voneinander abzugrenzen. Das Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit durch "Entzug" ist gem. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG untersagt; das Erlöschen durch "Verlust" ist dagegen zulässig gem. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Abgrenzung beider Erlöschensakte erfolgt nach h.M. mittels des Merkmals "Beeinflußbarkeit durch den Betroffenen". Sie stellt aus diesem Grunde primär auf den Willen des Betroffenen ab. 2 1 5 Ist das staatlich angeordnete Erlöschen der Staatsangehörigkeit von ihm willensgetragen, liegt zulässiger "Verlust" vor. Äußert sich der Wille des Betroffenen in "Anträgen" auf Aufgabe der Staatsangehörigkeit, ist dies unproblematisch ein Fall des Verlustes. So zählen unstreitig "Entlassung auf Antrag" (§§ 18 ff. RuStAG) und "Verzicht auf Antrag" (§ 26 RuStAG) zu den Verlusttatbeständen. Deren Anforderungen sind ausschließlich an Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen. 213

Vgl. zum Streitstand: Makarov / v. Mangoldt, Art. 16 Rdnr. 9ff.

214

BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), v. 22.6.1990 - 2 BvR 116 / 90, NJW 1990, S. 2193f. (2193); BT-Drs. 2 / 2 1 3 5 , S. 2f. (Minderheit zum Zweiten Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit, vgl. oben § 8); Schätzet, S 329f.; Gross, DVB1. 1954, S. 802; Seifert, Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden, in: DÖV 1972, S. 67 Iff.; Lichter, Das Bonner Grundgesetz und die Staatsangehörigkeit, in: StAZ 1954. S. 24Iff.; Maßfeiler, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, S. 80ff; Kimminich, Bonner Kommentar, Art. 16 Rdnr. 34ff.; Randelzhofer, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 16 Rdnr. 48ff.; Bleckmann, Staatsrecht II Die Grundrechte, S. 964ff; ders., Grundgesetz und Völkerrecht S. 143ff. 215 Dazu Randelzhofer, der das Willenselement ergänzt um das Merkmal der "Vermeidbarkeit"; in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 16 Rdnr. 48ff.

11 Ziemske

16

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

Nach h.M. liegen aber auch in den anderen "antragsbedingten" automatischen Erlöschenstatbeständen des § 25 Abs. 1 RuStAG sowie des Art. 1 des Übereinkommens über die Verringerung von Mehrstaatigkeit Verlustregelungen vor. Hinsichtlich des § 25 Abs. 1 RuStAG ist dies vom BVerfG ausdrücklich durch Kammerbeschluß vom 22. Juni 1990 bestätigt. 216 In dem Verfahren rügte der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts auf Auslieferungsverbot aus Art. 16 Abs. 2 GG. Die Anordnung der Auslieferung an das Ausland hätte nicht erfolgen dürfen, weil er nach wie vor Deutscher sei. Zwar hätte er während eines Daueraufenthalts in den USA die amerikanische Staatsangehörigkeit auf Antrag erworben. Die deutsche Staatsangehörigkeit sei aber deswegen nicht erloschen, auch nicht gem. § 25 Abs. 1 RuStAG. Denn das Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit sei nicht "willensgetragen" gewesen. Die Hinwendung zu einem anderen Staat sei aus absolut zwingenden geschäftlichen Notwendigkeiten erfolgt. Das BVerfG prüfte im Zusammenhang dieser Beschwerde die Vereinbarkeit des § 25 Abs. 1 RuStAG mit Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG, was es im Ergebnis bejahte. Zur Begründung führte es aus: 217 "Der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit bei Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit nach §§ 17 Nr.2, § 25 Abs. 1 RuStAG ist keine Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit i.S.d. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. Zwar tritt der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit ohne Antrag als automatische Rechtsfolge ein, wenn der Betroffene den gesetzlichen Tatbestand des § 25 Abs. 1 RuStAG verwirklicht hat und keine Ausnahmen nach § 25 Abs. 1 und Abs. 2 RuStAG gegeben sind. Der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit ist jedoch nicht die Folge eines allein auf dem Willen des Staates zur Wegnahme der deutschen Staatsangehörigkeit beruhenden Aktes, sondern tritt aufgrund von Handlungen des Betroffenen ein, die auf einem selbstverantwortlichen und freien Willensentschluß gegründet sind. Der Betroffene hat es selbst in der Hand, die deutsche Staatsangehörigkeit zu behalten, sei es, daß er auf den Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit verzichtet, sei es, daß er in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen dauernden Aufenthalt aufrechterhält (§ 25 Abs. 1 RuStAG) bzw. eine Genehmigung zur Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit vor Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit einholt (§ 25 Abs. 2 RuStAG)."

Nach h.M. ist der "Entzug" der Staatsangehörigkeit also "Fremdausbürgerung". Der "Verlust" hingegen ist "Selbstausbürgerung". Die h.M. kann sich auf die Entstehungsgeschichte des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG stützen. Sie verdeutlicht, daß das Entzugsverbot "Zwangsausbürgerungen" unterbinden

216 BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluß v. 22.6.1990 - 2BvR 116 / 90, abgedr. in: NJW 1990, S. 2193f. 217

Ebenda, S. 2193.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

wollte. Die Intention des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG ist dagegen eine andere. Satz 2 will primär Staatenlosigkeit verhindern. 218 Die zweite im Schrifttum vertretene Ansicht zu den Begriffspaaren "Entzug" und "Verlust" hält im Ausgangspunkt an der abgrenzenden Klassifizierung der h.M. fest. Auch nach ihr ist "Entzug" Zwangsausbürgerung. Als "Verlust" i.S.d. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG ist nach ihr "jeder Wegfall der deutschen Staatsangehörigkeit zu verstehen, der nicht Entziehung ist". 2 1 9 Doch neben dieser materiellen Abgrenzung stellt sie formale Kriterien der Abgrenzung auf: 2 2 0 "Entzug ist jede individuelle, einzelaktmäßige oder allgemein verfügungsartige Zwangsausbürgerung, gleichgültig ob durch Verwaltungsakt, Richterakt oder Sonder- oder Maßnahmegesetz."

Diese Ansicht nimmt entgegen der h.M. folglich "generell-abstrakte" Regelungen des Gesetzgebers aus dem Anwendungsbereich des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG heraus. Sie geht zurück auf eine frühe erste Definition des "Entzuges" durch den Bundesminister des Innern im Jahre 1950. Danach war der "Entzug" zunächst nur auf Aberkennungen der Staatsangehörigkeit durch Verwaltungsakt begrenzt, der zudem nicht, wie im Falle der Entlassung gem. §§ 17 Ziff. 1 i.V.m. 18 bis 24 RuStAG, auf Antrag erfolgte. 221 Diese Einengung des Entzugsbegriffs auf Akte der Exekutive war offensichtlich mit Art. 1 Abs. 3 GG unvereinbar. Denn gem. Art. 1 Abs. 3 GG binden die nachfolgenden Grundrechte alle drei Gewalten, nicht nur die Exekutive. 2 2 2 Aus diesem Grunde erfolgte von Teilen der Literatur eine Weiterentwicklung dieser Ansicht. 223 Das Entzugsverbot sei auch an Legislative und Judikative adressiert, es erfasse auch Wegnahmen der Staatsangehörigkeit durch Richterakt und "Gesetz". 224 Hinsichtlich der Wegnahmeakte durch den Gesetzgeber nimmt aber auch diese Ansicht eine Einschränkung vor. Es müsse sich bei den Gesetzen um sog. "Sonder- oder Maßnahmegesetze" handeln. 225 Entziehungen durch generell-abstrakte Gesetze seien nicht an Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG, sondern nur am allgemeinen Willkürverbot des 218 So v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Anm. III2a zu Art. 16 GG; Lichter / Hoffmann, Staatsangehörigkeitsrecht, Art. 16 GG, Rdnr. 4. 219

Makarov / v. Mangoldt, Art. 16 Rdnr. 20.

220

Makarov / v. Mangoldt, Art. 16 GG, Rdnr. 12ff.; Hans v. Mangoldt, Die Deutsche Staatsangehörigkeit, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 5, Rdnr. 88; v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, S. 489; Maunz, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 16 Rdnr. 9. 221

Rundschreiben des BMI v. 27.3.1950, in: StAZ 1950, S. 122.

111

Makarov / v. Mangoldt, Art. 16 Rdnr. 12ff.

223

Ebenda, Rdnr. 9.

224

Ebenda unter Angabe weiterer Literatur.

225

Ebenda, Rdnr. 18.

16

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

Art. 3 Abs. 1 GG sowie seiner konkreten Ausgestaltung in Art. 3 Abs. 3 GG zu messen. Damit fuhrt diese Ansicht nach wie vor zu Problemen der Vereinbarkeit mit Art. 1 Abs. 3 GG. Denn Grundrechtsadressat ist die gesetzgebende Gewalt insgesamt, in all ihren Tätigkeiten und nicht beschränkt auf "Sonder- und Maßnahmegesetze". Generell-abstrakte Rechtssätze sind gerade nicht von vornherein aus dem Anwendungsbereich des Art. 1 Abs. 3 GG herausgenommen. 226 Aus diesem Grunde ist Hans v. Mangoldt bemüht, aus Art. 16 Abs. 1 GG selbst eine Beschränkung des Entzugsverbotes auf "Sonder- bzw. Maßnahmegesetze" herzuleiten. Jede andere, generell-abstrakte Wegnahme durch den Gesetzgeber will er aus dem Schutzbereich des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG herausnehmen und stattdessen dem Schutz des allgemeinen Willkürverbotes unterstellen. 227 Hans v. Mangoldt entwickelt damit für den Schutz der deutschen Staatsangehörigkeit und ihrer Träger eine spezielle Einschränkung der Bindungsklausel des Art. 1 Abs. 3 GG: Im Staatsangehörigkeitsrecht soll der Gesetzgeber nicht gem. Art. 1 Abs. 3 GG an Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG gebunden sein, wenn er generell-abstrakt handelt; durch Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ist der Gesetzgeber nicht daran gehindert, mittels generell-abstrakter Regelungen die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen. Er muß nur das Willkürverbot des Art. 3 GG beachten. Damit zielt diese, den Schutzbereich des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG einengende Ansicht darauf, das im Parlamentarischen Rat gescheiterte Mangoldt'sehe Konzept des Entzugsverbotes nachträglich durch verkürzende Auslegung doch wieder wirken zu lassen. Beabsichtigt war und ist von dieser Konzeption, den Gesetzgeber im Ergebnis nicht an Ausbürgerungen zu hindern, sondern ihn nur an sachlich legitimierte Gründe zu binden. Hans v. Mangoldt begründet dies aus der "durch nationalsozialistische Erfahrung bestimmten Zielrichtung der Vorschrift" des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. Denn es soll vor allem die Verwaltung, nicht aber der Gesetzgeber gewesen sein, gegen den sich das Grundgesetz in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG wenden wollte: 2 2 8 "Es war vor allem die durch das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14. Juli

226 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I I I / 1, S. 1269; Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 964: "Obwohl sich dieses Verbot an alle drei Staatsgewalten richtet, wird es vor allem für den Gesetzgeber relevant."; Schnapo, in: Grundgesetz-Komm., Art. 16 Rdnr. 11. 227

Die deutsche Staatsangehörigkeit, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V., S. 650.

228

Ebenda, S. 651.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

1933 begründete Möglichkeit zur einzelaktweisen willkürlichen Wegnahme, gegen die sich das Grundgesetz wenden wollte."

Für diese Interpretation spricht entstehungsgeschichtlich nur die Äußerung des Abgeordneten Zinn im Parlamentarischen Rat. Er sah den entscheidenden Unterschied zwischen dem untersagten "Entzug" und dem zulässigen "Verlust" ebenfalls in der Bindungsrichtung: 229 "Der erste Satz (des Art. 16 GG) denke an ganz andere Fälle (als der zweite), nämlich daran, daß der Staat jemanden durch einseitigen Verwaltungsakt die Staatsangehörigkeit nehme".

Doch diese einengende Interpretation ist aus mehreren Gründen nicht haltbar: Erstens stellt auch Hans v. Mangoldt - entgegen der insoweit klaren Entstehungsgeschichte des Art. 16 Abs. 1 GG - auf die Motivation des Entzugsverbotes ab. Das Entzugsverbot des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ist jedoch uneingeschränkt und gerade bewußt nicht auf "willkürliche" Wegnahme der Staatsangehörigkeit eingeschränkt. Das Grundgesetz wollte sich zwar auch gegen die bekannten "Willkürmaßnahmen" der nationalsozialistischen Zeit wenden, aber - wie die Entstehungsgeschichte ebenfalls belegt - nicht ausschließlich. 230 Es ging den Verfassungsvätern mehrheitlich darum, "jede" wie auch immer motivierte Form der Aberkennung zu vermeiden. Staatenlosigkeit auszuschließen, war das unumstrittene Hauptanliegen, das den Satz 2 des Art. 16 Abs. 1 noch mehr prägte als Satz l . 2 3 1 Zweitens bleibt festzuhalten, daß Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG, soweit sich diese Vorschrift auch gegen die bekannten "willkürlichen" Entziehungen der deutschen Staatsangehörigkeit im "Dritten Reich" wenden sollte, das Entzugsverbot nicht auf einzelaktmäßige Wegnahmen der Staatsangehörigkeit beschränken wollte. Die Verfassungsväter beabsichtigten auch die bekannten Zwangsausbürgerungen kraft "Gesetzes" durch Art. 16 Abs. 1 GG zukünftig zu verhindern. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG sollte seiner Entstehungsgeschichte nach gerade auch Zwangsausbürgerungen umfassen, wie sie abstrakt-generell durch die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz 232 hinsichtlich aller deutschen Auslandsjuden vorgenommen worden sind. Nach der Ansicht von Hans v. Mangoldt würden derartige Gesetze heute zwar ebenfalls mit dem Grundgesetz unvereinbar sein, aber nicht, weil sie unter das Entzugsverbot des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG fielen, sondern mit dem "Willkürverbot" des Art. 3 229

Vgl. oben § 20.

230

Vgl. dazu oben § 20.

231

So v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Anm. I I I / 2a zu Art. 16; Lichter / Hoffmann, Art. 16 Rdnr. 4. 232

Insoweit eindeutiger Beweggrund der Verankerung des Entzugsverbotes in der Verfassung, vgl. oben §§ 20f.

16

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

GG nicht vereinbar wären. Er beruft sich zur Stützung seiner Ansicht auf eine Entscheidung 233 des BVerfG: 2 3 4 "Die Vorschriften der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz sieht auch das BVerfG eher unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. 3 GG und eines vorstaatlichen Willkürverbots."

Allerdings ist der Verweis auf das BVerfG nicht stichhaltig. Das BVerfG 2 3 5 hatte in seiner Entscheidung weder Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG noch Art. 3 GG zugrundegelegt. Denn die zur Entscheidung anstehende Frage lautete, ob das vorkonstitutionelle Gesetz aus dem Jahre 1942 als von Anfang an unwirksam anzusehen ist. Maßstab einer Verfassungskontrolle waren mithin nicht Vorschriften des Grundgesetzes, also weder Art. 3 noch Art. 16 GG, sondern allgemeine "Prinzipien der Gerechtigkeit". 236 Richtig ist, daß das BVerfG diese allgemeinen Prinzipien nicht konkret auf das "Entzugsverbot", sondern als Ausfluß des "Willkürverbotes", wie es heute in Art. 3 GG enthalten ist, rekurrierte. Doch hatte dieser Exkurs in die Staats- und Rechtsphilosophie andere Gründe als diejenigen, die Hans v. Mangoldt nennt. Denn das Grundgesetz war als Maßstab des vorkonstitutionell schon weder außer Kraft getretenen Gesetzes gar nicht geeignet. Hans v. Mangoldt deutet in die Entscheidung des BVerfG zweierlei hinein: 1. Das BVerfG hätte mit der vorgenannten Entscheidung bewußt eine Hinwendung zum "Allgemeinen Willkürverbot" im Bereich der Zwangsausbürgerung vollzogen. 2. Es hätte damit zugleich bewußt eine Abwendung vom Schutzbereich des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG vorgenommen 2 3 7 Doch beides ist durch die Entscheidung nicht präjudiziell. Das Entzugsverbot, wie es Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG beinhaltet, ist nicht Ausfluß eines "allgemeinen" zivilisatorischen Verständnisses, schon gar nicht in der uneingeschränkten Wortlautfassung. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte enthält nur ein "eingeschränktes" Entzugsverbot, begrenzt auf "willkürliche Aberkennungen". Weder im vorkonstitutionellen Deutschland vor der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten noch heute im internationalen Vergleich ist das System der Entziehungstatbestände geächtet. 238 Das 233

BVerfGE 23. S. 98ff. (106f.).

234

Hans v. Mangoldt, Die Deutsche Staatsangehörigkeit, S. 651.

235

BVerfGE 23, S. 98ff.(106f.).

236

Brand / Hattenhauer bezeichnen diese Prinzipien als "fundamental". Gemessen daran hätte die 11. VO ein so "unerträgliches Maß" an "Widerspruch zur Gerechtigkeit" erreicht, daß sie von Anfang an als nichtig erachtet werden müsse: Der Europäische Rechtsstaat. 200 Zeugnisse seiner Geschichte, S. 152. 237

Die deutsche Staatsangehörigkeit, S. 651.

238

Vgl. unten § 32 sowie Anhang.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

17

Entzugsverbot, als "Ausfluß allgemeiner Prinzipien der Gerechtigkeit", bestand zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG gar nicht und konnte daher auch nicht als Maßstab der Rechtskontrolle hinsichtlich der gesetzlichen Zwangsausbürgerungen im Nationalsozialismus herangezogen werden. Erst der Grundgesetzgeber war es, der durch konstituierenden Akt - wegen der spezifischen Erfahrung in "Diktaturländern" im Umgang mit Zwangsausbürgerungen - den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit zukünftig "absolut" untersagte. Die verfassungsgebende Versammlung einigte sich darauf, dies "uneingeschänkt" zu tun und gerade nicht auf "willkürliche" Fälle zu beschränken. Die Ausführungen des BVerfG 2 3 9 zu gesetzlichen Zwangsausbürgerungen im Nationalsozialismus unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Willkürverbotes lassen mithin keinen Rückschluß fiir die Ausklammerung "generell-abstrakter" Regelungen aus dem Schutzbereich des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG zu. Die Dritte Kammer des Zweiten Senats des BVerfG 2 4 0 hat entsprechend dem Entstehungshintergrund das Entzugsverbot weit ausgelegt. Auch sie sieht den Gesetzgeber gem. Art. 1 Abs. 3 GG an Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG uneingeschränkt gebunden, gleichgültig, ob er durch "Sondergesetz" oder "generell-abstraktes Gesetz" handelt. In der angesprochenen Entscheidung prüfte das Gericht § 25 Abs. 1 RuStAG - ein generell-abstraktes Gesetz - am Maßstab des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. Es verneinte im Ergebnis einen Verstoß mit dieser Verfassungsnorm. Dies geschah aber nicht aus der formalen Begründung. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG sei hinsichtlich der Kontrolle generell-abstrakter Gesetze nicht einschlägig, sondern das BVerfG verneinte materiell das Vorliegen eines Entzugstatbestandes. § 25 Abs. 1 RuStAG regele nicht die für den Betroffenen unbeeinflußbare einseitige staatliche Wegnahme der Staatsangehörigkeit. 241 Gegen die h.M. wendet Hans v. Mangoldt ein, daß Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG sich nicht gegen die "herkömmlichen Verlusttatbestände wenden wollte". 2 4 2 Nach ihm führt aber der weite Entzugsbegriff der herrschenden Ansicht zu einer Unvereinbarkeit des herkömmlich anerkannten Verlustes bei Legitimation durch einen Ausländer, wie ihn § 17 Nr.5 RuStAG a.F. vorsah oder bei Verlust kraft Erwerbs einer ausländischen Staatsangehörigkeit gem. § 25 RuStAG: 243 "Das aber wäre die Folge, wenn es auf den Willen, die deutsche Staatsangehörigkeit zu behalten, ankomme."

Daraufkommt es aber nicht an. Denn: 239

BVerfGE 23. 98 (106f.).

240

BVerfGE NJW 1990, S. 2193.

241

BVerfGE NJW 1990. S. 2193.

242

Die deutsche Staatsangehörigkeit, S. 651.

243

Ebenda.

16

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

- Nicht die "herkömmlichen Verlusttatbestände" sind Maßstab für die Auslegung des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. Vielmehr ist umgekehrt ihre Verfassungsmäßigkeit am Maßstab des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG zu messen. - Zwar ist zutreffend, daß Art. 16 Abs. 1 GG sich nicht gegen die herkömmlichen "Verlusttatbestände" richten wollte. Nur aus diesem Grunde ist der "Verlust" gem. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG überhaupt zulässig. Wohl aber wendet er sich gegen die herkömmlichen "Entzugstatbestände", indem der Worlaut des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG sie uneingeschränkt untersagt. Das belegt ebenso die insoweit eindeutige Entstehungsgeschichte.244 Hans v. Mangoldt übersieht des weiteren, daß im Kindschaftsrecht i.d.R. nicht auf den "Willen" des Kindes, sondern auf den Willen seiner gesetzlichen Vertreter abzustellen ist. 2 4 5 Das Sorgerecht des gesetzlichen Vertreters aus Art. 6 Abs. 2 GG gebietet, Entscheidungen für das Kind auch mit Auswirkungen im Staatsangehörigkeitsrecht zu treffen, wie es die außer Kraft getretene Fassung des Staatsangehörigkeitsverlustes bei Legitimation durch einen Ausländer vorsah. 246 Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG lautet: "Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht."

War aber entscheidend auf den Willen des gesetzlichen Vertreters abzustellen, war dieser alte Verlusttatbestand für denjenigen, auf den es ankam, nämlich die Sorgeberechtigten, zumindest beeinfllußbar. Auch die Altfassung des § 17 Nr.5 RuStAG verstieß mithin nicht gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. Weiterhin wendet Hans v. Mangoldt ein, daß die gesetzliche Bestimmung zur Aufrechterhaltung der deutschen Staatsangehörigkeit trotz Erwerbs einer fremden gem. § 25 Abs. 2 RuStAG zeige, daß der Gesetzgeber nicht unterstellt hat, mit dem Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit sei der Wille zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit vorhanden. So äußert er: 2 4 7 "Steht darum ... das Einverständnis des Betroffenen mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit im Hintergrund oder kommt es auf dieses überhaupt nicht an, so liegt darin doch keine verfassungswidrige Entziehung der Staatsangehörigkeit durch Gesetz."

Allerdings entnimmt Hans v. Mangoldt hiermit einer Ausnahmevorschrift, nämlich der Möglichkeit einer Beibehaltungsgenehmigung gem. § 25 Abs. 2 RuStAG, verbindliche Aussagekraft für die in § 25 Abs. 1 RuStAG formu-

244

Vgl. oben § 20.

245

Palandt, Kommentar zum BGB, § 1626 Rdnr. Iff.

246

Aufgehoben durch Gesetz v. 20.12.1974, BGBl. I, S. 3714.

247

Die deutsche Staatsangehörigkeit, S. 651.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

lierte Regel. Diese Regel aber lautet: "Verlust" bei antragsgemäßem ausländischem Staatsangehörigkeitserwerb. Der "Verlust" bleibt aber in jedem Falle fur den Betroffenen "beeinflußbar", wenn er darauf verzichtet, einen von seinem Willen getragenen Antrag zum Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit zu stellen. 248 Der Wille des Betroffenen ist damit für den Regelfall erheblich. Unerheblich bleibt sein Wille dagegen nur in dem Ausnahmefall des § 25 Abs. 2 RuStAG. Denn es kommt nach unstreitiger Interpretation dieser Bestimmung auf die überwiegenden staatlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der deutschen Staatsangehörigkeit an. 2 4 9 Doch regelt § 25 Abs. 2 RuStAG gerade nicht den "Verlust", sondern die "Beibehaltung" der Staatsangehörigkeit.

§ 22 Der Bruch mit dem historischen System des Entzuges der Staatsangehörigkeit Das Entzugsverbot in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ist weiter gefaßt als das völkerrechtliche Entzugsverbot in Art. 15 Nr.2 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das die Wegnahme der Staatsangehörigkeit nur aus "willkürlichen" Gründen untersagt. 250 Es ist auch weiter gefaßt als die Regelung in Art. 8 und 9 des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit, wonach individuelle wie kollektive Zwangsausbürgerungen ebenfalls nur aus "rassischen, ethnischen, religiösen oder politischen Gründen" für unzulässig erklärt werden. 251 In der Bundesrepublik Deutschland ist hingegen das Entzugsverbot des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG historisch bedingt rigide. Nach dem Worlaut ist es ohne Einschränkung absolut gefaßt. Jede Form der zwangsweisen Wegnahme der Staatsangehörigkeit, unabhängig ob durch exekutiven, legislativen oder judikativen Akt (Art. 1 Abs. 3 GG), ist untersagt. Die Entstehungsgeschichte des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG läßt erkennen, daß das Vertrauen gerade auch in die Legislative angesichts nationalsozialistischer Entartungen auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts immens zerrüttet war. Bewußt haben die Grundgesetzväter den völkerrechtlichen Schutz vor Entzug der Staatsangehörigkeit noch erweitert, auf Kosten allerdings des auch in Deutschland bis

248

BVerfG NJW 1990, S. 2193.

249

Hailbronner

250

Vgl. oben § 20.

/ Renner, Kommentar, § 25 Rdnr .16 m.w.N.

251 Vom 30. August 1961; ratifiziert fiir die Bundesrepublik Deutschland durch Gesetz v. 29.6.1977 (BGBl. 1977 II, S. 597), abgedr. in: Hailbronner / Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, S. llOff.

1

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

zur nationalsozialistischen Machtübernahme historisch gewachsenen, internationalem Standard vergleichbaren Entzugssystems. Versuche, diesen anerkannten Standard zu halten - insbesondere von Hermann v. Mangoldt -, scheiterten in den parlamentarischen Beratungen zum Grundgesetz. 252 Das Ausbrechen Deutschlands aus der zivilisierten Wertegemeinschaft während des "Dritten Reiches" zeitigte Folgen auch im Staatsangehörigkeitsrecht. Es beschwor die Kreation des absoluten Entzugsverbotes der deutschen Staatsangehörigkeit. Unstreitig zu den gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG zulässigen Verlusttatbeständen sind diejenigen zu rechnen, in denen der Wille des Betroffenen ausdrücklich auf die Aufgabe der Staatsangehörigkeit gerichtet ist, so etwa bei der Entlassung gem. §§ 17 N r . l i.V.m. 18 bis 22 RuStAG und beim Verzicht gem. §§ 17 Nr.3 i.V.m. 26 RuStAG. Zu den traditionellen Verlusttatbeständen zählen ebenfalls der antragsgemäße Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit gem. §§ 17 Nr.2 i.V.m. 25 Abs. 1 RuStAG sowie die antragsgemäßge Annahme als Kind durch einen Ausländer gem. §§ 17 Nr.4. i.V.m. 27 RuStAG. Wegen der subjektiven "Beeinflußbarkeit" durch den Betroffenen sieht die h.M. in den vorgenannten Fällen keinen Akt der zwangsweisen Wegnahme der Staatsangehörigkeit. 253 Die Abgrenzungskriterien der h.M. zugrundegelegt, wird auch verständlich, daß zu den traditionalen Verlusttatbeständen die Rücknahme einer rechtswidrigen Einbürgerung gem. § 48 VwVfG zählt. 2 5 4 Denn Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG schützt immer nur die "wohlerworbene" deutsche Staatsangehörigkeit, so daß die h.M. zu Recht davon ausgeht, daß die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung zulässig ist. 2 5 5 Nach Otto Kimminich gebietet das Rechtsstaatsprinzip eine Auslgung des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG, die nicht den "raffinierten Schwindler" begünstigt. 256 Anders zu beurteilen ist allerdings der Fall des Widerrufs einer rechtsfehlerfreien Einbürgerung gem. § 49 VwVfG. Auf sie darf der Betroffene vertrauen. Ihr Widerruf wäre "Entzug" und damit nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ausgeschlossen.257 Wegen des absoluten Entzugsverbotes aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG sind die in der Altfassung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes formulierten Wegnahmemöglichkeiten der §§27 bis 29 mit Geltung des Grundgesetzes 252

Vgl. oben § 20.

253

BVerfG NJW 1990, S.2193; Randelzhofer, Rdnr. 50 m.\v.N. 254

in: Maunz/ Dürig/ Herzog/ Scholz, Art. 16

BVerwG, NVwZ-RR 1990, S. 220; VGH Mannheim, NVwZ 1990, S. 1198f.

255

Vgl. dazu auch Kimminich, Bonner Kommentar, Art. 16 Rdnr. 38ff. m.w.N.; Reck, Der Widerruf einer erschlichenen Einbürgerung, DÖV 1958, S. 913ff. 256

Bonner Kommentar, Art. 16 Rdnr. 41.

237

Ebenda, Rdnr. 38; Randelzhofer,

Art. 16 Rdnr. 53.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

17

als "widersprechendes Recht" außer Kraft getreten (Art. 123 Abs. 1 GG). Das betraf die Zwangsausbürgerung durch behördlichen Ausspruch wegen Nichtbefolgung einer Rückkehraufforderung bzw. eines Austritts aus fremden Staatsdienst.258

§ 23 Zusammenfassung 1. Das geltende deutsche Staatsangehörigkeitsrecht ist in mehreren Kodifikationen geregelt. Hauptsächliche Rechtsgrundlagen enthalten das Grundgesetz, das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahre 1913 i.d.F. vom 1. Juli 1993 sowie das Ausländergesetz aus dem Jahre 1990 i.d.F vom 1. Juli 1993. 2. Die Regelungen im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht beinhalten Erwerbs· und Erlöschenstatbestände. An die Staatsangehörigkeit anknüpfende Folgerechte sind nicht im Staatsangehörigkeitsrecht, sondern in den jeweils betroffenen Sonderrechtsmaterien geregelt, etwa in § 12 BWahlG hinsichtlich des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag. 3. Die deutsche Staatsangehörigkeit wird originär ausschließlich nach dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis) erworben (§ 4 RuStAG). Derivative Erwerbstatbestände sind. Adoption (§ 6 RuStAG), Legitimation (§ 5 RuStAG) und Einbürgerung (§§8 ff. RuStAG, darüber hinaus nach zahlreichen Vorschriften außerhalb des RuStAG, insbes. nach Art. 116 Abs. 2 GG und §§ 85 ff. AuslG.) 4. Hinsichtlich der Erwerbsmodalitäten hat es unter der Herrschaft des Grundgesetzes erhebliche Veränderungen im Staatsangehörigkeitsrecht gegeben. a) Im Jahre 1974 wurde die Gleichstellung der Geschlechter in der Übertragung der Staatsangehörigkeit bei ehelicher Geburt vollzogen. Das eheliche Kind leitet seine Staatsangehörigkeit seitdem gleichermaßen a patre wie a matre ab. Seit 1993 ist die Gleichstellung auch hinsichtlich unehelich geborener Kinder verwirklicht. b) Erhebliche Veränderungen hat es auch im Einbürgerungsrecht gegeben. Die Einbürgerungsvoraussetzungen wurden insbesondere seit den Entscheidungen des BVerfG zum Ausländerwahlrecht des Jahres 1990 mehrfach erleichtert. Der nachkonstitutionelle Gesetzgeber trennte sich von dem in § 8 RuStAG formulierten Leitbild des Gesetzgebers des Jahres 1913, der den Regelfall der Einbürgerung bewußt in der Form des pflichtgemäßen Ermes258

Randelzhofer,

Art. 16 Rdnr. 50.

12

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

sens ausgestaltete. Seit dem 1. Juli 1993 haben junge und längere Zeit hier lebende Ausländer einen Einbürgerungsanspruch. 5. Die deutsche Staatsangehörigkeit erlischt durch "Verlust". Die hauptsächlichen Verlusttatbestände sind in § 17 RuStAG benannt, nämlich: Entlassung (§§ 18 bis 24 RuStAG); Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit (§ 25 RuStAG), Verzicht (§ 26 RuStAG) und Annahme als Kind durch einen Ausländer (§ 27 RuStAG). 6. Der Besitz mehrerer Staatsangehörigkeiten (Mehrstaatigkeit) ist sowohl bei den Erwerbs- als auch bei den Erlöschensvorschriften geregelt. Beispielsweise kann die deutsche Staatsangehörigkeit grundsätzlich nur "erwerben", wer vorherige Staatsangehörigkeiten aufgibt (Richtlinien zu § 8 RuStAG, §§ 9 RuStAG, §§ 85 AuslG). Umgekehrt ist zwecks Vermeidung von Mehrstaatigkeit das Erlöschen an den antragsgemäßen Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit gekoppelt (§ 25 RuStAG). Um Mehrstaatigkeit zu verringern, enthält das geltende deutsche Recht den Erlöschenstatbestand des Verzichts (§ 26 RuStAG). 7. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht geht von den Grundsätzen der Vermeidung und Verringerung von Mehrstaatigkeit aus. Die Bundesrepublik Deutschland ist aus diesem Grunde auch Vertragsstaat des Abkommens über die Verringerung von Mehrstaatigkeit aus dem Jahre 1963. 8. Mehrstaatigkeit wird allerdings in Ausnahmefällen hingenommen. Dies ist der Fall, wenn sie originär durch Geburt entsteht oder in den ihr gleichgestellten Fällen der Adoption und Legitimation eintritt. Ferner wird Mehrstaatigkeit aus Gründen der Wiedergutmachung und in Fällen besonderer Härte akzeptiert. 9. Die Erlöschenstatbestände des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts haben unter den Bedingungen des Grundgesetzes ebenfalls erhebliche Veränderungen erfahren. a) Nach Art. 16 Abs. 1 GG ist das Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit nur in der Form des "Verlustes" zulässig. Denn nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG darf sie nicht "entzogen" werden. b) Nach herrschender Auffassung ist "Verlust" die vom Willen des betroffenen Staatsangehörigen getragene, von ihm veranlaßte und für ihn beeinflußbare Aufgabe der Staatsangehörigkeit. Verlust ist "Selbstausbürgerung" "Entzug" ist dagegen die Wegnahme der Staatsangehörigkeit durch einseitigen Akt des Staates, die für den Betroffenen nicht beeinflußbar ist. Synonym für "Entzug" werden auch die Begriffe "Aberkennung" oder "(Zwangs-)Ausbürgerung" genannt.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

17

c) "Entzug" ist schon begrifflich kein Unterfall des "Verlustes", sondern ein aliud. "Entzug" und "Verlust" sind je getrennte Erscheinungsformen des Erlöschens der Staatsangehörigkeit. d) Beide Formen des Erlöschens der Staatsangehörigkeit wurden in Deutschland im 19. Jahrhundert von den Einzelstaaten entwickelt. Das kodifizierte Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht übernahm sie und entwikkelte sie fort. e) Eine einschneidende Veränderung des historisch gewachsenen Entzugssystems erfuhr das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht in nationalsozialistischer Zeit. Entstehungsgeschichlich waren die politisch, rassisch und religiös bedingten Zwangsausbürgerungen Anlaß, das Entzugsverbot in das Grundgesetz aufzunehmen. f) Das Entzugsverbot ist bewußt uneingeschränkt formuliert. Es ist weiter gefaßt als das völkerrechtliche Verbot des Art. 15 Nr.2 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948, das die Wegnahme der Staatsangehörigkeit nur aus "willkürlichen" Gründen untersagt. g) Die Initiative von Hermann von Mangoldt, das Verbot in Art. 16 Abs. 1 GG ebenfalls auf "willkürliche" Entziehungen zu reduzieren, war von dem Motiv getragen, nicht gänzlich mit dem historischen Entzugssystem zu brechen. Aberkennungen etwa zur Verringerung der Mehrstaatigkeit oder aus Strafzwecken sollten nach ihm zulässig bleiben. h) Letztlich scheiterte die Initiative daran, daß der Parlamentarische Rat mehrheitlich dem Gesetzgeber nicht die Kompetenz einräumen wollte, "gewisse" zulässige von "gewissen" unzulässigen Entzugsgründen zu differenzieren. Die Mehrheit mißtraute dem Gesetzgeber, in der Ausgestaltung das rechte Maß zu finden und beizubehalten.

2. Abschnitt: Das Staatsangehörigkeitsrecht der ehemaligen DDR § 24 Der Erwerb der "Staatsbürgerschaft der DDR" Rechtsgrundlage der "Staatsbürgerschaft der DDR" war das Staatsbürgerschaftsgesetz vom 20. Februar 1967 i.d.F. vom 29. Januar 1990. 259 Es blieb bis zum Ablauf des 2. Oktober 1990 in Kraft. Seit der Vollendung der Wie259 GBl. DDR 1967 I. S. 3; geändert durch Gesetz v. 29.1.1990, GBl. DDR 1990 I, S. 31; abgedr. in: Makarov / v. Mangoldt, Bd. 2, Gruppe 19.

1

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

dervereinigung beider deutscher Staaten gilt das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz der Bundesrepublik Deutschland auch im Territorium der ehemaligen D D R 2 6 0

I. Originärer

Erwerb (Geburtserwerb)

Originärer Erwerbsgrund war mit Inkrafttreten des Staatsbürgerschaftsgesetzes gem. §§ 4a, 5 primär die "Abstammung", sekundär aber auch "Geburt auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik". 261

1. Ius sanguinis Durch "Abstammung" erwarb ein Kind die DDR-Staatsbürgerschaft gem. § 5 StabüG, wenn zumindest ein Elternteil "Staatsbürger der DDR" war. 2 6 2 In der ehemaligen DDR aufgefundene elternlose Kinder (Findelkinder) erwarben kraft Geburt die DDR-Staatsbürgerschaft, sofern der Besitz einer anderen Staatsbürgerschaft nicht nachgewiesen wurde (§ 6 Abs. 2 StabüG).

2. Ergänzendes ius soli Nach dem Territorialitätsprinzip erwarben gem. § 6 Abs. 1 StabüG "ansonsten" staatenlos Geborene die Staatsbürgerschaft der DDR: 2 6 3 "Ein auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik geborenes Kind erwirbt die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik, wenn es durch seine Geburt eine andere Staatsbürgerschaft nicht erworben hat".

Die Zielsetzung dieser Vorschrift lag in der Verhinderung von Staatenlosigkeit. 264 Die ehemalige DDR kam ihr im Unterschied zur Bundesrepublik

260

Vgl. dazu oben § 9.

261

Riege, Staatsbürgerschaft, S. 296f., 302; s. auch Makarov / v. Mangoldt, Bd. 2, Gruppe 19, Rdnr. 2; Zieger, Das Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR, S. 17. 262

§ 5 StabüG folgt insoweit streng dem Abstammungsprinzip; Riege, Staatsbürgerschaft, S. 297.

263

Riege, Staatsbürgerschaft, S. 301 f.

264 Im Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland war die ehemalige DDR nicht dem Abkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit v. 30.8.1961 beigetreten; vgl. oben §§ 2 und 15.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

17

Deutschland, die für ansonsten staatenlos Geborene ausnahmslos Anspruchseinbürgerungen vorsieht 265 , durch den ergänzenden ius-soli-Erwerb nach.

IL Derivativer

Erwerb (nachträglich

abgeleiteter Erwerb)

Derivativer Ervverbstatbestand war gem. §§4, 7 StabüG die "Verleihung" (Einbürgerung). Einem Bürger eines anderen Staates oder einem Staatenlosen konnte die Staatsbürgerschaft verliehen werden, "wenn er sich durch sein persönliches Verhalten und seine Einstellung zur Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR der Verleihung der Staatsbürgerschaft würdig erwies und der Verleihung keine zwingenden Gründe" entgegenstanden.266 Mittels der unbestimmten Rechtsbegriffe "würdig" und "zwingende Gründe" wurde den ehemaligen DDR-Behörden ein weitestgehender Spielraum eingeräumt. Überdies verdeutlicht der Gesetzeswortlaut die Dominanz der staatlichen Interessen an einer Einbürgerung. 267 Entscheidende Einbürgerungskriterien waren das persönliche Verhalten und die Einstellung zur Staats- und Gesellschaftsordnung. 268 "Es ist notwendig, daß sich der Antragsteller zur sozialistischen Staats- und Rechtsordnung der DDR bekennt und bereit ist, aktiv an der Lösung der ökonomischen, politischen, kulturellen und außenpolitischen Aufgaben der DDR mitzuarbeiten".

Die ehemaligen DDR-Behörden verlangten aber mehr als Loyalität vom Einbürgerungswilligen, nämlich positives Eintreten für die sozialistischen Staatsziele:269 "Lediglich loyales Verhalten gegenüber der DDR und ihrer Politik erfüllt die Anforderungen des § 7 Abs. 1 (StabüG) nicht. Ein entscheidendes Kriterium ist die Haltung des Antragsstellers zur sozialistischen Verfassung, die die hauptsächlichen Anforderungen an den Bürger enthält. Besonders bedeutsam ist dabei das Verhältnis des Antragstellers zu den Grundlagen der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung, zu den Zielen und Prinzipien ihrer Politik und seine Bereitschaft zur aktiven Mitgestaltung".

265

Vgl. oben § 15.

266

Makarov / v. Mangoldt, Bd. 2, Gruppe 19, § 7 Rdnr. 5.

267 Nach Makarov / v. Mangoldt (ebenda) "schien völlige Freiheit" zu herrschen, Voraussetzungen für den Einbürgerungserwerb im Einzelfall aufzustellen. Es entsprach der sozialistischen Gesellschaftsordnung, die Individualinteressen an der Berechenbarkeit staatlicher Akte hintanzustellen. 268

Riege / Kulke, Staatsrecht der DDR, S. 166.

269

Ebenda.

16

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

Unbestimmt blieb auch das Erfordernis des vorherigen ständigen Aufenthaltes in der ehemaligen DDR, insbesondere seiner zeitlichen Dauer. 270 Schließlich war grundsätzliche Einbürgerungsvoraussetzung ein Antrag des Betroffenen auf Verleihung der DDR-Staatsbürgerschaft. In einigen Fällen aber, wie beispielsweise im staatsangehörigkeitsrechtlichen Umgang mit vertriebenen Volksdeutschen, wurde gänzlich auf das Willenselement verzichtet. 2 7 1 Teilweise war Einbürgerung auch über die Ausstellung bloßer Legitimationspapiere möglich. 2 7 2

§ 25 Der Teso-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts Die im Grundlagenvertrag vorgenommene und im diesbezüglichen Urteil des BVerfG 2 7 3 bestätigte Anerkennung der "Staatsbürgerschaft der DDR" wurde erneut in der grundlegenden deutsch-deutschen Entscheidung zum Staatsangehörigkeitsrecht des gleichen Gerichts bekräftigt. 274 Dem TesoBeschluß2 5 vom 21. Oktober 1987 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der 1940 in Meißen/Sachsen geborene italienische Staatsangehörige Teso wurde mit Vollendung des 14. Lebensjahres nach geltendem Recht der ehemaligen DDR durch "Aushändigung eines Personalausweises der Deutschen Demokratischen Republik für 'deutsche Staatsangehörige'" Bürger der DDR. In das Bundesgebiet gelangt, stellte er einen Antrag auf Feststellung des Erwerbs der "deutschen Staatsangehörigkeit". Sein Antrag wurde zunächst abgelehnt. Das zuständige Verwaltungsgericht Köln wies die gegen den Ablehnungsbescheid gerichtete Klage ab. Auf Berufung änderte das OVG Münster 276 das erstinstanzliche Urteil ab und verpflichtete den Beklagten, dem Beschwerdeführer einen Staatsangehörigkeitsausweis auszustellen. Auf Revision des Beklagten und des Vertreters des öffentlichen Interesses stellte das BVerwG 2 7 7 das erstinstanzliche Urteil wieder her. Das BVerwG hielt zwar in ständiger Rechtsprechung antragsbedingte Einbürgerungen der 27 0

Riege, Staatsbürgerschaft, S. 307; vgl. dazu Makarov / v. Mangoldt, Rdnr. 8.

27 1

Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 162.

272

Verordnung über die Ausgabe von Personalausweisen. 29.10.1953 (GBl. 1090); dazu Zieger, NJW 1984, S. 699ff. 273

Urteil v. 31.7.1973, BVerfGE 36, Iff.

274

Dazu: Tomuschat, Staatsvolk ohne Staat?, in: Festschrift für Karl Doehring, 1989, S. 985fF.; Kokott, Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung in der DDR, NVwZ 1988, S. 799ff.; Murswiek, Anmerkungen zum Teso-Beschluß, JuS 1988, S. 563ff. 275

Beschluß v. 21.10.1987, BVerfGE 77, 137ff.

276

Urteil v. 5.9.1978, DVB1. 1979, S. 429ff; JZ 1979, S. 136ff.

277

Urteil v. 30.11.1982: zu den entscheidungserheblichen Gründen vgl. BVerfGE 77, S. 137ff.

(142f.).

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

17

ehemaligen DDR für vermittlungsfahig zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. Es verneinte aber die streitentscheidende Frage, ob neben den willensgetragenen auch willensunabhängige Einbürgerungstatbestände - hier die Aushändigung eines Personalausweises - zum automatischen Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit führten. Die dagegen beim BVerfG erhobene Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Das BVerfG ging über die streitentscheidende Frage hinaus. Es ließ sich grundsätzlich auf das deutsch-deutsche Staatsangehörigkeitsverhältnis ein. Es stellte fest, daß der "Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik" zugleich auch den "Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit" i.S.d. Art. 16 Abs. 1, 116 Abs. 1 GG bewirkte. 278 Es folgerte diesen Erwerb aus der "normativen Konkretisierung des im Grundgesetz enthaltenen Wiedervereinigungsgebotes". 279 Es zog aber zugleich auch Grenzen der automatischen Erstreckung der Erwerbsgründe. Rechtswirkung für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland sollten die staatsbürgerschaftlichen Erwerbsgründe der DDR nur dann entfalten, wenn sich der Erwerb der DDR-Staatsbürgerschaft innerhalb des "ordre public" der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland hielt. 2 8 0 Inhalt und Wirkungsweise des "ordre public" bestimmten sich nach der Rechtsprechung des BVerfG in erster Linie aus den "rechtlichen Grundwertungen des Staatsangehörigkeitsrechts" und insbesondere aus dem "Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes". 281 Zu den "rechtlichen Grundwertungen des Staatsangehörigkeitsrechts" zählte das BVerfG auch Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus allgemeinem Völkerrecht sowie aus vertraglichen Bindungen zur Deutschen Demokratischen Republik. 282 Nach allgemeinem Völkerrecht darf der Staatsangehörigkeitserwerb nur an in hinreichender Weise verbundenen Sachverhalten anknüpfen. 283 Er darf keine sachfremden Elemente enthalten. Diese völkerrechtliche Grenze sah das BVerfG im konkreten Fall nicht überschritten. Denn der Erwerb auch der 278 Und zwar unabhängig davon, ob der Erwerbstatbestand des DDR-Rechts eine Entsprechung im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz habe oder nicht; BVerfGE 77, S. 137ff. (148). 279 Ebenda, S. 149; vgl. zur Wahrungspflicht des Wiedervereinigungsgebotes: BVerfGE 36, S. Iff. (17ff.) sowie Eckart Klein, NJW 1983, S. 2289ff. und ders., JuS 1987, S. 279ff. 280

BVerfGE 137ff. (148).

281

Ebenda, S. 152 unter Verweis auf BVerfGE 11, S. 150ff. (158ff.): Frage der Vollstreckung eines Strafurteils des Bezirksgerichts Erfurt v. 2.2.1953 in der Bundesrepublik sowie BVerfGE 37, S. 57ff (64ff.): Brückmann-Verfahren, in dem es um die "Zulieferung" an die Strafverfolgungsbehörden der DDR ging. 282

BVerfGE 77, S. 137ff. (153ff).

283

Vgl. Dahm, Völkerrecht, Bd. 1, § 79 III, 2, S. 448f.; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, S. 788ff.; BVerfG in st. Rechtsprechung, vgl. schon: BVerfGE 1, S. 322ff. (329); BVerwGE 23, S. 274ff. (278); BGHSt. 5, 230ff. (234); 9, S. 53ff. (59); siehe auch oben § 2. 12 Ziemske

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Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

deutschen Staatsangehörigkeit fand seinen sachlichen Anknüpfungspunkt an der bestehenden Rechtslage Deutschlands, insbesondere daran, daß dem deutschen Volk seit dem Zweiten Weltkrieg versagt geblieben war, in freier Selbstbestimmung über seine politische Form zu entscheiden. Weder das Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 noch der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949 hätten am Fortbestand des deutschen Staates etwas geändert. 284 Beide Vorgänge erfüllten keinen völkerrechtlichen Tatbestand des Staatsunterganges. 285 Die Spaltung Deutschlands war zu keinem Zeitpunkt vom Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes gedeckt. Vielmehr hielt es in beiden Teilen überwiegend an dem Willen fest, die Spaltung auf friedliche Weise zu überwinden und die "volle staatliche Einheit wiederherzustellen", was sich ja schließlich auch am 3. Oktober 1990 bestätigte. Es stellte keine nach Maßgabe des Völkerrechts sachwidrige Anknüpfung dar, wenn durch staatsangehörigkeitsrechtliche Regelungen der Bundesrepublik Deutschland die rechtliche Form und Gestalt dieses Volkes als Träger des Selbstbestimmungsrechts gewahrt bleiben sollte. 286 Auch sah das BVerfG in der Erstreckungswirkung auf die deutsche Staatsangehörigkeit keinen Verstoß gegen den Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Dezember 1972 oder gegen einen sonstigen Vertrag zwischen beiden Staaten. 287 Denn die Bundesrepublik Deutschland hätte bei Vertragsunterzeichnung zu Protokoll erklärt: 288 "Staatsangehörigkeitsfragen sind durch den Vertrag nicht geregelt worden".

Auch die Deutsche Demokratische Republik sei nach Auffassung des BVerfG davon ausgegangen, daß der Vertrag eine Regelung der Staatsangehörigkeitsfragen lediglich erleichtern würde. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik mit der Rechtswirkung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes widerspräche damit nicht dem Vertragsschluß.

284

BVerfGE 77, S. 137ff. (155).

285

Vgl. zur Kontinuität der deutschen Staatlichkeit seit Reichsgründung von 1871 und Subjektsidentität mit der Bundesrepublik Deutschland: Frowein, in: Benda / Maihofer / Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, S. 19ff.; Mosler / Doehring, Die Beendigung des Kriegszustands mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, S. 420ff; Schiedermair, Der völkerrechtliche Status Berlins nach dem Viermächte-Abkommen v. 3. September 1971, 1975; Ress, Die Rechtslage Deutschlands nach dem Grundlagenvertrag, 1978. 286

BVerfGE 77, S. 137ff. (156ff.).

287

BVerfGE 77, S. 137ff. (163ff.).

288

Ebenda.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

17

Eine Verletzung der Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik sei ebenfalls nicht erfolgt. Denn die Bundesrepublik Deutschland hätte hinsichtlich des automatischen Folgeerwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit keineswegs den der Hoheitsgewalt der DDR zustehenden Bereich der Staatsbürgerschaft geregelt. Weder Erwerbs- noch Erlöschenstatbestände des DDRStaatsbürgerrechts waren jemals seitens der Bundesrepublik Deutschland konstituiert worden. Die ehemalige DDR wurde keineswegs daran gehindert oder beeinträchtigt, die Staatsangehörigkeit ihrer Bevölkerung autonom zu regeln. Entsprechend führte das BVerfG aus, daß die Bundesrepublik Deutschland zugleich auch mit dem automatischen Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der DDR diesen Status nicht in Anspruch genommen hätte. Dieser Erwerbsstatus sei schließlich keinem DDRBürger aufgezwungen worden. Jeder von ihnen, der sich im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhielt, hätte - ohne dazu gedrängt zu werden davon Gebrauch machen können oder auch nicht. 2 8 9 Der Erwerb der DDR-Staatsbürgerschaft wurde also als Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit angenommen, vorausgesetzt allerdings, er hielt sich in den Grenzen des "ordre public". Diese Rechtsprechung des BVerfG hatte zur Folge, daß grundsätzlich alle Personen, die bis zum Ablauf des 2. Oktober 1990 die "Staatsbürgerschaft der DDR" besaßen, zugleich auch die deutsche Staatsangehörigkeit innehatten. Erklärtes, aber nicht erreichtes Ziel der DDR war es, seit Bestehen der DDR-Staatsbürgerschaft diese Verbindungskette zur deutschen Staatsangehörigkeit zu trennen. 290 Wie weitsichtig die Grenzziehung des BVerfG durch den verfassungsrechtlichen "ordre public"-Vorbehalt war, zeigte sich anläßlich des Versuchs, die Teso-Entscheidung zu kapitalisieren. Ende 1989 - kurz vor dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems der ehemaligen DDR - boten Auslandsvertreter der Modrow-Regierung Hongkong-Chinesen gegen erhebliche Barmittel die Einbürgerung in den DDR-Staatsverband an. Auf der Suche nach einem sicheren Aufenthalt im Falle des zum Jahre 1997 vorgesehenen Hoheitswechsels der englischen Kronkolonie Hongkong an die Volksrepublik China, bestand für die davon Betroffenen wegen des Teso-Automatismus ein offensichtliches geldwertes Interesse auch an der Erlangung der "Staatsbürgerschaft der DDR". Die beabsichtigte Geldschneiderei konnte letztlich durch Intervention der Bundesregierung unterbunden werden. 291 Hierbei half insbesondere die Grenzziehung, die vom BVerfG selbst in der Teso-Entscheidung angelegt war: Die Berufung auf den verfassungsrechtli289

Ebenda.

