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German Pages 231 [232] Year 1987
Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft
Herausgegeben von Klaus Baumgärtner
Erich Straßner
Ideologie - SPRACHE - Politik Grundfragen ihres Zusammenhangs
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Strassner, Erich: Ideologie — Sprache - Politik: Grundfragen ihres Zusammenhangs / Erich Strassner. — Tübingen : Niemeyer, 1987. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 37) NE: GT ISBN 3-484-22037-6
ISSN 0344-6735
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten.
I nhaltsverzeichnis
0.
Vorwort
1. 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.4
Ideologie Ideologie im nichtwissenschaftlichen Sprachgebrauch Wissenschaftliche Definitionsversuche Marxistische Theorien Positivistische Theorien Wissenssoziologische Theorien Typologisierung von Ideologien Ideologiekritik
1 1 2 3 7 8 10 14
2. 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3
Ideologische Handhabung von Sprache Sprache als gesellschaftliches Kommunikationsmittel Ideologiesprache Ideologische Massensteuerung Politische Werbung Agitation und Propaganda Gesteuerte Kommunikation Ideologische Techniken Ideologische Symbolik Ideologische Wertung Ideologische Verbrämung
16 16 23 36 36 42 48 53 53 59 63
3. 3.1 3.1.1 3.1.2
Sprachliche Merkmale ausgewählter Ideologien Liberalismus Kenn-und Schlagwörter Politische Werbung: Analyse des Wahlaufrufs der Deutschen Demokratischen Partei vom 5. Dezember 1918 Konservatismus Kenn- und Schlagwörter Politische Werbung: Analyse des Gründungsaufrufs der Konservativen Volkspartei am 23. Juli 1930 Der konservative 'Kampf um Begriffe' Sozialismus Kenn- und Schlagwörter Politische Werbung: Analyse des SPD-Wahlaufrufs zur Reichstagswahl vom 22. April 1928
66 66 66
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2
VII
73 78 78 89 91 97 97 110 V
3.3.3 Sprachentwicklung unter Einfluß der sozialistischen Ideologie: Das Beispiel DDR 3.4 Nationalismus 3.4.1 K e n n - u n d Schlagwörter 3.4.2 Kenn- und Schlagwörter der imperialistischen Version . . . . 3.4.3 Rechtsradikale Sprachmuster der Nachkriegszeit 3.5 Rassismus 3.5.1 K e n n - u n d Schlagwörter 3.5.2 Kenn- und Schlagwörter der antisemitischen Version 3.5.3 Politische Werbung: Manifest des Ersten Internationalen Antijüdischen Kongresses zu Dresden 1882 3.6 Nationalsozialismus 3.6.1 K e n n - u n d Schlagwörter 3.6.2 Politische Werbung: Die Verkündung der Kandidatur Hitlers für das Amt des Reichspräsidenten durch Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast (22. Februar 1932) und der Wahlaufruf der NSDAP
118 127 127 134 139 146 146 153 161 167 167
177
4.
Literaturverzeichnis
185
5.
Register
218
VI
0.
