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German Pages 895 Year 1999
REINER TIMMERMANN (Hrsg.)
Die DDR- Politik und Ideologie als Instrument
Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann
Band 86
Die DDR - Politik und Ideologie als Instrument
Herausgegeben von
Heiner Timmermann
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Die DDR- Politik und Ideologie als Instrument I hrsg. von Heiner Timmennann.- Berlin: Duncker und Humblot, 1999 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e.V. ; Bd. 86) ISBN 3-428-09553-7
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-09553-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Vorwort In den Jahren nach dem Fall der Mauer und dem formalen Ende der DDR wurden bisher nicht zugängliche Akten von verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft bearbeitet, teilweise aufgearbeitet. Zahl und Qualität der Publikationen sind beachtlich. Der Zusammenbruch des Sozialismus hat allerdings langfristige Ursachen, die in ihrem Zusammenwirken keineswegs erforscht sind. Zentrale Strukturen und Prozesse der Herrschafts- und Gesellschaftsordnung konnten wegen Datenmangels weithin nicht vorher erforscht werden. Wichtige externe Rahmenbedingungen und Einflußfaktoren, das wirkliche Denken und Fühlen der Bevölkerung, die Motive und Strategien der Herrschenden in Krisenzeiten waren kaum berechenbar. Wenn außerdem nur unzuverlässige Daten über die wirtschaftliche und fmanzielle Lage des Landes zugänglich sind, wenn unabhängige empirische und systemkritische Forschung im Lande selbst unmöglich sind/waren, dann können eigentlich Sozialwissenschaftler auch keine Projektionen oder gar Prognosen stellen. Eine ebenso kritische wie differenzierende Deutschland- und DDR-Forschung ist unerläßlich, wenn es gelingen sollte, die Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur zu bewerkstelligen. Diesem Sammelband liegt folgende Struktur zugrunde: In der Einleitung soll ein geraffter Überblick über Entstehung und politisches System der DDR gegeben werden, in dem nahezu Selbstverständlichkeiten in Erinnerung gerufen werden, um auch Nichtfachleuten Grundlagen für das Verständnis der folgenden Beiträge zu liefern. Im zweiten Teil stellen sieben deutsche wissenschaftliche Einrichtungen ihre Arbeit zur Erforschung der DDR vor. Die Auswahl bedeutet einen kleinen Ausschnitt aus der Fülle der Einrichtungen, Institute, Forschungsprojekte. Eine umfangreiche Zusammenstellung wurde im letzten Jahr von Ulrich Mählertim Vademekum der DDR-Forschung vorgelegt.
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Vorwort
Die Teile III - VII beinhalten Beiträge zu: - Alltags- und Mentalitätsgeschichte; -Wirtschaft; - Geschichte; - Herrschaftssystem; - Gesellschaft, Bildung, Kultur. Im letzten Teil werden Aufgaben zeitgeschichtlicher DDR- und Deutschlandforschung von drei namhaften Vertretern dieser Forschungsrichtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln skizziert. Bei den meisten Artikeln handelt es sich um über- und aufgearbeitete Beiträge, die in einem Kolloquium des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Europäischen Akademie Otzenhausen, der Bundeszentrale für politische Bildung und der Union-Stiftung Saarbrücken gehalten wurden. Der Union-Stiftung sei besonders gedankt für die Publikationsmöglichkeit
Heiner Timmermann
Inhaltsverzeichnis I. Einleitung
Heiner Timmermann
Entstehung und politisches System im Überblick
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II. DDR in Geschichte und Politik
Gerhard Barkleit und Michael Richter
Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden
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Hans Ehlert
Das Militärgeschichtliche Forschungsamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Joachim Heise
Das Institut für vergleichende Staat-Kirche-Forschung
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Ulrich Mählert
Der Forschungsschwerpunkt DDR-Geschichte am Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität Mannheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Klaus Schroeder
Der Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin
73
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Walter Süß
Die Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die StasiUnterlagen . ... ...... .. . . . . . .. . . ... . ... . .... . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Martin Sabrow
Herrschaftsstrukturen und Erfahrungsdimensionen. Der Beitrag des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung zu einer retlektienen Historisierung der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .... 109
III. Alitags- und Mentalitätsgeschichte
Manfred Overesch
Buchenwald und sein vergessenes republikanisches Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
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Inhaltsverzeichnis
Helmut Meier
Zu Formen des praktischen Umgangs mit Erbe und Traditionen in der DDR . . . . . . . . 135
Jürgen Hofmann
Ostdeutsches Wir-Bewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt? . . . . . . . . . . . . . . 153
Heidemarie Stuhler
Neue Möglichkeiten - alte Muster. Anmerkungen zur Statuspassage Jugendlicher in ländlichen Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Jacco Pekelder Niederländische Wahrnehmungen des "anderen Deutschlands" . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
IV. Wirtschaft
Jörg Roesler
Alles nur systembedingt? Die Wirtschaftshistoriker auf der Suche nach den Ursachen der Wirtschaftsschwäche der DDR . . ... . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Daniela Beutler und Werner König
Das Bild des Ministeriums für Staatssicherheit von den volkseigenen Betrieben . . . . . . 233
Hans-Peter Müller
Historische Betriebsräte in der ostdeutschen Braunkohle- und Kraftwerksindustrie. Ein vergessenes Kapitel in der "Wende" 1989/90 in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Gerhard Barkleit
Das Dilemma der Mikroelektronik in der DDR in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Klemens Pleyer
Die Restitution von Vermögen und die Angleichung zivilrechtlicher Vorschriften . . . . . 323
V. Geschichte
Peter Erler
"Moskau-Kader" der KPD. Bestandsaufnahme zu einem Forschungsthema ... . . .... 333
Michael Kubina
Der Aufbau des zentralen Parteiapparates von KPD/SED in den ersten Nachkriegsjahren unter besonderer Berücksichtigung des parteieigenen Abwehrapparates . . . . . . . 359
Gerhard Keiderling
Von der "Gruppe Ulbricht" zur ,.Staatspartei". Der Landesverband Groß-Berlin der KPD/SED von 1945 bis 1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Inhaltsverzeichnis
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Harold Hurwitz
Die Stalinisierung der SED in den Jahren 1946 bis 1949. Eine Entwicklung in vier Phasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
Andreas Malycha Die Transformation der SED in eine "Partei neuen Typs" 1946 bis 1952 ...... . . .. 433
Katharina Lange
Konzeptionelle und praktische Vorleistungen fiir eine überparteiliche Einheitsjugend. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der FDJ in der SBZ . ..... .. . .. ... . . . .. 457
Michael Herms
Die Westarbeit der FDJ- ein Überblick ......... .. .. . ..... . .... . . .. ... 477
Tobias Wunschik
Das "Organ Strafvollzug" im Ministerium des Inneren der DDR .. . ... . .. . ..... 489
Annette Weinke
Die Instrumentalisierung von Staatssicherheit und Justiz für die Zwecke der innerparteilichen Säuberungen 1949-1954 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
Werner Müller
Die zwei Gründungen des Landes Mecklenburg-Vorpommern 1945 und 1990. Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
VI. Herrschaftssystem
Frank Petzold
Aspekte der Auswahl und Kontrolle von Grenzsoldaten durch das Ministerium fiir Staatssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
Gerd-Rüdiger Stephan SED-interne Auseinandersetzungen und Disziplinierung in der Ära Honecker. Überlegungen zum Verhältnis zwischen totalitär verfaßter Herrschaft und den Spielräumen innerparteilicher Diskussionen um das SED-Gesellschaftskonzept . . . . . . . 557
Friederike Sattler
Das entstehende Parteiensystem der SBZ als Problem des zentralen Parteiapparates der KPD 1945/46 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
581
Thomas Klein
Poststalinistische Praxis der innerparteilichen Repression und Disziplinierung unter Ulbricht
lnge Bennewitz
599
Zwangsumsiedlungen in der SBZ/DDR .. . . . . ...... . ..... . .......... . .. 617
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Inhaltsverzeichnis
Beatrix Souvier Widerstand und Verfolgung von Sozialdemokraten in der SBZ und fiiihen DDR . .. .. . 629
Piotr Zariczny Die Erhebung vom 17. Juni 1953 in Pressezeugnissen dieser Tage ....... . . ..... 647
Beate Ihrne-Tuehel
"Sozialistische Völkerfreundschaft" in der Praxis. Konflikte und Gemeinsamkeiten in den Beziehungen der DDR zu Polen und der CSSR von 1949 bis 1963 . . . . . . . . . . 679
Karl Christian Lammers
Die Beziehungen der skandinavischen Staaten zur DDR bis zur Normalisierung in den siebziger Jahren . . . . . . . . . . . . . . . ......... .. . . . . . . . . . . . . . . .... 703
Gerhard Besier
Internationale Religionspolitik als sozialistische Außenpolitik. Das Beispiel der DDR-Außenpolitik im südlichen Afrika (1970-1990) . . . . . .. .. .. ..... . . ..... 719
Lathar Mertens
Die Instrumentalisierung kleiner Religionsgemeinschaften fiir die SED-Außenpolitik. Das Beispiel der Jüdischen Gemeinden und der Mormonen in der DDR . . . . . . 757
VII. Gesellschaft, Bildung, Kultur
Kerstin Thöns
SED-Kirchenpolitik, FDJ und protestantische Jugend 1957-1961 . ........ . . ... .. 779
Dagmar Unverhau und Sabine Gries Kindesmißhandlungen und Kindestötungen in der DDR. Eine Auseinandersetzung mit DDR-Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805
Roben Grünbaum
Die Schriftsteller im Spannungsfeld von Literatur und Politik. Die Rolle der DDR-Literaten in der Revolution von 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 839
Paul Caoke
Aufarbeitung oder Ästhetisierung? Die Stasi-Vergangenheit in der Literatur: Wolfgang Hilbigs •Ich« . .. . . ... . . .. .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859
VIII. Aufgaben zeitgeschichtlicher DDR· und Deutschlandforschung
Christoph Kleßmann
Aufgaben zeitgeschichtlicher DDR- und Deutschlandforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 875
Inhaltsverzeichnis
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Manfred Wilke
Aufgaben zeitgeschichtlicher DDR- und Deutschlandforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 879
Hermann Weber
Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte und die Wissenschaft
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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893
I. Einleitung
Entstehung und politisches System im Überblick Von Heiner Timmermann
I. Entstehung Auf deutschem Boden befanden sich für 40 I ahre in diesem I ahrhundert nicht nur die Nahtstelle zwischen Ost und West, sondern auch ein Spielfeld in Gestalt von zwei Staaten, auf dem zwei deutsche Mannschaften - die westliche Demokratie und die sozialistische Diktatur des Proletariats - mehr gegeneinander als miteinander standen. Die Ausgangslage war denkbar kompliziert, die Entwicklungen, die zu zwei deutschen Staaten führten, nicht weniger. Die Siegermächte hatten auf Konferenzen und in Gesprächen über die Behandlung Deutschlands nach dem Kriege beraten: Im Dezember 1941 Eden, Stalin und Molotow in Moskau; im Januar 1943 Churchill und Roosevelt in Casablanca; im August und September 1943 Churchill und Roosevelt in Quebec; im Oktober/November 1943 die Außenminister Großbritanniens, der USA und der Sowjetunion in Moskau; im November/Dezember 1943 Churchill, Roosevelt und Stalin in Teheran; im Oktober 1944 Churchill, Harriman und Stalin in Moskau; im Februar 1945 Churchill, Roosevelt und Stalin in Jalta. Eine von den Außenministern im November 1943 eingesetzte "Europäische Beratende Kommission" tagte ab Anfang 1944 in London und war das einzige und entscheidende Instrument zur Vorbereitung und Festlegung der alliierten Nachkriegspolitik gegenüber Deutschland. Bis zur Konferenz von Jalta hatte diese im wesentlichen die ihr zugewiesenen Aufgaben erfüllt: Ein Entwurf zur bedindungslosen Kapitulation Deutschlands vom 25. Juli 1944, ein Protokoll über die Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung Groß-Berlins vom 12. September 1944 - ergänzt durch das 1. Zusatzabkommen vom 14. November 1944 und die Erklärung der britischen Militärkornmission in Washington vom 20. Januar 1945 über die Bremer Enklave-, das Abkommen über die Kontrollgewalt in Deutschland vom 14. November 1944.
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Die Deutsche Wehrmacht kapitulierte am 7. und 8. Mai 1945 bedingungslos. Die Geschäftsführende Reichsregierung wurde am 23. Mai 1945 verhaftet. Die Alliierten standen bald vor der Aufgabe, Deutschland zu verwalten. Hierbei stützten sie sich auf die Beschlüsse der Jalta-Konferenz, auf die "Erklärung" und drei "Feststellungen" vom 5. Juni 1945, auf die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli- 2. August 1945 und auf die Proklamation der Alliierten Oberbefehlshaber vom 30. August 1945. Mit der "Erklärung" vom 5. Juni 1945 übernahmen die Siegermächte die oberste Regierungsgewalt in Deutschland, die Befugnisse der deutschen Regierung, des Oberkomanndos der Wehrmacht und der Regierungen, Verwaltungen und Behörden der Länder, Kreise, Städte und Gemeinden für das Gebiet der Besatzungszonen. Die erste "Feststellung" regelte das Kontrollverfahren in Deutschland. Die vier Oberbefehlshaber wurden als oberste Regierungsgewalt eingesetzt, die ihr Amt auf Anweisung ihrer Regierungen ausüben sollten, jeder in seiner Zone und gemeinsam in allen Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten. Zusammen bildeten sie den Allierten Kontrollrat, dessen Beschlüsse im Falle der gemeinsamen Verbindlichkeit einstimmig gefaßt werden mußten. Unter dem Kontrollrat gab es einen Koordinierungsausschuß der vier Stellvertreter der Militärgouverneure und einen Kontrollstab mit 13, Ministerien vergleichbaren Abteilungen. An der Spitze jeder Abteilung standen vier von den vier Mächten ernannte Leiter. Die Verwaltung Groß-Berlins wurde von der Interalliierten Behörde geleitet, die unter Aufsicht des Kontrollrats arbeitete und sich aus den vier Kommandanten zusammensetzte, die abwechselnd als Hauptkommandanten fungierten . Da die geplanten Grenzen der Zonen nicht mit dem Verlauf der Fronten am Ende des Krieges übereinstimmten, trat der Kontrollrat erst nach Abschluß aller Umgruppierungen am 30. Juli 1945 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Damit war eine Übergangsphase abgeschlossen, die mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht begonnen hatte. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurden bereits im Juni/Juli 1945 politische Parteien zugelassen (KPD, SPD, CDU, LDP), die unter dem Druck der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) eine "Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien" vereinbarten. Dieser Block bedeutete etwas anderes als eine Koalition. Es ging darum, daß die Arbeiterschaft - im Sprachgebrauch war damit die KPD gemeint - die führende Rolle in der politischen Entwicklung übernahm. In der SBZ reorganisierte die Besatzungsmacht
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die Verwaltung von der kommunalen bis zur Besatzungsebene. Bürgermeister und Landräte wurden eingesetzt, und Anfang Juli ernannte die SMAD Landesbzw. Provinzialregierungen in Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen. Durch die Errichtung von 11 deutschen Zentralverwaltungen erhielt die gesamte SBZ einen starken zentralistischen Grundzug. Die KPD hatte bei der SMAD den entscheidenden Rückhalt, um ihre mit der Besatzungsmacht abgestimmte Politik durchzusetzen. Die Sowjets besaßen damit ein Instrumentarium, dessen sie in den Auseinandersetzungen mit den anderen deutschen Parteien und den Westalliierten sicher sein konnte. Angesichts der Wahlergebnisse in Österreich und Ungarn, die für die Kommunisten ungünstig ausfielen, erschien den Sowjets die Verschmelzung von KPD und SPD als das einzige Mittel, um die Führungsrolle der KPD abzusichern, wobei allerdings nicht zu verschweigen ist, daß es starke Kräfte in der SPD der SBZ gab, die schon früh für eine Vereinigung mit der KPD eintraten. Der Zusammenschluß beider Parteien erfolgte schließlich im April 1946 zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Nur in Berlin kam es zu einer Abstimmung der SPD-Mitglieder, die sich mit großer Mehrheit gegen einen Zusammenschluß aussprachen. Für die bürgerlichen Parteien entfiel damit die Sozialdemokratie als möglicher Koalitionspartner. Im Herst 1946 fanden Gemeinde- und Landtagswahlen statt. Nur von der SMAD genehmigte Ortsverbände der Parteien waren berechtigt, an der Wahl durch Kandidaten teilzunehmen. Die SMAD lehnte in vielen Fällen die Registrierung von CDU und LDP ab. Bei der Zuteilung von Papierlieferungen durch die SMAD wurden die bürgerlichen Parteien gegenüber der SED sehr benachteiligt. Die SMAD übte auch starken Druck aus auf Redner von CDU und LDP und beschränkte und zensierte Plakate, Flugblätter und Zeitungen dieser Parteien. Die Stadtratswahl in Groß-Berlin im Herbst 1946 war allerdings der eigentliche Gradmesser der politischen Meinung der Bevölkerung; denn in den vier Sektoren hatte sich die SED mit der dort weiterbestehenden SPD auseinanderzusetzen. Das Ergebnis bedeutete für die SED eine eindeutige Niederlage. Sie kam auf 19,8 %, die SPD auf 48,7, %, die CDU auf22,2% und die LPD auf 9,3 %. Gemeinsam mit der SED zogen die Sowjets aus den Wahlergebnissen in Berlin und ihrer Zone die Konsequenzen: Die Wahlen bleiben die letzten in der Sowjetzone, bei denen der Wähler alternative Entscheidungen treffen konnte.
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Bereits in deutschen Widerstands- und Emigrantenkreisen gab es zahlreiche Konzeptionen für die Neuordnung Deutschlands im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen, gesellschaftlichen und außenpolitischen Bereich. Diese unterschiedlichen Konzeptionen spielten in der Diskussion in den Zonen eine große Rolle, nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus eine gerechte Ordnung zu schaffen. Man kann die verschiedenen Auffassungen rubrizieren unter Neoliberalismus, Sozialismus, Kommunismus, Katholischer Soziallehre, Evangelischer Sozialethik, Deutschland als Brückenfunktion in Europa, Deutschland als Teil einer europäischen Föderation usw. In der SBZ wurden 1945 Strukturveränderungen herbeigeführt, die das wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Leben gegenüber den Verhältnissen von vor 1933 grundsätzlich veränderten. Die Umgestaltung begann Anfang September 1945 mit einer Bodenreform in Sachsen, die bald auf die anderen Länder der SBZ ausgedehnt wurde. Ziel war neben der Abschaffung des Großgrundbesitzes die Förderung der Kleinbauern. Weitere Umgestaltungsmaßnahmen waren: Die Schließung der privaten Banken und Versicherungen, die Verstaatlichung großer Wirtschaftsunternehmen, die Durchführung einer Bildungs- und Justizreform. Eine grundsätzliche Änderung der Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftsordnung gegenüber den Verhältnissen von vor 1933 erfolgte in den westlichen Besatzungszonen nicht. Die britische Regierung richtete sich trotz gelegentlicher Sozialisierungsmaßnahmen nach wirtschaftlichen und politischen Zweckmäßigkeilen im Rahmen des Bündnisses mit den USA, die Sozialisierungsmaßnahmen abwehrten. Die wirtschaftlichen Beziehung zwischen den Westzonen und der Ostzone war gering und die Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands so unterschiedlich, daß längst vor 1949 eine Einheit des besetzten Deutschland nicht mehr gegeben war. Von weitaus größerer Bedeutung als die unterschiedlichen Entwicklungen in den Besatzungszonen wurden die Auseinandersetzungen unter den ehemaligen Alliierten vor dem sich anbahnenden Ost-West-Konflikt und in den Fragen der Kontrolle des Ruhrgebietes und der Reparationen. Dem Aufbau eines sozialistischen Staatensystem in Mittel- und Osteuropa durch die UdSSR setzten die USA die Politik der Eindämmung entgegen. Ohne ein politisch und wirtschaftlich gesundes Deutschland schien den Amerikanern die Erreichung ihres Zieles, die Wiederbelebung zumindest Westeuropas, nicht möglich. Da die Errichtung von gemeinsamen Verwaltungsämtern für die vier Zonen wegen der französischen und sowjetischen Widerstände nicht möglich war, beschlossen Briten und Amerikaner die Etablierung deutscher Wirtschaftsbehörden für ihre Zonen:
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Wirtschaft, Ernährung und Landwirtschaft, Finanzen, Post- und Fernmeldewesen sowie Verkehr. Hierzu wurden Verwaltungsräte und Verwaltungsämter geschaffen. Mitte 1947 kam es zu einer Reform der Verwaltungsräte und Verwaltungsämter, und die Ministerpräsidenten beider Zonen richteten einen "Wirtschaftsrat für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet" ein, der sich aus drei Organen zusammensetzte: Wirtschaftsrat, Exekutivrat und Direktoren der Verwaltungen. Das politisch wichtigste Organ wurde der Wirtschaftsrat, der zunächst aus 52, ab Februar 1948 aus 1o4 Abgeordneten der Landtage bestand. In diesem Wirtschaftsrat setzte sich allmählich die politische Ansicht des Neoliberalismus mit einer starken sozialen Komponente durch. Als Reaktion auf die Gründung des Wirtschaftsrates der zwei Zonen (BiZone) schuf die SMAD die Deutsche Wirtschaftskommission, bestehend aus den fünf Präsidenten der Zentralverwaltungen für Industrie, Verkehr, Handel und Versorgung, Land- und Forstwirtschaft, Brennstoff und Energie und den Vorsitzenden der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) und des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB). Die Zentralverwaltungen unterstanden faktisch der Deutschen Wirtschaftskommisssion. Die Spannungen zwischen der SED und den beiden bürgerlichen Parteien nahmen im Frühsommer 1947 zu. Während die Liberal-Demokratischen Partei weiterhin eine Verständigung mit der SED suchte, verließ der Berliner Landesverband aus Protest den zentralen Vorstand. Die CDU, die sich bereits ab 1945 dem Führungsanspruch der KPD bzw. der SED widersetzt hatte, mußte ihren Widerstand zweimal mit der Absetzung ihrer Führung durch die SMAD bezahlen, und zwar im Dezember 1945 Hermes und Schreiber wegen ihres Widerstandes gegen die Methoden der Durchführung der Bodenreform, im November 1947 Kaiser und Lemmer wegen ihres Widerstandes gegen die Volkskongreßbewegung. Im Gegensatz zur SMAD und zur SED befürwortete Kaiser bereits im Frühsommer 1947 den Plan der USA zum Wideraufbau des zerstörten Europa (Marshall-Plan). Konferenzen der Außenminister der Siegermächte zur Lösung des Deutschlandproblemsverliefen ergebnislos. Die Deutschlandstrategien der Westmächte und der UdSSR waren durch unvereinbare Gegensätze gekennzeichnet, begünstigten die Erweiterung der Bi-Zone um die französische zur Tri-Zone, zum Einbezug der Westzonen in die Wirtschaftshilfe des Marshall-Planes und führten schließlich zum Scheitern des Kontrollrates im März 1948. Getrennte Währungsreformen im Juni 1948, die Blockade Berlins durch die Sowjets vom Juni 1948 bis Mai 1949, Aufträge der Westmächte (Frankfurter Dokumente vom 1. Juli 1948) und der UdSSR (im Rahmen der von ihr gesteuerten Volks-
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kongreßbewegung Ende 1947) an die Deutschen der jeweiligen Territorien, Gremien zur Ausarbeitung von Verfassungen für die Schaffung eines deutschen Staates in der Hoffnung auf Anschluß der jeweiligen anderen Seite zu bilden, waren die entscheidenden Schritte zur Spaltung Deutschlands. Die westdeutsche Bevölkerung lehnte in freien Wahlen eine sozialistisch-kommunistische Staatsund Gesellschaftsordnung ab, indem deren Vertreter bei Wahlen eine eindeutige Absage erhielten. Der Bevölkerung der Sowjetzone wurde die Chance einer freien Entscheidung über die politische Zukunftsgestaltung niemals gegeben. Der im März 1948 vom "Zweiten Deutschen Volkskongreß" gewählte "Deutsche Volksrat" setzte einen Verfassungsausschuß ein, der auf der Grundlage eines von der SED im Jahre 1946 vorgelegten Verfassungsentwurfs eine Verfassung ausarbeitete und am 22. Oktober 1948 verabschiedete, die im März 1949 vom "Deutschen Volkskongreß" gebilligt wurde. Im Mai 1949 fanden Wahlen zum "Dritten Deutschen Vo1kskongreß" nach einer Einheitsliste statt, gekoppelt mit einer Abstimmung über die Verfassung. Auf der Einheitsliste wurden den zum Demokratischen Block zusammengeschlossenen Parteien und Massenorganisationen bereits vor der Wahl bestimmte Kontingente nach folgendem Schlüssel zugeteilt: SED 25 %, CDU und LDP je 15 %, NDPD (NationalDemokratische Partei) und DBD (Demokratische Bauernpartei Deutschlands) je 7,5 %, FDGB 1o, FDJ (Freie Deutsche Jugend) und Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands je 5 %, DFD (Demokratischer Frauenbund Deutschlands) und VVN (Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes) je 3,7 %, VdgB und Genossenschaften je 1,3%. Mit Hilfe von massiven Wahlfälschungen bezifferte die SED den Anteil an Ja-Stimmen mit 61 %. Fast 40 % der Abstimmendenm die trotz Wahlmanipulation als Nein- oder ungültige Stimme gewertet werden mußten, hatten keine Vertretung im Ende Mai 1949 zusammengetretenen Volkskongreß. Dieser setzte einen Volksrat ein, der am 7 . Oktober 1949 die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik beschloß.
II. Das politische System Von ihrer Verfassung wurde die DDR als eine sozialistische Gesellschaftsform festgelegt. Auch die politischen Machtverhältnisse wurden festgeschrieben und als dem Staatsziel dienend ausgewiesen: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Ar-
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beitsklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" (Art. 1.1 der DDRVerfassung). Die Gründung und Entwicklung von Staat und Gesellschaft der DDR wurde eingebunden gesehen in jene "welthistorische Gesetzmäßigkeit der Entwicklung, an deren Ende der Triumph des Sozialismus über den Kapitalismus und Imperialismus stehen wird". Diese "welthistorische Gesetzmäßigkeit der Entwicklung (Historischer Materialismus) geht dabei von folgender Abfolge der Gesellschaftsformationen aus: Urgesellschaft (alles gehört in gleicher Weise allen, keine Ausbeutung), Sklavenhaltergesellschaft (Produktionsmittel und Produzenten gehören dem Sklavenhalter), Feudalismus (Produktionsmittel gehören dem Feudalherrn, begrenzt auch durch die Produzenten), Kapitalismus (der Kapitalist besitzt die Produktionsmittel), Sozialismus und Kommunismus. Die DDR befand sich in dieser Entwicklung nach ihrem Eigenverständnis im Sozialismus, einer Übergangsform zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Kennzeichnend für den Sozialismus waren: Kein Privateigentum an Produktiosnmitteln, "die allseitige Entwicklung der Fähigkeiten und Talente des Menschen und die Herausbildung eines neuen Typs der Persönlichkeit" (Kleines Politisches Wörterbuch der DDR), die bewußte und planmäßige Leitung der gesellschaftlichen Prozesse und die Gesamtentwicklung der Gesellschaft auf der Grundlage der anerkannten Gesetzmäßigkeiten, Fortbestehen von Klassen, die aber nicht im Kampf gegeneinander stehen, sondern miteinander verbündet sind; Verteilungsprinzip: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Möglichkeiten. Als Herrschaftsform galt die Herrschaft des Proletariats. Seit dem IX. Parteitag der SED vom Mai 1976, auf dem ein neues Programm und Statut verabschiedet wurden, sprach die SED von der "Gestaltung der entwikkelten sozialistischen Gesellschaft". Es galt als das Hauptziel der Partei, "weiterhin die entwickelte sozialistische Gesellschaft zu gestalten und so grundlegende Voraussetzungen für den Übergang zum Kommunismus zu schaffen". Kurz vor dem Untergang ging es also in der DDR um die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft.
111. Staatsverständnis Der historische Materialismus bestimmt den Staat als ein historisches Phänomen, als "ein Produkt der Klassenspaltung" in der Gesellschaft, "genauer gesagt: Ein Produkt der Spaltung der Gesellschaft in einander unversöhnlich gegenüberstehende Klassen". Das in der DDR in mehrfacher Auflage erschienene "Kleines Politisches Wörterbuch" definierte den Staat als das "entscheidende politische Machtinstrument in den Händen bestimmter Klassen zur
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Durchsetzung ihrer Interessen .. .. Das Wesen des Staates wird jeweils durch die ihn beherrschende Klasse bestimmt. Mittels des Staates übt diese Klasse ihre Macht, ihre Diktatur aus .. . . Sie bedient sich dazu bestimmter Mittel und Einrichtungen der Machtausübung, so vor allem der Armee, Polizei, des Apparates staatlicher Beamter oder Angestellter, der Gesetzgebung und Rechtsprechung, der Steuer- und Finanzpolitik". Aus der Bindung des Staates an die Existenz einer Klassengesellschaft ergaben sich nach dem Verständnis des Marxismus-Leninismus in der Geschichte auf Grund wechselnder Gesellschaftsformationen folgende Typen des Staates: Der Sklavenhalterstaat als Diktatur der Sklavenhalter, der Feudalstaat als Diktatur der Feudalherren, der bürgerliche Staat als Diktatur der Bourgeoisie. Innerhalb dieser drei Typen gab es geschichtlich bedingte Modifikationen, die vor allem in unterschiedlichen Staatsformen (Monarchie, Despotie, Oligarchie, Stände-Staat, parlamentarische Republik, faschistischer Staat usw.) ihren Ausdruck fanden. Für die Theorie war der Zusammenhang von Staatstyp und Staatsform von großer ideologischer Bedeutung, da die bürgerlichen "Ideologen versuchen, z. B. mit dem Hinweis auf Veränderungen in den Formen und Methoden des bürgerlichen Staates dessen Klassenkampfcharakter zu verschleiern. So mannigfaltig jedoch die Formen des bürgerlichen Staates sind, ihr Wesen ist immer dasselbe: Sie sind die Diktaturen der Bourgeoisie" (Kleines Politisches Wörterbuch). Diesen drei Ausbeuterstaaten, so das "Kleines Politisches Wörterbuch" gegenüber habe die Geschichte einen völlig neuartigen Staatstyp hervorgebracht, den sozialistischen Staat, der seinem Klassenwesen nach die Diktatur des Proletariats sei. "Der sozialistische Staat ist insofern noch Staat im Sinne des allgemeinen Staatsbegriffs, als er das entscheidende politische Machtinstrument in den Händen der Arbeiterklasse zur Durchsetzung ihrer Klasseninteressen ist" (Kleines Politisches Wörterbuch). Zugleich wurde behauptet, daß sich dieser sozialistische Staatstyp von allen anderen Staatstypen unterscheide, und zwar dadurch, daß er die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit sei. Ferner wäre der sozialistische Staatsapparat nicht mehr vom Volke getrennt, sondern diene dem im Interesse des Volkes liegenden gesellschaftlichen Fortschritt. Der Staat entfalte so sein Wesen als organisierte politische Macht der Werktätigen in Stadt und Land, die von der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei geführt werden. Somit war der in der kommunistischen Staatstheorie der für die demokratische Verfassungslehre in Deutschland noch immer bedeutungsvolle Dualismus von Staat und Gesellschaft hinfällig geworden. Staat war nicht ein der Gesellschaft entegegengesetztes, sie regulierendes Gebilde von eigener Substanz und
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eigenem Gewicht, sondern ein bloßes Mittel der Gesellschaft zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele. Auch für den Staatstyp der Diktatur des Proletariats galt, daß sie ein Machtinstrument in der Hand einer Klasse, der Arbeiterklasse war. Wichtig für die Machtverhältnisse im sozialistischen Staat war, daß die Arbeiterklasse nicht aus sich selbst heraus das Machtinstrument des Staates benutzte, sondern sich eines Vortrupps, einer Avantgarde der Arbeiterklasse anvertraute, die allein fähig war, die neue Ordnung zu leiten und zu organisieren. Das war die kommunistische Partei. Im Programm der SED von 1976 hieß es: "Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ist der bewußte und organisierte Vortrupp der Arbeiterklasse und des werktätigen Volkes der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik. Sie verwirklicht die von Marx, Engels und Lenin begründeten Aufgaben und Ziele der revolutionären Arbeiterbewegung. In ihrem Wirken läßt sie sich stets davon leiten, alles zu tun für das Wohl des Volkes, für die Interessen der Arbeiterklasse und aller anderen Werktätigen. Sie sieht ihre Aufgabe darin, die entwickelte sozialistische Gesellschaft weiter zu gestalten. Ihr Ziel ist es, die kommunistische Gesellschaft zu errichten". Aus diesem ganzen Zusammenhang ergaben sich Konsequenzen für die Rolle und Funktion der staatlichen Leitung im politischen System der DDR: Der Staat war ein Instrument der SED. Die Einheitlichkeit der sozialistischen Gesellschaft wurde durch die Herrschaft der Arbeiterklasse und diese wiederum durch die Führung der SED im gesellschaftlichen Prozeß vermittelt. Zur Erfüllung ihrer Führungsaufgabe bediente sich die SED aller gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen und Einrichtungen. Der Staat war Machtinstrument und Vollzugsorgan des durch die SED verkörperten gesellschaftlichen Willens, also war er auch nicht die zentrale politische Organisation des DDR-Regimes. Diese war vielmehr die SED. Trotz der Identität zwischen Parteiwillen und Staatswillen gab es keine Identität zwischen den Organen der Partei und des Staates, d. h. die Partei übernahm nicht selbst unmittelbar exekutive Aufgaben. Als unabdingbare Voraussetzung der Effektivität des instrumentalen Charakters des Staates galt das Prinzip der GewalteneinheiL Dieser Grundsatz war in der Verfassung mit dem demokratischen Zentralismus als dem tragenden Prinzip des Staatsaufbaus und in dem Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Durchführung verankert (Art .47, 48 der DDR-Verfassung). "Der sozialistische Staat kennt keine Gewaltenteilung; die Volkssouveränität schließt die Exekutive und Jurisdiktion ein" (Kleines Politisches Wörterbuch).
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IV. Die Rolle der SED Der Name Sozialistische Einheitspartei hatte nichts mit der Einheit Deutschlands zu tun, sondern bezog sich auf die Einheit der beiden unterschiedlichen Richtungen im deutschen Sozialismus. Mit der Gründung der DDR wurde die SED auch die führende Partei in Staat und Gesellschaft. Alle die Parteiziele und das Parteileben regelnden Prinzipien dienten dem im Parteiprogramm und Parteistatut von 1976 verankerten Ziel der politischen Führung und Einheit, ideologischen Reinheit und organisatorischen Geschlossenheit der SED. Das grundlegende Organisationsprinzip war der demokratische Zentralismus. Was darunter zu verstehen war, erklärte Ziffer 23 des Parteistatuts: "Der Organisationsaufbau der Partei beruht auf dem Prinzip des demokratischen Zentralismus. Dieser Grundsatz besagt: a) daß alle Parteiorgane von unten bis oben demokratisch gewählt werden; b) daß ihre gewählten Parteiorgane zur regelmäßigen Berichterstattung über ihre Tätigkeit vor den Organisationen verpflichtet sind, durch die sie gewählt wurden; c) daß alle Beschlüsse der höheren Parteiorgane für die nachgeordneten verbindlich sind, straffe Parteidisziplin zu üben ist und die Minderheit sowie der einzelne sich den Beschlüssen der Mehrheit diszipliniert unterordnet." Dieses Prinzip war nicht nur das Prinzip der SED, sondern auch verbindliches Strukturprinzip des Staates (Art. 47,2 DDR-Verfassung). Für die Arbeit der Parteiorgane diente das Prinzip der Kollektivität als das nominell höchste. Nach Ziffer 24 des Statuts hatten alle Leitungen die vor der Partei stehenden Probleme, die Aufgaben und Planungen der Arbeit im Kollektiv zu beraten und zu entscheiden. Kollektivität der Leitung hieß vor allem, sich eng mit der Arbeiterklasse und den Massen zu verbinden, konsequent die Vorbereitung und Durchführung der Parteibeschlüsse zu sichern. Der Grundsatz der Kollektivität änderte freilich nichts an der beherrschenden Schlüsselstellung, die in der SED der Generalsekretär des Zentralkomitees sowie der 1. Sekretär der SED-Kreis- und Bezirksleitungen einnahmen. Obwohl auch das fünfte Statut den Personenkult und die damit verbundenen Verletzungen der Kollektivität als mit den Leninschen Normen des Parteilebens unvereinbar erklärte, konnte sich die Staatspartei unter Honecker so wenig wie unter Ulbricht von Neigungen zum Personenkult freihalten. Die Territorial- und Produktionsprinzipiell betrafen den Aufbau der Partei. Ausgehend von der zentralen Ebene war die Partei territorial nach Bezirken, Kreisen, Städten und
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Ortschaften bzw. Betrieben und Verwaltungen gegliedert. Dem Territorialprinzip folgten auch die regionale Gliederung und Anleitung der Volkswirtschaft. 1963 wurde das Territorialprinzip durch die Einführung des Produktionsprinzips ergänzt. Dieses Prinzip gliederte den Parteiapparat nach den Produktionsbereichen Industrie, Verwaltung, Bauwesen und Landwirtschaft; daneben gab es den Bereich der Ideologie. Diese Büros wurden 1966 stillschweigend aufgelöst und 1967 im Statut im Sinne einer Verstärkung des Territorialprinzips geändert. Die volkswirtschaftliche Konzeption der SED- und Staatsführung sah eine optimale Verbindung beider Prinzipien vor, d.h. eine möglichst wirksame Verbindung von zentraler und territorialer Anleitung. Die innerparteiliche Demokratie beinhaltete das Recht der "freien" und "sachlichen" Stellungnahme durch Mitglieder zu allen Fragen (Ziffer 30 des Statuts), die Einrichtung der Kritik und Selbstkritik (Ziffer 31 ), die Parteidisziplin, die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit, das Verbot der Fraktionenbildung (Ziffer 32) und die "freie und sachliche Erörterung der Fragen der Parteipolitik" (Ziffer 33). Die Pflichten eines Parteimitgliedes wurden etwas ausführlicher dargestelllt (Ziffer 2) als die Rechte. Charakteristisch für die SED war, daß sie strenge Bestimmungen für die Aufnahme von Mitgliedern vorsah. Die Aufnahme neuer Mitglieder war ein wesentlich Mittel der Mitgliederpolitik der SED. Der Organisationsaufbau und die Bedeutung der Parteiorgane war formell im Statut festgelegt, wobei die entscheidende Ebene die Zentralkomiteesebene war. Höchstes Organ war der Parteitag (Ziffer 34). Er trat in der Regel alle fünf Jahre zusammen und war eine Massenveranstaltung. Der Parteitag wählte das Zentralkomitee (ZK), dessen generelle Aufgabe die Ausführung der Parteitagsbeschlüsse war. Zwischen den Parteitagen war es höchstes Organ der SED und leitete ihre gesamte Tätigkeit (Ziffer 51). Es hatte rund 150 Mitglieder und rund 50 Kandidaten. Es sollte mindestens einmal in sechs Monaten tagen. Für die Durchführung der Politik der Partei und ihrer Beschlüsse bestanden im ZK Abteilungen, die ähnlich den staatlichen Ministerien für die verschiedenen Bereiche der Politik zuständig waren (ca. 4o). Ferner zählten zum Apparat Bildungseinrichtungen, Institute, Schulungsstätten, Kommissionen und Arbeitsgruppen. Das ZK war auch Wahlgremium und wählte als solches das Politbüro, das Sekretariat und den Generalsekretär (Ziffer 42). Die Wahl des Generalsekretärs, des Politbüros und des Sekretariats des ZK durch das Plenum des ZK
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bedeutete nicht, daß im ZK personelle Alternativen diskutiert wurden, sondern bestätigte nur die informellen Entscheidungskompetenzen des ZK. Kaderfragen dieses Ranges waren Aufgaben des Sekretariats bzw. des Politbüros selbst. Außerdem berief das ZK die Zentrale Kontrollkommission. Wegen seiner Größe war das ZK kaum als Entscheidungsgremium geeignet. Die Machtzentren der SED lagen daher bei anderen Organen: Kontrollkommission, Sekretariat, Politbüro. Laut Statut bewahrte die Zentrale Kontrollkommission "die Einheit und Reinheit" der Partei. "Sie hilft dort die Parteiprinzipien zu verwirklichen, wo die Leninschen Normen des Parteilebens, die Rechte der Mitglieder und Kandidaten verletzt werden und die richtige Durchführung der Beschlüsse gefahrdet ist" (Ziffer 44). Sie hatte in den 8oer Jahren 8- 10 Mitglieder und5-6 Kandidaten. Zu den Kompetenzen des aus 17 Mitgliedern und 8 Kandidaten (in den 8oiger Jahren) bestandenen Politbüros sagte das Statut lediglich, daß das ZK "zur politischen Leitung der Arbeit des Zentralkomitees zwischen den Plenartagungen das Politbüro" wählt (Ziffer 42). Aus dieser Bestimmung allein war jedoch nicht die tatsächliche Machtfülle des Politbüros abzulesen. Faktisch war das Politbüro für die politische Willens- und Entscheidungsbildung das entscheidende politische Führungsorgan der DDR. Es war das politische Richtlinienorgan von Partei und Staat. In diesem kollektiven Leitungsorgan hatte der Generalsekretär eine hervorgehobene Stellung inne. Er war der Parteichef der SED und damit der mächtigste Mann im politischen System der DDR. Zur "Leitung der laufenden Arbeit, hauptsächlich zur Durchführung und Kontrolle der Parteibeschlüsse und zur Auswahl der Kader" (Ziffer 42.2.) wurde das aus 10 Personen bestandende Sekretariat gewählt. Es stand in enger Beziehung mit dem Politbüro und war die Spitze der Parteiexekutive. Neun Sekretäre (die 10. Person war der Generalsekretär) hatten fest umrissene Aufgabenbereiche (z.B. Internationale Verbindungen, Wirtschaft, Sicherheit u.a.m.). Personell waren die beiden obersten Gremien der SED eng miteinander verbunden. Die meisten waren auch Mitglieder des Politbüros. Die vielfaltigen Verflechtungen von Partei- und Staatsämtern stellten sicher, daß die Staatsorgane die Grundsatzentscheidungen der SED verwirklichten. Darüber hinaus galten die Parteibeschlüsse für den Ministerrat und für alle anderen Mitarbeiter des Staatsapparates auf Grund gesetzlicher Bestimmungen als bindende Anweisungen.
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V. Nationale Front, Blockparteien, Massenorganisationen Die Nationale Front ging aus der Volkskongreßbewegung hervor. Sie war der Zusarrunenschluß aller politischer Parteien, Massenorganisationen und Verbände. Ihre allgemeine Aufgabe nannte Art. 3 der Verfassung:
"1. Das Bündnis aller Kräfte des Volkes findet in der Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik seinen organisierten Ausdruck. 2. In der Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik vereinigen die Parteien und Massenorganisationen alle Kräfte zum gemeinsamen Handeln für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft. Dadurch verwirklichen sie das Zusarrunenleben aller Bürger in der sozialistischen Gemeinschaft nach dem Grundsatz, daß jeder Verantwortung für das Ganze trägt". Wie sehr die Nationale Front auf die politische Zieletzung der SED ausgerichtet war, verdeutlicht ferner ein Passus im "Kleines Politisches Wörterbuch": ". . . In Verwirklichung des Progranuns der SED ... finden sich in der Nationalen Front die Parteien, Massenorganisationen und parteilosen Bürger zusarrunen, um aktiv an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR mitzuwirken" . Außer den Blockparteien und Massenorganisationen gehörte der Nationalen Front ein breites Spektrum von Vereinigungen und Gesellschaften an, die verdeutlichten, daß es kaum einen Lebensbereich gab, der nicht von ihr dominiert wurde, z.B.: -
Bund der Architekten der DDR, Verband der Schriftsteller der DDR, Vereinigung der Juristen der DDR, Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe, Verband der Journalisten der DDR, Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter, Urania (Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse. Nahm Aufgaben u.a. der früheren Volkshochschule wahr), Domowina (Bund der Lausitzer Sorben), Deutsches Rotes Kreuz der DDR, Deutscher Turn- und Sportbund der DDR, Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Gesellschaft für Sport und Technik (eine Gesellschaft, die der vormilitärischen Ausbildung diente).
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Eine Einzelmitgliedschaft in der Nationalen Front gab es nicht. Die nationale Front arbeitete auf breiter Basis mit ca. 340.000 ehrenamtlichen Bürgern in Orts-, Wohn-, Stadt-, Kreis- und Bezirksausschüssen. An der Spitze stand ein Nationalkongreß mit einem Leitungsgremium. Zu den konkreten Aufgaben gehörten u.a.: - Mobilisierung der Bürger zu politischen Aktivitäten, - Aktivierung der Bürger bei der Vorbereitung und Durchführung von Gesetzen, - Bestätigung der Richterkandidaten und Unterstützung der Wahl und Tätigkeit der Gesellschaftlichen Gerichte, - Träger von Wahlen auf allen Ebenen (von der Gemeinde- bis zur Volkskammerwahl), - Feststellung der Einheitsliste für Wahlen. Mittels der Einheitsliste stand jedes Wahlergebnis bereits vor der Wahl fest, da fast alle Parteien und Massenorganisationen nach einem seit 1958 unveränderten Schlüssel bestimmte Prozent- und Sitzanteile erhielten. Das bedeutete für Wahlen: SED: 25 % 1127 Sitze; CDU, LPDD, NDPD, DBP: je 10,4 % I je 52 Sitze; FOG: 13,6 % I 68 Sitze; FDJ: 8 % I 40 Sitze; DFD: 7 % I 35 Sitze; KB: 4,4% I 22 Sitze. An dieser Sitzverteilung konnte der Wähler durch Stirnrnabgabe nichts ändern. Wahlen differierten nur in der Zahl der Wahlbeteiligung, die seit 1950 zwischen 98,5 %und 99,3 % lag. Schließlich brachten die massiven Wahlfälschungen vom Mai 1989 das Faß zum Überlaufen und das Einläuten des Endes der DDR. 1948 wurde aus dem antifaschistisch-demokratischen Block nach Gründung der Demokratischen Bauernpartei (DBP) und der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) der "Demokratische Block der Parteien und Massenorganisationen" geschaffen. Verstanden wurde darunter "die Organisationsform des politischen Bündnisses der Parteien und Massenorganisationen in der DDR unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" (Kleines Politisches Wörterbuch). Der Block war als Kern der Nationalen Front zu betrachten. Ihm gehörten an: -
die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), die Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU), die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD), die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD),
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der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), die Freie Deutsche Jugend (FDJ), der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD), der Kulturbund der DDR (KB).
Es besteht grundsätzlich ein Unterschied zwischen dem Blocksystem und dem Koalitionssystem westlicher Prägung. Im Blocksystem waren die im Koalitionssystem implizierten Prinzipien von Parteienwettbewerb und Parteienkonkurrenz, von Regierungspartei(en) und Oppositionspartei(en) ausgeschaltet. Dagegen gab es das Führungsmonopol der SED, das von den anderen Parteien in Programmen, Erklärungen und Beschlüssen ausdrücklich anerkannt wurde. Sie waren Satellitenparteien der SED ohne eigenen Willen, die die ideologischen Schwenkungen der SED bis ins Detail mitmachten. Während CDU und LDPD 1945 entstanden (LDPD als LDP) und sich in den ersten Jahren gegen die Entwicklung in der SBZ stemmten, wurden DBD und NDPD auf Anordnung der SED 1948 von kommunistischen Funktionären gegründet, um der ländlichen Bevölkerung und national gesonnenen Kreisen eine politische Betätigungsmöglichkeit zu eröffnen, die sie in den anderen Parteien nicht fanden. Nicht wenige Politikwissenschaftler in der alten Bundesrepublik und in der DDR vertraten die Ansicht, daß die Parteien sich im Grunde durch die mitvollzogene Gleichschaltung überflüssig gemacht hätten und daß es keines Kraftaktes bedurft hätte, um diese aufzulösen. Eine Besonderheit des Blocksystems lag ferner darin, daß Massenorganisationen mit Parteien im politischen System mitwirkten. Diese wurden an verschiedenen Stellen der Verfassung genannt (Art. 3.2; 29). Die Gewerkschaften fanden ihre besondere Verankerung in den Artikeln 44 und 45. Die Massenorganisationen versuchten, alle Gruppen und Schichten zu organisieren. Im Selbstverständnis der DDR handelte es sich um "Vereinigungen von Bürgern zur Wahrnehmung ihrer politischen, ökonomischen, kulturellen und beruflichen Interessen auf der Grundlage der Freiwilligkeit. ... In der DDR unterstützen die Massenorganisationen unter Führung der SED aktiv die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft" (Kleines Politisches Wörterbuch). Die Massenorganisationen waren von Interessenverbänden westlicher Demokratien insofern in Ziel und Aufgabe zu unterscheiden, als daß sie weniger die Durchsetzung der Interessen ihrer Mitglieder als vielmehr die Politik der SED zu unterstützen hatten.
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Die zahlenmäßig größte und bedeutendste Organisation war der FDGB mit ca. 8,5 Mill. Mitgliedern. Nach Art. 44 der Verfassung oblag ihm eine umfassenden Mitbestimmung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die konkreten Funktionen waren u.a.: Mitarbeit an er Betriebsleitung, Erfüllung der Betriebsziele, Sorge für die Berufsausbildung und Fortbildung, Arbeitssschutz, Vermeidung von Härten bei Rationalisierung, Freizeit- und Urlaubsgestaltung, Verwaltung der Sozialversicherung. Da die Produktionsmittel fast ausschließlich sozialistisches Eigentum waren, gab es die Interessenvertretung mit Kampfmitteln, z.B. Streik, nicht. An Bedeutung Größe und Organisationsdichte folgte die FDJ. Im Parteistatut der SED wurde die FDJ als "Kampfreserve der Partei" bezeichnet, und die SED forderte von ihren Parteiorganisationen, "die in der Freien Deutschen Jugend tätigen Mitglieder und Kandidaten der Paretei anzuleiten ... , daß sie im Jugendverband die Parteibeschlüsse vorbildlich verwirklichen helfen" (Kapitel VIII des SED-Statuts). Die FDJ hatte rund 2,2 Millionen Mitglieder, wobei anzumerken ist, daß die Pionierorganisation "Ernst Thämann" für die 6-14jährigen nochmals 1,8 Millionen Mitglieder umfaßte. An konkreten Aufgaben der FDJ waren zu nennen: -
Organisierung von Ferienlagern und Ferienreisen, Schülermitverwaltung, schulische Wettbewerbe, schulische Nachhilfe, Vertretung in der Volkskammer.
Es gab keine Pflichtmitgliedschaft. Allerdings war die Mitgliedschaft in vielen Fällen Voraussetzung für den beruflichen und sozialen Aufstieg. Der DFD "trägt dazu bei, die sozialistische Weltanschaung zu verbreiten, gesellschaftliche Zusammenhänge zu erläutern und hilft den Frauen, an der geistigen Auseinandersetzugn teilzunehmen" (Kleines Politisches Wörterbuch). Er war in Wohngebieten organisiert und konzentrierte sich besonders auf die Probleme der Berufsausbildung von Frauen, die Betreuung von Kindern sowie das Gesundheits- und Sozialwesen. Der KB, gegründet 1945, war die "sozialistische Kulturorganisation, die in ihren Reihen kulturinteressierte Bürger aller Berufe und Schichten der Bevölkerung vereint. Er hilft mit, das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Intelligenz ständig zu vertiefen" (Kleines Politisches Wörterbuch). Der KB nahm an der Gesetzgebung durch 22 Sitze in der Volkskammer teil und widmete sich in Kommissionen einer umfassenden kulturellen Arbeit: Literatur, Musik, Bildende Kunst, Wissenschaft, Fotografie, Natur und
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Heimat. Daneben gab er noch einige Zeitschriften heraus. In der Politik vertrat er vorbehaltlos die Kulturpolitik der SED.
VI. Verfassungswandel Die Verfassungsentwicklung wurde entsprechend der Ideologie als ein positiver geschichtlicher Prozeß betrachtet. Etappenziele auf dem Weg zumm Kommunismus wurden mit Hilfe von Verfassungen festgeschrieben. Dies geschah in den Verfassungen von 1949 und 1968 sowie in der Verfassungsrevision von 1974. Der Einfluß der Weimarer Verfassung auf den Text der ersten Verfassung ist unverkennbar. Zu den Teilen allerdings, die von Anfang an nie voll verwirklicht wurden, gehörten Bestimmungen über Grundrechte und Wahlen. Strukturelle Veränderungen wurden 1952 und 1958 vorgenommen durch Abschaffung der Länder und Länderkammem. Die Finanzhoheit der Kreise und Gemeinden wurde Ende 1950 beseitigt, seit 1952 waren sie örtliche Organe der zentralen Staatsmacht. Die Regierung, bestehend aus einem Ministerpräsidenten und Ministern, wurde 1950 in ein Kollektivorgan der obersten Behördenchefs umgewandelt, das sich Ministerrat nannte. Wichtige Funktionen gingen 1960 vom Ministerrat auf den Staatsrat über, dem der 1960 geschaffene Nationale Verteidigungsrat, der Generalstaatsanwalt und die Gerichte unterstanden. Die Einführung der Wehrpflicht gehörte zu den wenigen formellen Verfassungsänderungen. Der Verfassungstext wurde trotz der Vielzahl von Verfassungsänderungen nur zweimal geändert und einmal ergänzt (Aufhebung der Länder und Länderkammem, Einführung der Wehrpflicht, Staatsrat). Die entscheidenden Wandlungen der Verfassungsurkunde erfolgten durch sogenannte verfassungsgleiche Gesetze und durch die parteiliche Auslegung der Verfassungsnormen im Sinne der SED. Die zweite Verfassung von 1968 brachte materiell nichts Neues, aber eine Zusammenfassung wichtiger staatlicher Grundnormen, die bis zur Auflösung der DDR in einer Vielzahl von Gesetzen außerhalb der Verfassung zu finden waren. Nach dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 wurde die Verfassungsurkunde von 1968 u.a. geändert: - Verlängerung der Wahlperiode der Volkskammer von vier auf fünf Jahre, - Beginn der Einschränkung der Zuständigkeit des Staatsrates, - Stärkung der politischen Regierungsfunktion des Ministerrates,
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- einige deutschlandpolitische und gesellschaftspolitische Formulierungen wurden obsolet, - Revision der polemischen Angriffe gegen den Westen in der Präambel. Diese Veränderungen veranlaßten die DDR-Führung, zum 25. Jahrestag der DDR-Gründung ihre Verfassung einer Totalrevision zu unterziehen. Dabei war das Bemerkenswerteste sicherlich die Kurzfristigkeil der Änderungen durch Beschluß der Volkskammer arn 27. September 1974. Doch der Inhalt der am 7. Oktober 1974 in Kraft getretenen neuen Verfassung zeichnete sich schon längere Zeit ab. Vier Aspekte fielen besonders auf: 1. Das Fehlen aller Hinweise auf die Einheit der Nation. 2. Die Kompetenzverlagerung vom Staatsrat auf den Ministerrat. 3. Die Anpassung an den ideologischen Sprachgebrauch, z. B. "entwickelte sozialistische Gemeinschaft" statt "sozialistische Menschengemeinschaft", Austausch von "Planung und Leitung" durch "Leitung und Planung" (Art. 9.3. und 24.2.), wodurch die Leitung an erster Stelle der staatlichen Organe trat. 4. Der Wegfall der polemischen Formulierungen gegen den Westen in der Präambel. Die Veränderungen zeigten die Funktionalität des Verfassungsrechts der DDR. Dem trugen Programm und Statut der SED auch Rechnung. Die Verabschiedung der neuen Dokumente durch den IX. Parteitag 1976 brachte eine Bestätigung und Formalisierung von Entwicklungen, die ihre sichtbaren Ausdrücke in den politischen Entscheidungen des VIII. Parteitages 1971 und im Verfassungstext von 1974 fanden.
VII. Das Ende Die Brüche und Umbrüche, die sich seit den 7oer Jahren in der Sowjetunion und dann mit Macht und Geschwindigkeit ab den 8oer Jahren in der UdSSR und in ihren Satellitenstaaten vollzogen, machten vor der DDR nicht halt. Über die Ursachen, Gründe und Anlässe ist viel geschrieben worden. Die Periode 1989-1990 sollte der Höhepunkt politischer Veränderungen der innen- und außenpolitischen sowie sicherheits- und wirtschaftspolitischen Ordnung Ostund Mitteleuropas werden. "Wir hatten drei Möglichketein: die verrotteten Anlagen zu reparieren - das kostet viel Geld; die Sperranlagen völlig zu erneuern- das ist noch teurer; oder das politische System zu ändern". Diese Worte, die der ungarische Oberst Balasz Novaki beim Abriß des Eisernen Vorhangs an
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der Grenze zu Österreich im Mai 1989 sprach, dokumentieren den historischen Beginn des Endes. Am 7. Oktober 1989 feierte noch einmal die alte Garde der Kommunisten sich selbst und das 4ojährige Bestehen der DDR. "Die DDR ist der Grundpfeiler der Stabilität und Sicherheit in Europa", verkündete ihr Partei- und Staatschef. Und dann ging es richtig los. Die Ereignisse konnten kaum registriert werden. Was gestern noch galt, war heute schon Altpapier. Und in der Tschechoslowakei wurde ein Literat und Intellektueller Präsident, dem noch ein Jahr vorher die Ausreise nach Frankfurt zum Empfang des Deutschen Buchpreises von der kommunistischen Regierung verweigert wurde. Mehr als 40 Jahre hielt das System politischer, sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Entmündigung. "Der von der Sowjetunion aufgezwungene Kommunismus hatte zu einer Verachtung grundlegender Menschenrechte, politischer Unfreiheit, wirtschaftlicher Misere, zu Umweltproblemen von fast unvorstellbarer Größe und zu einer weitverzweigten Korruption geführt" (Gasteyger), und zu aller Deformation gab es willige Helfershelfer. Am 1. Dezember 1989 faßte die Volkskammer der DDR den Beschluß,den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung zu streichen. Damit waren innenpolitisch die Wege zur Ablösung der SED geebnet. Die neuen Führer in Polen, in der DDR, in der Tschechoslowakei und in Ungarn gingen aus freien Wahlen hervor. Sie bekannten sich bei verschiedenen Gelegenheiten zu Europa und seiner freiheitlichen Ordnung, gedachten der schmerzlichen Teilung dieses Kontinents und verwiesen auf die Herausforderungen der Zukunft. Die Öffnung nach Westen wurde von den Westeuropäern wiederholt begrüßt, der wiedergewonnenen Freiheit moralische, politische und wirtschaftliche Untersützung zugesagt. Komplizierte außen- und sicherheitspolitische Verhandlungen führten zur äußeren Herstellung der Einheit Deutschlands. Probleme der Umstellung auf die neue Ordnung für den innenpolitischen Bereich sind in erster Linie im System der alten Diktatur zu suchen, nicht in der neuen Ordnung, wenngleich anderslautende Behauptungen gegen besseres Wissen aufgestellt werden.
Literatur Materialien der Enquete-Kommission. Herausgegeben vom Deutschen Bundestag Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland. Neun Bände in 18 Teilbänden. Baden-Baden 1995. Hier insbesondere die Bände II, III und IV.
Jesse, Eckhard (Hg.): Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik. Die beiden deutschen Staaten im Vergleich. Berlin, 4. Auf!., 1985.
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Heiner Timmermann
Staritz, Dietrich: Geschichte der DDR 1949-1990. Erweiterte Neuausgabe Frankfurt 1996.
Timmermann, Heiner (Hg.): DDR-Forschung. Bilanz und Perspektiven. Berlin 1995. -(Hg.): Dikaturen in Europa im 20. Jahrhundert- der Fall DDR. Berlin 1996.
Weber, Jürgen (Hg.): Der SED-Staat. Neues über eine vergangene Diktatur. München 1994.
II. DDR in Geschichte und Politik
Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden Von Gerhard Barkleit und Michael Richter
Die Entstehungsgeschichte des Hannah-Arendt-lnstituts weist etmge Besonderheiten auf, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, einige Eckpunkte besonders hervorzuheben. Im September 1991 veranstaltete die CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages eine Anhörung über die Bildung eines "Instituts zur Erforschung totalitärer Strukturen" , mit dessen Hilfe über die "Wende" hinaus ein Beitrag dazu geleistet werden sollte, die Ergebnisse der friedlichen Revolution durch die geistige Auseinandersetzung mit der untergegangenen Diktatur zu sichern und so den Prozeß der Veränderung dauerhaft und unumkehrbar zu machen. Die geistigen Väter dieser Initiative, zu denen neben dem heutigen Kultusminister des Freistaates, Mattbias Rößler, auch Abgeordnete von SPD und FDP gehörten, von denen Wolfgang Markus und Günter Kröber genannt sein sollen, verstanden das zu gründende Institut als ein Mittel der Auseinandersetzung mit noch fortbestehenden Strukturen und Denkweisen des untergegangenen Regimes sowie als nötige Nacharbeit der friedlichen Revolution. Um den Prozeß der Herausbildung des Instituts durch renommierte Wissenschaftler begleiten zu lassen, wurden Professoren verschiedener Fachrichtungen sowie bekannte Journalisten um ihren Rat gebeten. Von Anfang an gingen allerdings die Meinungen über Ziel und Arbeitsweise des Instituts auseinander; einig waren sich die befragten Experten vor allem in der Sinnhaftigkeit der Einrichtung eines derartigen Institutes. Prof. Manfred Hättich (Politische Akademie Tutzing) begründete seine Befürwortung damit, daß Totalitarismus nach wie vor überall möglich sei. Das Jahrhundert sei durch den Gegensatz von pluralistischer Demokratie und totalitärer Herrschaft gekennzeichnet. Daher müsse die Aufgabenstellung des Instituts den geographischen Raum der DDR überschreiten und auf inhaltliche Probleme ausgerichtet sein. In bezug auf die DDR müsse es vor allem darum gehen, zu untersuchen, wie das SED-Regime auf den verschiedenen Ebenen funktionierte. Prof. Hermann Weber (Mannheim) befürwortete eine Favorisierung der zeitgeschichtlichen Forschung. Prof. Nikolaus Wenturius (Tübingen) schlug unter politikberatenden Gesichts-
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Gerhard Barkleit und Michael Richter
punkten eine institutionalisierte Anhindung an Einrichtungen der politischen Bildung vor. Von ihm kam auch die Anregung, das Institut mit regelmäßig erscheinenden Publikationsorganen auszustatten. Joachim Fest (Frankfurter Allgemeine Zeitung) warnte vor der Dominanz einer einzigen geschichtswissenschaftliehen Schule (Strukturgeschichte, Alltagsgeschichte, Oral History) und davor, daß die Defmition der Forschungsziele bereits festgelegte Theorien wie Totalitarismus- und Faschismustheorie voraussetzt. Er empfahl, die in der Erforschung des Nationalsozialismus erprobten Fragen in all ihrer Breite auch auf die Geschichte des Kornmunismus anzuwenden. Prof. Günter Wartenberg (Leipzig) sprach sich für eine Regionalisierung der Arbeit des Instituts aus. Der Schwerpunkt müsse eindeutig auf dem Gebiet der ehemaligen DDR liegen. Während des gesamtes Prozesses der Bildung des Instituts setzte sich die Auseinandersetzung über Aufgaben und Arbeitsweise des Instituts fort. Schon dieser Prozeß macht deutlich, daß nicht eine wissenschaftliche oder politische Richtung dominierte. So erklärte der Gründungsdekan der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden, Prof. Heinrich Oberreuter, endlich wage es wieder jemand, die Formen der roten und der braunen Diktatur nebeneinanderzustellen. Die Totalitarismustheorie lebe wieder auf. Dagegen wandte der Theologe Prof. Günter Wartenberg ein, mit dem Namen des Instituts dürfe nicht für eine Richtung der politikwissenschaftlichen Forschung Partei ergriffen werden. Auch der Tübinger Sozialwissenschaftler Prof. Gerd Meyer warnte vor dem Totalitarismusansatz, weil dieser nur die Methoden und Instrumente der Machtausübung betrachte und andere wichtige Fragen wie das millionenfache Arrangement der Menschen mit dem SED-System ausklammere. Die Motive derer, die Demütigung ertragen haben, sollten im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Mattbias Rößler begrüßte die Auseinandersetzungen als konstruktive Form der Profilierung des Instituts. 1 Landtagspräsident Erich Iltgen, zuvor Koordinator am Runden Tisch des Bezirkes Dresden, konstatierte ebenfalls zwar den Streit darüber, ob ein Vergleich zwischen dem Unrecht des NS-Regimes und dem des SED-Regimes nötig und sinnvoll sei, bezeichnete es aber gerade als eine Aufgabe des Instituts, zur Klärung und Versachlichung der Diskussion über diese Frage beizutragen. 2
1
Vgl. Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 30. September 1991.
2
Vgl. Ansprachen zur Eröffnung am 17. Juni 1993 (Vorträge des HAlT 1). Dresden 1993, S.
14.
Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden
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Am 21 . November 1991 faßte schließlich der Sächsische Landtag auf Antrag der CDU-Fraktion und mit Zustimmung aller Fraktionen den Beschluß zur Errichtung des Instituts und forderte, diesem die Aufgabe zuzuweisen, "in interdisziplinärer Arbeit von Historikern, Politologen, Soziologen, Psychologen und Kulturwissenschaftlern die in 60 Jahren gewachsenen politischen und gesellschaftlichen Strukturen des Nationalsozialismus und des SED-Regimes zu erforschen und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland zu analysieren." Es ist erwähnenswert, daß es in der gesamten Vorbereitungsphase keine parteipolitischen Diskrepanzen gab, das Institut in der Tat von allen Fraktionen des Landtages getragen wurde. In der Begründung des Antrages der CDU-Fraktion umriß Matthias Rößler als deren wissenschaftspolitischer Sprecher den Forschungsgegenstand des geplanten Instituts. Es gehe um die komplexe und interdisziplinäre Analyse der Übergangsgesellschaft im Osten Deutschlands und in Osteuropa. Die demokratischen Parteien brauchten zur Überwindung der verkrusteten und ineffizienten Strukturen des "realen Sozialismus" die Hilfe der Wissenschaft. Bei der politischen Arbeit stoße man ständig auf mehr oder weniger intakte Reststrukturen des alten totalitären Systems. An anderer Stelle sprach Rößler von einer "posttotalitären Transformationsgesellschaft", 3 die es zu überwinden gelte. Daher gehe es bei der Forschungsarbeit auch um die Klärung der Gründe für das Steckenbleiben bzw. für den Abbruch der friedlichen Revolution, in deren Folge zahlreiche alte Besitzstände unangetastet blieben. Die sich daraus ergebende gesellschaftliche Situation erfordere zwingend die interdisziplinäre Aufarbeitung der Vergangenheit. 4 Von Anfang an bildeten die Untersuchung der Ereignisse und Ergebnisse der friedlichen Revolution und der Vereinigung Deutschlands und die Widerstandsforschung die Schwerpunkte der Arbeit des lnstituts. 5 Nach den Worten Rößlers sollte durch das Institut "die alltägliche Bewältigung der DDR-Vergangenheit wissenschaftlich begleitet und durch ehrliche Aufarbeitung erleichtert"
3
Vgl. ebd., S . 22.
4
Vgl. Freie Presse vom 28. September 1991.
' Rede des wissenschaftspolitischen Sprechers der CDU-Fraktion im Sächsischen Landtag, Dr. Mattbias Rößler, MdL, bei der Einbringung des Antrags zur Gründung eines .,Instituts zur Erforschung totalitärer Strukturen" am 21. November 1991 vor dem Sächsischen Landtag. In: Gründung eines Instituts zur Erforschung totalitärer Strukturen (Arbeitstitel). Eine Initiative der CDU-Fraktion im Sächsischen Landtag. Meinungen und Materialien (Schriftenreihe der CDU-Fraktion im Sächsischen Landtag 2). Dresden, April 1992.
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werden. 6 Es gehe um eine "schonungslose Analyse totalitärer Strukturen", wie sie im Zuge des SED-Systems in Ostdeutschland errichtet wurden. 7 Für die Sächsische Staatsregierung begrüßte und unterstützte der Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Prof. Hans Joachim Meyer, den Antrag der CDU-Landtagsfraktion. Zugleich wurde beschlossen, das bereits zuvor mit Kabinettsbeschluß vom 23. April 1991 ins Leben gerufene "Institut zur Erforschung des Widerstandes gegen Diktatur und Gewaltherrschaft 1918 bis 1990 in Sachsen", das bis dahin unter kommissarischer Leitung von Hans Bozenhard gestanden hatte, als geschichtswissenschaftliehe Komponente in das Institut zur Erforschung totalitärer Strukturen zu integrieren. Dem lag die wiederum vom jetzigen Kuratoriumsvorsitzenden, Matthias Rößler, formulierte Einsicht der Initiatoren zugrunde, daß man allein mit Widerstandsforschung nicht auf den Grund gesellschaftlicher Vorgänge vorstoße. Auch mit einer auf Sachsen bezogenen Fragestellung könne man die Fragen nach den Ursachen und Entwicklungsbedingungen totalitärer Systeme nicht beantworten. Im Sommer 1992 nahm eine Gründungskommission ihre Tätigkeit auf, in der renommierte Wissenschaftler aus den alten und den neuen Bundesländern sowie Mitglieder des Sächsischen Landtages gemeinsam die Grundlagen einer Institutsbildung legten. Von Anfang an war eine enge fachwissenschaftliche Verzahnung zwischen dem Institut zur Erforschung totalitärer Strukturen und den entsprechenden Lehrstühlen an den sächsischen Universitäten vorgesehen. Am 9. November 1992 gründeten Karl Dietrich Bracher, Alexander Fischer, Christoph Kähler, Wolfgang Marcus, Heinrich Oberreuter, Mattbias Rößler und Frank Schmidt den Verein "Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung" als Träger des gleichnamigen Instituts. Die festliche Einweihung des Instituts fand am 17. Juni 1993 statt, dem vierzigsten Jahrestag des Volksaufstandes gegen die SED-Herrschaft in der DDR. In seiner Ansprache zur Einweihung bezog sich der Gründungsdirektor, Prof. Alexander Fischer, auf die Beschlußempfehlung der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquetekommission und erklärte, der politischen Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland komme auf dem Weg zur inneren Einigung Deutschlands besondere Bedeutung zu, denn noch immer belaste das 6 CDU-Fraktion plant Institut zur Totalitarismusforschung. In: Informationen aus erster Hand. Hg. v. d. CDU-Fraktion im Sächsischen Landtag. Dresden, 08.07.1991. 7 Wissenschaftspolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Dr. Matthias Rößler. In: Informationen aus erster Hand. Hg. v. d. CDU-Fraktion im Sächsischen Landtag. Dresden, 25.09. 1991.