290

Vgl. dazu oben § 11.

291

Der Vorgang ist aktenkundig sowohl im Bundesministerium des Innern als auch im Auswärtigen Amt. Bemühungen, ihn einzusehen, scheiterten in beiden Ministerien. Wegen des historischen Interesses halte ich es aber dennoch für geboten, trotz des Fehlens der genauen Fundstelle, ihn der Öffentlichkeit auf diesem Wege bekanntzugeben.

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Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

chen "ordre public", der mangels gerechtfertiger Anknüpfungspunkte in diesem Falle mit Sicherheit verletzt worden wäre, verhinderte letztlich das " Staatsangehörigkeitsgeschäft".

§ 26 Mehrstaatigkeit Nach § 7 der Durchführungsverordnung zum Gesetz über die "Staatsbürgerschaft der DDR" war grundsätzlich die Aufgabe bisheriger Staatsangehörigkeiten Voraussetzung einer Einbürgerung. 292 Auch die DDR ging damit vom Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit aus. 293 Wenngleich die ehemalige DDR nicht Signatarstaat des Europaratsabkommens zur Vermeidung von Mehrstaatigkeit war, hatte sie diesen Grundsatz doch in zahlreichen bilateralen Verträgen formuliert. 294 Die ehemalige DDR hatte seit 1969 insgesamt mit sieben ehemaligen Ostblockstaaten Mehrstaater-Verträge 295 abgeschlossen, nämlich mit der UdSSR 296 und Tschechoslowakei297, Polen , Ungarn 299 , Rumänien 300 , Bulgarien 301 und der Mongolei 302 . Diese Verträge zielten darauf, Mehrstaatigkeit zu vermeiden und zu beseitigen. So war die Zielsetzung exemplarisch im Vertrag mit der ehemaligen Sowjetunion wie folgt umschrieben: 303 "Die Deutsche Demokratische Republik und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sind ... von dem Wunsch (geleitet), die doppelte Staatsbürgerschaft von Bürgern durch freiwillige Wahl zu beseitigen sowie zu verhindern, daß künftig Fälle einer doppelten Staatsbürgerschaft entstehen".

Mehrstaatigkeit wurde beim nachträglichen Erwerb vermieden, indem die Einbürgerung von der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft des anderen Vertragspartners abhängig gemacht wurde. 304 Der Eintritt von Mehrstaatig292 Verordnung v. 3.8.1968 in der Fassung v. 29.1.1990; GBl. DDR II, S. 681, geändert durch Verordnung GBl. DDR 1990 I, S. 33. 293 Akademie fur Staats- und Rechtswissenschaft S. 169ff : Riege, Staatsbürgerschaft, S. 307. 294

der DDR (Hrsg.), Staatsrecht der DDR,

Vgl. Makarov / v. Mangoldt, Bd. 2, Gruppe 19, Rdnr. 9

295

Abgdr. ebenda, Gruppe 22; vgl. insbes. Erläuterungen in Einführung Rdnr. Iff.

296

Vom 24.9.1969 (GBl. DDR II, S. 107; in Kraft getreten am 13.2.1970.

297

Vom 10.10.1973 (GBl. DDR II., S. 273); in Kraft getreten am 31.3.1974.

298

Vom 2.2.1976 (GBl. DDR II, S. 101); in Kraft getreten am 25.4.1976.

299

Vom 6.4.1970 (GBl. DDR II, S. 23); in Kraft getreten am 8.7.1970.

300

Vom 4.2.1980 (GBl. DDR II, S. 49); in Kraft getreten am 17.2.1980.

301

Vom 3.3.1972 (GBl. DDR II, S. 81); in Kraft getreten am 11.5.1972.

302

Vom 5.7.1977 (GBl. DDR II, S. 275); in Kraft getreten am 8.9.1977.

303

Abgedr. bei Makarov / v. Mangoldt, Bd. 2, Gruppe 22, S. 7ff.

304

Art. 13 des Vertrages mit der ehemaligen Sowjetunion; abgedr. ebenda, S. 10.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

keit wurde für den Geburtserwerb dadurch verhindert, daß Kinder von binationalen Elternteilen von vornherein nur eine Staatsbürgerschaft erhalten konnten. Gem. Art. 6 des Vertrages mit der ehemaligen Sowjetunion war dies die "Staatsbürgerschaft des Vertragspartners, auf dessen Hoheitsgebiet es (das Kind) geboren wurde". Für bereits vor Inkrafttreten des Vertrages eingetretene Fälle mehrfacher Staatsangehörigkeit war deren "Beseitigung" zunächst mittels Einräumung eines Erklärungsrechts gekoppelt. Die Betroffenen - für Mindeijährige deren gesetzliche Vertreter - hatten innerhalb einer Jahresfrist für eine der beiden Staatsangehörigkeiten zu optieren. Die Option war aber mit einem Erklärungszwang verbunden. Erklärten sich die Betroffenen nicht, wurde ihnen zwangsweise eine der beiden Staatsangehörigkeiten unter gleichzeitigem Entzug der anderen zugewiesen. Regelmäßig erlosch diejenige Staatsangehörigkeit des Staates, in dem sich der Betroffene nicht ständig aufhielt. Art. 3 des Vertrages mit der Sowjetunion formulierte diese Zwangsausbürgerung positiv: "Personen, die keine Erklärung zugunsten einer Staatsbürgerschaft ... abgegeben haben, sind nach Ablauf einer Frist von einem Jahr nach Inkraftreten dieses Vertrages Staatsbürger des Vertragspartners, auf dessen Hoheitsgebiet sie zu diesem Zeitpunkt ihren Wohnsitz haben."

Gemäß Art. 12 des Einigungsvertrages hatte die Bundesrepublik Deutschland durch Notenwechsel die Mehrstaater-Verträge mit der DDR für am 2. Oktober 1990 erloschen erklärt. 305 Art. 12 bestimmt: 306 "Die Vertragsparteien sind sich einig, daß die völkerrechtlichen Verträge der Deutschen Demokratischen Republik im Zuge der Herstellung der Einheit Deutschlands ... mit den Vertragspartnern der Deutschen Demokratischen Republik zu erörtern sind, um ihre Fortgeltung, Anpassung oder ihr Erlöschen zu regeln."

Das Erlöschen wurde bisher einvernehmlich im Verhältnis zu sechs ehemaligen Vertragspartnern der ehemaligen DDR festgestellt. 307 Nur im Verhältnis zu Polen fehlt ein ausdrückliches Einvernehmen. 308 Aber auch inso-

305 Vgl. dazu: Hellmuth Hecker, Staatsangehörigkeitsfragen in völkerrechtlichen Verträgen osteuropäischer Staaten, in: AöR 1992, Bd. 30, S. 326f. w > Abgedr. bei: Stern / Schmidt-Bleibtreu heit, Bd. 2 (Einigungsvertrag und Wahlvertrag).

(Hrsg.), Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Ein-

307 Quellennachweis bei Hellmuth Hecker, Staatsangehörigkeitsfragen, S. 342ff. sowie Makarov / v. Mangoldt, Bd. 2, Gruppe 22, Rdnr 16. 308 Formell ist der Vertrag zunächst suspendiert. Über seine Fortgeltung wird in den nächsten Konsultationsrunden mit dem ehemaligen Vertragspartnern der DDR entschieden; Hellmuth Hecker, Staatsangehörigkeitsfragen, S. 327.

12

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

weit sieht die h.M. die Verträge insgesamt mit Wirkung zum 3. Oktober 1990 als erloschen an. 3 0 9

§ 27 Das Erlöschen der "Staatsbürgerschaft der DDR" Das Staatsbürgerschaftsrecht der ehemaligen DDR kannte bis zur "Wende" des Jahreswechsels 1989/90 drei Erlöschenstatbestände. Gem. § 9 StabüG a.F. waren dies: "Entlassung", "Widerruf der Verleihung" und "Aberkennung". 310 Durch Novelle vom 29. Januar 1990 mit Wirkung zum 8. Februar 1990 wurden sie aufgehoben. 311 An ihre Stelle trat der ausschließliche Verlustgrund "Verzicht" (§§ 10 und 11 StabüG n.F.). 3 1 2 Die Neufassung des Staatsbürgerschaftsrechts bezog sich allerdings nicht auf die Erlöschenstatbestände in den vorgenannten bilateralen Mehrstaater-Verträgen. Da die Novelle auch keine "Rückwirkung" beanspruchte, bleibt die Rechtslage der alten Fassung des Staatsbürgerschaftsgesetzes aus dem Jahre 1967 zumindest für "Altfälle" von praktischer Relevanz. 313

I. Der Verlust 1. "Entlassung" Nach dem Wortlaut des § 10 StabüG a.F. konnte zwar aus der "Staatsbürgerschaft der DDR" entlassen314 werden. § 10 StabüG a.F. war wie folgt formuliert: "Ein Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik kann auf seinen Antrag ... entlassen werden, wenn er seinen Wohnsitz mit Genehmigung der zuständigen staatlichen Organe außerhalb der Deutschen Demokratischen Republik hat oder nehmen will, er eine andere Staatsanbürgerschaft besitzt oder zu erwerben beabsichtigt und der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft 309 Makarov / v. Mangoldt, Bd. 2. Gruppe 22. Rdnr. 16; Weidelener rigkeitsrecht, S. 373. 310

/ Hemberger, Staatsangehö-

Makarov / v. Mangoldt, Bd. 2, Gruppe 19.

311

GBl. DDR I, 31 u. 33.: abgedr. in: Makarov / v. Mangoldt, Gruppe 19.

312

Ebenda, § 9 Rdnr. 1.

313

Ebenda, Rdnr. 2.

314

Entgegen der Regelung in § 25 Abs. 1 RuStAG trat der Verlust der "Staatsbürgerschaft der DDR" nicht automatisch mit dem freiwilligen Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit ein. Das DDR-Recht kannte nur den sog. antragsabhängigen Entlassungstatbestand.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

der Deutschen Demokratischen Republik keine zwingenden Gründe entgegenstehen."

Doch für den Staatsbürger der DDR war die "Entlassung" als "Rechtsposition" praktisch bedeutungslos. Denn sie wurde ausschließlich im staatlichen Interesse betrieben. 315 Sie war Politikinstrument. Der Charakter der sozialistischen "Bevormundungsordnung" kommt in der Auseinandersetzung von Gerhard Riege und Hans-Jürgen Kulke mit der "kapitalistischen Entlassungsfreiheit" deutlich zum Ausdruck: 316 "Das Recht auf Entlassung (erweist) sich in seinem Kern als die mit der Phrase von der Freiheit der Persönlichkeit verdeckte Anerkennung der Tatsache, daß der kapitalistische Staat die sozialen Probleme der Gesellschaft und der Werktätigen nicht lösen kann. Nicht selten sind die Werktätigen massenhaft genötigt, im Interesse ihrer Existenz und der ihrer Familien nach besseren Verkaufsbedingungen ihrer Arbeitskraft außerhalb des eigenen Landes zu suchen. Andererseits wird in den kapitalistischen Staaten die Beschäftigung von Arbeitskräften aus anderen Ländern genutzt, um die eigene Wirtschaft zu stärken und zugleich einen Druck auf die Arbeiterklasse des eigenen Landes auszuüben. Es versteht sich, daß auf dieser Basis eine gewisse Mobilität der Arbeitskraft rechtlich gesichert werden muß, wozu das Staatsangehörigkeitsrecht beiträgt. Das ist deutlich an der Entwicklung in den imperialistischen Staaten Westeuropas sichtbar".

Ideologisch war damit die Basis gelegt für den "außerordentlich weiten Entscheidungsspielraum" des zuständigen Ministerrates hinsichtlich der Auslegung der "zwingenden Gründe gegen die Entlassung". 317 Offiziell waren als zwingende Gründe anerkannt alle staatlichen, wirtschaftlichen oder militärischen Interessen der ehemaligen DDR, etwa: - Unterbindung gebotener Strafverfolgung oder - Beeinträchtigung materieller, finanzieller oder anderer Forderungen an den Antragsteller. 318 Tatsächlich degenerierte die "Entlassung" zur Bedeutungslosigkeit. Erst mit Wirkung zum 8. Februar 1990 kannte das DDR-Recht die Freiheit, aus der DDR-Staatsbürgerschaft entbunden zu werden. Bewußt wurde diese erstmalige "Rechtsstellung" nicht mit dem vorbelasteten Begriff "Entlassung" umschrieben, sondern unverbraucht als "Verzicht" bezeichnet. Der DDR-Gesetzgeber vollzog damit in den "Wendemonaten" offenkundig eine radikale Abkehr von der bis dahin geübten staatlichen "Vormundschaft" über seine 315 Jeder Entlassungsantrag erfuhr eine individuelle Prüfung. Sie erstreckte sich nach Riege auf die "persönlichen und die gesellschaftlichen Interessen" (Staatsbürgerschaft, S. 318). 316

Riege / Kulke, Staatsrecht der DDR, S. 166.

111

Makarov / v. Mangoldt, § 10 Rdnr. 8.

318

Riege, Staatsbürgerschaftsrecht, S. 321 f.

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

1

Bürger. 319 Der "Verzicht" war nur noch antragsabhängig und an die Voraussetzung gebunden, Inhaber einer anderen Staatsangehörigkeit zu sein, was aber wegen des deutsch-deutschen Sonderverhältnisses grundsätzlich immer der Fall war. 3 2 0 Die Relevanz staatlicher Interessen an der Beibehaltung der DDR-Staatsbürgerschaft wurde gänzlich eliminiert. Der "Verzicht" war nicht abhängig gemacht von etwa entgegenstehenden "zwingenden Gründen". 321

2. "Widerruf Einbürgerungen konnten bis zum 8. Februar 1990 nachträglich aufgehoben werden. § 12 Abs. 1 lit.a StabüG legte fest: 322 "Die Verleihung der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik kann widerrufen werden, wenn der Antragsteller in seinem Antrag falsche Angaben gemacht hat oder Tatsachen verschwiegen hat, die die Verleihung der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik ausgeschlossen hätten."

Dieser Aufhebungstatbestand enthält Gründe, die auch eine "Rücknahme" i.S.d. § 48 VwVfG rechtfertigten. 323 Unterschiedlich insoweit ist nur die Begrifflichkeit. Denn § 12 StabüG bezeichnete dies als "Widerruf'. 3 2 4

II. Der Entzug 1. "Widerruf' Die DDR-Staatsbürgerschaft konnte aber auch aus anderen Gründen aufgehoben werden. § 12 Abs. 1 lit.b enthielt dazu folgende Ausführungen: "Die Verleihung der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik kann widerrufen werden, wenn sich der Bürger durch grobe Mißachtung der mit der Verleihung übernommenen Verpflichtungen nicht würdig erweist."

319

Makarov / v. Mangoldt, § 10 Rdnr. 2.

320

Vgl. oben in § 23.

321

Makarov / v. Mangoldt, § 10 Rdnr. 8.

322

Ebenda, § 12 Rdnr. 3.

323

Vgl. dazu oben §§ 18 u. 20.

324

So auch Makarov / v. Mangoldt, § 12 Rdnr. 2.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

1

Insoweit enthielt § 12 StabüG Zweckmäßigkeitselemente, die wegen des Entzugsverbots des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG in der Bundesrepublik keine rechtliche Basis für das Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit hätten bilden dürfen. 325 Als Motiv für die Einführung der Widerrufsmöglichkeit führt Gerhard Riege an: 3 2 6 "Die gesetzliche Regelung des Widerrufs der Verleihung der Staatsangehörigkeit geht davon aus, daß die Verleihung (Einbürgerung) eine Sache der Ehre ist. Von dem neuen Bürger wird erwartet, daß er sich der sozialistischen Staatsbürgerschaft würdig erweist und die grundlegenden Forderungen erfüllt, die für ihn daraus erwachsen. Die Anwendung des Widerrufs stellt eine Korrektur einer Entscheidung dar, die entweder unter vorgespiegelten, falschen Voraussetzungen gefallt oder der durch grob unwürdiges Verhalten des Eingebürgerten die sachliche Berechtigung entzogen wurde".

Als Fälle der Unwürdigkeit wurden nicht schlechthin alle Verstöße gegen die sozialistische Staats- und Rechtsordnung angesehen, sondern nur diejenigen, die den Neubürger auswiesen als eine Person, die "von vornherein nicht bereit war, sich als sozialistischer Staatsbürger zu bewegen". 327 Die Beurteilung, welches bestimmte Verhalten verurteilungswürdig war, oblag dem Ministerrat als zuständige Behörde. Er hatte entsprechend weiten Spielraum zur Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs. 328 Der "Widerruf' war gemäß § 12 Abs. 2 StabüG nur innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren nach Verleihung der "Staatsbürgerschaft der DDR" zulässig. Er wirkte ex nunc 3 2 9 und individuell nur für denjenigen, gegen den sich die Entziehung unmittelbar richtete. Er erstreckte sich nicht automatisch auf Ehegatten und Abkömmlinge (§ 14 StabüG).

2. "Aberkennung" a) Individuelle

"Aberkennung"

In § 13 StabüG hatte die ehemalige DDR die Grundlage für sog. "Aberkennungsverfahren" gelegt: 330

325

Ebenda, § 12 Rdnr. 1; Zieger, Das Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR, S. 20ff.

326

Staatsbürgerschaft, S. 327f.

327

Riege, Staatsrecht der DDR, S. 167f.

328

So auch Makarov / v. Mangoldt, § 12 Rdnr. 4 u. 7.

329

Riege, Staatsbürgerschaft, S. 170.

330 Vgl. dazu Kommentierung der Verordnung zu Fragen der Staatsbürgerschaft der DDR v. 21. Juni 1982 (GBl. DDR I. S. 418) bei Makarov / v. Mangoldt, Gruppe 20, Rdnr. Iff.

16

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

"Die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik kann Bürgern, die ihren Wohnsitz oder Aufenthalt außerhalb der Deutschen Demokratischen Republik haben, wegen grober Verletzung der staatsbürgerlichen Pflichten aberkannt werden."

Der Tatbestand des § 13 StabüG erfaßte sog. "Republikflüchtige" oder sonstige Personen, die ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt außerhalb der ehemaligen DDR hatten. 331 Gem. § 14 StabüG wirkte die Aberkennung nur gegenüber Personen, gegen die die Maßnahme ausgesprochen wurde, nicht aber automatisch gegenüber Familienangehörigen.

b) Kollektive

"Aberkennung "

Neben der individuellen Aberkennungsmöglichkeit des § 13 StabüG erfolgte eine kollektive Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft durch das "Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsbürgerschaft" 332 vom 16. Oktober 1972. Mit Wirkung vom 17. Oktober 1972 wurde die "Staatsbürgerschaft der DDR" allen Bürgern, die vor dem 1. Januar 1972 die DDR "unter Verletzung der Gesetze des Arbeiter- und Bauernstaates" verlassen und ihren Wohnsitz dort nicht wieder genommen hatten, sowie deren Abkömmlingen, soweit sie ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt ebenfalls außerhalb der ehemaligen DDR hatten, entzogen. Diese Regelung wurde durch die Verordnung zu Fragen der Staatsbürgerschaft vom 21. Juni 1982 auf alle Personen ausgedehnt, die bis einschließlich 31. Dezember 1980 die DDR ohne Genehmigung verlassen hatten und nicht wieder zurückgekehrt waren. "Widerruf' und "Aberkennung" der "Staatsbürgerschaft der DDR" erfolgten als "politisch-juristische Reaktionen der sozialistischen Gesellschaft auf eine schwere Verletzung der Treuepflicht gegenüber dem Staat". 333 Mittels dieser Entzugstatbestände trennte sich die sozialistische Gesellschaft der ehemaligen DDR bewußt von den betreffenden Personen, in dem sie das staatsangehörigkeitsrechtliche Band, durch das beide bisher verbunden waren, bei "Unpäßlichkeit" zerschnitt.

331

Bergmann / Korth / Ziemske, Rdnr. 164.

332

GBl. DDR 1972 L S. 265.

333

Riege, Staatsrecht der DDR, S. 168.

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

§ 28 Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit durch Erlöschen der "Staatsbürgerschaft der DDR"? Fraglich ist die Auswirkung der DDR-Erlöschensgründe auf die deutsche Staatsangehörigkeit. 334 Die Teso-Entscheidung des BVerfG bezog sich ausdrücklich nur auf die "Erwerbsgründe" der ehemaligen DDR. 3 3 5 Von Teilen in der Literatur wird von daher behauptet, daß die Erlöschensgründe nach dem Recht des anderen deutschen Staates, soweit es um den Besitz der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit unter dem Grundgesetz geht, zu ignorieren sind. 3 3 6 Hinsichtlich des Erlöschens der deutschen Staatsangehörigkeit soll ausschließlich nur auf die Rechtsordnung unter der Herrschaft des Grundgesetzes abgestellt werden. Geschlußfolgert wird diese Ansicht aus der Grundlagenvertragsentscheidung, wonach ein Deutscher seine Staatsangehörigkeit für die Bundesrepublik Deutschland "nicht dadurch (verliert), daß sie ein anderer Staat aberkennt. Eine solche Aberkennung darf die Bundesrepublik Deutschland nicht rechtlich anerkennen; sie ist für sie ohne Wirkung". 3 3 7 Nach h.M. sind allerdings die Erlöschensgründe des Staatsbürgerschaftsrechtes der DDR nach den gleichen Grundsätzen zu beachten, wie sie im Teso-Beschluß für die Erwerbsgründe formuliert wurden. 338 Erwerb und Erlöschen der Staatsangehörigkeit sind zwar rechtlich verschiedene Vorgänge. Sie unterstehen aber einer einheitlichen Garantie. Jeder Aufhebungstatbestand des Staatsbürgerschaftsrechts der ehemaligen DDR bewirkt nach h.M. daher "grundsätzlich" auch das Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit. Doch er muß in jedem Einzelfall dem ordre public Vorbehalt Rechnung tragen. 339

334 Vgl. dazu: Hans v. Mangoldt, Zur heutigen Bedeutung der Entscheidung des Grundgesetzes für die deutsche Staatsangehörigkeit, in: Festschrift für Günter Dürig, S. 119ff.(123, 126ff, 132ff). 335

Vgl. dazu oben § 25.

336

Eckart Klein, NJW 1983, 2289, 229 lf.; VGH Bad. Württ., VB1.BW 1988, 66; zweifelnd Silagi, StAZ 1988, S. 64ff. (71). 337

BVerfGE 36, S. Iff., (30).

338

Hans v. Mangoldt, Die Entscheidung des Grundgesetzes für die deutsche Staatsangehörigkeit, in: Festschrift für Günter Dürig, S. 139ff.; Schmitz, NVwZ 1987, 3 Iff. (33). 339

Hans v. Mangoldt, Festschrift Dürig, S. 140.

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

/. Der Verlust 1. "Entlassung" auf Antrag Die "Entlassung" aus der DDR-Staatsbürgerschaft auf Antrag gem. § 9 StabüG führte damit grundsätzlich auch zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. 340 Wenn die Verleihung der Staatsbürgerschaft nach der TesoEntscheidung grundsätzlich den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit bewirken konnte, so ist nicht zu erkennen, weshalb für den actus contrarius der Entlassung grundsätzlich etwas anderes gelten sollte. Eine Ausnahme besteht jedoch für den Fall, daß die Entlassung nur mit dem Ziel betrieben wurde (u.U. auf Umwegen), in den Geltungsbereich des Grundgesetzes zu gelangen, um hier als Deutscher zu leben. 341

2. Antragsgemäßer Erwerb ausländischer Staatsangehörigkeit Das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Staatsangehörigkeitsrecht enthielt darüber hinaus Verlustgründe, wie beispielsweise § 25 Abs. 1 RuStAG, die in der DDR nicht bestanden. Diesbezüglich gilt nach allgemeiner Ansicht, daß ein DDR-Bürger, der die Staatsangehörigkeit nach dem Staatsbürgerschaftsrecht der ehemaligen DDR nicht verloren hat, sie auch nicht nach den Regeln der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit verloren hat. Er wäre sonst als sog. "bloß-noch-DDR-Bürger" anzusehen, was die Teilung Deutschlands vertieft hätte. 342 Dies war die historische Ausgangslage im Spätsommer 1989 in Ungarn. 343 Dort nutzten viele DDR-Staatsbürger die von der ungarischen Regierung angebotenen Einbürgerungen, um so eine Ausreisemöglichkeit für die Bundesrepublik Deutschland zu erhalten. Sie beantragten entsprechend den Erwerb der ungarischen Staatsangehörigkeit, was den Tatbestand des § 25 Abs. 1 RuStAG berührte. Es stellte sich staatsangehörigkeitsrechtlich die Frage, ob mit Erwerb der ungarischen Staatsangehörigkeit die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch erlosch. Praktisch wurde das Problem des Erhaltes der deutschen Staatsangehörigkeit dadurch gelöst, daß die deutschen Auslandsvertretungen den betreffenden DDR-Bürgern gem. § 25 Abs. 2 RuStAG Genehmigungen der Beibehal340

Ebenda.

341

Ebenda.

342

Ebenda, S. 141

343

Hieizu feststellende Verfugung des Auswärtigen Amtes v. 22. November 1990, Referat 510512 (DDR).

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

189

tung erteilten. 344 Dieses Verfahrens hätte es aber nicht bedurft, da ersichtlich der Erwerb der ungarischen Staatsangehörigkeit nur dem Ziel diente, in den Geltungsbereich des Grundgesetzes zu gelangen. Die Betroffenen machten nur Gebrauch von ihrem Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 GG. Denn nur über den "Umweg" der Erlangung der ungarischen Staatsangehörigkeit schien es - in dieser historisch so bedeutsamen Situation - "zunächst" ausschließlich möglich zu sein, in die Bundesrepublik ausreisen zu dürfen. 345 Auch bestehen m.E. begründete Zweifel daran, ob das Antragserfordernis der "Freiwilligkeit" i.S.d. § 25 Abs. 1 RuStAG überhaupt erfüllt war. Gegenwärtig sind zwei Verfahren vor dem BVerwG anhängig, die die Problematik zum Gegenstand haben.

II. Der Entzug Der Entzug der DDR-Staatsbürgerschaft durch "Aberkennung" oder "Widerruf der Verleihung" führte wegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG zu keinerlei Auswirkungen auf die fortbestehende deutsche Staatsangehörigkeit. Nach der herrschenden weiten Entzugstheorie 346 lag eine Zwangsausbürgerung in allen Fällen vor, die das Verbot des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG unmittelbar berührte. Dies gilt auch für den Fall der gesetzlich angeordneten kollektiven Zwangsausbürgerung aufgrund des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsbürgerschaft vom 16. Oktober 1972 sowie aufgrund der Verordnung zu Fragen der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Juni 1982. Probleme hinsichtlich der kollektiven Zwangsausbürgerungen durch Gesetz haben insoweit die Vertreter eines engeren Entzugsbegriffes. 347 Denn die Entzugstatbestände der ehemaligen DDR waren generell-abstrakt in Rechtssätzen formuliert und damit dem Schutzbereich des Art. 16 Abs. 1, Satz 1 GG nach dieser Ansicht nicht zugänglich. Den Vertretern des engeren Entzugsbegriffes bleibt damit nur die Möglichkeit, die kollektiven Zwangsausbürgerungen der DDR über das Willkürverbot des Art. 3 GG als mit dem ordre public des Grundgesetzes nicht in Einklang stehend wegfallen zu lassen 4 8

344

Ebenda.

345

So auch Hans v. Mangoldt, in: Festschrift für Dürig, S. 121ff. (140).

346

Vgl. oben § 21.

347

Vgl. ebenda.

348

So Hans v. Mangoldt, in: Festschrift für Dürig, S. 12 Iff.

190

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

III. Die Mehrstaater- Verträge

der ehemaligen DDR

Ein besonderes Problemfeld bilden die Verträge der ehemaligen DDR mit den übrigen Warschauer Pakt-Staaten zur Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeiten. Sie enthielten verschiedene selbständige verbindliche Erlöschenstatbestände für das ehemalige DDR-Recht. 349 Die Verträge sind zwar mit der Vollendung der Wiedervereinigung außer Kraft getreten. 350 Doch auch sie haben gegenwärtig für die noch zur Zeit ihrer Geltung ausgesprochenen Erlöschenserklärungen Bedeutung. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob auch sie zu einem Erlöschen der deutschen Staatsangehörigkeit führten. Soweit die Mehrstaater-Verträge einen Erklärungszwang für den Mehrstaater beinhalteten und bei unterlassener Erklärung das Erlöschen der Staatsangehörigkeit des Staates vorsahen, in dem der Betroffene keinen Wohnsitz hatte, stellt sich das Problem der Vereinbarkeit mit Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. 3 5 1 Die Beantwortung der aufgeworfenen Frage hängt davon ab, ob sie als "Entzug" i.S.dieser Vorschrift zu deuten sind. Nach Hans v. Mangoldt soll es sich hierbei um bloße "Verlustgründe" handeln, die "an sich dem Grundgedanken unseres § 25 RuStAG" entsprechen. 352 Hierbei verkennt allerdings Hans v. Mangoldt, daß § 25 RuStAG vom Grundsatz des "freiwilligen Erwerbs" einer ausländischen Staatsangehörigkeit ausgeht, es aber in Fällen des "Erklärungszwanges" gerade umgekehrt um die sanktionsbewährte Pflicht geht, sich erklären zu müssen. Die Rechtsfolgen bei unterlassener Erklärung sind weder willensgetragen noch vermeidbar. Die Wegnahme zumindest einer der mehreren Staatsangehörigkeiten tritt in jedem Falle unbeeinflußbar ein. Anders dagegen ist es im Rahmen des § 25 RuStAG. Unterläßt der Betreffende die Stellung des Antrags auf Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit, verbleibt es bei der bestehenden Rechtslage. Die Wegnahme der Staatsangehörigkeit ist für ihn in jedem Falle beeinflußbar. M E. handelt es sich daher um Fälle des "Entzuges", die mit Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar sind. Besondere Bestimmungen trafen die Mehrstaater-Verträge ferner für die Staatsangehörigkeitslage insbesondere der Kinder gemischt-nationaler Paare. Hier wurde das Ziel verfolgt, schon die Entstehung mehrfacher Staatsangehörigkeiten zu vermeiden. Zu diesem Zwecke wurde das ius sanguinis verkürzt. Nur diejenigen Abkömmlinge mit Inlandswohnsitz sollten Deutsche 349

Vgl. dazu oben § 26.

350

Vgl. oben § 22.

351

Vgl. oben § 22.

352

Zur heutigen Bedeutung der Entscheidung des Grundgesetzes für die deutsche Staatsangehörigkeit, in: Festschrift für Günter Dürig, S. 119ff.( 134).

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

191

bleiben dürfen. Diese Verkürzung des ius sanguinis ist eine Verletzung des Status der Eltern. Ihnen wurde die Befugnis zwangsweise genommen, die Staatsbürgerschaft weiter zu übertragen. M E. handelt es sich auch hierbei um die Schaffung eines verminderten Staatsangehörigkeitsstatus, was bereits aus diesem Grunde gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG verstößt. 353 Die Mehrstaater-Verträge verstoßen damit nach hier vertretener Ansicht in den genannten Punkten gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. In allen Fällen konnten diese Verträge nur Grundlage für das Erlöschen der DDR-Staatsbürgerschaft sein. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist den Betroffenen in jedem Falle erhalten geblieben.

§ 29 Zusammenfassende Darstellung über das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht I. Die einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit 1. Die Einheit Deutschlands seit dem 3. Oktober 1990 hat Auswirkungen auch auf das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht. Seine Rechtsgrundlagen sind nunmehr einheitlich. Die staatsangehörigkeitsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes sowie ihre Konkretisierungen in den Einzelbestimmungen unterhalb des Verfassungsranges gelten seit der Wiedervereinigung uneingeschränkt auch im Territorium der ehemaligen DDR. 2. Das dortige Staatsbürgerschaftsrecht ist mit Ablauf des 2. Oktober 1990 außer Kraft getreten, einschließlich der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus den bilateralen Mehrstaater-Verträgen. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahre 1913 i.d.F. vom 30. Juni 1993 sowie seine zahlreichen, ergänzenden Vorschriften etwa im Ausländergesetz oder den Gesetzen zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit gestalten fortan ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit. 353 Vgl. zur gebotenen Einheitlichkeit des Status "Staatsangehörigkeit" oben § 1; Hans v. Mangoldt differenziert hierbei, ob die Konstruktion des sog. rückwirkenden Nichtenverbs gewählt wurde oder die des Staatsbürgerschaitsverlustes ex nunc. Nach ihm liegt im Falle des rückwirkenden Nichterwerbs kein Verlusttatbestand vor, der Auswirkungen auf die deutsche Staatsangehörigkeit hat. Das betroffene Kind könne dann nur nach Maßgabe des bei uns geltenden Staatangehörigkeitsrechts deutscher Staatsangehöriger geworden sein - sofern es wegen der kumulativen Anwendung unserer Erwerbstatbestände zum Geburtszeitpunkt die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hätte. Dies wäre nicht der Fall gewesen z.B. bei nichtehelicher Abstammung von einem deutschen Vater. Ist den Mehrstaater-Verträgen dagegen die Konstruktion des Staatsbürgerschaitsverlustes ex nunc beizubemessen, kommt Hans v. Mangoldt zu ähnlichen Überlegungen wie im Falle des Erklärungszwanges im Bereich der nachträglich eingetretenen Mehrstaatigkeit. Auch für diese Fälle geht er entsprechend dem Ansatz des engen Entzugsbegriff den Weg über das allgemeine Willkürverbot des Art. 3 GG; in: Festschrift för Dürig, S. 142.

192

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

II. Grundsätze der deutschen Staatsangehörigkeit Im wiedervereinigten Deutschland gelten folgende Grundsätze zur deutschen Staatsangehörigkeit: 1.Die deutsche Staatsangehörigkeit ist einheitlich und gleich. Unterschiedliche Status sind verfassungsrechtlich untersagt. Differenzierungen etwa nach Inlands- und Auslandsdeutschen, Alt- und Neubürgern sind unzulässig. Die letzte geschlechtsbezogene Ungleichbehandlung wurde mit der Reform des Jahres 1993 bereinigt. Seitdem können auch deutsche Männer bei Feststellung ihrer Vaterschaft die Staatsangehörigkeit auf ihre unehelichen Kinder ausländischer Frauen übertragen. 2. Im Rahmen des originären Geburtserwerbs gilt ausnahmslos das ius sanguinis (Abstammungsprinzip) gem. § 4 RuStAG: Deutscher ist, wer von einem deutschen Elternteil abstammt. 3. Derivativ kann die deutsche Staatsangehörigkeit insbesondere durch Einbürgerung erworben werden, was in der Regel neben dem Antrag des Einbürgerungsbewerbers vor allem dessen Bereitschaft zur Aufgabe bisheriger Staatsanghörigkeiten voraussetzt, (vgl. Einbürgerungsrichtlinien zu § 8 RuStAG sowie die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale in: §§9 RuStAG, 85f. AuslG und Art. 1 des transformierten Mehrstaaterübereinkommens.) 4. Mehrstaatigkeit wird in Ausnahmefällen hingenommen, nämlich bei originärem Geburtserwerb, bei ihm gleichgestellten derivativen Erwerb durch Adoption und Legitimation sowie bei Einbürgerungen, Wiedergutmachungsund Härtefällen. 5. Das Erlöschen der Staatsangehörigkeit ist auf Fälle des "Verlustes" reduziert. Verlust ist die willensgetragene Aufgabe der Staatsangehörigkeit, insbesondere infolge Antrags auf Entlassung oder Verzicht. Verlust ist "Selbstausbürgerung". Es herrscht der Grundsatz der Entlassungs- und Verzichtsfreiheit. 6. Der "Entzug" der deutschen Staatsangehörigkeit ist gem. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG dagegen gänzlich untersagt: a) Nach herrschender Ansicht ist "Entzug" jede Form der nicht beeinflußbaren Wegnahme der Staatsangehörigkeit durch einseitigen Hoheitsakt, unabhängig davon welche Grundlage der staatliche Akt hat. Das Entzugsverbot des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG richtet sich wegen Art. 1 Abs. 3 GG auch an den Gesetzgeber, unabhängig davon, in welche Form er den Erlöschensakt kleidet. Der "Entzug" ist auch begrifflich ein aliud zum "Verlust". Der "Entzug" grenzt sich hauptsächlich durch die fehlende Willensgeneigtheit,

1. Kap.: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht

193

zumindest aber durch die Unvermeidbarkeit des Erlöschens zum "Verlust" ab. Entzug ist "Zwangsausbürgerung". b) Der Schutz vor Entzug der Staatsangehörigkeit wurde in das Grundgesetz als Folge der nationalsozialistischen Zwangsausbürgerungen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen aufgenommen. In den Beratungen des Parlamentarischen Rates kam aber auch deutlich zum Ausdruck, daß das Entzugsverbot der Vermeidung von Staatenlosigkeit dienen sollte, die auf Grund millionenfacher politisch bedingter Zwangsausbürgerungen insbesondere der ehemaligen Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten des Ostblocks eintrat. c) Der Parlamentarische Rat befaßte sich eingehend mit dem Entzugsverbot. Die Anträge von Hermann v. Mangoldt, das deutsche Entzugsverbot einschränkend zu formulieren, scheiterten. Er beabsichtigte, keinen gänzlichen Bruch mit dem historisch in Deutschland gewachsenen und in westlichen Demokratien bewährten Entzugssystem herbeizuführen. Stattdessen wollte er - in Orientierung an Art. 15 Allgemeine Menschenrechtserklärung der UNO aus dem Jahre 1948 - den Entzug nur für "gewisse", nämlich "willkürliche" Fälle untersagen. Beispielsweise sollte nach ihm ein Entzug zur Verringerung der Mehrstaatigkeit oder aus anderen sachlich legitimierten Gründen zulässig sein. d) Wegen der Problematik, die "gewissen" zulässigen von den unzulässigen Fällen abzugrenzen, wurden seine Anregungen aber nicht verwirklicht. Die Mehrheit mißtraute dem Gesetzgeber, im Rahmen der damit verbundenen und erforderlichen Differenzierung immer das rechte Maß zu finden und beizubehalten. Aus diesem Grunde wurde das Entzugsverbot uneingeschränkt in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG formuliert: "Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden".

7a) Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht in der ehemaligen DDR unterschied sich auf der Erwerbsseite in zwei Punkten wesentlich von dem der Bundesrepublik Deutschland: - Die staatsangehörigkeitsrechtliche Gleichstellung der Geschlechter war in der ehemaligen DDR schon im Jahre 1949 vollzogenen. In der Bundesrepublik geschah dies schrittweise, hauptsächlich in der Reform mit Wirkung zum 1. Januar 1975. - Das Einbürgerungsrecht der ehemaligen DDR verlangte mehr als Loyalität vom Einbürgerungswilligen, nämlich positives Eintreten für die sozialistischen Staatsziele. Die Einbürgerung war ausnahmslos zur Disposition der Einbürgerungsbehörde gestellt. b) Im übrigen aber waren die Unterschiede marginal. Das lag zum einen daran, daß die DDR ursprünglich an der einheitlichen deutschen Staatsange13 Ziemske

194

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

hörigkeit von Verfassungs wegen festhielt. Bis zum Inkraftreten des Staatsbürgerschaftsgesetzes aus dem Jahre 1967 galt das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz ebenfalls in der ehemaligen DDR. Schließlich aber fiißte auch die "Staatsbürgerschaft der DDR" wie die deutsche Staatsangehörigkeit auf dem ius sanguinis und auf dem Grundsatz der Vermeidung der Mehrstaatigkeit. 8. Auf der Erlöschensseite sind allerdings bis zur "Wende" im Jahreswechsel 1989/90 erhebliche Unterschiede zum Recht der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen: a) Das Staatsangehörigkeitsrecht der ehemaligen DDR kannte keine Entlassungsfreiheit. Der sozialistische Staat erhob sich zum Vormund seiner Bürger auch in diesem Rechtsgebiet. b) Die ehemalige DDR kannte kein Entzugsverbot. Die "Aberkennung" und der "Widerruf' der "Staatsbürgerschaft der DDR" waren politisch eingesetzte Mittel zur Förderung der sozialistischen Gemeinschaft. Voraussetzung der "Aberkennung" war die "Unwürdigkeit" in der Person des Staatsbürgers der ehemaligen DDR. Die Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs war in die ausschließliche Verantwortung des Ministerrats gelegt. Individuell wie kollektiv zum Entzug der "Staatsbürgerschaft der DDR" führte die sog. Republikflucht. c) Regelungen zur Vermeidung und Verringerung von Mehrtstaatigkeit enthielten auch die bilateralen Mehrstaater-Verträge mit sieben Ostblockstaaten. 9. Die Auswirkungen der rigiden staatsangehörigkeitsrechtlichen Maßnahmen der ehemaligen DDR konnten durch das Festhalten der Bundesrepublik Deutschland an der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit gemildert werden. "Staatsbürger der DDR" waren nach dem ungebrochenen Staatsangehörigkeitsverständnis des Grundgesetzes zugleich Deutsche. Grundlegend stellte das BVerfG in der Teso-Entscheidung des Jahres 1987 fest, daß der Erwerb der "Staatsbürgerschaft der DDR" grundsätzlich den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit zur Folge hat. Staatsbürger der ehemaligen DDR besaßen damit per se zumindest eine zusätzliche, nämlich die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie wurde ihnen aber nicht aufgezwungen. Denn die "Staatsbürgerschaft der DDR" war bereits durch den Grundlagenvertrag des Jahres 1973 auch von westdeutscher Seite respektiert und galt als volle Legitimation für denjenigen DDR-Staatsbürger, der sich in der Bundesrepublik aufhielt und nicht von der deutschen Staatsangehörigkeit Gebrauch machen wollte. 10. Die besondere Rechtslage für DDR-Staatsbürger war verfassungsrechtlich aus dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes geboten und wegen des nicht untergegangenen Deutschen Reiches mit dem Völkerrecht vereinbar. Das historisch begründete Näheverhältnis der Deutschen in Ost und

2

Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

West beinhaltete das genuine link für die Stabilisierung der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit in den Ausführungen der weitsichtigen TesoEntscheidung des BVerfG. Das deutsche Volk blieb immer vereint, was den Wiedervereinigungsprozeß beider deutscher Staaten zumindest beschleunigen half, wenn nicht sogar erst ermöglichte.

2. Kapitel

Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich Zum Vergleich gestellt ist das Staatsangehörigkeitsrecht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie anderer ausgewählter (europäischer) Staaten und das klassischer Einwanderungsländer. Das Staatsangehörigkeitsrecht der Türkei wurde berücksichtigt, da die größte Ausländergruppe in der Bundesrepublik Deutschland aus diesem Land stammt. 354

§ 30 Der Erwerb der Staatsangehörigkeit /. Originärer

Erwerb (Geburtserwerb)

1. Der Vergleich der staatangehörigkeitsrechtlichen Regelungen zeigt ein deutliches Übergewicht der Staaten, deren Gesetze vom Abstammungsprinzip ausgehen. 2. Hierbei lassen sich die Staaten folgendermaßen klassifizieren: Das iussoli-Prinzip dominiert nur noch in den U S A 3 5 5 und Irland 3 5 6 . Aber auch dort herrscht es nicht rein, sondern ist immer ergänzt durch das ius sanguinis. 3. Auffallend ist die Tendenz in den klassischen ius-soli-Gebieten, nach abgeschlossener Staatsvolkbildung Beharrungsmechanismen einzuführen oder gänzlich zum Abstammungsprinzip zu wechseln. So ist die Einwanderungsgeschichte der USA geprägt durch schwankende Einwanderungsquo-

354

Vgl. oben Einleitung unter I.

355

Vgl. Anhang § 19 II 1.

356

Vgl. Anhang § 7 I 1.

196

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

ten 3 5 7 , die sich immer der Integrationsfähigkeit des Landes anpaßten sowie durch die Einführung strikter Entzugsgründe. England, das im Zuge der Abwicklung alter Kolonial- und Commonwealth-Beziehungen aufgrund des iussoli-Prinzips eine Einwanderungslawine befürchtete, wechselte Anfang der 80er Jahre zum Abstammungsprinzip. Auch in Kanada 358 erfolgt heute vorrangig der Erwerb durch Geburt nach dem Abstammungsprinzip und nur noch subsidiär nach dem Territiorialprinzip. Bis auf Irland hat sich in allen anderen EG-Staaten das Abstammungsprinzip als hauptsächlicher Erwerbstatbestand durchgesetzt. 4. Das reine Abstammungsprinzip herrscht in den skandinavischen Ländern 3 5 9 sowie in der Schweiz , Österreich 361 , Luxemburg 362 , der Türkei 3 6 3 und der Bundesrepublik Deutschland 364 . 5. Frankreich 365 , die Niederlande 366 , Belgien 367 , Spanien 368 und Großbritannien ergänzen den ius sanguinis Erwerb durch ius soli Elemente. In Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Spanien ist der ergänzende ius soli Erwerb auf die dritte Ausländergeneration beschränkt. Das englische Recht sieht dagegen eine Ergänzung schon für die zweite Ausländergeneration vor. 6. Der Abstammungserwerb erfolgt in allen Vergleichsländern gleichberechtigt a patre wie a matre. 7. Für nichteheliche Abkömmlinge gilt in allen Staaten der Grundsatz "mater semper certa est". 369 Dieses Prinzip führt dazu, daß nichteheliche Kinder nach den Bestimmungen der Vergleichsländer die Staatsangehörigkeit ihrer leiblichen Mutter kraft Gesetzes erwerben. Der Grundsatz gilt aber nicht in allen Staaten absolut. Bis auf Österreich 370 , die Schweiz 371 und Großbri-

357 Ferid / Blumenwitz, Das Staatsangehörigkeitsrecht der Vereinigten Staaten, S. 25; Wiessner, Die Funktion der Staatsangehörigkeit, S. 123ff.: Miller, in: Senatsverwaltung für Soziales, S. 103ff. 358

Anhang § 181 1. Dänemark (Anhang § 2 I 1), Norwegen (Anhang § 15 I 1), Schweden (Anhang § 13 I 1), Finnland mit Ausnahme für ansonsten staatenlos Geborene (Anhang § 3 I 1). 359

3fi 0

Anhang § 16 II 1.

361

Anhang §11 I I .

362

Anhang § 9 1 1 .

363

Mit Ausnahme für ansonsten staatenlos Geborene, Anhang § 17 I 1.

364

Vgl. oben § 15 I.

365

Anhang § 4 I lb.

366

Anhang § 10 I lb.

367

Anhang § 11 lb.

368

Anhang § 14 I lb.

369

Vgl. auch de Groot, Staatsangehörigkeitsrecht im Wandel, S. 199ff.

370

Anhang § 11 I.

371

Anhang § 16 II.

2

Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

tannien 372 erwirbt das nichteheliche Kind auch die Staatsangehörigkeit des Vaters. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß die Vaterschaft feststeht.

IL Derivativer

Erwerb (nachträglich

abgeleiteter Erwerb)

1. Legitimation Legitimation (z.B Verehelichung) durch einen Inländer bewirkt grundsätzlich in allen Vergleichsländern, daß das legitimierte Kind die Staatsangehörigkeit des Vates erwirbt. In den meisten Staaten ist dies allerdings nur unter der Voraussetzung möglich, daß das legitimierte Kind noch minderjährig ist. Lediglich in der Bundesrepublik Deutschland 373 wird die väterliche Staatsangehörigkeit auch erworben, wenn das legitimierte Kind schon volljährig ist.

2. Adoption In allen Vergleichsländern ist festzustellen, daß die Adoption durch einen Inländer Einfluß auf die Erwerbsgründe der Staatsangehörigkeit hat. Alle Staaten entsprechen den Minimalanforderungen des Art. 11 Abs. 1 der Europaratskonvention 374 über die Adoption vom 24. April 1967, wonach zumindest eine erleichterte Einbürgerung verlangt wird. In den meisten Staaten führt Adoption allerdings zum automatischen Erwerb der Staatsangehörigkeit.

3. Einbürgerung Alle Staaten kennen die Möglichkeit, Personen auch außerhalb familienrechtlicher Beziehungen die Staatsangehörigkeit zu verleihen. Dies geschieht grundsätzlich durch Einbürgerung. Ausländer mit engen Beziehungen zum Inland werden derart auf "Antrag" in die staatliche Gemeinschaft integriert. a) Der Regelfall einer Einbürgerung geschieht im Wege des Ermessens. Im Rahmen eines Einbürgerungsverfahrens werden überall die Beziehungen 372

Anhang § 6 II.

373

Vgl. oben § 15 II 1.

374 Für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft durch Gesetz zu dem Europäischen Obereinkommen über die Adoption von Kindern v. 25.8.1980 (BGBl. II, S. 1093); in Auszügen abgedruckt bei: Weidelener / Hemberger, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, S. 379ff.

198

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

eines Ausländers zum Inland ausführlich überprüft. Die Staaten behalten sich im Einzelfall vor, die Staatsangehörigkeitsverleihung zu verweigern. b) Es gibt aber auch Fälle, in denen die Beziehungen zum Inland offensichtlich sind oder - wie im Falle der Staatenlosen - kraft völkerrechtlicher Verpfichtung für zwingend geboten angesehen werden. In diesen Fällen räumen die Staaten Einbürgerungsansprüche oder Optionen auf den Erwerb der Staatsangehörigkeit ein. c) Allgemeine Voraussetzungen der Einbürgerung sind in der Regel: - Volljährigkeit des Einbürgerungsbewerbers, - inländischer Wohnsitz, - Mindestaufenthaltszeit, -Keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, d.h. in der Regel unbescholtene Lebensführung, - gesellschaftliche Eingliederung, insbesondere Sprachfertigkeiten sowie elementare Kenntnis der Verfassungsordnung. d) Die Voraussetzungen variieren in den einzelnen Ländern teils erheblich. So fordern die Niederlande 375 , Belgien 376 , Frankreich 377 , Großbritannien 378 , Italien 3 7 9 und die U S A 3 8 0 einen Mindestaufenthalt im Inland von fünf Jahren. Die Bundesrepublik Deutschland 381 , Österreich 382 , Spanien 383 und Griechenland 3 8 4 verlangen das Doppelte, nämlich zehn Jahre. Die Schweiz 385 hat ein zwölfjähriges Wohnsitzerfordernis im Inland. e) In einigen Ländern wird bei der Einbürgerung der Treueeid gefordert, nur in Loyalität zum aufnehmenden Staatsverband zu stehen. Insbesondere in den U S A 3 8 6 ist die Vereidigung in eine besondere Feierlichkeit gekleidet, die den Verleihungsakt in außerordentlicher Art und Weise würdigt und darauf zielt, im Bewußtsein des Neubürgers zu verewigen, von nun an dieser Nation zuzugehören. Auch Großbritannien 387 , Kanada 388 , Italien 3 8 9 , Österreich 390 , Griechenland 391 und Spanien 392 kennen die Zeremonie der Vereidigung. 375

Anhang § 10 12.

376

Anhang § 1 II 2.

377

Anhang § 4 1 2.

378

Anhang § 6 I I 2.

379

Anhang § 8 12.

380

Anhang § 19 II 2.

381

Vgl. oben § 15 12c.

382

Anhang § 11 12.

383

Anhang § 1412.

384

Anhang § 5 I 2.

385

Anhang § 16 II 2.

386

Anhang § 19 II 2.

387

Anhang § 6 II 2.

2

Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

f) In fast allen Ländern werden Einbürgerungsgebühren verlangt, die in der Regel unterhalb der Kostendeckung liegen. Die Bundesrepublik Deutschland 3 9 3 fügt sich in dieses internationale Niveau mit einer Gebührenerhebung von i.d.R. 100,- bis 500,- DM. In der Schweiz weichen die Gebühren einer normalen Einbürgerung am deutlichsten von allen anderen Vergleichsstaaten ab. Sie variieren je nach Kanton zwischen SFr. 200,- (Luzern) und SFr. 75.000,- (Genf) und heben sich damit deutlich im internationalen Vergleich hervor. 394 Lediglich in Spanien ist die Einbürgerung kostenlos. 395 g) Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Anforderung an den Verlust oder die Aufgabe bisheriger Staatsangehörigkeiten.

§ 31 Mehrstaatigkeit Mehrstaatigkeit gilt in den meisten der hier untersuchten Staaten grundsätzlich als nicht erwünscht. In der Mehrheit der Vergleichsländer herrscht deshalb der Grundsatz der ausschließlichen Staatsangehörigkeit (Einzelstaatigkeit). Er hat Auswirkungen einerseits auf den derivativen Erwerb und andererseits auf das Erlöschen der Staatsangehörigkeit. 1. Für den derivativen Erwerb ist der Grundsatz der Einzelstaatigkeit teils in den Einbürgerungsregelungen enthalten. Die meisten Staaten verlangen die Aufgabe oder den sonstigen Verlust bisheriger Staatsangehörigkeiten als Voraussetzung für die Einbürgerung. Bis auf die Schweiz 396 , Großbritannien 3 9 7 und die Türkei 3 9 8 sowie die klassischen Einwanderungsstaaten U S A 3 9 9 und Kanada 400 legen alle anderen Staaten beim derivativen Erwerb Wert auf die Vermeidung von mehrfacher Staatsangehörigkeit. 2. Der Grundsatz der Einzelstaatigkeit ist sinngemäß in dem Übereinkommen über die Verringerung von Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht 388

Anhang § 18 I 2.