Vorwort
»Das Wort hat Macht. Die Macht hat das Wort.« Theodor Gehrke
Die Beziehungen zwischen Ideologie, Sprache und Politik sind in den letzten Jahrzehnten in den Blickpunkt verschiedener Fachdisziplinen geraten. Die Problematik wird nicht nur in der Ideologiekritik behandelt, sondern auch unter allgemein erkenntnistheoretischen, wissenschaftstheoretischen, politologischen, sprachphilosophischen und sprachpraktischen (Meinungs-, Vorurteils-, Propagandaforschung) Fragestellungen. Trotzdem wäre es eine Illusion anzunehmen, daß gültige Aussagen und zwingend daraus ableitbare Folgerungen bereits vorliegen. Der Forschungsstand in diesem Bereich weist auch nicht etwa bereits den Charakter einer Landkarte mit größeren oder kleineren weißen Flecken auf, sondern eher eine Reihe erforschter Gebiete, die schwer lokalisierbar sind und deren Zuordnungsmöglichkeiten oder Zusammengehörigkeiten umstritten bleiben. Die unterschiedlichen Forschungsansätze verbieten eine Akkumulation der bereits erzielten Ergebnisse. Jedes Teilergebnis ist so gut, wie seine Fragestellung relevant, die herangezogenen Daten für den erforschten Wirklichkeitsausschnitt repräsentativ, die Datenanalyse korrekt und die Interpretation der Datenauswertung nicht überzogen ist. Damit wird der Versuch, zusammen mit einer Einführung in die Sprachproblematik im ideologischen und politischen Kontext eine Synopse der bisherigen Forschungsergebnisse zu liefern, problematisiert, vor allem auch deshalb, weil die meist schwer zugängliche DDR-Literatur zum Thema - soweit möglich - mit herangezogen wurde. Der fragmentarische Charakter eines solchen Vorhabens soll von vornherein klargemacht werden. Vielleicht bietet aber gerade er Anregungen zu intensiver und grundsätzlicher Diskussion wie als Hinweis, daß in diesem Forschungsbereich für theoretische wie für textanalytische Arbeiten noch genügend Freiraum vorhanden ist. Meine zahlreichen Verpflichtungen gegenüber der bisherigen Literatur werden durch die vielen Verweise im Text deutlich. Den Teilnehmern meiner Lehrveranstaltungen zum Thema habe ich zu danken für Anregungen, Hinweise und Materialien, die in den Band eingingen.
VII
1.
Ideologie
1.1
Ideologie im nichtwissenschaftlichen Sprachgebrauch
Wenn uns der Begriff Ideologie in politischen Auseinandersetzungen begegnet, zielt er fast immer auf eine Herabsetzung, auf eine Diffamierung des Gegners. Aussagen werden als ideologisch abqualifiziert, weil sie angeblich wirklichkeitsfremd oder auch wirklichkeitsverdeckend sind, durch Vorurteile oder interessebedingte Voreingenommenheit bestimmt, weil sie bewußt Tatsachen verschleiern, wirkliche Absichten und Ziele unkenntlich machen sollen. Der Vorwurf der Ideologie beinhaltet dann nicht nur einen Mangel an Erkenntnis der Wahrheit, sondern auch des Willens zur Wahrheit. Es ist charakteristisch für ideologische Auseinandersetzungen, daß der Vorwurf der Ideologie aus einer Einstellung heraus erhoben wird, die selbst ideologisch, dogmatisch und doktrinär ist, aus der Überzeugung vom Alleinbesitz der Erkenntnis >wahrer< Wirklichkeit. Ideologen kennen nur die Alternative, nur das Entweder-Oder, und verteidigen diese aggressiv. Als Ideologie werden Auffassungen bezeichnet, die sich als die allein wahren verstehen, alle anderen als falsch und als der Wahrheit feindlich hinstellen, die es daher zu bekämpfen gilt. So streiten Ideologen gegeneinander; jeder sieht im Andersdenkenden eher den Feind als den Gegner. Positiv der Ideologie mit ihren Mythen und Illusionen gegenübergestellt wird jeweils der Realismus. »Unsere Politik ist eine Politik ohne Ideologie, es ist eine Politik des Realismus«, hört man oft Politiker erklären. Man