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Erbe des SED-Staates den Einigungsprozeß nachhaltig. In den neuen Ländern seien Erfahrungen von Unrecht und Verfolgung, Demütigung und Entmündigung noch lebendig, während im Westen Deutschlands die, mit den Worten von Jens Reich, "ruhige Zuversicht des dahinfließenden Lebensstromes" ungebrochen scheine und viele Westdeutsche nur darauf aus seien, ihr gutes Gewissen bestätigt zu bekommen. Noch immer aber suchten viele Menschen nach Aufklärung, rängen um Orientierung im Umgang mit eigener und fremder Verantwortung und Schuld, stellten Fragen nach den Wurzeln des in der SBZ/DDR errichteten diktatorischen Systems und den politischen, geistigen und seelischen Folgewirkungen der Diktatur. Die Beantwortung dieser Fragen werde dadurch erschwert, daß über die DDR-Zeit hinaus die Schatten des Nationalsozialismus bis in die Gegenwart fallen. In einer Situation, in der Vergangenheitsaufarbeitung Not tue und die Wissenschaft in ihrer aufklärerischen Funktion gefordert sei, versuche das Hannah-Arendt-lnstitut für Totalitarismusforschung seinen Platz in der sächsischen und gesamtdeutschen Wissenschaftslandschaft zu besetzen. 8 Der Sächsische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Hans Joachim Meyer, verwies auf den Kontext der politischen Wende in Deutschland, die zu einer Wiederbelebung des Totalitarismusbegriffes geführt habe. Es stelle sich die Frage, von welcher Art die Strukturen und Methoden in Herrschaftssystemen seien, die auf der Basis einer Ideologie die Komplexität der Geschichte durch eine alles bestimmende staatliche Ordnung in den Griff zu bekommen versuchten und jedes menschliche Denken und Handeln einer vorgegebenen Perspektive unterzuordnen suchten. Mit diesem Ansatz erweitere sich das Fundament des Instituts von der historischen Rückbesinnung und der vergleichenden Analyse zweier Systeme zu der prinzipiellen Fragestellung: Was sei jenen politischen Kräften und ideologischen Strömungen gemeinsam, die nicht bereit seien, die Herausforderungen einer komplexen Gesellschaft und einer offenen Entwicklung anzunehmen, sondern die stattdessen den notwendigerweise gewaltsamen Versuch machten, die Gesellschaft und die Geschichte in eine feste Form zu zwängen, die - wie sie meinten - unberechenbare Fährnisse ausschließe und der Menschheit wie dem einzelnen Menschen Weg und Bestimmung vorzeichne. Die Gründung des Instituts sei weder ein Akt des Triumphes, noch widme sich seine wissenschaftliche Arbeit allein der Vergangenheit. Sein eigentliches Anliegen sei es, am Aufbau einer politischen Kultur mitzuwirken, die sich den Werten der freiheitlichen und rechtsstaatliehen Demo-
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Vgl. Ansprachen zur Eröffnung am 17. Juni 1993 (Vorträge des HAlT 1). Dresden 1993, S. 8f.
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kratie verpflichtet weiß, und diese politsche Kultur gegen offene Angriffe und schleichende Auszehrung zu schützen. 9 Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung ist im Tillich-Bau der Technischen Universität Dresden untergebracht, in unmittelbarer Nähe der Gedenkstätten für die Opfer des NS-Regimes und für die unbekannten Opfer nach 1945. Es verfügt über 16 Planstellen (10 Stellen für Wissenschaftler) und wird vollständig aus dem Haushalt des Freistaates Sachsen finanziert. Gründungsdirektor war der 1995 verstorbene Bonner Osteuropa-Historiker, Prof. Alexander Fischer. Es wird von einem Verein getragen, dessen Mitglieder die Professoren Bracher, Heinemann, Kähler, Marcus, Oberreuter, Onnasch sowie die Herren Dr. Günter Kröber, Dr. Matthias Rößler, Dr. Frank Schmidt, Dr. Uwe Grüning und Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke sind. Nach dem Tode Alexander Fischers amtierte der Kirchenhistoriker Martin Onnasch als Direktor. Im Februar 1997 wurde Klaus-Dietmar Henke als Direktor des HAlT ins Amt eingeführt. Kontrollierende und beratende Organe des Vereins sind das Kuratorium (Vorsitzender Dr. Matthias Rößler, MdL) und der Wissenschaftliche Beirat (Vorsitzender Prof. Christoph Kähler, Universität Leipzig). Dem Kuratorium gehören derzeit Matthias Rößler, Frank Schmidt, Uwe Grüning, Wolfgang Marcus, Heinrich Obeneuter und A1fred Post an. Es wird von allen Fraktionen des Landtages unterstützt. Laut Satzung sollen vor allem - die politischen und gesellschaftlichen Strukturen von NS-Diktatur und SEDRegime sowie ihre Folgen für die Gestaltung der deutschen Einheit untersucht, - zeitgeschichtliche Forschung unter besonderer Berücksichtigung der Formen und Struktur totalitärer Systeme betrieben, - die Widerstandsforschung, d.h. die Untersuchung des Widerstandes von Bewegungen, Gruppen, Parteien, Organisationen und Einzelpersonen gegen Formen von Gewaltherrschaft auf deutschem Boden, intensiviert, - das Schicksal von Opfern der NS-Diktatur, der sowjetischen Besatzungsherrschaft und des SED-Regimes erforscht, ihr Andenken bewahrt und die Opferverbände unterstützt sowie - zeitgeschichtliche Lehre und Forschung an der Technischen Universität Dresden und an anderen sächsischen Hochschulen sowie an Lehrerbildungseinrichtungen und an den Schulen gefördert werden. 9
Vgl. ebd., S. 17.
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Am 11. August 1995 wurde der Trägerverein ins Vereinsregister eingetragen und damit die letzte juristische Hürde genommen. Die personelle Aufbauphase des Hannah-Arendt-Instituts konnte bereits 1994 weitgehend abgeschlossen werden. Im Ergebnis einer deutschlandweiten Ausschreibung sämtlicher Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter besteht das Team aus einer Mischung von Wissenschaftlern aus den alten und neuen Bundesländern. Der Aufbau einer Spezialbibliothek mit den Schwerpunkten "Deutschland zwischen 1933 und 1945" und "Die DDR (einschließlich der sowjetischen Besatzungszone)" schreitet zügig voran. Zur Zeit umfaßt der Bestand ca. 17.000 Bände. Ein Archiv und eine Dokumentation zu den gleichen Schwerpunkten ist ebenfalls im Aufbau, ergänzt durch Spezialarchive zu Forschungsschwerpunkten. Einen Überblick über die aktuellen Forschungsschwerpunkte vermittelte ein Symposium zu Ehren des verstorbenen Gründungsdirektors, Alexander Fischer, das am 1./2. November 1996 in Dresden stattfand. Unter dem Tagungsthema "Totalitäre Herrschaft und ihre Grenzen" referierten Gäste und Mitarbeiter des Instituts u.a. zu Totalitarismuskonzepten, Methoden der Herrschaftssicherung und Möglichkeiten des Widerstandes.
Zur Struktur und Arbeitsweise des Instituts Am Institut gibt es folgende Arbeitsbereiche: Lothar Fritze (Politik und Gesellschaft totalitärer Systeme): Derzeitig bearbeitete Schwerpunkte: - Der Mensch im totalitären Staat - Mentale Probleme der deutschen Vereinigung - Totalitarismustheorie Manfred Zeidler (Geschichte der NS-Zeit): Derzeitig bearbeitete Schwerpunkte: - Die Rote Armee jenseits von Oder und Neiße 1945/46 (vom Autor erschien 1996 der Band: Kriegsende im Osten. Die Rote Armee jenseits von Oder und Neiße 1944/45) - Sowjetische Kriegsverbrecherprozesse gegen deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR 1943-1950 Heidi Roth (Geschichte der SBZ/DDR): Derzeitig bearbeitete Schwerpunkte: - Vor- und Nachgeschichte des 17. Juni 1953 in Sachsen - Wismut-Problematik und andere ausgewählte Probleme der Regionalgeschichte
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Michael Richter (Geschichte der SBZ/DDR, Friedliche Revolution und deutsche Einheit 1989/90): Derzeitig bearbeitete Schwerpunkte: - Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR - Die friedliche Revolution in Sachsen - Die Entwicklung staatlicher Strukturen während der "Wende" - Die Gründung der CDU in der SBZ und in Berlin 1945 Durch Drittmittel und ABM finanzierte Projektstellen im Bereich Friedliche Revolution und deutsche Einheit 1989/90: - Erich Sobes1avsky: Die "Gruppe der 20" in Dresden. Entstehung, Entwicklung, Struktur und politische Bedeutung - Claudia Ulrike Baum: Dresden-Gittersee. Die Entwicklung von den Protesten gegen das Reinstsiliziumwerk 1989 bis zum ökologisch orientierten Sanierungskonzept der Gegenwart Klaus-Dieter Müller (Widerstandsforschung): Setzt die Arbeit des ursprünglichen Instituts für Widerstandsforschung fort. Derzeitig bearbeitete Schwerpunkte: - Widerstand, Opposition und Repression in der SBZ und DDR; dazu Aufbau eines zentralen Sach- und Personenarchives "Widerstand und Repression in SBZ und DDR" mit knapp 50.000 Datensätzen Ende 1996; - Zur politischen Rolle von Ärzten in der DDR - Hochschulwesen zwischen Widerstand und Selbstbehauptung - Gemeinsame Projektarbeit mit Opferverbänden - In Zusammenarbeit mit der Stiftung "Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft" Erstellung einer gemeinsamen biographischen Publikationsreihe "Lebenszeugnisse - Leidenswege" ab 1996 Durch Drittmittel finanzierte Projektstellen im Bereich Widerstandsforschung: - Sebastian Weiter: Zur Geschichte von Selbstbehauptung, Widerstand und Verfolgung auf der Grundlage der Akten der VOS - Hannelore Georgi: Zur Geschichte der Lager in der SBZ/DDR und in der Sowjetunion. Deutsche Häftlinge und ihre Erinnerungen an die Lagerzeit (in Zusammenarbeit mit der UOKG) - Günter Fippel: Sicherung und Aufarbeitung eines Personenverzeichnisses zu Widerstand und Verfolgung in der SBZ/DDR (in Zusammenarbeit mit der Stiftung "Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft")
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- Achim Beyer: Die Werdauer Oberschüler. Zur Geschichte einer sächsischen Widerstandsgruppe (in Zusammenarbeit mit der Stiftung "Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft") - Jörg Osterloh: Ärztliches Handeln und politische Verfolgung von Ärzten in der SBZ/DDR - Jörg Osterloh: Geschichte des Kriegsgefangenenlagers Stalag 304 in Zeithain - Johannes Raschka: Politische Verfolgung in der Ära Honecker Gerhard Barkleit (Geschichte von Industrie, Technik und Naturwissenschaft in der SBZ/DDR): Derzeitig bearbeitete Schwerpunkte: - Hochtechnologien in der Volkswirtschaft der DDR- Das Zusammenspiel von Staatspartei, staatlicher Administration und Staatssicherheitsdienst beim Aufbau von Luftfahrtindustrie, Kerntechnik, Rechentechnik/Datenverarbeitung und Mikroelektronik Durch ABM finanzierte Projektstellen im Bereich Geschichte von Industrie, Technik und Naturwissenschaft in der SBZ/DDR: - Erich Sobeslavsky: Zur Geschichte von Rechentechnik und Datenverarbeitung der DDR in den Jahren 1957 bis 1968 - Anette Dunsch: Die Rolle des MfS im Industriezweig Rechentechnik/Datenverarbeitung Christoph Boyer (Zeitgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas): Derzeitig bearbeitete Schwerpunkte: - Funktionseliten in der Wirtschaft der SBZ/DDR. Planbürokratie, Kaderentwicklung und Kaderpolitik am Beispiel der Staatlichen Plankommission und ausgewählter Industrieministerien ( 1945-1961) - Ostmitteleuropa zwischen zwei Totalitarismen Durch Drittmittel fmanzierte Projektstellen im Bereich Zeitgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas: - Mattbias Roeser: Die Wirtschaftsbeziehungen im sächsisch-nordböhmischen Raum vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart - Thomas Widera: Die Geschichte der Dresdner Bank in Sachsen zwischen Weltwirtschaftskrise und Kriegsende - Jens Nagel: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der deutschen Teilung Achim Siegel (Soziologie): Derzeitig bearbeitete Schwerpunkte: - Die Erklärungskraft von Totalitarismuskonzepten hinsichtlich der historischen Entwicklung sozialistischer Systeme - Die Dynamik des Niedergangs des Sozialismus in Polen seit 1956
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Am Anfang (Lothar Fritze) wie auch am Ende dieser Aufzählung (Achim Siegel) stehen keineswegs zufallig Arbeiten zu Totalitarismuskonzepten. Die im Vorfeld der Institutsgründung geführten Debatten werden fortgesetzt. Wir möchten auf Aufsätze der beiden genannten Kollegen in der "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" (Heft 7/95) bzw. "Zeitschrift für Politik" (Heft 2/96) verweisen. Weitere durch Drittmittel und ABM finanzierte Projektstellen: - Horst Haun: DDR-Historiographie und Staatspartei 1958-1964 - Agatha Kobuch: Protokolle der Sitzungen der Landesverwaltung in Sachsen 1945 bis Dezember 1946 Zum Institut gehören folgende Publikationsreihen: Schriften des Hannah-Arendt-Institutes für Totalitarismusforschung. Bisher erschienen sind: Band 1: Fischer, Alexander I Heydemann, Günther (Hg.): Die politische "Wende" in Sachsen- Rückblick und Zwischenbilanz. Weimar/Köln/Wien 1995. Band 2: Richter, Michael I Rißmann, Martin (Hg.): Die Ost-CDU. Beiträge zu ihrer Entstehung und Entwicklung. Weimar/Köln/Wien 1995. Band 3: Creuzberger, Stefan: Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System der SBZ. Weimar/Köln/Wien 1996. Band 4: Richter, Michael: Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR. Weimar/Köln/Wien 1996. In unregelmäßigen Abständen erscheinen Vorträge des HAlT. Sie sind das Ergebnis einer Vortragsreihe. Bisher sind hier erschienen: Heft 1: Ansprachen zur Eröffnung am 17. Juni 1993. A. Fischer, E. Iltgen, H. J. Meyer, G. Landgraf, M. Rößler. Heft 2: Hagen, Manfred: "Wir sind doch nicht geschlagen?!" Erste Reaktionen der SED-Führung auf die Volkserhebung 1953. Heft 3: Meyer, Hans Joachim: Gedanken zur Situation der Geisteswissenschaften. Heft 4: Bergander, Götz: Kalkül und Routine. Dresdens Rolle in der britischamerikanischen Luftkriegsplanung. Heft 5: Kapferer, Norbert: Der Totalitarismusbegriff auf dem Prüfstand. Heft 6: Pohlmann, Friedrich: Ideologie, Herrschaftsorganisation und Terror im Nationalsozialismus. Heft 7: Grüning, Uwe: "Vom Leben des Geistes." Ein Essay.
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Der Vorstellung von Arbeitsergebnissen dient die Reihe Berichte und Studien. Hier sind bislang folgende Hefte erschienen: Heft 1: Barkleit, Gerhard I Hartlepp, Heinz: Zur Geschichte der Luftfahrtindustrie in der DDR 1952-1961. Heft 2: Richter, Michael: Die Revolution in Deutschland 1989/90. Anmerkungen zum Charakter der "Wende". Heft 3: Osterloh, Jörg: Sowjetische Kriegsgefangene 1941-1945 im Spiegel nationaler und internationaler Untersuchungen. Forschungsüberblick und Bibliographie. Heft 4: Müller, Klaus-Dieter/Osterloh, Jörg: Die Andere DDR. Eine studentische Widerstandsgruppe und ihr Schicksal im Spiegel persönlicher Erinnerungen und sowjetischer NKWD-Dokumente. Heft 5: Barkleit, Gerhard: Die Rolle des MfS beim Aufbau der Luftfahrtindustrie der DDR. Heft 6: Boyer, Christoph: "Die Kader entscheiden alles." Kaderpolitik und Kaderentwicklung in der zentralen Staatsverwaltung der SBZ und der frühen DDR (1945-1952). Heft 7: Haun, Horst: Der Geschichtsbeschluß der SED 1955- Programmdokument für die "volle Durchsetzung des Marxismus-Leninismus" in der DDRGeschichtswissenschaft. Heft 8: Sobeslavsky, Erich/Lehmann, Nikolaus Joachim: Zur Geschichte von Rechentechnik und Datenverarbeitung der DDR in den Jahren 1957 bis 1968. Heft 9: Zeidler, Manfred: Stalinjustiz contra NS-Verbrechen- Die Kriegsverbrecherprozesse gegen deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR in den Jahren 1943 - 1952. Kenntnisstand und Forschungsprobleme. Heft 10: Hampe, Eckhard: Zur Geschichte der Kerntechnik in der DDR von 1955 bis 1962. Die Politik der Staatspartei zur Nutzung der Kernenergie.
Das Militärgeschichtliche Forschungsamt Von Hans Ehlert
Das Militärgeschichtliche Forschungsamt [MGFA] zählt zu den ältesten wissenschaftlichen Einrichtungen der Bundeswehr, der Themenkomplex DDRGeschichte gehört gleichwohl erst seit wenigen Jahren zu den Schwerpunkten seiner Arbeit. Das Amt hat einen Forschungs- und einen Bildungsauftrag, in dessen Zentrum die Untersuchung und Darstellung der neueren deutschen Militärgeschichte steht. 1 Am 1. Januar 1957 als "Militärgeschichtliche Forschungsstelle" in Langenau bei Ulm gegründet, zog die inzwischen zum "Militärgeschichtlichen Forschungsamt" umbenannte Dienststelle im Oktober 1958 nach Freiburg um, das als Universitätsstadt gute Möglichkeiten für die beabsichtigte Kooperation mit der zivilen Geschichtswissenschaft bot. Das Amt verfügte in seinen ersten Jahren über eine angegliederte Dokumentenzentrale, in der zunächst die von den westlichen Siegermächten zurückgegebenen Akten aus dem Zweiten Weltkrieg aufbewahrt wurden. Bald zeichnete sichjedoch ab, daß der Betrieb eines eigenständigen Archivs das Amt überfordern würde. Um dennoch den unmittelbaren Zugriff der Historiker des Amtes auf das umfangreiche Aktenmaterial zu sichern, wurde aufgrund einer interministeriellen Vereinbarung im Jahre 1968 in Freiburg das Bundesarchiv Militärarchiv eingerichtet, dessen Bestände in der Folgezeit eine wichtige Grundlage für die Forschungstätigkeit der Mitarbeiter des Amtes bildeten. In der südbadischen Universitätsstadt entwickelte sich die Behörde mit seinen zeitweise über 50 Historikern in den nächsten Jahren zum größten historischen Institut der Bundesrepublik, in dessen Aufgabenbereich auch die historischen Museen eingegliedert wurden. Das MGFA kann inzwischen auf über 400 Publikationen 1 Vgl. zu Organisation, Aufgaben und Projekte des MGFA z.T. ausführlicher als das hier möglich ist: Militärgeschichtliches Forschungsamt. Informationsschrift. Potsdam 1997, Hans Ehlert/Wolfgang Michalka, Das Militärgeschichtliche Forschungsamt, in:Potsdamer Bulletin fiir Zeithistorische Studien hrsg.v.Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien Potsdam, Nr.3, Juni 1995, S. 6-14 (folgender Beitrag stützt sich im wesentlichen auf diese beiden Publikationen, auf weitere Einzelnachweise wird daher verzichtet) sowie Anna-Sabine Ernst, Zwischen eilfertiger Enthüllungshistorie und solider Quellenkritik. Die zeitgeschichtliche DDR-Forschung im Prozeß der Neuordnung, in: Zeitgeschichte 22(1955) S.261f.; Volker Bergbahn, Das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Freiburg, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), S.279-274.
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verweisen, seine Wanderausstellungen und Museen wurden von weit über 1 Million Bürgern besucht. Im Rahmen der Verlagerung von Dienststellen des Bundes in die neuen Bundesländer wurde das Militärgeschichtliche Forschungsamt von Freiburg nach Potsdam verlegt. Am 01.0ktober 1994 nahm die Behörde in seinem neuen Wirkungsbereich, der brandenburgischen Landeshauptstadt, seine Arbeit auf. Die Dienstgebäude befmden sich auf dem Areal der "Villa Ingeheim", dort befand sich bis zum Oktober 1990 der Dienstsitz des Militärgeschichtlichen Instituts (MGI) und des Militärarchivs der DDR. Durch den Ortswechsel fand vor allem beim nichtwissenschaftliehen Personal in erheblichem Umfang ein Mitarbeiterwechsel statt, darüber hinaus ist es gelungen einige der Wissenschaftler des ehemaligen MGI in den Historikerbestand des MGFA zu übernehmen. In Potsdam wurde durch eine Vereinbarung zwischen dem Bundesminister der Verteidigung und der Universität Potsdam 1997 ein Lehrstuhl für Militärgeschichte eingerichtet. Diese Stiftungsprofessur ist in ihrer Forschungsund Lehrtätigkeit völlig unabhängig vom MGFA, dennoch verspricht sich das Amt von dieser Einrichtung eine weitere Verbesserung der Kooperation mit der universitären Geschichtswissenschaft. Mit der Etablierung des MGFA und der Schaffung des neuen Lehrstuhls ist in Potsdam zweifellos das Zentrum der deutschen Militärgeschichtsforschung entstanden. Trotz dieser Konstellation und der Tatsache, daß das Forschungsamt im Großraum Berlin/Potsdam mit vier Universitäten und einer Reihe außeruniversitären Forschungsinstitutionen sowie zahlreichen Archiven, Bibliotheken und Museen eine einzigartige Wissenschaftslandschaft vorfand, bedeutete die Verlegung einen tiefgreifenden Einschnitt in die ForschungstätigkeiL Das für die Arbeit der deutschen Militärhistoriker wohl wichtigste Archiv, das Bundesarchiv Militärarchiv, verblieb in Freiburg. Mit dem Verlust des bevorzugten Zugang zu dessen Beständen wird die Arbeit der Wissenschaftler des Amtes vermutlich auf nicht absehbare Zeit erheblich beeinträchtigt. Das MGFA zählt zu den außeruniversitären historischen Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik. Es pflegt daher auch im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland e.V. (AHF) die Zusammenarbeit z. B. mit dem Institut für Zeitgeschichte, München, den verschiedenen Deutschen Historischen Instituten sowie vielen anderen Forschungseinrichtungen im In- und Ausland. Ebenso steht das Amt in einem regelmäßigen Austausch mit der universitären historischen Forschung. Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes haben an Universitäten wiederholt Lehrstuhlvertretungen oder eigenständige Lehrverpflichtungen übernommen. Eine Vielzahl deutscher und
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ausländischer Historiker veröffentlichen Bücher oder Aufsätze in Zusammenarbeit mit dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Wiederholt haben auswärtige Wissenschaftler ihre Freisemester zu Forschungsaufenthalten in Freiburg oder Potsdam genutzt.
I. Militärgeschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft Die Militärgeschichtsschreibung in Deutschland erhielt seit dem 19. Jahrhundert starke Impulse vonseitender Generalstäbe, die aus spezifisch militärischem Interesse insbesondere die Kriegführung der Vergangenheit - meist eingeengt auf Aspekte der Organisation und der Operationen - untersuchen ließen, um daraus Lehren für die Führungspraxis zu gewinnen. Der nach dem Ersten Weltkrieg unternommene Versuch des neu geschaffenen Reichsarchivs, die Geschichte des Krieges in einem größerem historischen Zusammenhang zu analysieren, wurde nach 1933 nicht weiterverfolgt. Nach der Integration in die militärische Struktur degenerierte die Militärgeschichtsschreibung im Verlauf des Zweiten Weltkriegs zunehmend zu einer propagandistischen und am unmittelbaren Nutzen orientierten "Kriegswissenschaft" . Erst nach 1945 ist es der Militärgeschichte gelungen, sich in einem völligen Neuansatz als eine Spezialdisziplin der Geschichtswissenschaft zu etablieren, deren zentraler Forschungsgegenstand zunächst die Streitkräfte selbst und darüber hinaus deren Wechselbeziehungen zu Staat und Gesellschaft sind. Angesichts der leidvollen Erfahrungen der jüngsten deutschen Geschichte bestand in der Gründungsphase der Bundeswehr für die Verantwortlichen kein Zweifel, daß Streitkräfte in einer parlamentarischen Demokratie einer Forschungseinrichtung zur kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit bedurften. Auf diesem Wege sollten Orientierungshilfen für die Gegenwart und Perspektiven für die Gestaltung der Zukunft gewonnen werden. Maßgebend war die Absicht, die Militärgeschichte mit den Methoden und dem Erkenntnisinteresse der Geschichtswissenschaft zu betreiben und mit diesem wissenschaftlichen Instrumentarium die militärischen Vorgänge unter Berücksichtigung ihrer Verortung in einem umfassenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungsgeflecht in ihren komplexen Bedingungen zu untersuchen.2 2 Zum Standort und zur Diskussion über Zielsetzung und Methode der Militärgeschichte vgl. die verschiedenen Beiträge in: Militärgeschichte. Probleme, Thesen, Wege. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes aus Anlaß seines 25jährigen Bestehens ausgewählt und zusammengestellt von Manfred Messerschmidt, Klaus A.Maier, Werner Rahn und Bruno Thoß, Stuttgart 1982 (=Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd.25) sowie als knapper Problemaufriß neuerdings:
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In dieser Absicht und Aufgabe fühlt sich das MGFA einer methodisch-reflektierten, interdisziplinär angelegten Militärgeschichte verpflichtet, die beschrieben wird als "jene Spezialdisziplin der Geschichtswissenschaft, die sich den militärischen Gegebenheiten in der ganzen Breite ihrer vielfaltigen Erscheinungsformen und Abhängigkeiten" zuwendet. Innerhalb dieses weiten Bezugsrahmens befaßt sich Militärgeschichte darüber hinaus mit der Entwicklung und den Strukturen von Streitkräften, mit ihrer Bedeutung als Mittel der Politik und als Instrument staatlicher Gewalt. Wie die allgemeine Geschichtswissenschaft so ist auch die Militärgeschichte "unauthebbar ein hermeneutisches Geschäft" (RudolfVierhaus), das an die subjektiven Erkenntnismöglichkeiten des Historikers gebunden bleibt. Dennoch ist für die Geschichtswissenschaft Objektivität der Erkenntnis und der Darstellung verpflichtende Norm, weil sie anders ihren Charakter als Wissenschaft und ihren Anspruch auf intersubjektive Geltung ihrer Ergebnisse aufgeben würde. Die so verstandene militärgeschichtliche Forschung orientiert sich an Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes. Die dort garantierte Freiheit von Forschung und Lehre wird von den Historikern des MGFA bewußt wahrgenommen und gilt als unverzichtbare Voraussetzung für die wissenschaftliche Arbeit. Wissenschaftliche Verantwortung in diesem Sinne bedeutet Selbständigkeit und Freiheit in der Fragestellung, im thematischen Untersuchungsgang und in der Bestinunung der Methoden. Mit diesen für die wissenschaftliche Arbeit konstitutiven Essentials setzt sich das MGFA kritisch mit den Traditionen amtlich verordneter Kriegsgeschichtsschreibung des preußisch-deutschen Generalstabes auseinander, distanziert sich davon und beschreitet neue Wege. Deshalb gibt es im MGFA auch keine sogenannte "Auftragsforschung", geschweige denn zweckorientierte "amtliche" Geschichtsschreibung mit letztlich legitimatorischer Absicht. Das bedeutet, daß die Forschungsthemen in der Regel in Abstinunung mit dem Bundesministerium der Verteidigung erörtert und festgelegt werden. Die daraus resultierende Erteilung konkreter Arbeitsaufträge an einzelne Wissenschaftler, bestimmte Themen zu erforschen, liegt jedoch allein in der Verantwortung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit sind prinzipiell offen. Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Amtes sind mit dem Namen des jeweiligen Autors gezeichnet, der für den Inhalt die alleinige wissenschaftliche Verantwortung trägt. Der Amtschef des MGFA trifft nach ausschließlich wissenschaftlichen Kriterien - entsprechen die präsentierten Forschungsergebnisse den Normen methodisch einwandfreier wissenschaftlicher Arbeit - die Entscheidung, ob das entstandene Werk als Publikation des Amtes gedruckt wird. Werner Rahn, Wege zur historischen Wahrheit. Probleme der militärgeschichtlichen Forschung heute in: Truppenpraxis 41(1997), H.3.
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II. Gliederung und Aufgabenbereiche Seit der deutschen Vereinigung kommt es für das Militärgeschichtliche Forschungsamt auch darauf an, sich mit Formen und Standards der militärgeschichtlichen Forschung in der ehemaligen DDR auseinanderzusetzen. Militärgeschichte in der DDR war weniger auf konkrete Beiträge zur historischen Forschung ausgelegt als darauf, einen Beitrag zur politisch-ideologischen Erziehung in der Nationalen Volksarmee zu leisten. Konsequenterweise unterstand das MGI daher unmittelbar der Politischen Hauptverwaltung der NV A. Die theoretische Begründung seiner Arbeit war der historische Materialismus in der Interpretation der SED. Obwohl das MGFA sich mit seinen Beiträgen zur modernen Militärgeschichte in der nationalen und internationalen Wissenschaftslandschaft längst etabliert hat, zählt es im Kreise der Institutionen, die Forschungen zur Geschichte der DDR betreiben zu den jüngeren. Bevor die auf dem Sektor der Militärgeschichte der DDR verfolgten Vorhaben vorgestellt werden, sollen zunächst die Struktur und die anderen wissenschaftlichen Projekte des Forschungsamtes kursorisch genannt werden. Aufgrund der zu leistenden Aufgaben ist das Amt in zwei wissenschaftliche Abteilungen gegliedert. Die Abteilung Forschung deckt mit ihren vier Forschungsbereichen den Bereich der militärgeschichtlichen Grundlagenforschung ab (Forschungsbereich I: Fragen der Allgemeinen Militärgeschichte von 16481939; II: Geschichte des Zweiten Weltkriegs; III: Deutschen Militärgeschichte nach 1945; IV. Internationale Militärgeschichte seit 1945. Geschichte der NATO und des Warschauer Paktes). Die Abteilung Ausbildung, Information, Fachstudien (AIF) richtet sich mit ihrer Arbeit vornehmlich an die Bundeswehr. Dabei erstellt sie sowohllangfristig angelegte Arbeiten, insbesondere zur Geschichte militärischer Operationen und des operativen Denkens, als auch Studien zu konkreten Fragestellungen. Darüber hinaus hat die Abteilung die Aufgabe, die Erkenntnisse der allgemeinund militärhistorischen Forschung für die historisch-politische Bildung und Ausbildung in den Streitkräften didaktisch-pädagogisch aufzubereiten und sie hierdurch der Ausbildung und Lehre in der Truppe praktisch zugänglich zu machen. Um diese Aufgabenstellung zu erfüllen, entwickelt und publiziert AIF eine Fülle von Schriftenreihen, Unterrichtsmaterialien sowie wehrdidaktischen Handbüchern und fertigt Fachstudien an. Mit dem 1993 erschienenen zweibändigen Handbuch "Grundzüge der deutschen Militärgeschichte" hat die Abteilung einen immer wieder geäußerten Wunsch erfüllt und für den militär-
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geschichtlich interessierten Laien ein knapp gefaßtes, gut lesbares zweihändiges Studienbuch vorgelegt. Darüber hinaus werden Wanderausstellungen zu zentralen historisch-politischen Ereignissen und Themenzusanunenhängen (z.B. Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NSRegime, Deutsche jüdische Soldaten u.a.) erstellt und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Abteilung ist weiterhin für die Beantwortung von Anfragen aus der in- und ausländischen Öffentlichkeit auf dem Gebiet der Militärgeschichte sowie die Anfertigung gutachterlieber Stellungnahmen von Bundesbehörden sowie aus dem Bereich der Sozialgerichte und Versorgungsämter verantwortlich. Außerdem sind dem Leiter der Abteilung AIF die beiden Museen des Amtes unterstellt. Das seit 1990 zum MGFA gehörende Militärhistorische Museum Dresden sanunelt und präsentiert deutsche Militärgeschichte von den Anfängen (Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation) bis zur Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der sächsischen Militärgeschichte. Ein Schwerpunkt liegt bei der im Aufbau befmdlichen Abteilung "Deutsche Militärgeschichte nach 1945". Das Luftwaffenmuseum Berlin Gatow hat die Aufgabe, die internationale militärische Luftfahrt von den Anfängen bis zur Gegenwart mit dem besonderen Schwerpunkt der Geschichte der Bundeswehr/Luftwaffe darzustellen. In dem mit seinen Sammlungen im Aufbau befindlichen Museum werden eine große Zahl von Flugzeugen, zahlreiches Großgerät, Uniformen und Ordenssammlungen ausgestellt. Im Zusanunenhang mit den historisch-didaktischen Aufgabenstellungen an das Amt ist mit einem alle Abteilungen und Bereiche übergreifenden Vorhaben die Erarbeitung eines Taschenlexikon zur deutschen Militärgeschichte begonnen worden. Das Lexikon strebt einen Überblick über die militärgeschichtlichen Sachverhalte und Vorgänge in der Zeit von 1815 bis 1990 an. Solide aber nicht zu umfangreich sollen der interessierten Öffenlichkeit Angaben zu militärhistorisch bedeutsamen Ereignissen und Personen sowie durch lokalisierbare oder feststehende Begriffe gekennzeichnete Sachverhalte erläutert werden. Die wissenschaftliche Tätigkeit der Mitarbeiter des Amtes spiegelt sich in einer großen Zahl von Veröffentlichungen, die das Amt in den 40 Jahren seines Bestehens herausgegeben und damit den Ertrag seiner Arbeit der Bundeswehr, der Wissenschaft und der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hat. Die Gesamtheit der Publikationen gibt ein Bild von der Spannweite der im MGFA bearbeiteten Themen, sie dokumentiert zugleich eine Vielfalt von Arbeits- und Darstellungsformen. Neben den im folgenden beschriebenen drei großen mehrbändigen Gesamtdarstellungen werden Publikationsreihen, wie
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"Beiträge zur Militärgeschichte", "Einzelschriften zur Militärgeschichte", sowie zahlreiche Monographien - auch als Taschenbuchausgabe und in englischer und russischer Übersetzung - und Quelleneditionen herausgegeben. Ferner werden Vortragsreihen - Vorträge zur Militärgeschichte - Unterrichtsmaterialien und Ausstellungskataloge hergestellt. Schließlich runden zwei Zeitschriften - die "Militärgeschichtlichen Mitteilungen" mit dem ., War and Society Newsletter" und die "Militärgeschichte" - das umfangreiche und vielseitige Publikationsprogramm ab. Die zahlreichen Publikationen des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes werden von der Schriftleitung betreut. Zusammen mit der Stabsgruppe und der Truppenverwaltung nimmt sie zentrale Aufgaben für das gesamte Amt wahr. Die Bibliothek des MGFA, in der seit 1994 die Freiburger Bestände des MGFA und des MGI zusammengeführt worden sind, bildet mit über 220 000 Bänden die größte Spezialsammlung militärgeschichtlicher Literatur in Deutschland.
111. Die Forschungsabteilung Die Mehrheit der Historiker des Amtes arbeitet in den vier Bereichen der
Abteilung Forschung an den Projekten der Grundlagenforschung Der Forschungsbereich I umfaßt den großen Zeitraum von der frühen Neuzeit bis zum
Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Als erstes großes Projekt wurde das mehrbändige "Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648 bis 1939" erarbeitet, das in den Jahren 1964 bis 1981 in sechs Bänden einschließlich eines ausführlichen Registersbandes erschien. Es bietet einen umfassenden militärhistorischen Überblick für die Zeit vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Die Darstellung der einzelnen Feldzüge und Kriege klammerte das Handbuch bewußt aus. Der Aspekt "Militär als Kriegsinstrument" sollte zugunsten der Frage nach dem "Militär als Strukturelement der Gesellschaft" eher in den Hintergrund treten. In diesem Wissenschaftsverständnis wurden auch einige Tagungen durchgeführt, wie beispielsweise über das Thema "Krieg, Wirtschaft und Gesellschaft in Europa im Zeitalter Friedrichs des Großen". Weitere Persönlichkeiten der deutschen Militärgeschichte, die Politik und Kriegführung ihrer Zeit nachhaltig geprägt haben, stehen im Mittelpunkt der Biographien über Erich v. Falkenhayn, Gustav Noske und Wilhelm Groener. Darüber hinaus wurden kriegerische Konflikte des 19. Jahrhunderts, ausgewählte Probleme des Ersten Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit untersucht.
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Im Forschungsbereich II wird eine umfassend angelegte Darstellung "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" erarbeitet. Seit Bestehen des Amtes gehört die Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg zu den Forschungsschwerpunkten. Die katastrophalen Folgen dieses Ereignisses sowohl für die deutsche Geschichte wie für die politische Ordnung nicht nur Europas legten es nahe, daß sich auch das Militärgeschichtliche Forschungsamt von Anfang an mit Einzelthemen des von Deutschland schuldhaft herbeigeführten Krieges befaßte. In dem Maße, wie andere Institutionen oder Einzelforscher mehr oder weniger umfangreiche Gesamtdarstellungen veröffentlichten, sah sich das Militärgeschichtliche Forschungsamt mit der Forderung konfrontiert, seinerseits eine breit angelegte Geschichte des Zweiten Weltkrieges aus deutscher Sicht zu erarbeiten. Die schrittweise Rückgabe des Aktenmaterials des Zweiten Weltkrieges durch die westlichen Siegermächte, vor allem Amerikaner und Briten, erlaubte es, Anfang der siebziger Jahre eine Gesamtdarstellung dieses Krieges aus deutscher Sicht in Angriff zu nehmen. Dabei war von vornherein der Anspruch gestellt, nicht nur die Kriegführung selbst, sondern ihre Bedingungen im weitesten Sinne zu untersuchen und in die Darstellung mit einzubeziehen. Das auf zehn Bände konzipierte Grundlagenwerk weist mittlerweile sechs Bände vor, die von der Vorgeschichte, über die Kriegsursachen und Anlässe (Band 1), den Angriff auf Polen, die Feldzüge gegen Skandinavien, Frankreich (Band 2) und im Mittelmeerraum (Band 3) handeln. Einen besonderen Schwerpunkt bildet der deutsche Angriff auf die Sowjetunion und die besonders dort praktizierte Besatzungs- und Vernichtungspolitik (Band 4 und Band 6). Der fünfte Band untersucht längsschnittartig Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen bis 1941 . Im sechsten Band werden die Ausweitung zum Weltkrieg und der Wechsel der Initiative in den Jahren 1941 bis 1943 dargestellt. Die Vorbereitungen für die Fertigstellung der Folgebände 5 II (im Druck) bis 10, in denen die Entwicklung des Krieges von 1943 bis zur bedingungslosen Kapitulation, Fragen der deutschen Besatzungsherrschaft und Kriegswirtschaft, aber auch Bereiche wie die deutsche Innenpolitik im Kriege, Fragen der Ideologie und Rassenpolitik sowie der Widerstand gegen das Regime behandelt werden, sind weit gediehen. Das Werk wird inzwischen als beispielsetzendes Standardwerk gewürdigt, die internationale Anerkennung fmdet unter anderem in einer bei Oxford UP erscheinenden englischen Übersetzung Ausdruck. Neben diesem "Weltkriegswerk" sind zahlreiche Monographien, Aufsatzsammlungen sowie Editionen- z.B. das 68 Bände umfassende "Tagebuch der Seekriegsleitung 1939-1945- zum Zweiten Weltkrieg erschienen.
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Im Forschungsbereich IV liegt der Schwerpunkt der Arbeit auf einer "Geschichte der Entstehung und der Frühphase der NATO". Aus internationaler Perspektive ansetzend, erscheint das Projekt insbesondere wegen der Bedeutung des atlantischen Bündnisses für die deutsche, europäische und globale Entwicklung seit 1948 als eine wichtige Aufgabe im Rahmen der Forschungen zu Themen der internationalen Politik. Die Mitarbeiter untersuchen ein Bündel von Problemstellungen und Fragen, die sich mit dem Aufbau der militärischen Organisation, der Kontrolle von Nuklearwaffen, den unterschiedlichen Auffassungen über die Bedrohung durch die Sowjetunion oder der wirtschaftlichen Zusammenarbeit befassen, aber auch die Spannungen zwischen den Bündnispartnern und die Krisen der Allianz nicht unbeachtet lassen. Im Forschungsbereich 1/1, den ich bisher ausgeklammert habe, werden die Fragen der Militärgeschichte und Sicherheitspolik der Bundesrepublik Deutschland und DDR untersucht. 1996 wurde das Vorhaben "Anfange westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956" abgeschlossen. Die Projektgruppe ging unter vielfältigen Aspekten den Fragen nach den Grundlagen der Sicherheitsstruktur sowie den Ursachen des Streitkräfteaufbaues in der Bundesrepublik Deutschland nach, der 1955, kaum zehn Jahre nach der totalen militärischen Niederlage des Dritten Reiches, begann. Am Beginn der Arbeit stand das Sichern und Sammeln des verstreuten Materials, insbesondere durch die Befragung von Persönlichkeiten, die seit 1945 mit Fragen der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und Überlegungen zu einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag befaßt waren. Weitere konzeptionelle Überlegungen zeigten dann, daß eine Einengung auf eine "Enstehungsgeschichte der Bundeswehr" wissenschaftlich zu kurz greifen würde. Vielmehr mußte die Untersuchung der Abläufe, die in der Öffentlichkeit kontrovers unter den Schlagworten "Wiederbewaffnung"oder "Remilitarisierung" diskutiert wurde, im Hinblick auf die internationalen Bezüge und die innenpolitischen Kontroversen wesentlich breiter angelegt werden. Von daher ergaben sich die Gesamtthematik "Anfange westdeutscher Sicherheitspolitik" und die einzelnen zu bearbeitenden Fragestellungen. Die chronologische Gliederung war durch Entscheidungen im internationalen Feld vorgegeben, die das "Ob" und "Wie" des deutschen Verteidigungsbeitrages wesentlich beeinflußten. Der erste Band behandelt den Zeitraum vom Kriegsende 1945 bis zur Entscheidung des NATO-Rates vom Dezember 1950, die Bundesrepublik Deutschland mit einem eigenen Beitrag in die westliche Verteidigungsorganisation einzubeziehen. Die "Europäische Verteidigungsgemeinschaft" (EVG) als der 1954 gescheiterte Versuch einer supranationalen Einbindung der neuen deutschen Streitkräfte in einen europäischen Rahmen ist Gegenstand des zweiten Bandes. Die durch den Beitritt der Bundesrepublik zur
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NATO und WEU im Herbst 1954 eingeleitete Phase, die bis 1956 durch die Entscheidungen über die Wehrverfassung und die grundlegenden Wehrgesetze sowie den Aufbau der ersten Formationen westdeutscher Streitkräfte gekennzeichnet ist, behandelt der dritte Band. In dem gleichartigen Aufbau aller Bände zeigt sich das Bemühen, die deutsche Sicherheitspolitik und den deutschen Verteidigungsbeitrag in einem weiten internationalen und nationalen Umfeld zu behandeln. Konstellation des internationalen Systems und deutsche Außenpolitik, Entwicklung von sicherheitpolitischen und militärstrategischen Vorstellungen im nationalen und Bündnisbereich, innenpolitische Lage und Forderungen an Sicherheit und Verteidigungsbeitrag sowie personelle und materielle Planung und Aufstellung der Streitkräfte in Hinsicht auf ihr inneres Gefüge sind die von einzelnen Autoren behandelten Gegenstände jedes Bandes. Besondere Aspekte deutscher Streitkräfte, wie ihre verfassungs-und völkerrechtliche Einordnung und wirtschaftliche Fragen der Aufrüstung, sind außerhalb der chronologischen Darstellung Gegenstand des abschließenden vierten Bandes. Die Arbeit an diesem Projekt war gekennzeichnet von einer kaum überschaubaren, international verteilten Masse von Akten, die es zu sichten galt. Der Zugang zu ihnen war durch Rücksichtnahme auf persönlich.k:eitsrechtliche, sicherheitspolitische und geheimhaltungsrelevante Bedenken nicht immer leicht. Regelungen waren oft nur durch das Entgegenkommen nationaler und auswärtiger Archive und Behörden möglich. Dem Vorhaben "Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956" folgt ein Vorhaben "Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der Aufbau- und Konsolidierungsphase der Bundeswehr (1956-1965/67)". Eine Konzeption liegt vor, die ersten Beiträge zu den Themenstellungen "Bündnisstrategie und nationale Verteidigungsplanung" sowie "Armee, Staat und Gesellschaft" werden derzeit erarbeitet.
IV. Militärgeschichte der SBZ/DDR Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten erweiterte sich der bisher lediglich auf die Bundesrepublik Deutschland bezogene Forschungsgegenstand. Auf das MGFA kam im Jahre 1990 die Aufgabe zu, auch die Militärgeschichte der ehemaligen DDR wissenschaftlich zu untersuchen. Grundlage aller konzeptionellen Überlegungen dabei war, daß die Erforschung der Militärgeschichte der DDR eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis der Gesamtstruktur des Herrschaftssystems der DDR liefert. Quellengestützte Forschungen zur Militär-
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und Sicherheitspolitik der DDR waren unter dem SED-Regime wegen rigoroser Geheimhaltungsvorschriften und der Verweigerung jeglichen Aktenzugangs für westliche Wissenschaftler kaum möglich. Auch DDR-Historiker konnten, selbst für offizielle Darstellungen etwa zur Geschichte der Nationalen Volksarmee (NV A), nur eingeschränkt auf Akten zurückgreifen. Angesichts der Tatsache, daß in der DDR überdies ein völlig anderes Wissenschaftsverständnis vorherrschte und der Geschichtswissenschaft, insbesondere aber der Militärgeschichte spezifische, legitimatorische Aufgaben im politisch-ideologischen Spektrum zugeordnet waren, mußte auf diesem sensiblen Feld nach der Wende vielfach Neuland beschritten werden. Im Gegensatz zu den Forschungen über die westdeutsche Sicherheitspolitik, die sich auf eine große, international verteilte Masse von Akten stützen können, stellt sich die Aktenlage zur ostdeutschen Militär- und Sicherheitspolitik problematischer dar. Die Untersuchungen der internationalen und Bündnisbeziehungen der DDR z.B. leiden- neben der Fremdsprachenproblematik- unter den unklaren bzw. noch sehr restriktiven Zugangsbedingungen zu den Archiven der ehemaligen Sowjetunion und der Warschauer Vertragsorganisation. Auch die verfügbaren Akten zur innenpolitischen Ebene (Partei- bzw. Regierungsorgane, Massenorganisationen, Parlament) lassen im Hinblick auf den Ablauf der Entscheidungsprozesse noch viele Fragen offen. Vor diesem Hintergrund wurde in einer mit Wissenschaftlern aus den alten und neuen Bundesländern besetzten Projektgruppe des Forschungsbereichs III das Vorhaben "Militärgeschichte der DDR" begonnen. Analog zu den Forschungen auf westdeutscher Seite soll hier - in der Vorgehensweise 1945 beginnend nach vorne und nicht von 1990 zurückblickend - die militär- und sicherheitspolitische Dimension der SBZ/DDR in ihren internationalen Verknüpfungen untersucht werden. Folgende Vorhaben oder Studien wurden bisher abgeschlossen oder befinden sich in der Bearbeitung: 1. Abgeschlossen Als erstes Ergebnis der Arbeiten konnte 1994 ein Sammelband über den Zeitraum 1947 bis 1952 vorgelegt werden. In den Beiträgen des Bandes werden der politische Entscheidungsprozeß und die wirtschaftlichen Folgen der 1948 mit der Aufstellung zentraler Polizeibereitschaften einsetzenden Aufrüstung in der DDR analysiert.
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"Volksarmee schaffen- ohne Geschrei. Studien zu den Anfängen einer ,verdeckten Aufrüstung' in der SBZ/DDR 1947-1952. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bruno Thoß, München (Oldenbourg) 1994 (=Beiträge zur Militärgeschichte, Bd.51) mit den Einzelbeiträgen: - Bruno Thoß, Die Sicherheitsproblematik im Kontext der sowjetischen Westund Deutschlandpolitik 1941-1952; - Kurt Arlt, Das Wirken der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) im Spannungsfeld zwischen den Beschlüssen von Potsdam und den sicherheitspolitischen Interessen Moskaus 1945 bis 1949; - Wolfgang Eisert, Zu den Anfängen der Sicherheits- und Militärpolitik der SED-Führung 1948 bis 1952; - Rüdiger Wenzke, Auf dem Wege zur Kaderarmee. Aspekte der Rekrutierung, Sozialstruktur und personellen Entwicklung des entstehenden Militärs in der SBZ/DDR bis 1952/53; - Torsten Diedrich, Aufrüstungsvorbereitung und -finanzierung in der SBZ/DDR in den Jahren 1948 bis 1953 und deren Rückwirkungen auf die Wirtschaft." Als wichtiges Arbeitsmittel folgte 1996 die Vorlage einer Bibliographie, die in etwa 8000 Einträgen das militärgeschichtliche Spektrum der DDR erfaßt: - Die Militär- und Sicherheitspolitik in der SBZ/DDR. Eine Bibliographie ( 1945-1995). Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Hans Ehlert, bearb. von Hans-Joachim Beth, München (Oldenbourg) 1996 {=Militärgeschichte seit 1945, Bd.lO).
2. In Bearbeitung Derzeit wird die Militär- und Sicherheitspolitik der DDR bis zum Zeitpunkt der Formierung der militärischen Blöcke in Ost und West Mitte der fünfziger Jahre aufgearbeitet. In einem weiteren Projekt steht der Nationale Verteidigungsrat der DDR als militär- und sicherheitspolitisches Machtzentrum zwischen Partei, Staat und Armee in der Ära Ulbricht im Zentrum der wissenschaftlichen Analyse. Darüber hinaus ist beabsichtigt, die "bewaffneten Organe" der DDR in einem Handbuch für einen breiteren Leserkreis zu erschließen.
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a) KVP-Projekt In Fortsetzung des unter 1 genannten Sanunelwerkes wird an folgenden Einzelvorhaben gearbeitet (Fertigstellung 1997; Publikation 1998 geplant) - Torsten Diedrich, Rüdiger Wenzke, "Von der 'verdeckten' zur offenen Aufrüstung. Zur Entwicklung der Kasernierten Volkspolizei, der VP-See, der VP-Luft-Aeroklubs und der Rüstungswirtschaft in der DDR 1952- 1956 (AT). Begleitend zum KVP-Projekt ist die die Vorlage einer Dokumentation beabsichtigt: - Dokumentation zur Militär- und Sicherheitspolitik der SBZ/DDR 1945 bis1955/56 (AT). b) Der Nationale Verteidigungsrat - Armin Wagner "Der Nationale Verteidigungsrat als Führungsorgan zwischen Partei, Regierung und NVA am Beispiel der Planung und Lenkung der militärischen, wirtschaftlichen und ideologischen Mobilmachungsvorbereitungen der DDR in der Ära Ulbricht" (AT) ( Fertigstellung 1999). Darüber hinaus ist an eine Edition der Protokolle des NVR gedacht. Die Arbeiten dazu sind aus personellen Gründen noch nicht aufgenommen.
3. Studien Folgende Themen werden bzw. wurden in Einzelstudien (ca.70-80 Ms.) bearbeitet: 3 - Winfried Hanisch/Paul Heider, Die Rolle der NVA von der Wende bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten (1989/90), T.l u. II; - Winfried Hanisch, "Der Truppenstationierungsvertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR vom 12. März 1957 - Inhalt, praktische Umsetzung, Probleme" mit Dokumentenanhang; 3 Die Studien dienen zur Untersuchung bestimmter Sonderthemen und spezieller kleinerer Forschungsfelder, die aufgrund fehlender personeller Ressourcen von der Projektgruppe derzeit noch nicht umfassend bearbeitet werden können. Eine Publikation der Ergebnisse ist generell nicht vorgesehen, im Einzelfall aber dennoch möglich. Die bisher erarbeiteten Studien stehen in der Bibliothek des MGFA zur Auswertung zur Verfügung.
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- Paul Heider, "Armee und Gesellschaft - Die Zusammenarbeit der NV A mit derGSTirnRahmender 'sozialistischen Wehrerziehung', rnitDokumentenanhang; - Paul Heider "Von der Massenorganisation zur Ausbildungsorganisation. Zur Entwicklung der Gesellschaft für Sport und Technik nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der DDR mit Dokumentenanhang; - Brigitte Jammer, "Zwischen Ministerbefehl und Ehrenamt- Die Armeesportvereinigung Vorwärts als Bestandteil der Streitkräfte der DDR - dargestellt anband des Kinder- und Jugend- bzw.Nachwuchsleistungssports in der Militärsportorganisation" (Studie mit Dokumentenanhang); - Peter Trommer, "Struktur, Organisation und Wirkungsweise der 'politischideologischen Arbeit' in den DDR-Streitkräften" mit Dokumentenanhang. 4. Handbuch Im Druck befindet sich ein Handbuch mit dem Thema "Im Dienste der Partei -die bewaffneten Organe der DDR". In etwa 20 Beiträgen soll einem breiten Leserkreis skizzenhaft eine schnelle Information über Rolle, Funktion, Stärke und Struktur der verschiedenen bewaffneten Formationen des DDR-Sicherheitsapparates im Verlauf der Geschichte der DDR vermittelt werden. Ein Exkurs behandelt die Rolle der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland.
5. Folgeprojekt ab 1997/984 Die Geschichte der Militärpolitik und des Sicherheitsapparates der DDR, dabei insbesondere der NVA, stellt sich als ein sehr weitläufiges und wegen der vorhandenen Wechselwirkungen nicht von den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozessen abzukoppelndes Forschungsobjekt dar. Ungeachtet einiger bereits schon vorliegender Einzeluntersuchungen fehlen bis heute sowohl eine komplexe Darstellung des äußeren Sicherheitssystems als auch entsprechende Studien zur Grundlagenforschung über die Rolle und die Entwicklung des Militärs im SED-Staat. Die Fortsetzung der seit 1990/91 im Projekt "Militärgeschichte der DDR" bearbeiteten Forschungsstränge über das Jahr 1956 hinaus erscheint daher nicht nur sinnvoll, sondern dringend notwendig. Die 4 Die Konzeptionellen Überlegungen für das Folgeprojekt wurden erarbeitet von den Mitarbeitern der Projektgruppe "Militärgeschichte der DDR" : Torsten Diedrich, Hans Ehlert, Armin Wagner und Rüdiger Wenzke.
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militärgeschichtliche Grundlagenforschung zu diesem Themenkomplex ist dabei zu verstehen als spezifischer Beitrag des MGFA zur Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur. Das künftige Vorhaben mit dem Arbeitstitel "Die SED-Militär- und Sicherheitspolitik und die NVA in der V/bricht-Ara. Zur Geschichte des DDR-Militärs beim Aufbau bzw. bei der Festigung des sozialistischen Systems in der DDR 1955156 bis 1970171" hat die Untersuchung von Problemen der Geschichte der NV A und des Aufbaus einer "sozialistischen Landesverteidigung" unter Führung der SED in der DDR von der Mitte der 50er bis Anfang der 70er Jahre zum Gegenstand. Dabei geht es vor allem um die Darstellung der ostdeutschen Streitkräfte als militärisches Machtinstrument der SED und als Bündnisarmee im Warschauer Pakt. Das Projekt zielt einerseits auf die Untersuchung der politischen, militärischen und ideologischen Strukturen der Streitkräfte in ihrer Aufbau- und Konsolidierungsphase sowie andererseits auf das Herausarbeiten der in der DDR vom militärischen Bereich nach innen und außen ausgehenden Wechselwirkungen, Zwänge und Belastungen. Für die Zeit nach 1956 erhalten auch solche Aspekte einen besonderen Stellenwert, die den Prozeß des Auf- und Ausbaus der NVA in den 60er Jahren spezifisch bestimmt und geprägt haben, wie z.B. der Legitimations- und Identitätsanspruch der DDR-"Volksarmee" im nationalen Rahmen aber auch im Warschauer Pakt. Darüber hinaus gilt es, sich vorrangig den bisher wenig bekannten Seiten der DDR-Militärgeschichte zu zuwenden, die bis 1990 zu den geheimen "Tabu"-Themen der SED gehörten. Zu nennen sind hier Probleme des Aufbaus einer DDR-Rüstungsindustrie, der Wehrdienstverweigerung, der inneren Disziplinierung der Truppe, des Verhältnisses der NVA zur Besatzungsmacht usw. Erst die Erforschung der spezifischen Rolle der Streitkräfte in einem größeren Zeitraum (offizielle Gründung 1956 bis zum Ende der Ära Ulbricht 1971) wird es ermöglichen, wissenschaftlich haltbare Aussagen zur Rolle und Funktion des militärischen Faktors in einer "realsozialistischen" Gesellschaft zu treffen. Das gilt sowohl für den Platz der NV A und ihrer Vorläufer innerhalb der SED-Diktatur als auch für das äußere Bezugsgefüge, in dem die Streitkräfte sich entwickelten und agierten. Historische Vergleiche (denkbar: Wehrmacht, Sowjetarmee) in ausgewählten Problemstellungen können darüber hinaus dazu dienen, den Untersuchungsgegenstand in größere Zusammenhänge einzuordnen.Das mittelfristig die personellen Ressourcen im Projektbereich "Militärgeschichte der DDR" bindende Folgeprojekt hat in zwei periodisch gestaffelten Etappen als zentrale Untersuchungsfelder im Blick: 1. Die militär-und sicherheitspolitische Einbindung der DDR in die Warschauer Vertragsorganisation (außenpolitischer Rahmen); 2.Der Führungsanspruch der SED bei der Entwicklung und Umsetzung der Militär- und Sicherheitspolitik der DDR (innenpolitische Entscheidungsebene); 3. Der Aufbau eines Systems
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der Landesverteidigung als Ausdruck der Militarisierung der DDR (innenpolitische Umsetzungsebene); 4. Der Aufbau und die Ausgestaltung der NV A als Koalitionsarmee im Warschauer Pakt (Streitkräfteebene); 5. Die ökonomische Sicherstellung der Landesverteidigung unter besonderer Beachtung der NV A als deren wichtigstem Organ (rüstungswirtschaftliche Ebene); 6. Die NV A in der DDR - Ansehen und Stellung in der Gesellschaft (Ebene Militär und Gesellschaft). Die für die Forschungen zur Militärgeschichte der DDR verfügbare Zahl von Mitarbeitern ist im MGFA angesichts konkurrierender Forschungsprojekte anderer Bereiche begrenzt. Zur Verbreiterung der personellen Forschungsbasis ist die Projektgruppe an der Zusammenarbeit mit weiteren wissenschaftlichen Institutionen oder Einzelpersonen (z.B. Doktoranden) interessiert. Dafür kommen eine Reihe von außeruniversitären Forschungseinrichtungen - insbesondere im Raum Berlin/Potsam - ebenso in Frage wie eine Anzahl von thematisch einschlägigen deutschen Universitätsinstituten z.B. der Lehrstuhl Militärgeschichte an der Universität Potsdam, das Historische Seminar/Institut an den Universitäten der Bundeswehr in Harnburg und München. Die Militärgeschichtsforschung hat nach dem Zweiten Weltkrieg zweifellos eine Reihe wichtiger Impulse in die allgemeine deutsche Geschichtswissenschaft einbringen können. An der Neuformulierung der Aufgaben der Militärhistoriographie und der Etablierung dieser historischen Spezialdisziplin in das Wissenschaftsgefüge der Bundesrepublik kommt dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt ein wesentlicher Anteil zu. Dies gilt insbesondere auch für die Retablierung der westdeutschen Miliärgeschichte im internationalen Bereich. s Vornehmlich nicht mehr auf den Krieg selbst oder die vordergründige Beschreibung von Feldzügen bezogen ist ihr Ausgangspunkt das Phänomen der militärischen Gewalt in seiner gesamten Komplexität geworden. Das wiedervereinigte Deutschland braucht vor dem Hintergrund der sich ständig verbessernden Quellenlage gerade im Hinblick auf dieses Phänomen eine mit anderen historischen Teildisziplinen kommunizierende Militärgeschichte, die diesen in der DDR nur unzureichend bearbeiteten Themenkomplex aufhellt, indem sie die neuen Möglichkeiten nutzt, um bisher noch nicht formulierte und bessere Fragen an die Vergangenheit zu stellen.
s Vgl.Volker Berghahn, Das Militärgeschichtliche Forschungsamt... (Anrn.l), S. 269.
Das Institut für vergleichende Staat-Kirche-Forschung Von Joachim Heise
Im Unterschied zu den anderen Instituten, die sich hier präsentieren, weist unser Institut einige Besonderheiten auf, die hier eingangs benannt werden sollen. Wir sind eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung, befinden uns in freier Trägerschaft und betreiben selbstorganisierte Forschungen. Das schließt ein, daß wir über keine Festfmanzierung verfügen und alle Mittel projektgebunden und zeitlich befristet sind. Ein Teil unserer Aufwendungen wird durch Spenden gedeckt. Unser Themenfeld ist zudem nicht auf die Geschichte der DDR beschränkt. Unsere Forschungen richten sich auf die DDR und andere ehemals realsozialistische Länder und zielen auf den historischen Vergleich. Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zum Forschungsstand und zu unseren Forschungszielen. Das Thema "Kirchen in der DDR" stößt in der deutschen Öffentlichkeit, auch sechs Jahre nach der Herstellung der deutschen Einheit, auf ein anhaltendes Interesse. Im Unterschied zur "Konjunktur" dieses Themas im vereinten Deutschland spielt diese Problematik in unseren osteuropäischen Nachbarländern eine eher marginale Rolle. Während in Deutschland das Thema zum Gegenstand innen- und parteipolitischer Auseinandersetzungen geworden ist, wird es in den östlichen Nachbarländern eher als ein innerkirchliches Problem behandelt. Einzelne Wissenschaftler, die in der Regel im Auftrag der Kirchen arbeiten, haben mit der Erforschung der Staat-Kirche-Beziehungen begonnen. Erste Editionen von kirchenpolitisch relevanten Dokumenten von Staat/Partei und Kirchen sind erschienen. Oftmals fehlt es in der universitären Forschung nicht nur an Spezialisten, sondern vor allem an fmanziellen Mitteln, um systematische Forschungen zu diesem Thema betreiben zu können. Zudem ist der Zugang zu archivalischen Quellen weit komplizierter als in Deutschland. Während in der Bundesrepublik der Historiker im Quellenmaterial zu ersticken droht, wenn es um die Geschichte der DDR geht, steht er in unseren östlichen Nachbarländern eher vor dem entgegengesetzten Problem und das nicht nur, wenn es um kirchliche Quellen geht. Nicht zuletzt ist das Interesse an einer kontroversen Auseinandersetzung über die Geschichte der Staat-Kirche-Bezie5 nmmennann
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hungen und die Rolle der Kirchen in den jeweiligen realsozialistischen Systemen insgesamt geringer als in Deutschland. Einzelne Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen- Profan- und Kirchenhistoriker, Juristen, Soziologen, Politikwissenschaftler etc. - im In- und Ausland haben sich in Vergangenheit und Gegenwart im Rahmen ihrer Forschungsschwerpunkte immer wieder mit Einzelaspekten von Kirche, Religion und Kirchenpolitik im Diskussionszusammenhang kommunistischer Staaten und Gesellschaften Europas beschäftigt. Dies belegt die kaum mehr überschaubare Fachliteratur. Aber vergleichende Untersuchungen zur Kirchenpolitik der Machteliten im Partei- und Staatsapparat, zur Rolle der Kirchen und zur Alltagswirklichkeit der Christen im früheren Ostblock sind demgegenüber bisher in sehr geringer Anzahl vorgelegt worden. Dies ist besonders deshalb schmerzlich, gaben die herrschenden Eliten in diesen Ländern doch vor, ihre Politik nach einer einheitlichen Ideologie, dem Marxismus-Leninismus, zu betreiben und "abgestimmt" zu handeln. Sie folgten in der Tat gleichen oder doch zumindest vergleichbaren politisch-ideologischen Mustern und betrachteten die Sowjetunion und ihre Politik - wenn auch unterschiedlich lange und unterschiedlich konsequent - als "Modell" für Sozialismus. Außerdem gilt für die neuen Länder der Bundesrepublik Deutschland wie für die anderen Länder des ehemaligen Realsozialismus, daß zur Zeit noch die Chance besteht, durch zeitgeschichtliche Befragungen eine wichtige Quellengattung zu sichern. Dies ist vor allem deshalb so wichtig, handelt es sich doch um die Geschichte "geschlossener Gesellschaften", in denen die Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung beschränkt waren, die quellenmäßige Hinterlassenschaft aus dem Staats- und Parteiapparat ideologisiert war und Dokumente aus dem kirchlichen Raum wegen begründeter Sicherheitsvorkehrungen seltener sind und zumeist so verfaßt wurden, daß sie staatlichen Behörden keine Möglichkeiten für Restriktionen boten oder Einblicke in kircheninterne Vorgänge erlaubten. Diese Quellengattung zu erschließen bleibt wenig Zeit. Zu bedenken ist ferner, daß sich die Möglichkeiten, die sich nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten in Osteuropa und dem Ende der Blockauseinandersetzung für zeitgeschichtliche und speziell komparatistische Forschungen bieten, erheblich verbessert haben und bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Die Forschung steht hier eigentlich erst am Anfang. Der vergleichende Forschungsansatz bekommt zudem eine neue politische Dimension - weg von der Blockkonfrontation mit seinen jeweiligen Rechtfertigungsritualen hin zum europäischen Einigungsprozeß und seinen geistigen, kulturellen und religiösen Problemen. Die Einheit Europas wird dauerhaft nur gelingen, wenn die Geschichte jener Völker, die vierzig Jahre unter sowjetischem
Das Institut fiir vergleichende Staat-Kirche-Forschung
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Einfluß standen, wenn deren Kultur, einschließlich ihrer kirchlichen und religiösen Traditionen und Erfahrungen aus der jüngsten Vergangenheit, zur Kenntnis genommen und als ein Teil der Geschichte Europas verstanden wird. Nun einige Bemerkungen zur Entstehung und Arbeitsweise des Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung: Auf Anregung von Prof. Dr. Horst Dähn und Dr. sc. Joachim Heise fand vom 1. bis 3. Oktober 1992 im Adamvon-Trott-Haus in Berlin ein Wissenschaftliches Kolloquium zum Thema "Staatliche Kirchenpolitik im 'realexistierenden Sozialismus' in der DDR" statt. Durch den Tagungsverlauf und die Resonanz auf die Dokumentation der Tagungsbeiträge (Dokumentation 96/1993 des Evangelischen Bildungswerkes Berlin) ermutigt, bildete sich im Januar 1993 in Berlin ein Arbeitskreis, der über mögliche Wege zur Fortsetzung der begonnenen Zusammenarbeit nachdachte. Erstes Ergebnis dieser Überlegungen war die Erarbeitung eines Forschungsbulletins. Im Oktober 1993 entschlossen sich einige der Initiatoren des Arbeitskreises, einen Förderverein für vergleichende Staat-Kirche-Forschung mit dem Status eines eingetragenen Vereins zu gründen. Der Vorstand rief das Institut ins Leben und beauftragte Horst Dähn und Joachim Heise mit seiner Leitung. Unmittelbar danach wurden Büro- und Arbeitsräume in Berlin-Mitte in der Planckstraße 20 angernietet Das Institut versucht, längerfristige Forschungen in Form von Einzel- und vergleichenden Studien zu folgenden Schwerpunkten zu initiieren und selbst durchzuführen: 1. zu Grundzügen und Varianten der Kirchenpolitik der jeweiligen Partei- und Staatseliten, 2. zum Wirken der Kirchen unter realsozialistischen Bedingungen, 3. zum Alltagsleben von Christen im früheren Ostblock. Das Institut erhebt naturgemäß keinen Monopolanspruch auf vergleichende Forschungen zur Geschichte der Staat-Kirche-Beziehungen in den ehemals realsozialistischen Staaten. Ebensowenig beansprucht es ein Deutungsmonopol, wenn es um die Geschichte der Kirchen und Christen sowie um das StaatKirche-Verhältnis in diesen Ländern geht. Tatsache ist jedoch, daß es gegenwärtig das einzige kirchenunabhängige Institut in Deutschland und Europa mit einem vergleichenden und überkonfessionellen Forschungsprofil ist. Wir arbeiten weder im Auftrag einer Partei, noch einer Kirche oder einer Religionsgemeinschaft. Wir haben weder von der einen noch von der anderen Seite einen Rechtfertigungsauftrag. Wir wollen mit unseren eher bescheidenen
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Mitteln und Kräften einen Beitrag leisten zur Aufarbeitung der jüngsten Geschichte und zum Zusammenwachsen Europas. Unsere Ergebnisse sind öffentlich, unsere Veranstaltungen sind für jedermann zugänglich. Es gibt nach nur gut zwei Jahren intensiver Arbeit genügend Möglichkeiten, uns an unseren Früchten zu erkennen. Erlauben Sie mir an dieser Stelle, einige dieser Früchte auf den Tisch zu legen und einige wenige Arbeitsergebnisse vorzutragen: Das Institut hat seit der Aufnahme der regulären Arbeit im August 1994 drei internationale Kolloquien zu folgenden Themen durchgeführt: - "Säkularisierung in Ost und West" mit Referenten aus den Niederlanden, der Tschechischen Republik sowie aus den alten und neuen Bundesländern; - "Der Weg der katholischen Kirche in den verschiedenen realsozialistischen Ländern in den Jahren 1945 bis 1948/49- ein historischer Vergleich" mit Referenten aus Polen, der Slowakei, aus Ungarn, aus den USA und Österreich sowie weiteren Gästen aus Großbritannien und Dänemark. - "Die Russisch-Orthodoxe Kirche und der Sowjetstaat in sieben Jahrzehnten" mit Referenten aus Rußland, aus den USA, aus Großbritannien, aus der Schweiz, aus Finnland sowie aus Deutschland. Das Institut hat begonnen, eine Spezialbibliothek aufzubauen, deren Grundbestand zum großen Teil aus in Jahrzehnten gewachsenen Literatur- und Zeitschriftenbeständen der Bibliothek des Hendrik-Kraemer-Hauses in BerlinDahlem besteht. Durch Spenden, Nachlässe und Neuerwerb sind die Bestände auf ca. 5000 Bände angewachsen. Im Rahmen eines ABM-Projekts wurde begonnen, Datenbanken für die wissenschaftliche Benutzung zu erarbeiten. Es handelt sich dabei um Datenbanken mit bibliographischen Angaben, sowie um Kurzbiographien von Amts- und Würdenträgem der Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie über die Funktionseliten in Partei- und Staatsapparaten ehemals kommunistischer Länder. Ebenso begonnen wurde mit dem Aufbau eines Tonbandarchivs, das vor allem Interviews mit Zeitzeugen beinhaltet. Bereits abgeschlossen bzw. noch in Arbeit sind folgende Projekte: - Alternatives Denken am Ende der DDR und die Rolle der Kirchen. Eine Literaturstudie - (veröffentlicht in Heft 3 der Schriftenreihe des Instituts); - Zur Geschichte der Russisch-Orthodoxen Kirche in Berlin- (in Arbeit);
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- Zur Kirchenpolitik der kommunistischen und Arbeiterparteien in Polen, in der Tschechoslowakei und in Ungarn vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis Anfang der sechziger Jahre- (abgeschlossen, unveröffentlicht); - Die Lutherehrungen 1983 in der DDR- (veröffentlicht: Horst Dähn /Joachim Heise: Luther und die DDR. Der Reformator und das DDR-Fernsehen 1983, Berlin 1996); - Geschichte der internationalen kirchenpolitischen Koordinierungsmechanismen zwischen den Ostblockführungen. Eine Dokumentation- (beginnt im Februar 1997); - Der Beitrag des Bundes der Evangelischen Kirchen und seiner Gliedkirchen zur Aussöhnung mit dem polnischen Volk- (Abschluß August 1997); - Lebensbilder von Bischöfen, Geistlichen und Laien der katholischen Kirchen in Polen- (Abschluß August 1997); - Interviews mit Funktionären aus Staat, Parteien und Massenorganisationen in der DDR über ihr kirchenpolitisches Wirken- (in Arbeit); - Kirchen und Religionsgemeinschaften in der DDR. Eine institutions- und personalgeschichtliche Analyse und Darstellung- (in Arbeit); - Sammlung und Aufbereitung von Materialien für eine Wanderausstellung "Atheismus in der DDR" -(begonnen). Das Institut hat am 1. Dezember 1994 sein erstes Mitteilungsblatt herausgegeben und an wissenschaftliche Institutionen und einzelne Wissenschaftler versandt, die sich mit dem Thema Staat-Kirche in der DDR und anderen Ländern des Ostblocks beschäftigen. In dem Blatt werden Aufgaben und Ziele, einzelne Forschungsprojekte, Institutsveranstaltungen sowie das Serviceangebot für Wissenschaftler vorgestellt. 1995 sind die ersten zwei Hefte der Schriftenreihe des Instituts mit den Beiträgen zum 3. und 4. Berliner Staat-KircheKolloquium erschienen. (Heft 1: Säkularisierung in Ost und West - ISBN 3-931232-00-X; Heft 2: Der Weg der katholischen Kirche in verschiedenen realsozialistischen Ländern in den Jahren 1945 bis 1948/49 - ein historischer Vergleich - ISBN 3-931232-01-8). Heft 3 ist im Mai 1996 erschienen und enthält eine Literaturanalyse und alle Vorträge, die bislang auf Veranstaltungen des Instituts gehalten worden sind (Vorträge - Analysen- Diskussionen. 19941996, ISBN 3-931232-02-6). Ziel ist es, die Schriftenreihe längerfristig zu einem Forum für den wissenschaftlichen Meinungsaustausch zum Thema Staat-Kirche in Osteuropa zu profilieren.