389

Anhang § 8 I 2.

390

Anhang § 11 12.

391

Anhang § 5 I 2.

392

Anhang § 14 I 2.

393

Vgl. oben § 15 II 3.

394

Anhang § 16 II 2.

395

Vgl. dazu Anhang § 14 12.

396

Anhang § 16 II 2.

397

Anhang § 6 II 2.

398

Anhang § 17 12.

399

Anhang § 19 II 2.

400

Anhang § 18 I 2.

200

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

von Mehrstaatern enthalten. 401 Neben der Bundesrepublik Deutschland sind Vertragsstaaten dieses multilateralen Abkommens: Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Österreich und Schweden. Nur dem auf die Wehrpflicht bezogenen Teil des Übereinkommens sind beigetreten: das Vereinigte Königreich, Irland und Spanien. 3. Strikt am Grundsatz der Einzelstaatigkeit halten die skandinavischen Länder, 402 Luxemburg 403 und Spanien 404 fest. In den anderen Staaten einschließlich der Bundesrepublik Deutschland 405 kann bei Einbürgerungen aus gewichtigen Gründen ausnahmsweise von dem Grundsatz abgewichen werden (Belgien 406 , Frankreich 407 , Irland 4 0 8 , Italien 4 0 9 , die Niederlande 410 , Österreich 411 und Portugal 412 ). Griechenland 413 beachtet den Grundsatz nur teilweise. 4. Der Grundsatz der Einzelstaatigkeit wirkt sich restriktiver auf der Erlöschensseite der Staatsangehörigkeit aus. 5. Die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union, nämlich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Frankreich, Italien, die Niederlande, Luxemburg, Österreich und Spanien sind Vertragspartner des Europaratsabkommens zur Verringerung der Mehrstaatigkeit. 414 Sowohl die Vertragsstaaten als auch andere Staaten (Norwegen 415 , Finnland 4 1 6 und die Schweiz 417 ) sehen den Verlust bisheriger Staatsangehörigkeiten beim antragsgemäßen Erwerb fremder Staatsangehörigkeiten vor. 6. Der Grundsatz der Einzelstaatigkeit ist aber auf der Erlöschensseite nicht in allen Vergleichsstaaten gleichermaßen aktualisiert. Seine Anwendung ist teilweise als Möglichkeit nur vorbehalten. Dies geschieht beispielsweise über

01

Vgl. dazu oben § 2.

02

Anhang § 2 III (Dänemark), § 3 II (Finnland), § 15 II (Norwegen), § 13 I I (Schweden).

03

Anhang § 9 II.

04

Anhang § 14 II.

05

Vgl. dazu oben § 17.

06

Anhang § 1 III.

07

Anhang § 4 II.

08

Anhang § 7 II.

09

Anhang § 8 II.

10

Anhang § 10 III.

11

Anhang § 11 II.

12

Anhang § 12 II.

13

Anhang § 5 II.

14

Vgl. dazu oben § 2.

15

Anhang § 15 I I 1.

16

Anhang § 3 III 1.

17

Anhang § 16 IV 1.

2

Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

die Eidespflicht in den U S A 4 1 8 und Kanada 419 . Beide Staaten verlangen ein klares Bekenntnis zur ungeteilten Loyalität, sehen in der Praxis aber davon ab, außerhalb von Krisenzeiten die ausschließliche Bindung an ihre Staaten abzuverlangen. 7. Einige Staaten verringern Mehrstaatigkeit auch in Regelzeiten mit den Mitteln des Entzugs. Sie erstrecken das Erlöschen bisheriger Staatsangehörigkeiten auf originäre Geburtsfälle sowie langen Auslandsaufenthalt (Belgien 420 , skandinavische Länder 421 , Luxemburg 422 und Schweiz 423 ).

§ 32 Das Erlöschen der Staatsangehörigkeit Grundsätzlich kennen alle Vergleichsstaaten Erlöschenstatbestände in Form des "Verlustes" und des "Entzuges". Nur in Portugal 424 und der Bundesrepublik Deutschland 425 bestehen ausschließlich "Verlustregelungen".

I. Der Verlust Verlust ist die für den betroffenen Staatsangehörigen die beeinflußbare, meist mitwirkungsbedürftige Aufgabe bzw. Aufhebung der Staatsangehörigkeit. Verlust ist Selbstausbürgerung. 426

1. Entlassung und Verzicht Die meisten der untersuchten Staaten kennen für Mehrstaater die Möglichkeit, aus der betreffenden Staatsangehörigkeit entlassen zu werden oder auf sie verzichten zu können.

418

Anhang § 19 III.

419

Anhang § 18 12.

420

Anhang § 1 IV 2.

421

Anhang § 2 I I I 2 (Dänemark), § 3 III 2 (Finnland), § 15 III 2 (Norwegen), § 13 III 2 (Schweden). 422

Anhang § 9 II 2.

423

Anhang § 16 IV 2.

424

Anhang § 12 III.

425

Vgl. oben § 22.

426

Vgl. dazu oben § 21.

202

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

a) Die "Entlassung auf Antrag" führt zum Verlust in den skandinavischen Staaten (Dänemark 427 , Finnland 4 2 8 , Norwegen 429 und Schweden 430 ) sowie Frankreich 431 , Griechenland 432 , der Schweiz 433 und der Bundesrepublik Deutschland 434 . b) Verzichtstatbestände existieren mit Ausnahme von Griechenland und Dänemark 435 in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie in den USA 4 3 6 , Kanada 437 und der Türkei 4 3 8 . c) Die Ausgestaltung dieser Verlustgründe ist im Einzelfall in den Staaten abweichend geregelt. Das Maß der Entlassungs- bzw. Verzichtsfreiheit für die betreffenden Staatsangehörigen ist unterschiedlich. Belgien 439 , die Bundesrepublik Deutschland 440 , Österreich 441 und die Türkei 4 4 2 kennen Einschränkungen, die u.a. auf sog. Wehrpflichtvorbehalten beruhen. Großbritannien 4 4 3 hat Einschränkungen für Kriegszeiten. Italien 4 4 4 und die Schweiz 445 gestatten den Verlust ihrer Staatsangehörigkeit nur bei Auslandswohnsitz. Österreich 446 kennt darüber hinaus noch einen Vorbehalt bezüglich Personen, die strafbare Handlungen begangen haben. Belgien 447 und die Bundesrepublik Deutschland 448 sehen ferner die Entlassung für diejenigen Personen vor, die zwar keine Mehrstaater sind, aber eine andere Staatsangehörigkeit erwerben wollen. Damit soll sichergestellt werden, daß die angestrebte Staatsangehörigkeit in jedem Falle erworben werden kann. Dies ist namentlich dann von Bedeutung, wenn der Staat, dessen 427

Anhang § 2 III 1 (Dänemark).

428

Anhang § 3 III 1.

429

Anhang §15 I U I .

430

Anhang § 13 III 1.

431

Anhang § 4 III 1.

432

Anhang § 5 III 1.

433

Anhang § 16 IV 1.

434

Vgl. oben § 18.

435

Anhang §§ 2 III und 5 III.

436

Anhang § 19 I V I .

437

Anhang § 18 III 1.

438

Anhang § 17 III 1.

439

Anhang § 1 IV 1.

440

Vgl. oben § 18.

441

Anhang § 11 III 1.

442

Anhang § 1 7 I U I .

443

Anhang § 6 III 1.

444

Anhang § 8 I I I 1.

445

Anhang § 16 I V I .

446

Anhang § 11 I I I 1.

447

Anhang § 1 I V 1.

448

Vgl. oben § 18.

2

Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

Staatsangehörigkeit erworben werden soll, für diesen Enverb den Nachweis des Erlöschens bisheriger Staatsangehörigkeit fordert.

2. Adoption und Legitimation Begrenzt führen auch Adoption und Legitimation zum Verlust der Staatsangehörigkeit. a) Die Adoption durch Ausländer löst diese Rechtsfolge nach belgischem 449 , niederländischem 450 , schweizerischem 451 und deutschem 452 Recht aus. b) Legitimation durch Ausländer ist lediglich in den Niederlanden 453 Verlustgrund.

3. Erwerb ausländischer Staatsangehörigkeit Häufigster Verlustgrund ist der antragsgemäße Erwerb ausländischer Staatsangehörigkeiten. Er führt zum Erlöschen der Staatsangehörigkeit auf Grund internationaler Verpflichtungen in den Vertragsstaaten des Übereinkommens über die Verringerung von Mehrstaatigkeit und ist darüber hinausgehend innerstaatlicher Erlöschenstatbestand in den skandinavischen Staaten 454 , in den "Benelux-Staaten" (Belgien 455 , Niederlande 456 , Luxemburg 4 5 7 ) sowie Griechenland 458 , Irland 4 5 9 , Österreich 460 , Türkei 4 6 1 , U S A 4 6 2 und in der Bundesrepublik Deutschland 463 .

449

Anhang § 1 I V 1.

450

Anhang § 10 I V I .

451

Anhang § 16 IV 1.

452

Vgl. oben § 18.

433

Anhang § 10 I V 1.

454 Anhang § 2 III 1 (Dänemark), § 3 III 1 (Finnland), § 15 III 1 (Norwegen), § 13 III 1 (Schweden). 455

Anhang § 1 I V 1.

456

Anhang § 10 IV 1.

457

Anhang § 9 III 1.

458

Anhang § 5 III 1.

459

Anhang § 7 III 1.

460

Anhang § 11 I I I 1.

461

Anhang § 17 III 1.

462

Anhang § 19 IV 1.

463

Vgl. oben § 18.

204

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

4. Rücknahme Spezielle staatsangehörigkeitsrechtliche Rücknahmetatbestände sind in den Regelungen von Frankreich 464 , Großbritannien 465 , Irland 4 6 6 , Spanien 467 , den USA 4 6 8 , Kanada 469 und der Schweiz 470 formuliert. Die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichene Einbürgerung ist auch in der Bundesrepublik Deutschland 471 nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts aufhebbar (§ 48 VwVfG).

IL Der Entzug Entzug ist die einseitige staatliche Wegnahme der Staatsangehörigkeit, die für den Betroffenen nicht beeinflußbar ist, insbesondere unabhängig von seinem Willen erfolgt. Entzug ist Zwangsausbürgerung. 472 Die Entzugsmöglichkeiten sind in den Vergleichsstaaten unterschiedlich ausgestaltet.

1. Auslandsaufenthalt Der längjährige (häufig schon zehnjährige) Auslandsaufenthalt berechtigt in den meisten Staaten zur Aberkennung der Staatsangehörigkeit. Er ist Entzugsgrund in den skandinavischen473 und den Benelux-Staaten474 sowie in Frankreich 475 Griechenland 476 , Irland 4 7 7 , Italien 4 7 8 , der Schweiz 479 , den U S A 4 8 0 und Kanada 481 . Wenn beispielsweise ein volljähriger Niederländer 464

Anhang § 4 III 1.

465

Anhang § 6 IV 1.

466

Anhang § 7 III 1.

467

Anhang § 14 III 1.

468

Anhang § 19 IV 1.

469

Anhang § 18 III 1.

470

Anhang § 16 IV 1.

471

Vgl. oben § 22.

472

Vgl. oben § 21.

473 Anhang § 2 III 2 (Dänemark), § 3 III 2 (Finnland), § 15 III 2 (Norwegen), § 13 I I I 2 (Schweden). 474

Anhang § 1 IV 2 (Belgien), § 9 III 2 (Luxemburg), § 10 IV 2 (Niederlande).

475

Anhang § 4 III 2.

476

Anhang § 5 I I I 2.

477

Anhang § 7 III 2.

478

Anhang § 8 I I I 2.

479

Anhang § 16 IV 2.

480

Anhang § 19 IV 2.

2

Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

zehn Jahren ununterbrochen außerhalb der Niederlande in dem Staat lebt, wo er geboren ist und dessen Staatsangehörigkeit er ebenfalls besitzt, wird ihm die niederländische Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes entzogen. Ein im Ausland geborener Schweizer Bürger, der noch eine andere Staatsangehörigkeit besitzt, verliert die schweizerische Staatsangehörigkeit mit Vollendung des 22. Lebensjahres, wenn er bis dahin nicht bei schweizerischen Behörden gemeldet ist. 1984 wurde dieser Entzugstatbestand noch erheblich verschärft. Ohne Meldung wird fortan die schweizerische Staatsangehörigkeit von jeder im Ausland geborenen Person verloren, die noch eine andere Staatsangehörigkeit besitzt. Ein solcher Entzug erstreckt sich auch auf die Kinder des Betreffenden.

2. Illoyalität "Illoyales" Verhalten rechtfertigt zur Wegnahme der Staatsangehörigkeit in Belgien 482 , Frankreich 483 , Griechenland 484 , Großbritannien 485 , Irland* 86 , den USA 4 8 7 , Kanada 488 und der Türkei 4 8 9 Der "unbestimmte" Rechtsbegriff wird in den Vergleichsstaaten unterschiedlich interpretiert. In allen Staaten wird unter "Illoyalität" eine Verletzung des Zugehörigkeitsverhältnisses zur staatlichen Gemeinschaft verstanden, die nicht strafbewährt sein muß. In Belgien und in Frankreich etwa reicht für die Aberkennung aus, daß die betreffende Person obliegende Pflichten als "Staatsbürger" grob vernachlässigt. Der Ausspruch des Entzuges liegt im behördlichen Ermessen, was die Staaten zu einem äußerst flexiblen Einsatz dieser Wegnahmemöglichkeit befähigt.

3. Strafverurteilung Die britische 490 , französische 491, italienische 492 , spanische493 und amerikanische 494 Staatsangehörigkeit kann aufgrund von Verurteilungen wegen 481

Anhang § 18 III 2.

482

Anhang § 1 IV 2.

483

Anhang § 4 III 2.

484

Anhang § 5 III 2.

485

Anhang § 6 IV 2.

486

Anhang § 7 III 2.

487

Anhang § 19 IV 2.

488

Anhang § 18 I I I 2.

489

Anhang § 17 III 2.

490

Anhang § 6 IV 2.

491

Anhang § 4 III 2.

492

Anhang § 8 III 2.

206

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

bestimmter Straftaten entzogen werden. Nach französischem Recht kann etwa eine Einbürgerung wegen Verbrechens, insbesondere bei Delikten gegen die Sicherheit des Staates und bei Verurteilungen wegen Nichterfüllens des M i l i tärdienstes, wegen Handlungen zugunsten eines fremden Staates, die Frankreich schaden sowie infolge aller Verurteilungen ab einer Mindeststrafe von fünf Jahren aufwärts entzogen werden. Der Entzug erfolgt durch "Widerruf 1 und kann innerhalb von 10 Jahren nach der Einbürgerung ausgesprochen werden. Nach spanischem Recht ist Voraussetzung für die Entziehung die Strafverurteilung wegen bestimmter Delikte gegen die Sicherheit des Staates.

4. Eintritt in ausländische Staatsdienste Besondere Entzugstatbestände wegen Eintritts in fremden Staatsdienst bestehen in den skandinavischen Staaten 495 sowie Frankreich 496 , Griechenland 4 9 7 , Italien 4 9 8 , Österreich 499 , Spanien 500 und den USA 5 0 1 . Der Eintritt in fremden Staatsdienst wird in diesen Staaten als "Untreue" dem eigenen Land gegenüber angesehen. Der Entzug tritt nicht in allen Ländern automatisch ein. Der Entzug erfolgt in Frankreich 502 infolge unbeachteter Aufforderung, den fremden Dienst zu verlassen. Italien kennt eine entsprechende Regelung. 5 0 3 Das österreichische Recht unterscheidet fremden Staatsdienst und fremden Militärdienst. Wer freiwillig in den Militärdienst eines fremden Staates tritt, verliert die österreichische Staatsangehörigkeit automatisch. Im Falle von fremdem Staatsdienst tritt kein automatischer Entzug ein. Die österreichische Staatsangehörigkeit kann in diesem Falle entzogen werden, falls der Betreffende durch sein Verhalten die Interessen oder das Ansehen Österreichs erheblich schädigt. 504 In Spanien gilt seit 1982 fremder Staats-oder Militär-

493

Anhang § 14 III 2.

494

Anhang § 19 IV 2.

495

Anhang § 2 III 2 (Dänemark), § 3 III 2 (Finnland), § 15 III 2 (Norwegen), § 13 III 2 (Schweden). 496

Anhang § 4 III 2.

497

Anhang § 5 III 2.

498

Anhang § 8 III 2.

499

Anhang § 11 III 2.

500

Anhang § 14 III 2.

501

Anhang § 19 IV 2.

i02

Anhang § 4 III 2.

503

Anhang § 8 I I I 2.

504

Anhang § 11 III 2.

2

Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

dienst als Entzugsgrund für Personen, die die spanische Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung oder Option erworben haben. 505

5. Mehrstaatigkeit Mehrstaatigkeit berechtigt in den skandinavischen Staaten 506 , Luxemburg 5 0 7 , den Niederlanden 508 , Österreich 509 und der Schweiz 510 zum Entzug der Staatsangehörigkeit. In den Niederlanden folgt die Entziehung dann, wenn jemand nach erfolgter Einbürgerung unterlassen hat, sein Möglichstes zu tun, um seine ursprüngliche Staatsangehörigkeit zu verlieren. Dieser besondere Entziehungsgrund ist 1985 in das niederländische Staatsangehörigkeitsrecht eingeführt worden. Auch das österreichische Staatsangehörigkeitsrecht kennt den Entzug der Staatsangehörigkeit für den Fall, daß jemand zwei Jahre nach seiner Einbürgerung noch immer die frühere Staatsangehörigkeit beibehalten hat. In einigen der Vergleichsländer wird die Staatsangehörigkeit unter der Bedingung erworben, daß sich nicht die Inhaberschaft anderer Staatsangehörigkeit(en) herausstellt. Bei Eintritt des Vorbehalts entfällt die aufschiebend bedingt erworbene Staatsangehörigkeit.

§ 33 Die Besonderheit des deutschen Entzugsverbotes Außer in der Bundesrepublik Deutschland ist das Erlöschen der Staatsangehörigkeit nur in Portugal an das Vorliegen sog. Verlusttatbestände gekoppelt. 511 Zwar kennen auch Spanien und Griechenland ein verfassungsrechtliches Verbot, die Staatsangehörigkeit zu entziehen. Doch ist das Entzugsverbot dort nicht einheitlich. Es gilt nicht für alle Staatsangehörigen gleichermaßen. In Spanien sind nur die kraft "Abstammung" gebürtigen Spanier vor Entzug geschützt. Die spanische Staatsangehörigkeit darf denjenigen, die Spanier kraft ius soli oder derivativ durch Einbürgerung geworden sind, entzogen werden. 512 Auch das griechische Entzugsverbot ist nicht einheitlich. Es

505

Anhang § 14 III 2.

506

Anhang § 2 III 2 (Dänemark), § 3 III 2 (Finnland), § 15 III 2 (Norwegen), § 13 III 2 (Schweden). 507

Anhang § 9 III 2.

508

Anhang § 10 IV 2.

509

Anhang §11 I I I 2.

510

Anhang § 16 IV 2.

511

Vgl. oben §§ 18 und 22; Anhang § 12 III.

512

Anhang § 14 III 2.

208

Teil 2: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht im internationalen Vergleich

schützt nur Altbürger. Griechen fremden Volkstums darf nach wie vor die Staatsangehörigkeit entzogen werden. 513 Im Unterschied hierzu gilt das deutsche Entzugsverbot einheitlich und gleichermaßen. Unabhängig vom Erwerbsgrund darf die deutsche Staatsangehörigkeit nicht aberkannt werden. Die vorkonstitutionellen Entzugstatbestände sind wegen der Existenz des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG entfallen. 514 Ein Entzug der Staatsangehörigkeit infolge Strafverurteilung oder Illoyalität ist durch Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG untersagt. Dagegen sehen nahezu alle der hier besprochenen Staaten insbesondere bei Neubürgern die Möglichkeit vor, unter bestimmten Voraussetzungen die verliehene Staatsangehörigkeit wieder zu entziehen. Der Vergleich zeigt, daß im Ausland Staatsangehörigkeit teilweise nur unter Vorbehalt verliehen wird. Dieser Vorbehalt ist nicht einheitlich. Er läßt aber erkennen, daß es immer um die Wahrung staatlicher Interessen geht. Die Bundesrepublik Deutschland nimmt im internationalen Vergleich wegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG eine Sonderstellung ein. Einen staatliche Interessen wahrenden Vorbehalt bei der Verleihung der Staatsangehörigkeit darf sie nicht erklären. Sie darf das Entzugsmittel nicht aus staatlichen Schutzinteressen einsetzen. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist endgültig verliehen und nicht "auf Probe" oder "zur Bewährung". Ein Statusunterschied, etwa den eines "volldeutschen Altbürgers" und eines "bedingtdeutschen Neubürgers", kennt das deutsche Recht nicht. 5 1 5 Die deutsche Staatsangehörigkeit ist nicht "widerrufbar", auch nicht im Sinne des allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes. 516 Die deutsche Staatsangehörigkeit unterliegt keiner nachträglichen Zweckmäßigkeitskontrolle. Sie ist im Bestand geschützt und unterliegt nur eingeschränkt einer Rechtskontrolle. Keinen Bestandsschutz genießt nur die rechtswidrig erschlichene Einbürgerung. Sie kann gem. § 48 VwVfG zurückgenommen werden. 517

513

Anhang § 5 III 2.

514

Vgl. oben § 22.

515

Vgl. oben § 1.

516

Vgl. oben § 22.

517

Vgl. oben § 22.

Teil 3

Die Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit und der Gesetzgeber

1. Kapitel

Die Befugnis des Gesetzgebers zur Ausgestaltung der deutschen Staatsangehörigkeit § 34 Die Notwendigkeit der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber /. Die Kompetenz zur Ausgestaltung

Der mißverständlich formulierte Gesetzesvorbehalt des Art. 116 Abs. 1 G G macht erforderlich, die Kompetenz zur Regelung der deutschen Staatsangehörigkeit zu erörtern. Art. 116 Abs. 1 G G lautet: "Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat." Nach Kay Hailbronner soll der einfache Gesetzgeber aus Art. 116 Abs. 1 G G die Kompetenz haben, das Staatsangehörigkeitsrecht regeln zu dürfen. 1 "Die deutsche Staatsangehörigkeit unterliegt (jedoch) nach Art. 116 Abs. 1,1. Halbsatz GG der Regelungsgewalt des einfachen Gesetzgebers. Hieraus ergibt sich die Befugnis des Gesetzgebers, auch die in der Bundesrepublik Deutschland eingewanderten Ausländer und ihre Familienangehörigen in einem erleichterten Verfahren einzubürgern."

1

Hailbronner,

14 Ziemske

Rechtsfragen der doppelten Staatsangehörigkeit, S. 21.; ders., Einbürgerung, S. 36.

210

Teil 3 : Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Allerdings ist Art. 116 Abs. 1 GG keine Kompetenznorm zum Erlaß von Staatsangehörigkeitsvorschriften. Insofern weist Art. 73 Nr. 2 GG dem Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz zur Regelung der "Staatsangehörigkeit im Bunde" zu. 2 Der Bund ist danach ermächtigt, Vorschriften über den Erwerb und Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit aufzustellen. 3 Neben der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 73 Nr.2 GG zur Regelung der "Staatsangehörigkeit im Bunde" besaß der Bund bis zum 15. November 1994 auch die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiete der "Staatsangehörigkeit in den Ländern". 4 Art. 74 Nr.8 GG a.F. konkretisierte damit das Bundesstaatsprinzip. Die Existenz dieser Vorschrift unterstrich die Staatlichkeit auch der Glieder des Bundesstaates.5 Denn auch sie besitzen entsprechend der Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek ein eigenständiges Staatsvolk.6 Diese Vorstellung einer eigenen Staatsangehörigkeit der Gliedstaaten ist historisch entwickelt aus der Gründungszeit des Deutschen Reiches. Schon im Gesetz über den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit aus dem Jahre 1870 ist strikt unterschieden zwischen der Reichs- und Staatsangehörigkeit. 7 Nach den damaligen Bestimmungen war es ausschließlich die Angehörigkeit zu den Gliedstaaten, die die Reichsangehörigkeit vermitteln konnte. Die unmittelbare Reichsangehörigkeit wurde erst in der späteren Phase der Reichsentwicklung in das Staatsangehörigkeitsrecht einbezogen.8 Nach Ingo von Münch besteht unter der Herrschaft des Grundgesetzes auch unabhängig ihrer gesetzlichen Regelung eine "Staatsangehörigkeit im Lande", weil zu jedem Staat wesensnotwendig Staatsangehörige gehören. 9 Von einer "Staatsangehörigkeit im Lande" sprechen bzw. sprachen neben der Altfassung des Art. 74 Nr.8 GG ausdrücklich nur noch Art. 6 der geltenden Verfassung von Bayern 10 aus dem Jahre 1946 sowie die inzwischen aufgeho2

Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 73 Rdnr. 55ff.

3

Ebenda.

4

Aufgehoben durch Gesetz v. 27.10.1994 (BGBl. I, S. 3164.

5

St. Rspr. des BVerfG zur Staatsqualität der Under: BVerfGE 1, 13ff. (34f.); 6, 309ff. (360f.); 13. 54fT. (74f.); 36, 342ff. (36üf.); vgl. dazu: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, § 19 III (S. 667). 6 Zum ganzen: Sachs, Das Staatsvolk in den Ländern, in: AöR 108 (1983), S. 68ff; vgl. dazu auch oben Einleitung vor I. 7 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit (BGBl. 1870 Nr. 20, S. 355ff). 8 Beispielsweise wurde durch das Schutzgebietsgesetz v. 10.9.1900 (RGBl. I, S. 813) Eingeborenen in den ehemaligen Schutzgebieten des Deutschen Reiches (Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Neuguinea, Kamerun, Kiau-Tschou. Samoa und Togo) die Möglichkeit eröffnet, durch Einbürgerung unmittelbar die Reichsangehörigkeit zu erhalten. 9 GG-Kommentar, Art. 74 Rdnr. 31; vgl. zur Staatsqualität der Länder: BVerfGE 1, 14ff; Gerhard Hoffmann, Die Staatsangehörigkeit in den Bundesländern, in: AöR 1956, S. 322ff. 10 Bay. Verfassung v. 8.12.1946 (GVB1. 1946, S. 333); vgl. H.-P. Mayer, Die Staatsangehörigkeit in Bayern, Diss. Würzburg 1974.

1. Kap.: Befugnis des Gesetzgebers zur Ausgestaltung

211

benen Verfassungen von Baden 11 und die Verfassung von WürttembergHohenzollern 12 aus dem Jahre 1947. So lautet etwa Art. 6 der Bayerischen Verfassung: "(1) Die Staatsangehörigkeit wird erworben 1. durch Geburt, 2. durch Legitimation, 3. durch Eheschließung, 4. durch Einbürgerung. (2) Die Staatsangehörigkeit kann nicht aberkannt werden. (3) Das nähere regelt ein Gesetz über die Staatsangehörigkeit."

Tatsächlich hat kein deutsches Land, auch nicht Bayern, ein Gesetz über die Landesstaatsangehörigkeit erlassen. 13 Das Verhältnis der Staatsangehörigkeit im Bunde und in den Ländern gibt die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 12. März 1986 wieder. 14 Die Bayerische Verfassung von 1946 habe zwar die bayerische Staatsangehörigkeit als Institution wiedereingeführt, unmittelbare Rechtsfolgen für den einzelnen Bürger ergeben sich daraus aber nicht. Inhaltlich formuliert das Gericht Vorgaben für die Regelung der Landesstaatsangehörigkeit. Ein entsprechendes Gesetz dürfe im die Landesstaatsangehörigkeit nur Personen zuerkennen, die zugleich auch Deutsche seien.15 Wenn aber der Kreis der Landesangehörigen nicht größer sein darf als der Kreis der Deutschen, ist fraglich, warum die Landesstaatsangehörigkeit als Institution überhaupt belebt werden sollte. 16 Aus diesem Grunde hatte auch der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit in bezug auf eine

11

Art. 55 der bad. Verfassung ν. 22.5.1947 (RegBl. 1947, S. 129).

12

Art. 6 der württ.-hohenzoll. Verfassung v. 20.5.1947 (RegBl. 1947, S. 1).

13

Dazu: Thedieck, Deutsche Staatsangehörigkeit im Bund und in den Ländern, S. 37ff.

14

St. Rspr. des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs: BayVerfGH BayVBl. 32 (1986), S. 396ff.; BayVerfGHE 12 (1960), S. 171ff. (176); vgl. auch BayVenvGH, BayVBl. 5 (1959), S. 590. 15 Denn: "Es widerspräche dem Wesen des im Grundgesetz verankerten und ausgestalteten Bundesstaates, wenn es in den einzelnen Ländern Staatsbürger mit unterschiedlicher Rechtsstellung in Bezug auf den Bundesstaat einerseits und auf das betreffende Land andererseits gäbe. Die staatsrechtliche Einordnung in den Bundesstaat ist für ein Land so umfassend, daß ihm eine Zweiteilung seiner Staatsbürger in solche, die zugleich Deutsche sind, und andere, die nicht Deutsche sind, durch das Grundgesetz versagt ist. Das bundesstaatliche Prinzip läßt es nicht zu, daß die Länder, deren Staatsgebiete insgesamt das Bundesstaatsgebiet bilden, in das Bundesvolk nur einen Teil ihres eigenen Staatsvolkes einbringen." 16 Angesichts des Art. 33 Abs. 1 GG ist die Landeszugehörigkeit kaum von Belang; vgl. dazu Thedieck, Deutsche Staatsangehörigkeit im Bund und in den Ländern, S. 156ff.; Me der, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 6 Rdnr. 3; BayVerfGH BayVBl. 32 (1986), S. 396ff. (397); Maunz ! Dürig /Herzog / Scholz, Art. 33 Rdnr. 54.; ebenda, Art. 74, Rdnr. 121.

212

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Landesstaatsangehörigkeit gem. Art. 74 Nr.8 GG a.F. bisher keinen Gebrauch gemacht und sie schließlich ganz ausgehoben.17 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß der Bund zur Regelung der Erwerbs- und Verlustgründe im Staatsangehörigkeitsrecht gem. Art. 73 Nr.2 GG eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz besitzt. Daneben besaß er eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit (Art. 74 Nr.8 GG a.F.) zur Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts in den Ländern, wovon er aber niemals Gebrauch gemacht hat. Art. 116 Abs. 1 GG ist Definitions- und Gleichstellungsnorm 18 und nur insofern Kompetenznorm, als er den Fragenkreis der sogenannten Statusdeutschen zur ausschließlichen Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers erklärt. 19 Darüber hinaus stellt Art. 116 GG die Definition des "Deutschen" i.S. des Grundgesetzes schon gar nicht in das freie Belieben des "einfachen" Gesetzgebers. Das ergibt sich aus folgender Überlegung. Die Definition in Art. 116 Abs. 1 GG ist Grundlage für die personale Grundrechtsberechtigung. Soweit Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte einen sog. "Deutschen-Vorbehalt" kennen, ist der Kreis der in Betracht kommenden Rechtsträger durch Art. 116 Abs. 1 GG abschließend begrenzt. Das gilt beispielsweise für das Recht der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG, wonach alle Deutschen das Recht haben, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Wer "Deutscher" ist, ergibt sich aus der Definitionsnorm des Art. 116 Abs. 1 GG. Deutscher ist danach der "deutsche Staatsangehörige" oder "Statusdeutsche". Ausländer genießen mithin nicht den Grundrechtsschutz aus Art. 12 GG. Ihre beruflichen Angelegenheiten werden durch das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG geschützt:20 "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."

17 Durch Gesetz v. 27.10.1994 (BGBl. I S. 3164), in Kraft seit 15.11.1994 (vgl. Art. 2); zum ganzen: Ingo v. Münch, Art. 74 Rdnr. 31. 18 Der Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG liegt in der Gleichstellung der Statusdeutschen mit den deutschen Staatsangehörigen. Ihr Kriegs- und Vertreibungsschicksal aufzufangen, stellt sie Art. 116 Abs. 1 GG den deutschen Staatsangehörigen gleich. Über diese Gleichstellung ist bezweckt, sie zu Trägem der Staatsgewalt zu erklären und ihnen im Grundrechtsbereich die den "Deutschen" i.S. des Grundgesetzes vorbehaltenen Grundrechte zu gewähren. Ihr Schicksal sollte geradezu grundrechtlich abgesichert werden. 19 Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 73 Rdnr. 66; Ingo v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 73 Rdnr. 20; Lang, Grundkonzeption und Entwicklung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, S. 176. 20

Vgl. dazu oben Einleitung unter II.

1. Kap.: Befugnis des Gesetzgebers zur Ausgestaltung

213

Wäre die Ansicht von Hailbronner zutreffend, Art. 116 Abs. 1 GG gestatte dem einfachen Gesetzgeber, die deutsche Staatsangehörigkeit nach Belieben auszugestalten, wäre ihm zugleich möglich, einfach-gesetzlich Zugriff auf den personalen Schutzbereich von Grundrechten zu nehmen. Der einfache Gesetzgeber hätte es in der Hand, über die Definitionsnorm den Kreis der Grundrechtsträger umzustrukturieren. Das aber wäre ein unzulässiger Grundrechtseingriff und widersinnig zum Grundrechtskonzept des Grundgesetzes. Nach Art. 1 Abs. 3 GG ist der Gesetzgeber auch hinsichtlich der personalen Berechtigung an die Ausstrahlung von Grundrechten gebunden. Was nützte der gesamte Grundrechtsschutz, hätte der einfache Gesetgeber über Art. 116 Abs. 1 GG die Kompetenz, sich über die Ausgestaltung des personalen Schutzbereiches seiner Grundrechtsbindung zu entziehen. Das widerspräche zudem den erhöhten Anforderungen an die Grundrechtsänderungen gem. Art. 79 Abs. 2 GG. Danach bedarf ein Änderungsgesetz "der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates".

IL Die Notwendigkeit

zur Ausgestaltung

Der Bund hat aber nicht nur die Kompetenz zur Ausgestaltung der Staatsangehörigkeit. Die Staatsangehörigkeit ist als Grundrecht in Art. 16 Abs. 1 GG garantiert. Angesichts dieser Gewährleistung besteht auch die Notwendigkeit, die Staatsangehörigkeit auszugestalten. Nach Peter Häberle sind Grundrechte der gesetzgeberischen Ausgestaltung nicht nur zugänglich, sondern auch bedürftig 21 . Ob eine "generelle Pflicht" zur Ausgestaltung von Grundrechten besteht, kann hier dahinstehen. Sie ist jedenfalls für das Grundrecht der "deutschen Staatsangehörigkeit" erforderlich und allgemein anerkannt. 22 Denn die "Staatsangehörigkeit" ist nicht der "Tatsachenwelt" entnommen, sondern ihrerseits Produkt der Rechtsordnung, die es ohne den Staat überhaupt nicht gäbe. Damit unterscheidet sich die "Staatsangehörigkeit" von anderen Schutzobjekten im Grundrechtsteil des Grundgesetzes. Im Regelfall sind diese nämlich der Tatsachenwelt und ihre Bezeichnungen infolgedessen der Umgangssprache entnommen. Begriffe wie "Leben" (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), "körperliche Unversehrtheit" (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), "Glauben" (Art. 4 Abs. 1 GG), "Meinung" (Art. 5 Abs. 1 GG), "Versammlungen" (Art. 8 Abs. 2 GG), "Wohnung" (Art. 13 Abs. 1 GG) und dergleichen sind primär keine Rechtsbegriffe, sondern Besitzstände und Aktivitäten. Sie sind Rechtsbegriffe erst durch die 21

Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. 180ff. (181, 188).

22

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 , S. 1299 m.w.N.

214

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Aufnahme in den Verfassungstext geworden. Aber auch ohne ihre Aufnahme bestünden sie selbst dann, wenn es überhaupt keine Rechtsordnung gäbe.23 Der Staat hat sich aber über die Aufnahme in den Grundrechtskatalog zu ihrem besonderen Schutze aufgeworfen. Anders verhält es sich dagegen bei der "Staatsangehörigkeit". Sie würde ohne den Erlaß von Staatsangehörigkeitsnormen durch den einfachen Gesetzgeber als Rechtsinstitut nicht existieren. Die Richtigkeit dieser These bestätigt sich aus den Schwierigkeiten, die die Staatsrechts- und Völkerrechtslehre damit haben, mit der Staatsangehörigkeit konkrete Rechte und Pflichten zu verknüpfen. Von der Staatsangehörigkeit ist bekannt, wie man sie erwirbt, verliert und ggf. nachweist. Keiner weiß aber, was sie praktisch bedeutet. Roman Herzog bemerkt dazu eindringlich: 24 "So etwas kann nur der Gesetzgeber in die Welt setzen, ohne den es die Staatsangehörigkeit also in der Tat nicht gäbe".

Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG formuliert nur ein "konzis" umschriebenes Rechtsprodukt. 25 Ohne gesetzliche Ausgestaltung kann die Staatsangehörigkeit nicht im Rechtsleben wirksam werden 26 . Der Gesetzgeber muß den verfassungsrechtlichen Wesensgehalt der Staatsangehörigkeit nicht nur zu Ende denken. 27 Er muß vor allem das grundrechtlich geschützte Gut durch einfachgesetzliches Substrat selbst erst schaffen. 28 Hiervon geht ersichtlich auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof aus. 29 Die Bayerische Verfassung habe zwar die bayerische Staatsangehörigkeit als Institution wiedereingeführt. Unmittelbare Rechtsfolgen für den einzelnen Bürger ergeben sich daraus aber nicht. 3 0 "Denn ohne Erlaß des in der Verfassung vorgesehenen Gesetzes über die bayerische Staatsangehörigkeit ergibt sich keine konkrete Zuerkennung der bayerischen Staatsangehörigkeit an bestimmte Personen".

Der Verfassungsgerichtshof macht damit die verfassungsrechtliche Institution von der Ausgestaltung eines einfachen Staatsangehörigkeitsgesetzes abhängig.

23

Herzog, Festschrift fur Zeidler, Bd. 2, S. 1416.

24

Ebenda, 1417.

25

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I I I / 1 , S. 1301.

26

Stern, ebenda.

27

Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. 184.

28

Stern, Bd. I I I / 1 , S. 1301; Herzog, Festschrift für Zeidler, Bd. 2, S. 1914ff.

29

Entscheidung v. 12.3.1986, BayVBl. 32 (1986), S. 396ff.

30

Ebenda, S. 398.

1. Kap.: Befugnis des Gesetzgebers zur Ausgestaltung

215

§ 35 Die Grundrechtsunterworfenheit des Gesetzgebers Bei der Ausgestaltung des Rechtsbegriffs "Staatsangehörigkeit" in Art. 16 Abs. 1 GG ist der Gesetzgeber zugleich an das verbürgte Grundrecht gebunden. Es steht ihm nicht zu, nach Belieben Regelungen in diesem Rechtsgebiet vorzunehmen. Denn die Grundrechte binden gem. Art. 1 Abs. 3 GG alle Staatsgewalten: "Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht".

Keine der drei Staatsgewalten unter der Herrschaft des Grundgesetzes besitzt damit uneingeschränkte "Allmacht". Der Gesetzgeber ist ausdrücklich in Art. 1 Abs. 3 GG erwähnt. Auch er ist damit nicht souverän in seinen legislativen Entscheidungen. Entgegen einer im Staatsangehörigkeitsrecht vertretenen Ansicht ist der Gesetzgeber in der Gesamtheit seiner gesetzgeberischen Maßnahmen durch Art. 1 Abs. 3 GG an die Beachtung der Grundrechte gebunden. Gerade auch abstrakt-generelle Rechtssätze im Staatsangehörigkeitsrecht sind an Art. 16 Abs. 1 GG und nicht nur an Art. 3 GG zu messen Die Unterworfenheit des Gesetzgebers unter die Verfassung ist durch die "Sanktionsfolge" des Art. 1 Abs. 3 GG im Vergleich zur Rechtslage nach der Weimarer Reichsverfassung erheblich gesteigert. Denn unter der Herrschaft des Grundgesetzes sind alle drei Staatsgewalten in die grundgesetzlich garantierte Kontrollkompetenz des BVerfG eingebunden. Mittels der Normenkontrollverfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr.2, 100 GG sowie der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze gem. Art. 93 Abs. 1 Nr.4a GG hat das BVerfG die Möglichkeit, den Gesetzgeber in die verfassungsrechtlichen Schranken zu verweisen. Art. 1 Abs. 3 GG untersagt das grundrechtswidrige Gesetz. Die Verbotswirkung bedeutet vor allem, daß der Gesetzgeber kein Gesetz erlassen darf, das den Grundrechten widerspricht. Verstößt die gesetzgebende Gewalt dennoch gegen das Verbot, so handelt sie verfassungswidrig (Art. 20 Abs. 3 GG). Bindung an Grundrechte heißt somit Unterworfenheit der Gesetzgebung unter die Grundrechte. Die Rechtsfolge des Verfassungsverstoßes ist grundsätzlich die Unwirksamkeit der Rechtsnorm. 32 Der Gesetzgeber darf den ihm von der Zuständigkeitsordnung eingeräumten Handlungsspielraum also nicht beliebig ausschöpfen. Die Grundrechte stellen insoweit ein verfassungsrechtliches Vorbehaltsrecht gegenüber der Staatsgewalt Gesetzgebung dar. Sie sind zugleich Ausdruck eines Mißtrauens gegenüber dem Gesetzgeber.

31

Zu dieser Kontroverse vgl. oben § 21.

32

Ebenda, S. 1257.

216

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Gelegentlich wird sogar der Gesetzgeber als "Feind" der Grundrechte apostrophiert. 33 Darüber hinaus entfaltet sich die Bindungsklausel des Art. 1 Abs. 3 GG auch in positiver Richtung auf eine grundrechtsgemäße Ausgestaltung der Gesetze. Grundrechte sind zugleich Richtmaß und Leitsätze für die gesamte Gesetzgebung. Bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse soll sich der Gesetzgeber an den Grundrechten orientieren. Damit werden die Grundrechte zur Leitlinie für das Verhältnis von Staat und Bürger, aber darüber hinaus auch für die ganze Rechtsordnung. 34 Der Gesetzgeber muß beachten, daß sich seine Regelungsinhalte vor den Grundrechten rechtfertigen lassen. Dies wird jedoch besonders schwer, wenn einzelne Grundrechte ihrem verfassungsrechtlichen Inhalt nach geradezu eine gesetzliche Ordnung voraussetzen, wie im Falle der Staatsangehörigkeit. Die Problematik besteht hier in der Frage, inwieweit die Grundrechte durch den Gesetzgeber ausgestaltungsfähig sind, ohne daß die Gesetzgebung sich über die Gebundenheit an die Grundrechte hinwegsetzt und sich zum "Herrn des Grundrechts" aus Art. 16 Abs. 1 GG macht. 35 Hier besteht die Gefahr einer schleichenden oder auch bewußten Aushöhlung von Grundrechten. Wo aber sollen die Grenzen einer legislativen Definitionsbefugnis bzw. Ausgestaltungsbefugnis liegen? Sie zu ermitteln, bedarf es zunnächst einer Analyse des Grundrechts, das von Verfassung wegen zu schützen und fördern ist. Aus diesem Grunde folgt eine Charakterisierung des Art. 16 Abs. 1 GG. Sie beginnt mit einer Darstellung seines subjektiv-rechtlichen Abwehrgehaltes (§ 36). Daran schließen sich Ausführungen zur objektiv-rechtlichen Seite des Art. 16 Abs. 1 GG an, also der Gewährleistung der Staatsangehörigkeit als Institution (§ 37). Darauf aufbauend wird der Versuch unternommen, die Komponenten des Wesensgehalts der deutschen Staatsangehörigkeit zu bestimmen (§ 38).

33

Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 223.

34

Vgl. Stern, Bd. III / 1, S. 1259.

35

So Herzog, Festschrift Zeidler, Bd. 2, S. 1415f.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

217

2. Kapitel

Der Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes 1. Abschnitt: Die deutsche Staatsangehörigkeit als Institution § 36 Das Entzugsverbot als Abwehrrecht /. Der negatorische Charakter Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ist Grundrechtsnorm. Grundrechtsbestimmungen einer Verfassung sind zwar primär Sätze objektiven Rechts.36 Sie sind Sollensätze, die gem. Art. 1 Abs. 3 GG alle drei Gewalten binden. Grundrechtsbestimmungen im Verständnis des Grundgesetzes sind aber zugleich subjektive Rechte. Otto Bachhof begründete diesen heute unbezweifelten Lehrsatz aus der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes: 37 "Objektiv rechtlich gewährte und gewollte Begünstigungen des öffentlichen Rechts sind unter der Verfassungsordnung des Grundgesetzes subjektiv öffentliche Rechte. Denn dies ist ihrem Verständnis intentional eigen. Die Klagbarkeit gemäß Art. 19 Abs. 4 GG macht diese Intention nur besonders sichtbar."

Das BVerfG folgte dieser Schutznormlehre von Anbeginn an. 38 Es geht von der Selbstverständlichkeit des Grundgesetzes aus, daß die Grundrechtsnormen individuell begünstigend sind: 3 9 "Der Einzelne soll sich der öffentlichen Gewalt gegenüber auf diese Normen als auf Grundrechte berufen können".

Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitsrechte des einzelnen zu schützen. 40 "Sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat".

36 Stern, Die Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, S. 45ff. (68ff.) 37 In: VVDStRL. Heft 12 (1954), S. 84; ders.. in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, S. 287ff. (301). 38

BVerfGE 3, 359ff. (363); 12, S. 81ff. (87); 15, S. 298ff. (302).

39

BVerfGE 6. 336, 387; vgl. zum ganzen: Stern, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V., S. 45ff.(68ff.). 40

BVerfGE 7, 198 (204f.); vgl. Stern, in: Handbuch des Staatsrechts, S. 45ff. (70ff.).

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

218

Die deutsche Staatsangehörigkeit ist damit grundgesetzlich als subjektives Recht wie jedes andere Grundrecht garantiert. Sie ist damit primär Abwehrrecht, wie jedes andere Grundrecht auch. Insoweit genießt die Staatsangehörigkeit spezifischen grundrechtlichen Schutz, insbesondere durch Verfassungsbeschwerde.41 Durch ihren abwehrrechtlichen Charakter ist die Staatsangehörigkeit in zweifacher Hinsicht gekennzeichnet:42

1. Negatorischer Individualbestandsschutz Zum einen schützt sie den persönlich Berechtigten individuell. Der Träger der deutschen Staatsangehörigkeit ist vor ihrem Entzug als Individualberechtigter geschützt. In dieser Funktion erstreckt sich der Garantiegehalt des Einzelgrundrechts auch darauf, entstandene Berechtigungen in der Person der Berechtigten gegenüber gesetzlichen Änderungen abzusichern. Hinsichtlich Art. 16 Abs. 1 GG besteht eine ausdrückliche Regelung. Die erworbene Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Die einmal erworbene Staatsangehörigkeit steht auch dann unter dem Schutz von Art. 16 Abs. 1 GG, wenn der Berechtigte nach den zwischenzeitlich geänderten gesetzlichen Voraussetzungen für einen Erwerb nicht mehr in Betracht käme. 43

2. Negatorischer Normenbestandsschutz Zum anderen garantiert Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG das Entzugsverbot als rechtliche Kategorie und damit kollektiv für alle Träger der deutschen Staatsangehörigkeit. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist generell vor Entzug zu schützen. Die Beschränkung auf den Normenbestand der Verlustregelungen ist zu gewährleisten. Entzugsvorschriften dürfen nicht eingeführt werden. 44

41

Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ist eigenständiges Abwehrrecht und keineswegs nur unselbständiges Element des in Satz 2 enthaltenen qualifizierten Gesetzesvorbehaltes; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd III / 2, S. 519; Schnapp, in: Grundgesetz-Kommentar, Art. 16 Rdnr. 14; Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 16 Rdnr 8. 42

Dazu: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, S. 584ff.

43

Ebenda, S. 612.

44

Vgl. zum Zusammenhang der subjektiv-rechtlichen Seite eines Grundrechts und der Garantie im Normenbestande Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 122ff.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

219

IL Der uneingeschränkte negatorische Charakter 1. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ist aber noch darüber hinaus gekennzeichnet. Seine Formulierung ist strikt und grenzt damit enger ein als die der meisten anderen Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte. Die negatorische Formulierung des Entzugsverbotes ist vergleichbar der des Auslieferungsverbotes in Art. 16 Abs. 2 GG: "Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden".

Sie ähnelt auch der Formulierung in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG: "Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden".

Schließlich ist sie vergleichbar eng gefaßt wie die Garantie der Abschaffung der Todesstrafe in Art. 102 GG: "Die Todestrafe ist abgeschafft".

Die negatorische Formulierung des Entzugsverbotes ist damit noch stärker als die des Verbotes der Zwangsarbeit (Art. 12 Abs. 3 GG), des Eigentumsschutzes (Art. 14 GG) oder des Verbotes mehrfacher Bestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG). Im Gegensatz zu den vorgenannten Grundrechten ist das Entzugsverbot ausnahmslos in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG genannt. Zwangsarbeit dagegen ist nur grundsätzlich untersagt. Sie ist gem. Art. 12 Abs. 3 GG bei einer "gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig". Art. 14 GG schützt nur grundsätzlich vor staatlicher Wegnahme des Eigentums. Sie ist unter den Voraussetzungen der "Enteignung" i.S.d. Art. 14 Abs. 3 GG oder der Sozialisierung i.S.d. Art. 15 GG gerechtfertigt. Schließlich verbietet Art. 103 Abs. 3 GG nur die mehrfache Bestrafung "auf Grund der allgemeinen Strafgesetze". Ordnungs- oder Auslandsstrafen fallen nicht in den Schutzbereich der Norm. 4 5 2. Die negatorische Formulierung in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ist von den Verfassungsvätern bewußt in ihrer strikten Form gewählt. Der Mißbrauch des klassischen Entzugsreglements während der nationalsozialistischen Herrschaft veranlaßte sie, gänzlich mit dem international üblichen und auch in Deutschland historisch gewachsenen Entzugssystem zu brechen. In die Inhaberschaft der deutschen Staatsangehörigkeit sollte uneingeschränkt vertraut 45 Das Doppelbestrafungsverbot betrifft ausschließlich deutsche Strafurteile. Ausländische Strafurteile fallen nicht in seinen Schutzbereich. Ein deutscher Mehrstaater muß also damit rechnen, trotz einer Verurteilung im Ausland wegen derselben Tat sich auch im Inland strafrechtlich verantworten zu müssen. § 51 Abs. 3 u. 4 StGB enthält insoweit nur Anrechnungsmöglichkeiten bezüglich der im Ausland vollstreckten Freiheitsentziehungen bzw. Geldstrafen.

220

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

werden dürfen. Um dies zu unterstreichen, wurde das Entzugsverbot im Grundrechtskatalog uneingeschränkt mitaufgenommen. 46 3. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ist vorbehaltlos gewährleistet. Der Gesetzgeber ist nach der Formulierung in jedem Falle verpflichtet, zwangsweise Wegnahmen der Staatsangehörigkeit zu unterlassen. 4. Schließlich wird die exzeptionelle Stellung des Art. 16 Abs. 1 GG dadurch unterstrichen, daß das Grundrecht nicht verwirkt werden kann. Die enumerative 47 Aufzählung der grundrechtlichen Freiheiten in Art. 18 GG erwähnt Art. 16 Abs. 1 GG nicht. Art. 18 GG lautet: "Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Art. 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Art. 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Art. 16a GG) zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen".

Art. 18 GG ist Verfassungsschutzbestimmung und stellt der "streitbaren Demokratie" Mittel der "Entpolitisierung" zur Verfügung, gegen den Mißbrauch ihrer freiheitlichen Grundordnung einzuschreiten. 48 So kann etwa das BVerfG dem Eigentümer, der sein Eigentum zur finanziellen oder sachlichen Unterstützung von Terroristen zur Verfügung stellt, den Eigentumsschutz des Art. 14 GG versagen. 49 Ein Staatsangehöriger aber, der seinen Status zur Bekämpfung der freiheitlichen Grundordnung nutzt - etwa über die Bekleidung eines öffentlichen Amtes, die wegen Art. 33 Abs. 2 GG grundsätzlich 50 nur Deutschen möglich ist - kann die Staatsangehörigkeit nicht verwirken. Auch in diesem Falle gilt Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG: "Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden".

46

Vgl. oben §§ 2Iff.

47

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, S. 202 sowie Bd. I I I / 2, S. 957; Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 18, Rdnr. 21; Krebs, in: Grundgesetz-Kommentar, hrsg. v. Münch / Kunig, Bd. 1, Art. 18 Rdnr. 7 u. 17. 48 Nach h.M. dient die Verwirkung in sachlicher Hinsicht allein diesem Ziel. Sie ist keine Strafe, sondern bezweckt den Schutz der Verfassung; vgl dazu Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 18 Rdnr. 11; BVerfGE 9, 162ff.(165). 49

Beispiel aus Krebs, in: Grundgesetz-Kommentar, Art. 18 Rdnr. 7.