will >realistisch< denken und handeln, d.h. vernünftig, pragmatisch. Was ein solcher Realismus aber präziser beinhaltet, bleibt ebenso dunkel und vieldeutig wie ein solcher Gebrauch von Ideologie.1 Auch in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft der DDR wird der Begriff vieldeutig eingesetzt. Bezeichnet werden damit Anschauung, Ideen etc., die Interessenausdruck sozialer Klassen sind, außerdem charakteristische Inhalte der Ideen historischer Epochen (Zeitgeist), weiter die geistige Atmosphäre eines Kollektivs, mit negativer Akzentuierung vorhandene Verhaltensmotive, die nicht mehr zeitgemäß sind (z.B. Tonnenideologie, das ist die Ausrichtung der zentralen Planung auf Produktionsvolumen). Unter »ideologischen Problemen« beispielweise der Leitungstätigkeit werden verstanden »die Herbeiführung bzw. Gewährleistung solcher Denkweisen und Charaktereigenschaften bei den Angehörigen eines Arbeitskollektivs, die für 1
Barion, J. (21971), 7ff. 1
eine optimale Bewältigung der Aufgaben erforderlich sind. Schließlich kann unter einem »ideologischen Problem« auch die nicht ausreichend entwickelte Fähigkeit verstanden werden, das individuelle Verhalten an politischen Gegebenheiten zu messen und zu orientieren.« 2 Nahezu alle Arbeiten zum Ideologieproblem beginnen mit der Feststellung, daß kaum ein anderer Begriff im politischen Tageskampf, in der publizistischen Auseinandersetzung, aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion so überbeansprucht und abgebraucht worden sei wie der der Ideologie.3 Man benutzt ihn also mit schlechtem Gewissen, klammert sich an eine vorgefundene Definition oder kreiert eine neue, hofft auf deren Durchsetzungsvermögen oder begnügt sich mit dem Eigengebrauch. 1.2
Wissenschaftliche Definitionsversuche
Die Entstehung des Ideologieproblems ist eng mit den Emanzipationsbestrebungen des frühen europäischen Bürgertums verbunden. Erst mit dem Zerfall der mittelalterlichen Ständegesellschaft, mit dem Aufkommen bürgerlicher Renaissancestädte richtet sich die Aufmerksamkeit allmählich auf die soziale Funktion bestimmter Meinungen und Vorstellungskomplexe, obwohl natürlich Ideologien zur theoretischen Sanktionierung gesellschaftlicher Herrschaftsformen immer schon vorhanden waren. Die beginnende Zirkulation und der Austausch von Ideen gingen mit der Entwicklung der kapitalistischen Geldwirtschaft einher. Mit dem freien Markt gewannen Geld und Intellekt vermittelnde Funktionen für die Beziehungen der Menschen untereinander. Bildung, bisher Privileg von Priestern und Mönchen, wurde säkularisiert und ging auf eine neue, humanistische Gelehrtenschicht über. Naturwissenschaftliches Denken als systematisches, auf Empirie gegründetes Erkennen eroberte sich im 16. und 17. Jahrhundert vor allem in England und Frankreich gegenüber scholastischer Spekulation den Vorrang. Damit war zugleich eine völlig neue Bewertung des Verhältnisses von theoretischer und praktischer Tätigkeit eingetreten: Theorie und contemplatio, d.h. die Versunkenheit in Werk und Wort Gottes, die vordem einem der menschlichen Praxis überlegenen Bereich zugehörten, sollten nun auf ihren praktisch verwertbaren Erkenntnisgehalt hin geprüft werden. Um einen Zugang zur Erforschung der Natur zu gewinnen, der über allgemeine metaphysische Annahmen hinausführte, mußten neue Methoden und Instrumente entwickelt werden. Mit der Forderung nach objektiver, auf Beobachtung, Experiment und induktiven Methoden basierender Naturerkenntnis geht einher die Frage nach störenden, atheoretischen Elementen im menschlichen Denken. Da der Verstand die Erfahrungselemente nach einer exakten Methode ordnen und interpretieren soll, gilt es, Störfaktoren, Trugschlüsse oder >Idole< kennenzuler2 3