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Das Institut hat mehrere öffentliche Veranstaltungen durchgeführt und einen breiten Interessentenkreis aufbauen können. Dabei ging es u.a. um folgende Themen: - Staat und Kirche in Armenien (Ref. Dr. Tessa Hofmann, FU Berlin); - Buchpräsentation: Frederic Hartweg (Hg.): SED und Kirche. Eine Dokumentation ihrer Beziehungen, Band 1: SED 1946 - 1967, bearbeitet von Joachim Heise, Band 2: SED 1968 - 1989, bearbeitet von Horst Dohle, Neukirchen-Vluyn 1995; - Aktuelle Aspekte des Lebens und des Wirkens der Russisch-Orthodoxen Kirche (Ref.: S.E. Theophan, Erzbischof der Russisch-Orthodoxen Kirche von Berlin und Deutschland); - Jugend- Religion- Kirche in der DDR und nach der "Wende" (Ref.: Prof. Dr. Walter Friedrich, Leipzig); - Der Weg der Evangelischen Kirchen in der DDR zwischen Anpassung und Verweigerung (Ref.: OKR Dr. Helmut Zeddies, OKR. Ulrich Schröter u.a.); - Der Beitrag der Evangelischen Kirchen in der DDR zur Aussöhnung mit unseren polnischen Nachbarn. Eine Veranstaltung zum 85. Geburtstag von Altbischof Albrecht Schönherr (Ref.: Prof. Dr. Rolf Richter, Dr. Andrezj Wojtowicz); - Die Wiederentdeckung der Wurzeln der politischen Theologie (Ref. Prof. Oliver O'Donovan, Oxford); - Kuba- Castro- Kirche (Ref. Prof. theol. Adolfo Harn, Kuba). Zu einer wichtigen Arbeitsform haben sich Werkstattgespräche entwickelt, bei denen Zeitzeugen aus Staat, Partei und Kirchen gemeinsam mit kompetenten Wissenschaftlernjeweils ein relativ eng umgrenztes Thema diskutieren. Das Institut hat sich insbesondere damit zu einem Ort entwickelt, an dem Menschen mit unterschiedlichem bzw. gegensätzlichem biographischen, politischen und weltanschaulichen Hintergrund sachlich und sachbezogen miteinander umgehen und zur historischen Wahrheitstindung beizutragen versuchen. Bislang haben fünf derartige Werkstattgespräche stattgefunden: - Wie hat die SED und ihre kirchenpolitischen Funktionäre Kirche wahrgenommen? - Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR 1987 in Görlitz. - Das Gespräch Ulbricht-Fuchs im Februar 1961 - Möglichkeiten und Grenzen der kirchenpolitischen und weltanschaulichen Einflußnahme der Ost-CD U.
Das Institut fiir vergleichende Staat-Kirche-Forschung
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- Die evangelischen Kirchen in der DDR und die Aussöhnung mit unseren polnischen Nachbarn. - Luther und die DDR. Gespräche über ein ungewöhnliches Jubiläum 1983. Abschließend möchte ich die in unserem ersten Mitteilungsblatt von Prof. Dähn ausgesprochene Einladung an Historiker, Politologen, Soziologen und Theologen erneuern und sie zur kritischen Begleitung unserer Arbeit und Zusammenarbeit mit unserem Institut einladen.
Der Forschungsschwerpunkt DDR-Geschichte am Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität Mannheim Von Ulrich Mählert
Als die bundesdeutsche Presse im Frühjahr 1981 über die Gründung eines neuen Arbeitsbereiches zur Erforschung von Geschichte und Politik der DDR an der Universität Mannheim berichtete 1 , reagierte die DDR-Propaganda mit Häme: Ein Hermann Weber, dessen "sogenannte Forschungsergebnisse" bisher weniger wissenschaftlicher denn "astrologischer" Natur gewesen seien, wolle nun mit Mitteln eines Automobilkonzerns das bis dahin bestehende ostdeutsche Monopol auf die DDR-Geschichtsschreibung brechen. 2 Tatsächlich war der Mannheimer Arbeitsbereich zu Beginn der achtziger Jahre mit Hilfe der Volkswagen-Stiftung mit dem expliziten Anspruch angetreten, der DDR-Geschichtswissenschaft, die seit den siebziger Jahren auch das Bild der deutsch-deutschen Vergangenheit westlich der Eibe zu bestimmen drohte, eine eigenständige bundesrepublikanische Vergangenheitsdeutung gegenüberzustellen. Was heute angesichts über 1.000 registrierter Forschungsvorhaben zur DDRGeschichte kaum vorstellbar anmutet: Noch Ende der siebziger Jahre mußte ein Wissenschaftsbericht für die Bundesregierung konstatieren: "Die DDR-Forschung ist ohne jede Konzeption. Was, wo, wann, wie lange, mit welcher Intensität geforscht wird, bleibt in der Regel dem Zufall überlassen." Hinzu
1 Vgl. etwa Theo Rombach: Auf der Suche nach einer eigenen DDR-Geschichte. Neuer Arbeitsbereich soll der Forschung in der Bundesrepublik Auftrieb geben. In: Stuttgarter Zeitung vom 2. Mai 1981. 2 "Schluß mit: die DDR, das rätselhafte Wesen". Kommentar der "Stimme der DDR" zur Gründung des Arbeitsbereichs Geschichte und Politik der DDR vom 6. Mai 1981. Aus: "MonitorDienst" der Deutschen Welle vom 8. Mai 1981.
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Ulrich Mählert
kam, daß diese Forschung in hohem Maße gegenwartsorientiert arbeitete und historische Fragen weitgehend aussparte. 3 Eine Ausnahme bildete dabei stets die Mannheimer DDR-Forschung, die nicht erst mit der Gründung des Arbeitsbereichs am 1. Apri11981 ihren Anfang nahm. Sie ist untrennbar mit dem Namen Hermann Weber verbunden. Dessen Forschungen am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Mannheimer Universität hatten die Voraussetzungen für den Erfolg eines solch ambitionierten Projekts geschaffen. 4 Denkt man in Jahrestagen, dann konnten die Mannheimer DDR-Forscher 1996 ihr zwanzigjähriges Jubiläum feiern. 1976 begann ein großes DFG-Projekt "Entstehung, Entwicklung und Funktion des Parteiensystems der DDR" 5 , dessen Erfolg die Volkswagenstiftung, das Land Baden-Württemberg sowie das damalige Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen davon überzeugte, gemeinsam mit der Universität Mannheim die materiellen Voraussetzungen für den Mannheimer Arbeitsbereich DDR-Geschichte zur Verfügung zu stellen.6 Zu den dauerhaften Arbeitsschwerpunkten der südwestdeutschen DDRForscher zählt die Geschichte der SED, der Blockparteien und Massenorganisationen sowie die Transformation der SBZ/DDR zur zweiten deutschen Diktatur im 20. Jahrhundert. Die zahlreichen Veröffentlichungen in den hauseigenen Reihen "Mannheimer Untersuchungen zu Politik und Geschichte der DDR" 7 1 Gutachten zum Stand der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung. Erstattet vom Arbeitskreis fiir vergleichende Deutschlandforschung unter Vorsitz von Peter C. Ludz im März 1978, s. 532. 4 Das wissenschaftliche Berlin. Die Verharullungen zwischen Beauftragten des Berliner Senats urul Vertretern der DDR-Regierung zu Reise- urul humanitären Fragen 1961I989 Projelctleitung: Priv.-Doz. Dr. Klaus Schroeder, Dr. Jochen Staadt Mitarbeiter: Steffen Alisch
7 Timmermann
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Klaus Schroeder
Laufzeit: 1.3. 1996-28.2.1998 Zuwender: Fritz-Thyssen-Stiftung 21. Arbeitsbeziehungen im Wandel: Neugestaltung betrieblicher und überbetrieblicher Konflikt- und Kooperationsformen im deutschen Vereinigungsprozeß Projektleitung: Dr. Walter Heering Mitarbeiter: Dr. Walter Heering Laufzeit: 1.3.1995-30.9.1998 Zuwender: Eigenmittel 22. Die Eroberung der Kultur beginnt. Die staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten und die Kulturpolitik der SED 1949 bis 1953 Projektleitung: Dr. Jochen Staadt Mitarbeiter: Dagmar Buchbinder, Horst Laude, Christina Röhm Laufzeit: 1.10.1995-31.12.1998 Zuwender: ABM, DFG (ab 1.1.1998) 23. Die SED in der DDR und die MDPIMS7MOP in Ungarn in den Krisen 1953 und 1956. Eine komparatistische Untersuchung der Politik zweier Staatsparteien zwischen Modemisierung und Restauration in der ersten Systemkrise des sowjetischen Blocks nach Stalins Tod (1953-1958) Projektleitung: Prof. Dr. Manfred Wilke Mitarbeiter: Bernd Rainer Barth, Gerhard Ehlert, Tobias Voigt Laufzeit: 1.3.1997- 29.2.1999 Zuwender: Volkswagen-Stiftung 24. Der sozialistische Kernstaat DDR und seine Kulturpolitik Projektleitung: Prof. Dr. Manfred Wilke Mitarbeiter: Jürgen Serke, Peter Maser Laufzeit: 1.9.1996 - 31.1.1998 Zuwender: Kulturstiftung Deutsche Bank 25. Plan und Realität: Die westdeutsche und westeuropäische Friedensbewegung im politischen Kalkül der SED-Führung 1978-1983 Projektleitung: Prof. Dr. Manfred Wilke Mitarbeiter: Priv.-Doz. Dr. Hans-Peter Müller Laufzeit: 15.10.1996-31.12.1997 Zuwender: BMI 26. Sozialistische Wehreniehung als Herrschafts- und Sozialisationsinstrument der SEDFührung in den 60er und Anfang der 70er Jahre Projektleitung: Dr. Walter Heering Mitarbeiter: Christian Sachse Laufzeit: 1.4.1997-31.3.1999 Zuwender: Antrag DFG
Der Forschungsverbund SED-Staat an der FU Berlin
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27. Die Reorganisation der deutschen Gewerkschaften - Herausbildung eines neuen Koordinationssystems gewerkschaftlicher Politik nach dem Ende der Systemkonfrontation und unter dem Druck von Globalisierung und Europäisierung Projektleitung: Prof. Dr. Manfred Wilke Mitarbeiter: PD Dr. Hans-Peter Müller Laufzeit: 1.3.1998-28.2.2000 Zuwender: DFG
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Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen D~e
Von Walter Süß
Thema meines Kurzreferates ist nicht die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen im allgemeinen, die bekanntlich vielfältige Aufgaben hat, die zu erörtern, den mir vorgegebenen Rahmen sprengen würde. Ich will mich auf jene Abteilung beschränken, die die höchste Kompatibilität mit den anderen hier vertretenen Institutionen aufweist, nämlich die Abteilung Bildung und Forschung (BF). Der spezifische Auftrag dieser Abteilung ergibt sich aus dem Stasi-Unterlagen-Gesetz. 1 In § 1 des Gesetzes werden die Ziele bei der Einrichtung dieser Behörde aufgezählt und unter anderem genannt: "die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes zu gewährleisten und zu fördern" . In § 37 wird das präzisiert als "Aufarbeitung" von "Struktur, Methoden und Wirkungsweise" des Mts. Damit ist die Richtung unseres Forschungsprogramms in groben Umrissen vorgegeben. Der Bundestag hat im übrigen damit, daß er zeitgeschichtliche Forschung zu einer der Aufgaben des Bundesbeauftragten machte, einer Forderung entsprochen, die schon früh von Seiten der Bürgerrechtsbewegung erhoben worden war. 2 Die Abteilung Bildung und Forschung ist die kleinste Abteilung der Behörde. Sie hat - anders als etwa die Abteilungen Archiv und Auskunft - bisher auch keine Pendants in ihren 14 Außenstellen. Bei "BF" arbeiten derzeit gut 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in drei Bereichen: allgemeine Verwaltungsaufgaben, insbesondere die Betreuung der Bibliothek für die gesamte Behörde
1 Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz), BGBI. I 1991, S. 2272. Die nachfolgenden Novellierungen des Gesetzes betrafen nicht die zitierten Paragraphen.
2 Vgl. Silke Schumann: Vernichten oder Offenlegen? Zur Entstehung des Stasi-UnterlagenGesetzes. Eine Dokumentation der öffentlichen Debatte 1990/1991, hrsg. vom BStU, Abteilung Bildung und Forschung, Reihe A Dokumente Nr. 1195, S. 7f. und passim.
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Walter Süß
mit ihren etwa 3.000 Mitarbeitern; politische Bildung und eigene Forschung. 3 In den ersten Jahren, 1993/94, gehörte zu den Aufgaben von BF auch noch die Bearbeitung der Anträge aus Medien und Wissenschaft. Dann wurde dieser Bereich ausgegliedert und der Abteilung Auskunft übertragen. Der Hauptgrund dafür war, daß diese Aufgabe den wissenschaftlichen Referenten für anderes kaum mehr Zeit ließ und die Abteilung personell überforderte: Das jetzt zuständige Referat hat allein für diese Aufgabe inzwischen mehr Mitarbeiter, als BF jemals insgesamt hatte, und dennoch sind die Wartezeiten eher länger geworden. Da mancher von den Teilnehmern an dieser Tagung einen Forschungsantrag gestellt hat und der eine oder andere sich vielleicht über die langen Bearbeitungszeiten geärgert hat, soll das noch etwas verdeutlicht werden: Bisher sind etwa 3.000 Forschungsanträge an den Bundesbeauftragten gestellt worden, von denen die Hälfte abgeschlossen ist. Allein im November 1996 wurden von den zuständigen Sachbearbeitern 170.000 Blatt Akten zur Einsicht vorgelegt und 35.000 Kopien herausgegeben. Angesichts dieser Zahlen mag es nachvollziehbar sein, daß die Mitarbeiter von BF sehr damit einverstanden waren, daß sie von einer Aufgabe entlastet wurden, die für anderes kaum mehr Zeit ließ. Es bleibt auch so, in der politischen Bildung und in der Forschung, noch genügend zu tun. Hinsichtlich der politischen Bildung besteht unser spezifischer Beitrag in der Aufklärung über die Struktur, die inneren Funktionsmechanismen und die Arbeitsmethoden der Staatssicherheit als Instrument der SEDDiktatur. Diesem Ziel dienen Veranstaltungen, Vorträge und die Einrichtung von Informationszentren. Öffentliche Veranstaltungen werden in Berlin seit Dezember 1992 regelmäßig abgehalten. In den Kinsosaal des ehemaligen Innenministeriums der DDR kommen im Durchschnitt 300 bis 500 Besucher. Sie erfüllen zwei Funktionen: Erstens wird auf ihnen über neue Forschungsergebnisse berichtet. 4 Zweitens hatten sie gerade in der Anfangsphase noch eine weitere wichtige Funktion. Sie haben Opfern der Staatssicherheit die Möglichkeit geboten, über ihr Schicksal öffentlich zu berichten. Auch in den Regionen, vor allem natürlich in den Außenstellen der Behörde in den neuen Bundesländern, werden Bildungs- und 3 Vgl. Zweiter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten fiir die Unterlagen des Staatssicherheits· dienstesder ehemaligen Deutschen Republik 1995, BStU, Berlin 1995, S. 10 u. 75. 4 Die Referate auf diesen Veranstaltungen wurden zum Teil in den Schriftenreihen des BStU veröffentlicht: "Bearbeiten- Zersetzen - Liquidieren", "Die Inoffiziellen Mitarbeiter", "Freiheit fiir meine Akte", alle in: Reihe B Analysen und Berichte Nr. 3/93, BStU, Berlin 1993; "Verfolgung und die Folgen. Über den Umgang mit den Opfern", Reihe B Nr. 2/95.
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Diskussionsforen organisiert. Insgesamt haben wir bisher etwa 100 solche Veranstaltungen abgehalten. Ebenfalls der politischen Bildung dient die Einrichtung von Informationsund Dokumentationszentren, die im Stasi-Unterlagen-Gesetz der Behörde aufgetragen wurde. Dort werden Grundinformationen zum MfS vermittelt. Außerdem soll die Tätigkeit der Staatssicherheit in der jeweiligen Region plastisch vor Augen geführt werden. Und schließlich werden dort Diskussionsabende und Lesungen organisiert. Es gibt solche Informations- und Dokumentationszentren in Erfurt , Frankfurt an der Oder, Halle, Rostock und seit Januar 1997 auch in Dresden. Damit existiert- in Realisierung des gesetzlichen Auftrags5 - in jedem neuen Bundesland ein solches Ausstellungszentrum. Ein zentrales Dokumentationszentrum in Berlin ist in der Planung. Darüber hinaus wurde im November 1996 eine größere Ausstellung zur "Staatssicherheit" im Foyer des Deutschen Bundestages eröffnet. Sie ist von der Konzeption her stärker auf den Kenntnisstand und die Interessen von Menschen zugeschnitten, die die DDR nicht aus eigenem Erleben kennen. Im Jahre 1997 wird sie als Wanderausstellung an verschiedenen Orten in den alten Bundesländern gezeigt. Nun zur Forschung von BF. Die Abteilung hat 13 Wissenschaftliche Mitarbeiter, die allerdings auch die erwähnten Aufgaben in der politischen Bildung mit wahrzunehmen haben und außerdem zum Teil mit Leitungsaufgaben betraut sind. Es bleiben also nicht sehr viel Kapazitäten für die eigentliche Forschung übrig. Unser generelles Forschungsprogramm wurde bereits mit den Worten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes angedeutet. Es geht um "Struktur, Methoden und Wirkungsweise" des MfS. Der Umsetzung dieser Vorgabe in Forschungsplanung lag folgende Überlegung zugrunde: Erst müssen wir das Innenleben des MfS genauer kennen - die bürokratischen Strukturen und Kompetenzen, die Arbeitsmethoden und die Regeln, nach denen seinerzeit das Material erstellt und archiviert worden ist, das jetzt zu analysieren ist. Die Untersuchung der "Wirkungsweise" des MfS, seiner Aktivitäten zur Kontrolle und Überwachung der Gesellschaft, ist der nächste Schritt. Das schließt natürlich nicht aus, daß Einzelstudien zum Einfluß der Staatssicherheit auch schon vorher, parallel dazu, in Angriff genommen werden. Ich möchte - natürlich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit - einige Projekte vorstellen, die wir uns vorgenommen und zum Teil auch schon realisiert haben. Vor allem sind wir damit beschäftigt, ein "MfS-Handbuch" in 5
Vgl. StUG § 37 Absatz 1 (8).
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Einzellieferungen zu erstellen, in dem der gegenwärtige Kenntnisstand zu den inneren Strukturen und zur Institutionengeschichte des Staatssicherheitsdienstes der Öffentlichkeit zugänglich gernacht wird. Unsere Überlegung dabei war zum ersten, daß eine solche Arbeit nur von mehreren Wissenschaftlern gerneinsam bewältigt werden kann. Zweitens ist angesichts des noch unvollständigen Erschließungsstandes6 gerade der Sachakten ein solches Projekt nur in enger Kooperation mit dem Archiv des Bundesbeauftragten zu realisieren. Insofern ist dieses Vorhaben auf die Forschungsabteilung der Behörde geradezu zugeschnitten. Und drittens meinten wir, daß dabei ein Nachschlagewerk herauskommen könnte, das für alle nützlich wäre, die sich mit der Geschichte des MfS oder auch der DDR allgemein befassen. Das Projekt gliedert sich in vier Teile, die zugleich die gegenwärtigen Arbeitsschwerpunkte von BF bilden: Erstens wird es eine Gesamtdarstellung der Institutionengeschichte des MfS von den Anfangen bis zum Ende 1989/90 enthalten. Zweitens werden die grundlegenden Organisationsprinzipien des MfS sowie Struktur und Funktion seiner zentralen Diensteinheiten über vier Jahrzehnte hinweg beschrieben. Erschienen ist bisher die "Organisationsstruktur" im Jahre 1989, aufgegliedert bis auf die Ebene der Referate7 ; dazu ergänzend wird 1998 eine diachrone Darstellung der Entwicklung der Gesamtstruktur des MfS seit 1950 folgen. Bereits erschienen ist eine Darstellung der "Juristischen Hochschule" des MfS, die deshalb von Bedeutung ist, weil mit den Dissertationen und Diplornarbeiten, die an dieser Geheirndienst-"Hochschule" geschrieben wurden, heute in der Forschung vielfach gearbeitet wird. 8 Weiterhin wurde ein Aufsatz über die Zentrale Koordinierungsgruppe veröffentlicht, die in den 80er Jahren zur Bekämpfung der Fluchtbewegung und der Fluchthilfeorganisationen in der Bundesrepublik eingerichtet worden war, 9 und eine Darstellung der HA XXII, die für" Terrorabwehr" zuständig war, und besonders vieWiltige Aktivi6 Zum Erschließungsstand im Jahre 1997 vgl. Dritter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten, 1997, s. 33 f. 7 Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989, bearbeitet von Roland Wiedmann; (Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur, Methoden. MfS-Handbuch. Hrsg. von Klaus-Dietf7Ulr Henke, Siegtried Suckut, Clemens Vollnhals, Walter Süß und Roger Engelf7UlM,
Teil V/1), BStU, Berlin 1995 (künftig: MfS-Handbuch).
8 Günter Förster: Die Dissertationen an der .,Juristischen Hochschule" des MfS. Eine annotierte Bibliographie; BStU, Abteilung Bildung und Forschung, Reihe A Dokumente, Nr. 2/94, Berlin 1994; ders.: Die Juristische Hochschule des MfS (MfS-Handbuch, Teil III/6), BStU, Berlin 1996; vgl. auch Jens Gieseke: Doktoren der Tschekistik. Die Promovenden der .,Juristischen Hochschule" des MfS, BF informiert Nr. 6/1994. 9 Bernd Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe. Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung (MfS-Handbuch, Teil III/17), BStU, Berlin 1995.
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täten im "Operationsgebiet", vor allem der Bundesrepublik, entfaltete. 10 Das gleiche gilt für die HA II (Spionageabwehr). Die Geschichte dieser Diensteinheit wird in den nächsten Monaten erscheinen. 11 Zwei umfangliehe Darstellungen sind der HA XVIII und der HA XX gewidmet. Die HA XVIII war für die Kontrolle der Wirtschaft zuständig. In ihren Akten fmdet sich ein faszinierendes Bild der Funktionsschwächen der DDR-Ökonomie und der Vergeblichkeit des Bemühens, daran etwas zu ändern. 12 Die HA XX ist eine der bekanntesten Abteilungen dieses Ministeriums, sie hatte Teile des Staatsapparates, vor allem aber die Kirche und die Opposition zu bearbeiten. Diese Studie wird im Jahre 1998 veröffentlicht werden. Der dritte Teil des MfS-Handbuches gilt der Analyse der Sozialstruktur der MfS-Mitarbeiter im Wandel der Jahre. Der Beitrag zu den hauptamtlichen Mitarbeitern ist bereits erschienen. 13 Er enthält zum Beispiel, um nur ein Ergebnis zu nennen, die ersten präzisen Zahlen zur Entwicklung des Mitarbeiterbestandes. Die Studie zu den Inoffiziellen Mitarbeitern liegt noch nicht vor. Diese Lücke wird aber durch verschiedene andere Publikationen zu diesem Thema überbrückt. 14 Ein vierter Teil schließlich bringt grundlegende Informationen und statistisches Material, darunter z. B. die wichtigsten normativen Dokumente zur MfS-Tätigkeit, Kurzbiographien einiger hundert Hauptakteure, Zahlenwerke zum Personalbestand und zur operativen Tätigkeit. Einzellieferungen sind ebenfalls kurz vor dem Erscheinen. Neben unserem Hauptprojekt "MfS-Handbuch" haben wir im Jahr 1996 mehrere Einzelprojekte abgeschlossen. So die bereits erwähnte überarbeitete Neuausgabe der IM-Richtlinien, die jetzt vollständig dokumentiert und ausführlich kommentiert vorliegen. Voraussichtlich noch 1997 werden wir einen 2. Band mit den Richtlinien der HV A für die Arbeit mit ihren IMs im "Ope10
Tobias Wunschik: Die Hauptabteilung XXII: "Terrorabwehr" (MfS-Handbuch, Teil III/16),
BStU, Berlin 1995. 11
Hanna Labrenz-Weiß: Hauptabteilung II: Spionageabwehr (MfS-Handbuch, Teil III/7), in
Vorbereitung. 12
Maria Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII: Volkswirtschaft (MfS-Handbuch, Teil
III/10), BStU, Berlin 1997.
13 Jens Gieseke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums fiir Staatssicherheit (MfSHandbuch, Teil IV/1), BStU, Berlin 1995. 14 Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums fiir Staatssicherheit. Richtlinien und Durchfiihrungsbestimmungen (Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten im Ch. Links Verlag Berlin Bd. 3), Berlin 1996; ders.: IM-Statistik 1985-1989, BStU, BF informiert 3/1993.
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rationsgebiet" herausgeben. Erwähnt werden soll in diesem Zusammenhang auch eine unlängst erschienene Studie zu dem geheimnisumwitterten SOUD, dem "System der vereinigten Erfassung von Daten über den Gegner" . 15 In diesem Datenverbund auf EDV-Basis haben MfS, KGB und die anderen östlichen Geheimdienste - mit Ausnahme der rumänischen Securitate - Informationen über knapp 190.000 Westbürger ausgetauscht. Darüber ist relativ viel spekuliert worden. Wir wissen jetzt genauer, wie dieses System funktioniert hat und auch, welche Schwächen es hatte. Die Autoren haben dariiber im November 1996 hier in Otzenhausen referiert. Neben diesen Arbeiten haben wir eine Reihe von Expertisen für die EnqueteKommission gefertigt. Erwähnen möchte ich nur die Studie zur "Validität" der Akten, weil sie eine Reihe von beherzigenswerten Hinweisen für die Akteninterpretation enthält. 16 Gerade über diese Arbeit haben wir intern lange diskutiert. Das war wichtig für unseren eigenen Lemprozeß zum quellenkritischen Umgang mit dieser auch für uns neuen Materie. Ein weiteres Projekt, an dem ich selbst arbeite, möchte ich noch erwähnen. Dabei geht es um die Entmachtung und den Verfall der Staatssicherheit als Teil des revolutionären Umbruchs im Jahre 1989. Neu an diesem Projekt ist unter anderem, daß wir erstmals versuchen, MfS-Forschung in Berlin und Regionalforschung zu verbinden. Das heißt verschiedene Mitarbeiter in den Außenstellen der Behörde untersuchen die Entwicklung in ihrem jeweiligen Bezirk. Auch dazu liegen erste Publikationen vor: neben meiner eigenen Studie zum MfS in den Monaten Oktober I November 1989 zwei lange Aufsätze zu Neubrandenburgund zu Halle. Zwei weitere Arbeiten zu den Bezirken Rostock und Karl-Marx-Stadt sind unlängst erschienen. 17 In den Außenstellen unserer Behörls Bodo Wegmann I Monika Tantzscher: SOUD. Das geheimdienstliche Datennetz des östlichen Bündnissystems, BStU, Reihe B Analysen und Berichte Nr. 1/96, Berlin 1996. 16 Roger Enge/mann: Zum Wert der MfS-Akten. In: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. VIII, Baden-Baden 1995, S. 243296.
17 Walter Süß: Entmachtung und Verfall der Staatssicherheit. Ein Kapitel aus dem Spätherbst 1989, BF informiert 5 (1994), BStU, Berlin; Andreas Niemann I Walter Süß: "Gegen das Volk kann nichts mehr entschieden werden". MfS und SED im Bezirk Neubrandenburg (Die Entmachtung der Staatssicherheit in den Regionen Teil 1), BStU, BF informiert 12 (1996), Berlin; Hans-Peter whn: .. Unsere Nerven lagen allmählich blank". MfS und SED im Bezirk Halle (Die Entmachtung der Staatssicherheit in den Regionen Teil 2), BF informiert 13 (1996), BStU, Berlin; Holger Horsch: "Hat nicht wenigstens die Stasi die Stimmung im Lande gekannt?" MfS und SED im Bezirk KarlMarx-Stadt (Die Entmachtung der Staatssicherheit in den Regionen, Tei\3), BStU, BF informiert 19 (1997), Berlin; Volker Höffer: "Der Gegner hat Kraft". MfS und SED im Bezirk Rostock (Die Entmachtung der Staatssicherheit in den Regionen, Tei\4), BStU, BF informiert 20 (1997), Berlin.
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de existiert ein Potential für die Eigenforschung, das hat bereits dieses Projekt gezeigt. Es wird aber erst dann wirklich ausgeschöpft werden können, wenn in den anderen Aufgabenbereichen der Behörde Entspannung eingetreten ist. Das heißt, wenn die etwa 2,3 Millionen Anträge zur Überprüfung des öffentlichen Dienstes und die 1,3 Millionen Auskunftsanträge von Betroffenen (Stand vom Juni 1997) weitgehend abgearbeitet sind, die bisher Priorität haben. Und natürlich müssen auch die Archivbestände weiter durchgearbeitet werden. Von den 169 km Akten sind bisher ca. 83 % zugänglich, das heißt, etwa 29 km müssen noch erschlossen werden. Nun noch einige Worte zur Erforschung der "Wirkungsweise" des MfS. Das ist ein eminent breites und komplexes zeitgeschichtliches Forschungsfeld, dessen systematische Bearbeitung durch uns gegenwärtig noch etwas zurückstehen muß. Erste Ergebnisse liegenjetzt aber auch zu diesem Themenkomplex vor. Es seien nur zwei Beispiele genannt: Erstens die umfängliche Analyse von Joachim Walther zum "Sicherungsbereich Literatur", die auf der Frankfurter Buchmesse 1996 vorgestellt worden ist. 18 Zweitens wurde kürzlich eine Studie veröffentlicht mit dem Titel "Partisanen des Kalten Krieges. Die Untergrundtruppe der Nationalen Volksarmee 1957 bis 1962 und ihre Übernahme durch die Staatssicherheit'" 9 • Die beiden Autoren zeichnen darin die Geschichte einer Untergrundorganisation nach, die von der NV A zu Sabotageunternehmen gegen die Bundesrepublik aufgebaut und schließlich vom MfS übernommen wurde. Sie rekonstruieren ihren militärischen Auftrag, die Struktur des Geheimapparates und das illegale Organisationsnetz in der Bundesrepublik. Zu unserer Forschungsarbeit gehört auch die Veranstaltung wissenschaftlicher Tagungen. Wir bemühen uns, jedes Jahr eine solche Tagung zu organisieren. Bisher ist uns das auch gelungen. Die Themen waren: MfS-Akten und Zeitgeschichtsforschung (1994) sowie die Kirchenpolitik von SED und MfS (1995). 20 Im Jahr 1996 schließlich "Staatspartei und Staatssicherheit" .21
18 Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik (Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten im Ch. Links Verlag Berlin Bd. 6), Berlin 1996. 19 Jens Gieseke I Stefan Fingerte: "Partisanen des Kalten Krieges. Die Untergrundtruppe der Nationalen Volksarmee 1957 bis 1962 und ihre Übernahme durch die Staatssicherheit"; BStU, BF informiert Nr. 14, Berlin 1996.
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Eine Skizze der Forschungsarbeit von BF wäre unvollständig ohne Erwähnung laufender Projekte. Die Arbeit an der Geschichte der einzelnen Diensteinheiten des MfS wird uns noch einige Zeit beschäftigen. Um dafür nur ein Beispiel zu nennen: Ein solches Handbuch wäre sicherlich unvollständig, wenn es keine Geschichte der Hauptverwaltung A, abgekürzt HVA, enthalten würde. Die Quellenlage aber ist gerade in diesem Fall überaus kompliziert. Der Hauptgrund ist natürlich, daß die HVA-Mitarbeiter den allergrößten Teil ihrer Aktenbestände vernichtet haben. 22 Dazu kommen aber noch rechtliche Probleme, weil der verbliebene Rest bis vor kurzem nicht vollständig, aber weitgehend durch die Staatsanwaltschaften gesperrt war. Mit dem Abschluß vieler Ermittlungsverfahren beginnt sich das zu ändern. Künftige Arbeitsschwerpunkte von BF werden sein: eine vertiefte Analyse und Darstellung des Zusarnmenwirkens von MfS und SED an Knotenpunkten der DDR-Entwicklung; die Kooperation osteuropäischer Geheimdienste bis 1989; die Geschichte der Opposition in der DDR; und voraussichtlich stärker noch als bisher die Westarbeit des MfS. In dem Maße, wie wir die Gewichte verschieben von "Struktur und Methoden" auf die "Wirkungsweise" der Staatssicherheit, wird sich unsere Forschung auch thematisch in die allgemeine zeitgeschichtliche Forschung über die DDR integrieren. Natürlich stehen wir heute schon in diesem Diskussionsprozeß und arbeiten nicht nur mit MfS-Akten, sondern ziehen Akten anderer Provenienz hinzu. Diese Tendenz wird sich in den kommenden Jahren gewiß noch verstärken. Aber es wird wohl ein dauerhaftes Spezifikum der Beiträge aus unserer Abteilung bleiben, daß wir die geheimpolizeiliche Komponente von Herrschaftsgeschichte in die historische Analyse konsequent miteinbeziehen.
20 Klaus-Dietmar Henke I Roger Engelmann (Hrsg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes fiir die Zeitgeschichtsforschung (Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten im Ch. Links Verlag Berlin Bd. 1), Berlin 1995; Clemens Vollnhals (Hrsg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz (Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten im Ch. Links Verlag Berlin Bd. 7), Berlin 1996.
21 Siegtried Suckut I Walter Süß (Hrsg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MtS (Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten im Ch. Links Verlag Berlin Bd. 8), Berlin 1997. 22
Vgl. Zweiter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten, S . 50f.
Herrschaftsstrukturen und Erfahrungsdimensionen Der Beitrag des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung zu einer reflektierten Historisierung der DDR Von Martin Sabrow
Das Profil der arn Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) betriebenen Forschungen zur DDR-Geschichte ist nicht nur Ergebnis theoretischen Bemühens, sondern auch und vor allem historisch gewachsen: Das heutige Institut ist aus einem der sieben Geisteswissenschaftlichen Zentren hervorgegangen, die nach der deutschen Vereinigung auf Initiative des Wissenschaftsrates zustande gekommen waren, um positiv evaluierten Forschungsgruppen und Projekten der abgewickelten Akademie der Wissenschaften der DDR eine befristete Fortsetzung ihrer Arbeit bei intensivem Kontakt mit der internationalen Wissenschaft zu bieten. Sechs der ursprünglich sieben und zwischen 1992 und 1995 von der Max-Planck-Gesellschaft über eine eigens gegründete Förderungsgesellschaft verwalteten Forschungsschwerpunkte wurden mit Jahresbeginn 1996 in eingetragene Vereine umgewandelt, deren Finanzierung für eine Laufzeit von zunächst zwölf Jahren zu einem Drittel von demjeweiligen Sitzland und zu zwei Dritteln von der DFG- auf dem Wege der Projektförderung - übernommen wurde. 1 Z).l ihnen zählt auch das Zentrum für Zeithistorische Forschung mit Sitz in Potsdarn, das sich primär mit Fragen der DDR-Geschichte in ihrem diachronen und synchronen Kontext befaßt. 2 Es betreibt wie die anderen zeitgeschichtlichen Forschungsinstitute in Deutschland seine Arbeit auf einem unruhigen und raschen Witterungswechseln ausgesetzten Feld, das auch bald zehn Jahre nach dem Fall der Mauer noch nicht abschließend neu vermessen ist. Weiterhin rivalisieren gegensätzliche 1 Näheres bei Wieland Keinath, Geisteswissenschaftliche Forschungsschwerpunkte/Zentren. Einige Arunerkungen im Rückblick, in: hochschule ost 5 (1996), 3, S. 114-120. 2 Über die Arbeit des ZZF unterrichten seit 1992 seine jährlichen Tätigkeitsberichte sowie ein in der Regel dreimal jährlich erscheinendes "Potsdamer Bulletin fiir Zeithistorische Studien", das gegen Einsendung der Ponokosten kostenlos an Interessenten abgegeben wird.
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Urteile und Erschließungskonzepte um öffentliche Deutungshoheit, weiterhin sind die Hinterlassenschaften des zusammengebrochenen SED-Staates nicht völlig aufgeräumt, geschweige denn 'aufgearbeitet' oder gar aus der Sphäre gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzung in die des allein historischen Interesses überführt worden. Und doch hat der wachsende zeitliche Abstand zu 1989/90 die Diskussion um die zweite deutsche Diktatur in den letzten Jahren erkennbar verändert. Bei genauerem Zusehen lassen sich im Rückblick auf sieben Jahre "Nach-Wende-Debatte" zumindest zwei unterschiedliche Phasen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die DDR voneinander abheben: Die ersten vier Jahre nach dem Ende des ostdeutschen Teilstaates gehörten vorwiegend einer distanzierenden und delegitimierenden Betrachtung, in der wissenschaftliche Bemächtigung, politische Behandlung und persönliche Bewältigung der Vergangenheit in einem selbst nach den Maßstäben der Zeitgeschichte ungewöhnlich starkem Maße ineinander flossen. 3 In dieser ersten Phase waren unter den professionellen Interpreten der deutschen 'Gegenwartsgeschichte' nur wenige, die mit der Erforschung der abgedankten Diktatur nicht auch ihre eigene Stellung in ihr oder zu ihr zu klären hatten. 'Distanzgewinnung' konnte vieles meinen: selbstkritische Rechenschaftslegung, aber auch bequeme Entlastung, Verdrängung und Tabuisierung, bemühte Umdeutung und Verfli.lschung ebenso wie unbequeme Erinnerung, scharfe Anklage und vernichtendes Urteil. 'Distanzierung' umfaßte die Verarbeitung eines Perspektivenwechsels, in dem die DDR sich in atemberaubenden Tempo vom vermeintlichen Subjekt der Geschichte zum Objekt ihrer Erforschung wandelte und die bisher gültigen Urteilsmaßstäbe und Interpretationsmodelle in Ost und West über den Haufen geworfen wurden. Dieser Perspektivenwechsel wurde begleitet vom institutionellen und personellen Umbau der west-östlichen Wissenschaftslandschaft. Er hat die zeitgeschichtliche DDR-Forschung im Osten vollständig, im Westen nachhaltig erneuert und war von öffentlichen Kontroversen begleitet, die das Ausmaß der deutsch-deutschen "Vereinigungkrise" vor Augen führten und sich auch in der Gründungsgeschichte des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung spiegeln.4 3 Vgl. zum folgenden auch Christoph Kleßmann!Martin Sabrow, Zeitgeschichte in Deutschland nach 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APZ) 1996, B. 39, S. 3-14. 4 Vgl. hier die bei Rainer Eckertlllko-Sascha Kowalczukl/solde Stark (Hg.), Hure oder Muse? Klio in der DDR. Dokumente und Materialien des Unabhängigen Historiker-Verbandes, Berlin 1994, abgedruckten Beiträge im Kapitel "Die FAZ-Debatte um den Potsdamer Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien" (S. 260 ff.) sowie Mary Fulbrook, New Historikerstreit, Missed Opportunity, or New Beginning? The Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien, Potsdam, in: German History 12 (1994), H. 2, S. 203-207, und Anne-Sabine Ernst, Zwischen eilfertiger Enthül-
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Der gleichzeitige Wandel der 'disziplinären Matrix' hat zunächst jene eigentümliche Disziplin zwischen Zeitgeschichte, Sozialwissenschaften und Politikberatung erfaßt, die sich "DDR-Forschung" nannte, und 1989 mit ihrem Gegenstand auch das Vertrauen in ihre prognostischen Fähigkeiten schwinden sehen mußte5 • Statt dessen hat sich die in der westdeutschen Historiographie vor 1990 bestenfalls als randständig angesehene DDR-Geschichte an die Spitze des zeithistorischen Forschungsinteresses katapultiert. 759 laufende Untersuchungsvorhaben zählte eine Erhebung der ersten Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Jahr 19946 ; gegenwärtig spricht man von über 1000. Mit der 'alten DDR-Forschung' verschwanden viele ihrer tradierten Deutungsmuster oder rückten in den Hintergrund - so das in der Schule von Peter Christian Ludzentwickelte Immanenzparadigma7 oder die Konvergenztheorie oder auch das von Günter Gaus popularisierte Bild der DDR als "Nischengesellschaft"8. Der durch das Ende der DDR bewirkte Perspektivenwechsel hat politische Rücksichtnahmen nicht ganz, aber weitgehend erübrigt, er hat den Blick geschärft für die Verbrechen des SED-Regimes und die Schwächen des sozialistischen Wirtschaftssystems, er hat die getrennten Teile Deutschlands auch in historischer Sicht wieder näher einander gerückt. Die Vertreibung der bisherigen DDR-Eliten ließ Gruppen in das öffentliche Licht treten, die bisher im Schatten standen und mit ihren Erfahrungen und Gedanken kein Gehör gefunden hatten; aus den Akten der zugänglich gewordenen Archive gewinnt das Bild der DDR Zug um Zug andere Konturen als die, die der lungshistorie und solider Quellenkritik. Die zeitgeschichtliche DDR-Forschung im Prozeß der Neuordnung, in: Zeitgeschichte 22 (1995), S. 249-264. s Zur Frage nach dem analytischen" Versagen" der 'alten DDR-Forschung' im Westen vgl. etwa Gerd Meyer, Die westdeutsche DDR- und Deutschlandforschung im Umbruch. Probleme und Perspektiven in den Sozialwissenschaften, in: Deutschland Archiv (DA) 25 (1992), S. 273-285, und die sich an diesen Artikel anschließende Debatte in derselben Zeitschrift sowie Detlef Pollack, Zum Stand der DDR-Forschung, in: Politische Vierteljahresschrift 34 (1993), S. 119-139, und Heiner Timmermann (Hg.), DDR-Forschung. Bilanz und Perspektiven, Berlin 1995. 6 Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Forschungsprojekte zur DDR-Geschichte. Ergebnisse einer Umfrage des Arbeitsbereiches DDR-Geschichte im Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim, bearb. von Thomas Heimann (1994), S. 8 f. Von diesen 759 Projekten entfielen 123 auf kulturgeschichtliche, 68 auf sozial- und lebensgeschichtliche, 45 auf wirtschaftspolitische, 51 auf kirchengeschichtliche und 50 auf im engeren Sinne politikgeschichtliche Aspekte der DDR (ebenda). 7 V gl. in diesem Zusammenhang insbesondere Peter-Christian Ludz, Situation, Möglichkeiten und Aufgaben der DDR-Forschung, in: SBZ Archiv 18 (1967), S. 322-324; ders.!Johannes Kuppe, Das "DDR-Handbuch": Eine Antikritik, in: DA 9 (1976), S. 925-941.
8
Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, Harnburg 1983.
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untergegangene SED-Staat dem zeitgenössischen Außenbeobachter zu erkennen gestattet hatte. Entschiedener noch als dieser Perspektivenwechsel verlief bekanntlich die Auseinandersetzung um Leistung und Versagen der ostdeutschen Geisteswissenschaften unter der SED-Herrschaft. Eingeleitet Anfang 1990 durch die Gründung eines "Unabhängigen Historikerverbandes" und seiner programmatischen Frontstellung gegen die "moralische und intellektuelle Degeneration" der zum Zwecke der Herrschaftssicherung instrumentalisierten Geisteswissenschaften in der DDR9 , entwickelte sich eine rasch verhärtende Debatte um den Charakter der Geschichtswissenschaft in der sozialistischen Diktatur und um die ethischen und fachlichen Kriterien der Zugehörigkeit zu einer von politischer Indienslnahme befreiten Historikerzunft. Besonders in der Frage, wem die DDR-Geschichte gehöre und wer sie in Zukunft schreiben dürfe 10 , begegneten sich Anklage und Apologie, pauschale Verurteilung und differenzierende Entlastung in einer Härte und politischen Aufladung, die der historischen und auch der zeithistorischen Wissenschaftskultur lange Jahre fremd gewesen war. 11 Mit dem wachsenden Abstand von der Zeit der deutschen Teilung scheint die Debatte um den zukünftigen Platz der vergangenenDDRin einen neuen Zeitabschnitt nach der Distanzierung zu treten. Abgeklungen sind die Gefechte um
9 Armin MitteriStefan Wolle, Aufruf zur Bildung einer Arbeitsgruppe unabhängiger Historiker in der DDR (10. Januar 1990), in: Ecken!Kowalczuk!Stark (Hg.), Hure oder Muse?, S. 22 f. 10 V gl. hierzu beispielsweise Gunto/f Henberg, Sollen linientreue Genossen die DDR-Geschichte neu schreiben? Unabhängiger Historiker-Verband im Kampf gegen alten Wissenschaftsbetrieb, in: Ecken!Kowalczuk/Stark (Hg.), Hure oder Muse?, S. 107 f.; Rainer Ecken, Vergangenheitsbewältigung oder überwältigt uns die Vergangenheit? Oder: Auf einem Sumpf ist schlecht bauen, in: Ebenda, S. 201-206, und das Protokoll der Sektion "Wer schreibt die DDR-Geschichte? Fachliche Kompetenz, moralische Integrität und politische Interessen", in: Rainer Eckenlllko-Sascha Kowalczuk/ Ulrike Poppe (Hg.), Wer schreibt die DDR-Geschichte? Ein Historikerstreit um Stellen, Strukturen, Finanzen und Deutungskompetenz, Berlin 1995, S. 89-117. 11 Nicht zufällig hielten ostdeutsche Nachwuchshistoriker rückblickend die Distanz der Fachhistoriker zum politischen Tagesstreit fiir einen zentralen Mangel: "Im Kampfgetümmel der Wendezeit waren sie nur selten zu sehen." (Stefan Wolle, Wenn die Geschichte in die Gegenwart drängt ... , in: Der Tagesspiegel, 25.9.1994, S. W 3). Ein anschauliches Beispiel fiir die veränderte Streitkultur im westlichen Auseinandersetzungsspektrum bieten: Klaus Schroeder/Jochen Staadt, Der diskrete Charme des Status quo: DDR-Forschung in der Ära der Entspannungspolitik, in: Leviathan 21 (1993), S. 24, sowie die Entgegnung von Sigrid Meuschel, Auf der Suche nach der versäumten TatKommentar zu Klaus Schroeders und Jochen Staadts Kritik an der bundesdeutschen DDR-Forschung, in: Ebenda, S. 407-423, und die Replik von Schroeder!Staadt: Die Kunst des Aussitzens, in: Klaus Schroeder (Hg.), Geschichte und Transformation des SED-Staates. Beiträge und Analysen, Berlin 1994, S. 347-354.
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die DDR-Geschichtswissenschaft als "Hure oder Muse" 12 , verhallt die Auseinandersetzungen um die 'westdeutsche Einäugigkeit' vor 198913 wie der Ruf nach einem moralischen Ehrengericht für Geisteswissenschaftler und ihre fachlichen Leistungen 14 • Merkmal dieser zweiten Verfachlichungsphase ist zunächst eine spürbare Entpersonalisierung und Botpolitisierung der DDRZeitgeschichte: Die Tage der Abrechnungen und Enthüllungen, der Stellungnahmen und Erinnerungen sind vorbei; der Weg von den Akten in die Öffentlichkeit ist wieder länger geworden und die publizistische Brisanz einzelner Quellenfunde deutlich gesunken. Gelockert hat sich mit dem Ende der fachlichen Umstrukturierung im Gefolge der deutschen Vereinigung auch die Verknüpfung von wissenschaftlicher Erkenntnis und wissenschaftspolitischer Wirkungsabsicht, die für die Debatte vor einigen Jahren kennzeichnend war. Verfachlichung bedeutet im Zusammenhang mit der DDR-Geschichte aber vor allem eine erkennbare Veränderung der Diskussionsgrundlage, eine Rückkehr von der moralischen Legitimation zur theoretischen Reflexion im Wettstreit um die Frage, 'wem die DDR-Geschichte gehöre'. "Auch böse Historiker können gute Geschichte schreiben", hat Dieter Sirnon vor kurzem mokant bemerkt und damit das Ende einer Nach-Wende-Ära bezeichnet, in der die DDR-Zeitgeschichte sich nicht zuletzt als Konfrontation zwischen vermeintlicher oder tatsächlicher Täter- und Opfer-Geschichtsschreibung präsentierte. Js Zur Verfachlichung zählt aber vor allem das Bewußtsein der Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität einer Diktatur, die im Herrschaftsanspruch der Einheitspartei nicht völlig aufging, einer deutschen Teilungsgeschichte, die immer Abgrenzung und Verflechtung zugleich bedeutete, einer DDR, die sich weder als 'Verklärungsgeschichte' vom guten Anfang, noch als 'Verdarnmungsgeschichte' vom bösen Ende her erschließt, sondern als 'Verständnisgeschichte'
12 Zur kritischen Aufnahme vgl. Manfred Hettling, Hure oder Muse, Beamter oder nicht, in: Comparativ 5 (1995), H. 1, S. 147-154. 13 Klaus Schroeder/Jochen Staadt, Der diskrete Charme des Status-quo: DDR-Forschung in der Ära der Entsparmungspolitik, in: Schroeder (Hg.), Geschichte und Transformation, S. 309-346, hier s. 311. 14 Rainer Eckert, Ein gescheiterter Neuanfang?, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 20 (1994), S. 609-615, hier S. 614; ders., Replik. Politisches Engagement und institutionelle Absicherung. Die Geschichtsschreibung über die DDR, in: Berliner Debatte Initial 1995, H. 1, S. 99 f., hier S. 99. Kritisch dazu: Charles S. Maier, Geschichtswissenschaft und "Ansteckungsstaat~, in: GG 20 (1994), S. 616-624; Jürgen Danyel, Die Historiker und die Moral. Anmerkungen zur Debatte um die Autorenrechte an der DDR-Geschichte, in: GG 21 (1995), S. 290-303.
1s Dieter SitTWn, Wem gehört die DDR-Geschichte, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien 1996, H. 6, S. 19-29, hier S. 25.
8 Timmermann
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gelesen werden muß 16 . Erst diese Sicht gleichsam aus der Mitte der DDR heraus fordert zu der reflektierten Rekonstruktion heraus, die das von Sigrid Meuschel bezeichnete Paradox von langjähriger Stabilität und unverhofftem Zusammenbruch des ostdeutschen Staates begreiflich machen kann. 17 Der Weg von der Distanzierung zur Historisierung ist unbefestigt und zuweilen abschüssig. Ungeachtet der schnell ins Unüberschaubare wachsenden Zahl von Einzelstudien steht die zeithistorische Diktaturforschung nach 1989 wieder an einem Neuanfang, und diese Feststellung gilt um so mehr im Hinblick auf Fragen sowohl des innerdeutschen Diktaturenvergleichs mit dem NS-Staat wie des innersozialistischen mit den Ländern Ostmitteleuropas, diebeidein diesem Überblick bewußt ausgeklammert bleiben sollen. Der Charakter der DDR hat noch keinen gültigen Begriff gefunden; die Vielzahl der angebotenen Etikette , ob "Fürsorge-" oder "Erziehungsdiktatur" 18 , ob "moderne" oder "feudale" Herrschaft19, ob "Partokratie" oder "Ideokratie" 20 , ob "Nischen-" oder "Organisationsgesellschaft"21, belegen den Mangel nur zu deutlich. Einen kohärenten Erklärungsansatz bieten gegenwärtig einzig die verschiedenen Spielarten der Totalitarismustheorie. 22 Von ihrer intellektuellen Attraktivität zeugt die Renaissance, die dies in den siebzigerund achtziger Jahren in die Schreckenskammer des Kalten Krieges einsortierte Interpretationsmodell nach 1989 erlebte; der Einsturz auch der geistigen Mauer nach dem Fall der realen hat viele ihrer Gegner und Skeptiker von einst dazu gebracht, ihre Ablehnung totalitarismus16 Ebenda, S. 27, unter Bezug auf Konrad H. Jarausch, Die DDR denken. Narrative Strukturen und analytische Strategien, in: Berliner Debatte Initial 1995, H. 4/5, S. 9-15. 17 Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945- 1989, Frankfurt a.M. 1992.
18 Über die Erklärungskraft der Kategorie "Fürsorgediktatur" vgl. demnächst: Konrad H. Jarausch, The German Democratic Republic as History in United Germany, in: Reflections on
Public Debate and Academic Controversy, in: German Politics and Society 1997 (i.E.).
19 Zum Begriff der modernen Diktatur: Jürgen Kocka, Die Geschichte der DDR als Forschungsproblem. Einleitung, in: Ders. (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 9-26, hier S. 23. 20 Zum Topos der ideokratischen Herrschaft siehe Martin Malia, Vollstreckter Wahn. Rußland 1917-1991, Stuttgart 1994, S. 579 ff.
21 Den Begriff Organisationsgesellschaft verwendet Detlef Pollack, Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirche in der DDR, Stuttgart/Berlin/Köln 1994 (bes. S. 38 ff.). 22 Die Literatur zum Totalitarismuskomplex ist nahezu unüberschaubar geworden. Einen guten Überblick über den Forschungsstand gibt Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden 1996.
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theoretischer Interpretationsansätze zu überdenken. 23 Und in der Tat finden sich vor allem in der geschichtsphilosophischen Ausformung des totalitarismustheoretischen Ansatzes bei Hannah Arendt24 - jedenfalls stärker als in dem deskriptiven Merkmalskatalog von Carl Joachim Friedrich2' - eine Fülle von Bezügen und Anregungen, auf die die Diskussion um den Charakter der sozialistischen Diktatur auch in Zukunft nicht verzichten wird. 26 Doch offensichtlich sind auch die Schwächen des klassischen Totalitarismuskonzepts, sobald es nicht allein der Abgrenzung von einem unfreiheitliehen Regime, der Selbstverständigung eines demokratischen Gemeinwesens dient, sondern als forschungsleitendes Instrumentarium in einer theoretisch reflektierten Aneignung der ostdeutschen Zeitgeschichte. Die am ZZF betriebenen Forschungen, so theoretisch unterschiedlich sie auch angelegt sind, begegnen sich in der gemeinsamen Auffassung, daß totalitaristische Zugriffe auf die vierzigjährige DDR-Geschichte eine Reihe struktureller Probleme aufwerfen. Sie lassen sich wie folgt umreißen: Erstens fokussiert das Modell mehr oder minder explizit auf die Normen und Ansprüche diktatorischer Machtausübung und tendiert dazu, die für die historische Entwicklung in der Regel doch entscheidende Differenz zwischen Intention und Wirklichkeit auszublenden, den realen Durchherrschungsgrad der totalen Macht an den Rand der Analyse zu drängen. Ironischerweise schwebt ein solcher Ansatz dann wiederum in der Gefahr, die Sicht der Machthaber zu reproduzieren und, wie der Blick in die Forschungsliteratur in der Frühzeit der 23 Illustrativ hierfür Ernst Wurl, Die Geschichte der DDR · die Crux von Erleben, Politik und Wissenschaft, in: Utopie Kreativ 1995, H. 53, S. 27-40; Gerhard Lozek, Totalitarismus · (k)ein Thema für Linke? Die Totalitarismus-Auffasssung in der europäischen und deutschen Geschichte vor und nach 1945 (Pankower Vorträge, H. 1), Berlin 1995; Wolfgang Kraushaar, Sich aufs Eis wagen. Plädoyer für eine Auseinandersetzung mit der Totalitarismustheorie, in: "Mittelweg 36" 2 (1993), H. 2, S. 6-29, und Karlheinz Barck, Möglichkeiten und Grenzen der Totalitarismustheorie, in: Ebenda, H. 3, S. 89-92.
24
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich 1991 2 •
zs "Die entscheidenden Wesenszüge [ ... ] sind die sechs folgenden: eine Ideologie, eine Partei, eine terroristische Geheimpolizei, ein Nachrichtenrnonopol, ein Waffenmonopol und eine zentralgelenkte Wirtschaft." (Carl Joachim Friedrich unter Mitarbeit von Zbigniew K. Brzezinski, Totalitäre Diktaur, Stuttgart 1957, S. 19). 26 Die gilt etwa für den von ihr benutzten Begriff des "objektiven Gegners" (Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 654 f. Vgl. hierzu Klaus-Dietmar Henke, Menschliche Spontaneität und die Sicherheit des Staates. Zur Rolle der weltanschaulichen Exekutivorgane in beiden deutschen Diktatu· renund in den Reflexionen Hannah Arendts (Vortrag auf der Tagung "Staatspartei und Staats· sicherheit" des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, 8.-10.5.1996, Berlin) und Martin Sabrow, Die Geschichtswissenschaft der DDR und ihr 'objektiver Gegner' (erscheint 1998 in: Die DDR-Geschichtswissenschaft als Forschungsproblem, Sonderheft der Historischen Zeitschrift 1997).
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deutsch-deutschen Teilung lehrt, die Gesellschaft als eben das amorphe Objekt totaler Gestaltung zu beschreiben, als das es die diktatorische Herrschaft verstand. Zweitens sind die Probleme unübersehbar, die der Versuch mit sich bringt, den zeitlichen Wandel und vor allem das Ende des staatssozialistischen Systems totalitarismustheoretisch zu erklären, wenn man nicht ganz auf exogene Faktoren ausweichen will. Nicht umsonst hat Eckhard Jesse mit Blick auf die begrifflich nicht mehr zusammenschließbare Fundamentaldifferenz zwischen der stalinistischen Phase und der Ära Honecker hingewiesen und das freilich ebenso unmögliche Kunstwort der "autalitären" Diktatur gepräge7 , und Heinz Hürten wies darauf hin, daß eine Theorie der Enttotalisierung noch nicht entwickelt sei, so dringend sie gerade nach 1989 geworden ise8 • Drittens fehlt es dem bekannten Merkmalskatalog totalitärer Herrschaft, so wie er von Friedrich und Brzezinski entwickelt wurde, ganz augenfallig an innerer Kohärenz. Weder sind etwa beispielsweise Waffen- und Nachrichtenmonopol genuine Kennzeichen allein totalitärer Herrschaft, noch können sie deren notwendige Bedingung bilden - es sei denn, man wolle behaupten, daß die DDR ihren totalitären Charakter verloren habe, seitdem ihre Fernsehantennen nach Westen blickten, oder gar im Zeitalter des Internet totalitäre Herrschaft obsolet geworden sein müsse. 29 Viertens schleppt die Totalitarismustheorie als unausgesprochenen Vergleichsmaßstab das Modell des liberal-demokratischen Verfassungsstaates mit sich. 'Was in der einstigen politischen Auseinandersetzung zwischen Zwang und Freiheit, zwischen Demokratie und Diktatur nicht nur verständlich, sondern auch geboten sein mochte, wird wissenschaftlich problematisch, wenn der totalitäre Herrschaftscharakter eines Regimes dann eben einzig aus einer Perspektive erkennbar und erforschbar wird, die in der vorwissenschaftliehen Parteinahme für das westliche Gegenmodell gründet. Damit nämlich setzt sich ein solches Analysemodell dem Vorwurf aus, im letzten nicht anders als die "parteiliche" Geschichtswissenschaft des staatssozialistischen Lagers zu operieren und den politischen Standpunkt zur Voraussetzung der historischen Erkenntnis zu erklären. 27
Eckhard Jesse, War die DDR totalitär?, in: APZ 1994, B. 40, S. 12-23, hier S. 23.
28
Heinz Hünen, Totalitäre Herrschaft und ihre Grenzen, Vortragsmanuskript 1996.
29 Zu dieser Kritik siehe insbesondere Ralph Jessen, Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: GG 21 (1995), S. 96-110; ders., DDR-Geschichte und Totalitarismustheorie, in: Berliner Debatte Initial 1995, H. 4/5, S. 17-24.
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Fünftens verführt das totalitaristische Paradigma leicht zu dem einem aus geschichtstheoretischer Sicht naiven Wahrheits- und Realitätsbegriff. So sehr in den Zeiten der Diktatur der von Vaclav Havel formulierte 'Versuch, in der Wahrheit zu leben' 30 , die einzig mögliche Strategie sein mochte, um sich gegen die Umwertung der Werte zu stemmen, so verwickelt und problematisch ist die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge in der wissenschaftlichen Nachbereitung. Wer mit Hannah Arendt als Wesensmerkmal totaler Herrschaft die totale "Emanzipation von Wirklichkeit und Erfahrung" defmiert31 , muß nicht nur den schon von Nietzsche formulierten Einwand entkräften, daß Wahrheit eine auf sprachlicher Konvention beruhende Illusion sei32 , sondern sich auch der Frage stellen, was denn die behauptete "Tatsächlichkeit" anders sei als der "Denkstil" 33 , die "Lebenswelt" 34 , "die diskursive Formation" 35 einer nicht weniger an ihre eigenen geistigen und kulturellen Grundlagen gefesselten Gegenwelt. Sechstens schließlich erschwert das Totalitarismusmodell den Zugang zu dem, was sich als die Veralltäglichung von Herrschaft beschreiben läßt, das Arrangement mit der Macht, das Sich-Einrichten in der diktatorischen Gesellschaft, das für spätsozialistische Gesellschaften so charakteristisch ist, also das Hinübergleiten der diktatorischen Herrschaft in die Zwischenzone zwischen Zwang und Freiheit, die weder auf ideologischem Konsens noch auf terroristischer Bedrohung beruht. 36 Gleichwohl markiert kein anderes Deutungsmuster so scharf die grundsätzliche Differenz zwischen verstaatlichten und nicht-verstaatlichten Gesellschaften im 20. Jahrhundert und das Charakteristische einer Herrschaftsform, die keine Grenzen ihrer Macht anerkannte, die auf lückenlose Steuerung und Kontrolle 30 Vaclav Havel, Versuch in der Wahrheit zu leben, Reinbek bei Harnburg 1989. Zur Übertragung dieses Credos auch auf die Bewältigung von Diktaturen vgl. Ecken, Vergangenheitsbewältigung, S. 206.
31
Arendl, Elemente und Ursprünge, S. 723.
32 Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: Ders., Werke, hg. v. Alfred Baeumler, Leipzig o.J., S. 603-622. 33 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a.M. 19943•
34
Jörn Rüsen, Rekonstruktion der Vergangenheit, Göttingen 1986, S. 71 f.
35
Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973, S. 48 ff.
36 Den "patterns of popular compliance" widmet sich ausfuhrlieh die Studie von Mary Fulbrook, Anatomy of a Dictatorship. Inside the GDR 1949-1989, Oxford/New York 1995.
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der menschlichen Lebenswelt zielte, deren schrankenloser Bemächtigungsanspruch Individuum und Gesellschaft, Beherrscher und Beherrschte, Fiktionalität und Faktizität, Wahrheit und Lüge miteinander zu verschmelzen trachtete, bis Zwang und Freiheit ununterscheidbar wurden. 37 Und immer noch gilt die in Anlehnung an Martin Draht formulierte, widerstrebende Anerkennung, die ein Kritiker der Totalitarismustheorie in der Zeit der Entspannungspolitik zollte: "Es fällt schwer, [ ... ]auf den meist politisch-polemisch gefärbten Begriff des Totalitären zu verzichten [ ... ]. Denn der Begriff des Totalitären bezeichnet wie kein anderes Wort ein wesentliches Charakteristikum der marxistisch-leninistischen und im speziellen der SED-Ideologie, nämlich auf 'Ganzheit', Widerspruchslosigkeit, Homogenität ausgerichtet zu sein. " 38 Anders als die aufweitgehender gesellschaftlicher Akzeptanz aufbauende NSHerrschaft lag das Legitimitätsgeheimnis für die zweite deutsche Diktatur in der holistischen Geschlossenheit ihres 'neuen Wertungssystems' 39 • Nur dort freilich konnte diese künstliche Realität ihre suggestive Kraft ganz entfalten, wo sie die vorgefundene Wirklichkeit in den Köpfen ganz zu verdrängen vermochte. Der holistische Geltungsanspruch umfaßte mehrere Dimensionen40 : Er zielte auf räumliche Geschlossenheit und Abgrenzung von einem äußeren Feindbild in Gestalt des imperialistischen Gegners; er umfaßte in zeitlicher Hinsicht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Seine soziale Schrankenlosigkeit umschloß die Identität von Beherrschten und Herrschenden und drängte auf die Auflösung autonomer Räume im öffentlichen wie im privaten Leben. Metatheoretische Geschlossenheit schließlich kennzeichnete trotz aller inhaltlichen 17 Diesen Prozeß diskutiert fiir den Bereich der Literatursteuerung die Studie von Sirnone Barck/Manina Langermann/Siegtried Lokatis, "Jedes Buch ein Abenteuer". Zensur-System und
literarische Öffentlichkeilen in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin 1997, besonders S. 188 ff. Für das Gebiet der Wissenschaftsgeschichte s. auch Manin Sabrow, Das Wahrheitsproblem in der DDR-Geschichtswissenschaft, in: TelAviver Jahrbuch fiir deutsche Geschichte XXV (1996), s. 233-257.
31 Hans-Peter Waldrich, Der Demokratiebegriff der SED. Ein Vergleich zwischen der älteren deutschen Sozialdemokratie und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Stuttgart 1980, S. 79.
39 Manin Drath, Totalitarismus in der Volksdemokratie. Einleitung zu Ernst Richen, Macht ohne Mandat. Der Staatsapparat in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Köln/Opladen 19632 , S. XI-XLII, hier S. XXIV. In einer radikal veränderten Wertordnung sieht Drath auch eine entscheidende Differenz zu anderen Diktaturformen: "Daß er gegenüber den in der Gesellschaft herrschenden Wertungen ein ganz anderes Wertungssystem durchsetzen will, unterscheidet den Totalitarismus vom Autoritarismus." (Ebenda). 40 Die folgenden Überlegungen knüpfen an die Studie von Frank Wilhelmy, Der Zerfall der SEDHerrschaft. Zur Erosion des marxistisch-leninistischen Legitimitätsanspruches in der DDR, Münster/Harnburg 1995, S. 188 ff., an.