50

Vgl. Durchbrechungen hinsichtlich der Unionsbürger in § 4 BRRG und § 7 BBG.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

221

Das historisch bekannte Mittel im Umgang mit inländischen Staatsfeinden die Verbannung 51 - ist über die Nichteinbeziehung in den Verwirkungstatbestand des Art. 18 GG ebenfalls absolut untersagt. Das Entzugsverbot hinsichtlich der deutschen Staatsangehörigkeit ist aus alledem als Grundrechtsposition eine vielgestaltige, abwehrrechtlich geschützte Berechtigung. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG spricht den Bestandsschutz der Staatsangehörigkeit an herausragender Stellung mit aller Deutlichkeit

§ 37 Der objektiv-rechtliche Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes Obwohl Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG unter bestimmten Umständen einen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit kennt, ist jedenfalls gegen den Willen des Betroffenen die Wegnahme der deutschen Staatsangehörigkeit durch einseitigen Akt staatlicher Gewalt strikt untersagt. Klaus Stern bezeichnet das Entzugsverbot des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG als "dezidiertes Bekennntis zur deutschen Staatsangehörigkeit". 53 Nach ihm ist die deutsche Staatsangehörigkeit neben ihrem subjektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalt auch als "Institut" garantiert. 54

51 Sie ist die staatlich angeordnete "Ausweisung von Inländern". In der Antike war sie die äußerste Form, ein Gemeinwesen vor staatsfeindlichen Aktivitäten eines Angehörigen zu schützen. Doch die Verbannung ist auch im 20. Jahrhundert üblich. Beispiel hierfür sind: Die Verbannung der Mitglieder des Hauses Habsburg-Lothringen nach der Errichtung der Republik Österreich, der Mitglieder des Hauses Savoyen nach Errichtung der Republik Italien, der Mitglieder des Hauses HolsteinGlücksburg nach der Errichtung der Republik Griechenland; hierzu: Wiessner, Die Funktion der Staatsangehörigkeit. S. 198f. 52 53 54

BVerfGE 36, 1 (30), femer Bd. 40, 141, (170ff.). Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. III / 1, 1988, S. 814.

Die Gewährleistung muß sich entweder auf Normen und Wirklichkeitskomplexe oder bloß auf die vom Recht geformte Rechtsfigur beziehen. Im ersten Falle handelt es sich um Institutionen, im letzteren um Institute. Dementsprechend kann zwischen institutionellen Garantien und Institutsgarantien unterschieden werden. Hierbei findet man institutionelle Garantien in der Regel bei im wesentlichen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen und Organisationsgebilden vor, Institutsgarantien hingegen bei im wesentlichen privatrechtlichen normativen Grundfiguren. Außerdem sind institutionelle Garantien vorwiegend in den Organisationsnormen der Verfassung festgelegt, die Institutsgarantien überwiegend in Grundrechtsbestimmungen oder grundrechtsgleichen Bestimmungen. Grundsätzlich unterscheiden sich die verschiedenen Arten der Einrichtungsgarantien nicht in Schutzgehalt und Schutzwirkung, lediglich für die Frage nach der subjektiven Berechtigung aus Einrichtungsgarantien gewinnt die Einteilung in grundrechtliche und nichtgrundrechtliche Einrichtungsgarantien eine gewisse Bedeutung. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, S. 75 Iff., (79 If.).

222

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

"Die deutsche Staatsangehörigkeit ist eine überkommene, vom Recht geformte und vom Grundgesetzgeber vorgefundene und historisch verwurzelte Grundfigur, die als von der Verfassung garantierte Einrichtung zu betrachten ist."

Ähnlich äußert sich Josef Isensee in der Debatte zum Wahlrecht für Ausländer: 5 5 "Das Ausländerwahlrecht verletzt die institutionelle Garantie der deutschen Staatsangehörigkeit, die das Grundgesetz in Art. 16 Abs. 1... gewährleistet".

Otto Kimminich vertritt dieselbe Ansicht: 5 6 "Art. 16 Abs. 1 GG (enthält) auch eine Garantie der Institution Staatsangehörigkeit".

Schließlich formulierte schon Theodor Maunz diesen Gedanken: 57 "Man (wird) auch die Institution Staatsangehörigkeit als verfassungsmäßig garantiert sehen dürfen".

Unter welchen Voraussetzungen entfaltet ein Rechtssatz die Garantie einer Institution? Nach Klaus Stern hat eine Institutsgarantie drei Voraussetzungen: 58 1. Es muß sich um Normen mit Verfassungsrang handeln. 2. Die Normen müssen Kontinuität sichern wollen. 3. Die Rechtsfolgen aus den Normen müssen erheblich sein. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht erfüllt diese Voraussetzungen in allen Punkten. Die Staatsangehörigkeit ist in Verfassungssätzen genannt. Sie hat Envähnung gefunden in der Kompetenznorm des Art. 73 Nr.2 GG 5 9 sowie in der Definitions- und Gleichstellungsnorm des Art. 116 Abs. 1 GG. Schließlich ist sie als Grundrecht in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 GG aufgeführt. Die deutsche Staatsangehörigkeit hat darüber hinaus die Intention, Kontinuität zu wahren. Wie oben gesehen (Teil 1), hat sie eine entsprechende Stabilitätsfunktion. Sie ist ihr im Hinblick auf Deutschlands nachkriegsbedingte Rechtslage verliehen worden. Der Verfassungsgeber wollte das deutsche Volk, das infolge des Zweiten Weltkrieges in verschiedenen 55 Antragsschrift v. 9.6.1989 zu dem Normenkontrollverfahren zum schleswig-holsteinischen Gesetz zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes v. 21.2.1989, abgedr. in: Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, hrsg. v. Isensee / Schmidt-Jortzig, S. 39ff. 56

In: Bonner Kommentar, Art. 16 Rdnr. 33.

57

In: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 16 Rdnr. 1.

58 Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I I I / 1, S. 79lf.; vgl. auch Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 22Iff. 59

Vgl. zur Altfassung des Art. 74 Nr.8 GG oben § 34 unter I.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

223

Staatlichkeiten organisiert war, über die einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit zusammenhalten. Eine rechtlich relevante Teilung des einen Volkes wollte er nicht gestatten. Auch nach der Vollendung der Wiedervereinigung ist diese Stabilitätsfunktion nicht obsolet. Der abschließende Zwei-plus-VierVertrag hat die Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen ausgenommen.60 Die Staatsangehörigkeit der Deutschen in den endgültig abgetretenen Ostgebieten steht nach den Ausführungen des BVerfG 61 vom 8. September 1993 nach wie vor unter dem besonderen Schutz des Art. 16 Abs. 1 GG. Der Maastrichter Unionsvertrag hat an der Stabilitätsfunktion der deutschen Staatsangehörigkeit ebenfalls nichts verändert. 62 Schließlich sind die Rechtsfolgen der deutschen Staatsanghörigkeit auch erheblich. Die deutsche Staatsanghörigkeit trennt den Inländer- vom Ausländerstatus. Sie unterstellt den Inländer unter die Personalhoheit des deutschen Staates. An die Staatsangehörigkeit knüpfen besondere Grundrechte und ihnen gleichgestellte Rechtspositionen an, insbesondere das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag gem. Art. 38 Abs. 1 GG. 63 Welche Auswirkungen hat die Feststellung, daß die deutsche Staatsangehörigkeit als Institutsgarantie in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt ist, für das Staatsangehörigkeitsrecht? Wenn die Verfassung eine Institutsgarantie schafft, dann sollen der betreffenden Einrichtung ein besonderer Schutzgehalt und eine besondere Schutzwirkung zukommen. 64 Eine erste Aussage über die Schutzwirkungen der Institutsgarantien ermöglicht ihre Eigenart als spezifisch verfassungsrechtliche Garantie. Institutsgarantien sind durch förmliches Verfassungsrecht gewährleistet. Durch die Aufnahme in den Verfassungstext wird ihre Schutzwirkung eine spezifisch verfassungsrechtliche. Sie ist mithin gegenüber dem Inhalt einfach-gesetzlicher Gewährleistungen gesteigert, also qualifiziert. Friedrich Klein schreibt über die Institutsgarantien: 65 "Was sie als verfassungsgesetzliche Fixierung von der gewöhnlichen, einfachgesetzlichen Normierung auszeichnet und von ihr deutlich abhebt, ist ihre besonders starke, durchaus im Vordergrund stehende, typische und spezifische, Festlegungs- (Stabilisierungs-Fixierungs-, Konfirmierungs-) Funktion."

60

Vgl. oben § 13.

61

3. Kammer des 2. Senats (2 BVR - 2124 / 92 und 2127 / 92) NJW 1994, S. 1402.

62

Vgl. oben § 14.

63

Vgl. oben Einleitung unter II.

64

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, S. 75 Iff.; 853.

65

Friedrich

Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 161.

224

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Kontinuität ist einmal dadurch erreicht, daß die Einrichtung unter den Schutz der Verfassungsrevisionsnorm des Art. 79 GG gestellt ist. Sie hat damit vor allem Anteil am Verfassungsschutz der qualifizierten Mehrheit des Art. 79 Abs. 2 GG. Nach Gunther Abel bedeutet allein dieses "Formalprinzip erschwerter Abänderbarkeit der Verfassung" 66 einen beachtlichen, weit über die Sicherung anderer Einrichtungen hinausgehenden Schutz. Darüber hinaus entfaltet die Institutsgarantie aber noch weiteren Schutz. Die Lehre von den Institutsgarantien zielt darauf, nur ganz bestimmte in Grundrechten oder ihnen gleichgestellten Bestimmungen enthaltene Rechtsinstitute zusätzlich zur subjektiven Rechtsgewährung und dadurch die subjektiv rechtliche Grundrechtsposition zu verstärken. 67 Die grundrechtliche Institutsgarantie soll das subjektive Recht unterstützen, es nicht einschränken. Der subjektiv-rechtliche Grundrechtsgehalt und der objektiv-rechtliche Gehalt der Institutsgarantie stehen deshalb nebeneinander. Die Garantie der Rechtseinrichtung will einen zusätzlichen Schutz bewirken. Beide Grundrechtsfünktionen ergänzen sich in ihren Schutzwirkungen. Der subjektive Freiheitsgebrauch soll nicht des Instruments verlustig gehen, durch das er sich entfaltet. 68 Die Beschränkung des Gesetzgebers in Bereichen, die als Institutsgarantien geschützt werden, hatte erstmals Carl Schmitt in seiner Verfassungslehre des Jahres 1928 formuliert: 69 "Sie (die Einrichtungsgarantien) verbiete:i dem Gesetzgeber einen Souveränitätsakt, d.h. eine Durchbrechung der geltenden Rechtsordnung".

Zur Beschränkung der gesetzgeberischen Ausgestaltungsbefugnis führte er im Jahre 1931 aus: 0 "Es liegt im Sinne der institutionellen Garantie [der Selbstverwaltung], daß gewisse typische Merkmale, wie sie sich in der geschichtlichen Entwicklung als charakteristisch und wesentlich herausgebildet haben, durch diese Art und Garantie vor einer Beseitigung durch den einfachen Gesetzgeber geschützt werden sollen. Infolgedessen hat der Gesetzgeber weder hinsichtlich der Organisation noch hinsichtlich des gegenständlichen Wirkungskreises (der Gemeinden) noch endlich hinsichtlich der Gestaltung der Staatsaufsicht völlig freie Hand, wenn die Gewährleistung überhaupt noch einen Inhalt haben soll".

66

Die Bedeutung der Lehre von den Einrichtungsgarantien, S. 61.

67

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 , S. 795. m.w.N.

68 Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 1 Rdnr. 97; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 117ff.; Starck, JuS 1981, 237ff. (239); Dieter Dörr, Die deutsche Handelsflotte und das Grundgesetz, S. I94ff. 69 70

Verfassungslehre, S. 180.

Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung (1931),in: Festschrift Handelshochschule Berlin, 1931, S. Iff, (7) = Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 140ff., (146f.).

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

225

Zur Institutsgarantie des Eigentums führte er aus, daß in ihr "eine Garantie der überlieferten typischen Art und Weise einer Normierung" 71 zu finden sei. Die Ausführungen von Carl Schmitt beschränkten sich jedoch zunächst nur auf einzelne Grundrechtsbestimmungen. Ihnen fehlte es noch an einer allgemeingültigen Formel. 72 Auf der Grundlage der Schmitt'schen Erkenntnisse unterzog sich erstmals Richard Thoma der Aufgabe, sie herauszuarbeiten. Nach ihm enthielten die Institutsgarantien an die Legislative gerichtete Verbote, 73 "in der Ausgestaltung des Instituts diejenigen äußersten Grenzen zu überschreiten, jenseits derer das Institut als solches vernichtet oder denaturiert wäre".

Gerhard Anschütz Schloß sich weitgehend Thoma a n : 7 4 "Institutionelle Garantien sind Verfassungsvorschriften, die in der Hauptsache auf eine Garantie bestimmter Rechtsinstitute abzielen, derart, daß sie das betreffende Institut als solches in der Verfassung verankern, ohne es in allen Einzelheiten seines Inhalts festzulegen."

Nach Anschütz soll die Wirkung solcher Garantien darin bestehen, "daß das garantierte Institut gegen völlige Abschaffung oder auch nur Verletzung des Minimums dessen, was sein Wesen ausmacht, unbedingt, d.h. mit Reichsverfassungskraft geschützt und der einfachen Gesetzgebung nur gestattet ist, innerhalb der hiermit bezeichneten Schranken die Einzelheiten des Instituts zu regeln." 75 Die abschließende Formulierung der Schutzwirkung der Institutsgarantien gegen Ende der Weimarer Republik stammt dann von Friedrich Klein :76 "Wesen, Sinn und Zweck der institutionellen Garantie gehen dahin, daß Maßnahmen der Verwaltungspraxis sowie der einfachen Reichs- und jedweder Art der Leindesgesetzgebung insoweit unzulässig und reichsverfassungswidrig sein sollen und sind, als sie das Wesen der Institution, die Gesamtheit ihrer integrierenden Wesensmerkmale, ihr unantastbares Minimum, das Minimum dessen, was ihr Wesen ausmacht, ihre Identität berühren. Die institutionelle Garantie kann und w i l l lediglich die einer völligen, existentiellen Vernichtung gleichkommende Abwandlung, Aushöhlung, Beeinträchtigung, Denaturierung, 71

Ebenda, S. 26 = Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 166.

72

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 , S. 855.

73 Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der Deutschen Reichsverfassung im allgemeinen (1929), in: H.C. Nipper dey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1, S. 30. 74

Die Verfassung des Deutschen Reichs v. 11.8.1919, S. 520.

75

Ebenda.

76

Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 135f.

15 Ziemske

226

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Durchbrechung, Durchlöcherung, Einschränkung, Entleerung, Überschreitung, Verletzung der Einrichtung verhindern. "

Die Schutzwirkung sollte sich mit anderen Worten neben der Beseitigung der Einrichtung auf die Abwehr von "substanziellen Eingriffen" erstrecken. 77 Die Weimarer Lehre von den Institutsgarantien ist von der Staatsrechtswissenschaft unter der Herrschaft des Grundgesetzes rezipiert und vertieft worden. Die Schutzwirkungen der grundgesetzlichen Institutsgarantien sind methodisch und inhaltlich aus den Weimarer Erkenntnissen entwickelt worden. 78 Die Weimarer Diskussion spiegelt sich in dieser Frage in ihren wesentlichen Teilen im grundgesetzlichen Schrifttum wider. 79 Auch die Rechtsprechung bewegt sich in diesen Bahnen. 80 Die verfassungsgerichtliche Judikatur knüpft ebenfalls an die Weimarer Erkenntnisse über Schutzgehalt und Schutzwirkung der Institutsgarantien an. Richtungsweisend wurde sie in zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verfeinert: Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie 81 des Art. 28 Abs. 2 GG und die Garantie des Berufsbeamtentums 82 des Art. 33 Abs. 5. Beide Garantien wurden als Einrichtungsgarantien anerkannt. Allerdings war die Reichweite ihres Schutzes umstritten. Für die kommunale Selbstverwaltung drückte das BVerfG die Schutzwirkung wie folgt aus: 83 "Die Gesetzgebung darf die Selbstverwaltung nicht derart einschränken, daß sie innerlich ausgehöhlt wird, die Gelegenheit zu kraftvoller Bestätigung verliert und nur noch ein Scheindasein führen kann".

Später rekurrierte das BVerfG ausdrücklich auf das "Wesen der Selbstverwaltung", wie es sich aus "historischen Entwicklungen in einem gewissen Ausmaß" ergeben habe. 84 In der Entscheidung formulierte das BVerfG den Begriff "Wesen" in den verwandten Begriff des "Kernbereichs" der Selbstverwaltung zur Bezeichnung des geschützten Gehaltes e i n : 8 5 "Welche der Normen und Grundsätze, die den geschichtlich gewordenen Begriff der Selbstverwaltung inhaltlich näher bestimmen, sich auf den verfassungsrechtlich garantierten, gegen jede gesetzliche Schmälerung geschützten 77

Ebenda, S. 136.

78

Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, S. 859.

79 Vgl. insbes. Dieter Dörr, Die deutsche Handelsflotte und das Grundgesetz, S. 150ff. m.w.N.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 , S. 860f. m.w.N. 80

Überblick bei Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 , S. 861ff.

81

BVerfGE 8, S. 322ff. (359).

82

BVerfGE 3, S. 58ff. (136); ebenso BVerfGE 4, S. 205ff. (210).

83

BVerfGE 1, 167ff. (175).

84

BVerfGE 7, 358ff. (364); ähnlich BVerfGE 8, 323ff. (329); 9, 286ff. (290).

83

BVerfGE 11,266fr. (274).

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

227

Kernbereich beziehen, war bereits unter der Herrschaft der Weimarer Reichsverfassung streitig und ist heute im Rahmen des Art. 28 GG im einzelnen streitig geblieben."

Die Umschreibung des Schutzgehalts der Institutsgarantie mit dem Begriff "Kernbereich" wurde für die Zukunft richtungsweisend. Was den Schutzgehalt der institutionellen Garantie des Berufsbeamtentums betrifft, erklärt das BVerfG in Parallele zur institutionellen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, daß es vor allem um einen "Kernbestand von Strukturprinzipien" gehe. 86 Dieser Kernbestand müsse "überliefert" sein, das heißt, es müsse sich um Strukturprinzipien handeln, "die allgemein oder doch ganz überwiegend und während eines längeren traditionsbildenden Zeitraums als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind". 87 An anderer Stelle zur Institutsgarantie des Berufsbeamtentums stellt das BVerfG auf die "Funktionsfahigkeit" der Institution im Interesse der Allgemeinheit ab. 88 Äußerungen zu den Schutzwirkungen der Institutsgarantien finden sich daneben vornehmlich in Entscheidungen zu den Art. 6 und 14 GG, in denen das Gericht sie bereits sehr frühzeitig als Institutsgarantie bezeichnet hat. Aus Art. 6 Abs. 1 GG wird für die Institutionen Ehe und Familie ein besonderer Schutz der staatlichen Ordnung gefolgert. Dieses Schutzgebot "gewährleistet die Institution der Ehe nicht abstrakt, sondern in der Ausgestaltung, wie sie der herrschenden, in der gesetzlichen Regelung maßgebend zum Ausdruck gelangten Anschauung entspricht". 89 Einen bestimmten "Ordnungskern" der Institutionen erklärt das Gericht für unantastbar, d.h. auch der Disposition des ausgestaltenden Gesetzgebers für entzogen. Damit mündet die Rechtsprechung praktisch in die Linie der gefestigten und gesicherten allgemeinen Erkenntnisse über Schutzgehalt und Schutzwirkung der institutionellen Garantie ein. 90 Im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 GG wird die Institutsgarantie des Eigentums in ihren Schutzwirkungen dahingehend verstanden, daß sie "einen Grundbestand von Normen" sichere und verbiete, "daß solche Sachbereiche der Privatrechtsordnung entzogen werden, die zum elementaren Bestand grundrechtlich geschützter Betätigung im vermögensrechtlichen Be-

86 BVerfGE 8, 332ff. (343); vgl. ferner BVerfGE 11, 203ff. (215); 15, 167ff. (195f.); 46, 97ff. (117); 58, 68ff. (77); in: EuGRZ 1987, 507ff. (511). 87

BVerfGE 8, 332ff. (343).

88

BVerfGE 64, 367ff. (379) mit Rückvenveisungen.

89 BVerfGE 31, 58ff. (82f.) unter Rückvenveisung insbes. auf BVerfGE 6, 55ff. (82); s.a. jüngste Entscheidung hinsichtlich der Unvereinbarkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe, die sich in der Begründung auf das historisch gewachsene Verständnis dieser Institution stützt; BVerfG NJW 1993, S. 3058f. 90

BVerfGE 10, 59ff. (66).

228

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

reich gehören, und damit der durch das Grundrecht geschützte Freiheitsbereich aufgehoben oder wesentlich geschmälert wird". 9 1

§ 38 Der Kernbereich von Institutsgarantien Die Lehre von den Institutsgarantien ist heute gefestigt. 92 Sie soll zweifachen Schutz bewirken. Institutsgarantien schützen vor: 9 3 - Abschaffung der Einrichtungen durch den einfachen Gesetzgeber und - Aushöhlung ihrer typusbestimmenden Gehalte. Folgende Grundlinien des Schutzgehalts der Institutsgarantien lassen sich nach Klaus Stern allgemein - vorbehaltlich des Wortlauts der jeweiligen Verfassungsnorm - ausmachen.91 Institutsgarantien dienen einer spezifischen verfassungsrechtlichen Sicherung. Sie bestehen deshalb, weil bereits anderweitig bestehende Wehrmöglichkeiten, insbesondere die subjektiv-rechtliche Abwehrfunktion der Grundrechte, nicht ausreichend genug erscheinen, "um hier den für die Gesamtordnung des Staates qua constitutione notwendigen Zustand zu sichern." 95 Institutsgarantien sind in der Regel auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angewiesen. Der Gesetzgeber prägt und formt sie. Aber er gefährdet sie auch. Um sie namentlich vor seinen Eingriffen zu schützen, sind sie in die Verfassung aufgenommen. Im Rahmen dieses "Wechselspiels" zwischen zulässiger, ja notwendiger Ausgestaltung einerseits und von der verfassungsrechtlichen Garantie nicht mehr erlaubten Gefährdung der Einrichtung andererseits entfaltet sich das spezifische Schutzprinzip der Institutsgarantien. Nach Klaus Stern ist "dies seit ihrer Weimarer Entdeckung unstreitig". 96 Die Abgrenzung zwischen geschütztem und ungeschütztem Bereich der Institutsgarantien ist ihr zentrales Problem. 97 Bei der Bestimmung der Grenzlinie zwischen zulässiger gesetzlicher Ausgestaltung und unantastbarem Bereich ist zu berücksichtigen, daß Institutsgarantien trotz ihres konservierenden Grundzugs anerkanntermaßen keine "Status-quo-Garantien"

91

BVerfGE 24. 367ff. (389); vgl. ferner BVerfGE 58. 300ff. (339).

92

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, S. 75 Iff.

93

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 , S. 855.

94

Ebenda, S. 867.

95

Schmidt-Jortzig,

96

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 , S. 868.

97

Ebenda.

Die Einrichtungsgarantien der Verfassung, 1979, S. 33.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

229

sind. Sie sind entwicklungsoffen. 98 Der geschützte Bereich pendelt zwischen dem Bestand der Einrichtung zum Zeitpunkt der Verfassungsentstehung einerseits und der Veränderung entsprechend "den wechselnden Forderungen der staatlichen Ordnung und dem Wandel der Rechtsanschauung"99 andererseits. Unantastbar ist der "Kern" der Einrichtung. Er ist nicht ausgestaltbar durch den Gesetzgeber. 100 Gestaltbar ist dagegen die "Schale". Einen Bestimmungsversuch, Kern und Schale zu trennen, stellt die sog. Resttheorie dar. 101 Danach soll der Kernbereich der Einrichtung quantitativ umgrenzt werden, indem man die Institution durch Aufzählung der dazugehörigen Bestandteile in enumerativer Weise erfaßt und sodann gewissermaßen mit der Substraktionsmethode ermittelt, ob das, was nach dem Eingriff in die Einrichtung von dieser noch übrig bleibt, vom angetroffenen Ausgangszustand der Einrichtung wesentlich abweicht oder nicht. Aber eine solche Bestimmungsweise öffnet einer "Salamitaktik" zur Entleerung und Aushöhlung der Institutsgarantie Tür und Tor. Die Subtraktionsmethode vermag eine sukzessive Aushöhlung nicht zu verhindern. 102 Sie scheitert aus diesem Grunde auch an Art. 19 Abs. 2 GG, der den Wesensgehalt einer Grundrechtsnorm garantiert. Danach darf in keinem Falle ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Die Väter des Grundgesetzes wollten mit Art. 19 Abs. 2 GG verhindern, daß insbesondere der Gesetzgeber im Wege der notwendigen einfach-gesetzlichen Regelung deren Grundrechtsschutz entleert. 103 Der Gesetzgeber soll sich nicht zum "Herren über die Grundrechte" 104 machen dürfen. Auch Gesetzesvorbehalte sollen nicht dazu führen, daß - wie in der Weimarer Republik - die Grundrechte "aus der Hand des Gesetzgebers" 105 gewährt werden. Jedes Grundrecht enthalte daher einen "absoluten" Kern, der nicht angetastet werden dürfe. Doch dieser Kerngehalt ist nach BVerfG nicht einheitlich. Er besteht für jedes Grundrecht in unterschiedlicher Weise. 106 Nach Stern kann der Kernbereich daher nur qualitativ bestimmt werden. Er muß an der Qualität, am "Wesen" jedes einzelnen Instituts bzw. jeder einzelnen Institution orientiert werden. Allgemein läßt sich nur sagen, daß nach 98

Ebenda, m.w.N.

99

Quaritsch, Institutionelle Garantie, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 1, Sp. 1352.

100

Dazu Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I I I / 1 , S. 868.

101

Ebenda, S. 869 m.\v.N.

102

Mit dieser Argumentation gegen die Anwendung der Substraktionsmethode etwa Dieter Dörr, Die deutsche Handelsflotte und das Grundgesetz, S. 167fF. 103

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 , S. 1302.

104

Herzog, Festschrift für Zeidler, Bd. 2, S. 1415ff. (1417, 1420).

105

Ebenda.

106

BVerfGE 22, 180ff.(181).

230

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

den "Essentialen" der Einrichtung gesucht und dieses von den Akzidentialien abgegrenzt werden muß. Herausgearbeitet werden müssen jene Bestandteile, die struktur- und typusbestimmend sind, die der betreffenden Einrichtung das spezifische Gepräge geben, das charakteristische Erscheinungsbild präsentieren. 107 Hierbei spielt die "historische Komponente" eine, aber nicht die allein entscheidende Rolle. Daneben enthalten Gegenwart und Zukunftsperspektive ebenfalls prägende Faktoren, da Institutsgarantien entwicklungsoffen sind. 1 0 8 Entscheidend kommt es darauf an, das charakteristische Erscheinungsbild in einer "ganzheitlichen Betrachtungsweise" zu ermitteln. Dieses darf nicht denaturiert werden. 109 Übertragen auf die Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit bedeutet die Zugrundelegung dieser Ansicht folgendes. Zunächst muß die historische Komponente der Staatsangehörigkeit ermittelt werden. Im folgenden 2. Abschnitt wird von daher untersucht, ob die deutsche Staatsangehörigkeit des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG historisch an einem gewachsenen Staatsangehörigkeitsverständnis festhält. Im daran anschließenden 3. Abschnitt soll der Frage nach dem perspektivischen Staatsangehörigkeitsverständnis nachgegangen werden. Im 4. Abschnitt wird das charakteristische Erscheinungsbild der Institution der deutschen Staatsangehörigkeit als Bestandsgarantie gewürdigt. Erst nach der Ermittlung aller drei wesensbestimmenden Elemente der deutschen Staatsangehörigkeit lassen sich definitive Aussagen zur Absicherung ihrer geltenden Grundsätze durch die Institutsgarantie des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG machen (§§ 53f.).

2. Abschnitt: Über die historische Komponente der Staatsangehörigkeit

§ 39 Die Entwicklung der Staatsangehörigkeit in Deutschland Die Grundsätze des deutschen 19. Jahrhundert aufgestellt worden.

Staatsangehörigkeitsrechts

sind

im

107

Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 , S. 867.

108

Stern, ebenda, S. 870.

109 In neuerer Zeit wurden zusätzlich zu den vorstehenden Kriterien zur Bestimmung der unantastbaren Kembereiche auch das Übermaßverbot und Gemeinwohlgründe herangezogen. Was unverhältnismäßig ist, greift immer in den Kernbereich ein.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

231

I. Grundsatz der ausschließlichen Staatsangehörigkeit Der Grundsatz der ausschließlichen Staatsangehörigkeit lag der ersten gesamtdeutschen Kodifikation im "Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit" vom 1. Juni 1870 zugrunde. 110 Er wurde in späteren Reformen, insbesondere im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913 bekräftigt und beherrscht noch heute das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht. 111 Die Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeit war im 19. Jahrhundert auch international ein außerordentlich wichtiges Anliegen. Das belegen zum einen der englisch-amerikanische Naturalisationskonflikt 112 sowie zum anderen die Bancroft-Verträge 113 des Jahres 1868, die der Norddeutsche Bund und vier süddeutsche Staaten mit den USA geschlossen haben. Mehrstaatigkeit galt auch in der Staats- und Völkerrechtslehre des 19. Jahrhunderts als "unerwünscht". 114 Staatsangehörigkeit sei "unteilbar" und "exklusiv". Sie "schmiede" ein Band wechselseitiger Treue zwischen dem Staat und seinen Bürgern. 115 Ferdinand v. Martitz (1839-1921) begründete den Grundsatz der ausschließlichen Staatsangehörigkeit 1875 wie folgt: 1 1 6 "Niemand kann zwei Herren dienen".

IL Der Grundsatz des ius sanguinis Auch das ius sanguinis ist in Deutschland im 19. Jahrhundert Grundlage des Staatsangehörigkeitsrechts geworden. Die in der gegenwärtigen Reformdiskussion zu kurz greifende historische Darstellung des ius sanguinis wird zum Mittel der Verächtlichmachung dieses geltenden Staatsangehörigkeitsgrundsatzes eingesetzt: 110

Abgedr. bei: Schätzet, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, S. 13ff.

111

Vgl. Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 963ff.

112

Vgl. unten § 43.

113

Vgl. oben § 19.

114

Dazu: Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, S. 214; Löwer, VR 1990, S. 221ff. (221); Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 963ff. 115 Zur Geschichte der mehrfachen Staatsangehörigkeit: Frhr. v. und zu Bodman η, Die Rechtsverhältnisse der sog. "Sujets mixtes", in : AöR 12 (1897), S. 200ff. (206ff); Randelzhofer, Art: Nationality, in: Encyclopedia of Public International Law, Bd. 8: Human Rights and the Individual in International Law, Amsterdam 1985, S. 416. 116 Das Recht der Staatsangehörigkeit im internationalen Verkehr, in: Annalen des Deutschen Reiches, 1875, S. 794.

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

232

D a s " v e r d a m m t e d e u t s c h e B l u t s r e c h t , d a s i u s s a n g u i n i s " sei " r e i f 1 , a l s A u s druck

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Blumenwitz

gibt treffend z u b e d e n k e n : 1 2 0

"Wäre das Reichs- u n d Staatsangehörigkeitsgesetz v o m 22. J u l i 1913 ( R G B l . S. 583, B G B l . Π Ι 102-1) m i t seinem ius sanguinis e i n 'rassistisches' Gesetz gewesen, hätte es nach 1933 nicht der tiefgreifenden - nach 1945 w i e d e r k o r rigierten - Ä n d e r u n g e n des Staatsangehörigkeitsrechts durch das N S - R e g i m e bedurft. M i t d e m Gesetz über den W i d e r r u f von Einbürgerungen u n d die A b erkennung der deutschen Staatsangehörigkeit von 1933 u n d d e m Reichsbürgergesetz von 1935 unternahm der Nationalsozialismus den gezielten Versuch, 'völkisch-nationalen Einbürgerungsgrundsätzen' Geltung z u verschaffen. Daß kraft des überkommenen u n d heute auch wieder geltenden ius sanguinis 'jeder Staatsangehörige ohne Unterschied der Rasse, der Gesinnung u n d der T ü c h t i g k e i t nicht nur die gleichen Pflichten, sondern auch die gleichen politischen Rechte besaß', w u r d e von der NS-Gesetzgebung als 'Grundübel der bisherigen Regelung' angesehen."

117 Zitiert nach Hermann Lübbe in: Blut und Boden. Oder: Deutscher Postnationalismus im Exempel, in: Abschied vom Superstaat. Vereinigte Staaten von Europa wird es nicht geben, S. 45fF., (46). 118 Vgl. auch Brubaker, Staats-Bürger, S. 216f.: "Zweifellos hatte das rassistische Staatsangehörigkeitsrecht des Nationalsozialismus seine Vorläufer. Die Begriffe, auf denen es basierte - die Nation als organische Volksgemeinschaft, die Bedeutung der gemeinsamen Abstammung, der Ausschluß von Juden und anderen 'Fremdvölkischen' -, hatten tiefe Wurzeln in der deutschen Geschichte und ihre Spuren bereits im Staatsangehörigkeitsrecht und in der Einbürgerungspraxis des Deutschen Kaiserreichs hinterlassen." Siehe auch Ignatz Bubis, in: Welt am Sonntag, Nr. 47 v. 20.11.1994: "Das Blut der Ahnen, die völkische Zugehörigkeit, dürfen nicht länger den Ausschlag geben, wenn es um die Staatszugehörigkeit in Deutschland geht. ... Alle Menschen, die in Deutschland geboren werden, (sollen) zunächst einmal eine vorläufige deutsche Staatsbürgerschaft erhalten." Vgl. auch Oskar Lafontaine, für den das auf dem „Blute" beruhende und aus der Zeit des „Bismarck-Reiches" stammende Staatsangehörigkeitsrecht ein Anachronismus ist, für den es heute keine Rechtfertigung mehr gibt, FAZ v. 17.9.1993, Nr. 216, S. 6. 119

Ebenda.

120

Abstammungsgrundsatz und Territorialprinzip, in: ZfP 1994, S. 246ff. (S. 255, Fußn. 31).

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

233

Als Erklärung für den "deutschen Intellektuellen- und Philosopheneinfall", das Abstammungsprinzip sei Relikt deutscher Vorgestrigkeit, äußert Lübbe}21 "Es handelt sich um einen Reflex jenes Beziehungswahns, der Deutsche immer wieder einmal selbst das noch als nationalsozialistisch disqualifiziert verwerfen läßt, was die Nationalsozialisten selber weder geschätzt noch gar erfunden haben".

Auch daran, daß die Aktion "Heim ins Reich" in den Kontext einer Politik der "Schaffung" homogen gemachter "Räume" gehörte, erinnern die Blutrechtsgegner in ihrer Bodenrechtsverherrlichung nicht. Die nationalsozialistische Ideologie war gleichermaßen auf "Blut und Boden" ausgerichtet. Konsequenterweise müßten die Blutrechtsgegner aus diesem Grunde auch das Bodenprinzip "verdammen", nur welche Erwerbsprinzipien blieben dann noch übrig? Das ius sanguinis ist darüberhinaus nicht "deutsch". Es ist international geläufig und, wie der Überblick über das Staatsangehörigkeitsrecht der Vergleichsländer zeigt, auch dominant. 122 In Deutschland ist es erst im 19. Jahrhundert eingeführt worden. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation kannte noch keine allgemeine Staatsangehörigkeit bis zu seiner Auflösung im Jahre 1806. 123 Es herrschte Zugehörigkeit kraft Personalitätsbindung. Die Entwicklung der Staatsangehörigkeit setzte erst danach, und zwar in deutschen Einzelstaaten

121

Ebenda, S. 53.

122

Vgl. oben § 30 sowie Anhang.

123

Hans v. Mangoldt, Ius-sanguinis- und ius-soli-Prinzip in der Entwicklung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, in: StAZ 1994, S. 33ff. (35). 124 In der bayerischen Verfassungsurkunde v. 26.5.1818 wird in § 1 des Titels IV die Grundlage hierzu gelegt. "Zum vollen Genüsse aller bürgerlichen, öffentlichen und Privatrechte in Bayern wird das Indigenat erfordert, welches entweder durch die Geburt oder durch die Naturalisierung nach den näheren Bestimmungen über das Edikt über das Indigenat erworben wird (Beilage I)." Vgl. hierzu Quellensammlung zum Staats- und Verwaltungsrecht des Königreichs Bayern. Zusammengestellt von Hermann Rehm, S. 6. Die Württembergische Verfassungsurkunde v. 25.09.1819 enthielt in § 19 eine weitere Regelung "von den allgemeinen Rechtsverhältnissen der Staatsbürger": "Das Staatsbürgerrecht wird teils durch Geburt, wenn bei ehelich Geborenen der Vater, oder bei unehelichen die Mutter das Staatsbürgerrecht hat, teils durch Aufnahme erworben." Art. 12 der Verfassung des Großherzogtums Hessen v. 17.12.1820 knüpfte den "Genuß aller bürgerlichen Rechte in dem Großherzogtume, sowohl der Privatrechte, als der öffentlichen" an die "Inländer"eigenschaft an. Nach Art. 13 der Verfassungsurkunde wurde das Recht eines Inländers durch die Geburt oder durch die Naturalisierung erworben. Eine vergleichbare Regelung enthielten die Verfassung des Herzogtums CoburgSaalfeld v. 8.8.1821 sowie die Verfassung von Sachsen-Meiningen v. 23.8.1829. Vgl. zum ganzen: Pölitz, Die Constitutionen der europäischen Staaten seit den letzten 25 Jahren, IV. Teil, S. 51, 97f. sowie II. Teil, S. 295f.: Stoerck, Handbuch der deutschen Verfassungen, neu bearb. von Rachhaupt, S. 418.

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

234

Mit der Gründung des Deutschen Bundes vom 8. Juni 1815 wurde zwar eine einheitliche "Bundesuntertänigkeit" eingeführt. Art. 18 der Deutschen Bundesakte spricht aber insofern nur von "Untertanen der deutschen Bundesstaaten". Damit wurde lediglich festgestellt, daß sich die Angehörigkeit nicht mehr auf die Person des Fürsten, sondern auf den Staat als politisches Gebilde bezieht. Ein darüber hinausgehendes Bundesindigenat, vergleichbar einer Staatsangehörigkeit, war damit jedoch nicht verbunden. Die deutsche Staatsrechtslehre der Zeit begründete dies damit, daß der Bund mit dem Bundesangehörigen mangels Staatsgewalt nicht in Staatsverbindung stehe. 125 § 57 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 sah die Möglichkeit der Reichsgewalt vor, gesetzliche Normen über Erwerb und Verlust des Reichs- und Staatsbürgerrechts aufzustellen. Dazu ist es aber angesichts des Scheiterns der Revolution nicht mehr gekommen. 126 So blieb es bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes, daß sich die Entwicklung des Staatsangehörigkeitsrechts in den Einzelstaaten des Deutschen Bundes vollzog und hier unter gewisser Vorbildfunktion Preußens für andere Staa4-Λ« 127

ten. Das erste spezielle Staatsangehörigkeitsgesetz stammt von Preußen. Das Gesetz vom 31. Dezember 1842 "Über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Untertan sowie über den Eintritt in fremden Staatsdienst"128 hatte zum ausschließlichen Gegenstand die Regelung der Staatsangehörigkeit und führte sie erstmalig systematisch durch. In § 1 enthielt es die Aufzählung der Erwerbsgründe der preußischen Untertanenschaft. Nach § 1 des Gesetzes wird die Eigenschaft als "preußischer Untertan" durch Abstammung, Legitimation, Verheiratung und Verleihung begründet. 129 Ihm folgten ausführliche Regelungen jedes dieser Gründe. In § 15 enthielt das Gesetz die Erlöschensgründe. 130 Mit dem preußischen Gesetz hatte das Personalprinzip endgültig den Sieg über das Territorial- oder Domizilprinzip davongetragen. 131 Der Erwerb der Staatsangehörigkeit durch territoriale Momente, die Geburt und Wohnsitz im 125 Vgl. hierzu: Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, S. 239; ähnlich Zachariae, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Teil 1, S. 435 f. 126

Thedieck, S. 35.

127

Hans v. Mangoldt, StAZ 1994, S. 36f.

128 GS 1843, S. 15; Makarov bezeichnet das Gesetz als "echtes modernes Staatsangehörigkeitsgesetz" (Allgemeine Lehren, S. 127). 129

Abgedr. in: Lichter, Die Staatsangehörigkeit, S. 519ff.

130

Das Erlöschen der Staatsangehörigkeit tritt hauptsächlich durch Entlassung, welche nur aus militärischen Gründen verweigert werden darf, durch zehnjährigen Aufenthalt im Ausland, durch Verheiratung eines preußischen Untertanen mit einem Ausländer und schließlich durch unerlaubten Eintritt infremde Staatsdienste ein. 131

Hans v. Mangoldt, StAZ 1994, S. 36.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

235

Lande (ius soli) war abgelöst durch das sog. ius sanguinis, dem Ervverb durch Abstammung vom Inländer. Das Gesetz vom 1842 blieb auch nach Erlaß der Verfassungsurkunde fur den preußischen Staat vom 31. Januar 1850 in Kraft. Zwar bestimmte die Verfassungsurkunde in Art. 3, daß ein besonderes Gesetz über das Staatsbürgerrecht ausgearbeitet werde sollte. Da dies aber nicht geschah, blieb es auch weiterhin bei den Vorschriften des Gesetzes von 1842. Das preußische Gesetz über die Untertanenschaft hatte Vorbildfunktion für eine Reihe von nord- und mitteldeutschen Staaten. 132 In den von Preußen später annektierten Gebieten wurde das Gesetz vom 31. Dezember 1842 nicht eingeführt. Dort blieben, wie etwa im vormaligen Königreich Hannover, das Preußen im Jahre 1866 erwarb, die alten hannoveranischen Sonderregelungen in Kraft. Somit bestanden zeitweise in ein- und demselben Staat unterschiedliche staatsangehörigkeitsrechtliche Teilordnungen für den Erwerb derselben einheitlichen Staatsangehörigkeit. 133 Das staatenbündische System der Einzelstaatsangehörigkeit wurde mit der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 überwunden. 134 Sie hatte in Art. 3 Abs. 1 die Einführung einer bundeseinheitlichen Staatsangehörigkeit anerkannt: "Für den ganzen Umfang des Bundesgebietes besteht ein gemeinsames Indigenat mit der Wirkung, daß der Angehörige (Untertan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in jedem anderen Bundesstaate als Inländer zu behandeln und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts und zum Genüsse aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische zuzulassen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich zu behandeln ist."

Zwar richteten sich Erwerb und Erlöschen der neuen Bundesangehörigkeit zunächst noch nach den verschiedenen Staatsangehörigkeitsgesetzen der einzelnen Bundesstaaten. Doch bleibt festzuhalten, daß durch das Indigenat eine bundeseinheitliche Zugehörigkeit mit der Folge der direkten Unterwor132

Schwarzburg Rudolstadt (Gesetz v. 3.4.1846), Reuß ältere Linie (Verordnung v. 7.11.1851), Anhalt-Dessau (Gesetz v. 1.3.1852), Reuß jüngere Linie (Verordnung v. 20.5.1852), Sachsen (Gesetz v. 2.7.1852), Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Steglitz (Verordnungen v. 1.6.1853), Oldenburg (Gesetz v. 12.4.1855), Sachsen-Weimar (Gesetz v. 6.4.1859), und schließlich für die Hansestädte Hamburg (Gesetz v. 7.11.1864) und Lübeck (Gesetz v. 14.9.1866). Der Text aller genannter Gesetze ist abgedruckt in der Sammlung "Die in den europäischen Staaten geltenden Gesetze über die Erwerbung und den Verlust der Staatsangehörigkeit unter Ausschluß des Deutschen Reichsgesetzes v. 1.6.1870. Nebst einem Anhang enthalten die vor dem 1.1.1871 in den deutschen Bundesstaaten in Kraft gewesenen Staatsangehörigkeitsgesetze, im Auftrage der Polizeibehörde der freien und Hansestadt Hamburg herausgegeben und erläutert, 1898". 133

Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, S. 205ff.

134

BGBl. Nord. Bd., S. 2; abgedr. bei: Ever s, Alle deutschen Verfassungen, S. 95ff., 71ff.

236

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

fenheit unter die Bundesstaatsgewalt, dem Recht zur Besteuerung und der Treue- und Wehrpflicht hergestellt wurde. 135 Zudem genossen gem. Art. 3 Abs 5 alle Bundesangehörigen gleichmäßigen Anspruch auf den Schutz des Reiches im Ausland. Wenngleich das Indigenat des Art. 3 materiell noch keine bundeseinheitliche Staatsangehörigkeit schuf, bedeutete sie doch eine qualitative Umgestaltung der Rechtstellung des einzelnen zum Bund. Im Unterschied zur Bundesuntertänigkeit des Deutschen Bundes wurde über das Bundesindigenat eine unmittelbare Rechtsbeziehung geschaffen. Das Gebiet des Norddeutschen Bundes wurde damit zum Inland ausgebaut und die Ausländerbehandlung von Bundesstaatsangehörigen innerhalb des Bundes abgebaut. 1 3 6 Eine entscheidende Weiterentwicklung zur materiellen Staatsangehörigkeit ist mit dem Gesetz "Über Erwerb und Verlust der Bundesstaatsangehörigkeit" vom 1. Juni 1870 gesetzt worden. 137 Damit wurden alle verschiedenen noch bestehenden Territorialgesetzgebungen aufgehoben und durch bundeseinheitliches Recht ersetzt. Das Gesetz trat am 1. Januar 1871 in allen Gebieten des Norddeutschen Bundes in Kraft. In Art. 3 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 wurde dieses gemeinsame Indigenat auf das Deutsche Reich übertragen. 138 Das Gesetz "Über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit" vom 1. Juni 1870 erging aufgrund der in Art. 4 Ziff. 2 eingeräumten Kompetenz des Reiches, "Bestimmungen über Staatsbürgerrechte" zu erlassen. § 1 des am 1. Januar 1871 in Kraft getretenen Gesetzes enthielt das sog. Vermittlungsprinzip: 139 Die Bundesangehörigkeit wurde über die Staatsangehörigkeit in den Einzelstaaten vermittelt. §§2 bis 12 enthielten Bestimmungen über den Erwerb der Angehörigkeit in den Gliedstaaten. Die Gliedstaatsangehörigkeit konnte fortan durch Abstammung, Legitimation, Verheiratung und Verleihung erworben werden. 140 Die einheitliche Gesetzgebung auf Reichsebene über den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit wurde wegen der unterschiedlichen Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts der Länder erforderlich. Denn das in Art. 3 Abs. 1 enthaltene Vermittlungsprinzip der Norddeutschen Bundesverfassung ließ die

135

Thedieck, S. 40f.

136

Ebenda, S. 41.

137

BGBl. Nord. Bd., S. 355-360; abgedr. bei: Lichter, Die Staatsangehörigkeit, S. 49Iff.

138

RGBl. I, S. 63; abgedr. bei: Evers, Alle deutsche Verfassungen, S. 71ff.

139

Thedieck, S. 40f.

140

Die §§ 13 bis 23 regelten den "Verlust" (Entlassung) sowie die Erhaltung und Wiedergewinnung der Staatsangehörigkeit. Danach trat ein "Verlust" durch Entlassung, Ausspruch der Behörde, Eintritt in fremde Staatsdienste, Verheiratung, Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit und Aufenthalt im Ausland ein.

237

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

traditionell gewachsenen unberührt. 141

Angehörigkeitsregelungen

der

Einzelstaaten

Eine Rechtszersplitterung auf diesem Gebiet war damit die Folge. Zwar wurde über die Vorbildfunktion des preußischen Gesetzes von 1842 insofern eine Rechtseinheit erreicht, als eine Mehrzahl der Bundesstaaten die eigenen Angehörigkeitsgesetze den preußischen Gesetz anpaßten. Doch gab es auch einzelne Bundesstaaten wie Braunschweig, Bremen, Plauenburg oder das ehemalige Königreich Hannover, in denen die Staatsangehörigkeit nach anderen als in Preußen geregelten Prinzipien verliehen wurde. Häufig knüpfte sie in diesen Staaten an das Wohnsitzprinzip an. 1 4 2 Ein preußischer Staatsangehöriger, der die Angehörigkeit wegen der Anstellung in einem Betrieb seiner Gemeinde erlangt hatte, mußte nun aber aufgrund des Art. 3 der Bundesverfassung in Preußen als Inländer behandelt werden. Dies, obwohl er niemals in Preußen eingebürgert worden wäre. Damit konkretisierten sich die schon im Jahre 1848 von Ludwig Peter Moritz v. Rönne (1804-1891) in der Nationalversammlung ausgesprochenen Befürchtungen. In den Beratungen der Nationalversammlung von 1848 zur Paulskirchenverfassung ging es im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts vor allem um einen Streit zwischen Föderalisten und Unitaristen über die Vermittlungsfünktion der Landesangehörigkeit für das deutsche Reichsbürgerrecht, das das Sebstbestimmungsrecht der Einzelstaaten verletzen könnte. Sollten Länder selbständig einbürgern können, so bestünde die Gefahr, daß Länder mit großzügigen Einbürgerungsregelungen die Interessen der Länder mit strenger Regelung verletzen. 143 Demgegenüber lehnten die Unitaristen die Vermittlungsfunktion ab. Nach ihnen sollte die unmittelbare Reichsangehörigkeit mit Erwerbs- und Verlustgründen durch Reichsgesetz geregelt werden. Die Landesangehörigkeit sollte zwar erhalten bleiben. Sie sollte allerdings nach Auffassung der Abgeordneten Georg Waitz (1813-1886) 1 4 4 und Sylvester Jordan!Berlin (1792-1861) 145 nur der Gleichbehandlung andere deutscher Mitangehörigen dienen, etwa vergleichbar der Regelung des Art. 33 Abs. 1 GG. 141 V. Keller / Trautmann, Kommentar zum Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz v. 22.7.1913, § 1, Anm. II (S. 49ff.); Liftschütz, Vergleichende Betrachtung der Staatsangehörigkeitsgesetze v. 1.6.1870 und v. 22.7.1913, AöR 33 (1915), S. 115ff. 142 Die Staatsangehörigkeit wurde durch das Wohnrecht in den Gemeinden vermittelt. So konnte in Braunschweig das Recht, an einem Ort zu wohnen, u.a. durch die ausdrückliche Aufnahme in die Gemeinde oder schon durch die Erlangung einer Anstellung zu gewissen Beschäftigungen erworben werden. 143 Vgl. hierzu Abgeordneter v. Rönne (Berlin), in: Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt a.M., Bd. 2, S. 962. 144

Wigard,

Bd. 2, S. 957ff.

145

Wigard,

Bd. 1, S. 737.

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

238

Das Vermittlungsprinzip des Art. 3 der Bundesverfassung von 1867 führte in der Tat zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts, die sich mit den Bundesinteressen nicht mehr vereinbaren ließ. 1 4 6

§ 40 Die Entscheidung zugunsten des ius sanguinis In Deutschland setzte sich das ius sanguinis zunächst in den Einzelstaaten im 19. Jahrhundert durch. Unter Vorbildfunktion des preußischen Gesetzes aus dem Jahre 1842 etablierte sich das ius sanguinis auch auf Reichsebene im Gesetz vom 1870, das maßgeblich im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz des Jahres 1913 aufgegangen ist. 1 4 7 Die Gründe, die es für seine Einführung gab, waren vielfaltig: 1. Mittels ius sanguinis sollten Geburtszufälligkeiten vermieden werden. 148 Über das ius sanguinis versprach man sich mehr Nähe zum Heimatstaat. Für das ius sanguinis sprach die Vermutung, das angestrebte Näheverhältnis werde über gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte erzeugt. Denn in der Regel waren die Eltern des in die Staatsangehörigkeit kraft Abstammung geborenen Abkömmlings Träger dieser gemeinschaftsbezogenen Attribute. 2. Für das ius sanguinis sprach weiterhin, daß es die negativen Folgen des ius soli abschwächte, die bei Auslandsgeburten eintreten. 149 Das ius soli führt zum Nichterwerb der Staatsangehörigkeit bei Auslandsgeburten, das ius sanguinis nicht. Das ius sanguinis war damit die Antwort im Zeitalter beginnender Freizügigkeit, mißliebige Folgen bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt auszuschließen. Geburten im Ausland führten nicht zu einer staatsangehörigkeitsrechtlichen Trennung der Eltern von ihren Kindern, für die bei Auslandsgeburten in ius-sanguinis-beherrschten Gebieten sogar das Risiko der Geburt in die Staatenlosigkeit bestanden hätte. Allerdings bestand bei fortdauerndem Auslandsaufenthalt die Gefahr, daß die mit dem ius sanguinis gewünschte Stabilität der Beziehungen zum Heimatstaat geradezu unterlaufen wird. Abkömmlinge erhalten eben völlig unabhängig vom Aufenthaltsort kraft Abstammung die Staatsangehörigkeit. Diese Möglichkeit des Verlustes derjenigen Stabilität der Beziehungen, welche als Grundlage der Staatsangehörigkeit gesehen wurde, hatte das Gesetz von 1870 berücksichtigt: Es sah den Entzug bei zehnjährigen Auslandsaufenthalt vor (§§ 10, 21). 146 Vgl. hierzu Motive zum Ersten Staatsangehörigkeitsgesetz in den Stenographischen Berichten des Reichstags, 1870, Bd. 1, S. 6f. und Bd. 3, S. 133-160. 141

Hans v. Mangoldt, StAZ 1994, S. 36.