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Wandlungen seine ideologische Verankerung, die sich in der Ontologisierung von "bürgerlicher" und proletarischer Parteilichkeit gegenjede Form gedanklicher Infragestellung immunisiert hatte. Auch wenn der Umstand, daß "die Parteiherrschaft in der DDR so unvergleichlich lange stabil war" 41 darauf schließen läßt, daß der Aufbau dieser zweiten Realität über die Zahl der ideologisch überzeugten oder politisch eingebundenen Parteigänger hinaus erfolgreich war, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Kehrseite des oktroyierten Konformismus stets der kalkulierte Nonkonformismus war, die verordnete Sinnordnung auf den EigenSinn der Subjekte traf, der staatssozialistische Disziplinarraum aus lauter 'wilden Räumen' bestand, in denen die scheinbar verstaatlichte sich als Aushandlungsgesellschaft erwies. 42 Die Geschichte der ostdeutschen Diktatur ist gleichzeitig immer auch die Geschichte ihrer Herrschaftsgrenzen43 , und im immerwährenden Spannungsverhältnis zwischen Anspruch und Scheitern des holistischen Bemächtigungsanspruchs liegt sicherlich ein Schlüssel zum Verständnis einer vierzigjährigen Diktatur, die Künstlichkeil und Stabilität in einer außerordentlich irritierenden und die Zeitgeschichte noch lange beschäftigenden Weise miteinander zu verbinden wußte. Die Verschränkung von Herrschaftsstrukturen und Erfahrungsdimensionen bezeichnet folglich auch das Programm, dem sich die 16 gegenwärtig am Zentrum für Zeithistorische Forschung betriebenen Untersuchungsvorhaben verpflichtet fühlen. Sie gruppieren sich zu vier Institutsprojekten mit etwa hälftiger Mischung von ehemals ost-und westdeutschen Forschern. Ihr gemeinsames Dach ist die Konzentration auf die Geschichte des diktatorischen Systems in SBZ und DDR in seiner Grundspannung zwischen dem Diktaturcharakter der SED-Herrschaft einerseits und den vielfach quer dazu liegenden alltäglichen Erfahrungen der Bevölkerung andererseits. In der wechselseitigen Verknüpfung von "oben" und "unten", von Herrschaftsstrukturen und Erfahrungsdimensionen hofft das Institut einen Beitrag leisten zu können zur Ortsbestimmung der zweiten deutschen Diktatur in der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
41
Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. S. 27 .
' 2 Vgl. Wolfgang Eng/er, "Aushandlungsgesellschaft" DDR. in: Ulrich Beck/Peter Sopp (Hg.). Individualisierung und Integration. Neue Konfliktlinien und neuer Integrationsmodus?, Opladen 1997, s. 37-46. 43 Instruktiv hier: Richard Bessel/Ralph Jessen, Einleitung. Die Grenzen der Diktatur, in: Dies. (Hg.). Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S. 7-24.
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Das erste dieser größeren Institutsprojekte44 thematisiert die politischen Handlungsspielräume der SBZ und frühen DDR. Das vorwiegend politikgeschichtlich angelegte Projekt "untersucht das Spannungsverhältnis zwischen Einwirkungen der UdSSR und spezifischen Interessen der SED bei der Angleichung der SBZ/DDR an das sowjetische Modell im Zeitraum von 1945 bis zum Beginn der sechziger Jahre. In seinem Mittelpunkt steht der Begriff "Sowjetisierung" und damit die Frage, inwieweit und bis zu welchem Grad diese Sowjetisierung im Interesse der SED-Führung lag und durch die stalinistische Transformation der Einheitspartei vorangetrieben wurde bzw. unter welchen Rahmenbedingungen und mit welchen Motiven sich Moskauer Planungen in Partei und Gesellschaft durchsetzten. Im einzelnen gilt eine Untersuchung zur Tätigkeit des für Wirtschaftsfragen zuständigen stellvertretenden SMAD-Chefs Konstantin Koval, eine andere der Rolle Ulbrichts bei der Übertragung des sowjetischen Modells auf die SBZ/DDR bis 1953. Ein dritter Bearbeiter befaßt sich mit der Tätigkeit der Parteikontrollorgane zwischen 1948 und 1956, um die Eigenständigkeil und Abhängigkeit der innerparteilichen Repressionsapparate von sowjetischen Einflußnahmen zu untersuchen. Eine vierte Untersuchung gilt den Anfängen der ostdeutschen Außenpolitik bis 1963 im Spannungsdreieck zwischen sowjetischem und westdeutschem Einfluß. Ein fünfter, externer Bearbeiter schließlich untersucht die Auseinandersetzungen zwischen ehemaligen KPD- und SED-Funktionären auf der Landesebene zwischen 1946 und 1949. Das zweite Teilprojekt des ZZF thematisiert die Sozialgeschichte der "Diktatur des Proletariats" am Beispiel von Führungsgruppen und Funktionsapparaten des SED-Regimes. Untersucht werden einerseits Ausmaß, Grenzen und Mechanismen des "Elitenwechsel(s), in dessen Verlauf neue Führungsgruppen konstituiert und traditionale Eliten zurückgedrängt wurden", andererseits und in vergleichender Perspektive die Entstehung von Gegeneliten in den realsozialistischen Gesellschaften Mittelosteuropas. Eine zentrale Frage des Gesamtprojekts lautet, inwieweit sich mit der Herausbildung einer spezifischen Dienstklasse eine grundlegend neue Führungsgruppe etablierte und zur temporären Akzeptanz des Regimes beitrug. Strukturgeschichtlich angelegte Längsschnitte und ereignisgeschichtliche Fallstudien gelten der Feinstruktur von Führungsgruppen und ihren nachgeordneten Apparaten in einem zeitlichen Entwicklungsmodell, das grob den Phasen erstens der Rekrutierung und Konstituierung, zweitens der Professionalisierung und Ausdifferenzierung, drittens der Eigenreproduktion und der Routinebildung folgt. In diesem Rahmen erforscht eine 44 Die Darstellung folgt hier den Konzeptvorstellungen der vier Institutsprojekte in den Heften 4 und 5 des Bulletins fiir Zeithistorische Studien, Potsdam 1995.
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Studie unter dem Titel "Die Pankower Machthaber" Politik- und Lebensstile der DDR-Herrschaftselite in den fünfzigerJahrenund eine andere, die Gesamtdauer der DDR einbeziehende Untersuchung die sozialen, mentalen und kulturellen Charakteristika von industriellen Führungskräften und Gewerkschaftsfunktionären. Eine dritte Analyse beschäftigt sich mit traditionalen und neuen dörflichen Eliten im Spannungsfeld von Parteianspruch und Beharrungskräften im dörflichen Milieu der DDR anband der vier politischen Großemgriffe, die sich mit der Bodenreform, der Agitation gegen Großbauern, der Zwangskollektivierung und dem beschleunigten Zusammenschluß zu LPGs verbanden. Ein drittes Institutsprojekt ergänzt die von den zentralen Leitungsprozessen ausgehende Blickrichtung von oben mit der Perspektive von unten, um mit Hilfe mikrohistorischer Untersuchungen im Berlin-Brandenburgischen Raum endogene Faktoren der Herrschaftssicherung zu entschlüsseln, "die in der Natur der sozialen Beziehungen selbst [... ] zu suchen sind". Die in diesem Projekt betriebenen Untersuchungen fragen systematisch nach den Grenzen der diktatorischen Steuerung - einmal innerhalb der sozialpolitischen Herrschaftstechniken, die durch breitgefächerte, wenngleich in die Hierarchie des parteilichen Machtmonopols eingebaute Partizipationsmöglichkeiten nicht allein repressiver Natur waren, zum anderen infolge der Existenz von öffentlichen und privaten Nischen und Rückzugsräumen. Die Analyse der Diktaturerfahrung von unten öffnet den Blick für die Frage, "wie die in der DDR lebenden Menschen sich die von der SED oktroyierten Herrschaftsverhältnisse aneigneten, sie deuteten und wie sie sich ihnen gegenüber verhalten konnten. Diese Betrachtungsweise fragt nach dem Sinn, den das Leben in der DDR mit, neben oder gegen die Parteidiktatur für die dort und damals lebenden Menschen hatte, damit zugleich nach den Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbestimmung in der SBZ/DDR". Das theoretische Fundament dieses Projekts bildet ein Verständnis von Herrschaft als sozialer Praxis, das auf die auch wechselseitige Abhängigkeit von Herrschenden und Beherrschten zielt und das Geflecht von Interessen, Wertvorstellungen, Kompromissen, Anpassungen, Resistenzen usw. untersucht, das sich nicht auf die Logik des Befehlens und Gehorchens reduzieren läßt. Schlüsselkategorie zur Rekonstruktion der untersten Ebene diktatorischer Herrschaft in den alltäglichen Beziehungen von Bevölkerung und Herrschaftsträgern ist der Begriff "Eigen-Sinn", mit dem die Aneignung und Deutung von Herrschaftsstrukuren durch die handelnden Individuen erfaßt werden soll. Gegenwärtig laufen in diesem Projekt drei Untersuchungen: Eine gilt der Erwerbstätigkeit und den Lebensweisen von Frauen in der Prignitz zwischen 1968 und 1989, um das Spannungsfeld von sozialer Aufstiegs- und gleich-
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zeitiger Diktaturerfahrung zu erforschen. Eine zweite Studie analysiert ein literarisches Genre, in dem herrschaftskritischer Charakter und affirmative Funktion aufeinanderstießen: die DDR-Satire in Presse und Kabarett der Ära Honecker, Fallstudien zum "Eulenspiegel" und zum Potsdamer "Kabarett am Obelisk" sollen die politischen Produktionsvoraussetzungen und den Umgang mit ihnen rekonstruieren und auf die in den satirischen Texten sich spiegelnden Alltagsbedeutungen beziehen. Ein weiteres Teilprojekt untersucht "Die deutsche Volkspolizei vor Ort" 1952-1968, um an den Brennpunkten polizeilicher Arbeit die Verknüpfung von alltäglicher Ordnungssicherung und spezifisch polizeilichem Beitrag zur politisch gewünschten Entwicklung der Gesellschaft auszuloten. Eine letzte Teilstudie schließlich befaßt sich unter dem Stichwort Herrschaftssicherung durch Konsumentwicklung mit der Erfindung des "Goldbroilers", um einen Einblick in das vielschichtige Verhältnis ideologisch motivierter Wirtschaftspolitik und 'eigen-sinniger' Nutzung durch die Verbraucher zu gewinnen. Das letzte hier zu nennende Institutsprojekt bewegt sich auf dem Feld der Wissenschafts- und Kulturgeschichte der DDR und analysiert den Umgang mit der Vergangenheit in Literatur und Medien, Kunst und Wissenschaft. Die Deutungshoheit über die Geschichte zählte zu den legitimatorischen Kernbereichen der sozialistischen Diktatur, so daß die Historie in der DDR in besonderem Maße staatlich-parteilicher Instrumentalisierung unterlag, ohne sich aber gänzlich von der Faktizität des Geschehens, den wissenschaftlichen Standards seiner Interpretation und den ästhetischen Bedingungen seiner literarischen Vermittlung lösen zu lassen. Das Projekt nutzt den durch die Wende ermöglichten Zugang zu den aktenüberlieferten Entstehungsstufen historischer Leit- und Feindbilder, um die Verständigung über die Vergangenheit als einen sprachlich und medial vermittelten Prozeß zu beschreiben, für den sich der Begriff "Diskurs" anbietet. "Diskurs" ist hier ausdrücklich nicht im Sinne von Habermas' zur Kennzeichnung einer rationalen, herrschaftsfreien Verständigung gemeint, sondern als Arbeitsbegriffzur Beschreibung einer spezifischen, nämlich ideologisierten Form der Verständigung über die Vergangenheit, in der Auseinandersetzungen um das "sozialistische Geschichtsbild" unter den Historikern der DDR ebenso wie Anweisungen des Kulturministeriums an die Verlage oder publizistische Auseinandersetzungen in den Literaturzeitschriften der DDR auch dann auf sprachliche Vermittlung und Einhaltung argumentativer Regeln angewiesen waren, wenn sich hinter ihnen machtpolitische Entscheidungen, wirtschaftliche Zwänge oder institutionelle Bedingungen verbargen. Unter dem Dach dieses Projektes "Geschichte als Herrschaftsdiskurs" sind gegenwärtig sechs Teilprojekte angesiedelt, von denen sich drei dem historischen Fach-
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diskurs (am Beispiel geschichtlicher Großforschungsvorhaben), der Zensur und Verbreitung historischer Texte sowie der Rolle der Remigrantengeneration bei der Etablierung des sozialistischen Geschichtsbildes widmen. Drei weitere Teilprojekte thematisieren nicht-fachlichen Formen der Vergangenheitsaneignung in der DDR am Beispiel des literarisch-publizistischen "Antifaschismus"Diskurses bzw. des Bildes vom Nationalsozialismus in Rundfunk und DEFAFilmen. Es bedarf keiner Erläuterung, daß diesen Forschungsansätzen kein methodischer Monismus eignet. Das ZZF ist auch unter der Ägide der DFG noch interdisziplinär zusammengesetzt; Historiker sind in der Mehrheit, aber in den einzelnen Projektgruppen arbeiten daneben Literaturhistoriker, Soziologen und Kulturwissenschaftler. Die Forschungsvorhaben sind in einem Fall politikgeschichtlich, im anderen sozialgeschichtlich, im dritten alltags- und mikrohistorisch, im vierten kultur-und diskursgeschichtlich angelegt. Fehl geht der aus der Distanzierungsphase nach 1989 stammende Einwand, daß die kommunistische Diktatur durch die Verschränkung von struktur-und erfahrungsgeschichtlichen Dimensionen verharmlost werde. Vielmehr wird sich der in bezug auf die erste deutsche Diktatur so langwierige Entwicklungsschritt von der Dämonologie zur Historisierung, von der bloßen Distanzgewinnung zur befriedigenden Erklärung in bezug auf die zweite deutsche Diktatur nur dann verkürzen lassen, wenn mit dem Herrschaftsanspruch auch die Herrschaftsgrenzen in den Blick kommen, wenn die DDR als sozialistische Diktatur und 'Aushandlungsgesellschaft'45 zugleich gedeutet wird, in der die staatlich-parteiliche Steuerung aufbremsende und verstärkende Faktoren traf, begrüßt und toleriert, aber auch umgedeutet und abgewehrt wurde und schließlich an der sich verbreitemden Kluft von Gestaltungsanspruch und -vermögen zugrundeging.
•s Verwiesen sei aufzwei empirische Umsetzungen dieses Anspruchs im Bereich Wissenschaften:
Peter Th. Walther, It Takes Two to Tango. Interessenvertretungen an der Deutschen Akademie der
Wissenschaften zu Berlin in den fiinfziger Jahren, in: Berliner Debatte Initial 1995, H. 4/5, S. 6878, und Siegtried Lokatis, Wissenschaftler und Verleger in der DDR. Das Beispiel des AkademieVerlages, in: GG 22 (1996), S. 46-61. Alltagskulturelle Merkmale der "Aushandlungsgesellschaft" diskutieren Feli.x Mühlberg, Wenn die Faust auf den Tisch schlägt. Eingaben als Strategie zur Bewältigung des Alltags, in: Neue Gesellschaft fiir Bildende Kunst (Hg.), Wunderwirtschaft. DDRKonsumkultur in den 60er Jahren, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 175-184, und Engler, "Aushandlungsgesellschaft" DDR, S. 40 ff.
111. Alltags- und Mentalitätsgeschichte
Buchenwald und sein vergessenes republikanisches Erbe Von Manfred Overesch
Am 2. November 1945 bot der stellvertretende amerikanische Militärgouverneur in Deutschland, Clay, seinem sowjetischen Kollegen Sokolowski in einem Brief die Übernahme jener Materialien an, die amerikanische Dienststellen über das nationalsozialistische KL Buchenwald zusammengetragen hatten. Clay machte den Vorschlag, die Sowjets sollten, da mehrere tausend Kriegsgefangene der Roten Armee auf dem Ettersberg umgebracht worden und in der SBZ (Sowjetisch besetzten Zone) noch Täter zu verfolgen seien, einen Buchenwald-Prozeß übernehmen. Die SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland) war offenbar überrascht. Sie zögerte die Antwort mehr als sieben Wochen hinaus und erbat dann erst einmal Einzelheiten. Clay informierte umgehend, aber nur summarisch, über die Masse der amerikanischen Recherchen, sprach von drei Tonnen Material, das die US-Army auf zwei LKW bei ihrem Rückzug aus Thüringen allein aus Buchenwald mit in den Westen genommen hatte. Sokolowski ließ sich wieder Zeit, jetzt gar drei Monate, erbat dann, am 8. April 1946, Akteneinsicht zu dem vergleichsweise kleineren deutschen Verbrechen in Gardelegen, wo in einer Scheune eintausend Buchenwald-Häftlinge zusammengejagt und verbrannt worden waren. Eine dreiköpfige sowjetrussische Delegation k~ schließlich vom 12. bis 17. Juli 1946 nach Wiesbaden und übernahm die Gardelegen-Akten. Bei einem erneuten Besuch am 5. August sichteten die drei dann auch Akten zu Buchenwald. Man vereinbarte die Übergabe von Material und SS-Tätern an der beiderseitigen Zonengrenze zum 3. September 1946. Die Russen kamen indessen nicht. Die Amerikaner brachten Täter und Material nach Dachau zurück. Damit verlief der Vorgang keineswegs im Sande, sondern begann eigentlich jetzt erst politisch zu wirken. 1 Ein wesentliches Quellenstück der amerikanischen Dokumente, das die Sowjets, so darf aus dem späteren Verhalten gefolgert werden, in Wiesbaden 1 Bundesarchiv Koblenz (BA) RG 260 OMGUS 1945-46-3/2 1-7 OF: Korrenspondenzen ClaySokolowski 1945/46; zum Kontexts. Manfred Overesch, Buchenwald und die DDR oder Die Suche nach Selbstlegitimation, Göttingen 1995, S. 206ff.
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Manfred Overesch
auch eingesehen haben, war ein vorläufiger Bericht, "A Preliminary Report", den zwei amerikanische Offiziere über Buchenwald angefertigt hatten. Das Dokument trägt als Datum den 24. April 1945. Einer seiner beiden Autoren, der Oberleutnant Tenenbaum, war nachweislich bereits am Abend des 11. April, am Befreiungstag, im Ettersherger Lager. Er hat dort zusammen mit einem Kollegen, Egon Fleck, sofort die Lagerwirklichkeit studiert und die Lagergeschichte recherchiert. Seine Zeugen waren alliierte, osteuropäische und deutsche Häftlinge, keine SS-Wachmannschaften. Der 14 Seiten lange Bericht ist vom Chef des Nachrichtendienstes der amerikanischen 12. Armeegruppe (Bradley), Alfred Toombs, abgezeichnet und als "eine der bedeutendsten Darstellungen über einen Lebensaspekt im Nazi-Deutschland ... , die bisher geschrieben worden sind", klassifiziert worden. 2 Zu Recht, das meinten auch die Kommunisten der SBZ. Sie fühlten sich am meisten angesprochen, ja aufgestört, denn der Report stellt in sehr direkter Sprache kritikwürdiges Verhalten gerade kommunistischer Häftlinge heraus, die ihrer Lagerfunktionen wegen teilweise als Mittäter der SS bloßgestellt wurden. Die größte Angst hatte der ehemalige Kapo des Buchenwalder Reviers im Block 46, Ernst Busse, seit Mai 1945 Mitglied der thüringischen Landesverwaltung, seit dem 16. Juli dieses Jahres Innenminister und 1. Vizepräsident in der Landesregierung Paul. Er beauftragte noch im August 1946, wenige Tage nach der Rückkehr der kleinen sowjetischen Delegation aus Wiesbaden, Kameraden im Westen, für richtige, soll heißen ihn nicht belastende Zeugenaussagen bei möglichen weiteren amerikanischen Buchenwald-Recherchen Sorge zu tragen. 3 Als die Amerikaner nach dem sowjetischen Affront vom 3. September 1946 an der beiderseitigen Zonengrenze Teile des brisanten Buchenwald-Reports Anfang Oktober in ihrer Presse veröffentlichten - sog. Robinson-Bericht -, organisierte die SED in aller Eile eine interne Befragung ehemaliger Ettersherger Häftlinge. Ulbricht gab Weisung, sich auf Ernst Busse und Walter Bartel zu konzentrieren. Barte!, ein prominenter Buchenwald-Häftling, auf dem Ettersberg in der wichtigen Arbeitsstatistik tätig und deutscher Vertreter in dem am 11./12. April 1945 gegründeten Lagerkomitee (spätere Bezeichnung: Internationales Lagerkomitee, ILK), seit Mai 1946 Referent im Büro Piecks, konnte sich herausziehen. Das Parteiverfahren konzentrierte sich auf Busse. 2
A Prelirninary Repon. Buchenwald 24.4.1945, Abdruck Overesch, S. 154-178.
3 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin (SAPMO BA) IV/2/11 v. 1247, Ernst Busse, Biographie 30.9.1945 und rY/2/4/375, Über das Verhalten einer Reihe von deutschen Kommunisten im KZ Buchenwald, o.D., aber vor dem 8.10.1946.
Buchenwald und sein vergessenes republikanisches Erbe
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Emigranten saßen über in Deutschland verbliebene und dabei nicht ohne Schuld gebliebene Kommunisten zu Gericht. 16 Zeugen, alles ehemalige Häftlinge Buchenwalds, wurden befragt. Das Ergebnis war brisant, in manchen Teilen kontrovers, aber deutlich belastend für Busse und die KPD. Die Protokolle wurden unter Verschluß genommen, 4 nach außen hin blieb die Partei zunächst ohne Reaktion, zog aber im Sommer 1947 Busse aus Weimar ab, beorderte ihn nach Berlin, ließ ohne Gegenwehr zu, daß er bald danach vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und nach Sibirien verschleppt wurde. Dort starb Busse Ende 1952 auf eine nicht ganz von Spekulationen freie Art. s Bartel ereilte ein ungleich milderes Geschick. Ihn befragte die Zentrale Partei-Kontroll-Kommission (ZPKK) im Mai 1953 über seine Buchenwalder Vergangenheit, befand ihn schuldig, verbannte ihn aber nur aus Berlin nach Leipzig an die dortige Universität. 6 Die Akten über diese parteiinternen Versuche, die Wahrheit über Buchenwald zu erfahren, wurden sekretiert, seit 1992 werden sie in Abständen in der Presse vorgestellt. Die wissenschaftliche Diskussion greift sie jetzt auf. 7 Die SED hat wohl wegen ihres Kenntnisstandes über den Leumund kommunistischer Häftlinge auf dem Ettersberg lange gezögert, dem Drängen der Opfer-Verbände, allen voran die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), nachzugeben und Buchenwald in die antifaschistische Vorgeschichte der DDR einzugliedern, ja dieses Lager als Ort ihrer Selbstlegitimation herauszustellen. Doch wenige Wochen nach dem 17. Juni 1953, als der hohe Legitimationsbedarf dieses Staates erkennbar wurde, als die politische Didaktik die Affirmation der DDR durch Buchenwald für günstig und notwendig befand, griff die SED zu. Am 2. Dezember 1953 faßte das ZK den Beschluß: "In Buchenwald ist eine Gedenkstätte zu schaffen. " 8 Am 14. September 1958 übergab dann Otto Grotewohl "dem deutschen Volke" den Ettersherger Glokkenturm. Wie hoch über der Goldenen Aue 1896 die Hohenzollern auf dem • Einzelheiten s. Aktenbestand SAPMO BA I 2/3 Nr. 155 und IV 2/4/375 (Busse). s Hauptstaatsarchiv (HStA) Weimar Bestand SED V/6/9-1, Kar! Reimann an Anna Busse 10.7.1950 und SAPMO BA IV 12/11 v. 1247, Todesbestätigung durch das Berliner Rote Kreuz 8.8.1956.Abgedruckt in: Lutz Niethammer unter Mitarbeit von Karin Hanewig, Harry Stein und Leonie Wannenmacher (Hrsg. ), Der 'gesäuberte' Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald. Dokumente, eingeleitet und komrnentien von Karin Hanewig und Lutz Niethammer, Berlin 1994. 6
SAPMO BA IV/2/4/281, Paneiverfahren gegen Walter Barte129.5.1953.
7
Vgl. averesch in Anm. 1 und Niethammer (Hg.) in Anm. 5.
8
SAPMO BA J IV/2/3/409, Protokoll Nr. 18/53 der Sitzung des ZK der SED vom 2.12.1953.
9 Tirnrnermann
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Kyfthäuser ihren Kaiser, Wilhelm Barbablanca, auf die Schultern des Staufers Friedrich Barbarossa stellten und so ihre Herrschaftslegitimation aus einer konstruierten Kontinuität der Geschichte ableiteten, stellte Grotewohl 1958 seinen Staat auf die Gräber der Widerstandskämpfer gegen das Dritte Reich. Der "Kyfthäuser der DDR" war eingeweiht, ein, nein das Nationaldenkmal, ein "Wallfahrtsort für die Welt( ... ) im Herzen Deutschlands", errichtet. 9 Ein Mythos nahm seinen Anfang. Nicht nur ein erst zögerlich zum Leben erweckter, dann mit großem propagandistischen Aufwand am Leben erhaltener Mythos hat das politisch-programmatische Erbe Buchenwaids der Vergessenheit überantwortet, auch der gezielte Machtwille der Moskauer Lux-Kommunisten, jene von diesen inszenierte Machtergreifung von links, hat Anfang Juli 1945 Buchenwald überrollt. Damals kam Ulbricht nach Jena und Weimar, machte sich ein Bild der Lage und setzte den Re-Imigranten Georg Schneider, der zuvor mit der Gruppe Ackermann nach Sachsen eingeflogen war, als Vertreter des Berliner Zentralsekretariats der KPD zum Parteisekretär Groß-Thüringens ein. 10 Die Buchenwalder Kommunisten, die den thüringischen Bezirksvorstand schon am 12. April auf dem Ettersberg wieder gegründet hatten (Johannes Brumme), verschwanden mit einem Schlag im zweiten Glied. Für eine solche Entmachtung hatten sie selbst noch im KL die Weichen gestellt. Zwar war ihre tempo- und energiereiche organisatorische Aufbauleistung vom ILK über die nationalen Komitees bis hin zu den regionalen für Deutschland beachtlich - die Amerikaner sprachen nach ihrer ersten Inspektion am 16. April von einem Coup d'etat, einem Staatsstreich 11 -, dafür war aber ihre programmatische Leistung unbedeutend. Das Wenige, was sie zu Papier gebracht hatten - die Einzelheiten sind im Buchenwalder Tagebuch vom April 1945 des Magdeburger Sozialdemokraten und Ettersherger Häftlings Ernst Thape verzeichnd 2 -, schoben sie am 30. April kurz entschlossen an die Seite, indem sie dem Antrag 9 SAPMO BA NL 90 Nr. 237, von Grotewohl korrigierter Redeentwurf für den 14.9.1958; vgl. auch die "Mahnworte" Johannes R. Bechers, ebd. Nr. 553, teilweise abgedruckt in Overesch (Anrn. 1), S. 327. 10 Über den Vorgang existieren zwei Berichte, beide aus Schneiders Feder: HStA Weimar Bestand SED V/5/239, Schneider, Der rechte Sozialdemokrat Dr. Brill versuchte die Einheit der Arbeiterklasse zu verhindern, und ebd., Schneider, Erinnerungen. Zum Zusammenhang vgl. M. Overesch, Hermann Brill in Thüringen 1895-1946. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992, s. 351 ff. 11
Vgl. Anrn. 2.
12 Ernst Thapes Buchenwalder Tagebuch von 1945 (hrsg. von Manfred Overesch). In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29/1981, S. 631-672.
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Walter Wolfs zustimmmten: "Das Thüringer Komitee richtet an das Deutsche Komitee die Aufforderung, eine Entschließung anzunehmen, in der es sich unter Beibehaltung seines Namens 'Deutsches Komitee' im Inhalte seiner Politik auf den Boden des National-Komitees Freies Deutschland stellt. " 13 Das politische Erbe Buchenwaids muß man bei den Sozialdemokraten suchen, bei dem genannten Thape, bei Benedikt Kautsky und vor allen Dingen bei Hermann Brill. Der thüringische Sozialdemokrat Brill, 1920-1933 Mitglied des thüringischen Landtags, 1922/23 Ministerialdirektor im Innenministerium, durch Taten während der Weimarer Republik ausgewiesen als Gegner Hitlers und Ulbrichts, war im Widerstand 1936 in Berlin theoretischer Kopf der Deutschen Volksfront, wurde in dieser Eigenschaft von der Gestapo im September 1938 enttarnt und vom Volksgerichtshof im Juli 1939 wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. Auf den Ettersberg als "nicht besserungsfähiger Häftling" im Dezember 1943 verschickt, sammelte sich dort um ihn die natürlich konspirativ geführte theoretisch-programmatische Arbeit. 14 Brill trat am 13. April, zwei Tage nach der Befreiung des Lagers, mit dem Buchenwalder Manifest "Für Frieden, Freiheit, Sozialismus" vor die Öffentlichkeit. 15 Der Titel zeigt den Willen an, den Pariser Aufruf der Deutschen Volksfront aus den späten 30er Jahren, damals im französischen Exil von Heinrich Mann, Rudolf Breitscheid u.a. unterzeichnet, "Für Freiheit, Frieden, Brot", aufzugreifen und fortzuentwickeln. Das Buchenwalder Manifest ist ein Dokument des gemäßigten demokratischen Sozialismus. Es enthält Aussagen zur radikalen Vernichtung des Nationalsozialismus, zum Aufbau einer Volksrepublik, zur Befreiung der Arbeit und ihrer Sozialisierung, zu Frieden und Recht, zur Humanität und zur sozialistischen Einheit des Proletariats. Die Vorschläge zur Vernichtung des Nationalsozialismus zeichnen sich durch große Radikalität aus; sie fordern nicht nur die Aufhebung aller nationalsozialistischen "Gesetze, Erlasse, Verordnungen, Verfügungen, Urteile, Bescheide und Rechtsvorschriften", sondern auch die unverzügliche Entlassung aller Beamten, "die als Träger der Diktatur tätig gewesen sind" . Die Verurteilung der "Kriegsverbrecher und Kriegsverlängerer" sollte nach internationalem Recht "von deutschen Gerichten" erfolgen.
13
Sammlung Volker Wahl/Weimar, Antrag Walter Wolfs vom 30.4.1945.
14
Vgl. Overesch, Hermann Brill in Thüringen, S. 287 ff.
"Buchenwalder Manifest "Für Frieden, Freiheit, Sozialismus", Ettersberg 13.4.1945, Teilabdruck in: Overesch, Buchenwald und die DDR, S. 93-95. 9•
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Brills Ausführungen zum Aufbau einer Volksrepublik, die "einen neuen Typ der Demokratrie" im Auge hatten, variierten die west-europäische Tradition einer pluralistischen parlamentarischen Demokratie auf der Basis eines Mehrparteiensystems, indem sie deutliche plebiszitäre Akzente hinzufügten. Die ökonomischen Vorstellungen lagen ganz im Geist der Zeit, dem an dieser Stelle 1945/46 auch andere politische Gruppierungen- erinnert sei nur an das Ahlener Programm der CDU von 1947 und an die Debatte über einen katholischen Sozialismus, die Walter Dirks u.a. führten - anhingen. Brill formulierte da: "Deutschland kann ökonomisch nur auf sozialistischer Grundlage wieder aufgebaut werden." Er gab sich dabei der Vision hin, daß nur so "den Gesellschaftskrisen ... ein absolutes Ende gesetzt" werden könnte. Allein bäuerlicher Besitz sollte nicht enteignet, sondern genossenschaftlich gefördert werden, wenn er nicht bis zum Großgrundbesitz herangewachsen sei. Alle größeren Industriezweige dagegen seien zu verstaatlichen und planwirtschaftlich zu organisieren. Diesen ökonomischen und politischen Grundlinien des Buchenwalder Manifests waren bemerkenswerte Aussagen zu Frieden, Recht und Humanität sowie zur Außenpolitik eines neuen deutschen Staates angefügt. Brill bekannte sich zu einer "schuldrechtlichen Verpflichtung der Wiedergutmachung der Schäden", die das deutsche Volk unter der NS-Herrschaft im Ausland angerichte~ hatte. Er wollte Deutschland als ein baldiges Mitglied der "Weltorganisation des Friedens", also der UNO, dabei überwacht sehen. Ein besonderes Gewicht sollte dem "engsten Einvernehmen" mit der UdSSR gelten. Hier setzte er sich allerdings gleich, wenn auch nur mit indirekten Worten, vom Osten ab. Einer anzustrebenden deutsch-französischen und deutsch-polnischen "Verständigung und Zusammenarbeit" maß er höchstrangige Bedeutung zu, dem "Eintritt Deutschlands in den angelsächsischen Kulturkreis" die nächstfolgende. Einer kommunistischen Ergebenheitsadresse an Moskau schloß er sich nicht an. Brill dachte an eine Wiedergeburt Deutschlands als Land der europäischen Gemeinschaft. "Dafür brauchen wir einen neuen Geist. Er soll verkörpert werden durch den neuen Typ des deutschen Europäers. Uns kann niemand umerziehen, wenn wir es nicht in Freiheit selbst tun." Dieses "Manifest für Frieden, Freiheit, Sozialismus" darf als das eigentliche politisch-programmatische Erbe des KL Buchenwald angesehen werden. Die Amerikaner anerkannten das, indem sie Brill am 27. April 1945 vom Ettersberg herunterholten und mit dem verwaltungstechnischen und sodann auch politischen Wiederaufbau Thüringens beauftragten. Dadurch konnte versucht werden, was Brills Buchenwalder Mithäftling und Freund Ernst Thape am 1. Mai 1945 auf dem Ettersberg als politische Hoffnung seinem Tagebuch anver-
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traute: "Thüringen ist sozusagen das Seminar für das ganze Reich, das im Buchenwald versammelt ist." 16 Aus der Mitte Deutschlands also erwuchs vom Ettersberg eine neue politische Hoffnung. Wir wissen heute, daß diese Hoffnung trog. Brills Vorstellung, Weimar könne "ein deutsches Washington" werden, 17 haben die Moskauer KPD-Emigranten zusammen mit der erst zögerlichen SMAD verhindert. Die Amerikaner ließen in den Wochen bis zum 30. Juni die Anfange der Politik in Thüringen nach den Maßstäben des Buchenwalder Manifests geschehen. Ein letzter, bemerkenswerter Versuch, mit diesem Buchenwalder Erbe die deutsche Geschichte auch unter der sowjetischen Besatzungsmacht fortzuschreiben, mißlang am 9. Juli 1945. Je sechs thüringische Sozialdemokraten und Kommunisten, zum größeren Teil alle ehemalige Ettersherger Häftlinge, hatten einen Aufruf "An das werktätige Volk Thüringens" gerichtet, der die "Herstellung einer politischen Einheit des werktätigen Volkes" zum Ziel erklärte. 18 Als in Berlin schon längst die Abneigung der SPD vor einer schnellen Verschmelzung mit der KPD protokolliert war, wollten Buchenwalder Häftlinge im Augenblick der politischen Windstille zwischen dem amerikanischen Abzug und sowjetischen Einzug in Thüringen einen deutlichen Schritt hin zur Realisierung der Buchenwalder Volksfront, verstanden als Bund demokratischer Sozialisten, tun. Der Aufruf, bereits auf 3.000 Plakaten gedruckt, mußte zurückgehalten werden. Schneider, Ulbrichts Marionette in Weimar, veranlaßte die SMA Thüringen dazu. Die roten Plakate wurden zu Makulatur zerschnitten. Im Behördenverkehr haben manche DIN A 4-Seiten auf ihrer Rückseite als Konzeptpapier Verwendung gefunden. Der Direktor des Thüringischen Hauptstaatsarchivs hat sieben Teile entdeckt, vier fügten sich zu einem vollständigen Plakat. Man überdenke einen Augenblick diesen Moment der Geschichte: Buchenwalder Häftlinge riefen zur Gründung einer geeinten deutschen Arbeiterpartei auf. Die inhaltlichen Maßstäbe bot das Buchenwalder Manifest. 1944/45 war die Volksfront ein reifer Gedanke, später, nach der Erfahrung der sowjetischen Wirklichkeit, erfuhr sie allerdings einen kalten Guß. Wäre in einem deutschen Land eine politische Renaissance nach diesem Programm erfolgt - genügend demokratische Modernität trug es in sich -, so käme diesem Plakat heute ein großer urkundlicher Wert zu. Aber auch so, in seiner versuchten und fast 16
Thape, Buchenwalder Tagebuch, 1.5.1945, S. 669.
17
Privatarchiv Martin/Brill, Brill, Tagebuch 1945/46.
18 Abdruck in: Manfred Overesch, Machtergreifung von links. Thüringen 1945/46, Hildesheim 1993, s. 94.
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gelungenen Vernichtung, bleibt es ein Dokument von historischem Wert. Es ist die plakative Popularisierung des Buchenwalder Erbes. Der politische Wert des Buchenwalder Manifests vom 13. April und des Plakats vom 9. Juli 1945 ist ungleich höher als jener der monumentalisierten Buchenwalder Legende, die der mächtige Glockenturm auf dem Ettersberg in die Lande hineinkündet. Dieser Kyffhäuser der DDR sollte eine Kontinuität sinnfallig machen, die es so nicht gegeben hat. Gehen wir also zurück zu jenen Quellen, die ihre Dignität in sich tragen.
Zu Formen des praktischen Umgangs mit Erbe und Traditionen in der DDR Von Helmut Meier
Die in der DDR bestehenden Herrschaftsverhältnisse brachten es zwangsläufig mit sich, daß gesellschaftlich bedeutsame Fragen nur breit diskutiert und zu praktischer Wirksamkeit gebracht werden konnten, wenn sie von der politischen Führung als im Einklang mit ihren Zielen sanktioniert worden waren. Daraus darf jedoch kein Schema für die Betrachtung der DDR-Geschichte gemacht werden; denn damit ist noch keineswegs ausgemacht, wo die Ausgangspunkte für einzelne Prozesse lagen und welche realen Ergebnisse damit verbunden waren. Da es heute gang und gäbe ist, alles in der DDR nur als Ausfluß des politischen Machterhaltes und Machtinteresses der Führung zu deuten, bleibt weitgehend unberücksichtigt, daß es auch Erscheinungen gab, die ihren Ursprung in bestimmten Bereichen der Gesellschaft hatten und die von der Führung wohl oder übel aufgegriffen wurden, bzw. aufgenommen werden mußten. Ganz zu schweigen davon, daß es auch Dinge gab, bei denen sich die Interessen breiter Bevölkerungskreise mit den Auffassungen der Führung trafen. Ein solches Herangehen wird jedoch der Wirklichkeit in der DDR nur höchst unvollkommen gerecht. Die Funktionstüchtigkeit der DDR und ihre über lange Zeit vorhandene politische Stabilität beruhten, wie in nahezu allen Staaten, auf einem gewissen Maße an Konsens und Kooperation, innerhalb derer unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche und Gruppen durchaus initiativ wurden. Die entscheidende Ursache ist darin zu suchen, daß der Anspruch oder die Ziele sozialistischer Gesellschaftsgestaltung bei einer unterschiedlich großen Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern über lange Zeiträume hinweg Akzeptanz fanden . Der Untergang der DDR erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß selbst für Träger des Systems jener Zusammenhang zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Sozialismus nicht mehr als vorhanden wahrgenommen werden konnte, und der Konsens und die darauf beruhende Kooperation mit der Führung verlorengegangen war.
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Helmut Meier
Für eine sachliche Untersuchung und Darstellung der Geschichte der DDR, die der Gesamtheit der Verhältnisse und Bedingungen gerecht werden will, ist es unerläßlich, die inzwischen gängigen Klischees der Betrachtungsweise aufzubrechen und sich von einer bloßen "Enthüllungshistorie" zu verabschieden. Es geht nicht an, sich damit zu begnügen, hinter allen Erscheinungen lediglich die allzeit und überalllenkende Hand der SED aufzusuchen und, wenn sie gefunden wurde, die Untersuchung als erledigt zu betrachten. Ein Thema, das in dieser Hinsicht nach meinem Dafürhalten geeignet ist, die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeil des tatsächlichen Lebens deutlich zu machen, sind die im Gefolge der Diskussion um ein umfassenderes Erbe- und Traditionsverständnis in den Regionen der DDR betriebenen Bemühungen, aus den formulierten Standpunkten praktische Schlußfolgerungen zu ziehen. Selbst der in der Enquete-Kornmission des Deutschen Bundestages gehaltene Beitrag zur Erbe- und Traditionspflege in der DDR von Manfred Ackermann kommt nicht umhin, sich mehrfach die Frage vorzulegen, ob hier nicht u. U. mehr als bloße ideologische Indoktrination und Instrumentalisierung aufzufinden sein könnte. 1 Die in der Geschichtswissenschaft der DDR seinerzeit vorsichgegangene Debatte über ein der sozialistischen Gesellschaft gemäßes Erbe- und Traditionsverständnis soll hier nicht ausgebreitet werden. Es gibt darüber bereits eine ziemlich umfangreiche Literatur, die sich um eine breit gefächerte Erklärung dieser Erscheinung bemüht und deutlich kritische und selbstkritische Akzente enthält. 2 Es soll an dieser Stelle nur gesagt werden, was für das hier ange1 Vgl. Manfred Ackermann: Phasen und Zäsuren des Erbeverständnisses der DDR. ln: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Dikta~r in Deutschland" (12.Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd.III/2Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft der DDR. Baden-Baden/Frankfurt a.M. 1995, S. 768 ff. 2 Einen Überblick über die Historikerdiskussion gibt der Sammelband: Erbe und Tradition in der DDR. Die Diskussion der Historiker. Herausgegeben von Helmut Meier und Wa/ter Schmidt. Berlin 1988. - Vgl. Sigrid Meusche/: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR. In: edition suhrkamp, Neue Folge Band 688, Frankfurt/Main 1992, S. 283 ff.; - Vgl. weiter: Das Erbe und das Erben. Erberezeption und Traditionsverständnis im Ost-West-Spannungsfeld mit den Beiträgen von Jürgen Hofmann: Misere oder Krönung? Anmerkungen zu Erbestrategien, S. 91 ff.; - Georgi Verbeeck: Erbe- und Traditionsverständnis in Deutschland - Beurteilungsversuch aus nichtdeutseher Sicht, S. 98 ff.; - Walter Schmidt: Zu Leistungen, Grenzen und Defiziten der Erbedebatte der DDR-Historiker, 8.106 ff.; · Wolfgang Küttler: Geschichtliches Erbe und historische Orientierung. Gedanken zum Umgang mit deutschen Vergangenheiten, 8.116 ff; -Helmut Meier: Anliegen und Ergebnisse der Erbe- und Traditionsdebatte in der Geschichtswissenschaft der DDR, 8.123 ff.; In: Eberhard Fromm und Hans-fürgen Mende (Hg.): Vom Beitritt zur Vereinigung. Schwierigkeiten beim Umgang mit deutsch-deutscher Geschichte. Berlin 1993. - Vgl. auch: Rolf Richter: ÜberUneingelöstes im Antifaschismus der deut-
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schnittene Thema notwendig ist. Die Historiker der DDR haben mehrfach Vorstöße unternommen, schematisch vereinfachende und verengende Formen der Geschichtsbetrachtung durch ein die geschichtliche Realität tiefer auslotendes Bild zu ersetzen. Das geschah jedoch nicht aus Gegnerschaft gegen den Sozialismus und auch nicht gegen die SED, sondern getragen von der Überzeugung, daß eine differenzierte Analyse der Geschichte überzeugender die historische Verwurzelung der DDR zu begründen vermochte. Trotz dieser eigentlich, um einen neudeutschen Terminus zu verwenden, "systemtreuen" Zielstellung stießen ihre Bemühungen bei der Führung der SED durchaus nicht immer auf Gegenliebe. In den 70er Jahren, als die DDR einigermaßen stabilisiert und weltweit anerkannt war, schien die Situtation günstig, einen unbefangeneren und souveräneren Umgang mit der Geschichte durchzusetzen. Tatsächlich gelangen einige Durchbrüche durch bisher ängstlich gehütete Begrenzungen. Der bereits zitierte Ackermann spricht z.B. im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen zur preußischen Geschichte in den 70er Jahren von "einer beachtlichen Wendung in der Geschichtsschreibung der DDR" .3 Den Historikern der DDR ging es dabei um mehr Konsequenz in der Anwendung der marxistischen Geschichtsbetrachtung und um Abbau der bislang vorherrschenden verkürzten Betrachtungsweise. Das wird aus dem theoretischen Konzept ersichtlich. In der westdeutschen Auseinandersetzung kapriziert man sich bei der Interpretation der Unterscheidung zwischen "Erbe" und "Traditionen" häufig darauf, darin einen ideologischen Trick zu sehen, alte Denkmuster mit den ihnen entgegenstehenden neuen Sichten einigermaßen in Einklang zu bringen. Tatsächlich hat das eine taktische Rolle gespielt, um bei der Führung leichter Akzeptanz für bisher ungewohnte Überlegungen zu erreichen. Allerdings konnten dadurch nur bedingt das vorhandene Mißtrauen und die Sorge, differenziertere Darstellungen könnten unverrückbar angesehene Positionen ins Wanken bringen, zerstreut werden. Auf seiten der Historiker der DDR lagen der Unterscheidung von Erbe und Tradition jedoch andere Motive zugrunde. Ich kann das so bestimmt sagen, weil ich mich zu den Inauguratoren der Debatte rechnen muß. Daß "Erbe" als gesamte Hinterlassenschaft der Geschichte definiert wurde, war ein entschiedenes Plädoyer dafür, geschichtliche Ereignisse, Erscheinungen sehen kommunistischen Bewegung. In: Gibt es erledigte Fragen an die Geschichte? Beiträge eines wissenschaftlichen Kolloquiums aus Anlaß des 65. Geburtstages von Walter Schmidt am 1. Juli 1995 in Berlin. Herausg. v. Wolfgang Küttler und Helmut Meier, Bd. 5 der Schriftenreihe des Vereins Gesellschaftswissenschaftliches Forum e.V . "Gesellschaft - Geschichte - Gegenwart", Berlin 1996, s. 58ff. 3
Vgl. Ackermann a.a.O., S. 785 .
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und Entwicklungen zunächst einmal unverkürzt als gegebene Tatsachen zu akzeptieren. "Dieses Erbe ist objektiv gegeben, d.h. auf seine Gestalt, seine Struktur und seinen Charakter kann im Nachhinein kein Einfluß mehr genommen werden. Es umschließt sowohl bedeutende Leistungen, achtungsgebietende Handlungen und bewunderungswürdige Schöpfungen des menschlichen Geistes als auch klägliches Versagen, verabscheuungswürdige Verbrechen und finsterste Reaktion. Es ist so vielgestaltig und widersprüchlich, wie die Geschichte eben ist. "4 Dieser Standpunkt hatte gewollte Weiterungen. Er zielte darauf, z.B. anzuerkennen, daß die geschichtlichen Voraussetzungen für die DDR nicht nur auf die Geschichte der Arbeiterbewegung begrenzt werden dürfen. Er forderte vielmehr, die Geschichte als ganze auf ihren Zusammenhang mit der eigenen Entwicklung zu durchleuchten. Damit nötigte er auch zur Aufgabe der Verfahrensweise, sich selber nur auf die angenehmen Seiten der Geschichte zu beziehen, die unangenehmen aber der gegnerischen Seite zuzuordnen. Er enthielt im Kern die Anerkennung der Tatsache, daß nicht nur die DDR sondern auch die BRD Erbin der Hinterlassenschaft der deutschen Geschichte ist. Welche Brisanz in dieser Debatte steckte, zeigten die heftigen Reaktionen aus den Reihen der Widerstandskämpfer auf die Forderung, sich auch der Tatsache zu stellen, daß der Faschismus und seine Verbrechen nicht aus der geschichtlichen Erbschaft der DDR ausgeklammert werden dürfen. Die Unterscheidung des Traditionsbegriffs vom historischen Gesamterbe, als von Klassen- und Gegenwartsinteressen bestimmte Heraushebung von Teilen des Erbes, hatte ebenfalls weitreichende Konsequenzen für die Traditionspflege. Er schloß den Gedanken ein, zwischen geschichtlichem Realprozeß und ideologischer Bewertung von Geschichtlichem deutlich zu unterscheiden. Das hatte insofern Weiterungen, als die als Traditionen bewerteten geschichtlichen Tatsachen und Leistungen und deren Träger als Teil des Erbes genauso wie die Gesamtgeschichte der kritischen Sonde der Wissenschaft unterworfen werden sollten. Das hieß eben, sorgfältig zu untersuchen und zu begründen, worin ihre realen vorwärtsweisenden Leistungen und Wirkungen bestanden, weswegen sie Gegenstand der Traditionspflege sein sollten. Gleichzeitig mußten sie sich auch gefallen lassen, daß vorhandene negativ zu bewertende Einflüsse nicht mehr ignoriert wurden. Praktiziert wurde die Betrachtungsweise überzeugend an Persönlichkeiten wie Martin Luther und Thomas Müntzer, deren Denken und 4 Helmut Meier: Erbe- und Traditionspflege und das historische Selbstverständnis der sozialistischen Gesellschaft in der DDR. In: Perspektiven gesellschaftlicher Entwicklung in beiden deutschen Staaten. Materialien eines Symposion aus Anlaß der Ossietzky-Tage 1987 an der Universität Oldenburg. Hg.v. Friedrich W.Busch . Oldenburg 1988, S . 164 f.
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Handeln nunmehr in bedeutend größerer Differenziertheit untersucht und dargestellt wurde. Trotz ihrer Zuordnung zu den revolutionär-demokratischen Traditionen wurde auch ihre Widersprüchlichkeil nicht mehr eingeebnet und Kritik an ihren rückwärtsgewandten Anschauungen und begangenen Fehlern geübt. Sehr bald wurde ersichtlich, daß dieses Herangehen, das zuerst mit Beifall bedacht wurde, weil es u.a. auch positive Aufmerksamkeit im westlichen Ausland fand, geeignet war, eine Reihe von streng gehüteten Tabus zu zerstören. Wurde es allgemeines Prinzip im Umgang mit der Geschichte, dann ließen sich kritische Fragen an die Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, insondernheit der kommunistischen Parteien, und die Geschichte der DDR, dabei auch der SED, nicht abweisen. Tatsächlich zeigten sich bei diesen Gegenständen, die schädlichen Auswirkungen der von der Führung reklamierten und von den Gesellschaftswissenschaftlern tolerierten These von der Einheit von Wissenschaft und Politik. Sie bedeuteten die Unterordnung der Wissenschaft unter das politische Herrschaftsinteresse der Führung. Diese befürchtete, daß die kritische Auseinandersetzung mit dem Wirken und der Rolle der der eigenen Traditionslinie zugeordneten Kräfte sich auch auf sie selber ausdehnen könnte. Wenn das von den Historikern auch zunächst kaum beabsichtigt war, dürfte klar sein, daß diese Befürchtungen nicht unbegründet waren. Die negativen Auswirkungen dieses von der Führung bekundeten Unbehagens führten zur scharfen Ablehnung einer kritischen Durchleuchtung der Geschichte der Arbeiterbewegung und der DDR, blieben aber nicht auf diese politisch besonders befrachteten Teile der Geschichte beschränkt, sondern behinderten auch Diskussionen über andere Fragen der Geschichte. All das ist im Auge zu behalten, wenn man die Versuche betrachtet, in Territorien, Städten und Gemeinden die praktische Erbe- und Traditionspflege auf neue Grundlagen zu stellen. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre beginnt in den Bezirken, Kreisen, Städten und Gemeinden der DDR die Arbeit an "Langfristigen Orientierungen" zur Erforschung, Pflege, Verbreitung und Aneignung des kulturellen Erbes und der revolutionären Traditionen. Diese Dokumente entstehen auf der Grundlage von zentralen Empfehlungen und Vorgaben, die vom "Nationalen Rat der DDR zur Pflege und Verbreitung des deutschen Kulturerbes" beim Ministerrat der DDR ergingen. Dennoch zeigt der Ablauf dieses Prozesses, nämlich der Zeitrahmen und die Art und Weise der Materialien, daß diese Aufgabe auf erkennbar unterschiedliche Weise angegangen und umgesetzt wurde. Als der genannte Rat im Dezember 1982 empfahl, in allen Bezirken und nachfolgend auch in
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Kreisen und größeren Städten langfristige Konzeptionen für die Erforschung, Pflege und Nutzung ihres Erbes und ihrer Traditionen zu erarbeiten, konnte er sich auf ein bereits vorhandenes Beispiel berufen, das im Bezirk Erfurt geschaffen worden war, der bereits im Jahre 1977 eine solche "Erbe- und Traditionskonzeption" verabschiedet hatte. Der "Nationale Rat zur Pflege und Verbreitung des deutschen Kulturerbes" war als spezielles Organ des Ministerrates im September 1980 gebildet worden, um Aktivitäten auf diesem Gebiet anzuregen und zu koordinieren.~ Seine Empfehlung an die Bezirke, sich mit dem Erbe und den Traditionen ihres Territoriums zu beschäftigen und für ihre Aufarbeitung, Verbreitung und Pflege Konzepte zu entwickeln und Programme auszuarbeiten, hatte jedoch keineswegs eine umgehende flächendeckende Umsetzung im Gefolge. Die Bezirke Schwerin und Dresden faßten 1984 ihre Beschlüsse dazu und folgten am raschesten der Aufforderung des Regierungsorgans. Eine größere Gruppe der übrigen territorialen Einheiten folgten in gemäßigtem Tempo bis etwa 1987. Ostberlin, Hauptstadt und Regierungssitz der DDR, gelangte überhaupt nicht zu Stuhle. Als Angehöriger der Arbeitsgruppe, die die Vorarbeiten für die Beschlußfassung über ein solches Dokument für Ostberlin leisten sollte, ist mir erinnerlich, daß über erste konzeptionelle Überlegungen nicht hinausgelangt wurde. Sicherlich muß man bei Betrachtung dieser Angelegenheit unbedingt berücksichtigen, daß sich in der Länge der Prozedur auch zeigt, daß kulturpolitische Fragestellungen nicht gerade Priorität im politischen System der DDR genossen. Es gab zudem sicherlich in dem hier in Rede stehenden Zeitraum gewiß brennendere Fragen, als darüber nachzudenken, wie historische Denkmale, Gebäude, Bauensembles, Parks, Naturschönheiten, Persönlichkeiten und kulturell-künstlerische Leistungen untersucht, gepflegt und genutzt werden könnten. Insofern lag auf den verantwortlichen Gremien nicht ein solcher Druck, auf die zentralen staatlichen Weisungen umgehend mit Aktivitäten zu reagieren. Andererseits reichte das Gewicht der interessierten Gremien, Organisationen, Gruppen und Persönlichkeiten nicht aus, um eine zügige Umsetzung der zentralen Vorgaben zu bewirken. Das bedeutet jedoch nicht, daß die im Zusammenhang mit der Entstehung der vorhandenen Arbeitsdokumente für einen langfristigen intensiven Umgang mit 5 Vgl. Bericht des Nationalen Rates der DDR zur Pflege und Verbreitung des deutschen Kulturerbes über Ergebnisse und Erfahrungen bei Pflege und Verbreitung des deutschen Kulturerbes seit dem X.Parteitag der SED. In: Unsere sozialistische Erbepflege dient dem Frieden und dem Wohl des Volkes. Ergebnisse und Erfahrungen bei der Pflege und Verbreitung des deutschen Kulturerbes seit dem X.Paneitag der SED, Dokumentation von der Tagung am 20.12. 1985 beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR Willi Stoph, S. 88 f. - Hier werden die Aufgaben des Rates in vier Punkten umrissen.
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dem geschichtlichen Erbe aufgewandten Aktivitäten nicht der Rede wert wären. Im Gegenteil, unter den obwaltenden Umständen gebührt ihnen gerade nicht nur Respekt, sondern auch sorgfältigste Analyse. Was geschah da eigentlich in den Territorien, Städten und Gemeinden? 6 Ein nur oberflächlicher Blick in die vorliegenden Materialien belehrt darüber, daß zunächst einmal, zwar nicht überall im gleichen Maße und auch nicht mit der gleichen Gründlichkeit und Sachkunde, ein intensives Nachdenken darüber begann, was denn eigentlich das Erbe in der jeweiligen Region ausmacht und welchen Traditionen man Pflege angedeihen lassen sollte. Dabei findet sich so manche bloße einfache Wiederholung der regierungsamtlich vorgegebenen Stichworte. Wer mit der DDR-Wirklichkeit vertraut ist, weiß aber auch, daß es gerade, wenn man eigene Gedanken und Gesichtspunkte geltend machen wollte, um so notwendiger war, demonstrativ Konformität mit den politischen Vorgaben zu bekunden. So finden sich in allen vorhandenen Dokumenten als unverzichtbare "Pflichtbestandteile" politische Absichtserklärungen, mit der Aufarbeitung, Pflege und Nutzung des historischen Erbes die DDR "zu stärken". Fortschrittscharakter des Sozialismus, seine Rolle als Friedensfaktor in der Welt, kurz: die historische Legitimität der DDR wurden unmittelbar damit verbunden, sie als Erbin alles Progressiven, Revolutionären, Guten und Schönen erscheinen zu lassen. Immer wieder wird die Erwartung ausgesprochen, mit der angestrebten Erbe- und Traditionspflege ein Beitrag zur Identifizierung der Bürger mit dem Sozialismus, dem Staat DDR und der Politik seiner Führungskraft, der SED, zu leisten. Es kann also nicht in Zweifel gezogen werden, daß sowohl die theoretischwissenschaftlichen Diskussionen in der Geschichtswissenschaft und anderen Disziplinen, als auch die Aktivitäten auf vielen Feldern des gesellschaftlichen Lebens der politischen Stabilisierung des gesellschaftlichen Systems und mithin der politischen Machtverhältnisse untergeordnet waren. Daraus mag sich übrigens auch herleiten, daß manche einflußreichen Funktionäre in den Bezirken gar keinen Anlaß sahen, gesonderte Anstrengungen zu unternehmen, um für ihre Verantwortungsbereiche eigene Erbe- und Traditionskonzeptionen zu erarbeiten. Für sie waren die Positionen zentral ohnehin bestimmt, alles weitere war nur Sache der örtlichen Umsetzung von bereits vorgegebenen Normativen. 6 Die nachfolgenden Darlegungen fußen auf der Untersuchung folgender "'Langfristiger Orientierungen zur Pflege, Verbreitung und Aneignung des kulturellen Erbes und der revolutionären Traditionen"' der Bezirke Erfurt (1977), Dresden und Schwerin (1984), Suhl (1985), Rostock (1986), Frankfurt/Oder, Gera und Karl-Marx-Stadt (1987) , der Kreise Bischofswerda, Delitzsch,Löbau, Schmölln und Zittau (1985), Leipzig, Borna und Nordhausen (1986), Bautzen (1987); der StädteJena und Leipzig (1987), sowie Weimar (o .J.) und der Gemeinde Wolkramshausen( 1987).
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Auch in Territorien, in denen eigene Papiere verabschiedet wurden, scheint es nicht ausgeschlossen, daß die Verantwortlichen es sich leicht machten, indem sie einfach nur die zentralen Weisungen abschrieben. Es wurden nur recht willkürlich diese oder jene örtlichen Beispiele eingesetzt, um den Eindruck eigenständiger Ausarbeitung zu erwecken. Alles, was in dieser Hinsicht dem Sachkenner durchaus bewußt ist, schafft aber nicht aus der Welt, daß trotzdem beträchtliche geistige Potentiale mobilisiert und anerkennungswürdige Arbeit geleistet wurde. Das soll vor allem am Beispiel des Bezirkes Dresden verdeutlicht werden. Die "Langfristige Orientierung zur Pflege, Verbreitung und sozialistischen Aneignung des kulturellen Erbes und der revolutionären Traditionen im Bezirk Dresden", die vom zuständigen Rat am 27.Juni 1984 als Beschluß Nr.163/84 verabschiedet wurde, liegt gedruckt in zwei Teilen der "Dresdner Hefte" vor. 7 Außer der gewissermaßen "kulturpolitischen" Aufgabenstellung enthält sie eine 26-seitige Studie zur "kulturgeschichtlichen Entwicklung auf dem Gebiet des heutigen Bezirkes Dresden" und eine Zusammenstellung der "Höhepunkte, Jubiläen und Gedenktage im Bezirk Dresden bis zum Jahr 2000" (!), die auf fast 120 denkwürdige Daten orientiert und offensichtlich noch als erweiterungsbedürftig angesehen wurde; denn sie ist ausdrücklich als "Auswahl" deklariert. Weiterhin wurde eine 36-seitige Bibliographie regionalgeschichtlicher Publikationen aufgenommen. Eine instruktive Zusammenstellung von "Stätten und Einrichtungen der Erbepflege im Bezirk Dresden" beschließt die Publikation. Was die letzten Bestandteile des Materials angeht, hatte man sich an dem Erfurter Programm ein Besipiel genommen. Auch in dem Thüringer Bezirk hatte man eine Liste der Jahres- und Gedenktage, der Literatur und der kulturellen Einrichtungen in den Beschluß aufgenommen.8 Man kann sagen, daß alle vergleichbaren Materialien diesen operativen Zuschnitt aufwiesen. Diese äußerst praxisorientierte Formgebung, in der der staatlichen Weisung nachgekommen wurde, deutet daraufhin, daß die Urheber keine bloßen Deklarationen verfassen wollten, sondern in hohem Maße eine Handreichung für eine als notwendig und wichtig eingestufte Arbeit. Diese Zielstellung wird auch deutlich ausgesprochen: "Insgesamt wird mit dieser Orientierung das Ziel verfolgt, sowohl eine auf lange Sicht konzipierte, neuen Erkenntnissen offenstehende, marxistische Erbeaneignung auf den verschiedensten Gebieten durch die örtli7 Vgl. Dresdner Hefte, Herausgeber: Rat des Bezirkes Dresden, Abt. Kultur, Kulturakademie des Bezirkes Dresden, 5/84, Teil I und Teil II. 8 Vgl. Langfristige Orientierung zur Pflege, Verbreitung und sozialistischen Aneignung des kulturellen Erbes und der revolutionären Traditionen im Bezirk Erfurt (1977), S.47 ff.
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chen Räte, gesellschaftlichen Organisaitonen, wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen zu sichern, als auch den Abgeordneten und Kulturfunktionären umfangreiches Faktenmaterial zu diesem Gebiet zur Verfügung zu stellen, dessen Bedeutung für die Entwicklung des Geschichts- und Heimatbewußtseins unserer Menschen in den letzten Jahren stark gewachsen ist. "9 Die Ausführung der bekundeten Absichten beginnen die Dresdener mit dem Versuch, die erbe- und traditionspolitischen Aufgaben aus dem eigenen unverwechselbaren geschichtlichen Profil herzuleiten. Es heißt darin: "Die nationale und internationale Geltung unseres Territoriums als Zentrum bedeutender Kulturleistungen, herausragender Sammlungen der Wissenschafts- und Kunstentwicklung ist zutiefst mit seiner ereignisreichen historischen Entwicklung verbunden. Daraus erwächst die Aufgabe, die Ereignisse und Werte der Geschichte auf der Grundlage exakter Kenntnisse und in Verbindung mit neuesten wissenschaftlichen Forschungen in unsere gesellschaftlichen Realität einzubringen und sie für die Bewältigung der Gegenwartsaufgaben sinnvoll zu nutzen. " 10 Die Herstellung der Übereinstimmung mit den regierungsoffiziellen Vorgaben erfolgt stets mit Bezug auf den für den Bezirk typischen Erbe- und Traditionsbestand. Dabei wird das ernsthafte Bemühen deutlich, dem umfassenden Charakter des damals entwickelten Erbeverständnisses zu entsprechen. Es werden nicht nur die politischen und sozialen Bewegungen und Kämpfe als Quellen für Traditionen genannt, sondern auch der Umgang mit Natur und natürlicher Umwelt, kulturelle, künstlerische und wissenschaftliche Leistungen. Desgleichen werden Körperkultur und Sport, Volksfeste, Sitten und Bräuche aufgeführt. Dabei folgen die Dresdner Autoren dem Konzept der "Landeskultur", das in den 60er Jahren in der DDR e:otwickelt wurde und eine komplexe Sicht auf die natürliche und die gestaltete Umwelt vorsah. So wird darauf orientiert, bei der Erhaltung, Pflege und Nutzung der großen Landschaftsschutzgebiete auch die landschaftlich und historisch wertvollen Ortslagen, Bauensembles und Einzelbauten, aber auch die Parkanlagen und Denkmale zu beachten. 11 Der Abriß der geschichtlichen Entwicklung, der dem Material beigefügt ist, läßt die Feststellung zu, daß hier die Absicht vorherrschte, sich sehr umfassend und mit weitreichender Unbefangenheit dem geschichtlichen Erbe zuzuwenden. Dafür spricht, daß dieser Abriß sehr zurückhaltend Wertun9
Dresdner Hefte, Teil I, a.a.O., S. l.
10
Ebenda, S.2
11
Vgl. ebenda, S. 20 ff.
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gen trifft und vielmehr durch Hinweis auf möglichst viele Tatsachen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen geprägt ist. Das gilt selbst für die Abschnitte nach 1945, die weit weniger mit ideologischem Ballast befrachtet sind als in vergleichbaren anderen Ausarbeitungen. Die aus einigen Kreisen des Bezirkes Dresden vorliegenden kreisliehen Dokumente folgen dem Beispiel des Bezirkes, was die Breite der anvisierten Problemkreise angeht. 12 Der historische Vorspann entfällt hier zumeist oder man übernimmt einfach den Text aus der bezirkliehen Orientierung, wie das die Bischofswerdaer taten. Nachdrücklich wird die Langfristigkeil betont, die den gestellten Aufgaben zugemessen wird. Man kann dem Material entnehmen, daß die Autoren sie bewußt als eine ständige Aufgabe verstanden wissen wollten. Die Auseinandersetzung mit Erbe und Traditionen wird zu einem gesamtgesellschaftlichen Anliegen erhoben, für das staatlich-administrative Organe zwar eine besondere Verantwortung haben, das letztlich aber nur bewältigt werden kann, wenn sich seiner die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräfte annehmen. Deshalb werden die verschiedenen Organisationen und Institutionen angesprochen, mit ganz besonderem Nachdruck der Kulturbund der DDR. Letzterer verdiente ohnehin eine eingehende gesonderte historische Untersuchung. Alle, die in seinem Rahmen gewirkt haben, wissen um die äußerst wertvollen Aktivitäten, die von ihm ausgelöst wurden. Den Kulturbund muß man als jene Institution ansehen, die am kontinuierlichsten und hartnäckigsten der Verbreitung von Kenntnissen über das geschichtliche Erbe und der Beschäftigung mit ihm gedient hat. Seine Mitglieder und Sympathisanten haben zudem die umfassendste praktische Arbeit in dieser Hinsicht geleistet. In den südlichen Bezirken hatte er seine stärksten Positionen. Es ist also nicht verwunderlich, wenn in dem Dresdner Material auf sechs Seiten ausführlich sein Potential für die Verwirklichung der Erbe- und Traditionsarbeit im Bezirk angesprochen wird. 13 Keine andere Konzeption macht sich die Mühe, so detailliert die Aufgaben und Möglichkeiten auszuformulieren, die von den einzelnen kulturellen Einrichtungen des Territoriums zu erfüllen sind. Kein potentieller Mitträger wird ausgelassen. Von den Denkmalpflegeeinrichtungen über die Museen, die 12 Vgl. Langfristige Orientierung zur Pflege, Verbreitung und Aneignung des kulturellen Erbes und der revolutionären Traditionen im Kreis Bautzen, Beschluß des Kreistages 1987; Die Aufgaben der staatlichen Organe und gesellschaftlichen Organisationen im Kreis Bischofswerda zur Verwirklichung der "Langfristigen Orientierung zur Pflege, Verbreitung und sozialistischen Aneignung des kulturellen Erbes und der revolutionären Traditionen im Bezirk Dresden", Vorlage 27185, Kreistag 13.6.1985 und Langfristige Orientierung zur Pflege, Verbreitung und sozialistischen Aneignung des kulturellen Erbes und der revolutionären Traditionen im Kreis Löbau. Beschluß Nr.38 für den Kreistagam 18.April 1985. 13
Vgl.Dresdner Hefte, Teil I. a.a.O ., S.8 ff.
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Archive und Bibliotheken bis zu den Verlagen reicht die Liste. Wichtig ist dabei jedoch vor allem, daß ihnen nicht nur Auflagen erteilt werden, sondern daß sie in die Ausarbeitung des Dokuments einbezogen waren. Sie fanden sich also mit ihren Vorschlägen in dem Beschluß wieder. Mehr oder weniger ist diese in Dresden geübte Praxis auch an anderer Stelle zu finden. Es wäre aber übertrieben, davon auszugehen, daß überall mit der gleichen Sorgfalt und mit einem solchen wissenschaftlichen Aufwand gearbeitet wurde. Was die detaillierte Aufbereitung der geschichtlichen Entwicklung angeht, so läßt sich eigentlich nur die Rostocker "Konzeption" dem Dresdener Beispiel an die Seite stellen. 14 Die "Regionalgeschichtliche Einführung" umspannt den gesamte Zeitraum von der Vor- und Frühgeschichte bis zur Bezirksgeschichte in der DDR. Auch die für die Stadt Jena erarbeitete Konzeption enthält einen historischen Überblick, der allerdings nur bis zum Jahre 1945 reicht (!). 1s Die anderen vorliegenden Materialien verzichten zwar nicht auf historische Verweise und benennen Elemente ihres Erbe- und Traditionsfundus aus der Geschichte, aber sie stellen ihren konkreten Aufgabenstellungen keinen geschlossenen Abschnitt voran, in dem die konzeptionellen Aussagen über Erbe und Tradition Substanz gewinnen. Ohne zu unterstellen, daß dem die Absicht zugrundelag, sich um die komplizierte Frage herumzudrücken, wie denn der Anspruch einer umfassenden historischen Verortung realisiert werden soll, wird man doch nicht ausschließen können, daß man u.U.Schwierigkeiten aus dem Wege gehen wollte, die zu befürchten waren, wenn bisher geübte Bräuche des Umgangs mit der Geschichte angetastet wurden. Keine bloße Vermutung ist aber die Feststellung, daß einige Territorien nicht über die erforderlichen Vorarbeiten und Kapazitäten verfügten, um detailliert und kompetent Aussagen zu treffen, welche Gegenstände in eine umfassende Erberezeption einzubeziehen waren. So erwecken eine Reihe von Dokumenten den Eindruck, daß ihre orientierenden Passagen lediglich den Vorgaben der übergeordneten Organe folgen, weiterführende Überlegungen im gleichen Atemzuge durch verengende Formulierungen relativiert werden, bzw. eigentlich seit langem bekannte Standpunkte wiederholt werden. Sobald jedoch die Erberezeption in den konkreten Arbeitsbereichen angesprochen wird, sind oftmals die Grenzüberschreitungen mit Händen zu greifen. Diesen Eindruck hinterlassen die aus Erfurt, Gera, Frankfurt/Oder, Schwerin und Suhlstammenden Ausarbeitungen ebenso, 14 Vgl. Beschluß Nr.l3-2/86 des Bezirkstages Rostock "Konzeption zur Aneignung und Pflege des kulturellen Erbes im Bezirk Rostock. Herausgeber: Rat des Bezirkes Rostock, Abt.Kultur. s. 5 ff.
15 Vgl. Erbe und Traditionen der Stadt Jena. Aufgaben zu ihrer Bewahrung und Erschließung. Herausgeber: Kulturbund der DDR, Kreisleitung Jena-Stadt /Rat der Stadt Jena, Abt. Kultur. (o.J .).
10 nmmermann
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wie die aus den jeweiligen Kreisen der Bezirke. Es ist offensichtlich, daß es von Personen und der von ihnen nicht unwesentlich beeinflußten Atmosphäre in den Territorien abhing, ob an altgewohnten Vorstellungen festgehalten wurde oder ob es möglich war, sich neuen Gesichtspunkten zu öffnen. Die beschlossenen Fassungen der Dokumente lassen sicherlich nicht alles erkennen, was auf diesen Prozeß Einfluß gehabt hat, aber manches läßt sich schon entnehmen. Schließlich war es für politisch interessierte DDR-Bürger kein Geheimnis, in welchen Bezirken Verantwortliche wirkten, die manches großzügiger handhabten, und in welchen ein ideologisch "straffes" Regiment herrschte. So dürften es die Dresdener wesentlich leichter gehabt haben, Erbe- und Traditionsvorstellungen zugrundezulegen, in denen unterschiedlichen Elementen und Erscheinungen der Geschichte ihr legitimer Platz eingeräumt wurde, als beispielsweise die Erfurter, Geraer und Schweriner, deren Bezirkschefs der SED nicht gerade in dem Rufe standen, für neue und ungewöhnliche Fragen aufgeschlossen zu sein und allzu viele Diskussionen zuzulassen. Die Darlegungen des zuständigen Mitgliedes des Rates des Bezirkes Dresden, Dr.Klaus Schumann, auf Tagungen machten das recht deutlich. Sie zeigten übrigens auch, wie breit der Personenkreis und der Kreis der Institutionen war, die in die Ausarbeitung des Dresdner Papiers einbezogen waren. Er spricht allein von fast "500 Leuten", denen Gelegenheit gegeben wurde, sich zum Entwurf der "Orientierungen" zu äußern und deren Meinungen für die Endfassung herangezogen wurden. 16 Auch wenn sich nicht behaupten läßt, daß· in allen Territorien, die sich Arbeitsdokumente für den Umgang mit geschichtlichem Erbe gaben, der Prozeß der Entstehung in gleicher Weise breiteste Kreise einbezog, so sind alle nicht ohne Mitwirkung von Wissenschaftlern, Laienforschern auf dem Gebiet der Heimatgeschichte, Natur- und Heimatfreunden, Kulturfunktionären und kulturell Tätigen entstanden. Das kann man ohne Einschränkung sagen. Wie stark die Einflußnahme war, hing von sehr vielen Faktoren in den jeweiligen konkreten Territorien ab. Das spricht dafür, daß es ein ziemlich weit reichendes Interesse in der Bevölkerung gab, sich mit dem geschichtlichen Erbe vertraut zu machen, es sich anzueignen und es zu pflegen. Die von westdeutschen Beobachtern geäußerte Meinung, daß die ganze Erbeund Traditions-Debatte der Historiker und anderer Gesellschaftswissenschaftler lediglich esoterischen Charakter trug und keine größere Resonanz in der Bevöl-
16 V gl. Erbe und Tradition in der Geschichte der DDR. Dokumentation der gemeinsamen Tagung des Nationalen Rates der Deutschen Demokratischen Republik zur Pflege und Verbreitung des deutschen Kulturerbes und des Präsidiums der Historiker-Gesellschaft der DDR, Berlin, 3.0ktober 1984, S.47.
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kerung gefunden habe 17 , bedarf daher unbedingt einer Korrektur. Es ist zwar richtig, daß der differenzierende Umgang mit historischen Ereignissen und Persönlichkeiten, der in der Wissenschaft Platz zu greifen begann, das System und die Struktur der Geschichtspropaganda in der DDR nicht mehr grundlegend zu verändern vermochte. Das Beharrungsvermögen in den eingespielten Apparaten und Institutionen (Schule, SED- und FDJ-Lehrjahr, weitgehend auch die Medien) konnte nicht wesentlich erschüttert werden. Punktuell schlug aber die Erweiterung des Blickwinkels dennoch durch, z.B. im Zusammenhang mit der Luther-Ehrung, hinsichtlich eines differenzierteren Bildes der preußischen Geschichte und des 20.Juli 1944, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Was man unbedingt sagen muß, ist, daß es unmißverständliche Bekundungen gibt, daß eine der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Geschichte stärker gerecht werdende Betrachtungsweise von größeren Bevölkerungsgruppen eindeutig jener flachen und simplifizierenden Sicht vorgezogen wurde, der sie überwiegend ausgesetzt waren. Die letzte große empirische Untersuchung über das Geschichtsbewußtsein in der DDR aus dem Jahre 1983, die von dem von mir geleiteten Forschungsbereich "Sozialistisches Geschichtsbewußtsein" an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften 1983 in den Bezirken Berlin und Neubrandenburg durchgeführt wurde, hat uns mit solchen Auswirkungen konfrontiert. In dieser Umfrage wurden die Befragten auch aufgefordert, sich zur Pflege des historischen und kulturellen Erbes zu äußern. Sie hatten dafür drei Bewertungsmöglichkeiten. Die folgende Tabelle zeigt, in welcher Weise davon Gebrauch gemacht wurde.
17 V gl. etwa folgende zeitgenössische Äußerungen: Hermann Weber: Schriftliche Stellungsnahme. In: Deutsche Geschichte und politische Bildung. Anhörungen des Ausschusses fur innerdeutsche Beziehungen des Deutschen Bundestages 1981, Zur Sache 2/81 , S.25;- Andrea Roegner-Francke: Die SED und die deutsche Geschichte. In: Deutschland-Report I, hrsg.im Auftrage der KonradAdenauer-Stiftung, Meile (1987), S.40 f.
to•
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Frage: Wie beurteilen Sie die Pflege nachfolgend aufgeführter Bestandteile des deutschen Erbes in der DDR? 18 Ausreichend
Die Erhaltung von wertvollen Baudenkmalen 64,2 (Schlösser, Burgen, Häuser u.) Die Propagierung der Leistungen in der deutschen Philosophie (Kant, Fichte, Hege!, 47,8 Feuerbach u.a.) Die Propagierung der Leistungen in der Kultur (Dürer, Cranach, Goethe, Schiller 68,5 u.a.) Die Propagierung der Leistungen deutscher Wissenschaftler und Techniker (Guten32,9 berg, Siemens u.a.) Die Errungenschaften des Sozialismus in der DDR (soziale Sicherheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, gleiche Bildung für alle u.a.) 82,8 Aufstände und revolutionäre Aktionen der Volksmassen (Schlesischer Aufstand, Befreiungskrieg gegen Napoleon u.a.) 30,1
Unzureichend
Kann ich nicht beurteilen
26,7
5,2
18,1
24,2
9,9
12,4
30,0
25,3
8,7
2,1
27,3
30,4
Aus der Tabelle geht hervor, daß für bestimmte Bereiche die Mehrheit der Befragten die Bemühungen in der DDR zur Pflege und Bewahrung des historischen und kulturellen Erbes durchaus als ausreichend ansieht, dennoch sind sie bis zu einem Drittel der Meinung, daß es hinsichtlich der Erschließung und des pfleglichen Umgangs mancher Teile der Erbes Defizite und Nachholebedarf gibt. Das betrifft in gleicher Weise geschichtliche Tatsachen, Baudenkmale, künstlerische und wissenschaftlich-technische Leistungen. Das deutet auf eine erhöhte Sensibilisierung für dieses Thema hin, für die die öffentliche Auseinandersetzung um solche Fragen eine günstige Atmosphäre geschaffen hatte. In Gruppengesprächen, die eigens dem Thema "Erbe und Tradition" gewidmet waren, wurde sichtbar, daß es zwar manche Unkenntnis über Inhalte und Probleme der Diskussion gab, aber daß man den Ergebnissen dieser Auseinandersetzung positiv gegenüberstand, daran gab es keinen Zweifel. Mehrfach wurde, obwohl nicht abgefordert, auf den mehrteiligen Fernsehfilm über Martin Luther bezug genommen, der den Befragungsteilnehmern als Beispiel diente, um zum Ausdruck zu bringen, daß sie die in diesem Film praktizierte detaillierte und vielschichtige Darstellung der Persönlichkeit des Reformators für interessanter und einsichtiger hielten als manche zuvor genossene eindimensionale Darstellung. Die Gesprächsteilnehmer knüpften daran ziemlich 18 Forschungsbereich Sozialistisches Geschichtsbewußtsein am Institut für Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED: Listen der Ergebnisse der Untersuchung G-83 (Geschichtsbewußtsein 1983), Berlin 1983.
Formen des praktischen Umgangs mit Erbe und Traditionen in der DDR
149
eindeutige Erwartungen an den künftigen Umgang mit Geschichte. Sie äußerten Wünsche, die Darstellung auch anderer historischer Persönlichkeiten, von der sie den Eindruck hatten, daß sie bislang allzu einseitig war, weiter zu konkretisieren und zu differenzieren. Namentlich nannten sie Thomas Müntzer und Ernst Thälmann. Dies läßt auf Wirkungen schließen, die die öffentliche Beschäftigung mit der Erbe- und Traditionsrezeption immerhin gehabt hat und vor allem darauf, daß sie durchaus Bedürfnissen und Interessen in Teilen der Bevölkerung entgegenkam, weswegen auch Bereitschaft zur Mitwirkung vorhanden war. Deshalb scheinen mir einige resummierende Überlegungen folgender Art angezeigt: l. Obwohl das Thema Erbe und Tradition wegen seiner gesellschaftlichen Bedeutsarnkeit von der SED und der Regierung der DDR in erster Linie als ein Instrument der politisch-ideologischen Beeinflussung gedacht war, behalten die Resultate der wissenschaftlichen Debatte ihren Wert als ein Beitrag zu tieferem Verständnis historischer Zusammenhänge, Ereignisse und Persönlichkeiten. Das stand hier aber nicht im Mittelpunkt. Ihren Eigenwert behalten aber m.E. auch die Bemühungen um die Erschließung des regionalen Erbes und die Auseinandersetzung um traditionswürdige Bestandteile. Es wurden bislang mißachtete und auch vergessene Seiten der Geschichte der Regionen wieder in den Blick genommen. Das entsprach Interessen und Bedürfnissen von Menschen in den Regionen. Es wäre sehr bedauerlich, wenn diese Leistungen und Ergebnisse heute wegen ihrer damaligen politischen Einbindung geringgeschätzt würden und verloren gingen, statt an sie anzuknüpfen und sie weiter zu entwickeln. 2. Natürlich kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Normierungsanspruch der SED auch auf diesem Gebiet dazu geführt hat, daß der eigentlich erhobene Anspruch auf eine umfassende und unverkrampfte Betrachtungsweise der Geschichte nicht verwirklicht werden konnte. Aus den "Orientierungen" der Bezirke läßt sich unmißverständlich herauslesen, daß letztlich die vereinseitigende Blickrichtung auf die sog. "proletarisch-revolutionären Traditionen" vielfach dominierend blieb, daß die Grundsatzerklärung, die immer wieder vorangestellt wurde, das Erbe als "die Gesamtheit der geschichtlichen Überlieferungen, materielle, wie geistige Gegebenheiten" zu verstehen 19 , in den nachfolgenden Programmteilen nicht ausgeführt wurde. Dazu wäre es notwendig 19 Vgl. Langfristige Oreintierung zur Pflege, Verbreitung und Aneignung des kulturellen Erbes und der revolutionären Traditionen im Kreis Bautzen. Beschluß des Kreistages 1987, S.3.
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gewesen, der Geschichte der Arbeiterbewegung einen Platz im Rahmen des Gesamtprozesses zuzuweisen. Statt dessen wurde die geschichtliche Entwicklung der Geschichte der Arbeiterbewegung als der ausschlaggebenden Dominante untergeordnet. Das als Historiker festzustellen, bedeutet auch einzugestehen, daß sie an dieser historischen Schieflage eine größeren Schuldanteil haben, als die Autoren der "Langfristigen Orientierungen". Was weitgehend gänzlich unberücksichtigt bleibt, ist die Auseinandersetzung mit der besonders verhängnisvollen Erblast des Faschismus und des Zweiten. Weltkrieges. Allenfalls werden die schrecklichen Folgen für das deutsche Volk genannt, z.B. im Material des Bezirkes Frankfurt, dessen Territorium in der Endphase des 2. Weltkrieges weitgehend verheert worden war. Sehr kurzschlüssig wird das aber auf das Schuldkonto der früheren deutschen herrschenden Klassen verbucht, und als Waffe für die Auseinandersetzung mit dem "Imperialismus" genutzt. Ihren angestammten Platz behaupteten die Traditionen des antifaschistischen Widerstandskampfes, die weitgehend an die in den Territorien bestehenden Gedenkstätten geknüpft wurden (Erfurt). 3. Dessen ungeachtet enthalten die Dokumente dennoch vieles, das diese Begrenzungen hinter sich läßt. Es wird z.B. überall die natürliche und gestaltete Umwelt als wichtiges Erbe der Territorien gekennzeichnet und der pflegliche Umgang damit nachdrücklich gefordert. Auch in den Maßnahmeplänen tauchen Landschaftsschutzgebiete, geschützte Tiere und Pflanzen, Parks und der Wald als Gegenstände der Erbepflege auf. Es werden das Wissenschaftserbe, sowie Volksfeste, das Brauchtum und die Alltagskultur gewürdigt. Man hat den Eindruck, daß mit der Zuwendung zu diesen Gegenständen die bewußt in Kauf genommenen Defizite bei der politischen und Sozialgeschichte kompensiert werden sollten. 4. Wer mit dem behandelten Thema nicht nur über das schriftliche Material Bekanntschaft gemacht hat, steht unter dem Eindruck des engagierten Einsatzes von vielen Tausenden von Menschen, die sich an der Diskussion beteiligten, Vorschläge machten und mit Zähigkeit darum rangen, daß sie in die Dokumente Eingang fanden . Gelang das , und es gelang nicht selten, so waren sie mit Feuereifer dabei, die Vorschläge auch in die Tat umzusetzen. Es bereitet keine Mühe, dafür Beispiele zu bringen. Es seien nur zwei genannt. Die Arbeit, die im thüringischen Zillbach geleistet wurde, um das Wirken Heinrich Cottas zu würdigen, auf den die Gründung der ersten Forstschule in Deutschland zurückgeht, die nach seiner Berufung in sächsische Dienste ihren Sitz nach Tharandt verlegte, wo sie noch heute als Fakultät der Technischen Universität Dresden fortbesteht. Es ist beeindruckend, was hier an wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten aufgewandt wurde, um sich eines bedeutenden Erbes
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zu versichern.20 Als ein weiteres Beispiel seien die Bemühungen der Gemeinde Darlingerode um ihre Geschichte genannt, deren Seele der Ortschronist und Organisator des Dorfmuseums Heinz Flohr war, dem es gelang, viele seiner Dorfgenossen dafür zu gewinnen, ihm historisch interessante Materialien zu überlassen, der Dorffeste organisierte und Werbematerial für sein Dorf erarbeitete. 21 Es ist angesichts dieser Beispiele sicherlich keine Übertreibung, wenn man im Zusammenhang mit der Erbe- und Traditionsarbeit in den Territorien von demokratischem Potential spricht, das sich hier regte. Tatsächlich findet sich in den Dokumenten die Behauptung, daß ihre Entstehung Zeugnis lebendiger "sozialistischer Demokratie" sei. Mir scheint, daß uns das nicht davor zurückscheuen lassen darf, diesen Bemühungen demokratische Qualität zuzusprechen. Ich wüßte nicht, wie man Einsatz für Mitbürger und Beteiligung an Entschlüssen sonst bezeichnen sollte. Allerdings bedeutet eine solche Bewertung auch, deutlich zu sagen, daß damit die grundsätzlichen demokratische Defizite der DDR-Gesellschaft nicht aufgewogen werden konnten. Im Gegenteil: die Aktivitäten zur Erschließung des territorialen Erbes und das Ringen um ein vernünftiges Traditionsverständnis betrafen einen "Nebenschauplatz" des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens. Die fehlenden demokratischen Lebensformen und Prozeduren in Kernbereichen der Gesellschaft wirkten sich letztlich auch auf diesen "Nebenschauplatz" aus. Die Bereitschaft zu tätiger Mitarbeit, zur Übernahme von Verantwortung und das eigene Mitdenken wurden immer wieder durch die SED und die staatlichen Organe behindert. Eingriffe von Führungsorganen stoppten Initiativen. Sie maßten sich Urteile über Wert oder Unwert bestimmter Aktionen an und trugen damit dazu bei, daß Mitarbeitsbereitschaft erlahmte. Die Schlußfolgerung drängt sich auf, Demokratie in scheinbar "kleinen" Fragen kann nur funktionieren, wenn sie auch der Gesellschaft insgesamt eigen ist. 5. Eine Darstellung über dieses Thema wäre nicht vollständig, wenn nicht auch darauf hingewiesen würde, daß die zur Erbe-und Traditionspflege in den Territorien geleistete Arbeit letztlich darunter litt, daß die DDR-Gesellschaft über immer geringere materielle Potenzen verfügte, um damit im Zusammenhang stehende Aufgaben praktisch zu lösen. Alle Bürgeraktivitäten und -initiativen konnten nicht das Unvermögen des Staates DDR ausgleichen, die erforderlichen finanziellen und materiellen Mittel bereitzustellen, die für die 20 V gl. Kulturbund der DDR/Bezirksleitung Suhl, Bezirksvorstand der Gesellschaft fiir Natur und Umwelt: Das 800jährige Zillbach und seine Erbepflege - eine Anthologie von Reden und Aufsätzen über Heinrich Cotta, Bernhard von Cotta und Carl Emil von Diezel, Suhl 1985. 21 Vgl. Heinz Flohr: Ein Dorf im Spiegel der Jahrhunderte. Ortsgeschichte der Gemeinde Darlingerode. Herausgegeben vom Rat der Gemeinde Darlingerode, 1985.
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Lösung von Umweltproblemen, die Denkmalspflege und die kulturelle Infrastruktur erforderlich gewesen wären, damit die diesen Bereichen zugewiesenen Aufgaben hätten erfüllt werden können. Insofern klafften auch hier Anspruch und Realität auseinander. Die Erwartungen, die bei der Ausarbeitung der Erbekonzeptionen geweckt wurden, konnten immer weniger erfüllt werden. Die Enttäuschung unter den Akteuren war mit Händen zu greifen. So waren von denen, die sich zu Beginn in die Unternehmungen eingeschaltet hatten und bereit waren, kräftig mit zuzupacken, nicht wenige, die 1989 auf den Straßen, in Bürgerbewegungen und an den Runden Tischen für eine politische Wende agierten. Alles in allem scheint es mir daher keine Zeitverschwendung zu sein, darüber nachzudenken, was an positiven wie negativen Erfahrungen aus jenen Bemühungen wert ist, auch für die Gegenwart nutzbar gemacht zu werden. Dazu treibt auch die Besorgnis, daß manches verloren gehen könnte, weil es eilfertig als Bestandteil des vorherrschenden Geschichtsverständnisses als für heute ungeeignet und überflüssig angesehen wird. Ich nenne die proletarisch-revolutionären Traditionen. Damals überhöht, werden sie heute nicht selten gänzlich ignoriert. Ähnliches gilt für den kommunistischen Widerstand. Aber - und das ist das größte Paradoxon -. damals wurde die DDR-Geschichte plakativ und grobflächig behandelt, von vielen nicht als würdiger Gegenstand für eine Erberezeption angesehen. Heute geschieht beinahe dasselbe, was zu DDRZeiten geschah, und wieder artikulieren die Beteiligten, daß das öffentliche Geschichtsverständnis nichts mit ihren Erfahrungen gemein hat und deshalb nicht als adäquater Umgang mit ihrem Erbe akzeptiert werden kann. 22 Sollte es nicht angezeigt sein, aus den Fehlern der DDR zu lernen?
22 V gl . Helmut Meier: Zum historischen Charakter von "Ostidentität". In: Ost-Identität- konjunkturelle Erscheinung oder längerfristige Bewußtseinslage? Beiträge des dritten wissenschaftlichen Kolloquiums zum Thema "Zwischen Anschluß und Ankunft" am 16. März 1996 in Potsdam. Herausgeg. v. Helmut Meier und Erhard Wiedemer, Gesellschaft - Geschichte - Gegenwart. Schrifterneibe des "Gesellschaftswissenschaftlichen Forums e.V." Bd.9, Berlin 1996, S. 59 ff.
Ostdeutsches Wir-Bewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt? Von Jürgen Hofmann
Auf dem 26. Deutschen Soziologentag 1992 in Düsseldorf mutmaßte der Bremer Politikwissenschaftler und Soziologe Claus Offe, daß die Vereinnahmung der DDR und die Weigerung, der in "institutioneller Gestaltlosigkeit" als "sozialer Sachverhalt" fortexistierenden DDR-Gesellschaft Anerkennung und Selbstanerkennung zuzubilligen; zu "Ressentiments, Legenden und kognitiven Dissonanzen" führen und die "Sonder-Identität der DDR-Bevölkerung, vielleicht sogar ihre ,.Ethnifizierung« weiter festigen würde" . 1 Nun ist zwar von einer "Ethnifizierung" der Ostdeutschen nichts auszumachen, am Tatbestand eines ostdeutschen Wir-Bewußtseins hingegen kann es kaum noch Zweifel geben. 2 Dieser Sachverhalt muß inzwischen von allen Parteien trotz unterschiedlicher Bewertung als eine Ausgangsgröße für Politik in Rechnung gestellt werden. Die Schlußfolgerungen gehen allerdings teilweise weit auseinander. 3
1 Claus Offe: Die Integration nachkommunistischer Gesellschaften: die ehemalige DDR im Vergleich zu ihren osteuropäischen Nachbarn. In: Lebensverhälmisse und soziale Konflikte im neuen Europa. Verhandlungen des 26. Deutschen Soziologentages in Düsseldorf 1992, hrsg. im Auftrag der Deutschen Gesellschaft fiir Soziologie von Bernd Schäfers, Frankfurt a.M./New York 1993, S. 815.
2
Siehe Der Spiegel, Nr. 27/1995.
3 Siehe u.a. Deutsche Entfremdung. Zum Befinden in Ost und West, hrsg. von Wolfgang Hardtwig und August Heinrich Wink/er, München 1994; Hans-]. Misse/witz: Nicht länger mit dem Gesicht zum Westen. Das neue Selbstbewußtsein der Ostdeutschen, Bonn 1996; Hans-Joachim Veen!Carsten
Zelle: Zusammenwachsen oder Auseinanderdriften? Eine empirische Analyse der Werthaltungen, der politischen Prioritäten und der nationalen Identifikationen der Ost- und Westdeutschen, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 1994 (Interne Studien, Nr. 78/1994), "Zusammenwachsen". Frauen fördern die innere Einheit Berlins und Deutschlands. Projekt 1995/1996, hrsg. vom Deutschen Staatsbürgerinnen-Verband, Berlin 1996.
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Jürgen Hofmann
Zunächst darf festgehalten werden, daß das in den alten Bundesländern mit Verwunderung und teilweise mit Argwohn registrierte ostdeutsche Wir-Bewußtsein keine konjunkturelle Erscheinung, sondern vielmehr eine relativ stabile, längerfristige Bewußtseinslage ist. Diese Aussage ergibt sich als bisheriges Fazit aus einer langjährigen Untersuchungsreihe, die von mir 1990 begonnen und im Rahmen einer außerinstitutionellen Projektgruppe realisiert wurde.
I. Die Untersuchungsreihe "ident" Die Beobachtungen setzen im Sommer 1990 ein, als die Situation durch die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion bestimmt war. Seit dem wird in diesem Projekt die Entwicklung des Selbstverständnisses der Ostdeutschen vor dem Hintergrund des Einigungsprozessses und der Transformation der ostdeutschen Gesellschaft kontinuierlich beobachtet, und es werden regelmäßig Daten zu diesem Problernkreis erhoben.4 Die Untersuchungsreihe "ident" umfaßt
• Siehe Jürgen Hofmann u.a.: Identitätskonflikte, Reaktionen und Neuorientierungen der ostdeutschen Bevölkerung beim Übergang in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Forschungsbericht für die Kommission zur Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern, Halle, Projektnummer AG 5/38, Berlin 1992 (unveröffentl. Ms.); Detlef Ecken! Jürgen Hofmann/Helmut Meier: Zwischen Anschluß und Ankunft. Identitätssuche und Identitätskonflikte der Ostdeutschen auf dem Weg zum Bundesbürger, hrsg. vom Brandenburger Verein für politische Bildung e.V., Potsdam 1992; Jürgen Hofmann: Zeitgeschichtliche Erfahrungen und Konflikte der Ostdeutschen beim Übergang in die Gesellschaft der Bundesrepublik. In: Heiner Meulemann!Agnes E/ting-Cmnus (Hrsg.): 26. Deutscher Soziologentag. Lebensverhältnisse und soziale Konflikte im neuen Europa. Sektionen, Arbeits- und Ad hoc-Gruppen, Tagungsband II, Opladen 1993, S. 676 ff. ; ders.: Zwischen Hoffnung und Ernüchterung. Über ostdeutsche Erfahrungen mit der deutschen Einheit und der Gesellschaft der Bundesrepublik. In: UTOPIE kreativ. Berlin 1994, H. 43/44, S. 48 ff.; Zwischen Anschluß und Ankunft II. Beiträge zu einer ostdeutschen Zwischenbilanz. Materialien eines wissenschaftlichen Kolloquiums, hrsg. vom Brandenburger Verein für politische Bildung e. V. und der Projektgruppe .. Identitätswandel" beim Gesellschaftswissenschaftlichen Forum e.V., Potsdam 1994; Helmur Meier/Hans Steuß/off: DDR-Vergangenheit und nationale Einheit aus der Sicht von Ostdeutschen. In: Sozialreport. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, hrsg. vom Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e.V., I. Quartal 1995, S. 21-25; Jürgen Hofmann : Zwischen Abschied und Ankunft - die Ostdeutschen und die neue Demokratie. In: .. .. . undemokratisch wird sich rächen" . Studien zur Demokratie in der DDR, hrsg. vom Luisenstädtischen Bildungsverein e. V., Berlin 1995, Zweiter Teil, S. 209 ff.; ders.; Identitätsentwicklung in den neuen Bundesländern. In: Qualifikations-Entwicklungs-Management-Bulletin, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft QUEM, Berlin 1995, Nr. 7/8, S. 12 ff.; Helmut Meier/Bodo Reblin!Erhard Weckesser: Die Schwierigkeiten der Ostdeutschen, Bundesbürger zu werden, Dresden 1995; Hans Steußloff!Erhard Weckesser: Konstanz und Wandlung von Wertvorstellungen der Ostdeutschen nach der Vereinigung. In: Berliner Dialog-Hefte, 7. Jg., H. l/1996, S. 25-33; Jürgen Hofmann!Erhard Weckesser: Identitätswandel in den neuen Bundesländern. In: Sozialreport. Daten und Fakten in den neuen Bundesländern, hrsg. vom Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e. V.. I. Quartal 1996;
Ostdeutsches Wir-Bewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt?
155
inzwischen Erhebungen vom Juli 1990 mit 1058 Probanden, vom Dezember 1990 mit 860 Probanden, vom Frühjahr 1992 mit 568 Probanden, vom Herbst 1993 mit 923 Probanden sowie vom November und Dezember 1995 mit 862 Probanden. Sie wird ergänzt durch mehrere kleine spezielle Untersuchungen, u.a. vertiefende Interviews. Für die Untersuchungsreihe selbst wurde die Methode der Brietbefragung mit standardisierten Fragebogen gewählt und beibehalten. Sie war im Sommer 1990 die einzige Möglichkeit, mit bescheidenen materiellen Mitteln rasch auf die sich überstürzenden Ereignisse zu reagieren und Daten aus jeweils aktuellen Umbruchsituationen (z.B. Währungsunion, erste gesamtdeutsche Bundestagswahl) zu sichern. In die Untersuchungen wurden Probanden aus allen ostdeutschen Ländern und den Ostberliner Stadtbezirken einbezogen. Die Auswahl erfolgte nach dem Zufallsverfahren, für 1990 zunächst durch zwei Adressenrecherchen im Zentralen Einwohnermelderegister der DDR. Für die Folgejahre wurden dezentrale Adreßrecherchen bei Einwohnermeldeämtern, Telefonbuchrecherchen und Steckaktionen im Klumpenverfahren in Ansatz gebracht. Die Rücklaufquote ging zwar im Laufe der Jahre von 37 auf 27 Prozent zurück, ist jedoch angesichts des allgemein verbreiteten Trends wachsender Befragungsmüdigkeit nach wie vor für eine Brietbefragung vorbildlich. Wichtig für den Aussagewert der Daten blieb neben einer für Ostdeutschland typischen Bildungs- und Sozialstruktur sowie der Geschlechter- und Altersdifferenzierung die hinreichende regionale Differenzierung der Probanden, da beispielsweise Ergebnisse der vergleichsweise sehr kritischen Ostberliner oder Brandenburger nicht ohne weiteres für den gesamten ostdeutschen Raum stehen können. Obwohl Briefbefragungen die strengen Normen einer Repräsentativbefragung nicht erfüllen können, ist der Aussagewert der vorliegenden Datenreihen kaum gemindert. Dies zeigt sich u.a. daran, daß bei einem Vergleich zwischen Dauerprobanden und neuerfaßten Probandengruppen keine nennenswerten Abweichungen im Meinungsbild auftreten. Auch die Gegenüberstellung mit vergleichbaren Fragestellungen aus großen Repräsentativbefragungen stützt diese Annahme. Tempo und Dynamik des Einigungsprozesses verlangten nach kurzer Zeit Veränderungen des Fragedesign. Das übliche Verfahren, über längere Zeit
"Ostidentität" - Konjunkturelle Erscheinung oder längerfristige Bewußtseinslage? Beiträge des dritten wissenschaftlichen Kolloquiums zum Thema "Zwischen Anschluß und Ankunft" am 16. März 1996 in Potsdam, hrsg. von Helmut Meier und Eberhard Weckesser, Berlin 1997 (Gesellschaft, Geschichte, Gegenwart; 9).
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immer wieder identische Fragestellungen und gleichlautende Antwortvorgaben vorzulegen, ließ sich auf den Übergang zur staatlichen Einheit Deutschlands nicht anwenden. Manche Frage erledigte sich durch den Gang der Dinge. Andere Probleme, die für den Untersuchungsgegenstand relevant wurden, tauchten erst in den Folgejahren auf. Die Einschränkung der Vergleichbarkeit wird durch die verbesserten Möglichkeiten der Datenauswertung und Datenbewertung wettgemacht. Dies zeigt sich vor allem bei der zentralen Fragestellung nach den bevorzugten Identifikationsmustern der Ostdeutschen. Hier wurde es unumgänglich, den ursprünglichen Alternativcharakter der Fragestellung und des Antwortschemas, wie er in Anlehnung an damals vorliegende westdeutsche Befragungen zunächst gewählt worden war, aufzulösen. Nur so konnte der Vielschichtigkeit von Zuordnungen und der Mehrdimensionalität von Identität besser entsprochen werden.
II. Ostdeutsches Wir-Bewußtsein als längerfristiges Phänomen? Nach dem bisherigen Stand der Untersuchung kann ostdeutsches Wir-Bewußtsein nicht als konjunkturelle Erscheinung betrachtet werden, da seine Quellen nicht allein im Nachhall oder gar in der Verklärung der untergegangenen DDR zu suchen sind. Ostdeutsches Wir-Bewußtsein speist sich zu einem erheblichen Teil aus Elementen, die gegenwärtige und künftige Existenzbedingungen reflektieren, bzw. wie die regionale Komponente traditionell angelegt sind. Interessante Aufschlüsse sind sicherlich in den nächsten Jahren von den Veränderungen zu erwarten, die sich im Zuspruch zu einzelnen Identifikationsmustern ergeben werden. Die folgende Übersicht zeigt: Die grundlegenden Relationen, die Ende 1995 erhoben wurden, lassen sich bis zum Frühjahr 1992 zurückverfolgen und sind in den Erhebungsergebnissen von 1990 im Prinzip bereits angelegt. Die Datensätze widerspiegeln Präferenzen für vorgegebene Identifikationsmuster. Die direkte Fragestellung nach der Selbstidentifikation erfaßt das Problem natürlich nur unvollständig. Die wesentlich komplexeren und in sich widersprüchlichen Komponenten des Selbstverständnisses der Ostdeutschen und darauf einwirkende Faktoren können nur im Kontext mit weiteren Fragestellungen und Positionsbestimmungen aufgehellt werden. Korrelationen zu anderen Fragestellungen vermitteln Hinweise, auf die an anderer Stelle noch eingegangen wird.
Ostdeutsches Wir-Bewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt?
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Tabelle 1
Bevorzugte Identifikationsmuster (Angaben in Prozent)
Ich fühle mich vor allem als (ab 1992 drei von fünf Optionen Juli 1990 Dez. 1990 März1992 mö lieh) Europäer( in) 24,8 Deutsche(r) 47,9 45,8 48,2 Bürger(in) der Bundesrepublik 13,2 Ostdeutsche( r) (1990: Deutsche/r aus der DDR) 32,5 19,3 34,7 ehemalige(r) DDR-Bürger(in) (1990: DDR-Bürger/in) 18,8 34,2 40,0 Berliner(in), Brandenburger(in), Sachse/Sächsin etc. 43,1 Datenbasis: ident
Okt. 1993
Nov. 1995
21,7 46,4 19,5
19,2 53,4 17,8
42,4
41,2
44,7
35,1
41,3
41,8
Aus der Übersicht in Tabelle 1 ist ebenfalls ersichtlich, daß ostdeutsches Wir-Bewußtsein vielschichtig ist und sich nur zu einem Teil aus dem DDRBezug speist. Allgemein in diesem Kontext von "DDR-Nostalgie" zu sprechen, ist deshalb m. E. nicht zutreffend. Regionale Identifikationsbezüge, die sich als eine stabile Größenordnung darstellen, und nachwirkender Bezug auf die DDR überlagern sich. Dies zeigt die Korrelierung der Identifikationsgruppen sehr deutlich (siehe Tabelle 2). Auch die Zuordnung als Bürger(in) der Bundesrepublik schließt das Gefühl, zugleich ehemaliger DDR-Bürger(in) zu sein, nicht aus, ebensowenig den gleichzeitigen ostdeutschen Bezug oder die Option für das regionale Identifikationsmuster. Nicht unerwähnt bleiben sollte, daß sich deutlich weniger Frauen als Männer bereits als "Bürger(in) der Bundesrepublik" sehen (10:23). Dafür ordnen sich Frauen häufiger dem ostdeutschen bzw. dem DDR-Muster zu (44 bzw. 38 %). Tabelle 2
Verhältnis ausgewählter Identifikationsgruppen zu anderen Identifikationsmöglichkeiten 1995 (Angaben in Prozent) Europäer(in)
Deutsche(r) Bürger(in) der Bundesrepublik ehemalige(r) DDRBürger(in) Datenbasis: ident
Deutsche(r)
Bürger(in) Ostdeutder Bundes- sehe (r) republik 18,3 26,4
32,5
55,0
21 ,2
16,1
42,3
16,5
6,4
38,6
ehemalige(r) regionale DDR-Bürger Zuordnung (in) 43,0 27,8 12,6
42,4 36,5
Die Überlagerung von sich scheinbar widersprechenden Identifikationsbezügen läßt sich vor allem in der Altersklasse der über 60jährigen beobachten.
158
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Hier ist das Gefühl, Deutscher (66 %) sowie Bürger(in) der Bundesrepublik (21, 1 %) zu sein, besonders ausgeprägt. Gleichzeitig charakterisieren sich in dieser Altersgruppe 32 Prozent als Ostdeutsche und fast 37 Prozent als ehemalige DDR-Bürger. Neue Identifikationsmuster werden angenommen, ohne bisherige Prägungen zu verwerfen. In diesem Zusammenhang scheint es angemessen, nochmals kurz auf das umstrittene Problem der DDR-Identität einzugehen. Versteht man sie als nahezu hundertprozentiges Einvernehmen mit politischem Regime und gesellschaftlicher Struktur, so ist sie in der Tat in Abrede zu stellen. Deshalb jedoch partielle und temporäre Akzeptanz und Loyalität generell auszuschließen, ist wissenschaftlich wie politisch kurzsichtig, weil damit für laufende Prozesse der deutschen Einigung immer wieder idealisierte und letztlich unrealistische Ausgangslagen unterstellt werden. Angesichts des Platzes, den die Zuordnung zur DDR bis heute bei den Ostdeutschen einnimmt, ist es fraglich, ob die identitätsstiftende Wirkung der DDR-Gesellschaft im nachhinein ernsthaft bestritten werden kann. Dennoch haben solche Einschätzungen sogar Eingang in den Abschlußbericht der Enquetekommission des Deutschen Bundestages zur "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" gefunden. 5 Die Beweisführungen speisen sich vorwiegend aus dem Sachverhalt fehlender Legitimation durch freie Wahlen, den Flucht- und Ausreisewellen sowie aus dem schließliehen Zusammenbruch der DDR-Gesellschaft. Die mangelnde Akzeptanz des DDRSystems wird aus dem retrospektiven Blickwinkel als faktischer Dauerzustand unterstellt. Dabei gerät häufig aus dem Blick, daß Identifikationsbezüge außerordentlich differenziert und nicht selten widersprüchlich sind, da sie mehr umfassen als das Wechselverhältnis zum politischen und sozialen System. Woraus speist sich das ostdeutsche Wir-Bewußtsein, das als intellektueller und soziologischer Befund in letzter Zeit wieder verstärkt in das Blickfeld öffentlicher Auftnerksamkeit und der Medien geriet? Die aufgeworfene Frage, ob das ostdeutsche "Wir-Bewußtsein" in erster Linie Altlast oder Transformationseffekt ist, läßt sich sicherlich nicht alternativ beantworten. Vielmehr ist m. E. von einer komplizierten Gemengelage auszugehen. Wodurch werden die deutlich favorisierten Präferenzen für ostdeutsche Identifikationsmuster beeinflußt? 5 Siehe Materialien der Enquetekommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. 1, 1995.
Ostdeutsches Wir-Bewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt?
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1. Langzeitwirkung von DDR-Sozialisation und Systemeffekte
Zunächst muß auf die Langzeitwirkung der DDR-Sozialisation verwiesen werden. Die DDR-Gesellschaft war mehr als Staat und politisches Regime, sie hat als Sozialisationszusammenhang und Sozialisationserfahrung die gesellschaftlichen Strukturen überdauert, die sie hervorgebracht haben. Der Kölner Soziologe Heiner Meulemann spricht von Systemeffekten, die in Rechnung zu stellen sind. 6 Solche Systemeffekte lassen sich nicht nur auf dem Gebiet der Religion und der Partnerschaftsbeziehungen beobachten, die Meulemann hervorhebt. In nahezu allen Bereichen sind bis in die Gegenwart Systemeffekte auszumachen, die die Bewältigung der Umbruchsituation und die Integration in die Gesellschaft der Bundesrepublik beeinflussen. Dabei darf jedoch nicht die jeweils konkrete Lebenssituation vergessen werden, die darüber mitentscheidet, ob bisherige Sozialisationserfahrungen nutzbringend zu verwerten sind oder eher als Barriere wirken. In unserer Erhebung von 1995 lassen sich solche Systemeffekte u.a. deutlich an bestimmten Wertorientierungen ablesen. Auf die Frage nach ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit entschieden sich 93 Prozent für ein gesichertes Existenzminimum, 96 Prozent für eine bezahlbare Wohnung, 86 Prozent für einen höheren Beitrag der Großverdiener zum Gemeinwohl und 82 Prozent für die Förderung von Bildung und Kultur aus öffentlichen Mitteln. Nachwirkungen der DDR-Sozialisation lassen sich nach wie vor im Statusdenken der Ostdeutschen feststellen. Aus der jüngsten Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften ist abzulesen, daß über 55 Prozent der Ostdeutschen sich selbst der Arbeiterschicht zuordnen und nur 38 Prozent sich in der Mittelschicht sehen. Bei den Westdeutschen ist .der Befund eher umgekehrt (30 % Arbeiterschicht zu 56 % Mittelschicht). 7 In dieser subjektiven Schichteinstufung bestätigt sich die Charakterisierung der DDR-Gesellschaft als "Republik der kleinen Leute", die Günter Gaus in seinen Beobachtungen hervorgehoben hatte. 8 Die Aufwertung der Arbeiterklasse in der offiziellen Staatsdoktrin der DDR ließ die Zuordnung zur "führenden Klasse" nicht als Manko erscheinen. In der nur mäßig ausgeprägten sozialen Hierarchie der DDR-Gesellschaft war 6 Siehe Reiner Meulemann: Aufholtendenzen und Systemeffekte. Eine Übersicht über Wertunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 40-41/95, S. 21-33. 7
Siehe Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften. ALLBUS 1994. Codebuch,
s. 67. 8
Siehe Günter Gaus: Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, Harnburg 1983.
160
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der Status Arbeiter keine Abwertung. Folglich entstanden auch kaum Barrieren, sich dort einzuordnen. Ausgeprägte soziale Unterschiede werden von den Ostdeutschen immer noch mehrheitlich negativ beurteilt. Bei über 88 Prozent der Ostdeutschen kollidieren die sozialen Unterschiede in der Bundesrepublik mit ihrem Gerechtigkeitsempfinden, während ca. 46 Prozent der Westdeutschen sie im großen und ganzen als gerecht ansehen. 9 Zu den Nachwirkungen von DDR-Sozialisation gehört allerdings auch das ausgesprochen ambivalente Verhältnis zu Ausländern, dem Tendenzen einer latenten Ausländeraversion (im Extremfall der Ausländerfeindlichkeit) innewohnen. Die in der DDR über Jahrzehnte propagierten Werte der Völkerfreundschaft und des proletarischen Internationalismus vermochten vor dem Zusammenbruch eines ganzen Weltsystems und unter den schlagartig veränderten Lebensverhältnissen und Reproduktionsbedingungen nicht zu bestehen. Bereits 1990 lehnte die Mehrheit der Befragten (56,8 %) den Grundsatz, Deutschland solle ausländischen Arbeitskräften offenstehen, ab. Hauptmotiv waren damals aufkeimende soziale Ängste. Lediglich das Recht auf politisches Asyl blieb in den Folgejahren mehrheitsfahig. Obwohl inzwischen ca. zwei Drittel das Zusammenleben und Zusammenarbeiten mit Ausländern als normal bezeichnen, hätte jeder Dritte Bedenken, wenn ein Ausländer sein "unmittelbarer Nachbar" wäre. Jeder Fünfte wollte sich wehren, falls Ausländer "Mitglieder ihrer Familien" werden wollten. Weitere 44 Prozent hätten gegen eine solche Konstellation Bedenken. Bei den Zukunftsvisionen ist DDR-Sozialisation ebenfalls wirksam und führt zu einem scheinbar paradoxen Befund. Trotz ihrer Negativerfahrungen mit dem realen Sozialismus waren in unserer Erhebung Ende 1995 ca. 45 Prozent der befragten Ostdeutschen der Meinung, die sozialistische Idee könne in der Zukunft wieder aktuell werden. Den größten Zuspruch fand allerdings die Option, daß neue Wege zu gehen seien (78 % Zustimmung). Mit der Marktwirtschaft als bleibende Gesellschaftskonstruktion konnte sich nicht einmal jeder Dritte anfreunden. In der repräsentativen allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften 1992 folgten 73,3 Prozent der ostdeutschen Probanden der Vorgabe, der Sozialismus sei im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde. 10 Zwei Jahre später signalisierten sogar 89,2 Prozent der Ostdeutschen eine positive Bewertung der sozialistischen Idee. In den 9
Siehe ALLBUS 1994. Codebuch, S . 84.
10
Siehe ALLBUS 1992. Codebuch, S. 61.
Ostdeutsches Wir-Bewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt?
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alten Bundesländern hingegen konnten nur 43,6 Prozent der sozialistischen Idee etwas Positives abgewinnen, während die Mehrheit sie ablehnte. 11 2. Spezifik historischer Erinnerungen
Der beobachtete Trend zu einem relativ stabil ausgebildeten ostdeutschen Wir-Bewußtsein wird durch die Spezifik historischer Erfahrungen gestützt. Zum einen bleiben hier für absehbare Zeit Differenzierungseffekte aus den Jahrzehnten deutscher Zweistaatlichkeit wirksam. Historische Erinnerung ist in weiten Teilen der Bevölkerung geteilte Erinnerung. Die jeweiligen Kenntnislücken respektive die Unkenntnis vom Werdegang des anderen deutschen Teilstaates behindern allenthalben den notwendigen gemeinsamen Diskurs, der die trennenden Realerfahrungen zu einer gemeinsamen, wenngleich differenzierten und pluralistisch strukturierten Erfahrung zusammenführen könnte. Zum andern sehen sich die Ostdeutschen gegenwärtig erneut mit einem Fremdbild ihrer eigenen Geschichte konfrontiert, das sich nicht oder nur teilweise mit ihren eigenen Erfahrungen deckt. Daraus entstehen die von Claus Offe angesprochenen "kognitiven Dissonanzen", 12 die eher Abgrenzung als Einheit fördern. Tabelle 3
Bewertung der DDR
(Angaben in Prozent; Antwortausfälle nicht ausgewiesen) War Versuch, eine gerechte Gesell· schaft zu schaffen Es überwogen Fehler und Mißerfolge
Ja Teilweise Nein Ja Teilweise Nein DDR war vor allem Ja Umechtsstaat Teilweise Nein DDR hatte positive Ja und negative Sei- Teilweise ten Nein DDR verkörpert Lei- Ja stungen der Bür- Teilweise ger Nein Datenbasis: ident
11
Dez. 1990 63,4 19.3 12,2 40,2 38,5 15,6
März 1992 59,5 27,5 9,0 25,2 39,8 29,9
Okt. 1993 65,3 18,5 9,4 19,7 35,7 35,6 18,7 29,9 42,6 78,0 15,2 3,1 67,1 27,1 6,1
Nov. 1995 74,8 14.9 6,6 29,9 44,2 19,6 18,2 33,9 42,8 78,7 15,4 2,2 42,8 36,8 14,0
Siehe ALLBUS 1994. Codebuch, S. 136.
12 Siehe Claus Offe: Die Integration nachkommunistischer Gesellschaften: die ehemalige DDR im Vergleich zu ihren osteuropäischen Nachbarn, a.a.O., S. 815.
II Timmermann
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Auffällig ist der weiterhin gewachsene Anteil derjenigen, die die DDR trotz ihres Scheiteros als Versuch einer gerechteren Gesellschaft gewürdigt wissen wollen. Die These vom Unrechtsstaat wird mehrheitlich nicht angenommen, obwohl viele Probanden Unrecht als Teilaspekt in ihren Rückblick auf die DDR einordnen. Deutlich wird dagegen das ausgeprägte Bedürfnis nach differenzierten Bewertungen, die das "sowohl als auch" einschließen. Insofern sind zugespitzte Urteile über die DDR eher kontraproduktiv und erschweren die Rezeption einer kritischen Einschätzung des untergegangenen deutschen Staates. Sie werden von vielen Ostdeutschen als Fremdbild wahrgenommen, lösen einen Ausgrenzungseffekt aus und fördern Abwehrhaltungen. Tabelle 4
Meinung zum Umgang mit der DDR-Geschichte durch Politiker und Medien
(Erhebung in den neuen Bundesländern 1995, Angaben in Prozent, Antwortausfälle nicht ausgewiesen) Das DDR-Bild wird der Wirklichkeit voll gerecht Das DDR-Bild ist einseitig negativ Dieses DDR-Bild empfinde ich als verletzend Es ist mir gleichgültig, wie die DDR heute beurteilt wird Datenbasis: ident
Ja 4,4 44,7 32,5 8,9
Teilweise 31,9 39,1 40,7 11,6
Nein 57,1 11,1 20,6 72,1
Urteile über die DDR sind immer zugleich Urteile über Lebensumstände und Lebensleistungen von Millionen Ostdeutschen. Da der Masse der Befragten in den neuen Bundesländern die Bewertung ihrer Vergangenheit nicht gleichgültig ist, führt die wahrgenommene Diskrepanz zwischen eigener Erfahrung und den über Medien und Politik angebotenen Deutungsmustern eher zur Aufwertung und Stabilisierung der individuellen Erinnerung als zur kritischen Prüfung eigenen Erlebens im Kontext mit anderen, auch gegensätzlichen Wahrnehmungen. Persönliche Verletzungen gar wirken oft als Blockaden für einen sachlichen und streitbaren Diskurs. Es sei ein "Irrglaube", bemerkte Lotbar Fritze 1994 in einem Vortrag vor der Konrad-Adenauer-Stiftung, "daß man besonders die negativen Seiten der DDR-Wirklichkeit aufzeigen sowie die aktiven Träger des DDR-Systems in möglichst drastischer Weise herabwürdigen muß, um ein desto positiveres Verhältnis der restlichen ehemaligen DDR-Bürger zum Staat Bundesrepublik zu erzeugen" . 13 Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß die Bewertung der DDRVergangenheit von Untersuchungspersonen, die sich bereits als "Bürger(in) der Bundesrepublik" defmieren, zwar kritischer ausfällt als die Urteile der beken13 Lothar Fritze: Irritationen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 27/95, S. 6.
Ostdeutsches Wir-Bewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt?
163
nenden "DDR-Bürger(innen)", sich aber im grundsätzlichen Trend nicht von den anderen Identifikationsgruppen sowie vom allgemeinen Durchschnitt unterscheidet. Die oben skizzierte Tendenz, differenzierte Bewertungen der DDR-Geschichte anzumahnen und zu favorisieren, findet ihre Entsprechung in der Beurteilung der DDR-Gesellschaft, deren 1989/90 ausgeprägt kritische Komponenten sich inzwischen deutlich relativiert haben. Obwohl nostalgische Tendenzen durchaus in Rechnung zu stellen sind, ist insgesamt der kritische Rückblick auf die DDR-Gesellschaft mehrheitlich nicht in Frage gestellt. Das spricht gegen eine uni-sono-Charakteristik solcher veränderter Sichten als Nostalgie. Es scheint eher normal, daß Enttäuschungseffekte und Fundamentalkritik aus der Phase des Zusammenbruchs der DDR-Gesellschaft nicht dauerhaft reproduziert werden. Außerdem wirkt inzwischen der aus Alltagserfahrungen gespeiste Vergleich relativierend. Tabelle 5
Was war Ihrer Meinung nach für die DDR typisch? Antwortvorgaben (Auswahl) Ja 61,9 Soziale Sicherheit Kinderfreundlichkeit 74,4 Sportnation 81,6 Verfall der Altbauten Zusammenhalt der Arbeitskollektive Wohnungsbau 24,0 Wirtschaftliche Stagnation 61,6 Totale Überwachung 72,6 Gängelei und Bevormundung 73,4 44,8 Gleichmacherei Resignation 46,7 Datenbasis: ident
(Angaben in Prozent) Dez. 1990 Teilw. Nein
Ja
Nov. 1995 Teilw. Nein
9,1 7,9 11,3 16,8
0,6 0,8 1,6 2,7
20,8 40,8 39,9 36,2 42,9 43,8 50,7
1,9 8,4 6,5 17,3 12,5 18,1 24,4
30,2
3,6
19,0 12,6
2,2 1,9
87,9 88,5 83,5 74,6
55,1 31,0 19,4 20,5 32,7 40,5
16,3 2,0 5,0 3,4 7,3 7,3
73,2 46,7 46,6 42,0 40,4 30,8 18,4
Deutlich zu erkennen ist, daß sich die 1990 noch stark ausgebildete und in manchen Punkten vielleicht auch überzeichnete Kritik an der DDR relativiert hat. Tatsächliche oder vermeintliche Stärken der DDR-Gesellschaft werden im Rückblick inzwischen wieder deutlicher wahrgenommen. Dabei spielt der Kontrast mit den Erfahrungen der letzten Jahre keine unwesentliche Rolle, so etwa bei der Aufwertung der sozialen Sicherheit oder bei der Neubewertung von Resignation als Kennzeichnung der vorherrschenden Stimmungslage. Gleichmacherei erscheint angesichts der teilweise dramatischen sozialen Differenzierungsprozesse in Ostdeutschland inzwischen nur noch eingeschränkt kritikwürdig. II*
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Obwohl inzwischen hinreichend Einzelheiten zum Überwachungssystem des Ministeriums für Staatssicherheit bekannt sind und von den Medien verbreitet wurden, ist die Bereitschaft, die totale Überwachung als DDR-typisch zu bewerten, deutlich zurückgegangen. Das macht das Schicksal von Betroffenen nicht ungeschehen. Es verweist eher darauf, daß sich die Alltagswahrnehmung von Mehrheiten nicht unbedingt mit den historischen Tatsachen und den persönlichen Erfahrungen von Minderheiten decken muß. Immerhin ist inzwischen in der Bundesrepublik bei jedem Zweiten (West=53,6 und Ost=59, 1 Prozent) völlig bzw. weitgehend die Meinung konsensfahig, man solle endlich aufhören, nach Stasi-Mitarbeit zu fragen. Prinzipiell widersprechen diesem Meinungstrend in den alten Bundesländern nur 21 und in den neuen sogar nur 18 Prozent der Befragten. 14 Ob das nun als "Verklärung" oder als "Rückkehr zu Realismus" zu apostrophieren ist, bedarf wohl noch einer eingehenden Ursachenforschung. In unserer Erhebung von 1995 ließ sich jedenfalls eine spezielle Gruppe von "Nostalgikern" nicht ausmachen. Zu vermuten war, daß die Altersgruppe der 45- bis 60jährigen, die beruflich und biografisch eng mit dem DDR-System verbunden war, die besonders stark mit den Nachteilen der deutschen Einheit konfrontiert und die"verlorene Generation" ist, eine stärker verklärende und rechtfertigende Sicht entwickelt. Dies bestätigte sich jedoch nicht. In fast allen relevanten Fragen weicht diese Altersgruppe mit ihren Antworten kaum vom allgemeinen Durchschnitt ab. Tabelle 6 Charakterisierungen der DDR-Gesellschaft nach Altersgruppen (Auswahl von 1995, Angaben in Prozent)
Soziale Sicherheit Wohnungsbau Totale Überwachung Gängelei und Bevormundung
Datenbasis: ident
14
Ja Teilweise Nein Ja Teilweise Nein Ja Teilweise Nein Ja Teilweise Nein
18-34 Jahre 90,7 8,6 0,0 44,4 47,5 7,4 40,1 41.4 17,3 36,4 45, 1 17,3
Siehe ALLBUS 1994. Codebuch, S. 136.
35-44 Jahre 92,9 4,8 0,6 46,4 42,3 8,9 32,7 45,8 18,5 36,3 50,0 11,9
45-60 Jahre 85,5 11,5 1,2 43,7 42,9 9.4 46,1 32,7 17,7 42,1 38,2 15,7
über 60 Jahre 86,6 10,1 0,4 52,6 34,4 6,9 45,3 31.2 16,6 44,1 42,1 6,5
Ostdeutsches Wir-Bewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt?
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Das Anwachsen bzw. die neuerliche Stabilisierung von ostdeutschem WirBewußtsein in vielen Bereichen läßt sich nicht ohne weiteres als Ergebnis einer Nostalgie und DDR-Verklärung einerseits oder als Trotzreaktion oder Enttäuschungseffekt der deutschen Einheit andererseits erklären. Die Zusammenhänge zwischen ldentitätsfmdung und Wirkungen von Sozialisationserfahrungen sowie Gegenwartsprozessen sind außerordentlich komplex und in ihren Folgen für den Einzelnen und für Gruppen durchaus widersprüchlich. Um kurzschlüssigen Wertungen vorzubeugen, muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß eine positive Bewertung verschiedener Bereiche der DDR-Gesellschaft nicht apriori auf eine Parteinahme für das politische System schließen läßt. Ebensowenig können kritische Einschätzungen im nachhinein als Widerstandspotential deklariert werden. Jüngere retrospektive Befragungen bestätigen inzwischen die Trends, die bereits durch die DDR-Meinungsforschung erhoben wurden. 15 So ist die Zahl derer, die ihr Verhältnis zum politischen System der DDR als "Anpassung ohne Überzeugung" charakterisieren, gegenüber 1990 von damals 52 auf inzwischen 37 Prozent drastisch zurückgegangen. Zu einer Parteinahme für das DDRSystem bzw. zu einer positiven Einstellung bei partieller Kritik bekannten sich im Herbst 1993 immerhin 43 Prozent. Diese Personengruppe machte im Herbst 1990 nicht einmal30 Prozent aus. Als erklärte Gegner des politischen Systems der DDR ließen sich jeweils nur Minderheiten (7 bzw. 6 %) ermitteln. 16 Ostdeutsches Wir-Bewußtsein läßt sichjedoch keinesfalls nur aus dem Nachhall historischer Faktoren und gegensätzlicher Sozialisation erklären. Erfahrungen mit der deutschen Einheit und der Transformation der ostdeutschen Gesellschaft haben gleichfalls ihre Spuren hinterlassen. Die Einwirkung jüngster Erfahrungen auf die retrospektive Beurteilung der DDR-Gesellschaft sind bereits angedeutet worden. Im folgenden sollen weitere Transformationseffekte benannt werden, die in der Untersuchungsreihe sichtbar werden und in einem nachweisbaren ZuJs Siehe u.a. Peter Förster!Günter Roski: DDR zwischen Wende und Wahl. Meinungsforscher analysieren den Umbruch, Berlin 1990; Walter Friedrich: Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeinmg Das Parlament, B 16-17/1990; ders .: Regierte die SED ständig gegen die Mehrheit des Volkes? In: Ansichten zur Geschichte der DDR. Bd. V, hrsg. von Jochen Cerny, Dietmar Keller und Manfred Neuhaus, Bonn/Berlin 1994, S. 123-147; Helmut Meier: Identifikation mit der DDR durch ihre Bürger. In: Ebenda, Bd. IV, Bonn/Berlin 1994, S. 269-288; ders.: Geschichtsbewußtsein und historische Identität in der DDR. Versuch einer kritischen Bilanz, Berlin 1996 (Hefte zur ddr-geschichte. 31); Heinz Niemann : Meinungsforschung in der DDR, Köln 1993; ders.: Hinterm Zaun. Politische Kultur und Meinungsforschung in der DDR. Die geheimen Berichte an das Politbüro der SED, Berlin 1995. 16
Siehe Infratest Kommunikationsforschung 10/1993-23 .
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sammenhang mit Identifikationsentscheidungen stehen. Dabei ist eine Beschränkung auf ausgewählte Beispiele unumgänglich. 3. Das Passivitätssyndrom der Transformation
Aus der Untersuchungsbilanz geht hervor, daß vor allem die massenhaft reflektierte Erfahrung, von wichtigen Entscheidungen bei der Gestaltung der deutschen Einheit ausgeschlossen zu sein, eindeutig kontraproduktiv für die Integration in die Gesellschaft der Bundesrepublik ist. Diese Erfahrung wirkt als konservierendes Ferment auf ostdeutsch orientierte Identitätsentscheidungen. Dabei ist es zunächst völlig unerheblich, ob diese subjektive Empfindung den realen Sachverhalt adäquat widerspiegelt oder überzeichnet. Tabelle 7 Einfluß auf den Einigungsprozen und auf die Entwicklung im vereinigten Deutschland; subjektive Wahrnehmung (Angaben in Prozent)
Okt. 1990 Ich fühle mich als aktive/r Mitgestaller/in 9,8 Ich bin (lediglich) interessierte/r Beobachter/in 48,6 Ich sehe mich von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen bzw. überrollt 36,1 Datenbasis: ident und ISOA-Report
Dez. 1990 Okt. 1991 März 1992 Okt. 1993 Nov. 1995 18,3
11,6
9,3
6,3
7,8
36,7
47,2
35,7
34,6
36,0
42,4
35,2
50,9
58,4
55,3
Wie aus vorstehender Tabelle ersichtlich, hat sich die Zahl derjenigen, die sich als Mitgestalter begreifen, auf niedrigstem Level stabilisiert. Die Mehrzahl, die sich ausgeschlossen fühlt, macht seit mehreren Jahren mehr als die Hälfte aus. Angesichts dieser Ergebnisreihen muß von einem verfestigten Meinungsbild oder treffender von einem sich verfestigenden historisch-politischen Erfahrungswert gesprochen werden, dessen Langzeitwirkung noch nicht abzusehen ist. Bedenklich ist vor allem, daß in der Altersgruppe der 18-34jährigen das Gefühl des Ausgeschlossenseins überdurchschnittlich ausgebildet ist. In der letzten Erhebung ordneten sich 70 Prozent der männlichen und 59 Prozent der weiblichen Probanden dieses Alterssegmentes einer solchen Einschätzung zu. Zu den Mitgestaltem zählte sich nur eine verschwindende Minderheit von knapp 2 bzw. 6 Prozent (männlich/weiblich).
Ostdeutsches Wir-Bewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt?
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Tabelle 8 Einfluß der subjektiv empfundenen politischen Mitbestimmung im vereinigten Deutschland auf Identifikationsentscheidungen (Erhebung 1995, Angaben in Prozent) Deutsche/r
Mitgestaltertin Beobachter/in Ausgeschlossene/r Durchschnitt 1995 Datenbasis: ident
62,1 62,7 46,4 53,4
Bürger/in der Bundesrepublik 40,9 24,8 10,0 17,8
Ostdeutsche/r
22,7 32,7 49,8 41,2
ehemalige/r DDRBürger/in 21,8 26,8 42,8 35,1
Der Zusammenhang zwischen erlebbarer Integration in politische Prozesse und Entscheidungen und der Zuordnung zu Identifikationsmustern ist so augenscheinlich, daß er keiner gesonderten Interpretation bedarf. Die Korrelationen der vorangegangenen Erhebungen wiesen die gleichen grundsätzlichen Relationen aus. Das Gefühl, Objekt von Vorgängen zu sein, ist durch den gewählten Weg des Anschlusses und die schlagartige Übertragung des Wirtschafts-, Staats- und Rechtssystems der Bundesrepublik auf die ostdeutschen Länder teilweise mitbedingt. Ein Transformationsprozeß, der den Ostdeutschen kaum eigene Gestaltungsräume ließ, muß zwangsläufig Beobachtermentalität und Ausgrenzungsgefühle fördern. Der bereits eingangs zitierte Claus Offe hatte bereits kurz nach dem Vollzug der staatlichen Einheit als gravierendsten und folgenschwersten Unterschied der Umbrüche in Ostdeutschland und in Osteuropa festgemacht, daß anders als in den ehemaligen Ostblockstaaten in Ostdeutschland Subjekt und Objekt der Transformation nicht identisch seien. Die Dominanz westdeutscher, also faktisch "externer" Akteure laufe auf eine "Transformation von außen" hinaus. 17 Eine Trendwende kann folglich nicht allein durch politische Bildung herbeigeführt werden. Sie erfordert die stärkere Einbeziehung der Ostdeutschen in politische Entscheidungs- und gesellschaftliche Gestaltungsprozesse, die über Stimmabgabe bei Wahlen hinausgeht. 4. Desillusionierungsprozesse und alltagsorientierter Systemvergleich
Einschneidend und besorgniserregend ist der Desillusionierungs- bzw. Ernüchterungsprozeß, der in den letzten Jahren im Verhältnis der Ostdeutschen zur Gesellschaft der Bundesrepublik und ihren politischen Institutionen eingetreten ist. Seit Anfang 1992 weisen unsere Erhebungen einen dramatischen 17 Siehe Claus Offe: Die Integration nachkommunistischer Gesellschaften: die ehemalige DDR im Vergleich zu ihren osteuropäischen Nachbarn, a.a.O. , S. 806-817.
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Rückgang des Vertrauens in wesentliche Grundsätze der bundesdeutschen Gesellschaft (Sozialstaat, Demokratie, Rechtsstaat) und einen signifikanten Anstieg des Mißtrauens aus. Dieser Trend hat sich zwar 1995 nicht in allen Positionen fortgesetzt, ob jedoch eine wirklich gegenläufige Entwicklung, d. h. eine erneute Vertrauensbildung in Gang kommt, bleibt abzuwarten. Eine gewisse Skepsis ist angebracht, da sich die Zahl der Unentschlossenen, die zwischen Vertrauen und Mißtrauen pendeln oder einer Antwort gänzlich ausweichen, sehr hoch ist. Entwarnung kann m. E. bei den vorliegenden Befunden auf keinen Fall gegeben werden. Wenn nach Quellen für die Reaktivierung und tendenzielle Stabilisierung des ostdeutschen Wir-Bewußtseins gesucht wird, kann an der enttäuschten Erwartungshaltung gegenüber den Möglichkeiten und Potenzen der mehrheitlich selbst gewählten Gesellschaft nicht vorbeigegangen werden. Tabelle 9 Vertrauensbasis
(Angaben in Prozent, nicht ausgewiesen werden Antwortausfalle)
Ich vertraue fur die Zukunft vor allem auf ... die soziale MarktwirtJa schaft Teilweise Nein Demokratie und Ja Rechtsstaatlichkeit Teilweise Nein die Politiker meiner Ja Wahl I (ab 1995:) dieTeilweise gewählten Politiker Nein die Gewerkschaften Ja Teilweise Nein meine Familie Ja Teilweise Nein Ja mich selbst Teilweise Nein Ja nichts mehr Teilweise Nein Datenbasis: ident
Dez. 1990
März 1992
Okt. 1993
Nov. 1995
64,1 27,9 4,0 62,6 31,3 3,0 52,3 33,0 10,8 33,0 48,1 13,0 92,0 3,5 0,8 91,2 4,3 1,0 3,4 8,5 82,6
28,4 39,1 29,9 26,6 40.5 26,8 16,5 32,6 42,8 14,4 35,9 36,3 86,1 8,3 1,2 79,4 11,6 0,9 4,0 16,0 61,6
16,5 40,4 34,3 21,2 36,8 33,7 11,3 29,8 48,9 9,2 40,7 37,4 84,6 6,4 2,3 80,7 9,5 1,6 6,4 19,2 58,3
20,4 42,6 7.4 24,2 38,0 27,8 4,1 26,9 59,6 10,2 42,4 35,7 77,9 10,2 3,8 74,8 11,9 2,4 4,5 12,6 60,0
Charakteristisch für die Situation 1990 war zunächst der beachtliche Vertrauensvorschuß, der dem politischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik und ihren konstitutiven Werten entgegengebracht wurde. Im Sommer 1990 ließ sich nur eine verschwindende Minderheit (3,4 %) ausmachen, die das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik prinzipiell ablehnte. Die Wahl-
Ostdeutsches Wir-Bewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt?
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ergebnisse des gleichen Jahres bestätigten diesen Sachverhalt. Bei unserer Erhebung Ende 1990 bekräftigten, wie aus obiger Tabelle ersichtlich, zwei Drittel ihr Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft und in die Grundsätze der Demokratie und RechtsstaatlichkeiL Nur drei bis vier Prozent teilten damals diese positive Erwartung nicht. Dies wurde ergänzt durch ein gut ausgebildetes Selbstvertrauen der Ostdeutschen. Selbst die jeweils gewählten Politiker konnten mit über 52 Prozent noch einen mehrheitlichen Vertrauensbonus verbuchen. Da die Antwortvorgabe auf den "Politiker meiner Wahl" zielte, war die folgende Entwicklung um so bedenklicher. Der Vertrauensschwund trafnicht nur Regierungs-, sondern auch Oppositionsparteien. Als 1995 die Antwortvorgabe auf die "gewählten Politiker" zugespitzt und damit stärker auf Regierungsverantwortung und Regierungsmehrheiten orientiert wurde, löste das einen deutlichen Anstieg der Mißtrauensquote und eine Marginalisierung des Vertrauenspotentials aus. Betrachten wir die Altersdifferenzierung, so fallt auf, daß das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft, in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie in die gewählten Politiker bei Probanden zwischen 18 und 34 Jahren deutlich niedriger und das Mißtrauenspotential teilweise erheblich höher ist. Auch unter diesem Blickwinkel dürften Warnsignale angebracht sein. Bei den über 60jährigen hingegen ist das Verhältnis zwischen Vertrauens- und Mißtrauenserklärungen wesentlich ausgeglichener. Tabelle 10
Zusammenhang zwischen Altersgruppen und Vertrauen (Auswahl aus der Erhebung von 1995, Angaben in Prozent)
Ich vertraue für die Zukunft vor allem auf.. . die soziale Marktwirtschaft Ja Teilweise Nein Demokratie und RechtsJa Staatlichkeil Teilweise Nein die gewählten Politiker Ja Teilweise Nein mich selbst Ja Teilweise Nein Datenbasis: ident
18 bis 34Jahre 13,6 49,4 34,6 18,5 42,2 35,2 3,1 21,6 73,5 84,6 11,7 1,9
über 60 Jahre 21.5 37,2 27,1 31,2 35,2 19,0 5,7 32,0 48,6 65,6 10,9 3,6
Dieser deutliche Ausdruck von Enttäuschung bzw. Ernüchterung ist kein Votum gegen die deutsche Einheit und auch keines gegen sozialstaatliche und rechtsstaatliche Prinzipien. Hier liegt eher eine an Alltagserfahrungen orientierte Bewertung vor.