148

Ebenda, S. 37.

149

Ebenda.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

239

3. Über das ius sanguinis blieb der Zuwachs des Staatsvolkes berechenbar. 1 5 0 Ausländer werden auch bei Geburt im Inland nicht automatisch Staatsangehörige. Einerseits behielt sich der Staat derart die Verfügbarkeit ihrer Aufnahme durch Einbürgerung vor, andererseits machte er aber auch die im Inland geborenen Abkömmlinge staatsfremder Eltern nicht zum Zugriffsobjekt. Mit der Möglichkeit der antragsabhängigen Einbürgerung war sichergestellt, daß nur ihrem Willen entsprechend eine Einbindung in das Staatsvolk vorgenommen werden konnte. Das ius sanguinis wurde in Deutschland allerdings nur aufgegriffen. Es war gewohnheitsrechtlich als Mischsystem schon im Ancien Regime etabliert 151 und erfuhr eine immense rechtspolitische Förderung durch die Französische Revolution. Doch das Abstammungsprinzip ist auch im Aufklärungszeitalter lediglich wieder entdeckt worden. 1 Es war herrschendes Erwerbsprinzip bereits in der Antike, das in der Zeit des Mittelalters aber in Verschollenheit geriet.

§ 41 Die Zugehörigkeit in der Antike I. Athenische Republik Zentrale Frage der athenischen Republik war, wer zu dem Kreis der Angehörigen gehörte und wer dazu als "Fremder" außerhalb stand. 153 Im Athen des 6. Jahrhunderts hat dieses Problem der Gruppenzugehörigkeit angesichts der überschaubaren Verhältnisse noch kaum bestanden. Der einzelne war durch seine Familie identifiziert, die in der Regel seit undenklichen Generationen in den politischen Gliederungen der Stadt organisiert und den Genossen dieser Gliederung bekannt war. Die Einstellung zu der Frage begann sich erst zu ändern, als die Demokratie als eine neue Form der Herrschaft bewußter überdacht wurde. Die Verleihung des Bürgerstatus war damals allerdings noch kein gebräuchliches Instrument, um einen Fremden in den eigenen Bürgerverband aufzunehmen. Sie erfolgte in einem langen Prozeß, der im 5. Jahrhundert gerade erst begonnen hatte. Angehöriger war man allein durch seine Herkunft, d.h. durch die Zugehörigkeit zu einer alteingesessenen Familie, und es war daher die Aufnahme von Fremden nur über die Familie, also durch die Einheirat und durch die Adoption möglich. 150

Ebenda.

151

Grawert, S. 77.

1,2

Grawert, S. 158; Meireis, Aspekte einer Neuregelung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, in: StAZ 1994, S. 241ff. (243). 153

Bleichen, Die athenische Demokratie, insbes. S. 3Iff. und 44ff.

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

240

Der Aufschwung Athens nach Herausbildung der Demokratie, der die Stadt zu einem Zentrum der griechischen Welt machte, muß den Wunsch nach genauer Regelung der Angehörigkeitsfrage gebracht haben. Denn im Jahre 451 brachte Perikles ein Gesetz durch, nach dem nur deijenige Athener war, dessen beide Elternteile Athener waren. 154 Was immer Perildes an besonderen Motiven für die Einbringung des Gesetzes gehabt haben mag, es dürfte sicher sein, daß es auch das zunehmende politische Selbstbewußtsein der jungen Demokratie war. Es beruhte auf der tätigen Teilnahme am öffentlichen Leben und der gerade zur Zeit des Perikles gewachsenen Privilegierung der Athener durch materielle Vorteile. Die Athener waren durch sein Gesetz eine exklusive Gesellschaft geworden. 155 Der Kreis der Angehörigen war mit diesem Gesetz auf Dauer festgelegt worden. Athen ist damit ein geschlossener Kultur- und Rechtsverband geworden, in dem die Unterscheidung zwischen dem Angehörigen und dem Fremden ein konstitutives Element seines staatlichen Seins bildete. Im goldenen Zeitalter Athens wurde die Zugehörigkeit auf diejenigen Personen beschränkt, die auf beiden Seiten von Athenern abstammten. Dies Schloß Teile der Bevölkerung aus: die Sklaven und die nicht für frei erklärten Siedler. Der Schutz durch das Recht war ein politisches Privileg, das voll nur dem Angehörigen zukam. Der "Fremde" bedurfte eines Bürgers als Vormund, bevor er die Garantien des Rechts in Anspruch nehmen konnte. 156

II. Römisches Reich Das römische Volk (populus romanus) war zunächst die Summe aller freien Bewohner des Territoriums der Stadt Rom 1 5 7 und erweiterte sich kontinuierlich mit ihrer territorialen Ausdehnung. 158 Der Status eines römischen Bürgers wurde originär immer kraft ius sanguinis erworben. Römer wurde von Geburt, wer von einem römischen pater

154

Wiessner, S 92.

153

Ebenda.

156

Mommsen, Römisches Staatsrecht, Bd. 3, 3. Aufl. 1888, S. 247.

157

Bleickert, Die Verfassung der römischen Republik, S. 197ff.

158

Zur geographischen Ausdehnung: Sherwin-White, The Roman Citizenship, S. 3ff.; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 346ff. Das Gebiet betrug bis zum Ende des 5. vorchristlichen Jahrhunderts nicht mehr als 800 km 2 . Durch die Einverleibung fast ganz Latiums infolge des Latinerkrieges (340 bis 338 v.Chr.) vergrößerte sich das Territorium auf 6.100 k m 2 und hatte dann in den Kriegen Roms gegen die Samniten (343 bis 272 v.Chr.) einen Umfang erreicht, den es im ganzen bis auf die Zeit der Eingliederung aller italischen Bundesgenossen in den römischen Bürgerverband (91 / 89 v.Chr.) behalten hat.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

241

familias abstammte. 159 Voraussetzung dafür war in der Regel, daß beide Elternteile zur Zeit der Empfängnis in gültiger Ehe (matrimonium iustum) lebten. 160 Nicht-eheliche Kinder erwarben den Status eines römischen Bürgers, wenn die Mutter zur Zeit der Geburt Bürgerin war. 1 6 1 Derivativ erlangten etwa Sklaven durch "Freilassung" 162 und andere Nichtrömer durch "Individual" 1 6 3 - und "Kollektivverleihung" 164 das römische Bürgerrecht. M i t dem Status des römischen Bürgers, civis romanus, war ein Bündel von Folgerechten verbunden: Der Römer hatte das Stimmrecht in der Volksversammlung 165 und das Recht, ein öffentliches Amt zu bekleiden 166 . Eine weitere Prärogative für die römischen Bürger bestand in der Behandlung unter dem ius civile. 1 6 7 Grundsätzlich nur für Römer 168 galt das urtümliche römische Gewohnheitsrecht und das in den leges und den gesetzesgleichen Quellen (plébiscita, senatusconsulta, usw.) enthaltene gesetzte (positive) Recht. Der Römer besaß das Recht, andere römische Bürger zu beerben. Grundsätzlich nur Römer hatten gewisse verfahrensrechtliche Privilegien wie

159 Dulckeit / Schwarz / Waldstein. Römische Rechtsgeschichte, § 4 V; Kunkel, Römische Rechtsgeschichte, S. 22f., 73f.; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, §§ 17, 31 I I I ; Wiessner, Die Funktion der Staatsangehörigkeit, S. 94 m.\v.N. 160 Die Ehe nach ius civile setzte voraus, daß die Ehegatten römische Bürger waren oder, daß zumindest der Vater Römer war und der Mutter das Recht verliehen wurde, eine gültige Ehe zu schließen (conubium). Andere Ehen wurden als matrimonia non légitima oder matrimonia iuris gentium bezeichnet. Sie konnten nach dem peregrinischen Recht der Ehegatten gültig sein und als solche auch von Römern anerkannt werden. Die aus solchen Ehen stammenden Kinder wurden nicht automatisch mit Geburt Römer, s. dazu: Käser, Römisches Privatrecht, § 6 12. 161

Dulckeit / Schwarz / Waldstein,

162

Dazu: Chantraine, Zur Entstehung der Freilassung mit Bürgerrechtserwerb in Rom, S. 59fF.

Römische Rechtsgeschichte, § 4 V 1.

163 Ein besonders bedeutsamer Anwendungsfall war dabei die Verleihung des Bürgerrechts an Hilfssoldaten nach Ablauf der 25jährigen Dienstzeit. Vgl. Dulckeit / Schwarz / Waldstein, Römische Rechtsgeschichte, § 30 III 2.; zur "Freilassung" vgl. Wieacker. Römische Rechtsgeschichte, § 17 II 2d. 164

Vgl. dazu unten.

165

Zu den Ausnahmen fur Altlatiner vgl. Dulckeit / Schwarz / Waldstein, Römische Rechtsgeschichte, § 4 V3; Voss, Der Grundsatz der "ärgeren Hand" bei Sklaven, Kolonen und Hörigen, S. 117ff. (123ff.) 166

Wiessner, Die Funktion der Staatsangehörigkeit, S. 95.

167

Nichtbürger (hostes, später peregrini) werden nach ihrem angestammten Recht beurteilt. Im übrigen galt für sie das ius gentium, das die Rechtsbeziehungen zwischen ihnen und den Römern regelte, vgl. zur Ausprägung des Personalitätsprinzips in Rom: Sturm, Personalitätsprinzip, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, S. 1588ff.; Schönbauer, Personalitätsprinzip und Privatrechtsordnung im Römerreich, S. 182ff.; Käser, lus Gentium, Köln 1993. 168 Nur ausnahmsweise wurde das ius civile auf Nichtbürger erweitert. Vgl. dazu: Käser, Römisches Privatrecht, § 3 III 1.

16 Ziemske

242

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

den Schutz vor Beamtenwillkür durch das ius provocations 169 und das Recht auf Hilfeleistung durch das ius auxilii 1 7 0 Wichtigste Pflicht des männlichen römischen Bürgers war der Militärdienst. 171 Wie im antiken Griechenland bestand auch in Rom eine Abgrenzung des Inländers gegenüber dem "Fremden". Doch die "Fremdenpolitik" Roms 172 wandelte sich mit zunehmender territorialer Ausdehnung. Das betraf auch das römische Bürgerrecht. Hiervon war allerdings nicht der originäre Erwerb des Bürgerrechts betroffen. Er erfolgte nach wie vor durch Abstammung. Erweitert wurden aber im derivativen Bereich die "Kollektiwerleihungen" des Bürgerrechts auf die unterworfenen Völker. Dies erfolgte nicht einheitlich. Rom verlieh abgestufte Formen des Bürgerrechts. Als Mittel hierzu dienten der Status der civitas sine suffragio 173 , der latinitas 174 und der societas175. Ein Wandel dieser Integrationspolitik setzte in Folge des Bundesgenossenkrieges ein. Das römische Bürgerrecht wurde 89 v.Chr. einheitlich auf alle Italiker übertragen und erstreckte sich über die ganze italische Halbinsel, d.h. nördlich bis zum Po. 1 7 6 Fortan folgte die Verleihung des Bürgerrechts grundsätzlich der Eroberung des Gebietes. Mit der sog. Constitutio Antoniniana aus dem Jahre 212 n.Chr. wurde das römische Bürgerrecht

169 Das Provokationsrecht schützte gegen bestimmte polizeiliche Maßnahmen der Magistrate, insbesondere gegen kapitale Bestrafung und gegen körperliche Züchtigung. Es privilegierte jedoch nicht vor Bestrafung auf Grund einesförmlichen Gerichtsverfahrens, garantierte dieses aber sogleich. Vgl. dazu: Dulckeit / Schwarz / Waldstein, Römische Rechtsgeschichte, § 12 III. 170 Sie beinhaltete das Recht auf Intervention gegen polizeiliche Maßnahmen durch einen anderen Magistrat und durch den Volkstribun. Vgl. dazu: Dulckeit / Schwarz / Waldstein, Römische Rechtsgeschichte, § 12 III. 171 Diese Pflicht war nicht exklusiv. Sie traf auch Fremde. Das römische Heer bestand aus Legionen von cives Romani und Hilfstruppen von peregrini gleichermaßen; Wiessner, Die Funktion der Staatsangehörigkeit, S. 95. 172 Vgl. dazu: Giaro, Fremde in der Rechtsgeschichte Roms, in: Fögen (Hrsg.), Fremde in der Gesellschaft, 1991, S. 39ff. 173 Die civitas sine suffragio beinhaltete alle Attribute des römischen Bürgerrechts mit Ausnahmme des Stimmrechts und wurde den sog. Altlatinem verliehen, d.h. den Einwohnern der im Latinischen Bund vereinigten Gemeinwesen, vgl. dazu: Mommsen, Das Römische Staatsrecht, Bd. 3, S. 282ff.; Sherwin-White, The Roman Citizenship, S. 33ff.; 200ff. 174 Sie wurde Bürgern der Kolonien verliehen und beließ ihnen ihr angestammtes Recht. Mit den Römern gemein hatten sie das commercium. Sie besaßen aber nicht das conubium. 175

Sie beinhaltete das größte Maß an Autonomie, nämlich die Beibehaltung der eigenen verfaßten Ordnung. Politisch hatten ihre Träger keine Rechte in Rom. vgl. dazu Sherwin-White, The Roman Citizenship, S. 214ff. 176 Kunkel-M.-Maly, Der Geltungsbereich des römischen Rechts, § 26; Sherwin-White, The Roman Citizenship, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. 2, S. 33ff.; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, § 17 III.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

243

schließlich allen freien Untertanen des Römischen Reiches derivativ verliehen. 177

§ 42 Das Personalitätsprinzip im Mittelalter /. Frühes Mittelalter

Mit dem Zerfall der staatlichen Ordnung des römischen Weltreichs, zerbrach zugleich die Gemeinschaft von Angehörigen. Keineswegs erlosch aber das Bedürfnis der Individuen, sich erneut zu organisieren und in Gemeinschaft zu treten. Es bildete sich die "Untertanenschaft" heraus. 178 Sie bezeichnet eine persönliche Bindung. 1 7 9 Es war die vertikale Beziehung zwischen dem Monarchen und Vasall, dem Vasall und Untertan, keine Horizontale zwischen Mitgliedern einer Nation oder Bürgern. 180 Aus dieser personalen Verbindung erwuchsen beiden Seiten Rechte und Pflichten. Ursprünglich beendete die Eingehung des Treueverhältnisses (allegiance) eines Untertans sein Recht auf Selbstverteidigung und führte zum umfassenden Schutz in einer unsicheren Welt durch den Monarchen. Die persönliche Loyalität verlangte Ergebenheit. Geheiligte Pflicht war es, Dienste zu erbringen bis hin zur Bereitschaft, das eigene Leben zu lassen. Das angestrebte Ideal war die persönliche Zuneigung in Gehorsam. Der Monarch stand an der Spitze einer deutlich abgeschichteten Bevölkerung. Seine Untertanen schuldeten ihm Gehorsam und als eine Angelegenheit von Ehre und richtigem Verhalten wurde erwartet, daß sie ihn in Friedenswie Kriegszeiten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen. Als Gegenleistung gewährte der Monarch ihnen Land für diese Dienste. Sir Edward Coke umschrieb diese Treuebeziehung oder "allegiance" als ein gegenseitiges, reziprokes Verhältnis von Pflichten:

177 Vgl. hierzu: Wolff, Die Constitutio Antoniniana und Papyrus Gissensis 40 I, 2 Bde., Diss. Köln 1976; zur Bedeutung für das Staatsangehörigkeitsverständnis der Neuzeit: Rust, Staatsangehörigkeit, in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 3392; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, S. 255 m.\v.N. 178

Wiessner, S. lOOff.

179

Dazu: Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt, 1933.

180

Brunner, U n d und Herrschaft, S. 35ff.

244

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Einerseits die Pflicht des Vasallen zu Loyalität und Gehorsam gegenüber seinem Herrn, der ihm gegenüber andererseits als Gegenleistung zum Schutze verpflichtet war (protectio trahit subjectionem et subjectio protectionem) 181 . Zunächst beruhte dieses Verhältnis auf einem persönlichen Vertrag. 182 In einer einzigartigen kirchlichen Zeremonie beschworen beide Teile des Vertrages heilig ihre Pfichten unter Eid. 1 8 3 Es war ein privater Vertrag. Falls eine Seite ihn brach, war die andere von allen Verpflichtungen befreit. Dem König wurde Gehorsam als Angelegenheit des Glaubens und ehrenhaften Verhaltens geschuldet. Ein König im Mittelalter war mehr als Grundbesitzer und militärischer Führer. Er war der Herr, der das Königreich von Gott erhalten hatte. Er war die Quelle der Gerechtigkeit, die göttlich erwählte Autorität auf Erden über alle und jedermann in seinem Königreich. 184

IL Hohes Mittelalter Lehensrechte und -pflichten wurden zunächst gewohnheitsrechtlich auf Abkömmlinge übertragen, wobei dem Lehensherrn die Möglichkeit verblieb, sie auch an Fremde zu verleihen. Die Praxix allerdings verdichtete sich im hohen Mittelalter zur "Erblichkeit" und damit zur Verleihung auf Abkömmlinge. 1 8 5 Nach feudalem Recht war schließlich eine Person, die auf dem Gebiet eines Grundbesitzers geboren war, dessen Untertan und schuldete ihm Treue. Aus dem Geburtsort wuchsen Rechte und Pflichten auf beiden Seiten. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts war der Vorrang des Geburtsortes etabliert. Land und

181 Coke, Institutions, S. 7; 7 Rep.. 5a; zitiert auch in: Joyce v. Director of Prosecutions, (1946) A.C. 347, S. 346ff. (H.L.). 182

Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt, S. 23ff.

183

Kienast, Untertaneneid und Treuevorbehalt in Frankreich und England, 1952.

184 Die königliche Macht war aber nicht grenzenlos. Das mittelalterliche Europa betrachtete die ganze Menschheit als universale Ordnung unter Gott. Innerhalb dieser universalen Ordnung gab es eine Menge unterschiedlicher Autoritäten, jede mit ihrer eigenen Sphäre. Es war wichtig für den Untertan, eine genaue Balance zwischen diesen Autoritäten zu erhalten. Jedermann achtete streng darauf, daß es einen für die zivile Ordnung, einen anderen für herkömmliche Rechte und Gewohnheiten und einen anderen für kirchliche Angelegenheiten als oberste Autorität gab. Päpste, Kaiser und Könige erhielten alle ihre Macht von Gott und waren dazu bestimmt, als Teil eines Ganzen wie Hände, Kopf und Füße eines Körpers zusammenzuarbeiten. Zwar hatte jeder Teil seine eigene Funktion, doch nur als Ganzes war organisches Leben zu erzielen. Das leitende Prinzip war Einigkeit und Zusammenhalt. Die Treue eines Untertan war daher nicht eine Verbindung zu einer souveränen Autorität im modernen Sinne. Sie war Teil eines Zusammenspiels von Verpflichtungen. 185 Ganshof, Was ist das Lehenswesen?, S. 45ff.; Mitteis, S. 55ff.; Moser, Von der Teutschen Lehens-Verfassung, S. 24ff.

2. Kap.: Grndrechtscharakter des Entzugsverbotes

245

Loyalität fugten sich unausweichlich zusammen. Es etablierte sich die von Sir Frederick Pollock und Frederic William Maitland 186 formulierte Regel: "The place of birth is all important."

Diejenigen, die außerhalb der Treue geboren waren, galten als Fremde. Die Bezeichnung "Ausländer" war nicht national, sondern personal bestimmt. Sie umschrieb Individuen, die einem anderen Herrn dienten. 187

§ 43 Die Verfestigung des Personalitätsprinzips und der Übergang zum ius soli im Fall des Robert Calvin Das System der persönlichen Einbindung der Untertanen an das Schicksal des Monarchen wird anschaulich in dem Fall des Robert Calvin (1608). 188 Er bezeichnet nach Clive Parry den wichtigsten Fall in der langen Geschichte des englischen Staatsangehörigkeitsrechts. 189 In ihm sind die reinen Gesetzmäßigkeiten des Common Law hinsichtlich der "Allegiance" zur Krone niedergeschrieben. Langfristig war der Fall bedeutend, weil er einerseits das Konzept der Untertanenschaft (Allegiance) verdeutlicht und andererseits die Fragmente des britischen ius soli, welche England bis 1981 regierte, setzte. 1603 wurde James VI. (1566-1625) von Schottland kraft Erbfolge König von England. Er betrachtete die Vereinigung von Schottland und England zu einem Königreich als primäres Ziel seiner Politik. 1 9 0 Eine Kommission bestehend aus Engländern und Schotten wurde eingesetzt, um Fragen aus der Vereinigung zweier Königreiche zu klären. Hinsichtlich der Zugehörigkeit der Individuen meinten die Kommissionäre, daß alle diejenigen Personen, die in Schottland nach der Personalunion geboren sind, die sog. Postnati, automatisch Unionsbürger seien und zwar aufgrund des Common Law in England. Jene hingegen, die bereits vor der Vereinigung beider Königreiche in Schottland geboren waren, die sog. Antenati, sollten ausschließlich Schotten bleiben und fielen erst durch Einbürgerung kraft eines parlamentarischen

186

History of English Law, S. 458.

187

Ebenda; es war möglich, mehreren Herren Dienste zu erweisen. Bracton diskutierte im 13. Jahrhundert das Problem, daß jemand mehreren Herren Treue schuldete, die sich gegeneinander im Krieg befanden. Im Zweifel seien sie verpflichtet beiden gleichermaßen Hilfe zukommen zu lassen. 188

7 Co. Rep.l.

189

Parry , Nationalitv and Citizenship Laws of the Commonwealth and of the Republic of Ireland, Bd. 1, S. 10. 190

Diimmett / Nicol , Subjects, Citizens, Aliens and Others, S. 60.

246

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Gesetzes in die "Allegiance" zum König von England. Das House of Commons weigerte sich, diese Trennung von Antenati und Postnati zu akzeptieren. Alle Schotten, einschließlich der Postnati, sollten Fremde bleiben. Dieser Standpunkt resultierte nicht primär aus einer nationalen Feindschaft gegenüber allem Schottischen, sondern in erster Linie aus Opposition des englischen Landadels, der im House of Commons dominierte, gegenüber der königlichen Prärogativgewalt. 191 Es wurde argumentiert: In vergangener Zeit beruhte die Begründung der "Allegiance" zum König auf einem Parlamentsgesetz. Sollte sie unter der Herrschaft der Stuarts automatisch kraft Geburt entstehen und zumindest für die Postnati der Parlamentssouveränität entzogen sein? Wenig später änderten die Commons ihre ursprüngliche Ansicht. Um Vorteile aus der Steuerlastverteilung zu erzielen, wollten sie alle Schotten einschließlich der Postnati zu englischen Untertanen erheben. Doch dies scheiterte an dem Widerstand der englischen Richter, wie der Fall des Robert Calvin verdeutlicht. Robert Calvin wurde 1606 in Schottland als sog. Postnatus geboren. Weil er nur als Engländer berechtigt war, Grundbesitz in England zu halten, erhoben seine Vertreter eine Klage vor dem höchsten englischen Gericht. Der richterliche Spruch entschied, daß Calvin als Postnatus englischer Untertan sei, Antenati hingegen seien keine englische Untertanen. 1 9 2 Die Richter stellten für den Erwerb der Untertanenschaft drei Voraussetzungen auf: 1. Geburtsort, 2. Geburtszeit und 3. die bestehende Gehorsamspflicht der Eltern. Calvin wurde unter der Herrschaft von James VI. in Schottland geboren, als jener zugleich schon in Personalunion als James /. König von England und Schottland war. Die Antenati hingegen, die in Schottland geboren waren, als Elisabeth /. (1533-1603) noch Herrscherin von England war, lebten außerhalb ihrer Allegiance und waren daher Fremde. Nach Ansicht der Richter gründete die Untertanenschaft auf der Treue, die ihrerseits auf Macht und Schutz beruhte. Dies war der Grund, warum auch Fremden, die innerhalb der königlichen Autorität und des königlichen Schutzes geboren waren, Treue abverlangt wurde. Jedermann, ob als Eingesessener oder als Fremder, erwarb sie durch Geburt. Wer sie besaß, konnte sie weiter besitzen, selbst wenn er außerhalb des Königsreichs war, denn die königliche Gewalt und der königliche Schutz dehnten sich auch außerhalb des Königreichs aus.

191

Ebenda. S. 61.

192

Calvin's Case (1608), 7 Co. Rep.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

247

Nur sog. feindliche Fremde und Botschafter anderer königlicher Häuser standen unter einer anderen souveränen Gehorsamspflicht. Aus diesem Grunde waren ihre Kinder, die innerhalb des Königsreichs geboren wurden, keine Untertanen, sondern Fremde. Die Bindung aus der persönlichen Allegiance wurde mittels dieser Entscheidung reduziert auf eine vermutete Unterworfenheit aufgrund des Territorialitätsprinzips. 193 Gehorsam wurde nicht mehr kraft einer persönlichen Eidespflicht, sondern kraft Geburt auf dem Territorium begründet. Damit wurde die Doktrin der persönlichen Allegiance aus ihrer mittelalterlichen Herkunft entrissen und in ein das neue Staatsverständnis prägendes ius soli umgewandelt. Das Gericht machte zugleich auch deutlich, daß die Allegiance nicht geteilt werden konnte. 194 Selbst wenn ein König irgendeines seiner Ländereien verlor, blieben die Einwohner doch seine Untertanen. Für den Fall, daß sie erobert werden sollte, bedeutet dies nach Henry Bracton (um 1200-1268), daß sie mehreren Herren zu dienen hatten. Für den Fall, daß der König selbst sie eroberte, hieß es, daß die Einwohner seine Untertanen kraft Eroberung wurden. Calvin 's Case reduzierte die Treue zu einer passiven Gehorsamspflicht und führte dazu, daß zwischen Untertanen einerseits und Niedergelassenen andererseits unterschieden wurde.

§ 44 Die Übernahme des ius soli in den Einwanderungsstaaten Übernommen wurde das entwickelte ius soli Englands in den USA. 1 9 5 Die Loslösung der USA von ihrem kolonialen Mutterland war staatsrechtlich. Sie hatte aber keinen Bruch mit angelsächsischem Rechtstraditionen zur Folge.

193

Dummett / Nicol, S. 63.

194

Ebenda.

193

Wiessner, S. 120f.

248

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Die USA blieben dem britischen Common Law verbunden. 196 Dieser Tradition folgend war die Übernahme auch des ius soli nichts Ungewöhnliches. Sie war aus einem anderen Grunde sogar willkommen: Die USA verstanden sich seit Gründung als "Einwanderungsland". 197 Sie sahen sich auf Grund ihrer als schwach eingeschätzten Besiedlung nicht hinreichend in der Lage, den ihnen zur Verfügung stehenden Raum als Staatsgebiet angemessen zu beherrschen und ihre Staatsfunktionen wahrzunehmen. Sie hatten "Menschenhunger". Das weite Land und die aufblühende Industrie brauchten 196

Mit der amerikanischen Revolution wurde der Status des American citizen geschaffen. Noch vor der formalen Unabängigkeitserklärung v. 4.7.1776 hatte der Continental Congress die Staatsangehörigkeit der 13 Kolonien definiert: "All persons abiding within any of the united colonies and deriving protection from the loss of the same of allegiance to the said laws, and are members of such colony." Nach common-law-Grundsätzen erwarb jeder "Weiße" mit Ausnahme von Diplomatenkindern. der in einem der 13 Staaten nach der Unabhängigkeitserklärung geboren wurde, die US-Staatsangehörigkeit iure soli, allerdings vermittelt durch das Staatsangehörigkeitsrecht der Einzelstaaten. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika v. 17.9.1787 enthielt weder eine Definition der US-Staatsangehörigkeit noch eine Kompetenz zugunsten der Union zur Regelung der Erwerbs- und Verlust- und Entzugstatbestände. Sie setzte den Begriff des "Citizen of the United States" voraus. Eine nähere Ausgestaltung der Erwerbs-, Verlust- und Entzugsgründe unterblieb zunächst gänzlich. Die Verfassung ermächtigte in Art. 1 Section 8 insofern auch nur zum Erlaß von Einbürgerungsgesetzen: "The congress shall have power to establish a uniform rule of naturalization throughout the United States." Entsprechend dieser Regelungsbefugnis erließ die Union die ersten Einbürgerungsgesetze v. 26.3.1790, v. 29.1.1795 , v. 14.4.1802 sowie v. 10.2.1855, die das Ziel verfolgten, fiir die Vereinigten Staaten eine einheitliche Einbürgerungsordnung zu schaffen. Nach ihnen wurde jeder Weiße (free white person), der einen Mindestaufenthalt von abwechselnd zwei bis 13 Jahren in dem Staat hatte, in dem er sich einbürgern lassen wollte, seinen guten Charakter (good character) bewiesen und einen Eid geleistet hatte, fiir die Verfassung der Vereinigten Staaten einzutreten und seiner früheren Treuepflicht (allegiance) abschwor. Einwanderer, die erbliche Titel besaßen oder dem Adelsstand angehörten, mußten diesen Status aufgeben. Noch im Rechtsstreit Dred Scott v. Emerson John A. Sandford (19 Howard 393, 1857) hatte der Supreme Court der Vereinigten Staaten entschieden, daß kein Amerikaner afrikanischer Abstammung Bürger der Vereinigten Staaten kraft Geburt sein könne und seine Entscheidung unter anderem darauf gestützt, daß die Bundes- vollständig von der Landesstaatsangehörigkeit abhänge: "The word citizen in the constitution does not embrace one of the Negro race - a Negro cannot become a citizen - slave not made free by residence in a free state or territory." Vgl. dazu: Schambeck / Widder / Bergmann, Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Nr. 74, S. 355f. Nach dem Sezessionskrieg erließ dann der Kongreß den Civil Rights Act v. 9.4.1866, der Schwarzen gleiche Rechte garantierte. Zu diesem Zwecke stellte er klar, daß auch sie aufgrund der Geburt Bürger der Vereinigten Staaten sind: "All persons born in the United States and not subject to any foreign power, excluding Indians not taxed, are hereby declared to be citizens of the United States". Ausgenommen von der US-Bürgerschaft blieben also nach wie vor die nicht steuerzahlenden Indianer, die erst durch Gesetz v. 2.6.1924 die US-Staatsangehörigkeit erwarben. Um Zweifel an der Gesetzgebungskompetenz auszuräumen, die sich nach Art. 1 See. 8 der Verfassung ausdrücklich nur auf den Erlaß von Einbürgerungsgesetzen bezog, wurde die Regelung des Staatsangehörigkeitserwerbs iure soli durch das 14. Amendment v. Juli 1868 in die Verfassung aufgenommen: "All persons born or naturalized in the United States and subject to the jurisdiction thereof are citizens of the United States and of the state wherein they reside." Damit waren die beiden wichtigsten Ziele der Verfassung durch Ergänzung erreicht: 1. Festlegung des Vorrangs der Bundes- vor der Einzelstaatsangehörigkeit und 2. Gleichstellung der Schwarzen. Vgl. hierzu Gettys, The law of citizenship in the United States, Chicago 1934, Kettner, The Development of American Citizenship, 1608-1870, Chapel Hill (USA), 1978. Zum ganzen: Lang, S. 141ff. 197

Vgl. dazu: Lang, S. 134ff.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

249

Siedler und Arbeitskräfte. Die Bundesstaaten intensivierten die Praxis der Anwerbung. 198 Zwar kamen im Zuge der Kolonisation viele freiwillig, insbesondere die mit Sorgen und Nöten beladenen Einwanderer aus Europa. Aber sie kamen zunächst als Fremde, standen noch in anderen "Treueverhältnissen". Das ius soli ermöglichte vorab, ihre Kinder mit Geburt in der Neuen Welt als eigene Staatsangehörige aufzunehmen und das Staatsvolk in gebotenem Maße zu vergrößern. Das ius soli war abstammungsneutral und kam schon aus diesem Grunde den Bedürfnissen eines Einwanderungsstaates sehr nach. Daher wurde es zunächst herrschendes Prinzip auch in anderen Einwanderungsgebieten der Erde, etwa in Kanada, Lateinamerika oder Australien. 199 Der gesetzliche Zugriff auf in fremder Loyalität stehende Einwanderer und ihre Abkömmlinge war aber nicht unproblematisch. Er beschwor internationale Konflikte, wie den englisch-amerikanische Naturalisationskonflikt des 19. Jahrhunderts, herauf: 200 Am Ende der Französischen Revolution versuchten zahlreiche Engländer und Iren, dem britischen Militärdienst durch Immigration in die USA zu entgehen. Die britischen Behörden erkannten diesen Wechsel der "allegiance" nicht an. Sie belegten die betreffenden Personen mit Strafen und verhafteten sie, wann immer sie ihrer habhaft wurden, u.a. auch auf amerikanischen Schiffen in britischen Häfen. Die USA protestierten gegen diese Praxis erstmals 1796. In einer Protest-Depesche von Außenminister Lewis Cass aus dem Jahre 1859 heißt es: "the moment a foreigner becomes naturalized, his allegiance to his native country is served forever. He experiences a new political birth".

Der nahezu hundertjährige Naturalisationskonflikt 201 um die Angehörigkeit zu Staaten endete erst im Jahre 1870, als ein British Naturalisations Act die US-Position akzeptierte und das Erlöschen der "Allegiance" zur Krone im Falle freiwilliger Einbürgerung in einem fremden Staat anordnete. 202

198

Wiessner, S. 122ff.

199

Zur Ausbreitung des ius soli und ihrer Gründe vgl. die rechtsvergleichende Darstellung von Mossmayer, Der Gebietsgrundsatz im Staatsangehörigkeitsrecht, insbes. S. 72ff. 200

Zur Geschichte des Konflikts: Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, S. 233.

201

Er eskalierte 1812 in eine Kriegserklärung der USA, eines nicht geführten Krieges.

202

Wiessner, S. 101.

250

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

§ 45 Das ius sanguinis in der Französischen Revolution Die rechtspolitische Durchsetzung des ius sanguinis ist immens durch die Französische Revolution von 1789 gefördert worden. 203 In Titel II, Art. 2 Abs. 1 der 1. Revolutionsverfassung vom 3. September 1791 ist es verankert: 2 0 4 "Französische Bürger sind diejenigen, welche in Frankreich von einem französischen Vater gezeugt sind".

Das feudale Treueverhältnis war aber noch nicht gänzlich verdrängt. Es galt in Gestalt des ius soli in Kombination zum ius sanguinis fort. 2 0 5 Darauf deutet schon der Terrritorialbezug in Art. 2 Abs. 1 der Revolutionsverfassung hin. Art. 2 Abs. 2 unterstreicht dies: Auch diejenigen sind Franzosen, die "in Frankreich von einem ausländischen Vater gezeugt sind und ihren Wohnsitz in Frankreich aufgeschlagen haben". 206 Doch das ius sanguinis nahm eine Vorrangstellung ein. Es galt uneingeschränkt, während das ius soli nur in Kombination mit Domizilanforderungen zur Anwendung kam. 2 0 7 Im weiteren Verlauf der Französischen Revolution drang der Gedanke des ius sanguinis stärker durch. Denn das ius soli wurde wegen seiner Wurzeln im Mittelalter als feudalistisch angesehen.208 Es machte "untertänig". Mehr noch: es war "antirevolutionär" und "typisch" für das antirevolutionäre England. 2 0 9 Im Jahre V I I I (1800) des Revolutionskalenders 210 erhob ein Entwurf des Code civil das ius sanguinis zu vorherrschender Geltung. 211 Der Siegeszug des ius sanguinis hielt jedoch in Frankreich nicht dauerhaft an. Napoleon (1769-1821) verlangte Gegenläufiges und Rückkehr zum ius soli. Er hatte "Menschenhunger" und verlangte: Wer in Frankreich geboren

203

Makarov, Allgemeine Lehren, S. 104.

204

Abgedr. in: Günther Franz, Staatsverfassungen, S. 31 Off.

205

Lang,

206

S. lOlf.

Abgedr. in: Günther Franz, Staatsverfassungen, S. 31 Off.

207 Lichter, StAZ 1954, S. 122; Hecker / Tomson, Das Staatsangehörigkeitsrecht Frankreichs einschließlich der Überseegebiete und Kolonien, S. 12. 208

Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, S. 160.

209

Lübbe, in: Abschied vom Superstaat, 1994, S. 48.; vgl. auch Lang, S. lOOff.

210 Am 24.10.1793 führte der Nationalkonvent einen republikanischen Kalender ein, der mit dem ersten Tag der Republik, dem 22.9.1792 (am 21.9.1792 schaffte der Nationalkonvent das Königtum ab) mit der römischen Zählweise (I) begann; Der große Ploetz, S. 779. 211

Lang, S. 105ff.

251

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

sei. habe Franzose zu sein. Napoleon brauchte Soldaten. 212 Er legte aus diesem Grunde Hand auf jeden, der das Licht der Welt in Frankreich erblickt hatte. Bedenken gegen Loyalitätskonflikte wurden beiseite geschoben: Der Vorzug, Franzose sein zu dürfen, überbiete doch alle sonstigen Zugehörigkeitswerte. 213 In der Endfassung des Code civil (1804) setzte sich schließlich eine Regelung durch, die auch die bedingungslosen Befürworter des ius soli wegen der typisch expansiv-frankozentrischen Ausrichtung zunächst beschwichtigte. Der Code civil enthielt als Grundprinzip das ius sanguinis, erweitert allerdings um Elemente des ius soli. 2 1 4 Das bereits von Napoleon vorgetragene militärische und politische Interesse an der Rekrutierung von Einwanderern und ihren Abkömmlingen führte allerdings in Frankreich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts mehrmals zu Initiativen, dem ius soli den prägenden Charakter zu geben. Nach Wiedereinführung der Wehrpflicht im Jahre 1818 erregte nämlich die Verschonung der Ausländer vom Militärdienst schon bald besonderen Unwillen. 2 1 5

§ 46 Zusammenfassung 1.Die Grundsätze des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts 19. Jahrhundert aufgestellt worden.

sind

im

2. Mehrstaatigkeit galt schon damals national wie international "als unerwünscht". 3. Der Grundsatz des ius sanguinis wird gegenwärtig verächtlich dargestellt. Das ius sanguinis ist weder "verdammt" noch "deutsch". 4. Bereits die staatlich verfaßte Gemeinschaft der Antike war eine Gemeinschaft, die auf dem Abstammungsgrundsatz beruhte. 5. Auch das Mittelalter verzichtete nicht auf eine personale Einbindung zu Gemeinschaften. Das frühe und hohe Mittelalter war vom Personalitätsprinzip geprägt. Es füllte die Lücke, die durch die Zerstörung der Staatlichkeit in 212 "Die Einführung des ius soli in Frankreich hatte allerdings eine ideologische Aura: den universalen Anspruch der Republik als gelobtes Land der Freiheit und der Menschenrechte. Gleichzeitig hatte sie aber auch einen pragmatischen Gehalt: den seinerzeitigen Zugewinn an Arbeitern, Soldaten, Steuerzahlern für ein geburtenschwaches, in Kriegen ausgeblutetes Volk." Blumenwitz, Abstammungsgrundsatz und Territorialitätsprinzip, in: ZfP 1994, S. 247ff. (257). 213

Ebenda, S. 110.

214

Brubaker, Staats-Bürger, S. 124f.

215

Brubaker, Staats-Bürger, S. 129ff.

252

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

der nachantiken Zeit entstanden war. Es band die Menschen zu funktionstüchtigen Einheiten in Grund- und Gutsherrschaften. 6. Erst als sich diese Funktionseinheiten den Herausforderungen der Zeit nicht mehr gewachsen zeigten, insbesondere Frieden zu schaffen und zu sichern, brach im Laufe des 13. Jahrhunderts das Zeitalter der Staatlichkeit wieder an. 7. Zunächst knüpften die neuen Staaten Europas an das vertraute Personalitätsprinzip in der Form des ius soli an, was in Zeiten fehlender Mobilität der Gesellschaft zu keinen Spannungen führte. Das ius soli verfestigte sich in England und entwickelte sich aus Gründen des Bevölkerungsmangels in den klassischen Einwanderungsländern wie z.B. den USA fort, was aber zu internationalen Spannungen führte. 8. Zur Renaissance des ius sanguinis kam es dann im Verlaufe der Französischen Revolution des Jahres 1789. 9. In Deutschland ist der noch heute geltende Erwerbsgrundsatz des ius sanguinis im 19. Jahrhunderts eingerichtet worden. Er hat die erste gesamtdeutsche Kodifikation des Staatsangehörigkeitsrechts im Gesetz "Über Erwerb und Verlust der Bundesstaatsangehörigkeit" vom 1. Juni 1870 maßgeblich geprägt. Er wurde damals bewußt institutionalisiert und auch in späteren Reformen rezipiert. 10. Die Bundesrepublik Deutschland hat an der historischen "Einrichtung" der Staatsangehörigkeit festgehalten.

3. Abschnitt: Über die Entwicklungsperspektive der Staatsangehörigkeit

§ 47 Zum Staatsangehörigkeitsverständnis Sind die historisch gewachsenen Grundsätze des ius sanguinis und der ausschließlichen Staatsangehörigkeit angesichts eines neuen Staatsverständnisses 216 für erledigt zu erklären? Vielfach wird behauptet, das Staatsverständnis der Gegenwart sei überholt und das Festhalten an den historischen Prinzipien im Staatsangehörigkeits-

216

Zur Staatsidee vgl.

Laun, Staat und Volk, S. 3 ff,

371ff.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

253

recht vertiefe nur den unzeitgemäßen Staatszustand.217 Die Staaten müßten endlich dem Bedeutungswandel ihrer Funktionen im Staatsangehörigkeitsrecht nachkommen, der mit dem Aufkommen der aufklärerischen Philosophie einzusetzen begonnen habe. Es sei nicht mehr die Gemeinschaft als Mittelpunkt allen staatlichen Interesses zu sehen, sondern das Individuum. Die Staatsangehörigkeit sei also nicht mehr Ausdruck einer das Staatsvolk abgrenzenden materiellen inhaltlichen Funktion, sondern vielmehr diene sie nur noch der Anknüpfung für individuelle Rechten und Pflichten. Von den Befürwortern des ergänzenden ius soli unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit wird immer wieder auf die veränderte Staatsfünktion hingewiesen. Der Staat habe den Interessen der Individuen zu dienen, nicht umgekehrt, wie noch zu Zeiten des Obrigkeitsstaates. Der demokratische Rechtsstaat habe auch das Bild der Staatsangehörigkeit geändert. Der Staatsangehörige sei nicht mehr bloßer Untertan seiner Obrigkeit, sondern aktiver Staatsbürger, der die Gestalt des Staates mitpräge. 218 Zur Stützung ihrer Auffassung verweisen einige Befürworter 219 auf die Mehrstaaterentscheidung des BVerfG, in der diese Wandlung des Staatsbürgerverständnisses in der nachfolgenden Äußerung angesprochen sein s o l l . 2 2 0 "Die früher vorherrschende und zum Teil noch jetzt anzutreffende Vorstellung, es handele sich bei der Zuerkennung der Staatsangehörigkeit um eine Abgrenzung des Staatsvolkes unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten, die der Staat nach seinem Ermessen, allenfalls eingeschränkt durch das Willkürverbot, vornehmen könne, entspricht nicht dem Verständnis des demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Sinne des Grundgesetzes. Dieses Verständnis wird verfassungsrechtlich dadurch gekennzeichnet, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 GG), daß sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorgangen zum Volk hin vollzieht, und daß die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, die für jeden einzelnen mit dem Besitz der Staatsbürgerschaft verbunden sind, zugleich konstituierende Grundlagen des gesamten Gemeinwesens bilden."

Doch die Mehrstaaterentscheidung zeigt zugleich auch, daß das BVerfG neben der Betonung der Individualinteressen keineswegs die ordnungspolitischen Interessen des Staates außer acht lassen wollte. Es wägt statt dessen die

217

Vgl. etwa Begründung des Entwurfs BT-Drs. 12 / 4533, S. 6

218

Lafontaine, FAZ v. 17.9.1993, S. 5, wonach das auf dem Blut beruhende und aus der Zeit des Bismarck-Reiches stammende Staatsbürgerrecht ein Anachronismus sei, für den es keine Rechtfertigung gebe; Rittstieg, NVwZ 1993, S. 762. 219

BT-Drs. 12/4533, S. 6.

220

BVerfGE 37, S. 217ff. (239)

254

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Ordnungsgesichtspunkte 221 des Staates gegen die betroffenen Individualinteressen ab. 2 2 2 "Das verbleibende, überwiegend auf Ordnungsgesichtspunkten beruhende Interesse des Staates an einer Einschränkung mehrerer Staatsangehörigkeiten ist anzuerkennen."

Der Entscheidung ist damit zu entnehmen, daß Individualinteressen keineswegs per se das Staatsangehörigkeitsverständnis dominieren. Ordnungspolitische Notwendigkeiten sind ihnen nach wie vor entgegenzustellen.223 Doch auch Jürgen Habermas 224 will einen Wandel im Staatsverständnis festgestellt wissen, dem die Bundesrepublik Deutschland durch ihr Festhalten an den bestehenden Staatsangehörigkeitsprinzipien nicht Rechnung trage. Habermas sieht gegenwärtig zwei konträre Staatstraditionen im Widerstreit: 225 Die auf Aristoteles (384-322 v. Chr.) zurückgehende (unzeitgemäße) republikanische Tradition stehe der auf John Locke (1632-1704) gegründeten (gewünschten) utilitaristisch-individualistischen Tradition gegenüber. Die republikanische Tradition habe das ethische Verständnis der Staatsbürgerrolle herauskristallisiert. Nach diesem Verständnis sei die Staatsangehörigkeit ein Modell der Zugehörigkeit zu einer selbstbestimmenden, ethnischkulturellen Gemeinschaft. Die Staatsangehörigkeit sei Status; Rechtsfolgen aus ihr seien sekundär. Die Bürger seien dem politischen Gemeinwesen wie Teile eines Ganzen derart integriert, daß sie ihre persönliche und soziale Identität nur im Horizont gemeinsamer Überlieferungen und anerkannter politischer Institutionen ausbilden können. Der Staatsbürger artikuliere sich in der kollektiven Selbstbestimmungspraxis der Gemeinschaft. Die republikanische Tradition der Staatsbürgerschaft erinnere nach Habermas daran, daß die verfassungsrechtlich gesicherten Institutionen der Freiheit nur so viel wert seien, wie eine an politische Freiheit gewöhnte, in die Wir-Perspektive der Selbstbestimmungspraxis eingewöhnte Bevölkerung 221 Diese Richtung hat das BVerfG jüngst in der Entscheidung über die Frage der Zulässigkeit gleichgeschlechtlicher Ehen erneut bestätigt. Mit dem Verweis auf das historisch gewachsene, ordnungspolitische Institutionenverständnis der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG hat es die auf Individualinteressen gestützte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung erst gar nicht angenommen: "Insbesondere sind hinreichende Anhaltspunkte für einen grundlegenden Wandel des Eheverständnisses in dem Sinne, daß der Geschlechtsverschiedenheit keine prägende Bedeutung mehr zukäme, nicht erkennbar." BVerfG (3. Kammer des 1. Senats). Beschl. v. 4.10.1993 - lBvR 640/ 93, abgedr. in: NJW 1993, S. 3058f. 222

BVerfGE 37, S. 217ff. (257).

223

Dazu jüngst auch: Meireis, Aspekte einer Neuregelung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, in: StAZ 1994, S. 24Iff. (246). 224

Staatsbürgerschaft und nationale Identität, = Beitrag in: Faktizität und Geltung, S. 632-660.

225

Staatsbürgerschaft und nationale Identität, S. 13f.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

255

aus ihnen mache. Die rechtlich instituionalisierte Staatsbürgerrolle müsse in den Kontext einer freiheitlichen politischen Kultur eingebettet sein. Der Staatsangehörige solle sich loyal mit seiner Lebensform identifizieren. Darin werde als Postulat ein Gemeinbewußtsein gefordert, das aus der Identifikation mit bewußt akzeptierten Überlieferungen der eigenen ethnisch-kulturellen Gemeinschaft hervorgeht. Das republikanische Modell der Staatsangehörigkeit verleibe den Staatsbürger mit Haut und Haaren in das Gemeinwesen ein. Es mache klar, daß politsche Autonomie kein Selbstzweck sei, den niemand für sich allein, in der privaten Verfolgung je eigener Interessen, sondern nur alle gemeinsam auf dem Wege einer intrasubjektiv geteilte Praxis verwirklichen können. Die Rechtsstellung des Staatsbürgers konstituiere sich durch ein Netz egalitärer Beziehungen reziproker Anerkennung. Sie mute jedem Teilnehmer die Identifikation mit der ersten Person plural zu, nicht nur die am je eigenen Erfolg orientierte Rolle eines Beobachters bzw. Akteurs. Das Gemeinschaftsgefühl werde als Voraussetzung für die Bildung einer staatlichen Gemeinschaft betrachtet. Dagegen würden nach Habermas die zeitgemäßen aufklärerischen Staatslehren des 17. und 18. Jahrhunderts den Staat treffend erst aus der Existenz der Individuen rechtfertigen. Der von Locke ausgehenden liberalen Tradition des Naturrechts zufolge habe sich ein individualistisch- utilitaristisches Verständnis der Staatsbürgerrolle herauskristallisiert. Hier werde die Staatsbürgerschaft nach dem Muster einer Organisationsmitgliedschaft konzipiert, die eine Rechtsstellung begründet. Die Individuen stehen über dem Staat und leisten nur zu dessen Reproduktion, etwa mit Wahlstimmen und Steuerzahlungen, bestimmte Beiträge, um im Austausch dafür höhere Organisationsleistungen zu erhalten. 226 Staatsbürger stünden zum Staat nicht wesentlich anders als Privatleute untereinander, die ihre vorpolitischen Interessen gegenüber dem Staatsapparat zur Geltung bringen. Dieses Staatsangehörigkeitsverständnis mache deutlich, daß politische Autonomie ein Selbstzweck sei, den es gelte, des eigen Nutzens wegen einzugehen. Das Staatsangehörigkeitsverständnis sei entmaterialisiert und auf die Nutzenebene abstrahiert. Indes ist weder der von Habermas konstatierte Wandel in den Grundaussagen der Aufklärungsphilosophie von Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) einerseits und von Locke (1632 - 1704) andererseits feststellbar, noch leidet die Bundesrepublik Deutschland an defizitärer Umsetzung jener Ideale der Aufklärung. Zwar ist zutreffend, daß Aristoteles die Notwendigkeit zur Gemeinschaftsbildung auf das Wesen des Menschen als zoon politicon zurück-

226

Ebenda, S. 3lf.

256

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

führte. 227 Der Mensch ist nach ihm ein auf die Gemeinschaft hin bezogenes Wesen. Er existiert nicht einfach als solcher, sondern ist als Kind, Vater, Mutter, Sklave in eine bestimmte gesellschaftliche Begebenheit hineingestellt. Er ist als Individuum nicht überlebensfähig, sondern nur in der Gemeinschaft, in der er eine bestimmte Aufgabe übernehmen muß. Der Mensch ist auf die Gemeinschaft angewiesen. Denn er ist den Gefahren der Natur ausgesetzt. Er kann sich nicht selbständig bis ins hohe Alter ernähren. Er ist in Krankheitsfällen auf Hilfe anderer angewiesen. Er kann nicht allein alle Fähigkeiten entwickeln, die zu allen Zeiten zum Überleben erforderlich sind. Er ist auf eine arbeitsteilige Gemeinschaft angewiesen. Sein Sexualtrieb führt zur Bildung von Gemeinschaften mit Menschen des anderen Geschlechts, die er wegen des Inzesttabus außerhalb seiner ursprünglichen Gruppe, seiner Sippe oder gar seines Stammes suchen muß. Ebenso tragen das Bedürfnis nach Sicherheit vor feindlichen Stämmen und vor den Gefahren der Natur sowie religiöse Feiern und gemeinsame Spiele zur Bildung erster übergreifender Gemeinschaften bei. Der Staat ist für Aristoteles wie für die meisten Denker des Altertums eine vorgegebene Realität, die über dem einzelnen Menschen steht. Der Staat ist denn auch von Natur ursprünglicher als das Haus oder jeder einzelne von uns. Denn das Ganze muß ursprünglicher sein als der Teil. Für Piaton (427 - 347 v.Chr.) war der Staat eine vorgegebene Notwendigkeit. 2 2 8 Aus der geselligen Natur des Menchen leiten ebenfalls Cicero (106 43 v. Chr.) und Polybius (200 - 120 v. Chr.) den Staat ab. 2 2 9 Auch für Thomas von Aquin (1225 - 1274) war der Mensch ein auf andere Menschen angewiesenes Wesen, das in einer staatlichen Gemeinschaft leben muß. Die staatliche Herrschaft ist von Gott gewollt und daher für den Menschen unabdingbar. 227 Aristoteles, Politik. 1. Buch, 1. Kap.: Das Wesen der staatlichen Gemeinschaft, S. 288; hierzu Spahn, Aristoteles, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. v. Fetscher/ Münkler, Bd. 1, S. 397ff. (407ff.).

Siehe hierzu Dialog des Sokrates mit dessen Freund Kriton. Zum Hintergrund: Sokrates war von der Stadtgemeinde Athen zum Tode verurteilt. Kriton versuchte, ihn zur Flucht zu bewegen. Sokrates hielt dagegen und trank "lächelnd" den Schierlingsbecher unter Einsicht in die staatliche Notwendigkeit der Rechtsbefolgung. Sokrates versetzt sich dialogisch in die Rolle des Gemeinwesens und gab dazu folgende Begründung: "Wir, die wir dich erzeugt, aufgezogen, herangebildet und aller staatlichen Wohltaten ganz so wie auch alle anderen Bürger teilhaftig gemacht haben, erteilen gleichwohl ausdrücklich durch öffentliche Erklärung jedem Athener, nachdem er in die Bürgerliste eingetragen ist und sich mit den Verhältnissen des Staates sowie mit uns, den Gesetzen, bekannt gemacht hat, auf seinen Wunsch für den Fall, daß er mit uns nicht zufrieden ist, die Erlaubnis, mit seiner ganzen Habe fortzuziehen, wohin es ihm gefallt.... Wer von euch aber verbleibt, wohlbekannt mit der Art unserer Rechtsprechung und unserer sonstigen Staatsverwaltung, der hat - so behaupten wir - dadurch bereits tatsächlich seine Verpflichtung anerkannt, unseren Anordnungen Folge zu leisten." Piaton, Sämtliche Dialoge, hrsg. v. Apelt, Bd. 1, S. 95.; s. dazu auch Annas, Piaton, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, S. 369ff. (375ff.). 229 Olshausen, Das politische Denken der Römer zur Zeit der Republik, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, S. 485ff. (505ff. u. 512ff.); Cohen, The Principles of World Citizenship, S. 73f.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

257

Beeinflußt von der aristotelischen Lehre, wonach der Mensch seinem Wesen nach auf die Gemeinschaft angewiesen ist, kommt Thomas von Aquin zum Schluß, daß die Geselligkeit des Menschen die Bildung von Herrschaften im Verband hoher, überfamiliärer Gemeinschaften fordere. 230 "In einer Stadt aber, die die vollendetste Form gemeinschaftlichen Lebens darstellt, hat man das Ausreichen gegenüber allen Lebensbedürfnissen; noch mehr aber in einem größeren Gebiet wegen der Notwendigkeit gemeinschaftlichen Kampfes und wechselseitiger Hilfe gegen die Feinde."

Doch der von Habermas bemerkte Gegensatz über die Bedeutung des Staates in der Aufklärungslehre von Locke ist nicht erkennbar. Locke zweifelte die Notwendigkeit, staatliche Gemeinschaften zu bilden, nicht an. 2 3 1 Er setzte sie voraus - des Friedenszustandes wegen. Sein Ansatz war, die Rechte des Individuums zu sichern und zu stärken. Locke stellte die Individualrechte aber nicht über den Staat, sondern eingebettet in ihn. Ohne Staat waren sie nach Locke gar nicht verwirklichungsfähig: 232 "Mit ihrem Eintritt in die Gemeinschaft verzichten nun zwar die Menschen auf die Gleichheit, Freiheit und exekutive Gewalt, die sie im Naturzustande hatten, zugunsten der Gesellschaft, die durch die Legislative soweit darüber zu verfügen hat, als das Wohl der Gesellschaft es erfordert. Da es aber von jedem mit der Absicht geschieht, sich selbst, seine Freiheit und sein Eigentum umso besser zu erhalten (denn von keinem vernünftigen Wesen kann man voraussetzen, daß es seine Lage mit der Absicht ändere, sie zu verschlechtern), so kann doch nie angenommen werden, daß die Gewalt der Gesellschaft oder der durch sie eingesetzten Legislative sich weiter erstreckte als auf das gemeinsame Wohl".

Kriele verdeutlicht die Kongruenz von Individualrechtsschutz und staatlicher Gemeinschaft eingehend in seiner "Einführung in die Staatslehre" 233 und unterstreicht, daß der von Habermas vorgetragene konträre Ansatz von antiker und neuzeitlicher Aufklärungsphilosophie nicht besteht. Subjektive Rechtsverwirklichung ist nur unter den Bedingungen des gewaltenteilenden Rechsstaats möglich - der im Verlaufe der Geschichte immer wieder bestätigte Lehrsatz der Aufklärung schlechtin! Er wurde bereits in der Staatsphi-

230 Summa Theologica (1267 - 1289). Die deutsche Thomas-Ausgabe, hrsg. von Albertus-MagnusAkademie Walberberg bei Köln, Bd. 18, kommentiert von Utz, Frage 58 sowie Bd. 9, Frage 3.; dazu: Ermacora, Allgemeine Staatslehre, S. 78ff. 231 Dazu: Goldie, Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, S. 275ff. (285f., 327ff.) 232

Two Treaties of Government (1691), II. Buch (Of civil Government, VIII. Kap. §§ 95ff.; dazu: Ermacora. Allgemeine Staatslehre, S. 116f.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 125ff. 233 5. Aufl. Opladen 1994. 17 Ziemske

258

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

losophie der Antike vertreten und in der modernen Aufklärungsphilosophie wiederbelebt sowie aktualisiert. Locke steht damit keineswegs im Gegensatz zu der auf Aristoteles zurückgehenden republikanischen Tradition. Er baut darauf auf. Produkt der einheitlichen Aufklärungsphilosophie ist der gewaltenteilende Rechtsstaat. Er hat sich zwar in verschiedenen Erscheinungsformen herausgebildet; so mag sich das Gewaltenteilungskonzept der angelsächsischen Welt von dem der Bundesrepublik Deutschland in Details unterscheiden. Dennoch sind beiden der geistesgeschichtliche Hintergrund und damit die Grundsätze gemein. In beiden Modellen konkretisieren sich die aufklärerischen Ideale, wie sie seit der Antike und gerade auch von Locke formuliert wurden. Die Bundesrepublik Deutschland leidet nicht defizitär an mangelhafter Umsetzung dieses aufklärerischen Konzeptes. Der Staat unter der Herrschaft des Grundgesetzes ist ein Aufklärungsstaat. Der von Habermas behauptete Handlungsbedarf existiert nicht. Manch einen mag das Entstehungsdatum des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes zu der irrigen Vorstellung verleiten, das Staatsangehörigkeitsrecht sei allein deshalb überholt. 234 Zur Zeit seiner Inkrafttretung 235 am 1. Januar 1914 war Deutschland Kaiserreich im wilhelminischen Verständnis. Sicher mag das deutsche Kaiserreich viele Mängel gehabt haben. 236 Allein deshalb aber auf die Vorgestrigkeit des damals erlassenen Staatsangehörigkeitsgesetzes zu schließen, ist geschichtsblind und unvernünftig. Anderen Orts trifft dieses Verhalten auf kein Verständnis, denn es ist dort nicht mehr nachvollziehbar und führt aus diesem Grunde zu ernsten Irritationen im Umgang mit der Bundesrepublik Deutschland. In England käme niemand auf den Gedanken, die Errungenschaften der Magna Charta allein deshalb herunterzuspielen, weil sie aus dem Jahre 1215 stammt. Die Vereinigten Staaten von Amerika stehen nicht deshalb weniger zu ihrer Verfassung aus dem Jahre 1787, weil unter ihr anfangs noch Apartheid möglich war. Frankreich celebriert die Ideale "seiner" Großen Revolution von 1789 nicht minder, obwohl sie im Grunde nicht dort, sondern in England des 17. Jahrhunderts und in der amerikanischen Revolution (1776 - 1783) angelegt waren und wirkten, sowie in Frankreich selbst infolge des berüchtigten "Terreur" der

234 Paul J. Glauben ist die Tatsache, daß das Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahre 1913 stammt, ein Ausrufezeichen wert: "So stammt das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahre 1913 (!)". Eine Novellierung tut not, in: DRiZ 1993, S. 242.; vgl. etwa auch Brubaker, Staats-Bürger, S. 216: "Es ist bemerkenswert, daß die heutige deutsche Staatsangehörigkeit immer noch durch ein Gesetz aus der Wilhelminischen Zeit geregelt wird." 235 236

Gem. § 41 RuStAG.

Dazu: Kriele, Einführung in die Staatslehre, § 82; insbes. aber auch § 83, wo Kriele den entscheidenden Unterschied von Rule of Law und Rechtsstaat plastisch herausarbeitet.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

259

Französischen Gegenrevolution (1792 - 1794) bis ins 20. Jahrhundert hinein versunken blieben. 237 Darüber hinaus ist die ahistorische Diskreditierung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von unzutreffenden Fakten getragen. Das 1913 in Deutschland favorisierte Abstammungsprinzip war nicht Produkt eines "deutschtümelnden Blutsverständnisses". 238 Es war sachlich legitimiert. 239 Es knüpfte an die Tradition in den deutschen Einzelstaaten des 19. Jahrhunderts an und damit letztlich an die Wiedergeburt des ius sanguinis in der Französischen Revolution. 240 Dem ius soli wurde es auch deshalb vorgezogen, weil es geeigneter erschien, staatliche Eigenart zu wahren. Für das ius sanguinis sprach die begründete Vermutung natürlich gewachsener Loyalität zum Staat. Denn mit der Anknüpfung an die Abstammung schienen im Regelfall gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte Verbindungsglied der Angehörigen zu sein. Darüber hinaus sollte über das ius sanguinis Freizügigkeit für die Staatsangehörigen im Ausland gesichert bleiben. Im Ausland geborene Abkömmlinge Deutscher sollten nicht zufällig wegen ihres nicht inländischen Geburtsortes in die Staatenlosigkeit oder einen anderen Staatsangehörigkeitsstatus als den ihrer Eltern hineinwachsen. Das Abstammungsprinzip diente schließlich der Vermeidung von Mehrstaatigkeit. 241 Habermas irrt, wenn er der Ansicht ist, ein Volk, das diesen Prinzipien noch heute huldige, offenbare Vorgestrigkeit und hinke den Aufklärungsidealen hinterher. Die Bundesrepublik Deutschland liegt im internationalen Vergleich nicht etwa abseits. 242 Sie hält im Gegenteil mit den schon 1913 im Reichs- und Staatangehörigkeitsgesetz formulierten Grundsätzen an der herrschenden internationalen Ausrichtung fest. 243 Habermas selbst ist es, der dazu rät, einen deutschen Sonderweg auf diesem Rechtsgebiet einzuschlagen. Seine Forderung, Staatsangehörigkeit sei an der formalen Trägerschaft von

237 Vgl. hierzu Kriele, Einführung in die Staatslehre, § 44, mit instruktiver Gegenüberstellung angelsächsischer und französischer Demokratie. 238 So aber Helmut Rittstieg: "Das deutsche Blut soll entscheiden, wer gleichberechtigt zur Gesellschaft gehört."; (InfAuslR 1993, S. 118); "Es gilt... nach wie vor das völkisch geprägte Reichsund Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913."(NJW 1990, S. 1401); Fritz Franz, in: Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales. Die Ausländerbeauftrage (Hrsg.), Doppelte Staatsbügerschaft - ein europäischer Normalfall?, S. 192ff. (194): "Der Begriff 'Blut1 wurde gewählt, weil dem Blut, das schon in Goethes Faust 'als ein ganz besonderer Saft' gilt, die Fähigkeit angedichtet wird, vermeintliche Volkstumsmerkmale von Vater und Mutter auf Kind und Kindeskinder zu übertragen". 239 Zur Entstehungsgeschichte vgl. oben §§ 39f.; Hans v. Mangoldt, JZ 1993, 970f.; ders. StAZ 1994, S. 37f. 240

Dazu auch: Löwer, Schriftliche Stellungnahme, S. 159.

241

Vgl. oben § 39.

242

Vgl. dazu oben §§ 30ff. sowie Anhang.

243

Ziemske, ZRP 1993, S. 334ff.

260

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Individualrechten zu messen und erfahre darin erst ihren Sinn, mündet in die im Staatsangehörigkeitsrecht vertretene sog. Rechtsverhältnistheorie.

§ 48 Der verfehlte Ansatz der Rechtsverhältnistheorie im Staatsangehörigkeitsrecht Die Verfechter der sog. Rechtsverhältnistheorie 244 neigen sogar dazu, in den Rechtsfolgen der Trägerschaft von Rechten und Pflichten das Wesen der Staatsangehörigkeit zu sehen. Dies gilt insbesondere für eine behauptete "historisch innige Verbindung von Staatsangehörigkeit und Wahlrecht". 245 Diese Verbindung von Wahlrecht und Staatsangehörigkeit soll sich vor allem in den Menschenrechtsdokumenten der Nachkriegszeit widerspiegeln. Insbesondere Art. 21 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 246 aus dem Jahre 1948 sowie Art. 25 des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte 247 von 1966 sowie Art. 2 des Paktes werden zur Begründung herangezogen. Richtig an dieser Heranziehung ist, daß alle genannten Artikel das Wahlrecht zu einem Menschenrecht erheben. 248 Eine darüber hinausgehende Verbindung zur Staatsangehörigkeit kann indes nicht festgestellt werden. Gerade Art. 25 des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte von 1966 stellt klar, daß Träger dieser Rechte nicht der "Staatsangehörige", sondern ausdrücklich nur der "Staatsbürger" ist. Der Begriff des "Staatsbürgers" ist aber strikt zu trennen von dem des "Staatsangehörigen". 249 Die "Staatsbürgerschaft" ist Inbegriff der Inhaberschaft der politischen Rechte des citoyen actif seit der 1. Französischen Revolutionsverfassung. 250 Mit ihrer Einfuhrung sollte klargestellt werden, daß gerade nicht jeder Staatsangehörige aus seiner Zugehörigkeit zum Staatsvolk politische Rechte besitzt, sondern nur ein besonders ausgegrenzter Teil der 244

Sie geht auf Georg Jellinek zurück; System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 118ff.; heute etwa: Wiessner. Die Funktion der Staatsangehörigkeit, dessen ganzes Werk diesen Gedanken ausgestaltet. Vgl. zur Darstellung der gesamten Ansichten zum Wesen der Staatsangehörigkeit: Makarov, Allgemeine Lehren, S. 2Iff.; Kimminich, Bonner Kommentar, Art. 16 Rdnr. Iff ; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, S. 208; Makarov / v. Mangoldt, Bd. 1, Einl. I, Rdnr. 1-3; Randelzhofer, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 16 Rdnr. 8. 245

Wiessner, S. 221.

246

Vom 10.12.1948, Resolution 217 (III) Universal Declaration of Human Rights, in: United Nations, General Assembly, Official Records third Session (part I) Resolutions (Doc. A / 810) S. 71. 247

Vom 19.12.1966 (BGBl. 1973 II, S. 1534).

248

Wiessner, S. 224.

249

Kriele, Einführung in die Staatslehre, § 22; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 11 II.

250

Lang, S. 105ff.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

261

Bevölkerung. Wie selbstverständlich waren auch damals ganze Bevölkerungsgruppen wie etwa die Frauen von der Wahrnehmung politischer Rechte ausgeschlossen, mithin keine "Staatsbürger". Unbestritten galten aber auch sie bis zu ihrer politischen Gleichstellung Anfang des 20. Jahrhunderts schon damals als "Staatsangehörige". Minderjährigen, sog. Betreute sowie durch staatliche Entscheidung vom Wahlrecht Ausgeschlossenen wird die Wahrnehmung der politischen Staatsbürgerrechte weiterhin vorenthalten. Ohne Zweifel sind sie aber befähigt, Staatsangehörige zu sein. Andererseits sind anerkannte Nicht-Staatsangehörige, nämlich Ausländer, zumindest zu einer beschränkten politischen Teilhabe seit der Reform des Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG berechtigt. 251 Sofern sie EG-Ausländer sind, steht ihnen auf kommunaler Ebene ein Wahlrecht zu. Die Einführung des kommunalen Wahlrechts für EG-Ausländer wird ergänzt durch die Möglichkeit für denselben Personenkreis, im Unionsverband an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen. 252 Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß Staatsangehörigkeit auch dort besteht, wo überhaupt keine oder nur beschränkte politische Teilhaberecht gewährt werden. Niemand bezweifelt ernstlich, daß es auch in Diktaturen wie im "Dritten Reich" oder der bolschewistischen Diktatur ohne Gewährung eines politischen Mitspracherechtes Staatsangehörigkeit gab. Wie die Beispiele der Staatsangehörigkeit des Vatikans sowie der Zugehörigkeit zu den feudalen Kanalinseln zeigen, ist auch in Rechtsstaaten eine notwendige Verbindung von Wahlrecht und Staatsangehörigkeit nicht festzustellen. Die Verbindung von Wahlrecht und Staatsangehörigkeit als dominierendes Rechtsprinzip zu erheben, ist damit insgesamt nicht schlüssig. Die Tendenz ist eher abnehmend. Zunehmend gewähren Staaten Ausländern auf kommunaler Ebene unabhängig von der Staatsangehörigkeit ein politisches Mitspracherecht. Etabliert sind Ausländenvahlrechte auf kommunaler Ebene bereits in Irland seit 1963, in Schweden seit 1976, in Dänemark seit 1981, sowie in den Schweizer Kantonen Neuchâtel (seit 1949) und Jura (seit 1973 hinsichtlich des aktiven und 1980 hinsichtlich des passiven Wahlrechts). 253 Das Kommunalwahlrecht in Portugal erstreckt sich auf ortsansässige brasilianische Staatsangehörige und in Norwegen auf die Angehörigen anderer nordischer Staaten, die mindestens 3 Jahre vor dem Wahltag ihren Wohnsitz in Norwegen begründet haben. Art. 8b des Maastrichter Unionsvertrages enthält

251

Neu eingefügt durch Gesetz v. 21.12.1992 (BGBl. I, S. 2086); zum. Hintergrund: Isensee / Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993. 252

Geiger, EG-Vertrag, 1993, Art. 8b, Rdnr. 1-4.

253

Dazu: Wiessner, S. 235

262

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

für den Bereich der Europäischen Union ebenfalls die generelle Zulassung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer aus anderen Mitgliedstaaten. 254 Wie die Wahlrechtsgeschichte zum britischen Unterhaus zeigt, lag der Schlüssel der Anfangszeit der demokratischen Entwicklung zu keinem Zeitpunkt in der Staatsangehörigkeit, sondern im Besitz. 2 5 Bis Ende des 19. Jahrhunderts blieb für die Besetzung des britischen Unterhauses der Besitz die ausschlaggebende Grundlage. Auch die Entwicklung des Wahlrechts der Bundesrepublik stellt keine notwendige Verbindung von Staatsangehörigkeit und Wahlberechtigung her. Die Regelungen zur aktiven und passiven Wahlberechtigung in §§ 12 und 15 BwahlG bezüglich der Wahlberechtigung im Bund sehen die "deutsche" Nationalität zwar als eine Voraussetzung, machen aber zugleich auch klar, daß neben der Wohnsitznahme bzw. dem ständigen Aufenthalt nur der "Staatsbürger" in Betracht kommt. Aus den Entscheidungen des BVerfG 2 5 6 zum Hamburger und Schleswig-Holsteinischen Kommunalwahlrecht ist ebenfalls keine Verbindung zwischen Staatsangehörigkeit und Wahlrecht herzuleiten. Insoweit das BVerfG auf den Begriff des "Volkes" in Art. 20 Abs. 2 GG und Art. 28 Abs. 1 GG a.F. rekurrierte, meinte es damit nicht das deutsche Volk in seiner Gesamtheit, sondern begrenzt auf die "Staatsbürger". 257 Gleichfalls kann auch die Berufsfreiheit nicht als Koppelungsbegriff zur Staatsangehörigkeit gewertet werden. Die universalen Menschenrechtsdokumente sprechen von der Freiheit der Berufswahl unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Art. 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 258 und Art. 6 des Internationalen Paktes für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 259 garantieren sie als Menschenrecht. Die europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 gewährt "das Recht, im Hoheitsgebiet jeder anderen Vertragspartei gleichberechtigt jede Erwerbstätigkeit aufzunehmen, vorbehaltlich von Einschränkungen, die auf triftigen wirtschaftlichen oder sozialen Gründen beruhen."

254

Geiger, EG-Vertrag, 1993, Art. 8b., Rdnr. 1-2 (Kommunalwahlrecht), Rdnr. 3-4 (Europawahl-

recht). 255

Fetscher, Großbritannien, S. 108ff; Blackburn, The Right to Vote, S. 75ff.

256

BVerfGE 83, S. 37ff. und S. 63ff.

257

Dazu: Isensee / Schmidt- Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993. 258 Vom 10.12.1948, Resolution 217 (III) Universal Declaration of Human Rights, in: United Nations, General Assembly, Official Records third Session (part I) Resolutions (Doc. A / 810) S. 71. 259 Vom 19.12.1966 (BGBl. 1973 II, S. 1570; für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am 3.1.1976, Bekanntgabe v. 9.3.1976 (BGBl. II, S. 428).

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

263

Nach dem Europäischen Niederlassungsabkommen 260 vom 13. Dezember 1955 werden Ausländer bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, wenn sie Angehörige von Vertragsstaaten sind, sogar begünstigt: "Jeder Vertragsstaat wird in seinem Gebiet den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten gestatten, jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit unter den gleichen Bedingungen wie die eigenen Staatsangehörigen auszuüben, wenn nicht wichtige Gründe wirtschaftlicher oder sozialer Art der Erteilung der Erlaubnis entgegenstehen."

Vorbehalte werden gem. Art. 13 des Europäischen Niederlassungsabkommens nur für bestimmte Tätigkeiten im öffentlichen Dienst gemacht, darüber hinaus wenn sie im Interesse der Sicherheit des Staates oder der Landesverteidigung geboten erscheinen. Seit dem EWG-Vertrag vom 25. März 1957 gilt eine Sonderregelung für Marktbürger. 261 Unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit haben sie die sog. vier Marktfreiheiten. Das Recht auf freie Niederlassung und Dienstverkehr, das Recht auf Beschäftigung, das Recht auf gleiche Behandlung und Entlohnung als Arbeitnehmer. Durch die Europäische Unionsverfassung ist die Statusangleichung auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung weiter vorangeschritten. Bestehende Deutschen-Vorbehalte aus Art. 33 Abs. 2 GG und einfach-gesetzlichen Regelungen sind entsprechend anzupassen.262 Auch ist nach den weiteren grundgesetzlichen Regelungen eine wesensnotwendige Koppelung mit der Staatsangehörigkeit nicht zu erkennen. Wenngleich Art. 12 des GG ausdrücklich die Berufsfreiheit nur Deutschen garantiert, so ist doch allgemein anerkannt, daß der Status des Ausländers keinesfalls rechtsfrei, sondern durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet ist. 2 6 3 Ausländer haben durch die einfache gesetzliche Ausformulierung weitgehenden Zugang zu unselbständiger wie selbständiger Erwerbstätigeit in der Bundesrepublik Deutschland. Voraussetzung hierfür ist allerdings ein hinreichend nach den Bestimmungen des Ausländergesetzes legitimierter Aufenthaltsstatus. Mit den Rechtsfolgen hat die Staatsangehörigkeit nach alledem keine wesensnotwendige Koppelung. Sie besteht unabhängig von Rechtsfolgen und damit unabhängig von der Frage, ob die Menschen auch politische oder sonstige Rechte besitzen oder nicht. Zwar gilt faktisch, daß der Umfang der an die Staatsangehörigkeit knüpfenden Rechte in der Demokratie sehr weit ist, 260

BGBl. 1959 II, S. 998.

261

BGBl. II, S. 766, bereinigt durch S. 1678 und 1958 II, S. 64.

262

Zu den einfach-gesetzlichen Grundlagen siehe: § 4 BRRG (dazu: BVerfGE 39, S. 174ff.

(176 f.)), § 9 DRiG, § 37 SG; zum ganzen: Wiessner, S. 314ff. (317). 263 Vgl. dazu BVerfG NJW 1988, 2290ff. (2291); vgl. zur Problematik: Isensee, in: W D S t R L 32 (1974), S. 49ff ; Bleckmann, Staatsrecht II, S. 124ff. (130).

264

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

und in Diktaturen meist auf das Nichts zusammengeschrumpft ist. Doch wäre es verfehlt, deshalb die Staatsangehörigkeit wesensnotwendig über die Summe der an ihr anknüpfenden subjektiven Rechte zu definieren. Dieser Definitionsansatz ist seit Georg Jellinek zwar üblich und auch heute noch weit verbreitet. Jellinek meinte, ein Sklavenstaat sei kein Staat. 264 Damit machte er häufig vorkommende, wünschenswerte, ja für ein Leben in Menschenwürde unerläßliche Eigenschaften des Staates zu notwendigen Elementen des Staatsbegriffs. Der Staatsangehörigkeitsbegriff aber muß von allen Legitimitätsfragen frei bleiben. Wenn man nämlich die subjektiven Rechte der Staatsangehörigen zum Begriffselement der Staatsangehörigkeit und damit des Staates macht, so versteckt man politische Forderungen in Seinsaussagen. Jellinek wollte politische Forderungen aus der Wissenschaft verbannen, aber gleichw ohl nicht ganz von ihnen lassen. Das ist begreiflich, und man wird seiner Forderung, allen Staatsangehörigen subjektive Rechte zu gewähren, nicht ohne Sympathie begegnen. Diese Forderung mit politisch-moralischen Gründen zu erheben, ist indes ehrlicher, als sie im Staatsbegriff zu verstecken. Schließlich ist zu bedenken, daß jeder postulatorische Staatsangehörigkeitsbegriff die Universalität des Völkerrechts bedroht. Nach Kriele ist 2 6 5 "die Universalität des Völkerrechts aber ... ein so ernstes Problem, daß ihre Infragestellung der offenen Diskussion bedarf und ein terminologisches Versteckspiel nicht erlaubt".

Staatsangehörigkeit ist daher Status, Mitglied einer Gebietskörperschaft zu sein und damit einem Heimatstaat zuzugehören. Folgerechte und -pflichten stehen in den unterschiedlichen Staaten im unterschiedlichen Ausmaß zwar "bereit". Staatsangehörigkeit kann von daher auch als "Bereitschaftsstatus" definiert werden. 266 Aber sie vermittelt sie nicht wesensnotwendig.

§ 49 Über die Perspektive der Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft Wie "entwicklungsoffen" muß die Einrichtung der deutschen Staatsangehörigkeit sein, um Zukunftsperspektiven wirken zu lassen? Ius soli und Mehrstaatigkeit werden von ihren Befürwortern u.a. deshalb propagiert, weil 264

Allgemeine Staatslehre, S. 407f.

265

Einführung in die Staatslehre, 5. Aufl. 1994, S. 90.

266

So die Qualifizierung durch Wengler, in: Festschrift für Schätzel, S. 546; ihm folgend Makarov, Allgemeine Lehren, S. 28ff.; Makarov / v. Mangoldt, Bd. 1, Einl. I, Rdnr. 4; Randelzhofer, Art. 16 Rdnr. 9; Kimminich, Bonner Kommentar, Art. 16 Rdnr. 8.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

265

sie das Zusammenwachsen der Völker erleichtern und neue Lebensformen erwachsen lassen sollen, aus denen die gemeinsame zukünftige politische Verfassung interpretiert werden könne. Ius soli und Mehrstaatigkeit bewahrten die Identität des politischen Gemeinwesens und ließen zugleich auch besondere ethnisch-kulturelle Lebensformen im ganzen zu. Nationale Gegensätze könnten so zumindest minimiert werden und der nationale Friedenszustand sich erweitern zu einem Weltfriedenszustand. Die multikulturelle Gesellschaft wird damit zu einer Zielgesellschaft erklärt. 267 Unabhängig davon, ob die gegenwärtigen Beispiele multikultureller Gesellschaften, wie sie in den Vereinigten Staaten oder auch in Jugoslawien praktiziert werden, tatsächlich geeignet sind, Weltfriedenszustände zur verewigen, 268 muß doch im Zusammenhang mit den Institutsgarantien zunächst einmal davon ausgegangen werden, daß derartige Zukunftsperspektiven legitim sind. Wäre unter diesem Gesichtspunkt die Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit entwicklungsoffen, das ius soli und die Mehrstaatigkeit grundsätzlich zuzulassen? Es ist die Frage danach, ob jede politisch geäußerte Zukunftsperspektive geeignet ist, die historische Komponente der Staatsangehörigkeit ohne weiteres zurückzudrängen, oder ob sie nicht im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtungsweise in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gestellt werden müssen. Nach der in der Bundesrepublik Deutschland durch die Rechtsprechung des BVerfG bestätigten herrschenden Auffassung dienen Institutsgarantien gerade dazu, nicht jeder Zukunftsperspektive ohne weiteres volle Ausgestaltungsmöglichkeit zu geben. 269 Worin liegt der Sinn, das Bestehende zu tradieren, es weiter zu führen und zu pflegen? Ist das nicht den Fortschritt hindernder Konservativismus? Cicero

267 Rittstieg, NVwZ 1993, S. 763.; Glotz, Der Imveg des Nationalstaates, 1990; Zuleeg, ZRP 1987, S. 188ff.; dagegen: Uhlitz, RuP 1986, S. 143; ders., ZRP 1987, S. 191ff. 268 Skeptisch und zugleich warnend etwa Irenaus Eibl-Eibesfeldt, Zur Problematik einer multiethnischen Immigrationsgesellschaft, S. 37ff.: "Höchst problematisch ist dagegen Einwanderung Kulturfemer und der Aufbau der von einigen Utopisten so eifrig propagierten multikulturellen Immigrationsgesellschaft. Sie führt ganz sicher zu Konflikten! Dafür gibt es genügend Beispiele und zwar aus aller Welt. Xenophobie und Territorialität gehören zu den Universalien." (S. 50); Erwin K. Scheuch, Zur Soziologie und Ideologie einer multikulturellen Gesellschaft, S. 145ff.: "Für die Beurteilung des Multikulturismus ist bedeutsam, daß die Zeiten hoher Einwanderung in die USA auch Zeiten eines hohen Niveaus an Gewalttätigkeit waren. Um die Jahrhundertwende waren nahezu die Hälfte der weißen Amerikaner Zuwanderer. Dies war eine Zeit großer sozialer Spannungen, die auch mit Gewalt ausgetragen wurden. Streiks führten zu bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen bis hinein in die Zeit des ersten Weltkrieges." (S. 150). 269

Vgl. dazu oben § 37.

266

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

formulierte den Sinn der Pflege von Institutionen klassisch für die römische Republik: 270 "Unsere Republik ist nicht durch das Ingenium eines Mannes, sondern vieler Männer aufgebaut worden, nicht in einem Menschenleben, sondern in vielen Generationen und Zeiltaltern. Kein Genie ist je so groß entstanden, daß es alle Rechtsfragen hätte erfassen können. Alle Begabungen in einem Menschen und zu einem Zeitpunkt vereinigt, vermögen nicht alles umfassend vorauszusehen; Voraussicht ist nur möglich im Umgang mit den Dingen und im Laufe der Zeit."

Cicero machte diesen Gedanken an Beispielen der römischen Geschichte plausibel. Deutlich wird er vor dem Hintergrund der damals verbreiteten Lehre zu den Staatsformen, die eine Verfallslehre war: Monarchie entarte in Tyrannis, Aristokratie in Oligarchie und Demokratie in Ochlokratie, die wiederum in Monarchie und Tyrannis. Dieser Kreislauf sei ein ständiger. Daß Rom ihn durchbrach, lag nach Cicero daran, daß es von dem Willen getragen war, das Erreichte zu verteidigen und zu bewahren. Gelänge es der Republik, diesen Willen mit Weisheit und Glück durchzusetzen, gewänne die Republik die Chance einer dauerhaften Stabilität, und weiterer Fortschritt werde möglich. Gelänge es aber nicht, die "dämonischen" Mächte, die zum Angriff auf die römischen Institutionen angetreten seien, zu bändigen, so werde alles in Jahrhunderten mühsam Erreichte zerstört, und die Republik werde in Tyrannis und Barbarei versinken. 271 Cicero hatte die "Dämonen" konkret vor Augen. Es waren Catilina (um 108-62 v. Chr.), Caesar (100-44 v. Chr.) und Antonius (um 82-30 v. Chr.). Letzterer fand auf Cicero (106-43 v. Chr.) nur noch eine Erwiderung: Er setzte ihn auf die Proskriptionsliste und ließ ihn ermorden. Die Republik entartete für lange Zeit - personifiziert in den Gestalten eines Caligula (12-41 η. Chr.) und Nero (37-68 n. Chr.). Es dauerte bis in die Neuzeit hinein, bis an die zivilisatorischen Errungenschaften der Republik wieder angeknüpft werden konnte. Gleichlautend zu Cicero formulierte Chief Justice Edward Coke (15521634) während des englischen Institutionenstreits im 17. Jahrhundert den Gedanken des Institutionenschutzes, diesmal allerdings erfolgreich, was nicht nur für die Entwicklung Englands, sondern die des gewaltenteilenden Rechtsstaats schlechthin von immenser Bedeutung war. 2 7 2 Damals waren die englischen Rechtsinstitutionen, die sich kontinuierlich aus der Magna Charta von 1215 entwickelt hatten, und die die Grundlage eines gewaltenteilenden Regiments in England bildeten, durch die absolutistischen Ambitionen der Stuartkönige bedroht. Coke hielt diesen absolutistischen Herrschaftsansprü270

De re publica, Buch II, §2.

27 1

Kriele, Recht als gespeicherte Erfahrungsweisheit, S. 85.

27 2

Kriele, Einführung in die Staatslehre, §§ 29ff.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

267

chen entgegen, daß sie die im englischen Recht gesammelte Vernunft preisgeben und damit einen Rückfall in die Barbarei herbeifuhren: 273 "Wenn alle Vernunft, die, in vielen einzelnen Köpfen verstreut ist, in einem einzigen vereinigt wäre, so könnte dieser doch nicht ein solches Recht schaffen, wie es das Recht von England ist. Dieses ist nämlich in vielen Generationenfolgen durch zahllose ernste und bewährte Männer verfeinert und immer wieder verfeinert worden."

Das Argument, daß die rechtlichen Institutionen Erfahrungsweisheit speichern, gewann auch im 20. Jahrhundert an Bedeutung. Der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Otto Wels (1873-1939) erhob es 1933 im Reichstag, als Adolf Hitler (1889-1945) sein Ermächtigungsgesetz abverlangte; denn schon damals waren die Konsequenzen der Inhumanität und Barbarei vorhersehbar. 274 Institutionenschutz macht mithin Sinn. Er gerät nur hier allzu leichtfertig in Vergessenheit. Das mag seinen Grund darin haben, daß angesichts der deutschen Geschichte die auch in ihr - vor allem aber im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland - angereicherten Erfahrungswerte zu wenig herausgearbeitet und damit fahrlässig außer acht gelassen werden. Hier gerät derjenige, der an sie erinnert, bezeichnenderweise in den Verdacht, auch den barbarischen Teil der deutschen Geschichte "konservieren" zu wollen. Es drängt sich überdies die Vermutung auf, daß über neue Begriffsassoziationen das Wort "konservativ" bewußt pauschal diskreditiert werden soll. Wie sonst ist es zu erklären, daß ausgerechnet die "Altkommunisten" in den ehemaligen Ostblockstaaten als "konservativ" bezeichnet werden? Hatten sie das gleiche Verständnis denn von sich selbst? Ihnen ging es nicht im Entferntesten um das gemeinsame Kulturanliegen eines Cicero, Coke oder Wels, den gewaltenteilenden Rechtsstaat zu bewahren. Institutionenschutz im Rechtsstaat ist kein krampfartiges Verteidigen "überholter" Rechtspositionen. Er dient stattdessen der Mäßigung allzu voreilig vorgetragener Absolutheitsforderungen. Er will den Menschen vor seiner eigenen Unfertigkeit schützen, vor allem vor seiner Hybris. Abschließend formuliert etwa Kriele 215 "Gibt es nämlich vernüftige Gründe, die Rechtsinstitutionen zu ändern, so steht ihrer Änderung nichts im Wege. Warum aber soll man Rechtsinstitutionen nicht bewahren, wenn es zu ihrer Änderung einen vernünftigen Grund nicht gibt?"

273

1. Institutionen 138.

27 4

Kriele, Recht als gespeicherte Erfahrungsweisheit, S. 87.

273

Ebenda, S. 88.

268

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Zurück zum Staatsangehörigkeitsrecht: Gibt es vernüftige Gründe, das Staatsverständnis des Grundgesetzes für erledigt zu halten und entsprechend für eine Umstrukturierung des Staatsangehörigkeitsrechts zu plädieren? Auch im internationalen Vergleich sind weder die Staatlichkeit nationaler Einheiten noch das in der Bundesrepublik Deutschland zugrundegelegte Staatsangehörigkeitsverständnis "unmodern". 276 Hinsichtlich der Staatlichkeit ist dies einmal durch die zahlreichen Staatsneugründungen der Länder des ehemaligen Ostblocks dokumentiert. 277 Zum anderen setzt die Weltfriedensorganisation UNO die Achtung des Selbstbestimmungsrechts seiner einzelnen Mitglieder, sprich der Einzelstaaten, nach wie vor voraus. Trotz zunehmender "weltstaatlicher" Aktivitäten hält sie damit weiterhin als Grundlage ihrer Vereinigung an der Rechtssubjektivität der Mitgliedstaaten fest. 278 Gegenwärtig zeichnet sich keineswegs zwangsnotwendig ein Prozeß ab, der zielgerichtet auf die Abschaffung der Einzelstaatigkeit gerichtet ist. 2 7 9 Dieser Prozeß mag teilweise vorhanden sein, er ist aber international nicht gleichmäßig, teils sogar rückläufig. Daß in dieser Umbruchphase insgesamt die Einzelstaatigkeit und die mit ihr verbundene einzelne Staatszugehörigkeit keineswegs an Bedeutung verloren hat, unterstreichen die Maastrichter Unionsverträge Anknüpfungspunkt für das "zukünftige" Europäische "Staats"volk ist der Unionsbürger gem. Art. 8 ff. EGV. Wer allerdings zu dem Kreis der Unionsbürger zählt, ergibt sich aus Zugehörigkeit zu den einzelnen Mitgliedstaaten, sprich aus der Staatsangehörigkeit der Einzelstaaten. Eine unmittelbare Unionsbürgerschaft ist nicht begründet. 280

276

Dazu: Ziemske, ZRP 1993, S. 334ff.

277

Zu den Ausgestaltungen der neuen Staatsangehörigkeitsregelungen: Levits, StAZ 1992, S. 171ff. (Rußland); Zimmermann, StAZ 1992, S. 118ff.(Litauen); Leonhardt, StAZ 1992, S. 24ff. (Rumänien); Gec-Korosec, IPRax 1993, S. 118ff. (Slowenien). 278 Vgl. dazu Art. 1 Nr. 2 der Uno-Charta v. 26.6.1945: "Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele:

2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und der Selbsbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen;.." Art. 2 der Uno-Charta: "Die Organisation und ihre Mitglieder handeln im Verfolg der in Art. 1 dargelegten Ziele nach folgenden Grundsätzen: 1. Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder...". 279 Hierzu: Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, insbes.: ders., Nachwort; Europa- die politische Erfindung eines Erdteils, ebenda, S. 103ff. sowie Kirchhof,\ Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, S. 63ff. sowie Schäfer, Europas Einheit: Herkunft, Ziel, Form, S. 9ff. 280

Hobe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Maastrichter Vertrag, in: Der Staat 1993, S. 20ff.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

269

Insofern bleiben die Ausführungen von Habermas, nach denen "Staats- und Weltbürgerschaft ein Kontinuum bilden, das sich immerhin schon in Umrissen abzeichnet" 281 , These. Sir Ralf Dahrendorf stellt dagegen: 282 "Wie man sich auch dreht und wendet, j a windet, die Nation ist wieder da und der Nationalstaat mit ihr, und zwar hier, mitten in Europa, in Deutschland."

Und speziell an die deutschen Intellektuellen gerichtet, fahrt Dahrendorf fort: 2 8 3 "In der These von der Irrelevanz des Nationalstaats liegt selbst ein antiinstitutioneller Zug, ein Mißverstehen, ja Nichtverstehen der elementaren Voraussetzungen der Freiheit. Die These ist insofern eine neue Form der alten deutschen Schwiemeligkeit angesichts aller Institutionen und der damit allzuoft verbundenen Bereitschaft, diese für wolkige Versprechungen und Hoffnungen aufzugeben."

Im gegenwärtigen Zustand das historische Staatsverständnis in Frage zu stellen, hieße von vornherein Institutionen preiszugeben, ohne daß sich die Staatengemeinschaft selbst in der Zielverwirklichung klar wäre, welche verfaßte Form sie zukünftig einzugehen gedenkt. Das historische Staatsverständnis in dieser Situation für erledigt zu halten, ginge überdies Risiken ein, die ebenfalls aus guten historischen und auch gegenwärtigen Gründen nicht eingegangen werden sollten. Verfaßte Staatlichkeit bedeutet Friedenssicherung. 2 8 4 Wo sie zerstört ist, sind Krieg und Unruhe die Folge. Das sind die historischen Lehren aus der Staatsgründungszeit gegen Ende des Mittelalters. Sie bleiben dort aktuell, wo Staatlichkeit zerfallen ist, wie die Beispiele Libanon und Jugoslawien anschaulich dokumentieren. Die Institution der deutschen Staatsangehörigkeit besitzt Entwicklungsoffenheit. Gegenwärtig allerdings zeichnet sich kein erkennbares Bild ab, wohin die internationale Entwicklung steuert. Die völkerrechtlichen Organisationen halten zunächst selbst an bewährten Rechtsinstitutionen fest. 285 Aus diesem Grunde sollte auch die Bundesrepublik Deutschland nicht klüger sein wollen als der Rest der Welt und es folglich unterlassen, voreilig Änderungen an Grundstrukturen im Staatsangehörigkeitsrecht vorzunehmen. Dies gilt umsomehr, als der internationale Vergleich der Staatsangehörigkeitsrechte zeigt, daß das ius sanguinis sowie der Grundsatz der ausschließlichen Staats-

281

Staatsbürgerschaft und nationale Identität, S. 34.

282

Die Sache mit der Nation, S. 823ff. (823.)

283

Ebenda, S. 827.

284

Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 237.

285

82ff.

Vgl. dazu auch: Roos. Personalität, Nationalität und "Multikulturelle Gesellschaft", S. 63ff.,

270

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

angehörigkeit in den meisten Staaten gepflegt werden. 286 Kirchhof weist zu Recht auf die Gefahren der ideologischen Anfeindung dieses Grundgedankens hin: 2 8 7 "Die Bewegung der Internationale huldigt der Utopie einer weltumspannenden Herrschaft, in der sich die Unterscheidung nach Staatsbürgerschaften und demnach die Staaten auflösen, die sich damit aber auch der kulturellen Bindungen und regionaler Verwurzelung entledigt, ihre konkrete und überschaubare Verfaßtheit verliert und in der selbst das elementarste Individualrecht, die Freiheit auszuwandern und in einem anderen Staat Asyl zu suchen, seine Anwendungsvoraussetzungen einbüßt."

Isensee resümiert in die gleiche Richtung: 288 "Die Gemeinschaft zeigt auch in den Maastrichter Zukunftsperspektiven keine Vision eines Vaterlandes Europa, die das von de Gaulle konstatierte Europa der Vaterländer' ablösen könnte."

Auch nach Isensee gibt es keinen Zugang zu Europa ohne die Vermittlung durch die Nation: 2 8 9 "Der Idee der europäischen Einheit korrespondiert nicht der Status des Einheitseuropäers. Denn Europa lebt nur in der Vielheit seiner Völker."

Deutsche Europäer sind nicht deshalb von vornherein schlechte Europäer, wenn sie - wie ihre Nachbarn - sich selber akzeptieren und weitere Übertragungen nationaler Souveränitätselemente an supranationale Einrichtungen nicht für angemessen halten. Der mißbrauchte und enttäuschte Patriotismus in Deutschland sollte nicht über eine kompensatorische Selbstpreisgabe zu einer erneuten Isolation und damit dem bekannten deutschen Sonderweg führen.

286 287

Vgl. oben §§ 30ff. sowie Anhang. Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, S. 63ff

(79f.). 288

Nachwort: Europa - die politische Erfindung eines Erdteils, S. 103ff. (136).

289

Ebenda, S. 137.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

271

§ 50 Zusammenfassung 1. Ein Wandel des Staats- und Staatsangehörigkeitsverständnisses - wie von Habermas konstatiert - hat nicht stattgefunden. Auch die aufgeklärte Neuzeit setzt für die Interessenwahrung des Individuums die verfaßte staatliche Gemeinschaft voraus. Gerade erst Staatlichkeit selbst schafft die Bedingungen subjektiver Rechtsverwirklichung. 2. Ein Wandel im Staatsverständnis ist auch nicht durch Öffnungsneigung zu überstaatlichen Organisationen angelegt, wie sie beispielsweise in der Europäischen Union zum Ausdruck kommt. Der Staat befindet sich nicht in Auflösung, um in einer größeren, ja letztlich Europäischen Union aufzugehen. Wie im Maastrichter Vertragsurteil des BVerfG ausgedrückt, ist dieser Zustand gegenwärtig noch nicht erreicht. Auch die Europäische Union setzt die Staatlichkeit seiner Mitglieder geradezu voraus. Sie ist kein Bundesstaat. Sie ist nicht den Vereinigten Staaten von Amerika vergleichbar.

4. Abschnitt: Die staatsangehörigkeitsrechtliche Bestandsgarantie als Komponente der Institutsgarantie

§ 51 Die Kongruenz von Entzugsverbot und Erwerb der Staatsangehörigkeit /. Auswirkungen auf das Erlöschen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG enthält durch das Verbot, die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen, inhaltlich relevante Vorgaben für das Staatsangehörigkeitsrecht: Der Inhaber der Staatsangehörigkeit ist vor ihrer zwangsweisen Wegnahme individuell wie kollektiv geschützt (Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG). Die deutsche Staatsgewalt ist damit auf die inhaltliche Regelungsbefugnis bloßer Verlustgründe beschränkt (Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG). Diese Regelungsreduktion ist historisch durch die Zwangsausbürgerungen im "Dritten Reich" begründet. Die Praxis der Zwangsausbürgerungen der ehemaligen D D R 2 9 0 bis zu ihrem Beitritt bestätigt die Notwendigkeit ihrer Aufrechterhaltung auch für heute.

290

Vgl. oben § 27.

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

272

Verwaltungsrechtlich hat das Entzugsverbot besondere Auswirkungen auch im Umgang mit Einbürgerungen. Einmal in den deutschen Staatsverband aufgenommen, erstreckt sich wegen der Bestandsgarantie des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG eine nachträgliche Kontrolle der Aufnahme auf eine bloße Rechtskontrolle, die zudem gegenständlich nur noch auf den derivativen Erwerb und hierbei zeitlich nur auf den Einbürgerungsakt selbst bezogen werden darf. Der Widerruf des Aufnahmeaktes gem. § 49 VwVfG ist untersagt, womit Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte als Grundlage einer Aufhebung gänzlich entfallen, denn er geschähe unabhängig vom Willen des betroffenen Staatsangehörigen auf Grund eines einseitigen staatlichen Aufhebungsaktes. Er wäre "Entzug" der deutschen Staatsangehörigkeit i.S.d. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 G G 2 9 1 Zulässig ist nur die Rücknahme gem. § 48 VwVfG mit ihren engen tatbestandlichen Voraussetzungen, insbesondere der Rechtswidrigkeit des Aufnahmeaktes zum Zeitpunkt des Erlasses. 292 Zwar regelt § 48 VwVfG tatbestandlich eine "Wegnahme" einer erworbenen Rechtsposition. Auch § 48 VwVfG ist einseitiger Hoheitsakt, der den Willen des Betroffenen nicht berücksichtigt. Doch liegt gleichsam kein Verstoß gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG vor, wenn die mittels Verwaltungsakt im Wege der Einbürgerung verliehene Staatsangehörigkeit gem. § 48 VwVfG im nachhinein aufgehoben wird. Denn Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG schützt nach h.M. - wie etwa Art. 14 GG - nur die "wohlerworbene" Rechtsposition. 293 Die durch falsche Angaben erschlichene Einbürgerung fallt nicht in den Schutzbereich der Norm. Gleichwohl ist der davon Betroffene aber nicht rechtlos gestellt. Nach dem Grundrechtsverständnis bleibt ihm der Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG und damit die Möglichkeit, die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Aufhebung des Einbürgerungsaktes gem. § 48 VwVfG einzuklagen, notfalls bis zum BVerfG. In allen anderen Fällen ist aber die "Wegnahme" der Staatsangehörigkeit auch für Eingebürgerte untersagt. Der nachträglich in das Staatsvolk Aufgenommene soll auf die Zugehörigkeit zu ihm vertrauen dürfen, so als wäre er Träger originär erworbener Staatsangehörigkeit. Nachträglichen Konkretisierungen etwaigen Konfliktpotentials kann dagegen nicht mehr mit staatsangehörigkeitsrechtlichen Mitteln entgegengetreten werden. Gegen den Willen des Betroffenen kann der Staatsangehörigkeitsstatus nicht aufgehoben werden. Der Verlust dieses existentiellen Status 294 bleibt für den Betroffenen also immer beeinflußbar. Rechtssicherheit hat hier zu Recht Vorrang vor Gefahrdun-

291

So die h.M., Makarov / v. Mangoldt, Art. 16 Rdnr. 8 m.w.N.

292

Randelzhofer,

in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 16 Rdnr. 53.

293

Randelzhofer,

Art. 16 Rdnr. 53.

294

§22.

Zur existentiellen Bedeutung der Staatsangehörigkeit: Kriele, Einführung in die Staatslehre,

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

273

gen aus nachträglich eingetretenen Konflikten auch im Interesse des Staates selbst.

IL Auswirkungen auf den Erwerb Das Entzugsverbot beinhaltet aber nicht nur eine Einschränkung der Erlöschenstatbestände im Staatsangehörigkeitsrecht, sondern führt systemimmanent auch zu Auswirkungen auf die Erwerbsgründe. Sie überläßt keineswegs dem Gesetzgeber, inhaltlich frei die Erwerbsgründe der deutschen Staatsangehörigkeit nach Belieben aufzustellen. Dies mag zunächst verwundern, weil Art. 16 Abs. 1 GG ausdrücklich nur die "Erlöschensseite", nicht aber den "Erwerb" der Staatsangehörigkeit erwähnt. Satz 1 der Norm betrifft den "Entzug", Satz 2 den "Verlust" der deutschen Staatsangehörigkeit. Doch schon im Mehrstaater-Beschluß wies das BVerfG 2 9 5 auf die Kongruenz beider Seiten des einheitlichen Schutzgutes der Staatsangehörigkeit hin: "Der inneren Beziehung des freien Bürgers zu einem freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen entspricht es, daß seine Staatsbürgerschaft als grundsätzlich unentziehbar gewährleistet ist (Art. 16 Abs. 1 GG). M i t alledem wäre die Auffassung unvereinbar, die Entscheidung über den Erwerb eines derart bedeutsamen Status könne im freien Belieben von Staatsorganen stehen; auch würde es nicht genügen, die Regeln darüber lediglich sach- und systemgerecht auszugestalten."

Der vom BVerfG angesprochene Regelungszusammenhang von Bestand und Erwerb von Grundrechtspositionen ist dem Grundrechtsverständnis immanent. Er ist vom BVerfG grundsätzlich vorausgesetzt und nicht nur speziell für die Staatsangehörigkeit in der oben erwähnten Entscheidung formuliert. Bei der Auslegung anderer grundrechtlicher Schutzgüter legt das BVerfG den Kongruenzgedanken ebenfalls zugrunde. Er läßt sich allgemein wie folgt fassen: 1. Die in den Grundrechten erwähnten Schutzgüter sind immer ganzheitlich erfaßt, selbst dann, wenn der Wortlaut der betreffenden Grundrechtsnorm nur einen besonderen Teilausschnitt hervorhebt. 2. Die in den Grundrechten formulierten Schutzgüter sind Leitbezeichnungen. Sie leiten den verfassungsrechtlichen Schutz zwar in eine gewisse Richtung, in der auf Grund von Erfahrungswerten besondere, sprich grundrechtliche Gewährleistung von Nöten ist. Doch diese Ausrichtung hat nur Priorität. 295

BVerfGE 37, 217ff(239) = NJW 1974, 1609.

18 Ziemske

274

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Sie besitzt aber keine Exklusivität. Andere Teilbereiche des Schutzgutes sind von der Grundrechtsgarantie nicht etwa deswegen ausgenommen, weil sie nicht in der Grundrechtsnorm genannt sind. Anschaulich verdeutlicht die Apotheker-Entscheidung des BVerfG das Kongruenzmodell. Der Beschwerdeführer wandte sich gegen die auf "gesetzliche Vorschriften" gestüzte Versagung, eine Apotheke zu errichten. Zur Begründung führte er aus, die Ablehnungsbescheide verletzten ihn in seinem Grundrecht der "freien Berufswahl", das angesichts der Wortlautfassung des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG nicht eingeschränkt werden dürfe. Nur die "Berufsausübung" stünde unter Gesetzesvorbehalt und könne entsprechend den "Gesetzen über das Apothekenwesen" geregelt werden, um die es aber hier gerade nicht gehe. Art. 12 Abs. 1 GG lautet: "Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausübung frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden".