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Häufig ist nicht genügend bewußt, daß die Ostdeutschen den Systemvergleich nicht als idealtypisches Planspiel, sondern in erster Linie als praktisch erlebten Systemwandel vollziehen müssen. Der Soll-Ist-Vergleich, das Abwägen von Anspruch und Wirklichkeit, die letztlich die Abkehr von der DDR-Gesellschaft bewirkten, werden selbstverständlich für die neue Gesellschaft ebenfalls in Anschlag gebracht. Die Bewertung von Institutionen, Problemen und Prozessen in der Bundesrepublik erfolgt für lange Zeit durch die zusätzliche Folie einer DDR-Sozialisation und wird von ihr beeinflußt. Daraus resultieren häufig erhebliche Unterschiede im Meinungsbild zwischen der ost- und der westdeutschen Population. In der allgemeinen Bevölkerungsbefragung der Sozialwissenschaften wurde 1994 z.B. die Frage nach der Funktionstüchtigkeit des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland gestellt. Fast 7 Prozent der Westdeutschen, aber nur 0,8 Prozent der Ostdeutschen meinten, es funktioniere gut und müsse nicht geändert werden. Über 57 Prozent der Westdeutschen und über 40 Prozent der Ostdeutschen betrachteten es im großen und ganzen als gut funktionierend, wollten es jedoch in einigen Punkten geändert wissen. Nur ein knappes Drittel der Westdeutschen, aber die Hälfte der Ostdeutschen mahnten relativ weitgehende Veränderungen an. Für eine völlige Veränderung des politischen Systems sprach sich jeder zehnte Ostdeutsche aus, während diese Meinung nur 4,2 Prozent der Altbundesbürger teilten. 18 Der alltagsorientierte und erlebnisgeprägte Vergleich zwischen den beiden deutschen Gesellschaften signalisiert selbst in seinen verzerrenden Äußerungen auf jeden Fall potentielle Konfliktfelder und Reformbedarf. Ein typisches Beispiel dürfte das Meinungsbild zum Vergleich demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten sein. Tabelle 11
Beurteilung demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten im Vergleich zur DDR-Zeit (Erhebung 1995, Angaben in Prozent, Antwortausfalle nicht ausgewiesen)
Die Möglichkeit demokratischer Mitwirkung ... am Arbeitsplatz in der Kommune in der großen Politik Datenbasis: ident
18
hat sich verbessert
ist gleichgeblieben hat sich verschlechtert
10,2 23,5 15,8
22,5 34,6 37,9
Siehe ALLBUS 1994. Codebuch, S. 131.
51,9 32,2 36,1
Ostdeutsches Wir-Bewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt?
171
Aus der repräsentativen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften von 1992 ergibt sich ebenfalls ein gegenüber dem Befund in den alten Bundesländern stärker kritisch akzentuiertes Urteil der Ostdeutschen zur Demokratie in der Bundesrepublik. Nur 19,7 Prozent zeigten sich damals mit der bestehenden Demokratie zufrieden, 27,7 Prozent hingegen unzufrieden. Unter den Westdeutschen fiel das Urteil umgekehrt aus (47,9:13,7 %). 19 Zum sachlichen und vorurteilsfreien Umgang mit solchen auf den ersten Blick vielleicht befremdenden Ergebnissen des individuellen Systemvergleichs mahnt Ilse Spittmann in einem Aufsatz vom September 1995. Dort heißt es: "Warum muß ihnen (gemeint sind die Ostdeutschen, d.A.) alles gefallen, was unter ganz anderen Bedingungen in der alten Bundesrepublik gewachsen ist? Vieles davon ist inzwischen reformbedürftig. " 20 Kontrastiert wird der systemkritische Akzent von der Einschätzung des persönlichen Lebensstandards. llm sehen inzwischen fast 49 Prozent als deutlich verbessert (1990 erst 17 %) und weitere 34 Prozent als gleichgeblieben an. Verschlechterungen oder Existenzbedrohungen signalisieren nur 11 bzw. 5 Prozent. In diesem Bereich schlägt der alltagsorientierte Systemvergleich zugunsten der Bundesrepublik zu Buche. Damit wird jedoch zugleich deutlich, daß die Kritik an der bundesdeutschen Gesellschaft nicht .. Verlierern der Einheit" zugewiesen werden kann. 5. Spezifik ostdeutscher Reproduktionsbedingungen und Lebenswelten
Die Entwicklung und die Stabilisierung des ostdeutschen Wir-Bewußtseins wurzelt nicht zuletzt in der Spezifik ostdeutscher Lebensverhältnisse und Reproduktionsbedingungen, die sichtrotz Transferleistungen vielfach noch erheblich von denen in den alten Bundesländern unterscheiden. Das West-Ost-Gef I> R ·Wirtschaft auswirkten, woraus sich schlußfolgern läßt, daß die Anzeichen fiir die Wirtschaftsschwäche der DDR in verschiedenen Zeiträumen unterschiedlich ausgeprägt waren, gilt für Buchheim das Verdikt der systembedingten Wirtschaftsschwäche und damit auch des Wirtschaftswachstums gewissenilallen als "Erbkrankheit" der ostdeutschen Wirtschaft von Anfang an. (Diesen Anfang bestimmt er mit dem Jahr 1948). Buchheim gerät damit in gewisse Erklärungsnöte, warum sich die DDR-Wirtschaft auf der Basis strukturhest immter Ineffizienz mehr als vier 1ahrzehnte halten konnte. Es ist daher kein 7.uf::tll, daß gerade er, der sich so eindeutig hinsichtlich der Ursachen der Wirtschaftsschwäche der DDR äußert, sich auch auf die Suche nach den Ursachen ihrer relativ lange Existenz macht. Generell sieht er - nach seinem Erkärungs::~nsatz ganz folgerichtig - deren Überlebensstragegie in der Vermeidung einer direkten Konfrontation ihrer Planwirtschaft mit dem marktwirtschaftliehen System im offenen Wettbewerb. "Kurzfristig betrachtet," schreibt Buchheim. ,.war die Existenz des RGW ein enormer Vorteil für die kleineren. planwirt sch::tftlich organisierten osteuropäischen Länder, darunter die DDR, da es ihnen 11
R Km1,rh. Die Auswirkungen, S . 139.
11
Fh,-nd ~ . S. 140.
Alles nur systembedingt?
227
durch ihn möglich war, qualitativ nicht dem Weltmarktstandard entsprechende Fertigwaren zu relativ sehr hohen Preisen zu exportieren und mit dem Erlrnev und A.A. d>rnabaev: Posetiteli kremlevskogo kabineta I.V. Stalina. Zurnaly (tetradi) zapisi lic, prinjatych pervym gensekom 19241953gg., (Teil 1944-45), in: lstoriceskij archiv 4/1996, S. 66-131, hier S. 103. Den Hinweis verdanke ich dem Beitrag von Herrn Dr. Wenig in der Diskussion.
20 Besprechung am 4.6.1945 um 6 Uhr bei Stalin, Molotov, Zdanov, dokumentiert in Wilhelm Pieck - Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-1993, hrsg. von Rolf Badstübner und Wilfried Loth, Berlin 1994, S. 50 ff. Vgl. Nach Hitler kommen wir, S. 120 f.; Laufer, Jochen: "Genossen, wie ist das Gesamtbild?" Ackermann, Ulbricht und Sobottka in Moskau im Juni 1945, in: DA (29), 3/1996, S. 355-371, fiir einen Überblick über die verschiedenen Interpretationen der Pieck-Notizen s. ebenda, S. 356 (Anm. 10-17). 21 Abschriften des Stellenplans sowie die Festlegungen über die "Nächste[n] zentrale[n] Aufgaben der Parteifiihrung" vom 9.6.1945 sind - wie alle Dokumente in dieser Dokumentation- faksimiliert und ohne genaue Quellenangabe, veröffentlicht in: Dokumente I, S. 222-225. Versionen mit handschriftlichen Zusätzen fanden sich auch im Nachlaß Ulbrichts, s. Gruppe Ulbricht, S. 506-514. Zum Etat fiir die Bezirkes. SAPMO-BArch DY 30 NY 4182/851, BI. 50.
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Michael Kubina
gelang erst im Juli 1946 die Rückkehr aus dem Exil in Mexiko. Dahlem hatte sich nach seiner Befreiung aus dem KZ Mauthausen zunächst nach Moskau begeben und kam von dort am 1. Juli 1945 zusammen mit Pieck und anderen Kommunisten nach Berlin. 22 Am nächsten Abend fand die erste Sitzung des Sekretariats der KPD statt, auf der Ulbricht "über die Vorbereitungen des Parteiaufbaus" Bericht erstattete.23 Als klar wurde, daß Ulbricht die Verantwortung für Kaderfragen an Dahlem abgeben sollte, 24 versuchte Ulbricht durch die nachträgliche Einfügung einer Organisations-Abteilung in den in Moskau festgelegten Plan für den Aufbau des zentralen Parteiapparates sich den Zugriff auf die Parteiarbeit zu sichern. 25 Dahlem konnte sich aber auf den nächsten Sitzungen des Sekretariats gegenüber Ulbricht durchsetzen und sich die alleinige Verantwortung für "Parteiaufgaben und allgemeine Kontrolle der Parteiarbeit in den Bezirken, Kaderfragen, Sport" sichern und Ulbricht aus der Organisationsarbeit der Partei zumindest formal verdrängen (s. Tabelle 1).26 Die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Ulbricht und Dahlem im Sommer dürfen allerdings nicht überbewertet werden. Es ging vor allem um den persönlichen Einfluß in der Partei, zumindest noch zu dieser Zeit kaum um unterschiedliche politische Konzepte. Zudem verstand es Ulbricht, innerhalb kurzer Zeit wieder Kompetenzen an sich zu ziehen. Nach der Vereinigung von KPD und SPD zeichnete Ulbricht zusammen mit Dahlem verantwortlich für die
22 S. Dahlem, Franz: Mit Wilhelm Pieck im Flugzeug zurück nach Deutschland, in: Vereint sind wir alles. Erinnerungen an die Gründung der SED, Berlin (Ost) 1966, S. 15-41, hier S. 24. 23
Protokoll der Sekretariatssitzung am 2.7.1945, Dokumente I, S. 32 f.
24
S. Nach Hitler kommen wir, S. 123 und 389.
25 In Dokumente I (vgl. Anm. 21) werden "wegen der schlechten Qualität der Originalvorlagen" die beiden Beschlüsse "nach den bei der Erschließung im Zentralen Parteiarchiv angefertigten Klarschriften wiedergegeben" (S. 551, Anm. 723), die nicht vollkommen identisch sind mit dem in der Akte liegenden Durchschlag des Originals. Diese Abweichungen sind inhaltlich jedoch nicht sonderlich relevant. Beides, Abschrift wie Durchschlag, sind in den Archivunterlagen übrigens dem Protokoll der ersten Sekretariatssitzung am 2.7.1945 in Berlin zugeordnet, was aus der Veröffentlichung durch Benser/Krusch nicht ersichtlich ist. Im Nachlaß Ulbrichts findet sich ein "höherer" Durchschlag dieses Papiers. In diesem ist über "2.) Kaderabteilung" handschriftlich mit Bleistift eingefügt "2. Orgabteilung" und Kaderabteilung in Punkt 3 korrigiert worden. S. SAPMO-BArch DY 30 NY 4182/851, BI. 51-52, faksimiliert in Gruppe Ulbricht, S. 510 ff. 26
Protokolle der Sekretariatssitzungen am 8.7. und 28.7.1945, Dokumente I, S. 34-36 bzw. 50 f.
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"Verbindung mit den Bezirken mittels der Abteilung Instrukteure der vier Zonen" .27 Nach den Moskauer Richtlinien28 waren im zentralen Parteiapparat zunächst nachfolgend genannte Abteilungen sowie die Redaktionen für das Zentralorgan29 und die theoretische Zeitschrift30 zu schaffen. Die für die nächsten Aufgaben der Partei wichtigsten Abteilungen waren, gemessen an den vorgesehenen Stellen (folgende Angaben ohne technisches Personal): 31 Agitprop, Kader, (0rganisation), 32 Bauern, Wirtschafts- und Genossenschaftsfragen, Jugend, Information, Frauenfragen, Abt. Kasse und Buchhaltung, Geschäftsabteilung, Sekrete Abteilung (Sekret-Abteilung). 33 Mit 7 vorgesehenen Mitarbeitern war die Agitpropabteilung die mit Abstand größte, gefolgt von der Bauernabteilung (4) und der Kaderabteilung (3). Die anderen Abteilungen sollten zunächst nur aus einem oder zwei Mitarbeitern bestehen. Die Sekret- bzw. Allgemeine Abteilung war faktisch und, zumindest seit dem Umzug der Parteizentrale aus der Wallstraße in die Lothringer Straße im April 1946, auch räumlich Teil des Büros Ulbricht. Die tatsächliche Einrichtung dieser Abteilungen zog sich allerdings teilweise bis zum Frühjahr 1946 hin. Eine wichtige Schnittstelle zwischen dem zentralen Apparat von KPD und auch später der SED und den staatlichen Verwaltungen bzw. den Massenorganisationen stellten auf Beschluß des Sekretariats der KPD gebildete Kommissionen bzw. Ausschüsse dar. Terminologie und auch ihr Status waren nicht 27 So Dahlem bei der Vorstellung der Kompetenzverteilung im Zentralsekretariat vor dem Parteivorstand, s. Stenographische Niederschrift über die 2. Sitzung des Parteivorstandes der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlandsam 14. una 15. Mai 1946, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/112, BI. 16 f.; vgl. auch Protokoll der Sekretariatssitzung am 20.3.1946, Dokumente I, S. 193197. Vgl. auch Kaiser: Zentrale der Diktatur, S. 62 f.
28
S. Anm. 21 und vgl. Anm. 25.
29 Die erste Nummer der "Deutschen Volkszeitung" erschien mit Datum vom 13. Juni 1945 und veröffentlichte den als Gründungsaufruf geltenden und in Moskau "beratenen" "Aufruf der Kommunistischen Partei Deutschlands. Schaffendes Volk in Stadt und Land! Männerund Frauen! Deutsche Jugend!" . 30
Die erste Nummer der dann "Einheit" genannten Zeitschrift erschien erst im Frühjahr 1946.
31
Die Angaben beruhen vor allem auf dem in Anm. 21 genannten "Stellenplan" .
32
Vgl. Anm. 25.
33 Unter dieser Bezeichnung bzw. als "Sekretariatsabteilung" wurde zunächst die später sog. Allgemeine Abteilung geführt, die für die Kontakte zu den sowjetischen Stellen zuständig war.
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genau festgelegt. Was seit dem Sommer 1945 teilweise noch als "Kommission" gebildet wurde, war meist im späteren Sprachgebrauch ein "Ausschuß" oder auch "Beirat". Diese waren längerfristiger angelegte Gremien, in denen sich für bestimmte Sachgebiete verantwortliche Mitarbeiter des zentralen Apparates mit Genossen aus den Verwaltungen, den Landes- bzw. Provinzialregierungen oder auch dem FDGB trafen und ihr Vorgehen koordinierten. Geleitet wurden sie von einem Sekretär. Während die Ausschüsse/Beiräte einer permanenten Koordinierung dienten und gegebenenfalls möglichst schnelle Absprachen bei akuten Problemen ermöglichen sollten, wurden prinzipielle Fragen sowie entsprechende Handlungsrichtlinien auf analogen zentralen Konferenzen besprochen. Im Herbst 1945 beschloß das Sekretariat, enstprechend der Struktur der Deutschen Zentralverwaltungen, Ausschüsse zu bilden für Wirtschaftsfragen, Kommunalpolitik, Landwirtschaftsfragen, Arbeit und soziale Fürsorge und für Juristische Fragen. 34 Sie waren personell eng verbunden mit den entsprechenden Abteilungen im Sekretariat bzw. bildeten die Grundlage bei der Schaffung entsprechender Abteilungen in den folgenden Wochen. Vor allem im Vorfeld der Vereinigung mit der SPD wurde der in seinen wesentlichen Elementen feststehende KPD-Apparat Anfang 1946 personell erheblich verstärkt und terminologisch wie strukturell "kompatibel" mit der SPD bzw. deren Parteiapparattraditionen gemacht. Anstelle der traditionell kommunistischen Agitpropabteilung wurden beispielsweise drei selbständige Abteilungen für Werbung und Schulung der Mitglieder, für Kultur und Erziehung sowie für Presse und Information geschaffen. 35 Die Kaderabteilung sollte sich fortan Personalabteilung bzw. Personalpolitische Abteilung nennen. 36 In die Vereinigung mit der SPD brachte die KPD dann einen im Prinzip arbeitsfähigen Apparat ein, der in Struktur und personeller Besetzung im wesentlichen unverändert blieb, allerdings erheblich mit Personal, jetzt auch aus der SPD, "aufgefüllt" wurde. Aus einem kleinen Apparat von ca. 20 Mitarbeitern im Sommer 1945 war bis kurz vor der Vereinigung mit der SPD ein Apparat von über 100 Mitarbeitern geschaffen worden. Im September 1946
34
Protokoll der Sekretariatssitzung am 1.10.1945, Dokumente I, S. 93-95.
15
Protokoll der Sekretariatssitzung am 14.1.1946, Dokumente I, S. 148-152.
16 Protokoll der Sekretariatssitzung am 25.2.1946, Dokumente I, S. 175-176, bzw. Organisierung der Abteilungen beim Zentralsekretariat des Parteivorstandes, Mai 1946, SAPMO-BArch DY 30 NY 4182/901, 34-45, hier BI. 41.
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waren bereits über 300 Mitarbeiter im zentralen Parteiapparat beschäftigt (alles ohne technisches Personal). 37 Dabei überwog die Zahl der ehemaligen Kommunisten die der Sozialdemokraten erheblich. Entsprechende Statistiken konnten noch nicht gefunden werden, obwohl die PPA beispielsweise im Herbst 1946 mit der Erstellung einer solchen Statistik beauftragt worden war. 38 Aus dem Landesvorstand Berlin liegt aber eine solche Statistik für Sommer 1947 vor, nach der 44 KPDFunktionären 21 aus der SPD und 47 Angestellten aus der KPD 29 aus der SPD gegenüber standen. 39 Ähnlich, wenn nicht noch ungünstiger für die Sozialdemokraten, dürften die Verhältnisse im zentralen Parteiapparat gewesen sein. Auch das vereinbarte Paritätsprinzip war genau genommen von Anfang an Fiktion. Etliche Leitungsfunktionen blieben ohne "Parität", bei anderen standen apparatgeschulten KP-Funktionären unerfahrene SPD-Funktionäre aus der Provinz gegenüber. Wie es die Kommunisten verstanden, bei formaler Aufrechterhaltung der "Parität" bereits von Anfang an eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu ihren Gunsten zu erreichen, macht auch die Besetzung des Zentralsekretariats deutlich. Hier war in den Gesprächen mit der SPD zunächst vorgesehen, die "Kassierer" der beiden Parteien, Alfred Oelßner (KPD) und August Karsten (SPD) auch als Sekretariatsmitglieder einzusetzen. 40 Seitens der KPD wurde jedoch Oelßner im letzten Moment durch Hermann Matern (KPD) ersetzt, der als Berliner SED-Chef natürlich ein größeres politisches Gewicht als Karsten in das Zentralsekretariat einbrachte. Matern war jedoch seitens der KPD bereits seit
37 Diese wie auch die nachfolgenden Angaben zum Personalbestand beruhen auf Personallisten sowie der Auswertung der Sekretariatsprotokolle hinsichlieh von Personalbeschlüssen. Sie sind mit einigen Ungenauigkeiten behaftet (starke Fluktuation v .a. 1945/46; Stellenbeschlüsse wurden nicht immer umgesetzt; Stenotypisten wurden als technisches Personal nicht mit aufgenommen, obwohl sie später z. T. in veranrwortliche Positionen aufstiegen u.ä. ). 38
Protokoll der Zentralsekretariatssitzung am 13.11.1946, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/2.1/46.
39 Nach einer Liste aller Funktionäre und Angestellten des Landesvorstandes Berlin nach parteipolitischer Herkunft, undatiert (ca. Sommer 1947), Landesarchiv Berlin (LAB) Bezirksparteiarchiv (BPA) IV L-2/5/511. 40 Kaiser: Zentrale der Diktatur, S . 63, die sich auf das Protokoll der Sitzung des Parteivorstandes vom 23.4.1946 beruft, vermittelt den Eindruck, als ob Alfred Oelßner als Sekretariatsmitglied die .,Parität~ von Karsten gewesen sei, übersah aber offenbar die handschriftliche Streichung in der Beilage zum Protokoll sowie den Text des Beschlusses selbst, der Matern und nicht Oelßner als Sekretariatsmitglied auffuhrt. Vgl. die Parallele zu Woitinas: Entwicklung des Parteiautbaus, S. 15, und Uebei!Woitinas: Entwicklung des Parteiautbaus, S. 8.
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längerem als Sekretariatsmitglied vorgesehen gewesen. 41 Bezeichnenderweise wurde aber Matern, als Dahlem Mitte Mai vor dem Parteivorstand seinen Bericht über die organisatorischen Arbeiten des Zentralsekretariats vorlegte, als Sekretariatsmitglied nicht mit aufgeführt. 42 Personell hatte der zentrale Parteiapparat seine Schwerpunkte eindeutig in den Bereichen: a) Propaganda, Kultur, Erziehung und Parteischulung sowie b) Kader und Organisation. Im ersten Bereich, der in etwa der vor der Vereinigung bestehenden Agitpropabteilung entspricht, waren 1947 fast 30 Prozent aller Mitarbeiter beschäftigt. Ebenfalls ca. 30 Prozent der Mitarbeiter arbeiteten im Bereich Kader und Organisation. Die restlichen Mitarbeiter verteilten sich auf auf die übrigen Abteilungen bzw. Arbeitsbereiche des zentralen Parteiapparates (s. Tabelle II). Die Personalverteilung im zentralen Parteiapparat der KPD/SED macht einerseits deutlich, auf welchen Gebieten der Arbeitsschwerpunkt dieses Apparates anfangs lag - nämlich einerseits im Bereich Propaganda (Kampagnen, Umerziehung, Bildung, Medien, Parteischulung) und andererseits im Bereich der Kaderarbeit in Partei, Staat und Verwaltung sowie bei der Konsolidierung des eigenen Apparates (Vereinheitlichung, Zentralisierung, Überprüfung). Die Struktur dieses Apparates spiegelt aber auch die konkreten Machtverhältnisse und politischen Rahmenbedingungen im damaligen Deutschland und der SBZ wider. Aus taktischen Gründen (Blockpolitik, deutschlandpolitische Optionen der Sowjetunion u.ä.) wie auch der Vier-Mächte-Kontrolle über Deutschland wegen konnte die KPD/SED ihren totalitären, alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sphären umfassenden Herrschaftsanspruch noch nicht offen artikulieren. Wichtige Politik-Bereiche durften nicht oder nur in
41 Am 20.3. 1946 hatte das Sekretariat der KPD beschlossen, Hermann Matern als Politischen Sekretär der Bezirksleitung Dresden fiir die Bezirksleitung Groß-Berlin abzuberufen. Gleichzeitig sollte er in dieser Funktion Mitglied des Sekretariats werden, s. Protokoll der Sekretariatssitzung am 20.3 .1946, Dokumente I, S. 193-197. Matern nahm bereits an der ersten Sitzung als Sekretariatsmitglied teil. Protokoll der Zentralsekretariatssitzung am 25.4 .1946, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/2.111 (Das Protokoll trägt die Nummer 2, ein Protokoll mit der Nummer 1 existiert nicht. Wahrscheinlich ist die erste Sitzung des Parteivorstandes damals vom Protokollanten gleichzeitig als erste Sitzung des Zentralsekretariats aufgefaßt worden.). 42 Stenographische Niederschrift über die 2. Sitzung des Parteivorstandes der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlandsam 14. und 15. Mai 1946, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/1/2, BI. 16-26. Matern hatte allerdings auch kein spezielles Arbeitsgebiet innerhalb des Sekretariats zugewiesen bekommen, sondern war lediglich als Berliner Parteichef aufgenommen worden.
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verdeckter Form vom SED-Apparat bearbeitet werden, so z.B. Außenpolitik, 43 die Blockpolitik, 44 die Gewerkschaftsarbeit oder die Abwehrarbeit. Für derartige Arbeitsfelder wurden entweder verdeckte Struktureinheiten im Parteiapparat geschaffen oder entsprechende Struktureinheiten wurden zunächst quasi in den staatlichen Bereich "ausgelagert". So machte Ulbricht beispielsweise auf einer erweiterten Sekretariatssitzung im November 1945 klar, warum im Sekretariat keine "Gewerkschaftsabteilung" gebildet wurde: "Wir wollen nicht, daß in der Öffentlichkeit etwa der Eindruck erweckt wird, daß die Kommunisten diese gewerkschaftliche Delegiertenberatung vorbereiten. 45 Deswegen werden wir nirgends davon sprechen, daß wir auf Konferenzen die Gewerkschaftsfrage behandeln, sondern wir behandeln die Fragen der Wirtschaft und des Arbeitsrechts. Wir haben keine Gewerkschaftsabteilung, weder beim ZK noch woanders, sondern wir haben bei den Bezirksleitungen und beim ZK eine Abteilung für Arbeit und Sozialfürsorge. " 46 Als "Parteiministerien" bzw. "ausgelagerte" Parteistrukturen können beispielsweise die Innenministerien bzw. die Deutsche Zentralverwaltung des Innern bezeichnet werden. 47
111. In den Nachkriegsjahren war die KPD/SED nicht nur als kommunistische Partei von den Weisungen der Moskauer Führung abhängig, sondern auch dem Besatzungsrecht der Alliierten unterworfen sowie an die offiziellen und inoffiziellen Anordnungen der SMAD gebunden, die ihrerseits wieder der politischen Führung in Moskau unterstand. An dieser Stelle kann allerdings nicht das 43 V gl. aber beispielsweise zu den bereits fiiihen Versuchen, außenpolitische Kontakte unter Ausnutzung der Verbindung aus der Zeit der Emigration nach Skandinavien aufzubauen, Scholz, Michael F.: Zur internationalen Arbeit der KPD/SED, in: Provisorium, S. 177-182. 44
Vgl. dazu den Beitrag von Friederike Sattler in diesem Band.
•s Es war beabsichtigt, mit einer Art "Einheitsfront von unten" über die Betriebe die Gewerkschaften in Berlin zu erobern. 46 Walter Ulbricht: Die nächsten Aufgaben auf dem Gebiete der Wirtschaft und des Arbeitsrechts, Referat auf der erweiterten Sitzung des Sekretariats vom 19./20.11.1945, Dokumente II, S. 179220, hier S. 202. 47 Vgl. Laufer, Jochen: Die Ursprünge des Überwachungsstaates in OstdeutscWand. Zur Bildung der Deutschen Verwaltung des Innern in der Sowjetischen Besatzungszone (1946), in: Die Ohnmacht der Allmächtigen. Geheimdienste und politische Polizei in der modernen Gesellschaft, hrsg. von Bernd Florath, Armin MitterundStefan Wolle, Berlin 1991, S. 146-168; Schneider, Dieter Mare: Innere Verwaltung/Deutsche Verwaltung des Innern (DVdl), in: SBZ-Handbuch, S. 207-217.
24 Timmennann
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Verhältniss von Besatzungsmacht und KPD/SED behandelt werden. 48 Es sollen lediglich einige knappe Hinweise zur Rolle der SMAD bei der Arbeit des zentralen Parteiapparates gegeben werden. Die Führer von KPD und SPD bzw. später der SED, vor allem Pieck, Ulbricht und Grotewohl, trafen relativ regelmäßig mit hohen Vertretern der SMAD zusammen. Nach Durchsicht der Notizen von Pieck, die über einige dieser Treffen vorliegen, läßt sich zumindest feststellen, daß es sich dabei eher um Unterweisungen als um einen Gedankenaustausch handelte, wobei der Themenkatalog meist sehr detailliert war und nahezu alle aktuellen, die Politik in der SBZ betreffenden Fragen aufgeworfen wurden. Gelegentlich wurden die KPDFührer auch einmal danach gefragt, was sie dächten. 49 Handelte es sich nicht um Fragen von außerordentlicher Bedeutung, wurden den KPD/SED-Führern seitens der SMAD "Überlegungen" unterbreitet, wohl hauptsächlich in der Weise, daß Zielvorstellungen und mögliche Mittel zur Erreichung dieser Ziele benannt wurden und seitens der KPD/SED dann entsprechende konkrete Dokumente ausgearbeitet wurden (s.u.). 50 Mit Forderungen, die von der KPD/SED öffentlich an die SMAD gerichtet wurden, hatte es seine eigene Bewandtnis: Die SMAD informierte die KPD/SED-Führung darüber, welche "Forderungen" gestellt werden dürfen, und die Öffentlichkeit nahm dann wenig später zur Kenntnis, daß sie erfüllt wurden - ein Schauspiel, daß nach der Aussage Tjul 'panovs jedoch bald durchschaut worden war. 51 48 S. hierzu vor allem NaiiiUJrk, NoriiUJn: The Russians in Germany. A History of the Soviet Occupation, 1945-1949, Cambridge, Mass. und London 1995, und die Einleitung von Jan Foitzik zum Inventar der Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949 (Offene Serie), zusammengestellt und bearbeitet von Jan Foitzik, Potsdam 1995 (Texte und Materialien zur Zeitgeschichte, Bd. 8), S. 51 ff. 49 S. beispielsweise die Notiz über die Besprechung mit Semenov vom 28.8.1945, Wilhelm Pieck, S. 55. Pieck hebt hier in seinen Notizen hervor, daß er nach seiner Meinung gefragt wurde und notiert auch kurz das von ihm Gesagte.
so Unter Berücksichtigung dieser Vorgehensweise seitens der SMAD mag sogar auch an der Behauptung Stefan Doernbergs etwas Wahres sein, daß die "Dokumente des ZK der KPD als verbindliche Beschlüsse" fiir die Tätigkeit der SMA [der Länder] galten, angeblich im "gleichen Maß" wie die Direktiven des ZK der KPdSU, Doernberg, Stefan: Befreiung 1945. Ein Augenzeugenbericht, Berlin (Ost) 1975, S. 134. In der Ausgabe von 1985 ist aber bezeichnenderweise nur von "richtungsweisende[n] Beschlüsse[n]" die Rede, S. 174.
sJ Aus dem Stenogramm des Rechenschaftsberichtes S. Tjul'panovs auf der Sitzung der Kommission des ZK der VKP(B) zur Überprüfung des Standes der Arbeit der Propagandaverwaltung der SMAD, 16.9.1946, SVAG. Upravlenie propagandy (informacii) i S.l. Tjul'panov 1945-1949, Sbornik dokumentov, Red. Bernd Bonwetsch, Gennadij Bordjugov, NoriiUJn NaiiiUJrk, Moskau 1994, S. 155-176, hier S. 171. Vsesojuznaja Kommunisticeskaja Partija (bol'sevikov) [Kommunistische Allunionspartei (der Bolschewiken)] nannte sich die KPdSU von 1925-1952. Da die ent-
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Gelegentlich wurde über diese Gespräche auch vor dem Sekretariat berichtet, 52 meist werden die Botschaften jedoch auf informellem Wege weitergegeben worden sein. Piecks Notizen von diesen Gesprächen belegen jedoch, daß die Arbeit des Sekretariats bis ins Detail entsprechend den Weisungen der SMAD ablief. Hinweise auf direkte Eingriffe in die Struktur des zentralen Apparates von KPD/SED finden sich kaum. Allerdings muß auch hier davon ausgegangen werden, daß beim Auftreten ernsthafter Probleme bei der Arbeit des Apparates Änderungen eingefordert und vorgenommen wurden. 53 Bedenkt man, daß Marschall :l:ukov Gratewohl als Lohn für die Unterstützung der Vereinigung beider Parteien sogar die Absetzung Ulbrichts und die Übernahme sozialdemokratischer Parteistrukturen in dieSEDangeboten haben soll, wird die Abhängigkeit der KPD auch in dieser Hinsicht mehr als deutlich. 54 Insgesamt stand aber der Aufbau des Apparates der KPD vor der Vereinigung mit der SPD, wie Tjul'panov selbstkritisch eingestehen mußte, nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit der SMAD. Nach Tjul'panov habe man seit dem Oktober 1945 innerhalb der SMAD-Führung vor allem die Frage der Vereinigung von KPD und SPD beraten. Im November sei man im Militärrat der SMAD zu der Überzeugung gekommen, "daß, wenn die politische Vereinigung der Arbeiterparteien nicht zustandekommt, wir bei diesen Wahlen [im Herbst 1946, d. Verf.] eine Niederlage erleiden werden." Der Militärrat habe sich schließlich in dieser Frage an Stalin gewandt und bis zum Mai 1946 habe man in der SMAD dann "nur für eine Idee gelebt - diese Parteien zu vereinigen. Mit Fragen des innerparteilichen Aufbaus und Fragen der organisatorischen Stär-
sprechende deutsche Abkürzung absolut ungebräuchlich ist [KAP(b)], wurde auch in den übersetzten Passagen die russische Abkürzung beibehalten. s2 S. beispielsweise die Sitzungen des Sekretariats am 6.9.1945, 27.12.1945, 19.3.1946, 11.4.1946, Dokumente I, S. 80, 142-143, 190-192,207-211. sl So wurde Pieck beispielsweise, als während der Vereinigungskampagne im März die Schwächen der Berliner KPD immer deutlicher wurden, von Bokov aufgefordert "Berlin Arbeit/Apparat ändern" . S. Besprechung bei Bokov (fälschlich in Archiv-Klarschrift auf 4.3.1946 datiert, richtig ist nach dem 1.3.1946 (Beschluß der Berliner Funktionärskonferenz der SPD fiir Urabstimmung), Wilhelm Pieck, S. 70-71. Vgl. dazu die Beschlüsse auf der Sitzung des Sekretariatsam 11.3.1946, Dokumente I, S. 182-187; die Notizen Piecks über den Besuch von Zdorov im Parteihaus am 18.3.1946, Wilhelm Pieck, S. 71-72: "Linie der KPD/Beratung von VB Sekretären/ Berichte über Einheitsbewegung -/ welche konkreten Maßnahmen/ Untere Organisationen schon vereinigen/ Beschlüsse fassen, Parteiapparat schneller/ erneuern-/ Druck auf ZA". S4 Allerdings liegen zur Unterstützung dieser Behauptung bisher keine Belege aus sowjetischen Quellen vor. Für die westlichen Quellen vgl. Caracciolo, Lucio: Der Untergang der Sozialdemokratie in der sowjetischen Besatzungszone. Otto Grotewohl und die "Einheit der Arbeiterklasse" 1945/46, in: VfZG (36) 1988, S. 280-318.
24•
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kung haben wir uns damals nicht befaßt. Alles war dieser grundlegenden Idee untergeordnet. " 55 Der frisch eingesetzte Leiter der Rechtsabteilung der KPD, Prof. Karl Polak, fand es noch im März 1946 gegenüber Ulbricht berichtenswert, daß der in der SMAD-Rechtsabteilung für Organisationsfragen zuständige Offizier Nikolaev, auf die Frage der Zusammenarbeit mit der Rechtsabteilung der Partei angesprochen, sich bereit erklärte, "auch Verbindung mit Gen. Polak aufzunehmen. " 56 Alle wichtigen, die KPD betreffenden Fragen wurden jedoch in Moskau entschieden. Dazu gehörte natürlich die Vereinigung mit der SPD und die entsprechenden organisatorischen und programmatischen Planungen. Zu diesem Zweck wurde Ulbricht Ende Januar 1946 nach Moskau bestellt ("Marschall wünscht Besuch" 57}, 58 wo Ulbricht schließlich das Einverständnis zum Procedere der Vereinigung mit der SPD von Stalin erhielt. 59 Aber auch für die Frage der Herausgabe einer gemeinsamen theoretischen Zeitschrift mit der SPD war eine telegraphische Anfrage bei Dimitrov notwendig. 60 Selbst die Höhe der Mitgliedsbeiträge, die an der Parteibasis auf starke Kritik stieß, war offenbar in Moskau festgesetzt worden. An eine Änderung wagte sich der Hauptkassierer der KPD, Alfred Oelßner, nicht heran, ohne sich zuvor im Sekretariat hinsichtlich der Haltung Moskaus abgesichert zu haben.61 55 Aus dem Stenogramm des Rechenschaftsberichtes S. Tjul'panovs auf der Sitzung der Kommission des ZK der VKP(B) zur Überprüfung des Standes der Arbeit der Propagandaverwaltung der SMAD, 16.9.1946, SVAG, S. 155-176, hier 158. Vgl. hierzu auch Haritonow, Alexandr: Freiwilliger Zwang. Die SMAD und die Verschmelzung von KPD und SPD in Berlin, in: DA (29), 3/1996, s. 407-418. 56 Besprechung in Karlshorst bei der Justizabteilung der SMA am 27.3 .1946, SAPMO-BArch DY 30 NY 4182/1185, BI. 45. 57 S. die Information von Ulbricht über ein Gespräch mit Bokov, Tjul'panov und Volkov am 22.12.1945, Wilhelm Pieck, S.62-63, und über die Besprechung am 23.1.1946 in Karlshorst, ebenda, S. 63-66.
58
Besprechung am 23.1.1946 in Karlshorst, Wilhelm Pieck, S. 63-66.
59 S. die Notizen Piecks zum Bericht Walter Ulbrichts über eine Beratung bei Stalin am 6.2.1946 um 9 Uhr abends, Wilhelm Pieck, S. 68-69: "Vereinigung einverstanden- Linie richtig". 60
Protokoll Sekretariatssitzung am 13.8.1945, Dokumente I, S. 64.
61 Alfred Oelßner wandte sich mit einem entsprechenden Schreiben an das Sekretariat: "Die steigende Opposition aus den verschiedenen Bezirken und V.B.L. über zu hohe Beiträge hat ihre wirkliche Ursache in der von 'M[oskau]' geforderten Regelung, 2 % des Einkommens als Monatsbeitrag festzusetzen." Oelßner konnte allerdings noch am selben Tag ("Nachdem feststeht, daß wir an die 2 % für den monatlichen Parteibeitrag nicht gebunden sind ... ") neue Vorschläge unterbreiten. SAPMO-BArch DY 30 NY 4036/630, BI. 44-46.
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Für Kontakte mit der SMAD waren die Parteivorsitzenden zuständig. In der alltäglichen Arbeit behielt jedoch Ulbricht über die ihm unterstellte Allgemeine Abteilung die Kontrolle über die Beziehungen zur SMAD (vgl. Tabelle I). In dieser Abteilung wurden unter anderem die Übersetzungen aller an die Besatzungsmacht zu übermittelnden Papiere (und umgekehrt) angefertigt. Ulbricht übermittelte alle relevanten Beschlüsse des Zentralsekretariats in russischer Übersetzung oft noch am selben Tag an die SMAD. 62 Fritz Schreiber, die sozialdemokratische "Parität" zu Richard Gyptner als Leiter des Büros des Zentralsekretariats, der im November 1948 in den Westen ging, berichtet, daß Pieck, Grotewohl und Ulbricht in "täglichem Kontakt mit Tjul'panov" standen, da sie praktisch Nachbarn waren. Die Verbindungen seien sehr eng gewesen, hätten jedoch keineswegs den Charakter einer "Befehlsabhängigkeit" gehabt. Nichtsdestoweniger würden dank der "Servilität" der deutschen Konununisten gegenüber den sowjetischen Polit-Offizieren deren "Wünsche" zumeist "buchstabengetreu" erfüllt. Allerdings habe Ulbricht "inuner über viele Dinge Bescheid [gewußt], bei denen Eingeweihte den Eindruck hatten, daß sie für Gratewohl völlig neu waren." In den Zentralsekretariatssitzungen hätte Ulbricht seine diesbezügliche Überlegenheit oft dadurch herausgestellt, daß den anderen Sekretariatsmitgliedern bei anstehenden Entscheidungen mit dem stereotypen Satz "Draußen sind sie einverstanden" die Erwartungshaltung der Sowjets bedeutet wurde. Die "ursprüngliche Tendenz bei den Offizieren der SMA, das Parteihaus zu überfluten" sei "nach kurzer Zeit auf Einspruch des Zentralsekretariats abgestellt" worden. Seit 1947 hätten nur noch Pieck, Gratewohl und Ulbricht sowie Anton Ackermann und Fred Oelßner "den Vorzug des direkten Zutritts zur SMAD" gehabt. Alle anderen Kontakte hatten über die Ulbricht unterstehende Allgemeine Abteilung zu laufen. 63 Andere Sekretariatsmitglieder mußten, wollten sie sich an Vertreter der SMAD wenden, eine "Ermächtigung" des Zentralsekretariats einholen. 64
62
S. SAPMO-BArch DY 30 NY 4182/1190-1193.
63 Alles nach Apparat der SED, 8.3.1949 (Fritz Schreiber), Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) Ostbüro (Ostb.) 0302/I. 64 So holte etwa Ono Meier, als er wegen des Nichtabdrucks einer seiner Reden Rücksprache mit Tjul'panov halten wollte, Anfang Februar 1947 zuerst eine entsprechenden "Ermächtigung" des Zentralsekretariats ein, s. Protokoll der Zentralsekretariatssitzung am 8.2. 1947, S APMO-BArch D Y 30 IV 212.1164.
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Auf die Kompetenzkämpfe in der SMAD-Führung65 sowie die Reibungen in den Beziehungen zur SED-Führung66 kann hier nur hingewiesen werden. Beides änderte jedoch nichts daran, daß die alltägliche Arbeit des Apparates des Zentralsekretariats bis ins Detail von der SMAD bestimmt wurde. Sie gab nötigenfalls ihre "Wünsche" auch einfach per Telefon durch. 67 P. F. Nazarov, der Leiter der Abteilung Parteien in der Propagandaverwaltung gab im Herbst 1946 vor einer aus Moskau entsandten ZK-Kommission zur Untersuchung der Arbeit der Propagandaverwaltung der SMAD68 einen Bericht über die Zusammenarbeit mit dem zentralen Parteiapparat der SED. Nach Nazarov seien "so gut wie alle Dokumente", die von der SED herausgebracht werden, von der Propagandaverwaltung vorbereitet worden. Im Detail würden sie jedoch mit den zuständigen Mitgliedern des Sekretariats abgestimmt. Schwierigkeiten gab es dabei anfangs offenbar noch mit sozialdemokratischen Mitgliedern im Zentralsekretariat, denen es an der nötigen Konspiration hinsichtlich der SMAD-Einwirkungen mangelte. Nazarov schildert konkret, wie es zur Stellungnahme der SED zur Frage von Kirche und Religion kam. Da das konkrete Vorgehen in dieser Frage offenbar exemplarischen Charakter hatte, soll hier Nazarov ausführlich zitiert werden: .,Frage: Womit befaßt sich die Abteilung 'Parteien ' hinsichtlich der Führung der Parteien, welchen Platz nehmen Sie bei der Vorbereitung der politischen Dokumente, politischer Maßnahmen ein ? Nazarov: So gut wie alle Dokumente, die von der SED kommen, sind von uns hier vorbereitet worden. Wenn sie einen Entwurf erstellen, dann wird er bei uns durchgesehen und sie arbeiten alle unsere Anmerkungen ein. Es gibt aber keine Dokumente, die von uns zusammengestellt wurden und von ihnen vollständig gebilligt würden. Ein konkretes Beispiel mit der Religion. Wir haben bei uns in der Abteilung überlegt, was jUr ein Dokument vorbereitet werden muß, das bei der Wahlkampagne wirksam ist und der Kirche nicht die Möglichkeit gibt, auf seiten der CDU zu handeln. Wir haben eine ganze Reihe von Maßnahmen skizziert. Diese Fragen wurden vom Oberst [i.e. Tjul'panov, d. Verf.] gebilligt und ichfuhr zu Pieck und sage ihm, daß es bei uns folgende Meinung gibt: Es wäre gut, wenn die 6s S. hierzu und zur umstrittenen Frage nach Rolle und Bedeutung von S.l. Tjul'panovs in der SBZ Naimark: Russians in Germany, S. 318-358. 66 Vgl. ebenda und Haritonow, Alexandr: Unter Aufsicht. SED und SMAD in Berlin 1946, in: DA (29), 6/1996, S. 896-906. 67 S. beispielweise die Notiz Piecks über einen Anruf von Semenov am 4.10.1946, Wilhelm Pieck, S. 82f. 68
Zu den Hintergründen s. Naimark: Russians in Germany, S. 327 ff.
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SED ein Dokument annehmen würde, in dem die Haltung der SED zur Kirche und zur Religion dargelegt wird. Pieck sagte: Das ist richtig, ich habe schon darüber gesprochen. Nun gut, aber vielleicht gibt es ihrerseits irgendwelche Fragen, die Sie darlegen möchten? Ich sage ihm, daß es bei uns Überlegungen gibt, das sei nicht ein Befehl von uns, sondern bei uns gibt es Überlegungen. Wir haben hier einen Entwuif, welche Fragen in solch einem Beschluß beleuchtet werden müssen. Pieck rief in meiner Anwesenheit Ackermann und Meier zu sich und sagt: Bereitet ein entsprechendes Dokument zur nächsten Sitzung des Sekretariats vor. Um Pieck nicht aufzuhalten, gingen wir zu Ackermann, um diese Frage ausjUhrlicher zu beraten. Am nächsten Tag fahre ich hin und frage: Nun, ist das Dokument fenig? Er antwonet:fenig. Ich gab einen Rat, und er bringt das Dokument. ln diesem Dokument schreibt Meier an Weismann69, der umittelbar fiir die Umsetzung zuständig ist. Er schreibt nun im Brief· Ich habe mich heute mit Major Nazarov beraten, der seine Meinung darlegte, daß es unabdingbar sei, zur Haltung zur Religion Stellung zu nehmen. Ich [i.e. Nazarov, d. Verf.] sage Gen. Meier, daß es nicht angebracht sei, in dem Dokument meinen Namen zu nennen - fiir den Fall, daß das Dokument jemanden in die Hände fällt. Und Meier sagt: Ich gehe gleich zum Sekretär, daß er das Dokument bringt. Sie brachten es und vernichteten es. Danach haben sie alle Ratschläge in der Kommission ausgebreitet und diese Kommission hat diese Frage ausgearbeitet". 70
Selbst wenn man berücksichtigt, daß Nazarov hier gegenüber der ZK-Kommission seine eigene Rolle wahrscheinlich positiv hervorheben wollte und hinsichtlich des Einflusses der SMAD auf die tägliche Arbeit des zentralen 69
Gemeint ist wahrscheinlich Richard Weimann, der Leiter der Abteilung Kultur und Erziehung.
70 Aus dem Stenogramm der Beratung der Mitglieder der Kommission des ZK der VKP(B) mit den Chefs der Abteilungen der Propagandaabteilung der SMAD und den Leitern der sowjetischen Organisationen, die in Deutschland Propagandarbeit leisten, 19.9 .1946, SVAG, S. 177-183, hier S. 183. Es wurde versucht, bei der Übersetzung die grammatikalischen bzw. stilistischen Ungenauigkeiten des russischen Originals beizubehalten. Als Autor des SED-Papiers zur Religion galt bisher Artbur Rackwitz. Er war sehr wahrscheinlich auch an der Endfassung beteiligt. Mit der "Kommission" ist die kurz zuvor gebildete "Kommission Christentum und Kirche" des Zentralsekretariats der SED gemeint, eine Art Beratungsgremium der SED-Führung aus dem Kreis der "religiösen Sozialisten". Zur Stellungnahme der SED "zur Kirche und zur Religion" vgl. die Protokolle der Sitzungen des Zentralsekretariats vom 21., 26. und 28.8. 1946, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/2.1125; 26; 28. Die Stellungnahme ist abgedruckt in Dokumente der SED, Bd. l, S. 86-88. Zum kirchenpolitischen Hintergrund und zum Einfluß der SMAD auf die SED-Kirchenpolitik s. Goerner, Martin G. und Michael Kubina: Die Phasen der Kirchenpolitik der SED und die sich darauf beziehenden Grundlagenbeschlüsse der Partei- und Staatsführung in der Zeit von 1945/46 bis 1971172, in: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. VIII : Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur, Baden-Baden und Frankfurt a.M. 1995, S. 615-874, hierzu S. 626 ff., vgl. auch Creuzberger, Stefan: Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System der SBZ, Weimar u.a. 1996, S. 76 ff.
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Parteiapparates ein gewisses Maß an Schönfarberei hat einfließen lassen, vermittelt sein Exempel doch einen Eindruck von der bis ins Detail gehenden Abhängigkeit des SED-Apparates von den "Überlegungen" oder "Wünschen" der SMAD.
IV. Die Abhängigkeit war in sicherheitsrelevanten Bereichen naturgemäß eher noch größer. Belege dafür, finden sich in den Akten allerdings naturgemäß eher weniger. Wie bereits erwähnt, schuf die SED verdeckte Strukturen im Apparat für solche Politikbereiche, die von ihr noch nicht offen in Angriff genommen werden konnten. Solche sicherheitsrelevanten, verdeckten Struktureinheiten bzw. Mitarbeiter für "besondere Aufgaben" gab es beispielsweise in der Presseabteilung, in der Geschäftsabteilung und in der Personalpolitischen Abteilung. Über diese Struktureinheiten waren meist weder der Parteivorstand noch alle Mitglieder des Zentralsekretariats informiert. Die Verantwortung für Sicherheitsfragen war anfangs faktisch zwischen Ulbricht und Dahlem aufgeteilt. Stark vereinfachend kann man sagen, daß in Ulbrichts Zuständigkeit jene Sicherheitsfragen fielen, die Staat und Gesellschaft in der SBZ betrafen. 71 Dahlem wachte über die Reinheit der Partei und deren Westarbeit. 72 Anband der Entstehung des Abwehrapparates der SED, des nach seinem Leiter genannten "Haid-Apparates", soll exemplarisch skizziert werden, wie bereits unmittelbar nach Gründung der KPD mit dem Aufbau sicherheitsrelevanter Strukturen begonnen wurde, deren Anfange in der Literatur bisher meist erst mit den entsprechenden Beschlüssen Ende der 40er bzw. Anfang der 50er Jahre in Verbindungen gebracht werden. Diese Beschlüsse markierten oft lediglich eine Reorganisation bis dahin bereits verdeckt vorhandener Strukturen. Bereits auf seiner zweiten Sitzung hatte das KPD-Sekretariat die Kaderabteilung beauftragt, die "Schaffung eines Abwehrapparates zur Beobachtung und Beschaffung von Informationsmaterialien" vorzubereiten. 73 Am 12. August 71
Zu "Uibrichts" Informationsapparat, den lfo-Diensten, s.u.
72 Ackermanns vermutliche Sicherheits-Kompetenzen im Bereich der Außenpolitik lagen wahrscheinlich zunächst noch "auf Eis", vgl. Siebenmorgen, Peter: Staatssicherheitsdienst der DDR. Bonn 1993 (Bouvier Forum, Bd. 9), S. 111 ff.; Richter. Peter und Klaus Rösler: Wolfs WestSpione. Ein Insider-Report, Berlin 1992, S. 13 ff.; Koch, Peter-Ferdinand: Die feindlichen Brüder. DDRcontra BRD. Eine Bilanz nach 50 Jahren Bruderkrieg, Bern u.a. 1994, S. 213 ff. 73
Protokoll der Sekretariatssitzung am 8.7.1945, Dokumente I, S. 34 ff.
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beauftragte das Sekretariat Dahlem, zwecks Überprüfung des Kaderbestandes, einen ausführlichen Fragebogen zu entwerfen. 74 Bei der "Berichterstattung über den Parteiaufbau" war nach Dahlems Vorschlag detailliert über die Haltung der Genossen während der NS-Zeit und nach der Befreiung durch die Rote Armee Bericht zu erstatten. Unter anderem wären "folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen": die "politische Linie beim ersten Auftreten der Parleiorganisationen nach der Befreiung durch die Rote Armee", "in welchem Maße sind Sozialdemokraten zur Partei gestoßen", "wie stark ist der Anteil neuer Kräfte, die aus der Illegalität, aus den Gefängnissen und KZs, aus der SPD, aus anderen antifaschistischen Kreisen, aus den Reihen der Intellektuellen kamen", "in wieweit machen sich antisowjetische, der Einheit feindliche Rechte SPDKräfte" bemerkbar. 75 Zur "Feststellung der Kader" legte Dahlem außerdem "Vorschläge zur Sammlung der notwendigen Unterlagen" vor. Danach interessierten v.a. "Berichte über [die] politische Tätigkeit in den Konzentrationslagern", über "illegale Parteiorganistionen und -Gruppen im Lande, in der Armee, im Ausland", "Berichte über Prozesse", über "das Verhalten Angeklagter Genossen, Schwächlinge, Verräter, Spitzel usw. " 76 Wichtige Voraussetzungen für den Aufbau der Abwehrarbeit wurden 1945 formal zunächst noch außerhalb des Parteiapparates geschaffen. Nach Dahlems "Vorschlägen zur Sammlung der notwendigen Unterlagen" sollten nicht nur Informationen bei den Parteieinheiten über die Genossen eingeholt werden. Es galt auch festzustellen, "welche Personallisten und Personalakten aus Beständen der Gestapo, aus Gefängnissen, Zuchthäusern und KZs" beschafft werden können. 77 Getarnt als "Pressestelle" des Polizeipräsidiums war zu diesem Zweck in Berlin eine Arbeitsgruppe um Huldreich Stroh, Hermann Dünow, Paul Laufer, Hugo Gefroi und weiterer emsig darum bemüht, "die über ganz Berlin verstreuten Akten der NSDAP, des faschistischen Volksgerichtshofes, der Gestapo und anderer Einrichtungen des faschistischen Staatsapparates" aufzuspüren und im Polizeipräsidium im Ostsektor Berlins zusammenzuführen. In zum Teil abenteuerlichen Aktionen und hinter dem Rücken wie auch vor den Augen der Westalliierten trug die Gruppe um Stroh NS-Akten aus ganz Berlin im Polizei74
Protokoll der Sekretariatssitzung am 2.8.1945, Dokumente I, S. 55 f.
7s S. Zur Feststellung der Kader, undatiert, wahrscheinlich August 1945, SAPMO-BArch DY 30 NY 4182/85la, BI. 66-68, auch in: Dokumente 111, S. 356-358. 76 Über die Entwicklung der Parteiorganisation, undatiert, wahrscheinlich August 1945, SAPMOBArch DY 30 NY 4182/85la, BI. 68, auch in: Dokumente 111, S. 357.
77
Ebenda.
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präsidium zusammen, darunter die Akten der Gestapo-Zentrale in der PrinzAlbrecht-Straße und aus den Kellern des Volksgerichtshofes. 78 In dieser Arbeitsgruppe fanden sich führende Abwehrleute der KPD aus den späten zwanziger Jahren wieder zusammen, die in den folgenden Jahren wichtige Funktionen innerhalb des Militär- und Sicherheitsapparates der SED ausüben sollten. Im zentralen Parteiapparat selbst wurden gleichzeitig von Hans Seigewasser, in der Kaderabteilung für "Informationen und Recherchen" zuständig, 79 und dem wenig später dazustoßenden Bruno Haid die Vorbereitungen für die Abwehrarbeit aufgenommen. 80 Im Frühjahr 1946, kurz nach der Vereinigung von KPD und SPD zur SED, gingen Teile der "Pressestelle", darunter Stroh, Dünow und Laufer inclusive des gesammelten Aktenmaterials in den Apparat des SED-Zentralsekretariats, wo "große Kellerräume für Akten" bereitgestellt wurden. 81 Für die brisantesten Akten, etwa die zur "Roten Kapelle", wurde ein "gesondertes Archiv" im obersten Stockwerk des Hauses eingerichtet. 82 Jene Akten waren eine wichtige Materialbasis für das Referat "illegale Parteiorganisationen im In-und Ausland von 1933-1945" ,83 das nach Startschwierigkeiten im Frühjahr 1947 in der für die Abwehrarbeit nötigen Breite mit systematischen Nachforschungen begann. 84 Karl Schirdewan, 1945 zunächst in der Westarbeit
78 S. Deckname Stabil. Stationen aus dem Leben und Wirken des Kommunisten und Tschekisten Paul Laufer, Leipzig 1988, S. 57 ff.
79
Protokoll der SekretrialSsitzung am 25.7.1945, Dokumente I, S. 41 ff.
10 Protokoll der Sekretariatssitzung am 8.12.1945, Dokumente, I, S. 129 ff.; SAPMO-BArch DY 30 IV 2/4/8, BI. 27.
81 S. Organisierung der Abteilungen beim Zentralsekretariat des Parteivorstandes, Mai 1946, SAPMO-BArch DY 30 NY 4182/901 , BI. 34-45. 82 Nach Schirdewan, Karl: Aufstand gegen Ulbricht, Berlin 1994, S. 30 f. sei der "Zugang zu diesen Räumen [ .. . ] gesonden geregelt" gewesen und er selbst habe den "ganzen Umfang des Archivbestandes ( ... ]nicht kennengelernt." Die Gestapo-Akten wurden, wie Schirdewan allerdings nicht nur zu "vermuten" braucht, da er selbst die Übergabe vorbereitet haue, im Jahr 1953 an das MfS abgegeben, s. Schirdewan, Joos, Vorlage der Zentralen Kaderregistratur an das Sekretariat, 23.1.1953, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/5/2, BI. 52. 83 Organisierung der Abteilungen beim Zentralsekretariat des Paneivorstandes, Mai 1946, SAPMO-BArch DY 30 NY 4182/901, BI. 34-45, hier BI. 41. 14 Im März 1947 fordene das Zentralsekretariat die PPA auf "mit der Rekonstruktion der illegalen Tätigkeit der Parteiorganisationen der KPD und SPD in der Zeit von 1933 bis 1945 [ ...] sofon zu beginnen" und fiir "die Besetzung dieses Referates in der Abteilung 3 bis 4 geeignete Genossen vorzuschlagen, die mit der Sammlung und Auswertung des Materials beauftragt werden", Protokoll der Zentralsekretariatssitzung am 3.3.1947, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/2. 1170.
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und im Bereich Seigewassers aktiv, 85 war im Frühjahr 1946 schwer erkrankt und konnte erst nach über einem Jahr seine Arbeit wieder aufnehmen.86 Stroh wurde im Parteiapparat Referent in der Personalpolitischen Abteilung (PPA), wie sich die Kaderabteilungjetzt nannte. 87 Dünow, 88 Lauferund einige andere Mitarbeiter der "Pressestelle", die jetzt in den Parteiapparat übernommen wurden, erhielten hier eine neue Legende. Im Apparat des Zentralssekretariats unterstand die Gruppe jetzt, zunächst noch legendiert als "Außendienst der Personalabteilung" in der Geschäftsabteilung, Bruno Haid als Hauptreferenten in der PPA. 89 Seigewasser war nach der Vereinigung zum persönlichen Mitarbeiter Dahlems aufgestiegen90 und wurde unter anderem dessen Verbindungsmann zu Artur Illner alias Richard Stahlmann, ebenfalls ein erfahrener Geheimdienstmann. Stahlmann hatte nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Schweden Anfang 1946 zunächst von Schwerirr aus, getarnt als Mitarbeiter für Polizeifragen, die Grundlagen für seinen Grenzapparat, der späteren sog. "Abteilung Verkehr" gelegt. 91 Im Mai 1945 kam Stahlmann als Zonenleiter nach Berlin. 92 Für die Bildung von Stahlmanns Apparat bedurfte es offenbar keines Sekretariatsbeschlusses. 93 Er arbeitete auch völlig unabhängig und total abgeschirmt vom 85 Protokolle der Sekretariatssitzungern am 5.9.; 3.10.1945 und 24.1.1946, Dokumente I, S. 7879, 97-102 und 156-158. 86 S. Schirdewan: Aufstand, S. 28 f.; Protokoll der Sekretariatssitzung am 11.3.1946, S. 182187; Protokoll der Zentralsekretariatssitzung am 29.4.1947, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/2.1/82. 87
Protokoll der Zentralsekretariatssitzung am 11.4.1946, Dokumente, I, S. 207 ff.
81 Dünow wurde nach der Bildung der Deutschen Zentralverwaltung des Innern (DVdl) im Sommer oder Spätsommer 1946 Leiter von deren Pressestelle, war aber eventuell noch kurzfristig gleichzeitig im Parteiapparat beschäftigt, s. Neue Listen Stand am 3.9.46, abends 18 Uhr, geheim, SAPMO-BArch DY 30 NY 4036/661, BI. 75-97.
19 Gehaltsliste der Geschäftsabteilung, Anlage 1 zum Protokoll der Zentralsekretariatssitzung am 24.5.1946, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/2. 1/8. 90
Protokoll der Zentralsekretariatssitzung am 25.4.1946, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/2.117.
91 Aus dem Leben eines Berufsrevolutionärs. Erinnerungen an Richard Stahlmann (Nur fiir den Dienstgebrauch), o.O. o.J., S. 61 ff.
92 Gehaltsliste der Geschäftsabteilung, Anlage 1 zum Protokoll der Zentralsekretariatssitzung am 24.5.1946, SAPMO-BArch DY 30, IV 2/2. 118. 93 Die Sekretariatsbeschlüsse vom 24. und 25. l. sowie 17.4.1946 bezüglich Einstellungen bzw. Planstellen fiir eine sogenannte .. Verbindungsabteilung" betreffen vermutlich die Vorbereitungen fiir Stahlmanns Apparat im zentralen Parteiapparat, wobei anfangs eventuell geplant war, Stahlmanns
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übrigen Parteiapparat. Sein Apparat bzw. ein Teil seiner Mitarbeiter im Apparat des Zentralsekretariats waren zur Tarnung formal wechselnden bzw. unterschiedlichen Abteilungen (Verbindungen, Zonenleitung, Organisation, Geschäftsabteilung) zugeordnet und in einem Seitenflügel des "Hauses der Einheit" zwischen Räumen der Geschäftsabteilung "versteckt". 94 Stahlmanns Apparat war vor allem ein technischer Unterstützungsapparat. Er funktionierte weniger auf der Basis formaler Strukturen als durch persönliche Beziehungen. Wichtigste Arbeitsmittel waren gefälschte Dokumente und ein spezieller Fuhrpark für den Schmuggel von Personen, Propagandamaterial und Embargogütern etc. Haids Apparat widmete sich dagegen der operativen Abwehrarbeit, die nach zunächst vergeblichen Mahnungen seitens der SMAD und des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes ab Herbst 1946 langsam systematische Züge anzunehmen begann. 95 Im Sommer 1946 hatte der Chef des sowjetischen Geheimdienstes in der SBZ, lvan Aleksandrovic Serov persönlich bei Pieck interveniert und operative Maßnahmen gegen eine parteifeindliche Gruppierung um den alten KAPisten Alfred Weiland in Berlin gefordert. 96 Ab September wurde diese Gruppe über die PPA des Landesvorstandes kontinuierlich überwacht. Etwa von diesem Zeitpunkt an finden sich, immer dichter werdend, operative Materialien der Arbeit des Abwehrapparates im Parteiarchiv. Alfred Weiland war seit Mitte der 20er Jahre in der Kommunistischen Arbeiterpartei (KAP) und der Allgemeinen Arbeiter-Union (AAU) bzw. seit 1932 Apparat innerhalb der sogenannten Allgemeinen Abteilung unterzubringen, s. Protokolle der Sekretariatssitzungen, Dokumente I, S. 156-163; 214-219. 94 Stahlmann selbst saß mit seiner Sekretärin Erna Tschirne, ehernals Stenotypistin im EKKI, im "Verstärkerraurn", neben ihm die sogenannten Schuster, die Dokumentenfälscher aus dem alten MApparat. Ob Stahlmann im "Verstärkerraum" über spezielle Kornmunikationsteclmiken im Haus verfugte, wird wohl ohne Zugriff auf sowjetische Akten kaum zu klären sein. S. Verzeiclmis der "Haus- und Fernsprechanschlüsse im 'Zentralhaus der Einheit', Lothringer Str. 1", AdsD Ostb. 0302/1. 95 Besprechung am 29.5.1946 um 10 Uhr abends im Parteihaus, s. Wilhelm Pieck, S. 73 f. Bei den Notizen Piecks, auf die hier Bezug genommen wird, handelt es sich um stichpunktartige, handschriftliche Aufzeichnungen Piecks, die ihrer Kürze wegen nur schwer zu interpretieren sind. Auch sind Notizen über Treffen mit Vertretern der SMAD nur sehr lückenhaft überliefert. Allerdings erhält man bei der Durchsicht dieser Notizen den Eindruck, daß im Frühjahr/Sommer 1946 innerparteiliche oppositionelle Gruppen zunehmend ins Visier von SMAD und NKVD gerieten. Vgl. auch Naimark: Russians in Gerrnany, S. 275 ff.; Haritonov: Unter Aufsicht. 96
Mitteilung von Serov am 7.8.1946, Wilhelm Pieck, S. 77 ff.
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der Kommunistischen Arbeiter-Union (KAU) politisch aktiv und gehörte Ende der 20er Jahre zu deren Führungskräften. Linksradikal aber zugleich scharf antibolschewistisch, gehörten die Rätekommunisten aus dem Umfeld von KAP und AAU zu den schärfsten Gegnern der moskautreuen KPD. Aus ihren Reihen kamen die ersten kritischen Arbeiten zum Bolschewismus aus marxistischer Sicht. 97 Während der Herrschaft der Nationalsozialisten in KZ und Widerstand, hatte sich Weiland 1945 der KPD angeschlossen und wurde im Volksbildungsbereich für die KPD tätig. Ab Sommer 1946 wurde Weilands Wohnung in Berlin-Schöneberg zum zentralen Treffpunkt linkssozialistischer, oppositioneller Kräfte in Berlin. Weiland versuchte einerseits alte Kontakte mit dem Ausland, mit Emigranten wie auch freiheitlichen Sozialisten in Deutschland wieder aufzubauen und die Arbeit der Gruppen in Berlin und der SBZ an die linkssozialistischen Diskussionen im internationalen Rahmen anzukoppeln. Andererseits bemühte er sich, die Arbeit der Berliner Gruppen in festere Strukturen einzubinden und als Reaktion auf die immer deutlicher werdenden Sowjetisierungstendenzen in Ost-Berlin und der SBZ- stärker als Widerstandsarbeit gegen die moskauhörigen Kommunisten auszurichten. 98 Den Ausschlag für die seit dem Spätsommer 1946 einsetzenden Aktivitäten der Abwehr in der PPA unter den Weiland-Gruppen dürfte neben Meldungen aus den SED-Kreisleitungen über "Störversuche" in der Parteiarbeit, v .a. in
97 Rau/, Wolf: Sozialismus als Realfiktion. Frühe linkskommunistische Kritik am sowjetischen Staatskapitalismus. Eine Dokumentation, in: Archiv fiir die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, 11/1991, S. 189-212. Zur Geschichte des antibolschewistischen Rätekommunismus in der Weimarer Republik s.v.a. Bock, Hans Manfred: Syndikalismus und Linkskommunismus von 19181923. Zur Geschichte und Soziologie der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands. Meisenheim am Glan 1969 (Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft; 13); ders.: Geschichte des "linken Radikalismus" in Deutschland. Ein Versuch. Frankfurt am Main 1976 (Edition Suhrkamp; 645); Müller, Hans-Harald: Intellektueller Linksradikalismus in der Weimarer Republik: Seine Entstehung, Geschichte und Literatur - dargestellt am Beispiel der Berliner Gründergruppe der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Kronenberg/Ts. 1977 (Theorie, Kritik, Geschichte; 14).
98 Für eine biographische Skizze zu Weiland s. Kubina, Sylvia: Die Bibliothek des Berliner Rätekommunisten Alfred Weiland (1906-1978), Berlin 1995 (Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin; Bd. 4), S. 7-21. D. Verf. konnte fiir die jetzt folgende Darstellung auch auf Material zurückgreifen, das von seiner Frau im Zusammenhang mit o.g. Arbeit recherchiert wurde. Derzeit wird eine umfangreichere Publikation über linken, antibolschewistischen Widerstand im Nachkriegsberlin mit dem Schwerpunkt auf Weilands Gruppen vorbereitet (Arbeitstitel: Die "Gruppen Internationaler Sozialisten" um Alfred Weiland und der Abwehrapparat der SED).
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den westlichen Sektoren, und KAP-Aktivitäten, 99 Serovs Aufforderung an die SED-Führung gewesen sein, zu operativen Gegenmaßnahmen zu schreiten. 100 Allerdings war man zu dieser Zeit von einer wirklich systematischen Abwehrarbeit noch weit entfernt. In einem Bericht, der einen kurzen Überblick über "organisierte feindliche Oppositionsgruppen", unter anderem auch über die Weiland-Gruppen gibt, heißt es Ende 1946: "Die Berichte, die zur Grundlage dienen, sind zufälliger Natur. Eine systematische operative Beobachtung der feindlichen Gruppen in der Partei existiert noch nicht. Die organisatorische Form für diese Arbeit muß erst noch geschaffen werden." 101 Etwa zeitgleich mit Serovs Intervention bei Pieck hatte Fritz Große, ein führender KP-Funktionär in Sachsen mit engen Beziehungen zur sowjetischen Führung, in Moskau einen Vorstoß zwecks Aufbau einer systematischen Abwehrarbeit gemacht. 102 Diese sollte organisatorisch völlig losgelöst von der Arbeit des sowjetischen Sicherheitsdienstes NKVD sein, vor allem weil, .. wenn einmal etwas platzt, sofort die ganze Partei als 'verlängerter Arm Moskaus' kompromittiert wäre." Große meinte, "es wäre den früheren Sozialdemokraten, die positiv sind, durchaus verständlich, wenn wir etwa, zur Beobachtung der Vorgänge in der CDU, in der LDP, gewisser unterirdischer Tätigkeit der Nazis, der Kontrolle bestimmter Gerüchtemacher, der Kontrolle gewisser Mitteilungen über Korruptionserscheinungen in der Partei oder einzelner Genossen in Verwaltungen, daß dafür eine besondere Kommission vielleicht bei der Org.-Abt. oder sonstwo zu schaffen sei. Dies würde sich [sie!] dann von selbst, wo wir die Leitung fest in die Hand nehmen, auch zur Beobachtung der 99 S. beispielsweise Hellwig, Kreisleitung Kreuzberg, an Gräben, PPA, LV Berlin (und Anlagen), 23.7.1946, LAB BPA IV L-2/4/522. 100
Mitteilung von Serov arn 7.8.1946, Wilhelm Pieck, S. 77 ff.