Die Abgrenzung zwischen "Berufswahl" und "Berufsausübung" wuchs im Zusammenhang mit der "Berufsaufnahme" zu einem Dogmenstreit. Von der höchstrichterlichen Rechtsprechung wurde die "Berufsaufnahme" zur "Berufsausübung", von Teilen der Literatur hingegen zur "Berufswahl" gerechnet. Das BVerfG 2 9 6 beendete diesen Streit mit Urteil vom 11. Juni 1958: "Beurteilt man die EingrifTsmöglichkeiten des Gesetzgebers in den grundrechtlich geschützten Bereich von der Verfassungsbestimmung her, so könnte der Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 GG darauf hindeuten, daß Eingriffe nur bei der Berufsausübung zulässig sein sollten, während die Berufswahl der gesetzlichen Regelung schlechthin entzogen wäre. Das kann indes nicht der Sinn der Bestimmung sein. Denn die Begriffe Wahl' und Ausübung' des Berufs lassen sich nicht trennen, daß jeder von ihnen nur eine bestimmte zeitliche Phase des Berufslebens bezeichnete, die sich mit der anderen nicht überschnitte; namentlich stellt die Aufnahme der Berufstätigkeit sowohl den Anfang der Berufsausübung dar wie die gerade hierin - und häufig nur hierin - sich äußernde Betätigung der Berufswahl; ebenso sind der in der laufenden Berufsausübung sich ausdrückende Wille zur Beibehaltung des Berufs und schließlich die freiwillige Beendigung der Berufsausübung im Grunde zugleich Akte der Berufswahl".

Das BVerfG interpretierte Art. 12 Abs. 1 GG entgegen der Wortlautfassung als ein einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit, das als solches dem Schrankenvorbehalt der sog. Dreistufenlehre untersteht. 297 Denn: 2 9 8 296 297

BVerfGE 7, 377ff. (401).

Dazu Anmerkungen von Kriele in: Kriele, Entscheidungssammlung für junge Juristen. Grundrechte, S. 76ff.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

275

"Die beiden Begriffe (Wahl und Ausübung) enthalten den einheitlichen Komplex der Berufsfreiheit von verschiedenen Blickpunkten her".

Die Entscheidung wurde anfänglich als "Rechtsschöpfung", die durch Auslegung nicht gedeckt sei, kritisiert 299 , fand aber schnell allgemeine Anerkennung, nicht zuletzt wegen ihrer Praktikabilität, und ist heute unangefoch300

ten. Die Rechtsprechung des BVerfG zu den sog. negativen Freiheiten bestätigt die im Apothekenurteil niedergeigte "ganzheitliche" Betrachtungsweise zum Grundrechtsschutz. Art. 9 GG erfaßt etwa vom Wortlaut ausdrücklich nur die "positive" Freiheit, Vereine oder Koalitionen zu bilden oder ihnen zuzugehören. Unbestritten ist nach der Judikatur des BVerfG auch ihr Gegenteil gewährleistet. 301 Niemand darf gezwungen werden, von diesen Freiheiten Gebrauch zu machen und niemand muß aus dem Nichtgebrauch Sanktionen fürchten. 302 Die ganzheitliche Betrachtung des erwähnten Schutzgutes ist an anderen Stellen, wie etwa der Institutsgarantie der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG oder der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, evident. Dem Gesetzgeber steht es nicht zu, Ausgestaltungen dieser Garantie ohne jedwede Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgabe aus Art. 6 oder Art. 14 GG anzustellen, sondern er ist immer an die Wahrung des "verfassungsrechtlichen" Eheverständnisses oder Eigentumsbegriffes gebunden. 303 Wenn etwa die Verfassung die Ehe als eine nur durch Hoheitsakt eingehbare, nicht durch die Vertragsparteien einverständlich auflösbare Dauerbeziehung zwischen Frau und Mann als Institut garantiert und den Gewährleistungsgehalt der Institutsgarantie mit bestimmten Schutz- und Forderungsrechten gegen den Staat ausstattet, so kann es nicht sein, daß der einfache Gesetzgeber dieses Institut umdefiniert in eine formlos eingehbare und frei auflösbare Beziehung zwischen Gleichgeschlechtlichen.304 Denn dies hieße im Ergebnis, daß eine völlige Inkongruenz zwischen institutionell gewährleistetem Rechtsbestand und der Entstehungs- und Bestandsvoraussetzungen einträte.

298

Ebenda.

299

Rittstieg, Altemativ-Kommentar zum Grundgesetz, Art. 12.

300

Gubelt, in: Grundgesetz-Kommentar, Art. 12 Rdnr. 40.

301

Zu Art. 9 Abs. 1 GG (negative Vereinigungsfreiheit): BVerfGE 10, 89ff. (104); 38, 281ff. (297f.); 50, 270ff. (354). Zu Art. 9 Abs. 3 GG (negative Koalitionsfreiheit): BVerfGE 50, 290ff. (367); 55, 7ff. (21); 73, 261ff. (270). 302

Dazu auch: Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 285f.

303

Papier, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 14 Rdnr. 57.

304 So im Ergebnis BVerfG in der Begründung der Verfassungswidrigkeit gleichgeschlechtlicher Ehen, abgedr. in: NJW 1993, S. 3058f.

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

276

Ähnlich geregelt ist das Verhältnis der verfassungsrechtlich garantierten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu ihrer gesetzlichen Ausgestaltung. Auch hier ist der Gesetzgeber nicht frei, Inhaltsbestimmungen ohne Berücksichtigung des Bestandsschutzes aus Art. 33 Abs. 5 GG selbst vorzunehmen

3 0 5

men. Die Rechtsprechung des BVerfG würdigt die Bestandsgarantie als besonderen institutionellen Schutz von Grundrechtspositionen, der auf den Schutzbereich der gesamten Grundrechtsnorm ausstrahlt. 306 Je umfassender das Grundgesetz ein Rechtsgut schützt, umso höhere Anforderungen sind an den Erwerb der geschützten Grundrechtsstellung geknüpft. So stellt beispielsweise die Bestandsgarantie des Eigentumsschutz in Art. 14 Abs. 1 GG nicht nur verschärfte Anforderungen an etwaige Beseitigungsverfügungen baulicher Anlagen. Sie hat zugleich auch Auswirkungen auf die Anforderungen an die Erteilung von Bauerlaubnissen selbst. Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums in Art. 33 Abs. 5 GG beinhalten nicht nur einem vermehrten Entlassungsschutz des einmal ernannten Beamten. Die Garantie hat zugleich auch Rückwirkungen auf die Anforderungen an die Beamtenernennung. Vergleichbar hat auch die Bestandsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit in Art. 16 Abs. 1 GG nicht nur Auswirkungen auf die Entzugsseite der Staatsangehörigkeit, sondern enthält weitergehende inhaltliche Bindungen an ihren Erwerb: 307 "Aus Art. 16 Abs. 1 GG ergeben sich auch Schranken und Richtlinien für die materielle Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts. Diese müssen bei Erlaß oder Änderungen eines Gesetzes nach Art. 73 Nr.2 GG beachtet werden."

Das BVerfG hatte bislang keinen Anlaß, die verfassungsrechtlichen Kriterien für den Staatsangehörigkeitserwerb konkret zu benennen. Im Mehrstaaten-Beschluß äußerte es insofern nur die relevanten Orientierungspunkte für den Gesetzgeber: 308 "Die entsprechenden Gesetze müssen die Grundentscheidungen der Verfassung, wie sie vor allem in den Grundrechten zum Ausdruck kommen, beachten und ihrerseits zu deren Verwirklichung beitragen."

Neben den im Grundrechtsteil aufgeführten schutzwerten Individualinteressen sind aber auch kollektive Interessen an der Staatsfunktionenerhaltung 305

Maunz, in : Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 33 Rdnr. 61.

306

BVerfGE 26, S. 11 Iff. (117f.); 47, S. 126ff. (131f.); 83. S. 201ff.; zur neueren Rechtsprechung des BVerwG bezüglich des Bestandsschutzes: Bönker, DVB1.1994, S. 506ff. 307

Maunz, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 73 Rdnr. 58.

308

BVerfGE 37, 217ff. (239) = NJW 1974, 1609.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

277

als Grundentscheidung der Verfassung, wie sie in Art. 1, 20 und 79 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommen, zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang dürfen Konflikte aus Mehrstaatigkeit nicht gänzlich ignoriert werden.

§ 52 Das permanente Konfliktpotential aus Mehrstaatigkeit Mehrstaatigkeit führt zu Kollisionsfällen, die dem staatlichen Interesse an der Aufrechterhaltung seiner staatlichen Funktionen abträglich sind. Über die Personalhoheit hat der Staat die Befugnis, grundsätzlich alle Lebensbereiche seiner Staatsangehörigen im Inland wie Ausland zu regeln. Diese Befugnis wird im Falle der Mehrstaatigkeit mehrfach eingeschränkt. Das BVerfG hatte auf das Konfliktpotential aus Mehrstaatigkeit im Beschluß aus dem Jahre 1974 bereits eindringlich verwiesen und die Reduktion der Personalhoheit in den Bereichen Wehrrecht und Auslandsschutz exemplarisch ausgeführt. 309 Das vom BVerfG zugrundegelegte Konfliktpotential ist auch in diesen Bereichen nach wie vor existent, was seine Entscheidung aus dem Jahre 1990 unterstreicht. 310 Andere Konfliktpotentiale sind ebenfalls vorhanden, neue sogar hinzugekommen. Nachfolgend werden einige dieser Konfliktfelder angesprochen. Die Auswahl ist exemplarisch und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

I. Wahlrechtsgleichheit Ein gravierender Konfliktfall aus Mehrstaatigkeit besteht im Wahlrecht. 311 Das Wahlrecht knüpft im Regelfall, wenn auch nicht ausschließlich, an die Staatsangehörigkeit an. 3 1 2 § 12 Abs. 1 BWahlG lautet: "Wahlberechtigt sind alle Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes, die am Wahltage 1. das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben.

309

Vgl. insoweit Ausführungen zu § 17.

310

Beschluß v. 16.9.1990, abgedr. in: NJW 1991, S. 633.

311

Quaritsch, in: Festschrift für Karl Doehring, 1989, S. 725ff. (738ff.); Hailbronner, rung von Wanderarbeitnehmern, S. 70f.

Einbürge-

312 Auch in der Bundesrepublik Deutschland wird das Wahlrecht an die Deutschen-Eigenschaft geknüpft. Nach § 12 Abs. 1 BWahlG gilt aber daneben die grundsätzliche Anknüpfung an einen inländischen Wohnsitz bzw. einen dreimonatigen Aufenthalt im Inland. Der Anknüpfungspunkt an den Wohnsitz ist allerdings durch die Wahlrechtsreform von 1990 erheblich aufgelockert. (Gesetz v. 21.9.1990 BGBl. I, S. 2059).

278

Teil 3 : Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

2. seit mindestens drei Monaten im Geltungsbereich dieses Gesetzes eine Wohnung innehaben oder sich sonst gewöhnlich aufhalten".

Allerdings bestimmt § 12 Abs. 2 BWahlG: "Wahlberechtigt sind ... auch diejenigen Deutschen, die am Wahltage... 2. in den Gebieten der übrigen Mitgliedstaaten des Europarats leben, sofern sie nach dem 23. Mai 1949 und vor ihrem Fortzug mindestens drei Monate ununterbrochen im Geltungsbereich dieses Gesetzes eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben, 3. in anderen Gebieten außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes, sofern sie vor ihrem Fortzug mindestens drei Monate ununterbrochen im Geltungsbereich dieses Gesetzes eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben und seit dem Fortzug aus diesem Geltungsbereich nicht mehr als zehn Jahre verstrichen sind".

Gem. § 12 Abs. 2 Nr.2 BWahlG besitzen also auch Auslandsdeutsche, die in den Gebieten der übrigen Mitgliedstaaten des Europarats leben und nur irgendwann zwischen dem 23. Mai 1949 und vor ihrem Fortzug mindestens drei Monate Wohnsitz in Deutschland hatten. Für übrige Auslandsdeutsche stellt § 12 Abs. 2 Nr. 3 BWahlG nur die zusätzliche Voraussetzung auf, daß seit ihrem Fortzug nicht mehr als zehn Jahre verstrichen sind. Grundsätzlich behalten damit auch Auslandsdeutsche ihr deutsches Wahlrecht. Sie kommen in den Genuß vermehrter politischer Mitwirkungsrechte, wenn sie Mehrstaater sind und die entsprechenden ausländischen Wahlrechte ebenso großzügig verfahren wie das deutsche und/oder der betreffende Auslandsdeutsche die sonstigen Voraussetzungen ausländischer Wahlordnungen erfüllt. 313 Solange Wahlakte ausschließlich nationale Bedeutung behalten, stellt die Wahlrechtshäufung für Mehrstaater zwar möglicherweise ein politisches Problem, aber zumindest kein ersichtliches Problem der Wahlrechtsgleichheit dar. Anders gestaltet sich die Rechtslage aber bei den nationalen Wahlen, die für die Zusammensetzung internationaler Gremien konstitutiv sind. Das ist der Fall bei den einflußreichen Institutionen der Europäischen Union, dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission. Mehrfache Wahlberechtigung aus Mehrstaatigkeit führt hier zu einem Problem der Wahlrechtsgleichheit. 314 Denn nach gegenwärtigem Verfahren legitimieren sich der Europäische Rat sowie die Europäische Kommission über die jeweiligen nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten. Mehrstaater mit Wahlmöglichkeiten in mehreren EG-Staaten haben auch hier einen erhöhten Zugriff auf die politische Gestaltung über die nationale Legitimierung in den jeweiligen Mitgliedstaaten. Das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit, wonach jedem Wahl313

Quaritsch, Festschrift Karl Doehring, S. 745.

314

Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 967.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

279

berechtigten nur eine Stimme zukommt, steht vor der Gefahr seiner gänzlichen Aushöhlung. 315 Nicht weniger durch Mehrstaatigkeit gefährdet ist das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit bei Direkt-Wahlen internationaler Institutionen. 316 Für die Wahl zum Europäischen Parlament ist zwar in Art. 8 des Aktes zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen bestimmt, daß jeder Wähler nur "einmal" wählen darf. 317 Doch bislang fehlt ein einheitliches europäisches Wahlverfahren, so daß gem. Art. 7 Abs. 2 des Aktes jedem Mitgliedstaat weitestgehend selbst überlassen bleibt, das Wahlverfahren zu bestimmen. 318 Solange den Mitgliedstaaten die Gestaltung dieses Verfahrens zukommt, bleiben Wahlrechtshäufungen für Mehrstaater bestehen. Die Probleme mit der Sicherstellung der Wahlrechtsgleichheit können aber auch bei Erlaß eines einheitlichen Wahlverfahrens nicht völlig ausgeschlossen werden, wenn nicht zugleich ein Meldesystem errichtet wird. Ob allerdings die anderen Mitgliedstaaten dem Beispiel der Bundesrepublik folgen werden und entsprechende Meldepflichten auf ihrem Hoheitsgebiet hinnehmen, bleibt ungewiß. 319 Hans v. Mangoldt macht auf einen zusätzlichen Konflikt aufmerksam. Schon heute besteht in den europäischen Institutionen das Problem der angemessenen Bevölkerungsvertretung. 320 Es stellt sich in diesem Zusammenhang die zusätzliche Frage, welchem der europäischen Völker Mehrstaater, die zugleich mehrere EG-Staatsangehörigkeiten besitzen, für die Berechnung der Abgeordnetenzahl im Europäischen Parlament zuzurechnen sind. Das Problem würde über die generelle Zulassung von Mehrstaatigkeit nur noch vergrößert. Schon heute aber ist es real existent bezüglich gemischt-nationaler Ehen, wenn Ehegatten infolge der Ehe die Staatsangehörigkeit auch des anderen EG-Staates envorben haben. Darüber hinaus besteht es auch bezüg-

315

Ebenda. S. 970.

316

Ebenda.

317 Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung v. 20.9.1976 (BGBl. 1977 II, S. 734) i.d.F. v. 24.6.1994, abgedr. bei: Glaesner, Europarecht, Gr. 12. 318 Die Bundesrepublik hat die Wahlberechtigung in § 6 des Europawahlrechts v. 16.6.1978 (BGBl. I, S. 709) i.d.F. v. 18.3.1994 (BGBl. I, S. 555) entsprechend § 12 BWahlG weit gefaßt; vgl. dazu Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, 1995, der im derzeitigen Zustand einen Verstoß mit den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und Demokratie annimmt (S. 25ff.). 319 320

Zum ganzen: Degen, DÖV 1993, S. 749ff, S. 757; Ziemske, ZRP 1993, S. 334ff (335)

JZ 1993, S. 970; das Gewicht einer Stimme unterscheidet sich um das 20fache, je nach dem, in welchem Mitgliedstaat der Unionsbürger gewählt hat. Dieselbe parlamentarische Repräsentation wie für 100 Luxemburger erreichen ca. 1.300 Franzosen, ca. 1.480 Briten und erst ca. 2.000 Deutsche {Lenz, Einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, S. 33f. unter Verweis auf Kaiser, FAΖ v. 4.8.1993, nach dem die Deutschen in der EG hinsichtlich der Vertretung im Europäischen Parlament am stärksten diskriminiert werden).

280

Teil 3 : Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

lieh der in das Wahlalter hineingewachsenen Kinder, wenn sie mehrfache Staatsangehörigkeiten besitzen.

IL Kreation nationaler Minderheiten

und ihre Folgen

Es ist ferner daran zu denken, daß die grundsätzliche Einräumung von Mehrstaatigkeit "nationale" Minderheiten auch erst kreieren kann. 321 Nur das Prinzip der ausschließlichen Staatsangehörigkeit erfordert Integration in die bestehende staatliche Gemeinschaft; Hinnahme von Mehrstaatigkeit bedeutet zugleich Hinnahme zusätzlicher nationaler Identitäten. Sie führt zur Umbildung der Gesellschaft in multiethnische und -kulturelle Gemeinschaften innerhalb eines Staates.322 Das kann innen- wie außenpolitisch erhebliche Konflikte heraufbeschwören. 3 2 3 Bedenkt man die multikulturellen Konsequenzem zu Ende, bedeutet das auch, daß sowohl das Staatsorganisations- wie das Grundrechtsvprständnis zugunsten "nationaler" Minderheiten mit deutscher Staatsangehörigkeit angepaßt werden müßten. Äußerst problematisch für die erfolgreiche Integration wären politische Parteien "nationaler" Minderheiten, die in engem Kontakt mit der alten Heimat deren außenpolitische Interessen über die Verfassungsorgane der Bundesrepublik verträten. Blumenwitz 324 weist zu Recht darauf hin, daß schon gegenwärtig "nationale" Minderheiten nicht der 5%-Klausel des deutschen Wahlrechts unterliegen. § 6 Abs. 6 BWahlG 3 2 5 bestimmt: "Bei Verteilung der Sitze auf die Landesliste werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. Satz 1 findet auf die von Parteien nationaler Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung."

"Nationale" Minderheitenparteien könnten über diese Privilegierung u.U. sehr schnell das "umstrittene Zünglein an der Waage" im politischen Prozeß der Mehrheitsbevölkerung sein. Diese Vision ist angesichts des Minderheiten

321 322

Blumenwitz, ZAR 1993, S. 151ff. (152f.).

Dazu: Murswiek. Nachbarn, 1994, S. 3ff.

Minderheitenschutz - für welche Minderheiten?, in: Deutschland und seine

323

Blumenwitz, ZAR 1993, S. 155f.

324

Territorialprinzip und Mehrstaatigkeit, in: ZAR 1993, S. 151ff. (156).

325

BGBl. 1975 I, S. 2325 i.d.F. v. 21.9.1990 (BGBl. I, S. 2059).

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

281

generell favorisierenden Verhältniswahlsystems der Bundesrepublik nicht abwegig. 326 Der Grundrechtskatalog müßte ggf. "liberalisiert" werden. Das Institut der Einehe (Art. 6 Abs. 1 GG), die Rechte auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und der Freiheitsschutz insgesamt einschließlich aller strafrechtlichen Schutzbestimmungen müßten u.U. neu überdacht werden. Diese Diskussion hat bereits anläßlich des beabsichtigten ausländischen Minoritätenschutzes durch Ergänzung des Grundgesetzes um Art. 20b GG begonnen, wonach der Staat die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten "achten" soll. 3 2 7 Umsomehr hat der Staat seine Fürsorge Minderheiten teihverden zu lassen, wenn es sich um deutsche Mehrstaater handelt. Muß das deutsche Strafrecht dann nicht endgültig der gewaltsamen Durchsetzung des patriarchischen Gewohnsheitsrechtes eines muslimischen Ehemannes gegenüber Frauen weichen? Wäre das arabische Ausgehverbot für Frauen nach deutschem Recht weiterhin Freiheitsberaubung oder doch eher Ausdruck der geschützten nationalen Identität? Müßten dann nicht auch Koranschulen den gleichen Stellenwert wie staatlich anerkannte christliche Konfessionsschulen erhalten? Dürfte Deutsch überhaupt noch Pflichtunterrichtssprache in den staatlichen Schulen bleiben? 328 Mehrstaatigkeit als Regelfall bedeutet Umstrukturierung der bestehenden staatlichen Gemeinschaft.

III. Internationales

Strafrecht

und Auslieferungsverbot

Im Strafrecht hat der Staat auf Grund seiner Personalhoheit die Befugnis, die eigenen Staatsangehörigen auch im Ausland seinen strafrechtlich sanktionierten Verhaltenspflichten zu unterwerfen. 329 Die Personalhoheit im

326

Vgl. hierzu Ziemske, Ein Plädoyer fiir das Mehrheitswahlrecht, in: ZRP 1993, S. 369ff.

327

Vgl. dazu: Murswiek, Minderheitenschutz - für welche Minderheiten?, in: Deutschland und seine Nachbarn, S. 3ff.; unterschiedlicher Ansatz bei: Hans Alexy, Minderheitenschutz und Grundgesetz, in: Vom Ausländer zum Bürger, S. 18 Iff., insbes. 184ff. 328 Dazu Kriele, Über jeden Grundgesetzartikel einzeln abstimmen, in: Kölner Universitäts Journal, 1 / 1994, S. 28ff. (31) = FAZ v. 21.12.1993, Nr. 296, S. 7; Löwer, Schriftliche Stellungnahme, S. 166. 329

Dreher / Tröndle, StGB-Kommentar, § 7 Rdnr. lf. m.w.N.

282

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Strafrecht gilt in der Bundesrepublik Deutschland nach der Strafrechtsreform vom 1. Januar 1975 allerdings nur eingeschränkt. 330 § 7 StGB lautet: "(1) Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. (2) Für andere Taten, die im Ausland begangen werden, gilt das deutsche Strafrecht, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt und wenn der Täter 1. zur Zeit der Tat Deutscher war oder es nach der Tat geworden ist... ".

Sowohl § 7 Abs. 1 als auch § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB setzen voraus, daß die Auslandstat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. Das eingeschränkt geltende Personalitätsprinzip im Strafrecht will also keineswegs inländische Strafrechtsvorstellungen auf das Ausland übertragen, sondern nur stellvertretend Strafrechtspflege übernehmen. 331 Die (eingeschränkte) Anknüpfung an das Personalitätsprinzip beabsichtigt, zwischenstaatliche Konflikte zu vermeiden, die durch das in Art 16 Abs. 2 GG statuierte Auslieferungsverbot für Deutsche im internationalen Verkehr auftreten können. Art. 16 Abs. 2 GG bestimmt: "Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden".

Über das eingeschränkte Personalitätsprinzip soll verhindert werden, daß der deutsche Auslandsstraftäter sich ins Inland flüchtet und wegen des in Art. 16 Abs. 2 GG vorbehaltenen Auslieferungsschutzes darauf vertrauen kann, strafrechtliche Sanktionen wegen seines Verhaltens im Ausland nicht fürchten zu müssen. Würde sich die Bundesrepublik der stellvertretenden Strafrechtspflege verweigern, könnten möglicherweise sogar internationale Konflikte mit geschädigten Territorialstaaten heraufbeschworen werden. Das Verbot, eigene Staatsangehörige auszuliefern, ist ein international anerkannter Grundsatz. 332 Zwar gilt das Auslieferungsverbot nicht in allen Staaten. Einige Staaten des angelsächsischen Rechtskreises - wie z.B. die USA - liefern auch eigene Staatsangehörige aus. 333 Diese Staaten gehen grundsätzlich vom Territorialitätsprinzip aus, wonach das Strafrecht des 330

Nach § 3 StGB gilt das deutsche Strafrecht grundsätzlich nur für Taten, die im Inland begangen werden. Nach diesem Territorialprinzip kommt es auf die Staatsangehörigkeit des Täters oder der Opfer nicht mehr an. Allerdings sind auch im deutschen Strafrecht Reste des Personalitätsprinzips erhalten geblieben. Zum Schutze Deutscher gem. § 7 Abs. 1 StGB das passive Personalitätsprinzip: das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden. Weiterhin gilt das deutsche Strafrecht gem. § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB aber auch dann, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher war oder dies nach der Tat geworden ist. 331

Dreher / Tröndle,

332

Dazu Oehler, Internationales Strafrecht, S. 176ff.

333

Löwer, VR 1990, S. 56ff.

§ 1 Rdnr. 1.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

283

Begehungsortes der Tat zur Anwendung kommen soll. Doch ist das Auslieferungsverbot in bi- und multilateralen Verträgen auch zugunsten von Mehrstaatern formuliert. 334 Soweit das Auslieferungsverbot gilt, entsteht allerdings im Falle der Mehrstaatigkeit ein Problem, beispielsweise wenn ein deutscher Mehrstaater in einem seiner ausländischen Heimatstaaten ein Delikt begeht, das dort unter Strafe steht und sich anschließend in ein anderes Heimatland flüchtet, dessen Strafrecht Auslandstaten nicht unter Strafe stellt oder sogar für wünschenswert hält. 3 3 5 Hier versagen auch internationale Auslieferungsabkommen. Denn sie nehmen in der Regel eigene Staatsangehörige, zu denen auch Mehrstaater zählen, von der Auslieferungsverpflichtung aus. Im Bereich der internationalen Verbrechensbekämpfung tun sich hier Strafverfolgungslücken auf. Bei genereller Hinnahme von Mehrstaatigkeit käme die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verpflichtung nicht nach, internationale Kriminalität wirksam einzudämmen. Im Falle der Mehrstaatigkeit sind aber auch weitere Kollisionsfalle im Strafrecht nicht ausgeschlossen, beispielsweise wenn die weitere Staatsangehörigkeit des Täters nicht die des Tatortstaates ist und sein Tun oder Unterlassen von einem anderen Heimatstaat geradezu gefordert war. Der Kollisionsfall aus der Mehrstaatigkeit wird auch in diesem Fall sichtbar, wenn beide Staaten, deren Angehöriger der Mehrstaater zugleich ist, von dem betroffenen Drittstaat die Auslieferung verlangen. 336 Welchem Auslieferungsersuchen sollte der geschädigte Territorialstaat nachkommen, ohne zugleich die Beziehungen zum anderen ersuchenden Staat zu gefährden? Deutlich wird an diesem Beispiel, daß die Mehrstaatigkeit die Anwendung völkerrechtlicher, hier Auslieferungsverträge, einschränkt. Je mehr Staatsangehörigkeiten eine betreffende Person hat, umso geringer wird die Durchsetzungsmöglichkeit von Auslieferungsansprüchen aus völkerrechtlichen Vereinbarungen. Für die Bundesrepublik Deutschland gilt dies umso mehr, da das Auslieferungsverbot des Art. 16 Abs. 2 GG nicht nur den deutschen Monostaater, sondern auch den deutschen Mehrstaater gleichermaßen erfaßt. 337

334 Das Auslieferungsverbot ist im europäischen Auslieferungsabkommen ausdrücklich formuliert. Bisher haben 19 Staaten dieses Abkommen ratifiziert, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland (BGBl. 1964 II, S. 1369; 1976 II, S. 1778). Der Grundsatz des Auslieferungsverbots wird in der Regel auch in bilateralen Verträgen formuliert. Nach Art. 7 Abs. 1 II des Auslieferungsvertrages mit den USA können nach Ermessen auch eigene Staatsbürger ausgeliefert werden, soweit nicht innerstaatliches Recht dagegensteht, was aber für die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 16 Abs. 2 GG der Fall ist. Vgl. dazu: Kutsch, Auslieferung und sonstige Rechtshilfe in strafrechtlichen Angelegenheiten, 1990. 335

Kammann, S. 150ff.

336

Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 967.

337

V. Mangoldt / Klein, Grundgesetz, Art. 16, S. 481.

284

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

IV. Verlust ausländerrechtlicher Ausweisungs- und Abschiebungsrechte Generelle Mehrstaatigkeit fuhrt auch zur Beseitigung ordnungsrechtlich motivierter Ausweisungs- und Abschiebungsmöglichkeiten, wie sie das geltende Ausländerrecht in den §§ 45ff. AuslG zur Verfugung stellt. 338 Der Generaltatbestand der Ausweisung ist in § 45 AuslG formuliert und lautet: 339 "Ein Ausländer kann ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt."

Deutsche Staatsangehörige besitzen dagegen ein absolutes Aufenthaltsrecht im Inland. 3 4 0 Das gilt auch für deutsche Mehrstaater. 341 Auch sie dürfen in keinem Falle ausgewiesen oder ausgeliefert werden. Der deutsche Staat kann ihnen gegenüber auch im Falle der Schwerstkriminalität nur mit inländischen Strafrechtsmitteln agieren. Fremdnationale Konflikte könnten in der Bundesrepublik Deutschland ausgetragen werden. Der Staat müßte es hinnehmen, wenn beispielsweise deutsch-türkische Mehrstaater z.B. die Kurdenproblematik in Deutschland austrügen. Ausweisungs- und abschiebungsrechtliche Ordnungsmittel griffen für diesen Personenkreis nicht mehr.

V. Aufgabe anderer ausländerrechtlicher

Ordnungsmittel

Generelle Hinnahme von Mehrstaatigkeit bedeutet zugleich auch Aufgabe anderer im staatlichen Interesse stehender ausländerrechtlicher Ordnungsmechanismen. § 37 AuslG enthält der internationalen Rechtsüberzeugung entsprechend Optionen, erforderlichenfalls die politische Betätigung von

338

§§ 45ff. AuslG

339

Siehe im einzelnen hierzu Kommentierung von: Kanein / Renner, Ausländerrecht. Kommentar, § 45; insbes. auch zu den speziellen Ausweisungsgründen in §§ 46 und 47 AuslG sowie zum Ausweisungsschutz in § 48 AuslG und der "Abschiebung" in §§ 49ff. AuslG. 340 Das folgt zum einen aus Art. 16 Abs. 2 GG, der die Auslieferung Deutscher an das Ausland mit Verfassungsrang untersagt. Zum anderen wird das Aufenthaltsrecht aus der Freizügigkeit gem. Art. 11 GG abgeleitet. 341 Der Status der deutschen Staatsangehörigkeit ist einheitlich und als solcher in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG garantiert. Vgl. dazu oben § 1.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

285

Ausländern zu beschränken oder zu untersagen. 342 § 37 Abs. 1 AuslG beinhaltet: 343 "Ausländer dürfen sich im Rahmen der allgemeinen Rechtsvorschriften politisch betätigen. Die politische Betätigung eines Ausländers kann beschränkt oder untersagt werden, soweit sie 1. die politische Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland oder das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern oder von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder gefährdet, 2. den außenpolitischen Interessen oder den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland zuwiderlaufen kann, 3. gegen die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere unter Anwendung von Gewalt, verstößt oder 4. bestimmt ist, Parteien, andere Vereinigungen, Einrichtungen oder Bestrebungen außerhalb des Bundesgebietes zu fördern, deren Ziele oder Mittel mit den Grundwerten einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung unvereinbar sind."

Der Anwendungsbereich ist auf Ausländer und Ausländergruppen beschränkt. Deutsche Mehrstaater fallen nicht in den Anwendungsbereich des § 37 AuslG. Ihre politischen Tätigkeiten müßten selbst auf die Gefahr erheblicher innerstaatlicher, aber auch internationaler Spannungen hingenommen werden. 344 Richtet sich die politische Betätigung gegen andere Staaten oder fremde Regierungen, so könnten hierdurch die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland empfindlich belästigt werden. Die Duldung einer in andere Staaten hineinwirkenden politischen Betätigung kann in Extremfallen sogar völkerrechtliche Verantwortlichkeiten der Bundesrepublik begründen. Eine extremistische politische Betätigung von deutschen Mehrstaatern kann aber auch den inneren Frieden ernsthaft gefährden. Mehr als bei deutschen Einzelstaatern besteht die Gefahr, daß politische Spannungen und Streitigkeiten, die ihren Ursprung in anderen Ländern haben, in der Bundesrepublik ausgetragen werden.

342 Art. 16 EMRK bestimmt ausdrücklich, die Verbürgungen der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in den Art. 10 und 11 sowie das Diskriminierungsverbot des Art 14 dürften nicht so ausgelegt werden, daß es den Konventionsstaaten verboten ist, der politischen Betätigung von Ausländern Beschränkungen aufzuerlegen. 343

Siehe im einzelnen hierzu Kommentierung von: Kanein / Renner, Ausländerrecht. Kommentar,

§37. 344

Art. 18 GG ist nur eine Ultima ratio Möglichkeit, dieser Problemen Herr zu werden.

286

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

VI. Einschränkungen völkerrechtlicher

Verpflichtungen

Im Falle der Mehrstaatigkeit können sich Einschränkungen der Rückführund Transitverpflichtungen aus internationalen Abkommen ergeben. 345 Mehrstaatigkeit fuhrt aber auch in weiteren internationalen Bereichen zu einer Verkürzung des staatlichen Handlungsspielraums. Eingeschränkt sind hier beispielsweise Rückfuhrungs- und Transitverpflichtungen aus der Europäischen Konvention über die Rückführung Jugendlicher vom 28. Mai 1970 sowie über den Transfer verurteilter Personen vom 21. März 1983 . 3 4 6 Nach der Europäischen Konvention vom 20. Mai 1980 betreffend die Entführung minderjähriger Kinder sind die Mitgliedstaaten zur automatischen Wiederherstellung des bisherigen Gewahrsams bzw. Sorgerechts verpflichtet. Allerdings ist diese Verpflichtung auch hier davon abhängig gemacht, daß das Kind und seine Eltern ausschließlich die Staatsangehörigkeit des Staates besitzen, in dem das Kind bisher seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hatte. Die Erreichung des Vertragsziels ist also gefährdet, wenn entweder das betreffende Kind oder ein Elternteil mehrere Staatsangehörigkeiten besitzen.

VII. Namensrecht Ein weiterer Konfliktfall aus der Mehrstaatigkeit ergibt sich im Bereich des Namensrechtes. 347 Das deutsche Namensrecht schließt an die Personalhoheit des Staates an. 3 4 8 § 1 NÄG gestattet öffentlich-rechtliche Namensänderungen ausdrücklich nur bei "deutschen Staatsangehörigen" oder "Staatenlosen".349 Entsprechend dem Gleichstellungsgebot aus Art. 116 Abs. 1 GG erweitert die Allgemeine Verwaltungsvorschrift 5 0 zum NÄG in Nr. 2 Abs. 1 A W den 345

Hailbronner, Einbürgerung, S. 115.

346

Art. 7 der Konvention lautet: "Dem ersuchten Staat ist es allerdings erlaubt, die Rückführung oder den Transit durch das eigene Staatsgebiet zu untersagen, wenn es sich um eigene Staatsangehörige handelt." Ein weiteres Beispiel der Verkürzung des internationalen Handlungsspielraumes der Staaten bietet das europäische Übereinkommen über den Transfer verurteilter Personen vom 21.3.1983: Art. 8 lautet: "Aber auch hier ist ein Transfer ausgeschlossen, wenn es sich um eigene Staatsangehörige handelt." 347 Vgl. hierzu Hans v. Mangoldt, Öffentlich-rechtliche und völker-rechtliche Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit aus deutscher Sicht, in: JZ 1993, S. 973f. 348 Dazu: Schwerdtner, Kommentierung zu § 12 BGB (Namensrecht), in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, Rdnr. 4ff. 349 Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen v. 5.1.1938 (RGBl. I, S. 9 = BGBl. III 401-1), zuletzt geändert durch Gesetz v. 12.9.1990 (BGBl. I, S. 2002). 350 Vom 11.8.1980 (BAnz. Nr. 153a v. 20.8.1980) i.d.F. v. 18.4.1986 (BAnz. Nr. 78 v. 25.4.1986), abgedr. bei Schwerdtner, Kommentierung zu § 12 BGB, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, S. 265ff.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

287

Personenkreis auf sog. Statusdeutsche. Nach bisheriger - angesichts der gem. §§1,13 NÄG eingeschränkten Ermächtigung zum Erlaß von Durchfuhrungsund Ergänzungsvorschriften - allerdings problematischen Verwaltungspraxis kommen darüber hinaus Namensänderungen auch für heimatlose Ausländer, Flüchtlinge und Asylberechtigte mit Wohnsitz bzw. gewöhnlichem Aufenthalt im Geltungsbereich des Namensänderungsgesetzes (Nr. 2 Abs. 2 A W ) in Betracht. Andere ausländische Staatsangehörige sind dagegen an ihre Heimatstaaten zu verweisen. 351 Im Falle der Mehrstaatigkeit sind mehrere Namensänderungen durch die betreffenden Staaten nicht ausgeschlossen. Auch die Nichtanerkennung im anderen Heimatstaat vorgenommener Namensänderungen kann zu Identifikationsschwierigkeiten auswachsen, die den staatlichen Zuordnungsinteressen in den Bereichen seiner hoheitlichen Tätigkeit - beispielsweise im Bereich der Steuer- oder Strafhoheit - zuwiderlaufen können. Im äußersten Falle wäre die betreffende Person nicht mehr identifizierbar und könnte sich so staatlichen Zugriffen entziehen.

VIII.

Aufgabe staatlichen Entscheidungsspielraums

Mehrstaatigkeit liegt teilweise im staatlichem Interesse. Dies ist der Fall, um etwa Rechtsstaatsverpflichtungen zur Vermeidung ansonsten unzumutbarer Härtefälle zu erfüllen. Diesbezüglich enthalten die Einbürgerungsvorschriften Auflockerungen des Grundsatzes der ausschließlichen Staatsangehörigkeit. 352 Staatliche Interessen an der Hinnahme von Mehrstaatigkeit können aber auch aus außenpolitische Gründen der Bundesrepublik bestehen, etwa weger einer beabsichtigten Verstärkung bilateraler wie multilateraler Beziehungen. Außenpolitischer Belang könnte auch sein, Mehrstaatigkeit als taugliche Vorstufe einer europäischen Staatsangehörigkeit zu betrachten. Ein generelles Verbot der Mehrstaatigkeit könnte daher diese berechtigten staatlichen Interessen an der Förderung internationaler Beziehungen zu anderen Staaten beeinträchtigen. Um dem vorzubeugen, enthält § 25 Abs. 2 RuStAG mit der Beibehaltungsgenehmigung Möglichkeiten, evtl. Vorteile aus der Mehrstaatigkeit im staatlichen Interesse zu nutzen. Danach verliert die deutsche Staatsangehörigkeit bei einem Erwerb ausländischer Staatsangehörigkeit nicht, wer von der zuständigen deutschen Stelle eine Beibehaltungsgenehmigung bezüglich seiner Staatsangehörigkeit erhalten hat. Bei der Entscheidung über den Beibehaltungsantrag werden die Interessen des Antrag-

351

Dazu: Frauenstein, Öffentlich-rechtliche Namensänderungen - Voraussetzungen und Verfahren-, in: StAZ 1980, S. 26 Iff. 332 Vgl. dazu oben § 17 unter III.

288

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

stellers des deutschen und des fremden Staates geprüft und gegeneinander abgewogen.353 Für die Beibehaltungsgenehmigung können neben schwerwiegenden persönlichen Gründen des Antragstellers insbesondere aber auch deutsche staatliche Interessen sprechen. Namentlich zu nennen sind hier etwa außen-, kultur- oder wirtschaftspolitische Belange, wie bisweilen bei Auslandsdeutschen, an deren maßgeblicher Position in ihrem Aufenthaltsstaat ein besonderes Interesse besteht. Andererseits kommen Beibehaltungsgenehmigungen regelmäßig nicht in Betracht, wenn beachtliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines anderen deutschen Landes dem entgegenstehen würden. 354 Die geltende Fassung des § 25 Abs. 2 RuStAG sichert damit dem deutschen Staat die Prüfung im Einzelfall zu, ob dem Anliegen, bi- und multilaterale Beziehungen zu fördern, durch eine Mehrstaatigkeit Rechnung getragen werden kann. Diese staatliche Befugnis würde jedoch reduziert, wollte man Mehrstaatigkeit für den Regelfall zulassen. Dies gilt vor allem für die Fälle der originären Mehrstaatigkeit, also durch den Geburtserwerb. Sie würde den deutschen Staat endgültig und automatisch binden. Das gleiche würde für die Fälle der derivativen Anspruchseinbürgerung gelten, wenn die Mehrstaatigkeit ausdrücklich kein Hinderungsgrund für eine Einbürgerung mehr sein sollte. Es käme ausschließlich auf den Individualwillen des Einbürgerungsbewerbers an. Der Staat hätte nur noch reduzierte Möglichkeiten, entgegenstehende Belange rechtswirksam einzubringen. Insbesondere wäre es ihm verwehrt, aus Gründen des inneren und äußeren Friedens wegen des Konfliktpotentials aus Mehrstaatigkeit von der Einbürgerung abzusehen. Gegen eine Überbetonung der staatlichen Interessen mag man einwenden, dies emotionalisiere und ließe die Staaten als streng voneinander geschiedene mit prinzipiell gegensätzlichen Interessen ausgestattete Wirkungseinheiten verstehen. Überdies wirke die Abgrenzung zu anderen Staatsvölkern Internationalisierungsbestrebungen entgegen. Gerade der europäische Einigungsprozeß zeige, daß derartige Interessengegensätze und die damit verbundenen Gefahren von Loyalitätskonflikten am schwinden seien. Dieser Einwand vernachlässigt aber das Problem kollidierender Interessen im Verhältnis zu Staaten, die außerhalb des europäischen Einigungsprozesses stehen. 355 Was im Verhältnis zu bestimmten Staaten, z.B. des Europarates oder der Europäischen Union, als hinnehmbar erscheint, muß noch lange nicht im Verhältnis zu jedwedem anderen Staat akzeptabel sein. Darüber 353 Hailbronner / Renner, Kommentar, § 25 Rdnr. 23 ; Makarov / v. Mangoldt, § 25 Rdnr.45ff.; Wilms , Wiss.R 1988, S. 49. 354

Makarov / v. Mangoldt, Rdnr. 49.

355

Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 967.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

289

hinaus darf nicht gänzlich übersehen werden, daß auch der europäische Einigungsprozeß mit unterschiedlicher Intensität und Tempo abläuft. 5 6 Auch hier ist endgültig noch nicht abzusehen, ob staatliche Interessenkonflikte dauerhaft ausgeschlossen sind. Auch hinsichtlich der Europäischen Integration bleibt also die Frage, ob es sinnvoll ist, in der Abwägung von staatlichen Interessen des bestehenden Staatsvolkes einerseits und Individualinteressen andererseits von vornherein generelle gesetzliche Rechtspositionen einzuräumen, die angesichts des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG unentziehbar sind.

§ 53 lus sanguinis und Einzelstaatigkeit als Grundsätze der Bestandsgarantie

Da das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht in der Minimierung des aus der Mehrstaatigkeit bestehenden Konfliktpotentials wegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG auf präventive Mittel beschränkt ist 3 5 7 , müssen diese entsprechend inhaltlich ausgeformt sein. Über die konkreten Anforderungen an die Weitergabe der Staatsangehörigkeit auf die nächste Generationenfolge sagt das Grundgesetz ausdrücklich nichts aus. Der Abstammungsgrundsatz ist nur in Art. 116 Abs. 1 GG für Statusdeutsche und in Art. 116 Abs. 1 GG für Zwangsausgebürgerte durch die Einbeziehung der "Abkömmlinge" formuliert. 358 Schließlich ist der Abstammungsgrundsatz familienrechtlich in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG garantiert. 3 5 9 Für das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht fehlt allerdings eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Fixierung. Er ist weder in Art. 116 GG noch in Art. 16 Abs. 1 GG explizit aufgenommen. 360

3,6

Ebenda.

357

Vgl. oben § 19.

358

Art. 116 Abs. 1 GG enthält die Verankerung des Abstammungsgrundsatzes, indem er die Statuseigenschaft nicht nur auf die von Flucht und Vertreibung anläßlich des 2. Weltkrieges unmittelbar Betroffenen deutscher Volkszugehörigkeit, sondern auch auf "deren Abkömmlinge" erstreckt. Art. 116 Abs. 2 GG enthält einen Wiedergutmachungsgedanken zugunsten ehemaliger deutscher Staatsangehöriger, die aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen während des " Dritten Reiches" zwangsausgebürgert wurden sowie ihrer Abkömmlinge. Zum anderen ist der Abstammungsgrundsatz durch die wörtliche Erstreckung auf "Abkömmlinge" in Art. 116 Abs. 2 GG ausgedrückt. 359 So Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, S. 599, Fußn. 498 mit Verweis auf BVerfGE 37, S. 217ff. (249); Löwer, Abstammungsprinzip und Mehrstaatigkeit, in: ZAR 1993, S. 156ÎT. (157).

19 Ziemske

290

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Das BVerfG hatte die Frage nach der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Abstammungsgrundsatzes in Art. 16 Abs. 1 GG bisher noch nicht zu entscheiden. Auf die Rechtsansicht des Bundesministers des Inneren, dem Gesetzgeber hätte es sicher freigestanden, für den Erwerb der Staatsangehörigkeit durch die Geburt das ius-soli-Prinzip gelten zu lassen 361 , sah sich das BVerfG im Mehrstaater-Beschluß jedoch veranlaßt, in einem obiter dictum Stellung zu nehmen: 362 "Diese Auffassung trifft nicht zu. Es mag (jedoch) schon zweifelhaft sein, ob ein Übergang zum reinen ius soli ... im Hinblick auf das Wesen der Staatsangehörigkeit... verfassungsrechtlich zulässig wäre. Hierauf kommt es jedoch nicht an; denn der deutsche Gesetzgeber hat sich nun einmal für das ius sanguinis entschieden... ".

Die Verankerung des ius sanguinis ergibt sich aber aus der gebotenen Kongruenz von Erwerb der Staatsangehörigkeit und dem Verbot ihres Entzuges. Hätte das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht keine verfassungsrechtlichen Beschränkungen auf der Erlöschensseite, insbesondere kein Entzugsverbot, könnte es auftretenden Konflikten aus Mehrstaatigkeit nachträglich gezielt entgegentreten. Es könnte - wie die vorgenannten Vergleichsländer die Staatsangehörigkeit entziehen. Etwa in dem Falle, daß das Funktionieren der Staatlichkeit selbst gefährdet würde, im Falle von Illoyalität oder vermehrter Kriminalität. Ein Franzose beispielweise, der sich nicht wie ein solcher verhält, kann die Staatsangehörigkeit aberkannt bekommen. Dasselbe gilt für einen eingebürgerten Briten oder Amerikaner, wenn er sich illoyal zum Land verhält. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht darf wegen Art. 16 Abs. 1 GG derartige Entzugstatbestände nicht einführen. Wenn aber Art. 16 Abs. 1 GG derart begrenzt, müssen an den Erwerb der Staatsangehörigkeit im Interesse der Aufrechterhaltung der staatlichen Funktionen Kriterien gestellt werden, die geeignet sind, das Konfliktpotential aus Mehrstaatigkeit zu minimieren. Aus diesem Grunde verankert Art. 16 Abs. 1 GG zum einen den Grundsatz

360 Die wörtliche Aufnahme des ius-sanguinis-Prinzips auch für den "Staatsangehörigkeitserwerb" war wegen der Bestandsgarantie des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG nicht erforderlich, im Gegensatz zur Rechtslage der Statusdeutschen und der Zwangsausgebürgerten i.S.d. Art. 116 GG. Denn Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG bezieht den Bestandsschutz ausdrücklich nur auf "Staatsangehörige". Da aber der originäre Erwerbsgrundsatz hinsichtlich der Bestimmung des Staatsvolkes aus Gründen des Willkürverbotes nicht unterschiedlich sein kann, mußte ein ausdrücklicher Bezug zur verfassungsrechtlichen Absicherung des ius sanguinis nur zugunsten der Statusdeutschen erfolgen. Hinsichtlich der Zwangsausgebürgerten ergibt sich die Notwendigkeit daraus, daß Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG nur die bereits existierende Staatsangehörigkeit schützt. Vg. BVerfGE 14, 142ff. (150) = NJW 1962, 1859. 361

Abgedr. in: BVerfGE 37, 217ff. (248) = NJW 1974, 1609.

362

BVerfGE 37, 217ff. (248f.) = NJW 1974, 1609.

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

291

der Einzelstaatigkeit. Die deutsche Staatsangehörigkeit soll ausschließlich bleiben, denn Konkretisierungen des Konfliks mit anderen Zugehörigkeiten steht das Grundgesetz machtlos gegenüber. Zum anderen gebietet Art. 16 Abs. 1 GG aus diesem Grunde auch den Abstammungsgrundsatz. Denn im direkten Vergleich mit dem ius soli ist das ius sanguinis besser geeignet, dem beständigen Mehrstaaterkonflikt entgegenzutreten. Dies geschieht zweifach: 1. Im Unterschied zum ius soli liegt dem ius sanguinis die Vermutung zugrunde, Loyalitätskonflikte könnten durch die gemeinsame Abstammung vermindert werden. Denn die Abstammung gibt begründete Anhaltspunkte einer gemeinschaftlichen Homogenität durch gemeinsame Sprache, Geschichte und Kultur, und schafft so eine natürliche Verbundenheit der Staatsangehörigen, deren Näheverhältnis zum Staatsverband im Regelfall eng genug ist, Loyalitätsprobleme erst gar nicht aufkommen zu lassen. Das iussoli-Prinzip überläßt dagegen grundsätzlich die Zugehörigkeit zum Staatsverband dem Zufall, was zu Zeiten fehlender Mobilität der Gesellschaft - wenngleich nicht gänzlich - ohne größere Loyalitätskonflikte hingenommen werden konnte. Denn das Herrschaftsgebiet blieb damals in der Regel auch das Aufenthaltsgebiet der Angehörigen. Andererseits zeigt das Beispiel des amerikanisch-englischen Staatsangehörigkeitskonfliktes des 19.Jahrhunderts, wie schlagartig sich die Situation mit einsetzender Ingebrauchnahme der Freizügigkeit änderte. 363 Dieser Einwand gegen das ius-soli-Prinzip gilt allerdings nur eingeschränkt, wenn zusätzliche Anforderungen an den Erwerb gestellt werden. Die Gefahren der beiläufigen Staatsangehörigkeitsverleihung werden durch die Beschränkung auf einen bestimmten Personenkreis von Neugeborenen minimiert. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Abkömmlinge von Ausländern erst dann kraft ius soli die Staatsangehörigkeit erwerben, wenn sie ihrerseits von Elternteilen abstammen, die selbst schon im Inland geboren sind (Beschränkung des ius-soli-Erwerbs auf die zweite Generation). In dieser beschränkten Form sind in einigen europäischen Nachbarländern ergänzende ius-soli-Erwerbsvorschriften eingeführt worden, nämlich in Frankreich, Belgien, Niederlande und Spanien. Daß aber auch in diesen Ländern Konflikte nicht gänzlich ausgeschlossen werden, belegt die Existenz von Entzugsmöglichkeiten speziell diesem Personenkreis gegenüber. 364 2. Im Unterschied zum ius sanguinis führt der ius soli Erwerb zu einer stärkeren Zunahme von Mehrstaatigkeit und erhöht aus diesem Grunde das Konfliktpotential. Denn in der Mehrheit der Staaten herrscht das ius sanguinis. Das gilt einmal für die oben im Vergleich behandelten Staaten, die mit 363 1812 eskalierte der Konflikt in einer Kriegserklärung der Vereinigten Staaten an England. Erst 1870 endete er durch Einlenkung der britischen Seite in Form des British Naturalisation Act, der die Position der USA akzeptierte. Vgl. dazu: Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, S. 233. 364

Vgl. oben § 32.