101 Organisierte feindliche Oppositionsgruppen, ca. Ende 1946, hs.: 4 Ex, Dahlem, Personal, Seigewasser, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/4/380, BI. 52-56.
102 Für wen genau der nachfolgend zitierte Bericht Großes bestimmt war, konnte noch nicht geklärt werden. Er ging in Übersetzung aber zumindest wohl an M.A. Suslov und A.A Zdanov. Am 3.8.1946 leitete der Chef der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee, !.V. Sikin, einen Bericht Fritz Großes an A.A. Zdanov weiter. Großes im Bestand der SED-Kaderabteilung gefundener Bericht ist zwar erst auf den 7.8.1946 datiert, trotzdem kann angenommen werden, daß es sich bei dem von Sikin übermittelten Bericht um den hier zitierten oder zumindest um eine Variante dieses Berichtes handelte. Naimark: Russians in Germany, S. 295, zitiert aus dem von Sikin weitergeleiteten Bericht eine Passage, die sich wörtlich auch in dem hier zitierten findet. Mählerr: Im Interesse, S. 222, der die deutsche Fassung des Berichtes jüngst auch publizierte, führt unter Berufung auf Informationen russischer Kollegen bezüglich des auch von Naimark benutzten Aktenbandes an, daß das Schreiben nach einer undatierten Notiz auch an Suslov ging. Haritonow: Unter Aufsicht, S. 902, behauptet, daß Große seinen Bericht ,.auf eigene Initiative hin an das ZK" gesandt habe.
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ehemaligen Oppositionsgruppen, Trotzkisten usw., aber auch der Schumacherleute führen. Die Frage harrt noch einer Lösung." 103 Es dauerte jedoch noch fast ein Jahr, bis das SED-Zentralsekretariat einen formalen Beschluß über die Einrichtung von speziellen Abwehrreferaten im zentralen Parteiapparat wie auf Landesebene faßte . Die Arbeit des Haid-Apparates wie auch der anderen sicherheitsrelevanten Einheiten dürfte sich bis dahin und wohl im wesentlichen auch noch nach diesem Beschluß größtenteils von den ehemaligen Sozialdemokraten wie auch von vielen Kommunisten unbemerkt abgespielt haben. Anfang 1947 war das Ostsekretariat der SPD in Berlin, das spätere Ostbüro, in den Besitz von Originaldokumenten des Ifo-Dienstes gelangt. Verkürzt gesagt war dies ein Spitzeldienst, dessen Ergebnisse teilweise beim sowjetischen Sicherheitsdienst wie auch bei Ulbrichts Frau in der Presseabteilung zusammenliefen. 104 Teile dieser Dokumente wurden in die westliche Presse lanciert. 105 Grotewohl, der von der tatsächlichen Arbeit des Ifo-Dienstes offenbar kaum eine Ahnung hatte, wies nach entsprechenden Nachforschungen Anfang April 1947 an, "sofort die Beseitigung des I-Dienstes [zu] melden" . 106 Tatsächlich sollte jedoch nur "dem Unfug ein Ende" bereitet werden, so Dahlem an die für den Ifo-Dienst formal zuständigen Sekretariatsmitglieder Anton Ackermann und Otto Meier, "daß Nachrichten über die öffentliche Volksstimmung vermengt werden mit Nachrichten über die innerparteiliche Lage und die Abwehr gegen Maßnahmen der Feinde der Partei. Das letztere ist eine Aufgabe, die der Zuständigkeit und der Untersuchung durch die PersonalAbteilung unterliegt." 107 Eingebettet in eine Vielzahl anderer Beschlüsse, die den Ausbau des zentralen Parteiapparates und insbesondere der'PPA betrafen, wurde im Juni 1947 103 Kadermäßige Lage in Sachsen 1946, Bericht von Fritz Große, Moskau 7.8.1946, SAPMOBArch DY 30 IV 2/111129, BI. 14; auch Mählert: Im Interesse, S. 239f. 104 Ausführlicher zu den Ifo-Diensten s. den Hinweis in Anm. 1, s. auch Schultz, J.: Der Funktionär in der Einheitspartei. Kaderpolitik und Bürokratisierung in der SED. Stungart u.a. 1956, s. 221 ff. 10' "Der Abend" und "Der Kurier" verbreiteten am 18.3.1947 ein zwei Tage zuvor vom katholischen "Petrusblatt", dem Berliner Bistumsblatt, publiziertes Rundschreiben 1/47 der Abt. Information der SED-Kreisvostandes in Magdeburg. Vgl. auch ..Telegraf'', 6.3.1947. 106 Schreiben von Walter, PPA des PV Sachsen, an Zentralsekretariat, PPA, 24.3.1947, SAPMOBArch DY 30 NY 4090/305, BI. 88. 107 Dahlem an Ackermann und Meier, 29.5.47, betr. Schaffung eines Referates Information, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/5/189, BI. 47.
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die Einrichtung spezieller Abwehrreferate auf allen Ebenen beschlossen. Wahrscheinlich war auch jetzt nicht allen Mitgliedern des Zentralsekretariats die Tragweite dieser Beschlüsse voll bewußt. So schrieb das Zentralsekretariatsmitglied Paul Merker, Kommunist und Mexiko-Emigrant, Anfang April 1948 an Dahlem, nachdem es eine Beschwerde wegen Nichteinhaltung revolutionärer Wachsamkeit über ihn gegeben hatte: "Ich bin leider noch nicht informiert, daß ein Referat 'Abwehr' im Hause besteht und wer dasselbe leitet. Ich weiß nur, daß vor langer Zeit einmal ein Beschluß in dieser Hinsicht gefaßt wurde." Dahlem antwortete Merker lapidar, daß ein entsprechendes Referat "seit Monaten" innerhalb der PPA arbeite. 108 Der Beschluß "in dieser Hinsicht" wie Merker formuliert hatte- war am 10. Juni von Dahlems "Parität" Gniffke auf einer Sitzung eingebracht worden, auf der - wahrscheinlich in Zusammenhang mit der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz - weder Ulbricht, noch Dahlem oder Pieck anwesend waren. 109 Gniffke selbst wird sich allerdings über die Bedeutung der von ihm damals zur Beschlußfassung eingebrachten Vorlage zur Schaffung eines speziellen Referats "für die Untersuchung aller Versuche der Zersetzung und des Eindringensfeindlicher Elemente in die Partei" durchaus im Klaren gewesen sein. Er ließ sich unmittelbar nach diesem Beschluß von seinem ehemaligen SPDGenossen und stellvertretenden Leiter der PPA, Alexander Lösche, eine Aufstellung über das Verhältnis von SPDlern und KPDlern in der PPA vorlegen. Das Ergebnis dürfte außerordentlich ernüchternd auf Gniffke gewirkt haben: 31 KPDlem standen- inklusive des langjährigen Undercover-Agenten der KPD in der SPD, Paul Laufer 110 - ganze 8 SPDler gegenüber, den 5 Hauptreferenten aus der KPD, einer aus der SPD. 111 Ein Informant des SPD-Ostbüros übertrieb durchaus nicht, wenn er im November 1947 feststellte, daß die PPA und insbesondere das Referat Untersu-
108 Merker an Dahlem, 5.4.1948, und Dahlem an Merker, 7.4.1948, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/4/20, BI. 410-411. 109
Protokoll der Zentralsekretariatssitzung am 10.6.1947, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/2. 1198.
110 Laufer, der spätere Führungsoffizier von Günther Guillaume, war seit 1927 als Agent der KPD in der Berliner SPD sowie in der Gewerkschaft tätig gewesen und während der NS-Zeit nach Verhaftungen sogar in die Berliner Leitung der SPD gekommen. 1945 war Laufer nach Rücksprache mit Dahlem wieder in die SPD eingetreten und wurde gleichzeitig Mitarbeiter in der o.g. "Pressestelle" . Zur Undercover-Arbeit in der SPD s. Feuchtwanger, Franz: Der Militärpolitische Apparat der KPD in den Jahren 1928-1935. Erinnerungen, in: IWK 4/ 1981, S. 485-533, hier S. 508 ff.; Deckname Stabil, S. 26-50. 111
Abt. Personalpolitik, Berlin 13.6.1947 Lsch/S, AdsD NL Gniffke 10/1.
Der Aufbau des zentralen Parteiapparates von KPD/SED
385
chungen und Schiedsgerichte die "eigentliche Partei-GPU" darstellten. 112 Unterhalb der zentralen Ebene sollte es jedoch noch etliche Monate dauern, bis entsprechende Abwehreinheiten arbeitsflihig waren. Die Effektivität der zentralen Apparateinheiten hing aber natürlich in starkem Maße von der Arbeit entsprechender Einheiten der unteren Ebenen ab. Überliefert ist von der Arbeit des Abwehrapparates, und dies auch nur sehr lückenhaft, lediglich operatives Material. Struktur und Stellenpläne, konkrete Arbeitsrichtlinien etc. sind praktisch nicht vorhanden. Ein für den Bereich des Schweriner Landesvorstandes gefundenes Papier über "Aufbau und Aufgaben der Abt. A[bwehr, d. Verf.]" dürfte jedoch einen allgemeingültigen Eindruck von Zweck und Arbeitsweise dieser Abteilung geben. Hierin heißt es, die Abteilung Abwehr sei "eine selbständig arbeitende", der PPA "angegliederte und mit ihr aufs engste zusanunenarbeitenden" Abteilung, die direkt mit hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeitern in den Kreisen arbeite (s. Dokument 1). Aus einem Kreis in Sachsen-Anhalt, einer aus Abwehrsicht besonderen Problemregion, mußte sich Haid noch Mitte 1948 in Zusammenhang mit Aktivitäten der oben erwähnten Weiland-Gruppen sagen lassen, daß noch kein spezieller Abwehrreferent eingestellt werden konnte, da ein solches Referat ja paritätisch besetzt sein müsse und für diese hochsensible Tätigkeit noch kein hinreichend vertrauenswürdiger Sozialdemokrat gefunden werden konnte. 113 Weiland selbst konnte die Arbeit seiner Gruppen bis zum 11. November 1950 leiten, als er unweit seiner Wohnung in Berlin-Schöneberg mit Gewalt in ein Auto gezerrt und in den Ostsektor verschleppt wurde. Er kam zunächst in die Hände des sowjetischen Sicherheitsdienstes, der ihn ein Jahr lang - zum Teil unter Anwendung bestialischer Foltermethoden - verhörte, letztlich aber die Anklage wegen Spionage gegen ihn fallen ließ. Die Sowjets entließen ihn im November 1951 allerdings nicht in die Freiheit sondern in die Hände des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Am 27. August 1952 wurde er vom Landgericht Greifswald zu 15 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Sühnemaßnahmen wegen "Boykotthetze" und angeblicher Spionage verurteilt. 9 Mitangeklagte aus seinen Gruppen erhielten Haftstrafen von 2 bis 10 Jahren. Acht Jahre nach 112 Bericht aus Hannover, 10./11.11 .1947, AdsD Ostb. 0321/I. GPU (Gosudarstvennoe politiceskoe upravlenie - Staatliche Politische Verwaltung) nannte sich der sowjetische Geheimdienst von 1922-23. Die Bezeichnung blieb, auch der häufig wechselnden Bezeichnungen wegen, lange Zeit Synonym für den sowjetischen Geheimdienst. Die inzwischen erfolgte Einrichtung eines speziellen Abwehrapparates war dem Informanten offensichtlich noch nicht bekannt. 113
Haidan Ulbricht, 6.9. 1948, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/4/383, BI. 471-479.
25 1immermann
386
Michael Kubina
seiner Entführung wurde er als letzter der mit ihm zusammen Verurteilten aus dem Zuchthaus Brandenburg entlassen und begann unmittelbar nach seiner Rückkehr nach West-Berlin mit der politischen Arbeit in der SPD, der er bis zu seinem Tod im Jahre 1978 angehörte. 114
V. Wie anband der jetzt zur Verfügung stehenden SED-Akten zu sehen war, begannen die Kommunisten unter Ulbrichts Führung bereits vor Zulassung der Parteien durch die SMAD im Juni 1945 mit dem Aufbau eines Parteiapparates. Zum Zeitpunkt der Vereinigung mit der SPD existierte ein in seinen wesentlichen Strukturen etablierter zentraler Parteiapparat der Kommmunisten, der lediglich noch durch ehemalige SPD-Mitglieder bzw. bis 1945 weder der KPD noch SPD angehörende SED-Mitglieder "aufgefüllt" wurde, wobei die ehemaligen Kommunisten in Quantität und Qualität (Kompetenzen und Qualifikation) überlegen blieben. Die bei der Vereinigung festgelegte paritätische Besetzung aller Leitungsfunktionen war im Apparat des Zentralsekretariats von Anfang an Fiktion. Die Arbeit des zentralen Parteiapparates fand bis ins Detail hinein in einer engen Abhängigkeit von der SMAD statt. Prinzipielle Fragen bedurften der Zustimmung Stalins. Von Anfang an wurden auch geheime, insbesondere sicherheitsrelevante Strukturen im Apparat geschaffen, über die weder der Parteivorstand noch alle Mitglieder des Zentralsekretariats unterrichtet waren. Der Aufbau eines parteieigenen Abwehrapparates beispielsweise wurde unmittelbar nach Gründung der KPD im Sommer 1945 beschlossen und lange vor Beginn der sogenannten "Stalinisierung" der Partei in Angriff genommen. Die Spitzel- und Abwehrarbeit konnte sich dabei von Anfang an auf die Parteigliederungen in den Kreisen und Bezirken stützen und war integraler Bestandteil der Parteiarbeit. Als das Zentralsekretariat im Herbst 1948 die Bildung von Parteikontrollkommissionen auf allen Ebenen beschloß, m galt es lediglich noch einen Apparat für Massensäuberungen zu schaffen, der allerdings auf die zwischenzeitlich durch den Haid-Apparat geleistete Arbeit aufbauen konnte.
114
S. Kubina: Die Bibliothek, S. 17 f.
115
Protokoll der Zentralsekretariatssitzung am 13.9.1948, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/2. 11229.
387
Der Autbau des zentralen Parteiapparates von KPD/SED
Tabelle I
Veränderungen der Zuständigkeitsbereiche der
Sekretariatsmitglieder im Sommer 1945116
Pieck, .,Vorsitzender des ZK" Moskau .,Allgemeine Lei9.6.45 tung, Verbindungen, Kasse, Jugend, Frauen, Genossenschaften, Ausschuß fiir die Opfer des Faschismus, Organisierung des 'Kulturbundes' in Berlin" Berlin "Allgemeine 8.7.45 Leitung, Kasse, Jugend, Frauen, Genossenschaften, Ausschuß für die Opfer des FaschisBerlin 28.7.45
mus"
.,Allgemeine Leitung, Verbindungen mit den Parteien, Jugend, Frauen, Ausschuß fiir die Opfer des Faschismus, Geschäftsabteilung, Kasse"
Ulbricht
Ackermann
Dahlem
"Organisatorischer Aufbau der Partei, Kaderfragen, Bezirke, Gewerkschaften, kommunale und staatliche Fragen, Bauernagitation, Sport"
"Propaganda, Kultur- noch nicht eingearbeit, Parteischulen, plant Zentralorgan, Verlagsfragen, Information"
.. Verbindungen mit den BesatzungsbehördenundBezirken, Gewerkschaften, Wirtschaftsfragen, Bauernagitation"
.,Propaganda, Kulturarbeit, Zentralorgan, Verlagsfragen, Parteischule, Information"
"Aufbau der Partei in den Bezirken, Kaderfragen, Sport"
.. Verbindungen mit sowjetischen Besatzungsbehörden, kommunale und staatliche Aufgaben, Wirtschaftsfragen in den Bezirken, Gewerkschaften, Genossenschaften, Bauemagitation" "Der kommunale und staatliche Autbau und die Wirtschaftsfragen in den Bezirken werden durch Ulbricht kon trolliert."
.,Propaganda, Kulturarbeit, Kulturbund Zentralorgan, Theoretische Zeitschrift, Parteischule, Verlagsfragen, Informationsdienst"
"Parteiaufgaben und allgemeine Kontrolle der Parteiarbeit in den Bezirken, Kaderfragen, Sport" "Die Kontrolle der Parteiarbeit und des Parteiautbaus erfolgt durch Dahlem. Gundeiach ist in seiner Funktion Dahlem unterstellt."
116 Nach Nächste zentrale Aufgaben der Parteifiihrung, 9 .6.1945; Protokolle der Sekretariatssitzungen vom 8., 26. und 28.7.1945, Dokumente I, S. 222-225; 34-36; 44-51.
25•
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Tabelle li Personalaufteilung im zentralen Parteiapparat der SED 1947 11 7 Arbeitsbereich Propaganda, Kultur, Erziehung und Parteischulung Bereich Kader, Organisation, Parteischutz, Zonenleitung, Allgemeine Abteilung Bereich Wirtschaft, Finanzen, Landwirtschaft und Genossenschaften Bereich Staats- und Verwaltungsapparat Arbeit, Soziales, Frauen, Jugend, Gesundheit Parteigeschäfte und Kasse Rest (Bibliothek u.a.)
Mitarb. ca. 82
Prozent ca. 29
82
29
37 27 30 10 13
13 9
11
3,5 4,5
Dokument 1118 (hs.: 20.5.1948 L[andes].V[orstand]. Schwerin) Aufbau und Aufgaben der Abt. A.[bwehr] Aufbau: 1.) Die Abt. A. ist eine selbständig arbeitende, der der Abt. Personal-Politische Abtlg. [sie!] angegliederte und mit ihr aufs engste zusammenarbeitende Abt. 2.) Sie besteht im L.V. aus einem Verantwortlichen, einem Mitarbeiter und einer Sekretärin. Sie hat in den 6 größten Kreisen bezahlte Mitarbeiter, in den übrigen Kreisen ehrenamtliche Mitarbeiter, die direkt der Abt. A. im L.V. gegenüber verantwortlich sind. Zweck: Abwehr der inneren und äußeren Parteifeinde a) Linke und rechte Tendenzen inner- u. außerhalb der Partei. b) Parteien und anderer Organisationen. c) Fälle von Korruptionen [sie!] d) Überwachung unserer Veranstaltungen. Methode: Ermittlung - Demaskierung - Säuberung. natürlich Hilfsmittel: 1.) Parteiergebene Mitarbeiter. 2.) Einblick in alle vorhandenen Unterlagen. 3.) Gesellschaftliches Einfühlungsvermögen. 4.) Engste Zusammenarbeit mit ähnlichen Org.[anen] technische Hilfsmittel: Herstellung und Anhäufung von Unterlagen und Beweismaterialien - Anlagen einer Kartei Fahndung-Warnung u. allgemein übliche Mittel.
117 Zu den Quellen s. Anm. 37. Die Tabelle soll nur einen Eindruck von der personellen Schwerpunktsetzung im zentralen Parteiapparat aber keine exakten Angaben zur Mitarbeiterzahl der einzelnen Abteilung geben. Die Zuordnung zu den einzelnen Arbeitsbereichen war auch nicht immer eindeutig möglich. So enthält beispielsweise der Bereich Arbeit und Soziales auch Mitarbeiter, die zum Bereich Wirtschaft bzw. Staats- und Verwaltungsapparat gerechnet werden könnten. 118
SAPMO-BArch DY 30 IV 2/4/401, BI. 329.
Von der "Gruppe Ulbricht" zur "Staatspartei" Der Landesverband Groß-Berlin der KPD/SED von 1945 bis 1948 Von Gerhard Keiderling
Die überwältigende Flut von Neuerscheinungen zur SED kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Untersuchungen zur Parteigeschichte im engeren Sinne, also zur Organisation und Mitgliederbewegung, zur Sozialstruktur, zur Führungstätigkeit, zur "Massenverbundenheit" und zu anderen parteiinternen Problemen noch immer rar sind. Das betrifft sowohl die Gesamtpartei als auch ihre Landesverbände (ab 1952 Bezirksparteiorganisationen). Die wechselvolle Geschichte der Machterringung und Machterhaltung der KPD/SED auf dem Territorium der SBZ/DDR kann nicht geschrieben werden, ohne diese Entwicklungen und die Mechanismen der Herrschaftsausübung im regionalen Bereich zu analysieren. Im strategischen Nachkriegskonzept von KPD/SED nahm Berlin eine hervorgehobene Position ein. An die Hauptstadtrolle - sie galt nach 1945 unter den Deutschen keineswegs als obsolet und wurde von den Alliierten sogar demonstrativ unterstrichen - knüpfte die KPD zwei Erwartungen: zum einen eine Vorbildwirkung, also die schnelle, mustergültige und wirkungsvolle Rekonstruktion der Berliner Parteiorganisation, und zum anderen einen Brückeneffekt, d.h . die Transportierung des aus Moskau mitgebrachten Revolutionsmodells in alle Reichsteile. Diese Aspirationen realisierten sich nicht, besonders infolge subjektiver Fehler und Schwächen. Zum Leidwesen der Parteispitze rangierte seit Sommer 1945 der Berliner Landesverband im Vergleich mit den anderen Verbänden in der SBZ meist am unteren Ende. Er sah sich daher ständiger Kritik seitens der Parteiführung ausgesetzt, die die "Mißstände" mit übertriebenem Aktionismus, rigorosen Eingriffen und häufigem Revirement in der Landesleitung vergeblich bekämpfte. Noch Ende der fünfzigerJahreerregte sich Walter Ulbricht über seiner Meinung nach lähmende Auffassungen von einem "besonderen Berlin-Status" bei Berliner Funktionären, der sie daran hinderte, den "richtigen Kurs" in der DDR-Hauptstadt durchzusetzen. Eine Art "Berlin-Syndrom" obwaltete in Funktionärkreisen bis zum Ende des "Arbeiter-und-Bauern-Staates" und beeinflußte auch die SED-Historiographie. 1
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Gerhard Keiderling
Die Quellenlage zur Erforschung und Darstellung des Berliner Landesverbandes ist günstig. Aufgrund seiner politischen Bedeutung und räumlichen Nähe zur Parteispitze befmdet sich im Zentralen Parteiarchiv der SED reichhaltiges Schriftgut Das Bezirksparteiarchiv, das in der "Wendezeit" keine Verluste erlitten hat, kam 1992 in die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv und von dort 1994 in das Landesarchiv Berlin. Neben anderen Quellen und Materialien, wie den üblichen parteiamtlichen Publikationen, der Tagespresse, Memoiren und Erinnerungen, liegt auch ein umfangreiches Schrifttum aus DDR-Zeit vor, das ungeachtet seines Legitimations- und Huldigungscharakters im Sinne der SED-Historiographie nützliches empirisches Material enthält. Weitere archivalische Quellen erschließen sich über staatliche und kommunale Behörden, andere politische Parteien und Organisationen sowie über Betriebe. Im Mittelpunkt der Forschung stehen zwei Komplexe. Im parteigeschichtlich engeren Sinne geht es sich um die Rekonstruktion der Partei im Frühsommer 1945, um Organisations- und Mitgliederentwicklung, soziale Zusammensetzung und Funktionärkörper, um innerparteiliches Leben, um Frauen- und Jugendarbeit, um Parteipresse und -schulung u.a.m. Sodann sind die aufgrund des geltend gemachten Führungsanspruchs sehr breiten gesellschaftspolitischen Aktivitäten zu betrachten, also Landes- und Kommunalpolitik, Wirtschaftspolitik, Kultur und Erziehung, Justiz und Gesundheitswesen, Gewerkschaften, Massenorganisationen und nicht zuletzt öffentliches Erscheinungsbild und Akzeptanz der Partei. Ausgehend von der neuen Quellenlage liegt bereits eine Untersuchung der KPD-Bezirksorganisation Groß-Berlin 1945/46 vor, die diesen Ansprüchen weitgehend entspricht. 2 Mit solch breitem Ansatz werden die Forschungen zum SED-Landesverband Groß-Berlin 1946-1948 fortgeführt. Hier sollen einige ausgewählte Probleme betrachtet werden.
1 Obwohl die Berliner Bezirksleirung als erste nach dem Erscheinen des .,Grundrisses der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" im Sommer 1962 die Erarbeitung einer mehrbändigen Geschichte ihrer Paneiorganisation in Auftrag gab, lagen 1989 erst zwei Bände bis 1945 vor. Inzwischen hatten andere Bezirksparteiorganisationen, wie Neubrandenburg, Halle-Magdeburg, Gera, Karl-Maa-Stadt und Schwerin, ihre Geschichten bereits herausgebracht.
2 Vgl. Gerhard Keiderling, .,Wir sind die Staatspartei" . Die KPD-Bezirksparteiorganisation Groß-Berlin April 1945- April 1946, (Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin), 1997.
Von der "Gruppe Ulbricht" zur "Staatspartei"
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I. Die Rekonstruktion der Berliner KPD Der Wiederaufbau der Berliner KPD - vor 1933 eine der politisch einflußreichsten und mitgliederstärksten Gliederung der Gesamtpartei - war im Juni 1945 abgeschlossen, früher als alle anderen Landesverbände. Die Groß-Berliner Funktionärkonferenz vom 25. Juni 1945, auf der Walter Ulbricht die neue Programmatik der Partei referierte und am Ende die Einsetzung einer provisorischen Bezirksleitung mitteilte, hatte faktisch den Charakter einer Gründungsveranstaltung. Obwohl zeitgenössische Dokumente generell von einer "Wiedergründung" sprachen, setzte sich schnell die Version der aus Moskau zurückgekehrten Führungskommunisten durch, wonach die KPD mit ihrer Proklamation vom 11. Juni 1945 lediglich aus der Illegalität hervorgetreten wäre und somit eine ungebrochene Existenz und Tradition demonstrierte. Die Situation der Berliner Kommunisten bei Kriegsende unterschied sich kaum von der im Lande. Die großen Widerstandsgruppen hatte die Gestapo bis 1944 zerschlagen. Kleine Gruppen - oft auch Einzelpersonen - führten mancherorts erfolgreich Aktionen durch, um Stadtbezirke und Ortsteile kampflos der Roten Armee zu übergeben sowie sinnlose Zerstörungsakte durch fanatische Nazis zu verhindern. Im allgemeinen traten die Kommunisten erst nach Ende der Kampfhandlungen in Erscheinung, indem sie sich in alten Parteilokalen sammelten oder sich auf der sowjetischen Kommandantur zur Entgegennahme von Aufträgen und Befehlen meldeten. Obwohl die sowjetische Besatzungsmacht jede politische Tätigkeit verboten hatte, duldeten die Kommandanten die Sammlungsbestrebungen ihrer deutschen "Klassenbrüder." Ohne Verdienste der Kommunisten in der schwierigen Zeit zwischen Kriegsende und Neubeginn schmälern zu wollen, räumt die sachliche Quellenanalyse mit der alten Parteilegende auf, wonach allerorten Kommunisten die "Aktivisten der ersten Stunde" stellten. Die Reorganisation der KPD im April/Mai 1945 vollzog sich unter Berücksichtigung von lokalen und zeitlichen Besonderheiten (wie sozialer Charakter und Zerstörungsgrad der Wohngegenden, Zeitpunkt und Umstände der Befreiung, Stärke vorhandener Widerstandsgruppen) nach grundtypischen Mustern. Parteizellen, wie sie vor 1933 bestanden, und Antifa-Komitees stellten die Hauptformen dar. 3 Eine aktive Rolle spielten die Heimkehrer aus KZ und 3 Der Aufbau der lokalen Parteieinheiten lag in den Händen unterer bzw. mittlerer Funktionäre, die an die ihnen bekannten Organisations- und Umgangsformen von vor 1933 anknüpften, wie die Bildung von "Zellen", die Einrichtung von Parteibüros, außen geschmückt mit roten Fahnen und Transparenten und innen mit "roten Ecken", einer Art Parteialtar, sowie die Hammerund-Sichel-Embleme und die Begrüßungsformeln "Heil Moskau" oder "Rotfront".
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Zuchthäusern, die in organisatorischen und politischen Fragen meist den anderen überlegen waren und daher schnell in Führungspositionen aufrückten. Der eigentliche Motor der Rekonstruktion der Berliner KPD war die am 30. April1945 aus Moskau gekommene "Gruppe Ulbricht" .4 Nachdem sie die ihr von der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee zugewiesene Aufgabe der Bildung einer Berliner Stadtverwaltung Mitte Mai erfüllt hatte, widmete sie sich zielgerichtet dem Parteiautbau. Es wurden die Kader gesammelt, geschult und eingesetzt, die Parteileitungen in den Verwaltungsbezirken und Ortsteilen angeleitet und kontrolliert sowie die Durchsetzung von Verwaltung, Wirtschaft und Kultur mit Funktionären eingeleitet. Ulbricht, der in dieser Zeit de facto die Funktion eines gesamtberliner Polit.-Leiters- wie schon von 1929 bis 1932 -ausübte, konzentrierte sich darauf, die Parteiorganisation nach seinen Vorstellungen straff aufzubauen und die desolate politisch-moralische Verfassung der Berliner Kommunisten, die die Moskauer Remigranten geradezu schockierte5 , schnellstens zu beenden. Das Vertrautmachen der Mitgliedschaft mit der "neuen Linie" und die Überwindung aller ihr entgegenstehender Auffassungen - von Ulbricht pauschal als "Sektierertum" gebrandmarkt- standen an erster Stelle. Die Disziplinierung und Indoktrinierung der Berliner Kommunisten führte Ulbricht im Mai/Juni 1945 in dreifacher Hinsicht: Erstens Auflösung der "Antifa-Komitees" und "Volksausschüsse", weil die "Rummurkserei mit der Antifa" 6 nicht in das neue Machteroberungskonzept paßte; zweitens Verordnung der alterprobten Parteischulung, so daß ein Kreuzherger Genosse stöhnte: "Sie lassen uns nicht mehr denken, sie peitschen ein" 7 ; und schließlich eine Personalpolitik getreu Stalins Maxime: "Die Kader entscheiden alles." Als Ulbricht erkannte, daß er mit den vom "Sektierer"-Bazillus befallenen Berliner 4 Vgl. "Gruppe Ulbricht" in Berlin April bis Juni 1945. Von den Vorbereitungen im Sommer 1944 bis zur Wiedergründung der KPD im Juni 1945. Eine Dokumentation, mit einem Geleitwort von Wolfgang Leonhard, herausgegeben und eingeleitet von Gerhard Keiderling, Berlin 1993.
l Am 9. Mai 1945 telegrafiene er an Georgi Dimitroff: "In einer Reihe von Kreisen ist noch die Abgeschlossenheil der Illegalität spürbar. Die Kommunisten haben dort noch wenig Verbindung zu den Menschen der anderen Schichten und politischen Richtungen. Da es weder Zeitungen noch politische Schulungen gibt, ist fiir die genügende Orientierung der Genossen längere Zeit erforderlich." Stiftung der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), NY 4182/851, BI. 94 ("Gruppe Ulbricht" , S. 320).
6 So Ulbricht vor KPD-Parteileitern der Provinz Brandenburg am 27.Juni 1945, in: Walter V/bricht: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Schriften, Bd. ll: 1933 - 1946, Zusatzband, Berlin (Ost) 1966, S. 233. 7 Zitiert bei Harold Hurwitz: Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Bd. 4: Die Anfange des Widerstandes, T. 1: Führungsanspruch und Isolation der Sozialdemokraten, Köln 1990, s. 124.
Von der "Gruppe Ulbricht" zur "Staatspartei"
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Altkommunisten seinen Kurs nicht steuern konnte, forderte er bei Dimitroff und Pieck in Moskau die Entsendung von Kadern an, die an der dortigen Parteischule oder an den Antifa-Schulen des NKFD nach der neuen Generallinie ausgebildet worden waren. Von den zwischen I. Mai und 10. Juni 1945 im sowjetischen Besatzungsgebiet eingesetzten 275 Kadern von KPD und NKFD hatte die "Gruppe Ulbricht" den Hauptanteil für sich beansprucht: 165 geschulte Funktionäre, davon 73 Altkommunisten, 31 Absolventen der Parteischule und 61 NKFD-Angehörige. 8 Mit diesem Stamm ergebener Anhänger konnte Ulbricht an den Aufbau einer Hausmacht, einen Kreis disziplinierter Befehlsempfanger und -vollstrecker, im "Apparat" gehen. Bezeichnenderweise warteten gleichzeitig rund 100 aus KZ und Zuchthäusern befreite Funktionäre in einer Spandauer Kaserne auf ihren Parteieinsatz und mußten sich erst "einer Kontrolle durch die RA [Rote Armee] u[nd] die Partei" unterziehen. 9 Ulbricht hatte die Berliner KPD in kurzer Zeit auf die "neue Linie" der Parteiführung ausgerichtet. Mit einer mitgliederstarken, ideologisch gefestigten hauptstädtischen Parteiorganisation erhoffte er sich eine gesamtdeutsche Vorbildwirkung. Doch unter der Oberfläche verblieben Orientierungsnöte, Aufklärungsbedarf und Reserviertheil in der Mitgliedschaft, was nicht allein dem Druck der Zeit und der Umstände geschuldet war. Bevor sich nach der langen Illegalität ein demokratisches Parteileben mit freier Diskussion und Wahl entwickeln konnte, hatten die Emissäre der Moskauer Führung die Parteieinheiten schon wieder in ein starres, stalinistisches Korsett des "demokratischen Zentralismus" gezwängt. Wie der Mitarbeiter der Politischen Hauptverwaltung der Sowjetarmee, Oberstleutnant K. L. Selesnow, richtig beobachtete, gab es damals in der Berliner KPD neben der "Kluft Junge u[nd] Alte" noch "3 Gruppen: Konz[entrations]-Lager, Moskauer, im Lande.- [Die] neuen Leute schweigen" 10 Dieser Zustand mit adäquaten Bewußtseinslagen dauerte im wesentlichen fort, brach wiederholt auf und prägte noch das Gesicht der Berliner KPD im Stadium der Vereinigung mit Teilen der SPD. Der SMAD-Befehl Nr. 2 vom 10. Juni 1945, der die Bildung demokratischer Parteien und Gewerkschaften genehmigte, kam nicht überraschend. Die KPD-Führung, am 25. Mai 1945 davon in Kenntnis gesetzt, hatte Gelegenheit, ihr organisatorisches und programmatisches Auftreten vorzubereiten. Anfang Juni 1945 stand auch die Berliner Parteiorganisation in ihren Grundzügen. Der 8
Vgl. "Gruppe Ulbricht". S. 100.
9
Vgl. Alfred Lemmnitz, Beginn und Bilanz, Erinnerungen, Berlin (Ost) 1985, S. 24.
10 Niederschrift eines Gesprächs Piecks mit Oberstleutnant K. L.Selesnow vom 26.6. 1945, in: SAPMO-BArch, NY 4036/ 629, BI. 72 ("Gruppe Ulbricht", S. 584).
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Gerhard Keiderling
Vergleich mit dem spontanen Wiederaufbau der Berliner Sozialdemokratie im gleichen Zeitraum zeigte die Vorteile des zentralistisch, nach mitgebrachten Direktiven gesteuerten und von der sowjetischen Besatzungsmacht allseitig geförderten Vorgehens der Kommunisten. Eine Episode, die der Kommunist Wilhelm Thiele erzählte, erhellt den Anspruch auf eine "führende Rolle", mit dem die KPD damals auftrat: Im Berliner Arbeiterbezirk Wedding fand die erste Mitgliederversammlung am 12. Juni 1945 im Sängerheim in der Kösliner Straße- der früheren KPD-Hochburg im "roten Wedding"- statt. Anton Ackermann, vom ZK als Referent geschickt, war darüber wütend; er "bezeichnete uns als Sektierer, die in die Zeit der alten KPD zurück wollten und nicht begriffen, daß die KPD jetzt eine Staatspartei sei. Wir verkrochen uns in diese alte ,Scheune', während die allerbesten Räume für uns gerade gut genug wären. " 11
II. Die ersten Schritte als "Staatspartei" Das "neue Wesen" der KPD - nicht länger Oppositions-, sondern Regierungspartei sein zu wollen - klang in gemäßigtem Tone im Aufruf vom 11. Juni 1945 an. Parteiintern nahmen die Spitzenfunktionäre kein Blatt vor den Mund. Der damalige Berliner KPD-Chef, Ottomar Geschke, unterstrich auf der Sitzung der Bezirksleitung vom 2 . August 1945: "Wir sind die StaatsparteL Das, was dem Volke not tut, müssen wir tun. " 12 Das "Berliner Beispiel", d.h. die von der "Gruppe Ulbricht" im Mai/Juni 1945 veranlaßte Weichenstellung, machte den Monopolanspruch ("führende Rolle") und die auf Beherrschung des sich neuformierenden gesellschaftlichen Lebens ausgerichtete politische Praxis der KPD transparent. Der "Griff nach den Rathäusern", um nach den Worten Ulbrichts "von der festen und beständigen Position der Macht her die Leitung der Dinge fest in die Hand zu nehmen" 13 , und die fortlaufende Einflußnahme auf den neuen kommunalpolitischen Apparat, die ersten Eingriffe in Eigentumsverhältnisse der Wirtschaft sowie die Grundsteinlegung eines sowjetisch orientierten Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftswesens erfolgten nach exakten planerischenVorgaben 11
SAPMO-BArch, Sg Y 309/1593/3, BI. 570 f.
12
Landesarchiv Berlin (LAB), SED-Bezirksparteiarchiv (BPA), 112/ 016.
13 Walter V/bricht, Zur Geschichte der neuesten Zeit, Bd. I, 1. Halbband: Die Niederlage Hitlerdeutschlands und die Schaffung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung, Berlin (Ost) 1955, S. 62.
Von der "Gruppe Ulbricht" zur .,Staatspartei"
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der KPD-Spitze, die 1944/5 in Moskau abgestimmt worden waren. Die sog. antifaschistisch-demokratische Umwälzung, die als "schöpferische Anwendung des Marxismus-Leninismus auf die konkret-historische Situation in Deutschland" etikettiert wurde, mußte zuvor mit der sowjetischen Besatzungsmacht bis ins Detail abgesprochen, für Kardinalfragen sogar das Plazet in Moskau eingeholt werden. In Ermangelung einer "revolutionären Situation" im SinneLenins wurde die Revolution quasi "von oben" dekretiert und in Kampagnen realisiert. Erich Lübbe vom Berliner SPD-Bezirksvorstand sprach im April 1946 zurecht von "einer Periode der kalten Revolution", in der man sich befände. 14 Mit ihrer etatistischen Strategie erstrebte die KPD als Handlungsgehilfe der Sowjetunion über eine kurzzeitige Übergangsphase den Sozialismus stalinistischer Prägung in Deutschland, die Hauptstadt Berlin als Drehscheibe benutzend. In der Sitzung des SED-Landesvorstandes Berlin vom 26. April1946 erklärte Waldemar Schmidt, KPD-Bezirkssekretär von August 1945 bis April 1946: "Wir müssen in wenigen Wochen eine Organisation von 200 000 Mitgliedern werden. Gemäß der Größe unserer Organisation und der Tatsache daß wir im kommenden Deutschland die entscheidende Regierungspartei sein werden, muß das bei dem Aufbau der Parteiorganisation in ihren Abteilungen und Gliederungen berücksichtigt werden. " 15 Der neue Kurs stieß auf erhebliche innerparteiliche Widerstände. Vielen Altkommunisten, die infolge ihrer illegalen Abgeschiedenheit auf dem Bewußtseinsstand von 1933 ( "Sowjetdeutschland") stehengeblieben waren oder eigenen Zukunftsvorstellungen nachhingen, fiel der Schritt von der Oppositionspartei vor 1933 und von der illegalen Widerstandspartei zwischen 1933 und 1945 zur nunmehrigen "Staatspartei" schwer. Sie lehnten die Übernahme staatlicher Verantwortungen ab und differenzierten sogar zwischen Funktionären echten Stils und "Bürgermeisterkommunisten. " 16 Die Umorientierung brauchte Zeit, doch die Parteiführung drücktekraftihres Erkenntnismonopols auf "revolutionäres Tempo" und disziplinierte "unverbesserliche Sektierer". Die KPD sollte eine "Massenpartei des werktätigen Volkes" werden. Die Öffnung für neue Mitglieder, die aufgrund ihrer Erfahrungen in NS-Zeit und Krieg, aus Mitschuldgefühl oder auch nur Karrierismus kamen, veränderte das Antlitz der Partei. Bis Ende Juli 1945 hatten sich in Berlin 15 720 Altkommu14 Protokoll der erweiterten gemeinsamen Funktionärsitzung der Berliner KPD und SPD vom 10.4.1946, in: LAB, BPA, III/2/003. 13
Archiv der sozialistischen Demokratie Bonn-Bad Godesberg (AdsD), NL Lübbe, Nr. 1.
16 Vgl. Bericht über die KPD-Funktionärversamrnlung in Charlottenburg vom 7.6.1945, in: SAPMO-BArch, NY 4182/851, BI. 209 (.,Gruppe Ulbricht", S. 493).
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nisten in die ausgelegten Listen eingetragen; die Gesamtstärke der hiesigen Partei betrug bereits 32 345 Mitglieder. Die Gefahr von Abspaltungen, mit denen die kommunistische Bewegung an Scheidewegen ihrer Strategie immer zu tun gehabt hatte, war umgangen; die neuen Mitgliedermassen ließen sich leichter indoktrinieren und manipulieren. Ihren Anspruch auf Regierungspartei meldete die KPD mit ihrem Aufruf vom 11. Juni 1945 öffentlich an. Das Privileg, als erste nach dem Parteizulassungsbefehl vom Vortag aufzutreten, führte allen vor Augen, daß hier der Günstling der Sowjets sprach. Walter Ulbricht agierte als spiritus rector des mit gesamtdeutschen Blick installierten Berliner Parteiensystems von Juni/Juli 1945; er "managte" die Zulassung der nichtkommunistischen Parteien, deren Subordination im "Block", die Bildung neuer Gewerkschaften und die Schaffung sog. Massenorganisationen. 17 Alle Voraussetzungen für eine künftige Staatspartei nach MoskausWünschen waren gegeben. Den Vorzügen der Omnipotenz des Apparates, eines zentralistisch gegliederten und kommandierten Parteikörpers und einer disziplinierten, parteiergebenen Funktionärkaste, die in einem nimmermüden Aktivismus ("Kampagnen") lebte, standen allerdings auch negative Momente gegenüber, wie sie bei einer jungen Massenpartei unter den gegebenen Bedingungen von 1945 unausweichlich waren, nämlich eine ausgeprägte Trägheit breiter Mitgliederkreise, deren ideologische Feme vom Marxismus-Leninismus und deren Abstand von den "werktätigen Massen." Die Diskrepanz zwischen deklarierter "Staats-" und "Aufbaupartei" und tatsächlicher Akzeptanz in der Bevölkerung zeigte sich in Berlin seit Spätsommer 1945 in aller Deutlichkeit. Die SED-Historiographie, die den KPD-Aufruf vom 11. Juni 1945 stereotyp zum Gradmesser für Wahrheitsmonopol, Führungsanspruch und Bündnispolitik machte, übersah bewußt das Faktum, daß mit der Parteienzulassung gemäß SMAD-Befehl Nr. 2 die Bevölkerung die begrenzte Chance einer Auswahl der Neuordnungskonzepte erhielt und davon auch Gebrauch machte. Mit schwindender öffentlicher Akzeptanz verstärkte sich die Tendenz, daß die KPD noch tiefer in sowjetische Abhängigkeit geriet und von der SMAD funktionalisiert wurde. Bei vielen brennenden Tagesfragen (Übergriffe der Sowjetsoldaten, Rechtsunsicherheit, Verhaftungswillkür, Demontagen, Grenzfrage u.a.m.) erlebte die Bevölkerung, daß die KPD nicht
17 V gl. Gerhard Keiderling, Scheinpluralismus und Blockparteien. Die KPD und die Gründung der Parteien in Berlin 1945, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, München, Jg. 1997, H. 2, S. 257-296.
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als deutsche Interessenvertreterin auftrat. Das Odium einer "Russenpartei" wurden seither KPD/SED nicht mehr los. In Berlin kam hinzu, daß mit dem Einzug westalliierter Truppen und dem Beginn der Viermächteverwaltung der Stadt im Juli 1945 eine völlig neue Lage entstand. Die Westmächte reduzierten in ihren Besatzungssektoren die von der "Gruppe Ulbricht" geschaffene kommunistische Dominanz und räumten anderen politischen Kräften eine Chancengleichheit ein. Ausschlaggebend für den sukzessiven Rückgang des KPD-Einflusses in Westberlin war nicht der Antikommunismus der Westmächte, wie die SED immer ins Feld führte, sondern die allgemeine Antihaltung in der Bevölkerung gegenüber allem, was mit dem Sowjetsystem verbunden wurde, und die allgemeine Bevorzugung des westlichen Demokratie-Modells. Beides konnten sich vor allem im Westteil Berlins ungehemmt artikulieren. Die KPD blieb von nun an nur dort stark und einflußreich, wo sie die fördernde Unterstützung ihrer sowjetischen Schutzmacht erhielt. Doch selbst im Ostteil Berlins konnte sie ihrem Anspruch einer "Partei des Volkes" nicht gerecht werden. Franz Dahlem, im ZK für Organisation und Kader zuständig, gestand im Januar 1946 das Fiasko ein: "Die objektiven Voraussetzungen dazu sind da, subjektiv ist die Parteiorganisation noch nicht so weit. " 18
111. Allgemeines und Besonderes bei der Zwangsvereinigung mit der SPD Das Streben nach Zusammenschluß der beiden großen Arbeiterparteien SPD und KPD war nach Kriegsende in ganz Deutschland evident; es manifestierte sich in Aufrufen und Programmen, in gemeinsamen Ausschüssen und Aktionen, beim Wiederaufbau der Gewerkschaften und Organisationen. Die "Einheits"-Losung besaß einen spezifischen Klang, geprägt von Traditionen, Erfahrungen und Neubesinnung der deutschen Arbeiterbewegung. Einheit als Kraftquell für die Überwindung der tiefen Katatstrophe, in die das Land bei Kriegsende gestürzt war, wurde allgemein, auch im bürgerlichen Lager, begrüßt. Einheit als Unterpfand der künftigen politischen Gestaltung Deutschlands löste eine leidenschaftliche Debatte über Weg und Ziel aus: demokratisch oder diktatorisch, friedlich oder gewaltsam, deutscher oder sowjetischer Weg. Unter diesen Vorzeichen stand schon die Annäherung von Kommunisten und Sozialdemokraten seit April/Mai 1945. Mit ihrem Juni-Aufruf wollte sich die KPD als eine grundsätzlich gewandelte deutsche Partei präsentieren, in ihrer 18
SAPMO-BArch, NY 4072/209, BI. 65.
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tatsächlichen politischen Praxis blieb sie jedoch dem stalinistischen Typ verhaftet und dem "Sozialdemokratismus" feindlich gesonnen. Erst Aktionseinheit, dann Verschmelzung- mit diesem Konzept traten die Kommunisten gegen die Sozialdemokraten an. Auf allen Ebenen sahen sie im SPD-Genossen erst einmal den Kontrahenten, dem man mißtrauen müsse. In Verwaltung und Wirtschaft und auch beim gewerkschaftlichen Neuaufbau wandten sie sich unnachgiebig gegen eine Prädestination der Sozialdemokraten auf diesem Felde und provozierten damit die folgenschwere Paritätsfrage. Nachdem die KPD-Spitze die anfangliehe Einheitseuphorie bei den Berliner Sozialdemokraten kräftig gedämpft hatte, strebte sie ab September/Oktober 1945 eine Einheitspartei nach eigenen Vorstellungen an. Für diesen Wechsel wurden in der einschlägigen Literatur vorrangig internationale und nationale Faktoren angeführt. Die Berliner Entwicklung weist indes auf ein weiteres Bewegmotiv hin: die frühe Krise der KPD, hervorgerufen durch die räumliche Beschränkung auf das sowjetische Besatzungsgebiet, durch die schwindende Attraktivität und Mobilisierungsfähigkeit und durch eine zu erwartende Mitgliederstagnation. Die KPD-Führung, die offensichtlich ihre Kalamität erkannte, setzte auf eine "Vorwärts"-Strategie, auf eine "stürmische Umarmung" der Sozialdemokraten. Auffälligerweise ging die Einheitsoffensive einher mit Kampagnen zur nationalen Präsentation, zur Mitgliederwerbung und zu verschiedenen Selbsthilfeaktionen, bei denen sich die KPD als "Aufbaupartei" vorstellte. Das glich dem stillschweigenden Eingeständnis, daß die Kommunisten ihre Vorteile vom Frühsommer 1945 nicht hatten behaupten können. Schon beim Eintritt in die Fusionsphase zeigten sich erhebliche politisch-ideologische und organisatorische Schwächen in der Führungstätigkeit der Berliner KPD, dietrotzaller Bemühungen in der Folge nicht mehr wettgemacht werden konnten. Schwerwiegend war der Einbruch der Partei in den Westsektoren, der keineswegs nur auf westalliierte Behinderungen zurückzuführen war. Überall dort, wo die KPD versagte, konnte die SPD eine Stärkung verzeichnen, auch im Ostteil der Stadt. Der Kurswechsel von der Aktions- zur Organisationseinheit, den die KPD-Spitze im Frühherbst 1945 in Eile und mit Nachdruck vornahm, war mit "Vertiefung der Aktionseinheit", "Bereinigung von Meinungsverschiedenheiten", "Annäherung von Kommunisten und Sozialdemokraten auf Positionen des revolutionären Marxismus" und anderen Argumenten, die die SED-Historiographie später in ihr Arsenal aufnahm, nicht erklärbar. Gerade die Berliner Verhältnisse offenbarten, wie formal und ineffektiv die Aktionsausschüsse arbeiteten, wie fremd sich Kommunisten und Sozialdemokraten weiterhin gegenüberstanden und welche neuen Barrieren zwischen ihnen errichtet worden
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waren. Der ,.Einheitsdrang" kam daher nicht von unten, sondern von oben, aus der KPD-Spitze. Für sie war es fraglos ein glücklicher Umstand, daß im ostzonalen Zentralausschuß der SPD und in derem Berliner Bezirksvorstand Befürworter einer Zusammenarbeit, eines Zusammengehens auch in organisatorischer Hinsicht die Oberhand hatten. Das ermöglichte erst Absprachen und Abkommen, aus denen es für die Sozialdemokraten am Ende kein Entrinnen mehr gab. Den entscheidenden Wendepunkt markierte die 1. Sechziger-Konferenz vom 20./2l.Dezember 1945; sie beschloß die inhaltlichen und terminliehen Modalitäten für die Verschlingung der SPD durch die KPD. Von nun an war von einem freiwilligen Zusammenschluß keine Rede mehr. Erich W. Gniffke vom SPD-Zentralausschuß konstatierte am 10. Februar 1946: ,.Die Entwicklung führt mit oder gegen unseren Willen zur Verschmelzung der beiden Arbeiterparteien zum 1. Mai d.J. Dann gibt es 'demokratische' Parteiwahlen. Vorher sind viele unserer Parteifunktionäre abgeschoben. Wie in den Gewerkschaften besetzt auch in der künftigen Einheitspartei die KPD alle Schlüsselstellungen, und nichts anderes kommt bei der Vereinigung heraus, als daß die KPD ihren Namen ablegt und einen neuen Apparat hat, die SPD aber aufgehört hat zu existieren. " 19 Weil der Zusammenschluß nicht freiwillig verlief, weil ernste Bedenken selbst bei einheitsbereiten Sozialdemokraten fortbestanden, weil die Zusicherung einer Entscheidung auf Reichsparteitagen schon früh von den Kommunisten gebrochen wurde, weil die Handlungsfreiheit des Zentralausschusses der SPD und des Berliner Bezirksvorstandes sichtbar eingeschränkt wurde, weil sich in der SPD ein starker Widerstand formierte - aus all diesen Gründen sah sich die KPD-Führung zu einem raffinierten Zwangs- und Unterwanderungsmechanismus veranlaßt. Mittel des Drucks und der Benachteiligung, der Beeinflussung, der Überredung, der Täuschung und der Einschüchterung wurden angewandt. Sozialdemokraten, die nicht mit fliegenden Fahnen ins Einheitslager wechselten, sahen sich vielfach Repressalien ausgesetzt. Eine beliebte Methode war, zwischen ,.rechten" SPD-Führem als Einheitsfeinde schlechthin und ,.ehrlichen" Mitgliedern, die nach Wilhelm Piecks Worten zu ,.guten Kommunisten" gemacht werden sollten, zu differenzieren. Diese Taktik brachte allerdings selbst linientreue Kommunisten in Verlegenheit, wenn sie in Verwaltung und Wirtschaft Sozialdemokraten aus Ämtern und Gewerkschaftsfunktionen fernhalten, sie in der Einheitsfrage aber als "Kiassenbrüder" gewinnen sollten. Manche Altkommunisten waren mit dem vom ZK und der Berliner Bezirksleitung vorgegebenen Tempo der Vereinigung nicht einver19
Vgl. AdsD, NL Gniffke, Nr. 54.
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standen. Alte Ressentiments, die trotz gemeinsamer Verfolgung und Qualen durch das NS-Regime keineswegs überwunden waren, wirkten bis in die Einheitspartei fort, wo Sozialdemokraten oft als "Mitglieder zweiten Ranges" behandelt wurden. Die zentralistisch geführte KPD wollte von dem demokratischen Instrument einer Mitgliederbefragung nichts wissen, weder in der eigenen Partei noch in der SPD. Es gab nur die Akklamation, das offene Bekenntnis zu vorgelegten Resolutionen durch Handaufheben oder Beifallsbekundung, meist ohne die rhetorische Nachfrage nach Enthaltungen und Gegenstimmen. So kamen "Mehrheitsbeschlüsse" zustande, die der tatsächlichen Stimmungslage nicht entsprachen. Die Scheu der Kommunisten vor geheimer Abstimmung - erst im März 1946 fanden in den unteren Parteieinheiten Wahlen statt20 - zeigte sich am deutlichsten bei der Urabstimmung der Berliner Sozialdemokraten am 31. März 1946, deren Durchführung im Ostsektor von den Sowjets verboten wurde. In vielen Verwaltungsbezirken, Ortsteilen und Betrieben war die Vereinigung in erster Linie eine Führungsangelegenheit der KPD-Funktionäre, selbst über die programmatischen und organisatorischen Gründungsdokumente der SED fand keine eingehende Meinungsbildung statt. Man sucht in den Akten vergeblich nach Beweisen, die als theoretische Diskussion, als Ringen um Klarheiten zu bewerten sind. Die Vereinigung erweist sich auch von dieser Seite her als die disziplinarische Ausführung eines von der KPD-Spitze gemeinsam mit den Sowjets gefaßten Beschlusses. Ein so gravierendes Ereignis wie der Zusammenschluß der beiden Arbeiterparteien tangierte natürlich die Interessen der Besatzungsmächte, die in der deutschen Hauptstadt zu einer besonderen Form alliierter Kooperation verpflichtet waren. Die SMAD unterstützte nach besten Kräften die Fusionsbestrebungen der KPD, vor allem nachdem Stalin im Januar 1946 diesen Kurs gebilligt hatte. Die extraordinäre Lage Berlins im sowjetischen Besatzungsbereich bewirkte eine im Vergleich zu den ostzonalen Ländern differenzierte, teilweise moderate Form der Einmischung, die sich auf den Ostsektor beschränkte. Da die Amerikaner und Briten nach anfanglieber Zurückhaltung im Februar/März 1946 offene Partei für die Opposition in der Berliner Sozialdemokratie nahmen, mußten sich die Sowjets auf gesamtberliner Ebene zurückhalten, um nicht ihre weitergehenden Interessenlagen zu gefährden. Der Ende Mai 1946 im Koordinationskomitee des Alliierten Kontrollrates erzielte Kompromiß in der Zulas20 In der Beratung mit Funktionären vom 4.1.1946 räumte Pieck ein, es gäbe bisher keine gewählten Leitungen in der KPD, die jetzigen seien im Frühjahr 1945 aufgrundder Aktivität und Initiative von Parteibeauftragten eingesetzt worden. Dieser Nachteil würde das Argument von mangelnder innerparteilicher Demokratie befördern. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/I/2/5/39, BI. 10.
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sung von SED und SPD in ganz Berlin21 machte deutlich, wie tief der Riß zwischen den Siegermächten bereits ging. Für die Sowjets wuchs sich ihr rücksichtsloses Engagement für die kommunistische Einheitspartei zu einem politischen Desaster aus. Der erwartete gesamtdeutsche Widerhall der SED-Gründung blieb aus; statt ihre Politik in die Westzonen zu transportieren, sah sich die SMAD immer stärker zu einer Abschottung ihrer Zone genötigt. Damit waren Verluste von Ansehen und Einfluß verbunden, während gleichzeitig die Reibungsflächen mit den Westmächten im ausbrechenden Kalten Krieg zunahmen. Der Verlauf der Berliner SED-Gründung bestätigte, was die historische Forschung nicht erst nach Öffnung der SED-Archive zum Thema "Zwangsvereinigung" vorlegte. Es handelte sich um die Einschmelzung der SPD in eine von der KPD konzipierte und realisierte Einheitspartei, die sich von vornherein als stalinistische Kadertruppe verstand und keine Strömungen in ihr zuließ. Als Kronzeuge fungierte kein geringerer als der KPD-Vorsitzende Wilhelm Pieck, der in einem Notat vom 6. Februar 1946 festhielt: "Name KPD in Sozialist[ische] Einh[eits] Partei verwandeln. "22 In der Schlußphase des Berliner Fusionskampfes war es schon ausschlaggebend, daß den Einheitsbefürwortem in der Berliner Sozialdemokratie - einerlei, ob freiwillig oder unter Zwang stehend, ob aus Überzeugung oder Opportunität- etwa 45 Prozent der Mitglieder in die Einheitspartei folgten, sonst wäre die Vereinigung in Berlin zu einer Farce geworden.
IV. Als Oppositionspartei im Stadtparlament Obgleich die SED mit über 100 000 Mitgliedern die stärkste Partei in Berlin war23 , stagnierte ihr Einfluß in der Bevölkerung. Das zeigte sich vor allem am Ausgang der ersten freien Wahlen vom 20. Oktober 1946. Angetreten als "Autbaupartei", als "soziale und nationale Interessenvertretung aller Deut21 Nachdem die Alliierte Kommandantur am 26. Apri11946 keine Einigung über die Zulassungsanträge von SED und SPD hatte erzielen können, traf der Koordinierungsausschuß des Alliierten Kontrollrats am 28. Mai 1946 die Entscheidung, beide Parteien gleichberechtigt in allen vier Sektoren Berlins zuzulassen. Diesen Beschluß fiihrte die Alliierte Kommandantur mit gleichlautenden Schreiben an die Vorstände der SED und der SPD vom 31. Mai 1946 aus. 22 SAPMO-BArch, NY 4036/631, BI. 33. Bemerkenswert auch Piecks Meinung vom September 1946: "Zur Frage des Zwanges- Druckes zur Vereinigung: wenn das wahr wäre, so nicht minder Zwang-Druck gegen Vereinigung. • Ebenda, NY 40361739, BI. 3 f. 23 Die Organisationsabteilung des SED-Zentralsekretariats gab fiir Mai 1946 mehr als 102 000 Mitglieder an. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV/2/5/1366, BI. 16.
26 11mmermann
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sehen" und sogar schon als "Staatspartei", erlitt die SED mit 19,8 Prozent der Stimmen eine vernichtende Absage als "Russenpartei". 24 Im neuen Stadtparlament- der Stadtverordnetenversammlung -,wo sich eine Mehrheit aus SPD, CDU und LDP bildete, mußte sich die SED de facto mit einer Oppositionsrolle begnügen. Nur dank Art. 3 (2) der von der Alliierten Kommandantur am 13. August 1946 dekretierten Vorläufigen Verfassung, wonach alle zugelassenen Parteien ein Anrecht auf Mitwirkung an der Stadtverwaltung hätten, konnte die SED den 2. Bürgermeister und zwei Stadträte für die Ressorts Arbeit und Städtische Betriebe stellen. In den zwanzig Bezirksverwaltungen der Stadt verlor sie ihre bisherige Dominanz; nicht einmal in den acht Ostberliner Verwaltungsbezirken stellte sie einen Bezirksbürgermeister. Die Oktoberwahlen glichen in mehrfacher Hinsicht einem politischen Erdrutsch. Eine überwiegende Mehrheit der Berliner hatte den totalitären Herrschaftsansprüchen der SED und der hinter ihr stehenden sowjetischen Besatzungsmacht eine klare Absage erteilt. Dieses Votum blieb in der Folge nicht ohne Einfluß auf das Verhälltnis der vier Mächte untereinander sowie auf das Schicksal der von ihnen in Berlin und Deutschland eingegangenen Verpflichtungen. Von unmittelbarer Wirkung war der katastrophale Verlust an Macht und Ansehen der SED in Berlin. Der Parteivorstand sah sich zu einer Stellungnahme zum Wahlausgang genötigt, die weder die Situation analysierte noch die wirklichen Ursachen der Niederlage aufklärte, sondern in üblicher Manier die Schuld der SPD-Führung, den bürgerlichen Parteien und den hinter ihnen stehenden "reaktionären Kräfte" anlastete. Er zog für sich den Schluß, künftig freie Wahlen, bei denen die Wähler vor politische Entscheidungen gestellt werden, abzulehnen. An den nächsten Wahlen vom Dezember 1948 durften die Ostberliner nicht mehr teilnehmen. Das neue politische Kräfteverhältnis in Berlin stellte die SED vor ungewohnte Aufgaben. Während sie in den Ländern der SBZ die "antifaschistisch-demokratische Umwälzung" mit sowjetischer Hilfe vorantrieb, blieb Berlin, selbst der sowjetische Sektor als politisches Zentrum der Ostzone, am Rande dieser Entwicklung. Der Parteivorstand verglich die Lage sogar mit der Stellung der KPD in den Landtagen der Westzonen; er hatte große Schwierigkeiten, sich auf die veränderte Situation in Berlin einzustellen. Einerseits 2• Das Ergebnis der Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung und zu den zwanzig Bezirksverordnetenversammlungen lautete bei einer hohen Wahlbeteiligung von 92,3 %: die SPD 48,7 Prozent, die CDU 22,2 Prozent, die SED 19,8 Prozent und LDP 9,3 Prozent. Die Gesamtmandate in beiden parlamentarischen Organen verteilten sich so: SPD 394 Mandate, CDU 184 Mandate, SED 154 Mandate und LDP 73 Mandate. Vgl. Berlin in Zahlen 1946/47, hrsg. vom Hauptamt für Statistik und Wahlen des Magistrats von Groß-Berlin, Berlin 1949, S. 436 f.
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konnte und wollte die SED sich nicht von ihrem Anspruch auf "Staatspartei" und von ihrer Vasallenrolle gegenüber der SMAD lösen, andererseits blieb sie davon überzeugt, daß nur die "rechten" SPD-Führer, die bürgerlichen Parteien und die hinter ihnen stehenden "reaktionären Kräfte" am 20. Oktober 1946 "die Abkehr großer Teile der Berliner Werktätigen" von ihrer eigentlich richtigen Politik "durch einen hemmungslosen Appell an die Verzweiflungsstimmungen und die Reste faschistischer Ideologie in den Massen" herbeigeführt hätten. 25 Folglich entschied sie sich für einen Kurs, der die Umgestaltungen in der SBZ auf Berlin übertragen und die dazu notwendige Massenbasis durch Aktionseinheit und Blockpolitik - beide waren im Gefolge von Zwangsvereinigung und Oktoberwahlen verlustig gegangen - restituieren sollte. Das gelang weder mittels des eigenen Aufrufs "Berlin baut auf" vom Sommer 1947 noch mittels des vom damaligen sowjetischen Stadtkommandanten initiierten "Kotikow-Programms" vom Herbst 1947, das durch materielle und soziale Vergünstigungen den Werktätigen in den staatlich verwalteten Betrieben des Ostsektors die Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaftsweise demonstrieren sollte. Auch in zentralen politischen Forderungen- so bei Konzernenteignung und Einheitsschule - vermochte die SED nur Teilerfolge ihrer Politik zu erzielen. Die größte Niederlage mußte sie zweifellos bei den Gewerkschaften in Kauf nehmen, als die seit 1946 gewachsene Unabhängige Gewerkschafts-Opposition (UGO) mit Schwerpunkt in den Westsektoren im Sommer 1948 die organisatorische Trennung von der kommunistisch dominierten Einheitsgewerkschaft FDGB vollzog. Kaum zwei Jahre nach Kriegsende war das von der "Gruppe Ulbricht" im Frühsommer 1945 errichtete Gefüge des SBZ-Parteiensystems - mit der Führungspartei KPD/SED, den subordinierten Blockparteien und den gleichgeschalteten Massenorganisationen - erstmals ins Wanken geraten. Nach der Auflösung des Berliner Blocks Ende 1946, der Formierung einer Opposition im FDGB, dem Verbot des Kulturbundes in den Westsektoren und der späten Zulassung von DFD und FDJ in Berlin stand die SED faktisch ohne ihre Hilfstropps da. Ausgerechnet in der Viersektorenstadt, wo sie sich Erfolge ausgerechnet hatte, machte sie nun bittere Erfahrungen in der "offenen Feldschlacht" (Walter Ulbricht) mit den demokratischen Kräften. Ohne direkte Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht hätte sie manche Situationen auf kommunal- und parteipolitischer Ebene nicht bestehen können. Das sichtbare Ausmaß der Abhängig-
zs Vgl. Bericht des Parteivorstandes der SED an den 2. Paneitag, Berlin 1947, S. 10. 26•
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keit vom Osten ließ den Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung größer werden.
V. Der Stalinisierungskurs in der Berliner SED Das Drängen Moskaus auf Anpassung der ostdeutschen Verhältnisse an die volksdemokratische Entwicklung in Osteuropa beschleunigte den Stalinisierungskurs der SED. Dieser war schon vor der offiziellen Weichenstellung durch den II. Parteitag im September 1947 in Gang gekommen. Bald nach der SED-Gründung zeigte sich eine Dominanz der Kommunisten in der Einheitspartei, die sukzessiv durch Aufhebung des Paritätsprinzips, durch Zurückdrängung ehemaliger Sozialdemokraten sowie durch die Einführung einer obligaten Parrteischulung im marxistisch-leninistischen Sinne ausgebaut wurde. Die parteipolitische Singularität des damaligen Berliner Geschehens lag im Fortbestehen einer selbständigen SPD, die als aktive Widerstandskraft sich einer Zwangsfusion widersetzte und sich als legitimer, auf das "Büro Schumacher" in den Westzonen orientierter Landesverband betrachtete. Als stärkste Partei aus den Oktoberwahlen 1946 hervorgegangen, übernahm sie die Führung in allen kommunalen Organen und verdrängte dort SED-Funktionäre. Diesen Machtwechsel konnte die auf totalitäre Machtausübung fixierte SED nicht verkraften. Nachdem ihre Angebote einer "ehrlichen" Aktionseinheit im Wahlkampf und in der neuen Stadtverwaltung ohne Echo geblieben waren, ging sie dazu über, den "Sozialdemokratismus" mit allen Mitteln zu bekämpfen und die "rechten" SPD-Führer als "Agenten des US-Imperialismus" zu diffamieren, zu bespitzeln und zu verfolgen. Im Ostsektor, wo sie dank sowjetischer Hilfe über entsprechende Mittel und Möglichkeiten verfügte, wurden Sozialdemokraten scharf attackiert und aus ihren Ämtern eliminiert, um ihren Einfluß unwirksam zu machen. SED-Berichte von 1947 besagten, daß die SPD - obgleich mitgliedermäßig in der Minderheit - dennoch in öffentlichen Ämtern, in Betriebsräten und in der Volksmeinung eine nicht zu übersehende und nicht zu überhörende Stellung einnahmen. Die Schärfe des Stalinisierungskurses in Berlin resultierte in starkem Maße aus dieser einmaligen Konkurrenz- und Konfrontationssituation mit der Sozialdemokratie. Die Entwicklung der SED zu einer stalinistischen "Partei neuen Typus", die zwischen der 10. und zur 13.Tagung des Parteivorstandes vom Mai bis Sep-
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tember 1948 vorangetrieben und dann mit der 1. Parteikonferenz im Januar 1949 im wesentlichen abgeschlossen wurde, fiel in Berlin mit der Zuspitzung des Ost-West-Gegensatzes zusammen. Daraus resultierten wiederum Sonderheiten gegenüber den Landesparteiorganisationen in den fünf Ländern der SBZ, die zu diesem Zeitpunkt schon an einem fortgeschrittenem Punkte der volksdemokratischen Entwicklung standen. Trotz forcierter Stalinisierung gelang es der SED nicht, ihre Berliner Landesparteiorganisation auf das Niveau der anderen Landesverbände zu heben. Den politisch-ideologischen Zustand befand der Landesvorstand wiederholt besorgniserregend, zumal die Mitglieder "Nachgiebigkeit gegenüber der feindlichen Propaganda" zeigen würden. Die Einschwörung auf das große Vorbild Sowjetunion löste eine zurückhaltende Resonanz aus; zu stark wirkten negative Erfahrungen mit der Besatzungsmacht. Die Mitgliederentwicklung stagnierte. Es gab eine hohe Fluktuation, weil viele frühere Sozialdemokraten - besonders in den Westsektoren - in ihre alte Partei zurückgingen und andere Mitglieder sich enttäuscht abwandten oder nach den neuen strengen Maßregeln als "parteifeindlich" ausgeschlossen wurden. Die erhoffte Massenbasis konnte weder in den Großbetrieben noch mittels Kampagnen geschaffen werden. In den Westsektoren sanken Aktivität und Akzeptanz der Partei rapide.
VI. Die Berliner Krise: Blockade, Luftbrücke, Spaltung Die Ost-West-Auseinandersetzung um Deutschland erreichte 1948 ihren Höhepunkt. Anstelle alliierter Eintracht war Zwietracht, war Kalter Krieg getreten. Die unterschiedlichen Währungsreformen vom Juni 1948 lösten die seit langem schwelende Berliner Krise aus. Die Sperrung der Verkehrswege zu Lande und zu Wasser von und nach Westberlin durch die Sowjets beantworteten die Amerikaner und Briten umgehend mit einer Luftbrücke, die die Westsektoren mit lebensnotwendigen Gütern versorgte. Im Grunde ging es bei der Blockade, die vom Juni 1948 bis Mai 1949 dauerte, darum, wer den Kampf um Berlin und Deutschland, der zugleich ein Ringen um die Gunst der Deutschen war, für sich entscheiden würde. Die Sowjetunion zog dabei trotz geopolitischer Vorteile den Kürzeren, denn es gelang ihr nicht, die Westmächte aus Berlin hinauszudrängen und die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. Der Auszug aus der Alliierten Kommandantur im Sommer 1948 bedeutete für die Sowjetunion eine Deminuierung, eine Verringerung ihrer Besatzungsrechte und -präsenz in Berlin. Sie kontrolliierte weiterhin mit fester Hand ihren Sektor, der ein Jahr später zur DDR-Hauptstadt avancierte, vergab aber Ein-
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flußmöglichkeiten auf die drei Westsektoren. Die Spaltung Berlins Ende 1948 war unaufhaltbar. Die Sowjets mußten hinnehmen, daß Westberlin sich nach Bonn orientierte und zu einer extraordinären "Insel im roten Meer" wurde. Wie Peter Bender treffend urteilte, blieb das zweigeteilte Berlin fortan für die Großmächte ein Kampfplatz, für die DDR ein schweres Hindernis, für die BRD eine Last, aber für die Deutschen auf beiden Seiten eine Brücke. 26 Damit waren auch die Rahmenbedingungen für die SED abgesteckt. Ihre nationale Propaganda, ihre Appelle zur Ablehnung der West-Mark als Spalterwährung und zur Erhaltung der städtischen Einheit erreichten nur einen Teil der Berliner Bevölkerung. Vor dem Landesvorstand der Berliner SED gestand sein Vorsitzender Hermann Matern am 3. Oktober 1948 ein: "Unser Einfluß wächst nicht, weil kein Vertrauen zu uns vorhanden ist. "27 Die Grundstimmung in der Stadt war antikommunistisch, antisowjetisch. Die SED beraubte sich selbst ihres letzten Einflusses in den Westsektoren, indem sie in einer Großaktion mehr als Tausend in Westberlin wohnende Funktionäre aus "Sicherheitsgründen" zur Übersiedlung in den Ostsektor nötigte. Als die Stadtverwaltung unter dem Ost-West-Druck seit Sommer 1948 in eine sie letztlich vernichtende Zerreißprobe geriet, stand die SED der Entwicklung lange Zeit ratlos gegenüber. Die von ihr an Sitzungstagen der Stadtverordnetenversammlung vor dem Neuen Stadthaus (Bezirk Mitte, sowjetischer Sektor) organisierten Demonstrationen waren eher Verlegenheitsaktionen als eine echte Bedrohung der städtischen Einheit, zumal der Auszug der prowestlichen Mehrheit am 6. September 1948 in den britischen Sektor von langer Hand vorbereitet worden war. Nachdem auch der Magistrat seit dem 13. Oktober 1948 ohne die beiden SED-Vertreter im britischen Sektor tagte, war der "Trennschnitt zwischen der Oststadt und der Weststadt" (Ferdinand Friedensburg) unaufhaltbar geworden. Die SED war noch immer im ungewissen und erwartete einen sowjetischen Ukas. Für das Mißverständnis machten sich SMAD und SED gegenseitig verantwortlich. Die Sowjets waren ungehalten über das- ihrer Meinung nach- Versagen der SED-Funktionäre, die sich in Reden, Aufrufen und Versammlungen als Sprecher der Massen exponierten, aber nicht deren Zustimmung fanden. Andererseits beklagte sich die heftig kritisierte Berliner SED: 26
Vgl. Peter Bender, WeM es West-Berlin nicht gäbe, Berlin (West) 1987.
27 SAPMO-BArch, NY 4036/692, BI. 260. Der anwesende Parteivorsitzende Wilhelm Pieck ergänzte: "Unsere Massenkundgebungen sind gut, größer als die der Spalter, aber an Einfluß sind sie uns überlegen. Es fehlt das Bewußtsein von der riesigen Kraft der Friedenskräfte. Zurückweichen vor Antisowjetismus und Eindringen in unseren Reihen Chauvinismus." Ebenda, BI. 261.
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"Der Landesverband Berlin hat es nicht verstanden, rechtzeitig die richtigen Schlußfolgerungen aus der Lage zu ziehen. Der Vorstand der SED hat seinerseits dem Landesverband nicht geholfen, und die Kommandantur hat die Bedeutung der Mobilisierung der Partei für den Kampf mit dem Gegner unterschätzt. Nur so läßt sich die Tatsache erklären, daß es die Kommandantur nicht für nötig gehalten hat, dem Landesverband die wichtigsten Beschlüsse der SMAD mitzuteilen, um die Partei für die Unterstützung dieser Maßnahmen zu mobilisieren. " 28 Diese interne Schuldzuweisung wirft ein bezeichnendes Licht auf die Abhängigkeit der SED von ihrer sowjetischen Schutzmacht. Unabhängig davon war das Werk der Teilung Berlins, an dem Ost wie West gleichermaßen mitgewirkt hatten, Ende November 1948 nahezu vollendet. Die Proklamierung eines Ostberliner Magistrats durch eine sog. außerordentliche Stadtverordnetenversammlung am 30. November 1948 verschaffte der SED die Möglichkeit, wenigstens den Ostteil der Stadt fest zu beherrschen und als Hauptstadt in die am 7. Oktober 1949 gegründete DDR zu integrieren. Von nun an beinhaltete die Geschichte der Berliner SED nur noch die der Ostberliner Parteiorganisation. Zum Abschluß dieses kursorische Überblicks soll noch einmal betont werden: Die Entwicklung des Berliner Landesverbandes der SED von 1945/46 bis 1948 läßt im Vergleich zu den Landesverbänden in der SBZ Besonderheiten und Ausnnahmesituationen hervortreten, wie sie aufgrund der extraordinären politisch-rechtlichen Lage Berlins verständlich waren. Diese Verschiedenheit der Ergebnisse der politischen Entwicklung macht zugleich auf viel Gemeinsames, Verbindliches und Typisches aufmerksam. Die Erforschung der Landesverbände hat daher nicht nur ein regionalhistorisches Gewicht, sondern ist auch für die wissenschaftliche Betrachtung und Einordnung der Gesamtpartei von großer Wichtigkeit. Die regional-komperative Methode vertieft die Kenntnisse über den inneren Status, über die politische Ausrichtung und die gesellschaftliche Wirksamkeit der Partei insgesamt.
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SAPMO·BArch, NY 4036/692, BI. 237.
Die Stalinisierung der SED in den Jahren 1946 bis 1949 Eine Entwicklung in vier Phasen Von Harold Hurwitz
Anfang 1996 hat ein von Publizisten erwecktes öffentliches Interesse die Führungen von SPD und POS veranlaßt, Streitgespräche über die Legende zu veranstalten, daß die Mitwirkung von Sozialdemokraten bei der Gründung der SED fünfzig Jahre davor freiwillig und enthusiastisch gewesen war. In den Jahren 1998 und 1999 wird bei vielen Anlässen die Gründung von BRD und DDR 50 Jahre danach gewürdigt und gehuldigt, erklärt und kritisiert. Über die Mitwirkung von Deutschen an der Teilung Deutschlands durch die Besatzungsmächte wird gestritten. Die Fragen nach Fremdbeeinflussung und/oder das Streben nach Verselbständigung wird dabei thematisiert; und in diesem Zusammenhang werden auch Vergleiche angestellt, zwischen der Schaffung von Freiräumen zur Selbstverwirklichung in den beiden Besatzungssituationen und Gesellschaftssystemen. Am Rande dieser Fragen wird von einer zweiten SED-Legende die Rede sein, nämlich die Legende von der verlorenen Chance eines demokratisch-sozialistischen Neubeginns mit der SED, eine Chance, die angeblich vernichtet wurde, als die SED in eine stalinistische Kaderpartei "neuen Typs" verwandelt wurde. Diese zweite Legende stellt eine Rechtfertigung der SED-Gründung als einen demokratischen Kompromiß dar rechtfertigt also das, was von der ersten Legende noch übrig bleibt. Die Behauptung "demokratischer Kompromiß" fußt auf dem Kompromißcharakter der Dokumente: "Grundsätze und Ziele" und das Parteistatut der SED. Sie ist insofern problematisch, als die Praxis des demokratischen Zentralismus hier durch Stipulationen eingeführt wurde, wonach die Wahlfunktionäre nachgeordneter Instanzen durch die nächst höhere Instanz sanktioniert werden sollte. Nach der Wende gab es unter Reformkommunisten viele Anhänger dieser Legende. Damals habe ich in Ostberlin auch CDU-Funktionäre getroffen, die sich darauf beriefen; und die Memoiren führender Gründer der Exil-CDU
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lassen erkennen, weshalb sie solche Hoffnungen in den Jahren 1946-47 hegten. Die Bedingungen, unter denen sie damals so dachten, hofften und sich selbst täuschten - auch um Parteifreunde täuschen zu können -, waren nicht grundsätzlich anders als die Art und Weise, wie Sozialdemokraten in der SED dachten, fühlten und handelten, um mit ihrem Dilemma fertig zu werden. Es ist aber nicht damit zu rechnen, daß, wenn in Kreisen der Bonner Regierungskoalition offiziöse Stellungnahmen zur Gründung der DDR 1998-99 zu lesen sein werden, daß diese Legende zur Sprache gebracht wird. Eine Auseinandersetzung darüber wäre dann eher mit der PDS möglich und insofern auch nützlich, wenn man Wert darauf legt, daß in der PDS der historische Klärungsprozeß vorangetrieben wird, der erforderlich ist, wenn diese Partei zur demokratischen Vertrauenswürdigkeit gelangen sollte. Gewiß wird diese Legende von der verlorenen Chance bei dem bevorstehenden Historikerstreit eine Nebenrolle spielen. Sie ist jedoch das Thema dieses Beitrages, da sie in einem im Frühjahr 1997 erschienenen Buch von mir angesprochen wurde und, ich meine, auch widerlegt wird. Das Buch heißt: Die Stalinisierung der SED. Zum Verlust von Freiräumen und sozialdemokratischer Identität in den Vorständen 1946 bis 1949. 1 Vorwegnehmend möchte ich den Untertitel korrigieren. Denn die Probleme, die deutsche Kommunisten mit dem Stalinisierungsprozeß vielfach hatten, erhalten im Buch ebenso viel Aufmerksamkeit. Ja, sie stellen ein noch wichtigeres Problem zum Verständnis der DDR dar als die Bedrängnis, das Dilemma, den Widerstand und die Fügung von Sozialdemokraten in der SED. Auch deshalb ist es angebracht, etwas zum Hintergrund und bestimmten Ergebnissen dieser Untersuchung als Thesen zu erwähnen. Erstens. Zum Hintergrund: Die Geschichte der Partei Lenins begann im Jahre 1905 auf einem von ihm mitgeplanten Vereinigungsparteitag. Das war für ihn nicht der Versuch, durch demokratischen Diskurs, Ausgleich und Zusammenhalt der sozialdemokratischen Kräfte und Fraktionen möglichst breit zusammenzufassen. Seine Strategie auf diesem Gründungsparteitag der russischen Sozialdemokratie hieß Vereinnahmung und Spaltung. Lenin hat die marxistischen Gruppierungen gesammelt, damit er sie bedrängen und auseinanderreißen konnte, um eine zentralistisch strukturierte Partei von Berufsrevolutionären zu schaffen. Er konnte seine Fraktion nur deshalb "Bolschewi-
1 Die Stalinisierung der SED. Zum Verlust von Freiräumen und sozialdemokratischer Identität in den Vorständen 1946-1949. Opladen 1997; 514 S.
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ki" nennen, weil er bei einem ganz anderen Streitpunkt vorübergehend eine Mehrheit hatte. Nun, zum Untersuchungsergebnis: Es stellte sich heraus, daß die Einheitspartei SED zwischen 1946 und 1949 sich kontinuierlich, ja beinah, wenn auch nicht absolut, zwangsläufig in diesem Sinne zu einer Kader- und Regierungspartei Lenins und Stalins entwickelte. Zweite These: Die zielbewußte und gewissermaßen auch planmäßige Übernahme von Gleichschaltungs- und bolschewistischen Kontrollpraktiken stalinistischer Prägung war nicht eine Auswirkung des Kalten Krieges, sondern gründete sich zuerst auf die Erkenntnis, daß die Einheitspartei fraktioneil gespalten blieb, immer unpopulärer wurde und nicht mehr hoffen konnte, demokratische Wahlen in der SBZ, geschweige Wahlen im Reichsmaßstab zu gewinnen- d.h. bei Wahlen, die unter der Perspektive möglicher ViermächteKontrollvereinbarungen und Vereinigungsschritte standen. Obwohl die führenden SED-Kader um des Überlebens Willen immer stärker an die sowjetische Besatzungsmacht gebunden waren, wurden sie auch durch diese Perspektive bzw. Eventualität stark verunsichert. Als das im Frühjahr/Sommer 1947 mehr und mehr wahrnehmbar wurde, war der Schritt zur Partei neuen Typs immer noch nicht zwangsläufig vorgezeichnet. Denn jeder deutsche Stalinist wußte, daß allein der Kreml entscheiden würde, ob die Hegemonie der SED und ihre loyalen Führungskader in der Sowjetzone den Interessen der UdSSR und der Weltrevolution am besten diente. Oder ob nicht eine Neutralisierung Deutschlands in dieser Periode vorzuziehen sei, wobei, egal ob Deutschland Einheitsstaat oder Föderation sein würde, es wirtschaftlich und staatspolitisch weitgehend unselbständig sein würde. Das Aufkommen des Kalten Krieges und sein Ausbruch im Spätsommer und Frühherbst 1947 beschleunigte einen bereits um den Machterhaltenswillen der führenden Kader in Gange gekommenen planmäßigen Stalinisierungsprozeß. Mein Buch wertet eingehend die Wortprotokolle des zentralen Parteivorstandes, des Berliner Landesvorstandes und verschiedener Verlaufsprotokolle von Sekretariatssitzungen regionaler Landesverbände der SED aus. Sie legen einen innerparteilichen Stalinisierungsprozeß in vier Phasen offen, wobei es graduelle Übergänge gab. Es war bereits zur Zeit der SED-Gründung angelegt und manifestierte sich in einer ersten Phase, einmal in Äußerungen der Einstellungsdisposition stalinistisch sozialisierter Altkommunisten, zum anderen, als im Zentralvorstand Grenzen und Tabuzonen berührt würden, wo bestimmte Zuständigkeiten und Empfindungen der Sowjets tangiert wurden. Grenzen des Erreichbaren zeigten
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sich bereits in den ersten Monaten, wenn im Zentralvorstand bestimmte Forderungen gestellt wurden. Das geschah meistens auf Initiative von Sozialdemokraten, die jedoch hin und wieder von einem Altkommunisten unterstützt wurden. Gefordert wurde z.B. Auskunft über den Verbleib von und das Recht auf briefliche Kontaktnahme mit a) verhafteten Sozialdemokraten, die gegen die Fusion zur SED opponiert hatten, b) "politisch Verhafteten" im allgemeinen, c) Jugendlichen, die wegen Wehrwolf-Verdacht festgenommen wurden darunter auch Söhne von ehemaligen Sozialdemokraten in der SED. Als Politikum für dringend gehalten war, d) die Behandlung von deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR und in Polen sowie solchen, die bereits aus Lagern der Westmächte entlassen, aber anschließend in der SBZ in sowjetischen Lagern zwecks Durchleuchtung festgehalten wurden. Als solche Forderungen im Parteivorstand erhoben wurden, gestatteten Sozialdemokraten und ein-zwei Kommunisten sich, Vergleiche zu der humaneren Praxis der Westmächte hinsichtlich Kontaktnahme mit Kriegsgefangenen anzustellen. Bald kam das nicht wieder vor. Sofort wurde aber klargestellt, daß man von politischen Verhaftungen nicht sprechen dürfte. Es hieß, immer habe es andere Gründe, wie Korruption oder Spionage gegeben. Wilhelm Pieck sorgte des öfteren für solche Klarstellungen. Ein zentral wichtiges Tabu betraf jede Kritik an der Sowjetunion, an "den Russen" oder an der Deutschlandpolitik der UdSSR. Als der offenherzige SPGenosse Erich Lübbe auf der 3. Tagung der PV Mitte Juli 1946 von politischen Verhaftungen "auf Nimmerwiedersehen" sprach, bemerkte er, daß "die Russen unsere Mentalität von der Menschlichkeit nicht verstehen" und erklärte: "Unsere Auffassung von der Menschlichkeit ist eine andere in der Beziehung" . Pieck erwiderte erregt: "Verstehst Du nicht, was Du damit aussprichst. .. . !" Durch Zuruf erhielt Pieck eine Antwort, mit der er auch später konfrontiert werden würde. "Von Freiheit der Persönlichkeit", war die Antwort. Bereits Anfang August erhielten führende SP-Genossen aus den Regionen auf einer erweiterten Sitzung des Zentralsekretariats einen sanften Hinweis auf eine andere Gefahrenzone. Willi Jesse, der 2. Vorsitzende der SED in Mecklenburg-Vorpommern und Mitglied des zentralen PV, war verhaftet worden. Jesse sollte mit den Engländern durch Kurier konspiriert haben. Pieck
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sprach von "Entgleisungen", aber meinte nur, "vieles spricht dafür, daß die Beschuldigung der Russen mit Recht besteht." Diese vornehme Art zu warnen war damals noch bezeichnend, ein Ausdruck der Notwendigkeit, die SP-Genossen in der SED sanft zu integrieren. Ebenfalls bezeichnend war, daß obwohl die von Pieck erwähnten "neuen Differenzen in der Bezirksleitung" infolge des Verschwindens von Jesse Monate lang anhielten, Jesse nie wieder auf einer Sitzung des zentralen PV namentlich erwähnt wurde. Erst Mitte Mai 1947 wurde ein Antrag auf Jesse's Ausschluß aus der Partei gestellt - obwohl der Landesvorsitzende Carl Moltmann immer noch meinte, daß ein Beweis für die Anklage fehlte. Jetzt hieß es, die Anklage lautet, Jesse habe mit Schumacher konspiriert. Jeder wußte, daß die Russen das als Spionagtätigkeit ansahen. Gleichwohl war es während der ersten und zweiten Phase der Stalinisierung, also bis Sommer 1947, im Zentralvorstand erlaubt- und die Möglichkeit wurde auch reichlich benutzt -, Beschwerden über Eingriffe und Willkürhandlungen nachgeordneter Instanzen der SMAD und Soldaten der Roten Armee zur Sprache zu bringen. Es gab führende KP-Genossen aus den Regionen, die sehr kritisch waren, ebenso aber KP-Genossen, die parat standen, wachsam gegen Kritik an der sowjetischen Besatzungsmacht aufzutreten und Huldigungen auszusprechen. Bemerkenswert allerdings war die Art und Weise, wie Beschwerden mit Vorliebe begründet wurden. Das geschah regelmäßig mit dem Argument, daß solche Exzesse und Fehlverhalten konterproduktiv waren. Denn, indem sie die Partei schädigen, ist das auch für die sowjetischen Freunde schädlich, da sie die SED brauchen. Charakteristisch war, was darauf folgte, wenn Vorstandsmitglieder aus den Regionen solche Beschwerden vorbrachten und die in Berlin ansässigen Spitzenfunktionäre anhielten, durch Rücksprache mit der SMAD auf höchster Ebene sich um Korrekturen zu bemühen. Immer wieder haben Pieck, Gratewohl, Ulbricht und Matern ihnen zugesichert, daß solche Probleme durch Rücksprache mit der SMAD gelöst werden könnten. Dann hieß es aber oft: der Beschwerdeweg hat von unten nach oben zu laufen und sei schriftlich zu begründen. Das bedeutete, daß sie erst von sowjetischen Stellen vor Ort überprüft und beurteilt werden sollten. Eine Reaktion aus den Regionen scheint mir vielsagend zu sein. Es hieß: die Kreisverbände tun das ungern, sie fürchten sich ja vor Konsequenzen. SED-Genossen, die auf Verselbständigung hofften, konnten zuerst und für eine längere Zeit, die Probleme, die man mit der Besatzungsmacht hatte, für temporär halten, sie ansehen als die vorübergehenden Auswirkungen einer
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Besatzungssituation, die von dem widersprüchlichen Verhalten ihrer eigenen Besatzungsmacht geprägt war. Die UdSSR verkörperte die Siegeskraft des Sozialismus, war aber gleichzeitig ein immer noch "kulturell" rückständiges und industriell unvollkommen entwickeltes Land. Hinzu kam nicht nur, daß die Sowjetunion in ihrem Verteidigungskrieg gegen den deutschen Faschismus mit Erfolg geprüft wurde, sie war auch als Industrieland auf verheerende Weise zerstört worden. Neben der praktischen Erkenntnis "die UdSSR braucht uns" waren das auch moralische Gesichtspunkte. Sie relativierten Härten und Enttäuschungen, welche es zu ertragen galt. Wie jeder deutsche NS-Gegner konnten SED-Mitglieder hoffen, daß eine phasenmäßige Entwicklung der Besatzungsherrschaft für sie die Unannehmlichkeiten und Einschränkungen allmählich mildem würde und schließlich, unter ferngelenkter Aufsicht, zur Selbstbestimmung in einem vereinigten Deutschland führen konnte . Vorerst schien die Entwicklung in der SBZ und in Großberlin den politischen Aufbau in den Westzonen in jeder Beziehung voraus zu sein. Dieses Bild hatte aber einen Riß bekommen, als im Frühjahr die Aussicht auf freie Wahlen im Westen zum Thema im Osten wurde und Probleme für die SED schuf. Wie die Wortprotokolle zeigen, gab es neben den Erfahrungen mit der SMAD und Roten Armee von vornherein einen weiteren situationsbedingten Ansatz zur Stalinisierung der SED. Es war eine Erfahrung, die Sozialdemokraten daran gehindert hatte, die SED-Gründung auch innerlich mit fliegenden Fahnen mitzutragen. Das waren die Einstellungsdispositionen, Denk- und Verhaltensweisen (auch der Sprache) stalinistisch geschulter deutscher Kommunisten. Die Kompromißpapiere, die es ihnen leichter gemacht hatten, die SED mitzutragen, hatten die Befürchtungen nicht gebannt, daß es ihnen nicht gelingen würde, was Gratewohl früher für erforderlich gehalten hat, nämlich "aus Kommunisten, demokratische Sozialisten zu machen". Jetzt hatte man Erfahrungen, die Anlaß zu Zweifeln gab, ob eine Äußerung von Pieck, der von Gratewohl gern zitiert wurde, wirklich zukunftsweisend war. Pieck hat erklärt: "Wir sind nun keine Kommunisten mehr, und Ihr seid nun keine Sozialdemokraten mehr, sondern wir sind Sozialisten" . Anlaß zum Zweifel hat beispielsweise der einstige Fusionsgegner Carl Brandt im Berliner Landesvorstand am 25. Juni 1946 erhalten. Er hatte Anstoß daran genommen, wie auf Schulungsabenden über "Leninismus-Marxismus" geredet wurde. Obwohl, wie er sagte, "darüber absolut keine Klarheit herrsche, und dieses Problem weder vor der Vereinigung noch bis jetzt endgültig geklärt" ist. Der Altkommunist Hans Rentmeister erwiderte: gerade Brandts Bemerkung
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zeige, wie wichtig es ist, Marxismus-Leninismus in den Schulungsabenden zu behandeln, und das in Moskau geschulte Sekretariatmitglied Fritz Reuter bestritt Brandts Behauptung, daß der ideologische Standort der Einheitspartei noch offen sei. Er legte die "Grundsätze und Ziele" ganz anders aus als Genossen, die "ideologischen Unklarheiten" verfallen waren. Allerdings lag es nicht im Interesse der führenden Kader, die fehlende "ideologische Klärung" kontrovers nachzuholen. Erst als sie im Juli 1948 an der Schwelle der erklärten Umwandlung der Einheitspartei in eine Partei neuen Typs standen, wird Hermann Matern für sie behaupten: "Wir haben die Vereinigung .. . auf der Grundlage unserer 'Grundsätze und Ziele', eines marxistisch-leninistischen Dokuments, vollzogen". Auf einmal wurde jetzt öfters eingestanden, daß das Fehlen einer ideologischen Vorklärung ein Mangel gewesen war, der, nachdem die SED in Hast gegründet werden mußte, das die Einheit belastet hat. Tatsächlich wurden während der ersten zwei Jahre nur einmal explizit theoretische Erörterungen auf einer Tagesordnung des zentralen PV gesetzt. Das geschah wenige Tage nach den Oktoberwahlen von 1946, als Anton Ackermann eilends einen Vortrag halten mußte. Er besänftigte sozialdemokratische Sensibilitäten, indem er von der Diktatur des Proletariats als einzigen Weg zum Sozialismus Abstand nahm. Das veranlaßte Paul Wandel zu einer Gegeninterpretation, die von Ackermann nicht akzeptiert wurde. Er hat Plechanow, Kautsky und Hilferding zu den marxistischen Klassikern gezählt (sicherlich ohne, daß SP-Genossen merkten, daß, obwohl alle drei aus bolschewistischer Sicht diskreditiert waren, sie dennoch en passant positiv in stalinistischen Schriften Erwähnung fanden). Ackermann führte sie mit an, damit er den SPGenossen nahelegen konnte, Lenin und Stalin, wenn auch "nicht schematisch auf unsere ganz anders gearteten Verhältnisse zu übertragen, .. . doch in unser geistiges Rüstzeug aufzunehmen". Das genügte Paul Wandel nicht. Die Bindungslinie zwischen Lenin und Stalin zog er, indem er den SP-Genossen riet, inStalins Werk "Grundsätze des Leninismus" den Abschnitt zu lesen, in dem klargestellt wird, daß die Arbeiterklasse keine Repression unter der Diktatur des Proletariats zu befürchten habe. Im Unterschied zum Zentralsekretariat wurde im zentralen Parteivorstand an eine ziemlich lockere Schwelle zur Parteiöffentlichkeit debattiert. Vermutlich deshalb wurde dort so selten über theoretische Inhalte diskutiert. Dagegen mangelte es nicht an organisatorischen Vorstandsbeschlüssen zur Parteischulung. Das geschah, ohne auf Schulungsinhalte einzugehen. Allerdings, als der SP-Genosse Otto Meier eine erste Beschlußvorlage zur Schulung auf dem 2.
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Plenum des PV im Mai 1946 begründete, beschwerte er sich über die Schließung von SPD-Internatsschulen in Sachsen, Thüringen und im Bezirk Magdeburg. Im Juli machte Otto Grotewohl darauf aufmerksam, daß sämtliche Teilnehmer des ersten, in der zentralen Parteischule abgehaltenen Kurses Kommunisten gewesen waren. Bei den Wahlkampfvorbereitungen für die Gemeinde- und Kreistagswahlen im September 1946 und den Landtagswahlen vom 20. Oktober wurden Erfahrungen gesammelt, die in eine zweite Phase der Stalinisierung der SED hineinführten. Die Gemeindewahlen ließen unterschiedliche Traditionen deutlich werden, zeigten aber auch, wie ein ehemaliger SPD- Führer von Massenmobilisierung in stalinistischer Manier sich vereinnahmen ließ. Es war nämlich Max Fechner, der im PV seinen Genossen das nahebringen wollte: "Die Kandidatenaufstellung solle nicht in einer eng begrenzten Mitgliederversammlung vor sich gehen, sondern müsse demokratisch volkstümlich aufgezogen werden". Später wird Walter Ulbricht dieses eigenartige Demokratieverständnis mit Forderungen nach feierlicher Umrahmung versehen. Obwohl die Gemeindewahlen Teilerfolge für die SED brachten, mitunter weil Kandidatenlisten der bürgerlichen Parteien an sehr vielen Orten nicht zugelassen wurden, waren die Wahlergebnisse ernüchternd und für die Sowjets ausgesprochen enttäuschend. Dabei sind Einmischungen der Sowjets im PV ständig moniert worden. Als es jedoch hieß, "die Freunde" wollten, daß wir Frauenlisten aufstellen, um bürgerliche Stimmen von der CDU und LDP abzuziehen, wehrte sich das Frauensekretariat vergeblich. So wurden diese Listen fast überall aufgestellt, obwohl die Berliner Partei das in der Viermächtestadt bei den Oktoberwahlen verhindern konnte. Als diese Praxis bei den vorangehenden Gemeindewahlen in der Zone ein großer Mißerfolg war, gestand Ackermann, der sich dafür stark gemacht hatte, seine Fehler mit der Feststellung ein, daß dreißigtausend Kandidaten nur neunzigtausend Stimmen erhalten hatten. Der Altkommunist Willy Siegebrecht schilderte ironisch "wie unsere SED-Frauen ... in Potsdam mit roten Fahnen durch die Stadt fuhren und riefen 'Wählt Liste 4' ... "; und Carl Moltmann, als Spitzenkandidat der SED in Mecklenburg-Vorpommem, fragte, wie er in Frauenversammlungen auftreten sollte: "Ich kann nicht sagen: wähle Liste 1 oder 4". Bei der Aufstellung der Kandidatenlisten gab es zwischen SP- und KP-Genossen ein solches Ringen um die Placierung, daß Wilhelm Pieck sich beklagte, "Wir sind noch keine einheitliche Partei, sondern zwei nebeneinander stehende Parteien respektive Parteifraktionen" . Nach einem Winter des Hungerns und erbärmlicher Kälte mußten Führungskader der SED und SMAD im Frühjahr
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1947 eingestehen, daß seit den Oktoberwahlen die Popularität und das Ansprechungsvermögen der Partei bedeutend schwächer geworden war. SEn-Spitzenfunktionäre waren mit der immer wieder kolportierten Frage eines leitenden Offiziers der SMAD konfrontiert, ob die Partei sich nicht in einer Krise befände. Denn ebenso belastend war das Wissen, daß bisher die Integration von SPund KP-Genossen politisch und sozial aufbesorgniserregender Weise an gegenseitigem Mißtrauen gescheitert war. Oft wurde das Paritätsgebot nicht beachtet. So in Westsachsen, wo Anfang 1947 36 KP-Genossen und nur 15 SP-Genossen Bürgermeister waren. Im Mecklenburger Landessekretariat stammten 52 leitende Funktionäre aus der KPD und nur 15 aus der SPD. Mitunter ging die Verunsicherung führender Kader und die Inaktivität von SP-Genossen auf die Information zurück, wonach im Kreml damit gerechnet wurde, daß infolge der Moskauer-Konferenz die SPD wieder in der SBZ zugelassen werden würde. Auch nachdem die Konferenz nur eine Vereinbarung zum interzonalen Vertrieb von Presseerzeugnissen zustande brachte, lebte diese Perspektive als Bedrohung weiter. Deshalb hatte Otto Buchwitz Anfang Februar 1947 eine Stunde der Wahrheit gehabt. Auf einer Sitzung des Landessekretariats in Dresden erklärte er: "Die Verhältnisse in den Kreisen haben sich so zugespitzt und entwickelt, daß es einfach nicht mehr so weitergehen kann. Wenn keine Änderung herbeigeführt werden kann, trete ich von allen Ämtern zurück, da ich in den Verdacht komme, ich sei ein Verräter an den Genossen, die von der SPD zur SED gekommen sind". Um dem Integrationsproblem zu begegnen, wurde tendenziell nicht auf demokratische Aussprache, sondern auf bolschewistische Kontroll-, Disziplinierungs- und Indoktrinierungsschritte zurückgegriffen. Nun läßt sich feststellen, daß, obwohl der Prozeß der stalinistischen Gleichschaltung in den Regionen erst im Laufe des Jahres 1947 handfeste Kontroversen in den Vorständen und Sekretariaten verursachten, sämtliche Streitfragen, die später akut wurden, längst zu Problemen geworden waren. Sie reichten von organisatorischer Bevormundung bis hin zum Terror psychologischer und existentieller Art. Landesvorstandssitzungen wurden aufgeschoben, die Tagesordnungen nicht an bestimmte Mitglieder verteilt und Diskussionen in den Gremien so verhindert, daß, als es im Hallenser Provinzialvorstand Ende Oktober endlich eine Diskussion gab, ein Mitglied mahnte: "Wir wollen uns daran erinnern, daß es vorher nicht möglich gewesen ist, vor Unduldsamkeit ein offenes Wort zu sprechen". Ganz allmählich wurden die Kontrollmodalitäten der Kaderpartei eingeführt. Nachdem Instrukteure während des Volksentscheids in Sachsen im Sommer 27 Ttmmcnnann
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1946 eingesetzt wurden, hatten SP-Genossen im Leipziger Landesvorstand klargestellt, daß die oberste Parteileitung "ein völlig falsches Bild gehabt hat, was ein Instrukteur eigentlich tun sollte. Den Erfolg beim Volksentscheid verdanken wir einzig und allein unseren kleinen Funktionären". In Erfurt war es aber der Altkommunist Erich Kops, der bereits im September davor warnte, Instrukteure zu Mitgliedern der Kreisvorstände zu machen. Bis Sommer 1947 war man durch derartige Machenschaften dabei, den Demokratischen Zentralismus überall zu verankern und zu praktizieren, obwohl von Demokratischem Zentralismus noch nicht die Rede war. Hinter Unterscheidungen, die in den Vorständen nur durch Wortwahl angedeutet wurden, standen Differenzen, worüber im Zentralsekretariat (wo leider nur Beschlußprotokolle angefertigt wurden) wahrscheinlich offen gestritten wurde - Differenzen, die nicht in der Partei offen ausgetragen wurden. Denn während Gratewohl im Mai 1947 versuchte, eine Mißstimmung in Thüringen dadurch zu beschwichtigen, indem er die Begriffe Kaderschulung und Funktionärsschulung salopp gleichstellte, war im Zentralvorstand Ulbricht längst dabei, auf diese Unterscheidung ebenfalls en passant, aber deutlich zu beharren. Dabei wurde im Jahr 1947 von dem Zentralsekretariat und Zentralvorstand in Berlin Wert auf eine geduldige Behandlung der SP-Genossen gelegt; und tatsächlich wurden Disziplinierungsmaßnahmen, die immer häufiger vorkamen, verhältnismäßig öfter gegen KP-Genossen als gegen SP-Genossen ergriffen. Erst Ende Mai 1947 wurde Lenin in einem Bildungsheft der Zentrale (über die Grundsätze der Organisation der Partei) mehrfach zitiert. Anfang Juli war man aber soweit, daß Wilhelm Koenen ein Referat in sein Landessekretariat über das Problem "Kritik und Selbstkritik" hielt. Inzwischen war die Macht des Zentralsekretariats stark genug, um die Thüringer mit einem fertigen Beschluß, an dem sie nicht mitgewirkt hatten, das Auswechseln von zwei Kabinettsministern zu verordnen. Im Juli 1947 hatten die Mentalitätsunterschiede zwischen Sozialdemokraten und Stalinisten im sächsischen Landessekretariat sich außerordentlich verschärft. Wilhelm Koenen hat dem aus der SPD stammenden Sekretariatmitglied Arno Haufe untersagt, mit dem prominenten SP-Genossen Arno Wende persönlich zu verkehren. Dieser hatte ebenfalls dem Landessekretariat angehört, aber seit Januar schwebte ein Parteiverfahren gegen ihn. Haufes Reaktion auf Koenens Mahnung lautete: "Das ist das Böse, daß man den Menschen tötet, verleumdet, beschimpft und beschmutzt. Ich habe mich in den letzten Wochen zweimal mit Wend getroffen". Als Koenen erklärte, er sei verpflichtet, darüber zu berichten, antwortete Haufe: "Hier trennt uns eine Welt ... , und solange ich keinen Beweis für Fraktionsarbeit habe, trennt mich nichts von dem Men-
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sehen". Im Sommer 1948 wurden Wend und Haufe verhaftet und zu 25 Jahren Gulag verurteilt. Sie wurden 1955 begnadigt. Beide hatten mit einer Wiederzulassung der SPD gerechnet und durch gesamtdeutsche Wahlen eine Erlösung für sich erhofft. Es wäre jedoch irreführend, nur Differenzen zwischen "Schumacher Leuten" und Stalinisten zu sehen. Die andauernde Ernährungskrise und das NichtEinhalten von Versprechungen der Sowjets, die Demontage zu beenden, ließen es immer unglaubwürdiger erscheinen, daß die SED ein erfolgversprechender Vertreter deutscher Interessen war bzw. werden konnte. Die SED konnte dem Ruf, eine "Russenpartei" zu sein, nicht mehr entkommen. In dieser Situation hatten SP-Genossen, die immer noch meinten, daß die SED ein Vehikel der Arbeitereinheit im Reich werden könnte, und Altkommunisten, die von der Übertragbarkeit des sowjetischen Modells in Deutschland nicht viel hielten, gehofft, daß ein nationaler Wiedervereinigungsprozeß sie zu Freiheit und Sozialismus führen könnte. Im Sommer 1947 waren es vor allem die Altkommunisten unter den Landesfürsten, die sich im PV vorwagten, um konkrete Maßnahmen der Sowjets heftig mit dem Argument zu kritisieren, sie verhinderten, daß die SED glaubhaft als deutsche Partei von der Bevölkerung wahrgenommen wurde. Denn viele Altkommunisten hielten eine Besserung der Lebenslage der Zonenbevölkerung für unentbehrlich, wenn die SED in einem nationalen Vereinigungsprozeß bestehen und Einfluß, auch auf Sozialdemokraten in den Westzonen, gewinnen sollte. Den Übergang von der zweiten zur dritten Phase der Stalinisierung bildete die fast drei Monate andauernde massive Kampagne zur Vorbereitung des zweiten Parteitages der SED, eine Kampagne, die Anfang Juli 1947 in Gang gesetzt wurde. Der Parteitag fand vom 20. bis 24. September statt. Den Zustand der Partei zu Beginn der Kampagne beschrieb Grotewohl nach der "erfolgreichen" Beendigung des Parteitages als kritisch. Als nach sieben Wochen die letzte Vorstandssitzung vor dem Parteitag am 20. - 21. August stattfand, hatte sich eine Konstellation von Problemen zusammengeballt, die wirklich kritisch war. Denn die Frage, ob die Partei sich in einer Krise befand, hing wie ein Damoklesschwert über diesem Plenum, dem es oblag, einen neuen Kurs einzuleiten. Hiernach hatten die hautnahen Lebensprobleme der Bevölkerung und die Bedenken von selbständig denkenden Genossen sich der großen Politik und ihren neuen Parolen unterzuordnen. Wie Ulbricht klarstellte, ging es nicht mehr in erster Linie um die Sympathie der Bevölkerung oder um Entlastung der Partei, sondern um eine "systematische, große ideologische Arbeit" und um eine Parteidisziplin, die "die gesamte Mitgliedschaft" in die 27*
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Lage versetzen sollte, "alle Argumente des Gegners über die Dollar-Hilfe" und "die Lebensrnittelhilfe", den Marshall-Plan, zu widerlegen. Dennoch geschah es auf diesem Plenum, daß die Landesvorsitzenden heftige Kritik an der Demontage von Eisenbahnschienen vortrugen und mit Forderungen nach Entlastungen die Belastungen der Ernährungskrise energisch beklagten. Jetzt waren diese Probleme dadurch verschärft worden, daß die Partei dabei war, die Sympathie der Landbevölkerung, die durch die Bodenreform gewonnen war, zu verscherzen. Denn die Partei mußte eine von den Sowjets geforderte Rationierungspolitik rnitverantworten, die Landarbeiter und Kleinbauern samt ihren Farnilien zu Selbstversorgern machte. Darüberhinaus wurde auf diesem Plenum darüber gestritten, ob der Begriff "persönliche Freiheit" als Antwort auf den Totalitarismus-Vorwurf der Gegner positiv beantwortet werden sollte. Die Zwiespältigkeit der subjektiven Lage der verantwortlichen Funktionäre zeigte sich darin, daß gerade in dieser Situation die Landesvorsitzenden am 20. - 21. August sich genötigt sahen, ihre eigenen Kampagneleistungen im Sinne der Anforderungen, die Ulbricht defmiert hatte, zu beschönigen. Nachdem sie es taten, warf Gratewohl den Landesvorsitzenden vor, sie hätten bei ihren Vorbereitungen bisher auch deshalb versagt, weil weiten Parteikreisen, vor allem in den kleineren Einheiten, die Reife noch fehlte. Ulbricht, mit dem Demokratieverständnis des geduldigen Stalinisten ausgestattet, urteilte anders. Er bezeichnete am Schluß der Debatte, die Parteivorbereitungen als einen Erfolg, "da es das erstemal ist, daß in dieser großen SED offen diskutiert wurde". Das ideologische Niveau sei "etwas gestiegen", und er nannte das "der Anfang". Was war geschehen? Unmittelbar vor Plenumsbeginn wurde Wilhelm Koenen telefonisch aus Berlin über die Unzufriedenheit des Zentralsekretariats in Kenntnis gesetzt. Als ersten Berichterstatter oblag es ihm, die Parteitagsvorbereitungen in Sachsen als beispielhaft für das, was Ulbricht wollte, darzustellen. Um die unteren Einheiten "in Bewegung zu bringen", erzählte Koenen, würden sie mit dem Einsatz von Instrukteuren, Mitarbeitern des Landessekretariats und Parteischülern bis dreimal bestürmt. Dort wo "das Niveau niedrig war und schlechte Diskussionen stattgefunden hatten" bzw. wo Diskussionen "zu wirklichen Differenzen" geführt hatten, ließ man Versammlungen wiederholen. In einzelnen Fällen mußten Versammlungen viermal abgehalten werden. Den dort gewählten Delegierten wurde öfters die Anerkennung versagt, neue Redner hingeschickt und dann wieder gewählt. All das, erklärte Koenen, war erforderlich, um nur "einigermaßen" Erfolge zu erzielen. Denn "fast nichts geschieht, was nicht durch die Leitung angewiesen wird ... "
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Im August 1947 konnte soviel stalinistische Offenheit immer noch zum Eklat führen. Nicht zum erstenmal sorgte Ackermann dafür. Bereits im Februar hatte er, obwohl selbst als Mitglied des Zentralsekretariats an seine Beschlüsse gebunden, etwas einmaliges geleistet. Trotz des hartnäckigen Drängens von Pieck und Grotewohl hatte er anschließend im Vorstand auf seiner "Nein"Stimme zu einer Vorlage des Sekretariats insistiert. Denn Ackermann war überzeugt, daß die Entscheidung im Sekretariat eine Arbeitsgemeinschaft der SED mit der westzonalen KPD zu bilden, jegliche Chance einer Annäherung von noch ansprechbaren westdeutschen Sozialdemokraten an die SED, geschweige einer Vereinigung von Teilen der SPD mit der SED gründlich erschweren würde. Dann griff er Ulbrichts Feststellung, daß eine "wirklich freie Aussprache zum ersten mal ... stattgefunden hat" auf, indem er die Notwendigkeit, die freie Aussprache fortzuführen, mit einer herben Kritik begründete. Ackermann rief ins Gedächtnis, daß im Parteivorstand neben den oft ausführlichen Erörterungen von "großen politischen Fragen" darüber "bisher nur sehr wenig ... zur Geltung gekommen"war, weshalb "sich die Stimmung der Massen ... nicht immer zu unseren Gunsten" verändert hat. Mit dem Vorwurf "Schönfärberei" zog Ackermann dann Koenens Behauptung, daß er in Sachsen alles im Griff habe, in Zweifel: denn es gibt "in der ganzen Zone kein Land, wo die Stimmung in der Bevölkerung so kompliziert ist wie gerade im Land Sachsen (Zustimmung)". Ackermanns Forderung lautete: "Die Parteitagsdiskussion müßte und sollte im Schatten der Ernährungskrise stehen." Koenen antwortete: Ackermann sei der Massenstimmung zu sehr erlegen. So etwas dürfte einem Bolschewisten nicht passieren. Ackermann warnte die leitenden Funktionäre vor der "verderblichen Tendenz, das, was unsere Wünsche sind, für die Realität zu halten und sich darüber Illusionen zu machen, was wirklich bei den Massen vorgeht". Mit dieser Warnung versuchte er, die Bedrohung, die Koenens Ausführungen überdeutlich gemacht hatte, entgegenzuwirken. Das war die Bedrohung einer Entwicklung zur vollendeten Stalinisierung. Dabei hielt Ackermann an seinen eigenen Illusionen über die Möglichkeiten einer innerparteilichen Demokratie in der SED fest. In den kommenden Wochen wurde, mitunter durch die Annullierung von Entschließungen, dafür gesorgt, daß eine von Alltagssorgen befrachtete Diskussion auf Kreis und regionaler Ebene so umfunktioniert wurde, daß eine stalinistische Parteitagsregie "der Partei" eindeutig und ausschließlich auf den sich anbahnenden Ost-West Konflikt vorbereitet wurde. Zu allerletzt als Überraschung geschah es mit Ritualbekenntnissen: Die SED stellte sich auf die Seite der Sowjetunion im internationalen Klassenkampf der Systeme.
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Wie Gratewohl anschließend erklärte, war es gelungen, eine Diskussion, die sich anfänglich "auf der Linie der Ernährungsfrage und der Kartoffel-Psychologie bewegte ... , auf die Ebene einer wirklich ernsten Betrachtung der politischen Probleme zu heben." Mit dem 2. Parteitag begann eine dritte Übergangsphase der innerparteilichen Stalinisierung. Entgegen den Erwartungen vieler Delegierter kam es auf dem Parteitag überhaupt nicht zu echten Diskussionen. Allein Fritz Selbmann forderte eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse zwischen SED und SMAD. Zwischenrufe aus dem Saal sorgten dafür, daß Selbmann sein durch den Präsidiumsvorsitzenden unterbrochenen Diskussionsbeitrag beenden konnte. Nachher wurde in den Vorständen beklagt, daß die Diskussionsbeiträge nicht mehr in freier Rede gehalten, sondern von bereits abgesprochenen Manuskripten vorgelesen wurden. Von "Regie" war die Rede. Hinzu kam, daß zur allgemeinen Überraschung und mit großem Unbehagen aus den Reihen der SPGenossen wahrgenommen wurde, daß Bekenntnisse zur Sowjetunion und zum Sowjetsystem und schließlich auch die Ehrung Stalins diesem Parteitag eine feierliche Umrahmung gab. Somit wurde der Weg in Richtung "Partei neuen Typs" neun Monate vor der erklärten Wandlung deutlich und zielbewußt beschritten. Dennoch bleibt zu klären, wann genau die Parteitagsplanung diesen rituellen Schritt einschloß. Piecks Bemerkung, wonach Wyschinskis anti-amerikanische Rede vor der UN am Tag vor Beginn des Parteitages "für viele von uns eine Überraschung" war, muß als Erklärungsversuch hinterfragt werden. Ging Tulpanows provokatorische Begrüßungsrede auf dem Parteitag weiter als ursprünglich geplant? Sie galt bei den Westmächten als eine Erklärung zum Kalten Krieg in und um Deutschland. Hiernach hatten sich "schon zwei Deutschlands herausgebildet", "Das Land aller fortschrittlichen Kräfte" und "das Land jener Leute, die mit Unterstützung des ausländischen und besonders amerikanischen Kapitals das deutsche Volk wieder in das blutige Gemetzel des imperialisitischen Krieges jagen wollen"; und das Verdikt hieß: "Dieses Deutschland wird ... freiwillig oder unfreiwillig zur ausländischen Agentur". Diese offenen Worte gingen viel weiter als die bisher in Abwehr gegen den Marshall-Plan verkündeten internationalen Klassenkampf Strategie erwarten ließ. Im Juli hatte Hermann Matern gegen eine voreilige Preisgabe der Vorstellung gewarnt, daß in einem richtig geführten Klassenkampf Probleme durch Viermächte-Verhandlungen geregelt werden könnten; undtrotzder Huldigungen und der Jubel hinterließen die Parteitagsreden von Selbmann, Grotewohl
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und Oelzner den Eindruck, daß das Zentralsekretariat immer noch an einem unter dem Dach des alliierten Kontrollrats zu gesamtdeutschen Lösungen führenden Prozeß festhielt Jedoch, auch wenn ein bestimmtes Maß an selbständiger Auslegungskunst dort und auch später sich bemerkbar machte, um die neue Parteilinie friedfertiger zu deuten, als das bei Ulbricht und Matern jetzt zu hören war, waren die Funktionäre, die sich so äußerten, ebenfalls sehr bemüht, Konformität als loyale Verfechter klassenkämpferischer Entschiedenheit nachzuweisen. Einem amerikanischen Bericht zufolge hat Marschall Sokolowski nach dem 2. Parteitag nicht lange gewartet, um am 2. Oktober leitenden Funktionären der Wirtschaft deutlich zu machen, daß die von Selbmann geforderte Verselbständigung illusorisch sei. Er verband Auskünfte über die bevorstehende Verkündung des Leistungslohn (Befehl 234) mit energischen Warnungen und ließ erkennen, daß im künftigen Wettbewerb mit der Westzone die Kontrollen der SMAD über die zonalen Wirtschaftsverwaltungen wesentlich verstärkt werden würden. Dabei sei die Haltung des Leitungspersonals auch in politischer Hinsicht zu kontrollieren und Sabotage endlich auszumerzen. Auch die Wirtschaftsexperten und Unternehmer haben sich mit der politischen Ideologie, der sowjetischen Geschichte und den Erfolgen der Sowjetunion vertraut zu machen. 2 Trotz solcher Äußerungen hat die Forschung zu fragen, welchen Einfluß ein anderer Verlauf der Londoner Außenministerkonferenz oder gar ein anderer Ausgang der Währungsverhandlungen der vier Mächte auch für die SED hätte haben können. Entscheidend war die Haltung der Großmächte, und was die UdSSR angeht, gibt es noch Klärungsbedarf. Aber für unsere Fragestellung dürfte nicht übergangen werden, wie Pieck und Grotewohl in einem Gespräch mit Semjonow am 27. Oktober 1947 ihre Hoffnung begründeten, daß die Londoner Konferenz nicht zu einer Lösung des deutschen Problems führen würde. 3 Sie verkleideten ihre politischen Überlebensängste mit einer charakteristischen Fiktion, wonach die klassenbewußten Arbeiter aus guten Gründen eine Beendigung der Zonenteilung zu diesem Zeitpunkt nicht wünschten, um dann das Bild eines Blutbades und des Sieges der Reaktion über die progressiven Kräfte der SBZ zu verzeichnen, sollte es zum Abzug der Besatzungsmächte kommen. Man darf also 1 Office ofthe Political Adviser (POLAD) an Departrnent ofState, Nr. 11202, 30.10.1947, in: US National Archives, Record Group 59, 740.0019, Control (G), 10-3047. 3 Vgl. die Aufzeichnungen Semjonows über die Unterredung mit Pieck und Grotewohl, zitiert in Jochen Laufer, Auf dem Wege zur staatlichen Verselbständigung der SBZ, in: Historische DDRForschung. Aufsätze und Studien, Hrsg. - Jürgen Kocka, Berlin 1993, S. 54
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davon ausgehen, daß Pieck und Grotewohl immer noch davon ausgingen, daß die Viermächtegremien weiterbestehen würden. Jedoch ihre Bürgerkriegsbefürchtungen zeigen auch wie vordergründig ihr baldiges Drängen nach "Einheit und gerechtem Frieden" sein wird, wie eng, alternativlos und absichtlich illusionsstiftend die Volkskongreß-Bewegung sein wird, die die SED demnächst, vermutlich auf Veranlassung der SMAD, aufziehen wird. Zwei Wochen, bevor diese "Bewegung" auf einer Sondersitzung des Zentralvorstandes in großer Eile lanciert wurde, gestand Franz Dahlem ein, daß das Bild von "begeisterter Stimmung" und "Einheitlichkeit", die der 2. Parteitag projektierte, ganz und gar nicht auf die Mitgliedschaft zutreffe. Dort herrschte, so Dahlem, "viel Niedergeschlagenheit, Zweifel bis zum Unglauben, ob die Partei die Lebensfragen des Volkes zu lösen imstande ist". Passivität äußerte sich in einer stagnierenden Mitgliederbewegung und schlechter BeitragszahlungsmoraL Acht Wochen nach dem Parteitag war, was die Auswertung seiner Beschlüsse anging, so Pieck, "eine wesentliche Verbesserung nicht zu merken". Als ehemaliger Sozialdemokrat beklagte Carl Moltmann, daß jetzt eine Verpflichtung zur Denunziation erwartet wurde: So etwas war "nie unsere Sache". Mehrere Redner erzählten von Mitgliedern, die bedauerten, daß der MarshallPlan vorschnell abgelehnt wurde; und Bernard Koenen erklärte, es sei "nicht leicht, den Leuten auseinanderzusetzen ... daß ein System, wie das der Sowjetunion, auch neben der USA bestehen kann". Andererseits berichtete er von der linksabweichlerischen Stimmung von Genossen, "die daran zweifeln, ob der demokratische Weg zum Sozialismus möglich sei" und meinten, "daß nur noch revolutionäre Mittel zum Siege führen könnten". Zu der entmutigenden Zukunftsperspektive, die der 2. Parteitag eröffnet hatte, gehörte auch die Befürchtung, daß es zu einem Krieg zwischen der Sowjetunion und den Westmächten kommen könnte. Deshalb, aber nicht nur deswegen, wurde in den Vorstandsprotokollen immer wieder über die Klagen von Genossen berichtet, die meinten, sie seien nicht mehr Subjekte, sondern bloß Objekte geworden. Vor allem bei den SP-Genossen gehörte eine Vorstellung von Freiheit dazu, die dem einstigen SPD-Führer Karl Litke kurz vor dem Parteitag eine kurzlebige "Stunde der Wahrheit" gebracht hat. Hartnäckig, aber vergeblich suchte er, die Zustimmung von Wilhelm Pieck zum Einbau einer Erläuterung des Begriffes "Freiheit der Persönlichkeit" in der vorgesehenen Grundsatzerklärung des Parteitages zu erreichen. Die Formulierung sollte die Tatsache erkennen lassen, daß die Menschen etwas anderes als Dienst an der Partei damit meinten, sondern das Recht auf eigene Würde in Freiheit.
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Schließlich hat die SPD die Oktoberwahlen 1946 in Berlin mit diesem Argument gewonnen. Nach dem Parteitag wurde dieser Anspruch mit Spott belegt. So als Karl Mewes Mitte November lakonisch fragte: "Wo liegt die Ursache für die Inaktivität unserer Genossen?" ,um zu antworten: "Die Inaktivität in unserer Partei ist die persönliche Freiheit der Genossen". In der dritten, bis Juni 1948 andauernden Übergangsphase der Stalinisierung wurden Mitglieder und Funktionäre auf fast all das vorbereitet, was sie in der Schlußphase beherrschen und verinnerlichen sollten. Die Vormachtstellung des Zentralsekretariats über die Landesverbände wurde auf alles ausgedehnt, und mit entsprechenden Versuchen seitens der unter Gleichschaltungsdruck stehenden Landessekretariate wurde versucht, die Landes- und Kreisvorstände an der Leine zu führen. Obwohl das auch später eine ständige Quelle des parteiinternen Streits blieb, stellte sich ein Prozeß der Gewöhnung ein, wonach Prinzip und Praxis des demokratischen Zentralismus als vorgegeben akzeptiert wurde. Eingeführt wurde das Ritual von "Kritik und Selbstkritik", das den Zweifel in gläubige Fügsamkeit verwandeln sollte. Das Insistieren auf Huldigungsrituale für die Sowjetunion und die KPdSU sollte skeptischen SP-Genossen allmählich ein neues selbstsicherndes Identitätsgefühl geben. Monate bevor die abgestuften Kriterienkataloge für Maßregelungen, Ausschlüsse und für die schwerer wiegenden Vergehen, die eine Auslieferung an die sowjetische Gerichtsbarkeit wahrscheinlich machten, festgeschrieben vorlagen, wurde die Zustimmung der Genossen zu einer bevorstehenden Säuberung, zu der Ausmerzung von sogenannten unwürdigen, feindlichen und unbelehrbaren Elementen verlangt. Dennoch verlief die Übergangsphase nicht ohne selbst- und fremderzeugte Widersprüchlichkeiten und nicht ohne parteiinterne Konflikte. Früher wurde im Zentralvorstand Kritik am Verhalten der sowjetischen Besatzungsmacht mit den Argumenten eines Juniorpartners begründet (im Sinne von "Die Freunde brauchen uns ja"). Als Funktionär durfte man sich offen zu dem Ziel "Verselbständigung" bekennen, ja, unter Umständen sollte man es tun. Nach dem 2. Parteitag herrschte die Befürchtung vor, daß es mit dem Anspruch der SED, eine eigenständige deutsche Partei zu sein, jetzt zu Ende war; daß, wenn es für die SED eines Tages Freiräume geben konnte, dann nur in struktureller und ideologischer Anhindung an die Sowjetunion. Mitte November gestand Gratewohl ein: möglicherweise sei es ein Fehler gewesen, daß "wir uns immer allzu sehr auf die Linie gestellt haben: Wir sind eine unabhängige Partei, und wir haben mit Rußland nichts zu tun. Nein, Genossen, so ist es ja gar nicht".
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Bevor die Genossen sich 1948 unter dem Zeichen von getrennter Staatenbildung, der Auflösung des Kontrollrats und der Berliner Blockade mit der Vorstellung abfinden mußten, daß im Kalten Krieg totale Abhängigkeit unvermeidlich geworden war und in absehbarer Zeit nicht mehr umkehrbar sein wird, gab es Ende 1947 eine kurze, aber emotionale Episode, in die freiheitliche Sehnsüchte und Stalinisierungsdrang aufeinander prallten. Da die vierte, formelle Vollendungsphase der innerparteilichen Stalinisierung in vielen Veröffentlichungen beschrieben und in meinem Buch eher ergänzend interpretiert wird, halte ich es für mehr aufschlußreich, meine Ausführungen mit Hinweisen auf diese Episode zu beenden. Auf einer außerordentlichen Sitzung des PV wurde am 26. November 1947 beschlossen, in weniger als zehn Tagen einen Volkskongreß für die Einheit Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag zustande zu bringen. Dort hatten die Vertreter einer "Volksbewegung" eine "Deutsche Delegation" zu wählen, die auf Vorschlag der Sowjets auf der dort bereits tagenden Außenminister Konferenz sich Gehör schaffen sollte - was natürlich keinesfalls zu erwarten war. Zwei Tage vor dem Parteibeschluß hatte Jakob Kaiser erklärt, daß die CDUD an einem von der SED initiierten Volkskongreß nicht teilnehmen würde. Eine vorerst von der SED gutgeheißene parteiunabhängige Initiative von dem hessischen Ministerpräsident Karl Geiler (parteilos) und Ferdinand Friedensburg (CDU) - ihre Aktion war bereits an der Haltung Schumachers zum Scheitern verurteilt - wurde jetzt zum Feind erklärt und vom Meister der Legendenbildung, Hermann Matern, als Geheimplot der Amerikaner mit dem Vatikan entlarvt. Dieser Irrsinn war für den Einzug einer Atmosphäre bezeichnend, in der Verschwörungstheorien gang und gäbe waren. Bekanntlich befand sich die Moral der Parteimitglieder vor Beginn des Volkskongresses an einem Tiefpunkt. Aber während Wilhelm Pieck am 8. Dezember im Vorstand seine gequälten Bemühungen Revue passieren ließ, den am Tage zuvor beendeten Volkskongreß regiegerecht zustande zu bringen und abzuhalten, wurde andererseits von anderen Vorstandsmitgliedern von dem plötzlichen Aufkommen einer Stimmung in der Mitgliedschaft berichtet, die völlig anders aussah, eine Stimmung, die immanent im Gegensatz zu Piecks Aufgabe stand, alles unter Kontrolle zu behalten. Heinrich Hoffmann sprach von einem "Drang in der Partei, die Partei wirklich von unten und immer mehr demokratisch zu gestalten ... Das Gefühl für Demokratie und die Inanspruchnahme des Rechtes auf Mitbestimmung ist so stark, daß man, mehr als bisher in unserer Partei der Fall war, mitsprechen und
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selbst mit entscheiden will ... " Offensichtlich konnte die Aktion "Volkskongreßbewegung" in einer Situation, in der Verzweiflung, Apathie und Resignation um sich gegriffen hatte, die Hoffnungen auf freiheitlich-demokratische Erneuerung, die vor allem, aber nicht nur, von SP-Genossen gehegt wurden, wiedererwecken. Angesichts der drohenden Sowjetisierung schien "Deutsche Einheit und gerechter Frieden" eine besonders relevante Kampfparole zu sein. Auch Edith Baumann konnte berichten, daß die "Ermüdungserscheinungen", die "selbst die aktivsten Funktionäre der FDJ" erfaßt hatten, in den letzten zehn Tagen verschwunden waren. Enthusiasmus hatte Illusionen gestiftet. So als Hoffmann eine Reihe von prominenten Persönlichkeiten der Westzonen nannte, die, seiner Meinung nach, für den Volkskongreß hätten gewonnen werden sollen. Der Zwischenteruf des Frankfurter Dissident-Kommunisten Karl Hauser: "Um uns noch mehr Absagen zu holen!" traf das Problem im Kern. Schon der Verdacht, von der SED aufgezogen worden zu sein, reichte aus, um die Chancen der "Volksbewegung" in den Westzonen zu vernichten. Meinungsumfragen der Amerikaner bewiesen es. Das traf von vornherein auf Berlin zu, wo im Landesvorstand zwei Tage vor Kongreßbeginn vom Mißlingen der Kampagne die Rede war. Die enthusiastischen Hoffnungen auf Demokratie wurden auch von Kritik an der Planung und der Regie des Kongresses gedämpft. Die Landesvorsitzenden waren von dem Zentralsekretariat nicht konsultiert worden, und eine Sitzung des Zentralvorstandes, der am Vorabend des Kongresses stattfinden sollte, wurde im letzten Moment abgesagt. Wie gezeigt wird, gab es auch einen Riß, der quer durch das Sekretariat verlief. Wilhelm Pieck war von der Aufgabe, die er zu erledigen hat, strapaziert. Um der Strategie der Sowjets zu genügen, mußte denen der Kongreßablauf absolut sicher sein, aber ohne daß die Dominanz der SED augenfällig wurde. Das dürfte weder in der Zusammensetzung der Delegierten auffallen (was sich bei denen aus den Westzonen überhaupt nicht verschleiern ließe), noch bei den Haupt- und Diskussionsrednern (was gerade noch gelang). Bürgerliche Kräfte mußten in der "Bewegung" gebündelt werden, aber so daß, so Pieck, "sie sich nicht auf eigene Faust und mit eigenständigen Gedanken verselbständigen konnten". Er mußte einen Ablauf sichern, der "uns die Sicherheit bietet, daß es zu keiner großen Diskussion mit den anderen Parteien kommt". Denn gerade die CDU, aber auch die LDP waren im Dezember bereits einem Entscheidungsdruck ausgesetzt, der am Ende zur Spaltung und Gleichschaltung führen würde. Dafür war es aber zu früh. Der Volkskongreß sollte das Gegenteil vortäuschen.
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Umso wichtiger war infolgedessen die Beteiligung der überparteilichen Massenorganisationen am Kongreß. Pieck befürchtete ein Ausrutschen bürgerlicher Politiker. Jedoch, was er antraf, war nicht Widerstand, sondern eher ausweichendes Verhalten. Beim Versuch, sieben Referate zu verteilen, stand, so Pieck, .,nur das Referat des Genossen Grotewohls fest". Ansonsten wurden .,alle diese Dispositionen ... einfach üben den Haufen geworfen". Wilhelm Külz und Ferdinand Friedensburg lehnten es ab, das Referat .,Die Parteien und den gerechten Frieden" zu halten, Ernst Lemmer ein Referat über die Wirtschaft. Stattdessen, erzählte Pieck. Ernst Lemmer trat die .,Flucht nach Süddeutschland" an, während Friedensburg es vorzog, an einer Hochzeit teilzunehmen. Als dann der führende CDUD Politiker Otto Nuschke auserwählt wurde, um das heikle Referat über die Parteien zu halten und Pieck zusicherte: Ich werde so reden, daß sie keine Anstände haben werden", berichtete dieser: .. Das war die einzige Garantie. Es hätte uns ebensogut sehr schwer in die Bude hageln können". Andererseits konnte Pieck für Heiterkeit sorgen, als er berichtete, wie man, anstatt Erich Honecker für das Jugendreferat, .,auf die Idee kam, die CDUGenossin Zibolsky vorzuschlagen, was zweifellos ein guter Vorschlag war". Denn sie hat "ihre Aufgabe sehr glücklich gelöst" . Das gleiche konnte man nicht von dem Redner behaupten, der Johannes R. Becher am Abend vor Kongreßbeginn in einer hitzigen Auseinandersetzung mit Pieck für das Referat über die kulturelle Erneuerung Deutschlands vorgeschlagen hatte. Der Landesvorsitzende der CDU in Sachsen Hugo Hickmann hat sich .,Sogar taktlos" geweigert, und die Rede des von Becher vorgeschlagenen parteilosen Literaturhistoriker Paul Wiegel nannte Pieck .,oratorisch eine Pleite"! Becher hatte sich geweigert, in der Diskussion zu sprechen, und in seiner Auseinandersetzung mit Pieck warf er den Veranstaltern des Kongresses .,Kulturfeindlichkeit" vor, weil sie den Kulturbund (Becher war sein Präsident) zu den Vorbereitungen nicht herangezogen hatten. Piecks Verärgerung steigerte sich bis zur Unbeherrschtheit, als der im Zentralsekretariat mit Anton Ackermann immer noch für Kultur, Schulung und Presse formell verantwortliche SPGenosse Otto Meier für Becher Partei ergriff. Meier bezeichnete die Empörung im Kulturbund nicht nur "groß", sondern auch "verständlich". Schließlich haben maßgebliche Genossen des Kulturbundes sich jetzt von Pieck .,so mit einer Handbewegung ... als 'politische Ignoranten' bezeichnen" lassen müssen. Die Redeschlacht, die hierauf folgte, war irrational und unreflektiert, aber sie
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brachte die Arroganz und die Ängste zum Vorschein, für die die anbrechende stalinistische Gleichschaltung alle Tore geöffnet hatte. Als Meier sich in seiner Eigenschaft als Sekretariatsmitglied mit den Worten zu rechtfertigen begann: "Ich als mitverantwortlicher Mann in der Partei. .. " rief Pieck aus: "Das ist unerhört!", und stellte somit klar, wer in der Partei wirklich das sagen hat. Er hatte bereits Meier gewarnt: "Du mußt Dir Deine Worte überlegen, die Du hier sprichst" und "Was hast Du vorher getan, um den Kulturbund zu vertreten? Jetzt riskierst Du einen großen Mund". Als Pieck in seinem Schlußwort die Genossen Vorstandsmitglieder aufforderte, "offen und ehrlich" miteinander zu reden und Meier darauf bestand: "So habe ich gesprochen", rief Pieck: "Das war eine infame Rede". Meier drohte: "Nach solchen Angriffen muß ich die Konsequenzen ziehen" und erklärte: "Ich habe aus dem Gefühl der Verantwortung heraus gesprochen. Entweder gibt es hier Redefreiheit oder nicht!" Bemerkenswerterweise war es Anton Ackermann, Meiers Parität im Zentralsekretariat, der ihn unterstützte. Ackermann erinnerte Pieck an die abgesagte PV-Sitzung: "Ich bin hierher gekommen, um das zu erfahren". Dahlems Versuch, Ackermann für die Fehlplanung beim Kulturreferat mitverantwortlich zu machen, wurde von Ackermann erwidert: "Jetzt hört die Gemütlichkeit auf! Das ist noch schöner. .. "; und er verteidigte den Kulturbund, als Edith Baumann ihn daran erinnerte, daß Wünsche der FDJ an den Kulturbund "ohne Widerhall" geblieben seien. "Weil Ihr unmögliches verlangt!" rief Ackermann zurück, wodurch Pieck zu der Warnung gereizt wurde: "Wir brauchen Deine Hetze hier nicht!" Am Schluß der Vorstandssitzung bestritt Pieck, daß es irgendwelche Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung des Kulturbundes im Zentralsekretariat gäbe, und er bedauerte, daß er sich durch Meier so erregen ließ. "Was sonst nicht meine Gewohnheit ist". Der sachliche Kern, der hinter diesem indikatorenreichen Ausbruch der Gefühle stand und sowohl die Durchführung des Auftrages zur stalinistischen Kursänderung als auch die davor gehegten Befürchtungen für uns erlebbar werden läßt, war die bisherige Sonderstellung des Kulturbundes. In den Augen strenggläubiger Stalinisten wollte der Kulturbund eine Existenz in geradezu esoterischer Liberalität und Überparteilichkeit weiterführen. Das mußte bald in Ordnung gebracht werden, und es begann im Februar 1948, als vier namhafte Vertreter des geistigen Lebens in den Parteivorstand kooptiert wurden. Paul Wandel rief zur Disziplin auf, während weder Ackermann noch Meier sich zu Wort meldeten. Bald wurde "politische Ignoranz" nicht mehr bei der im Kulturbund erfaßten Intelligenz gestattet.
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Es ist aber ebenfalls für später aufschlußreich, daß, nachdem Anton Ackermann Selbstkritik übte, er als leitender Funktionär politische Verantwortung trug, und daß der nur begrenzt anpassungsf