292

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Ausnahme von den USA und Irland alle vom ius sanguinis ausgehen.365 Zum anderen ist die gesamte internationale Tendenz ius-sanguinis-ausgerichtet. So ist das Staatsangehörigkeitsrecht der neuen Staaten Osteuropas vom Abstammungsgrundsatz geprägt. 366 Entgegen dieser Tendenz das ius soli ergänzungshalber einzuführen, bedeutete. Mehrstaatigkeit bewußt hinzunehmen und das Konfliktpotential zu mehren. Denn die Mehrheit der im Inland lebenden Ausländer stammt aus Staaten, in denen der Abstammungsgrundsatz herrscht. Sie würden ihre ausländische Staatsangehörigkeit auf ihre Abkömmlinge in jedem Falle weiter übertragen. Sie wiederum würden kraft Geburts im Inland über das ius soli die deutsche Staatsangehörigkeit zusätzlich erwerben. Die oben beschriebenen Konflikte würden augenfällig. Um sie mit verfassungsrechtlich zulässigen Mitteln eindämmen zu können, muß das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht für den originären Erwerb der Staatsangehörigkeit gem. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG vom ius sanguinis ausgehen, wie es in der ausschließlichen Form des geltenden § 4 RuStAG geschieht. Darüber hinaus muß Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG im Bereich des derivativen Erwerbs den Grundsatz der Einzelstaatigkeit gebieten, was gem. §§9 RuStAG, 85, 86 AuslG sowie den Einbürgerungsrichtlinien der Fall ist.

§ 54 Zusammenfassende Darstellung über die Gewährleistung der Erwerbsgrundsätze aus der Institutsgarantie

1. Verfassungsrechtlich sind die Grundsätze des ius sanguinis und der auschließlichen Staatsangehörigkeit in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG garantiert. 2. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet die Staatsangehörigkeit objektivrechtlich als Institution und verstärkt damit ihre subjektiv-rechtliche Garantie. Denn die deutsche Staatsangehörigkeit erfüllt die entsprechenden Voraussetzungen: a) Sie ist in Verfassungsnormen, insbesondere in der Grundrechtsbestimmung des Art. 16 Abs. 1 GG namentlich erwähnt. b) Ihr kommt angesichts der Zerissenheit des deutschen Staatsvolkes infolge des Zweiten Weltkrieges eine historisch bedingte und noch nicht erledigte Stabilitätsfunktion zu. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG hat weder nach Vollendung 365 366

Vgl. oben § 30 I.

Gec-Korosec, IPRax 1993, S. 118ff.; Hellmuth Hecker, StAZ 1994, S. 90ff., 97f. (Slowenien); Leonhart, StAZ 1992, S. 24ff., (Rumänien); Levits, StAZ 1992, S. 171ff., (Rußland); Zimmermann, StAZ 1992, S. 118i£, (Litauen); Bericht des Bundesinnenministeriums v. 28.7.1993, S. 11, (Polen); ebenda, S. 15, (Tschechische Republik); Ebenda, S. 12, (Rußland); Hargitai, StAZ 1994, S. 11 Iff., 126ff. (Ungarn).

2. Kap.: Grundrechtscharakter des Entzugsverbotes

293

der Einheit Deutschlands noch nach dem Übergang in die Europäische Union etwas von seiner Stabilitätsfunktion verloren. c)Die an sie anknüpfenden Rechtsfolgen, insbesondere die politischen Mitwirkungsrechte, wie beispielsweise das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag aus Art. 38 GG, sind erheblich. 3. Da die deutsche Staatsangehörigkeit als Grundrecht garantiert ist, muß ihr Wesensgehalt i.S.d. Art. 19 Abs. 2 GG geschützt werden. 4. Der Umfang des Wesensgehaltes ermittelt sich nicht quantitativ, sondern qualitativ. Zum verfassungsrechtlich geschützten Kerngehalt der deutschen Staatsangehörigkeit zählen ihre "Grundsätze". Sie sind in einer "ganzheitlichen Betrachtungsweise" zu ermitteln: a) Auszugehen ist hierbei von dem historischen Befund (status quo-Ermittlung). b) Berücksichtigt werden muß aber auch die Entwicklungsoffenheit, d.h. mögliche Bedeutungswandel im Staats- und Staatsangehörigkeitsverständnis, (status futuro-Ermittlung). c) Schließlich ist in die Ermittlung des Wesensgehaltes das charakteristische Erscheinungsbild des Entzugsverbots als Bestandsgarantie mit einzustellen. 5. Historisch ist die Staatsangehörigkeit in Deutschland entsprechend der Entwicklung in den überwiegenden Staaten Europas und der Welt von den "Grundsätzen" des ius sanguinis und der Einzelstaatigkeit geprägt. a) Das ius sanguinis dominierte bereits in der Antike. b) Es erfuhr eine Renaissance durch die Französische Revolution. Es wurde bewußt dem im Mittelalter entwickelten ius soli und seinen feudalen Wurzeln entgegen gehalten. c) In bewußter Abgrenzung zum ius soli fiel auch in der Zeit der Reichsgründung des Deutschen Reiches die Entscheidung zugunsten des ius sanguinis. Antriebskraft hierfür war u.a. auch die Zielsetzung, Mehrstaatigkeit zu vermeiden, die schon damals international "als Übel" angesehen wurde. d) Die Grundsätze des ius sanguinis und der Einzelstaatigkeit prägten bewußt auch das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz des Jahres 1913, das heute noch - nach zahlreichen Detailänderungen - ungebrochen von ihnen beherrscht wird und damit auch gegenwärtig das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht berechenbar stabilisiert. 6. Das Wesen des Staates und der darauf aufbauenden Staatsangehörigkeit hat entgegen mancher Ansicht keinen einschneidenden Wandel erfahren, der

294

Teil 3 : Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

zu einer anderen Orientierung Anlaß gäbe. Auch im Hinblick auf die Europäische Integration sowie perspektivischer Weltstaatswerdung ist das überkommene Staatsangehörigkeitsverständnis keineswegs überholt. 7. Gegenwärtig knüpft die Europäische Union geradezu an die Ausgestaltung der Staatsangehörigkeiten, wie sie in ihren Mitgliedstaaten entwickelt wurden und anzufinden sind. Auch die UNO hält an der Notwendigkeit der Rechtssubjektivität ihrer Mitglieder und damit an ihrer Staatlichkeit im herkömmlichen Sinne einschließlich ihrer staatsangehörigkeitsrechtlichen Ausgestaltung fest. 8. Charakteristisch für das Entzugsverbot der deutschen Staatsangehörigkeit ist, daß es ihren Bestand individuell wie kollektiv garantiert. 9. Das Entzugsverbot ist in der Welt fast einmalig. Es hat zur Folge, daß die mit der Staatsangehörigkeit verbundenen Loyalitätsbindungen beim Erwerb der Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen sind. 10. Daraus folgt, daß neben dem gesteigerten Schutz vor Beseitigung auch erhöhte Voraussetzungen für den Erwerb der Staatsangehörigkeit bestehen müssen. Diese Kongruenz von Entzugsverbot und Erwerb von Rechtspositionen ist dem Grundrechtsverständnis immanent. Sie ist an anderen Stellen, etwa der Eigentumsgarantie oder der Garantie der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums, evident. So wie der Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG etwa zu verschärften Anforderungen an Beseitigungsverfügungen baulicher Anlagen Auswirkungen auch auf die Anforderungen an die Erteilung von Bauerlaubnissen selbst hat, die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums in Art. 33 Abs. 5 GG zu einem vermehrten Entlassungsschutz des einmal ernannten Beamten zugleich auch Rückwirkungen auf die Anforderungen an die Beamtenernennung haben, so hat auch die Bestandsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG Auswirkungen auf die Voraussetzungen ihres Erwerbes. 11. Die erhöhten Voraussetzungen für den Erwerb der Staatsangehörigkeit sind die Grundsätze des ius sanguinis und der Einzelstaatigkeit. 12. Beide Prinzipien sind zum Erhalt der verfaßten Staatlichkeit erforderlich, um das permanente Problem der Mehrstaatigkeit einzudämmen und damit dem gesteigerten Beseitigungsschutz der deutschen Staatsangehörigkeit gebührend Rechnung zu tragen. 13. Die Ausgestaltung der Staatsangehörigkeit steht nicht im freien Belieben des Gesetzgebers. Wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes als Institution in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG hat er ihre historisch gewachsenen, auch unter perspektivischer Anschauung nicht erledigten und für das Entzugsverbot charakteristischen Erwerbsgrundsätze des ius sanguinis und der Einzelstaatigkeit i.S.d. Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG) zu achten.

3. Kap.: Verfassungsrechtliche Legitimation von Abweichungen

295

3. Kapitel

Die verfassungsrechtliche Legitimation von Abweichungen § 55 Ausnahmsweise Zulässigkeit der Mehrstaatigkeit Das geltende Recht kennt allerdings Durchbrechungen der Erwerbsgrundsätze. Sie betreffen nicht das ius sanguinis. Wie oben gesehen herrscht das ius sanguinis in Deutschland ausnahmslos.367 Es wird auch nicht im Falle der Findelkind-Regelung durchbrochen. Es besteht kein Anlaß, Ausnahmen vom Prinzip des ius sanguinis zuzulassen. Es genügt, daß auf deutschem Boden geborene Ausländer unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Einbürgerung haben. Damit ist dem Interesse der Betreffenden Rechnung getragen, und dem Gesetzgeber bleibt die Möglichkeit, den Anspruch an Bedingungen zu knüpfen, z.B. Besuch allgemeinbildender Schulen im Bundesgebiet. Anders ist es dagegen bei der verfassungsrechtlich gebotenen Einzelstaatigkeit. Mehrstaatigkeit wird in gewissen Fällen hingenommen. 368 Ist diese Hinnahme mit Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar? Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ist strikt negatorisches Grundrecht. 369 Als solches schützt es nur gegen Entzug: vorbehaltlos. Hier geht es jedoch um die in Art. 16 Abs. 1 GG implizierte Institutsgarantie, die ihrerseits Ausnahmen von Erwerbsgrundsätzen zuläßt. Allerdings müssen die Ausnahmen verfassungsrechtlich begründet sein. Dazu führt das BVerfG im Mehrstaaterbeschluß aus: 370 "Die entsprechenden Gesetze müssen die Grundentscheidungen der Verfassung, wie sie vor allem in den Grundrechten zum Ausdruck kommen, beachten, und ihrerseits zu deren Verwirklichung beitragen."

Denn: 3 7 1 "es (würde) nicht genügen, die Regeln darüber lediglich sach- und systemgerecht auszugestalten."

Dem hat sich die Staatsrechtslehre angeschlossen.372 Heute ist anerkanntes Prinzip, daß jede Grundrechtsnorm im Kontext der gesamten Verfassung zu 367

Vgl. oben § 15.

368

Vgl. oben § 17.

369

Vgl. oben § 36.

370

BVerfGE 37, S. 217ff. (239).

371

Ebenda.

296

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

sehen ist. Es gilt das Prinzip der Einheit der Verfassung. 373 Einzelne Freiheitsrechte können danach nicht isoliert betrachtet werden, sie müssen "harmonisiert" im Gefüge der sonstigen Verfassungsordnung eingebunden sein. 374 Einschränkungen von Garantien können sich aus der gebotenen Anpassung mit anderen "Rechtswerten von verfassungsrechtlichem Rang" ergeben. 375 Allerdings dürfen die Durchbrechungen ihrerseits dem garantierten Gut nicht das Gepräge nehmen. Art. 19 Abs. 2 GG entfaltet zum Schutze der Grundrechtsnorm auch hier eine unmittelbar bindende Schranke (Art. 1 Abs. 3 GG). Der "Kernbereich" des Instituts muß bewahrt bleiben. 376 Aus welchen dem Grundsatz der ausschließlichen Staatsangehörigkeit widerstreitenden Verfassungsnormen könnte sich die Hinnahme von Mehrstaatigkeit rechtfertigen? 377 Hinsichtlich der Klärung dieser Frage ist eine einheitliche Antwort nicht zu finden. Die einzelnen Fallgruppen der Hinnahme von Mehrstaatigkeit sind jeweils gesondert zu untersuchen.

I. Geburtsfälle Für die Geburtsfälle ergibt sich die Legitimation der Mehrstaatigkeit möglicherweise aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG selbst. Auf den Begründungsvorgang der Mehrstaatigkeit hat die Bundesrepublik Deutschland im originären Bereich keinen unmittelbaren Einfluß. Aus völkerrechtlichen Gründen kann sie den Geburtserwerb fremder Staatsangehörigkeiten nicht verhindern. Denn Staatsangehörigkeitsrecht ist Staatsrecht, das nur in den Schranken des völkerrechtlich Zulässigen zu regeln ist. 3 7 8 Die Bundesrepublik Deutschland hat keinen Einfluß auf die Ausgestaltung fremder Staatsangehörigkeitsregelungen. Erwirbt ein deutsches Kind originär mit der Geburt zugleich auch andere Staatsangehörigkeiten, ist dies von der Bundesrepublik Deutschland hinzunehmen. Sie könnte möglicherweise geneigt sein, den originären Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Rücknahme ihrer Personalhoheit für diesen 372 Kriele, Vorbehaltlose Grundrechte und die Rechte anderer, in: JA 1984, S. 629ff.; Ingo v. Münch, in: Grundgesetz-Kommentar, Vorb. Art. 1-19, Rdnr. 57 m.w.N.; Pieroth / Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rdnr. 297ff. m.w.N. 373

BVerfGE 83, 130ff. (138f.).

374

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1 , S. 1302.

373

BVerfGE 30, 173ff. (193).

376

BVerfGE 69, S. Iff. (55).

377 Vgl. dazu insbes. Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 965; z.T. a.A. Renner, Erleichterung der Einbürgerung - ein Ausweg?, in: Vom Ausländer zum Bürger, S. 372ff. (379, 381). 378

Vgl. dazu oben Einleitung unter IV. und § 2.

3. Kap.: Verfassungsrechtliche Legitimation von Abweichungen

297

Fall zu untersagen. Doch dieses Ansinnen verstieße gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. Die deutsche Staatsangehörigkeit darf in keinem Falle entzogen werden. Die Garantie vor Entzug ist absolut, d.h. sie ist geschlechtsneutral, universell, einheitlich, zeitlos und bedingungslos. 379 Danach ist die deutsche Staatsangehörigkeit gleichermaßen einheitlich ableitbar. Der Status des Inhabers der deutschen Staatsangehörigkeit muß immer gleich sein. Wird sie originär weitergegeben, muß sie diesen Gleichheitscharakter behalten. Es darf nicht danach differenziert werden, wer sie unter welchen Bedingungen auf die nächste Generation überträgt. 380 Solange Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG als Verfassungsnorm existiert, gilt das Entzugsverbot auch für deutsche Mehrstaater. Auch sie genießen in allen erdenklichen Konstellationen den gleichen Schutz wie die deutschen Einzelstaater, unabhängig davon, wer neben der deutschen noch ausländische Staatangehörigkeiten besitzt, unabhängig auch davon, welche Staatsangehörigkeiten er besitzt, wie, wo, wann und warum es zur Mehrstaatigkeit kam. 3 8 1 Der deutsche Ehepartner in einer gemischt-nationalen Ehe darf ebenfalls nicht in seinen Rechten der Weiterübertragung beschränkt sein. Die Staatsangehörigkeit hätte ansonsten nicht den gleichen Stellenwert wie die eines Einzelstaaters. Sie wäre um gewisse Folgerechte gemindert und damit ein Status minderer Qualität begründet. Damit würde ein System von Inhabern unterschiedlicher Status geschaffen. Es gäbe Träger der deutschen Staatsangehörigkeit, die die Fähigkeit besäßen, sie auf Abkömmlinge zu übertragen und solche, die davon a priori ausgegrenzt würden. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG gebietet aber den Schutz für Inhaber der deutschen Staatsangehörigkeit absolut. Sie darf nicht entzogen werden, d.h. auch nicht um die aus ihr fließende Befähigung der Weiterübertragung.

II. Hinnahme bei Adoption und Legitimation Weitere verfassungsrechtlich gebotene Fälle der Hinnahme mehrfacher Staatsangehörigkeit sind die der Adoption und Legitimation. 382 Art. 6 Abs. 1 379

Vgl. oben § 17.

380

Das BVerfG hatte im Mehrstaaterbeschluß dieses Recht ausdrücklich auf Art. 3 Abs. 2 GG gestützt, ohne diesbezügliche Ausführungen zu Art. 16 Abs. 1 GG zu machen (E 37, 217ff., 248ff.); siehe auch Bleckmann, der diese Garantie aus dem Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 GG herleitet: "Zu dem durch die Staatsangehörigkeit begründetem Treueverhältnis zwischen den Angehörigen und ihrem Heimatstaat (dürfte) auch das Recht gehören, ihren Kindern die Staatsangehörigkeit zu 'vererben', weil sonst die rechtlichen Beziehungen zwischen den Eltern und den Kindern dem Grundgedanken des Art. 6 II GG widersprechend verunsichert werden." Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 967. 381

Ebenda.

382

Vgl. oben § 17

298

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

und 5 GG gebieten in jeder Hinsicht Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Abkömmlingen. 383 Diese Gleichstellung muß auch im Staatsangehörigkeitsrecht ihren entsprechenden Niederschlag finden. Ist aber wegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG Hinnahme im originären Erwerbsbereich für eheliche Kinder geboten, muß dies aus gebotener Gleichstellung auch für den Status Adoptierter und Legitimierter gelten.

III. Wiedergutmachungsfälle Einen speziellen Fall verfassungsrechtlich gebotener Hinnahme von Mehrstaatigkeit enthält Art. 116 Abs. 2 GG. 3 8 4 Insbesondere die Einbürgerungsfiktion des Satzes 2 drückt dies aus. Mit der Einräumung, die deutsche Staatsangehörigkeit auch ohne ausdrückliche Erklärung wiederzuerwerben, wollten die Verfassungsväter Zwangsausgebürgerten und deren Abkömmlingen nicht nur ein förmliches Einbürgerungsverfahren ersparen, sondern auch einem etwaigen Verlust bisheriger, zwischenzeitlich erworbener Staatsangehörigkeiten vorschieben. Soweit nämlich das ausländische Staatsangehörigkeitsrecht - wie das deutsche - an den antragsgemäßen fremden Staatsangehörigkeitserwerb die automatische Aufgabe der eigenen Staatangehörigkeit knüpft, träfe dies einen Personenkreis, der aus "guten Gründen" nicht sicher sein konnte, was Geborgenheit, Schutz und Wert der deutschen Staatsangehörigkeit bedeuten. 385

IV. Unzumutbarkeitsfälle Das Rechtsstaatsprinzip gebietet Hinnahme von Mehrstaatigkeit in ansonsten unzumutbaren Härtefällen. Nach deutscher Verfassungsordnung gilt das Verhältnismäßigkeitsgebot uneingeschränkt und bindet jede der Gewalten. Das trifft auch im Staatsangehörigkeitsrecht zu. Staatsangehörigkeitsrechtliche Maßnahmen sind an Zumutbarkeitskriterien zu messen.386 Von niemandem darf verlangt werden, was er überhaupt nicht oder nur unter unerträglichen Bedingungen zu geben vermag.

383

Dazu Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 971; Kammann, S. 207.

384

Vgl. oben § 17.

385

Zum ganzen: Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 971.

386

Vgl. hierzu Begründung des interfraktionalen Entwurfs BT-Drs. 12 / 4450, S. 36; Einbürgerungsrichtlinien, Nr. 5.3.3.

3. Kap.: Verfassungsrechtliche Legitimation von Abweichungen

299

1. Menschenrechtsfälle Mehrstaatigkeit ist aus diesem Grunde auch im derivativen Erwerbsbereich durch Einbürgerung unter gewissen engen Voraussetzungen hinzunehmen. Diese Ausnahmefalle sind in den Einbürgerungsrichtlinien sowie in den im § 87 AuslG einfach-gesetzlich genannten Konstellationen von der deutschen Rechtsordnung konkretisiert. 387 Nach § 87 AuslG wird die Unzumutbarkeit vermutet, wenn das Recht des Heimatstaates das Ausscheiden aus der bisherigen Staatsangehörigkeit nicht vorsieht (Nr. 1), der Heimatstaat die Entlassung regelmäßig verweigert (Nr. 2) oder willkürlich versagt (Nr.3). Gem. § 87 Abs. 1 Nr.4 AuslG erstreckt sich die Vermutung der Unzumutbarkeit auch auf Angehörige bestimmter Personengruppen, insbesondere politische Flüchlinge, für die die Forderung nach Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit wegen des Fluchtgrundes eine nicht hinnehmbare Härte darstellt. Auch die Ermessensrichtlinien stellen für die Ermessenseinbürgerungen gem. §§8 und 9 RuStAG klar, daß in individuellen, unzumutbaren Härtefällen Mehrstaatigkeit hinzunehmen ist. Die dort ausformulierten Regelbeispiele gleichen im wesentlichen den in § 87 AuslG genannten Unzumutbarkeitskriterien.

2. Deutschen-Vorbehaltsfalle a) Beibehaltungsfälle Mehrstaatigkeit wird in Einzelfallen auch hingenommen, wenn ein deutscher Staatsangehöriger antragsgemäß vom Ausland her eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt. § 25 Abs. 2 RuStAG enthält hierfür die gesetzliche Voraussetzung. Der in Abs. 1 angeordnete automatische Verlust der Staatsangehörigkeit tritt danach nicht für denjenigen ein, der vor dem Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit auf seinen Antrag die schriftliche Genehmigung der zuständigen deutschen Behörde zur Beibehaltung seiner deutschen Staatsangehörigkeit erhalten hat. Die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift macht deutlich, daß sie vor allem wegen der unerwünschten Mehrstaatigkeit Ausnahme bleiben sollte und nur zur Abwendung unzumutbarer Härtefälle dient. 388 "Schwerwiegende persönliche Gründe des Antragstellers (müssen) für die Beibehaltung sprechen, z.B. wenn er die fremde Staatsangehörigkeit aus einer Zwangslage heraus erwirbt, und wenn für ihn dabei eine seine Lebensgrund-

387

Vgl. oben § 17.

388

Makarov / v. Mangoldt, § 25 Rdnr. 49.

300

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

läge berührende Existenzfrage auf dem Spiel steht; weniger gewichtige Nachteile muß er hingegen grundsätzlich in Kauf nehmen"

Für die Beibehaltung im Einzelfall kann auch ein besonderes staatliches Interesse sprechen, etwa wirtschaftliche und entwicklungspolitische Interessen. Die Bestimmung des § 25 Abs. 2 RuStAG wird im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten des Übereinkommens über die Verringerung der Mehrstaatigkeit teilweise überlagert. Danach ist - soweit nicht eine Vertragspartei einen ausdrücklichen Vorbehalt erklärt hat - die Beibehaltung generell zu untersagen. Die Bundesrepublik Deutschland hat einen entsprechenden Vorbehalt nur im Verhältnis zu Österreich erklärt. Eine Beibehaltungsgenehmigung kann folglich beim Erwerb der österreichischen Staatsangehörigkeit im Ausnahmefall erteilt werden. 389

b) Statusdeutschenfälle Für Statusdeutsche besteht die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Hinnahme von Mehrstaatigkeit in Art. 116 Abs. 1 GG. Die Verfassungsväter brachten durch diese Vorschrift zum Ausdruck, das Flucht- und Vertreibungsschicksal der davon Betroffenen auffangen zu wollen. Diese Menschen sollten deutschen Staatsangehörigen daher in jeder Hinsicht gleichgestellt sein. 390 Aus diesem Grunde ist das Abstammungsprinzip unmittelbar für das Statusdeutschen-Verhältnis durch Einbeziehung der "Abkömmlinge" verankert. Statusdeutsche sollten nicht in der Ungewißheit ihrer Schicksale gezwungen werden, sich "vor Ort" für die deutsche Staatsangehörigkeit entscheiden zu müssen, um ihren Abkömmlingen die Deutschen-Stellung i.S.d. Grundgesetzes zu erhalten. 391 Das Grundgesetz nimmt besondere Rücksicht auf diesen Personenkreis wegen des sie belastenden Vertreibungsdruckes, dessen Grundlage im Kalten Krieg zwischen Ost und West aufrechterhalten blieb und erst nach dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks Anfang der 90er Jahre schwindet. Um den davon Betroffenen die Möglichkeit zu belassen, auch nach Erwerb der "deutschen Staatsangehörigkeit" ihr Vertreibungs- und Verfolgungsschicksal nicht einfach auf sich beruhen zu lassen, gebietet Art. 116 Abs. 1 GG die Hinnahme bestehender anderer Staatsangehörigkeiten. Sie und zugleich ihre "Angehörigen" sollen in den Vertrei-

389

Vgl. oben § 18.

390

Maunz, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 116 Rdnr. 1

391

Ebenda, Rdnr.23.

3. Kap.: Verfassungsrechtliche Legitimation von Abweichungen

301

bungs- und Fluchtgebieten die Rechtsposition behalten, ihre Rechte erleichtert zu wahren. 392

§ 56 Über die fehlende Legitimation des ius soli und der Mehrstaatigkeit /. Aus dem demokratischen Prinzip? Zur Begründung für die Reform verweisen ihre Befürworter darauf, daß es der demokratischen Idee, insbesondere dem in ihr enthaltenen Freiheitsgedanken entspräche, eine Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzustellen. 393 Ausländer, die also längeren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland genießen, gebühre ein Anspruch, die Staatsgewalt, der sie unterworfen sind, mitzugestalten. Diese Kongruenz von Gewaltunterworfenheit und politischer Mitgestaltung soll nach den staatsangehörigkeitsrechtlichen Reformentwürfen heute zunehmend über einen erleichterten Staatsangehörigkeitserwerb der Ausländer hergestellt werden. Diese Reformentwürfe zeichnen sich in der Mehrzahl dadurch aus, daß man den Ausländeranteil durch einen ergänzenden ius soli Geburtserwerb und die generelle Zulassung der Mehrstaatigkeit erlaubt. Das demokratische Prinzip des Grundgesetzes enthält allerdings keine diesbezüglich zwangsnotwendige Anpassungspflicht. Das BVerfG hat in den Entscheidungen zum kommunalen Ausländerwahlrecht nur deutlich hervorgehoben, daß das demokratische Prinzip vom deutschen Volk ausgeht: 394 "Es trifft nicht zu, daß wegen der erheblichen Zunahme des Anteils der Ausländer an der Gesamtbevölkerung des Bundesgebietes der verfassungsrechtliche Begriff des Volkes einen Bedeutungswandel erfahren habe".

Der Kongruenzgedanke sei zwar im "Ausgangspunkt" zutreffend. Er "kann jedoch nicht zu einer Auflösung des Junktims zwischen der Eigenschaft als

392

Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 965ff. (971).

393

BT-Drs. 12 / 4533, S. 6.; vgl zur Problematik: BernsdorffProbleme der Ausländerintegration in verfassungsrechtlicher Sicht, S. 11 Off.; Bernsdorff sieht zutreffend nicht in der "Gewaltunterworfenheit", sondern im Zustand "mitgliedschaftlicher Verbundenheit" mit dem Staat die Grundlage der demokratischen Gleichheit (S. 151). Die anschließende Differenzierung zwischen "staatlichen" und "kommunalen" Bereichen, wie sie von den Ausländerwahlrechtsbefürwortern ebenfalls vorgenommen wurde, Oberzeugt indes nicht (S. 176f.). Denn auch "kommunale" Gewalt ist staatlicher Natur, vgl. dazu BVerfGE 83, S. 37ff. (50ff.). 394

BVerfGE 83, S. 37ff. (52); Anm. dazu Fritz Franz, ZAR 1991, S. 40ff.

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

302

Deutscher und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk als dem Inhaber der Staatsgewalt fuhren". 395 Das Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG ist das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland, deren grundsätzliche Zugehörigkeit durch die Staatsangehörigkeit vermittelt wird. Dem demokratischen Prinzip des Grundgesetzes ist in der Interpretation des BVerfG entsprochen, wenn die überwiegende Mehrzahl der Gewaltunterworfenen auf Grund der Staatsangehörigkeit die Staatsgewalt legitimiert. 396 Nach Blumenwitz stellt das demokratische Prinzip des Grundgesetzes gerade nicht auf die "Betroffenheit" ab, sondern ist "staatliches Organisationsprinzip". 397 Und Helmut Quaritsch stellt zutreffend fest: 398 "Nach den historischen Erfahrungen wie nach dem Selbstverständnis der Verfassungen schafft nicht Demokratie das Volk, sondern ein Volk schafft sich eine Demokratie".

Zwar zeigte das BVerfG in den Entscheidungen zum kommunalen Ausländerwahlrecht zugleich Wege auf, eine Mehrung politischer Mitspracherechte auch aller hier lebenden Menschen zu erzielen. 399 Es verwies insoweit auf das Ausgestaltungsrecht des Gesetzgebers aus Art. 73 Nr.2 GG. Danach können die Regelungen der Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit und damit auch der Kriterien, nach denen sich die Zugehörigkeit zum Staatsvolk des näheren bestimmt, durch den Gesetzgeber getroffen werden: 400 "Das Staatsangehörigkeitsrecht ist daher auch der Ort, an dem der Gesetzgeber Veränderungen in der Zusammensetzung der Einwohnerschaft der Bundesrepublik Deutschland im Blick auf die Ausübung politischer Rechte Rechnung tragen kann."

Damit stellte zwar das BVerfG die Weichen, Kongruenz von Gewaltunterworfenheit und politischer Mitsprache durch das Staatsangehörigkeitsrecht herzustellen. Es venvies auf die nach geltendem Verfassungsrecht einzig bestehende Möglichkeit, 401 "auf eine derartige Lage mit entsprechenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen zu reagieren, etwa dadurch, daß denjenigen Ausländern, die sich auf Dauer in der Bundesrepublik Deutschland niedergelassen haben, sich hier

395

Ebenda.

396

So auch: Blumenwitz, ZAR 1993, S. 151ff(154).

397

Ebenda.

398

Quaritsch, DÖV 1983, S. lff(9).

399

BVerfGE 83, S. 37fF. (49).

400

Ebenda, S. 52.

401

Ebenda.

3. Kap.: Verfassungsrechtliche Legitimation von Abweichungen

303

rechtens aufhalten und deutscher Staatsgewalt mithin in einer den Deutschen vergleichbaren Weise unterworfen sind, der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit erleichtert wird."

Doch das BVerfG konkretisierte damit keine "Anpassungspflicht" aus dem demokratischen Prinzip, wonach der Gesetzgeber die deutsche Staatsangehörigkeit auf möglichst alle hier lebenden Menschen erstrecken müßte. Es äußerte sich auch nicht zu den dabei zu beachtenden Erwerbsgrundsätzen im Staatsangehörigkeitsrecht. Insbesondere stellte es die Grundsätze des ius sanguinis und der Einzelstaatigkeit nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. 402 "Erleichterte Einbürgerung" bedeutet nicht zwangsnotwendig einen Wechsel geltender Grundsätze des Staatsangehörigkeitsrechts. Daß sie auch möglich ist unter Beachtung der geltenden Staatsangehörigkeitsprinzipien, belegen die seit den Entscheidungen des BVerfG in Kraft getretenen Reformen. 403 Sie führten bereits innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten zu einer Zunahme der Einbürgerungszahlen um 100%. 404 Mangels statistischer Erhebungen sind die jüngsten, unter Beibehaltung der Erwerbsgrundsätze beschlossenen und verkündeten Erleichterungen vom 30. Juni 1993 dabei noch unberücksichtigt, die insbesondere Anspruchseinbürgerungen schufen sowie die Gebühren einer Einbürgerung weiter senkten. 405 Soweit die Reformer mittels ius soli und Hinnahme von Mehrstaatigkeit beabsichtigen, darüber hinaus Ausländer beschleunigt in den Staatsverband aufzunehmen, ist ihr Anliegen also unnötig und weder aus dem demokratischen Prinzip gerechtfertigt noch aus den Entscheidungen zum kommunalen Ausländerwahlrecht des BVerfG ableitbar. Darüber hinaus liefe bei genereller Mehrstaatigkeit das demokratische Prinzip Gefahr, das in ihm angelegte Verantwortungsprinzip auszuhebeln. Demokratie ist Herrschaft des Volkes in Selbstveranwortung. Sie setzt den verantwortungsfahigen und -willigen Staatsbürger voraus. Nach Löwer ist "taugliches Legitimationssubjekt" in der Demokratie grundsätzlich "nur derjenige, der diese Verantwortung tragen muß." 4 0 6 Mitentscheiden soll derjenige, der die Entscheidung auch trägt. Aus diesem Grunde haben etwa Minderjährige oder Personen, für die zur Besorgung ihrer Angelegenheiten ein Betreuer bestellt ist, obwohl Staatsangehörige, keine politischen Mitspracherechte. 407 Die Bürde der demokratischen 402

So auch Blumenwitz, ZAR 1993, S. 151ff.(154).

403

BVerfGE 83, S. 37ff u. 63ff.

404 Beauftragte der Bundesregierung fiir die Belange der Ausländer (Hrsg.), Bericht 1993, S. 166ff; vgl. auch oben Einleitung unter III. 405

BGBl. I, S. 1062.

406

Schriftliche Stellungnahme, S. 164.

407

Vgl. hierzu etwa die Ausschlußgründe in §§ 12 und 13 BWahlG i.d.F. der Bekanntmachung v. 23.7.1993 (BGBl. I, S. 1288, bereinigt S. 1594), zuletzt geändert durch Gesetz v. 10.5.1994 (BGBl. I. S. 993).

304

Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Verantwortung wird ihnen nicht auferlegt, das Wahlrecht entsprechend vorenthalten. Demokratie verbindet Rechts- und Pfichtenstatus schicksalhaft miteinander. Der Träger der Demokratie, das Staatsvolk bildet insofern eine Schicksalsgemeischaft. Denn es lebt durch und zugleich auch infolge seiner selbstbestimmten Entscheidungen. Mehrstaatigkeit verleitet dazu, sich der gebotenen Verantwortung für die mitinitiierten politischen Entscheidungen zu entziehen und damit die Demokratie in eine Privilegiengesellschaft der Fremdverantwortung überzufuhren. 4 0 8 Angesichts der Zunahme der Freizügigkeit kann der Mehrstaater der staatlichen Inanspruchnahme - etwa der Wehr- oder Steuerpflicht - ausweichen. In Krisen wirtschaftlicher, sozialer oder militärischer Art ist der Mehrstaater eher geneigt, seine Loyalitätsbindungen aufzugeben als der Inhaber einer ausschließlichen Staatsangehörigkeit. Der Staatsverband bleibt für den Einzelstaater Schicksalgemeinschaft, für den Mehrstaater dagegen eine Privilegiengemeinschaft unter anderen. Die vom Staatsvolk gestaltete Situation im Herrschaftsgebiet ist im Notfall Lebensgrundlage nur für den Einzelstaater, der Mehrstaater hat die erleichterte Möglichkeit, sich dieser Gemeinschaft und damit seiner Verantwortung zu entpflichten. Für ihn bleibt der Staat eher experimentiergeeignet als für den Einzelstaater. Damit könnte er sein mehrstaatliches Mitwirkungsrecht weniger verantwortungsvoll wahrnehmen. Isensee formuliert diesen Gedanken prägnant: 409 "Jemand, der weiß, daß er teilhat an der Verantwortungsgemeinschaft seines Volkes, übt seine Rechte anders aus als jemand, der dieser Schicksalsgemeinschaft nicht auf Gedeih und Verderb angehört, sondern eben nur auf Gedeih."

IL Aus dem europäischen Integrationsgedanken

?

Sowohl die Präambel des Grundgesetze als auch Art. 23 und 24 GG enthalten den Gedanken, die Europäische Integration zu fördern. In der Reformdiskussion wird vorgetragen, erleichterte Aufnahme in den Staatverband mittels des ius soli und der Hinnahme von Mehrstaatigkeit diene diesem Verfassungsauftrag. Deutschland ist jedoch schon heute im Europarat und in den europäischen Gemeinschaften der nach seiner Bevölkerungszahl größte Staat. Nach seiner Besiedlungsdichte ist es eher über- als unterbesiedelt. 410

408

Dazu: Löwer, Schriftliche Stellungnahme, S. 164; Ziemske, ZRP 1993, S. 334ff. (336).

409

In: Focus ν. 13.6.1994, Nr. 24, S. 18ff. (20).

410

Hans v. Mangoldt , JZ 1993, S. 965ff. (970).

3. Kap.: Verfassungsrechtliche Legitimation von Abweichungen

305

Darüber hinaus ist schon heute Deutschlands demokratische Vertretung in den parlamentarischen Körperschaften der Europäischen Organisationen gefährdet, weil mancher ihm die ihm nach seiner Bevölkerungsgröße zukommende Mitgliederzahl verweigern möchte. Weitere Vergrößerung der Bevölkerung Deutschlands durch Ausweitung der Staatsangehörigkeitsverleihung würde bei der großen Zahl der in Deutschland geborenen Ausländerkinder das Problem erheblich verschärfen. 411 Auch wäre das ius soli wenig geeignet, gezielt im Hinblick auf ein zukünftiges "Europäisches Staatsvolk" integrativ zu wirken. Denn jeder, der innerhalb des Staatsgebietes geboren würde, wäre Staatsangehöriger, unabhängig von der Herkunft. Die im Bundesgebiet lebenden Ausländer kommen aber nur zu 23,2% aus den Mitgliedstaaten. Überdies ist ihr Anteil rückläufig. 1990 lag er noch bei 29.9%. 412 Der automatische ius-soli Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit würde sich also überwiegend auf viele erstrecken, die aus Ländern außerhalb des Europäischen Unionsgebietes kämen. Dadurch aber entstünden Probleme der Überschaubarkeit und Abgrenzbarkeit des Staatsvolkes schon zur Zeit seines Werdens, was den Prozeß der Integration möglicherweise gänzlich stoppen könnte. Schon gegenwärtig besteht die Gefahr, daß das "Unionsvolk" unübersehbar weitläufig ausgedehnt wird. 4 1 3 Denn das Unionsrecht überläßt es gem. Art. 8 EGV ausschließlich den Mitgliedstaaten, über ihr Staatsangehörigkeitsrecht zu bestimmen, wer in den Genuß des europäischen Bürgerrechts gelangen soll. Damit vollzieht sich auf europäischer Ebene, was in der stufenweisen Entwicklung der nationalen Einheit Deutschlands im 19. Jahrhundert der Fall war: die Vereinheitlichung der Staatsangehörigkeit ging der nationalstaatlichen politschen Einigung nicht voraus. Sie folgte der Bildung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches von 1871 durch das Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 nach. 414 Vorher bestand über Jahrzehnte zwar der Deutsche Zollverein, aber keine einheitliche Staatsangehörigkeit. Auch damals wurde den Einzelstaaten überlassen, die Zugehörigkeit zum Reich autonom zu regeln. Dies führte zu einer Unübersichtlichkeit, die abzustellen war. 4 1 5 Hinsichtlich des europäischen Einigungsprozesses ist zu befürchten, daß eine derartige Zersplitterung eintritt und vollends in eine "Unüberschaubar411

Ders.. StAZ 1994, S. 33ff.(41f.).

412

Die Beauftragte der Bundesregierung fiir die Belange der Ausländer (Hrsg.), Bericht 1993, S. 11 u. Tabelle 2 im Anhang. 413 So auch: Blumenwitz. S. 246ff. (257f.).

Abstammungsgrundsatz und Territorialitätsprinzip, in: ZfP 1994,

414

BGBl. Nord. Bd. 1870, Nr. 20, S. 355fT.

415

Dazu weiterfuhrende Hinweise bei: Thedieck, S. 3Iff., insbes. S. 34.

20 Ziemske

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Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

keit" der Regelung der Staatsangehörigkeitsverhältnisse fuhrt. 4 1 6 Bleibt es nach dem Europäischen Unionsvertrag den Einzelstaaten überlassen, zu regeln, wer Unionsbürger und damit Unionsberechtigter ist, ist das Staatsvolk der künftigen Europäischen Union nicht mehr faßbar. Insbesondere ist hier an die Ausweitungsmöglichkeiten durch bilaterale Verträge einzelner Mitgliedstaaten zu denken, beispielsweise Spanien, Italien, Frankreich, Großbritannien, einschließlich der Regelung der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Statusverhältnisse, den Kreis der Berechtigten einseitig zu erweitern.

///.

Aus staatlichem Interesse?

1. Vielfach wird behauptet, Erleichterte Aufnahme in den Staatsverband mittels ius soli und Hinnahme von Mehrstaatigkeit minimiere die Gewalttätigkeit gegenüber Ausländern. Der Zusammenhang von Gewaltminimierung und Staatsangehörigkeitsverleihung ist jedoch nicht einsichtig, schon allein deshalb, weil für den Gewalttäter die Staatsangehörigkeit von außen nicht erkennbar ist. Es handelt sich mithin zwar um eine verständliche Intention, die aber eben doch nur eine bloße Hoffnung bleibt. Zu befürchten ist andererseits, daß sie bei Verwirklichung genau Gegenteiliges provoziert. Denn die Absicht, gesellschaftliche Ausländerprobleme aus der Welt zu schaffen, indem man möglichst alle hier lebenden Ausländer zu Deutschen machte, könnte als "Etikettenschwindel" aufgefaßt werden und gesteigerten Radikalismus heraufbeschwören. Darüber hinaus richten sich die Gewaltaktionen zu gut 90% gegen "Asylbewerber und ihre Unterkünfte", also gerade nicht gegen Personen, die zur Zielgruppe eines erleichterten Staatsangehörigkeitserwerbs erklärt werden. 417 Das Gewaltminimierungsargument hat daher insgesamt übereifrige Beweggründe. Zur Regel universalisiert, verführte es überdies zu absurden rechtspolitischen Forderungen auch auf anderen Rechtsgebieten. Zugespitzt könnte argumentiert werden, zwecks Bekämpfung der Eigentumskriminalität die Unterscheidung von Eigentum und Nichteigentum zu beseitigen oder der

416 Angesichts der Rechtsprechung des EuGH weitet sich diese Gefahr aus. Denn danach ist Mitgliedstaaten verwehrt, Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates, die zugleich die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates besitzen, Niederlassungsfreiheiten zu versagen, weil die Betreffenden nach den Rechtsvorschriften des Aufhahmestaates als Staatsangehörige des Drittstaates gelten (EuGH, Urteil v. 7.7.1992, abgedr. in: DVB1. 1995, S. 32ff); zur Problematik auch: Zitleeg, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof zur Stellung der Staatsangehörigen von Drittstaaten in der Europäischen Gemeinschaft, in: Vom Ausländer zum Bürger, S. 448ff. 417 Beauftragte der Bundesregierung S. 116f.; vgl. auch Einleitung unter III.

für die Belange der Ausländer (Hrsg.), Bericht 1993,

3. Kap.: Verfassungsrechtliche Legitimation von Abweichungen

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Minimierung der Kriminalität wegen zahlreiche Straftatbestände überhaupt abzuschaffen. 2. Schließlich tragen die Reformer vor, Deutschland müsse der Tatsache Rechnung tragen, daß es faktisch ein Einwanderungsland sei. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht müsse sich entsprechend dem Recht der klassischen Einwanderungsländer USA und Kanada nähern. 418 Deutschland hat sich in der Tradition seiner grundsätzlichen, auch im Staatsangehörigkeit zum Ausdruck kommenden Politik nie als Einwanderungsland verstanden. 419 In den Einbürgerungsrichtlinien vom 15. Dezember 1977 heißt es unter Nr. 2.3: "Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland."

Wenn Deutschland gleichwohl immer wieder als Einwanderungsland verstanden wird, beruht das aber auf der Verwendung eines unklaren Einwanderungsbegriffes, für den auch Wanderarbeitnehmer "Einwanderer" sind. 4 2 0 Der Begriff Einwanderungsland ist umstritten. Teilweise wird darunter ein Staat verstanden, der bei Wanderungsbewegungen von Bevölkerung über einen deutlichen Überschuß von im Inland seßhaft werdenden Ausländern verfügt. Nach Hans v. Mangoldt ist Einwanderungsland ein Staat, der sich systematisch um den Zuzug von Ausländern, ggf. auch nur um den von besonders qualifizierten Ausländern mit dem Ziel bemüht, sie seßhaft zu machen, in die eigene Bevölkerung zu integrieren und schließlich in die eigene Staatsangehörigkeit aufzunehmen. 421 Diese Verknüpfung von Einwanderung und Einbürgerung kommt sehr deutlich im Immigration and Nationality Act des klassischen Einwanderungsstaates USA zum Ausdruck. Der Immigration and Nationality Act aus dem Jahre 1952 der USA definiert in See. 101 (a) unter Ziff. 15 den Begriff "immigrant": "The term immigrant means every alien except an alien who is within one of the following classes of non-immigrant aliens".

Das Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsgesetz der Vereinigten Staaten geht offensichtlich von einem weiten Einwandererbegriff aus. Zunächst einmal sind alle Ausländer Einwanderer, ausgenommen diejenigen, die in ausdrücklich genannte Nichteinwanderergruppen einzuordnen sind. Zu 418

Vgl. etwa Zuleeg. ZRP 1987, S. 188; Brie de, in: Geschichtliche Rechtswissenschaft, Festschrift fur Söllner, 1990, VI, S. lf.; Rittstieg, NJW 1991, 1384; Bischof / Teubner. Zwischen Einbürgerung und Rückkehr, S. 17ff.. S. 52. 419

Dazu: Herzog, Ausländerpolitik, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 1, Sp. 117ff. (120).

420

Dazu: Hans v. Mangoldt, JZ 1993, S. 970.

421

In: Jayme / Mansel. Nation und Staat im internationalen Privatrecht, S. 311

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Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

letzterem Personenkreis zählen: Diplomatische und konsularische Beamte, sonstige ausländische Staats- und Regierungsbeamte und deren Personal, Besucher, Durchreisende, ausländisches Schiffspersonal, sogenannte (vor allem chinesische) Treaty Merchants, Vertreter ausländischer Mächte bei den internationalen Organisationen, verdiente Ausländer im Dienst der USA, ausländische Vertreter der Presse, des Films, Radios, Studenten, Lehrer und Wissenschaftler im Rahmen des staatlich anerkannten Kultur- und Wissenschaftsaustausches, Verlobte amerikanischer Staatsangehöriger und deren minderjährige Kinder, die ausschließlich zum Zwecke einer gültigen Eheschließung in die USA kommen, Ausländer, die vorübergehend in den USA leben wollen, um ihre Arbeit beim gleichen Arbeitgeber fortsetzen zu kön422

nen. Überdies tragen Überbevölkerung, Arbeitsplatzproblematik und die Verpflichtung eines Staates, zunächst für die ihm unentrinnbar zugeordneten eigenen Staatsangehörigen zu sorgen, den Gedanken, kein Einwanderungsland sein zu wollen.

IV. Aus dem Gleichheitssatz? 1. Diskriminierung von Ausländern? Ius soli und Hinnahme von Mehrstaatigkeit sind auch nicht aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG geboten. Die Differenzierung zwischen Deutschen einerseits und Ausländern andererseits ist nicht etwa gleichheitswidrig. 4 2 3 Sie ist im Grundgesetz angelegt. Das dokumentiert die Trennung von Menschenrechten und Deutschen vorbehaltenen Grundrechten. 424 Auch Art. 3 Abs. 3 GG enthält nicht das Verbot, nach "Staatsangehörigkeit" zu unterscheiden. 425 Die Vorschrift lautet: "Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden."

422

Vgl. dazu auch Quaritsch, Der Staat 27 (1988), S. 489.

423

Ganz h.M. vgl.: Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 4 I; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, § 70 II, III; Ingo v. Münch, in: Grundgesetz-Kommentar, Vorb. Art. 1-19, Rdnr.9 m.w.N. 424

Vgl. dazu oben Einleitung unter II.

425

Dazu: Bernsdorff,

(62).

Probleme der Ausländerintegration in verfassungsrechtlicher Sicht, S. 56fiF.

3. Kap.: Verfassungsrechtliche Legitimation von Abweichungen

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Die "Staatsangehörigkeit" ist nicht genannt. Sie ist im Unterschied zu den der Tatsachenwelt entnommenen Begriffen "Abstammung", "Heimat" und "Herkunft" ein von gesetzlicher Definition abhängiger Begriff. 426 "Abstammung" umschreibt dabei die natürliche Beziehung zu den persönlichen Vorfahren, nicht aber die Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft. 427 "Heimat" und "Herkunft" meinen die Ortsverbundenheit und Ansässigkeit des Menschen. 428 Das deutsche Verfassungsrecht steht mit der Differenzierung von In- und Ausländern auch im Einklang mit internationalem Recht und mit dem Staatsrecht aller anderen Staaten. 429

2. "Umgekehrte" Diskriminierung deutscher Altbürger? Dagegen sind die Reformvorschläge, die die generelle Mehrstaatigkeit nur für Ausländer, nicht aber auch für deutsche Altbürger fordern, mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Unterstellt, Mehrstaatigkeit hätte tatsächlich die wohltuenden Konsequenzen, den europäischen Integrationsprozeß zu beschleunigen, Gewalt nach innen wie nach außen zu minimieren und zur Verfestigung des demokratischen Prinzips zu führen, bliebe nicht nachvollziehbar, warum deutsche Altbürger nach den Reformvorstellungen Einzelstaater bleiben sollten. Wäre es unter der Prämisse der Reformer nicht konsequent erstrebenswert, daß deutsche Altbürger unter Beibehaltung ihrer bisherigen etwa auch die türkische Staatsangehörigkeit erwerben könnten, um beispielsweise dort - was nach türkischem Recht nur Einheimischen gestattet ist 4 3 0 - über Grundstücke uneingeschränkt verfügen oder politische Mitwirkungsrechte ausüben zu dürfen, gleichgestellt mit deutsch-türkischen Mehrstaatern? Die Argumentation zugunsten der Mehrstaatigkeit ist gebrochen. Was für den Status der Neubürger als wünschenswert erachtet wird, wird für den Status der Altbürger zum "Übel" erklärt. Damit provoziert die Ungleichbehandlung - möglicherweise unnötig - umsomehr Spekulationen, Ängste und Verdachtsmomente, die wegen der Zielsetzung dieses Beitrags nur angedeutet werden können:

Bernsdorff\ S. 61; vgl. auch oben § 52; anderer Ansatz über Art. 3 Abs. 1 GG bei Gubelt, in: Grundgesetz-Kommentar, v. Münch / Kunig (Hrsg.), Art. 3 Rdnr. 5. 427

Isensee, in: VVDStRL, Bd. 32, S. 75; Ipsen, Die Grundrechte, Bd. II, S. 145.

428

BVerfGE 5, S. 17ff. (22; 9, S. 124ff. (128f.); 23, S. 258ff. (262).

429

Vgl. dazu oben Einleitung unter V.

430

Dazu Hailbronner, Einbürgerung, S. 73, Fußn. 170 u. S. 92; Kiliç, Deutsch-türkische Doppelstaatsangehörigkeit, in: StAZ 1994, S. 73ff. (75) unter Verweis auf die einschlägigen türkischen Bestimmungen.

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Teil 3: Institutsgarantie der deutschen Staatsangehörigkeit

Bestenfalls kann wegen der beabsichtigten unterschiedlichen Behandlung von Alt- und Neubürgern vermutet werden, daß die Reformer letzlich dem Prinzip der ausschließlichen Staatsangehörigkeit doch huldigen. Denn die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung bliebe - da (noch) Altbürger - nach den Reformvorschlägen weiterhin Monostaater. Nur in diesem Falle täte sich ein Widerspruch zwischen der öffentlich bekundeten ("Generelle Zulassung von Mehrstaatigkeit") und tatsächlich beabsichtigten Zielsetzung ("Beibehaltung des Grundsatzes der ausschließlichen Staatsangehörigkeit") auf. Es blieben notwendig Folgefragen offen, insbesondere, was die Reformer mit dieser offensichtlichen Verschleierung bezweckten. Möglicherweise aber liegen die Gründe dafür, daß nur Altbürger schicksalhaft mit dem Wohl und Wehe des deutschen Staates verbunden bleiben, mehrstaatige Neubürger dagegen ausschließlich die Möglichkeit sicheren Rückzugs in ihr Herkunftsland erhalten sollen, doch tiefer. Soll langfristig die herkömmliche, im Grundgesetz verankerte, in der internationalen Staatenpraxis anerkannte und ihre abgrenzenden Folgen noch unterschreitende Trennung von In- und Ausländern 431 in der Bundesrepublik Deutschland zugunsten einer "Klassengesellschaft" umgeformt werden? Ist beabsichtigt, Neubürger durch Mehrung von Freizügigkeit und politischen Mitspracherechten zu privilegierten deutschen Mehrstaatern "erster Klasse" zu machen, die den weniger berechtigten Altbürgern "zweiter Klasse" gegenüberstünden? Nach Löwer ist dies der Fall: 4 3 2 „Mehrstaatigkeit bleibt auch ein Obel, weil sie unübersehbar ein im Grundsatz gleichheitswidriges Privileg für den Mehrstaater ist."

Isensee poientiert plastisch: 433 "Die doppelte Staatsbürgerschaft würde für die Deutschen ein hohes Maß an Ungleichheit erzeugen. Die Normaldeutschen würden zu Deutschen zweiter Klasse."

Zwar blieben deutsche Monostaater im Inland den Neubürgern (noch) gleichgestellt. Doch im Herkunftsland der Neubürger wären sie - im Unterschied zu jenen - Fremde mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Eine ideale Ausgangsposition wäre geschaffen, das Inland - solange es wirtschaftlich dazu (noch) in der Lage ist - zu vermehrten Transferleistungen in die Herkunftsländer der Neubürger zu veranlassen, um bewußt die Mehrheit der deutschen Leistungsträger, die Altbürger, von der Nutzung der angesammelten Werte auszugrenzen. Ein schier unendliches Reservoir an phantasicvollen Rechtskonstruktioncn täte sich auf, die unterprivilegierte staats4