2
Schliwa, H. (1969), 73; Geier, R. (1975), 39ff. Zuletzt Lieber, H.-J. (1985), 13
nen, um ihnen aus dem Weg gehen zu können. In seiner >Idolenlehre< kommt Francis Bacon (1561-1626) zu dem Ergebnis, daß die Ideologiehaftigkeit des Denkens ein der Vernunft schlechthin anhaftendes Merkmal sei, womit die reine Vernunfterkenntnis jeweils subjektiven Verzerrungen unterliege. 4 Bacons Idolenlehre bildet eine Vorstufe der über Hobbes, Locke, Helvetius, Lamettrie, Diderot und Holbach führenden Aufklärungsphilosophie. Aus ihr stammt der Terminus >Ideologie< selbst. Er wurde geprägt von Antoine Destutt de Tracy (1754-1836), der damit die »science des idees«, die Wissenschaft von den Ideen, »die Lehre vom Ursprung und der Entfaltungsgesetzlichkeit aller Bewußtseinsinhalte« 5 der sich auf den Menschen (bzw. auf das gesellschaftliche Zusammenleben) beziehenden Erkenntnisse bezeichnet. Als Hauptvertreter des Sensualismus (»Ich existiere nur, weil ich empfinde«) im Sinne seines Lehrers Etienne Condillac (1715-1780) will er in seinem Hauptwerk >Elements d'ideologie< (1805-1815) den Entstehungsprozeß der Ideen mit empirisch-naturwissenschaftlichen Methoden aufzeigen. Durch die Empirie im Besitz der wahren Erkenntnis des Menschen, will er diesem eine angemessene Bildung und Erziehung angedeihen lassen, die es ihm ermöglichen soll, seiner wahren Natur, seiner Vernunftnatur gemäß zu leben und die Welt zu seinem Besten zu gestalten. Das ist aber nur möglich in einem System gerechter staatlicher Ordnung auf der Grundlage geistiger und politischer Freiheit. Mit diesem Anspruch stoßen Destutt de Tracy und seine Anhänger, die Ideologen, auf den Widerstand des Machtpolitikers Napoleon Bonaparte, der ursprünglich von der neuen, mathematisch orientierten Wissenschaft fasziniert war. Der Wirkungsmöglichkeiten der Intellektuellen bewußt, ergreift er gegen sie nicht nur dirigistische Maßnahmen, sondern denunziert die Ideologie als falsche Theorie, als falsches Bewußtsein, als fern jedes Realitätsbezugs: ein Faktum, das Folgen haben sollte. 6 1.2.1 Marxistische Theorien Von Destutt übernehmen Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) das Wort, nicht aber den Begriff der Ideologie. Diese setzen sie gleich mit den herrschenden geistigen Prinzipien in einer gesellschaftlichen Ordnung, d.h. mit den Prinzipien Religion, Moral, Politik, Gesetz etc., bzw. mit dem gesellschaftlichen Bewußtsein. Ideologie ist >ideeler Ausfluß< der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse, die in der Klassengesellschaft, d.h. in der bürgerlichen Gesellschaft, von der herrschenden Klasse bestimmt werden. Ideologie wird damit Ausdruck der partikularen Interessen dieser Klasse, die aber jeweils als Allgemeininteressen ausgegeben werden. Eine Klassengesellschaft bestimmt entsprechend ihren Klasseninteressen Ideologie 4 5 6
Lenk, K. (»1984), 15ff. Lieber, H.-J. (1985), 19 Ebd. 33f.
3
als eine von subjektiven Tendenzen getragene geistige Sphäre. Möglich ist das, weil der geistige Bereich von seiner materiellen Basis gelöst wird (Arbeitsteilung; Verselbständigung des Produkts der Arbeit, der Ware), damit das dialektische Grundprinzip von der gegenseitigen Beeinflussung von Materie und Geist überdeckt. Die Betonung der Eigenständigkeit des geistigen Bereichs >verschleiert< als >Mittel zum Zweck< die Vertretung der Klasseninteressen in der Ideologie. Mit dieser Verschleierung und derjenigen der wirklichen Basis von Ideologie soll gezielt falsches Bewußtsein bewirkt werden. Ideologie ist, nach dieser sog. klassischen Konzeption, jenes Bewußtsein, »das die politischen, rechtlichen und kulturellen Formen, Institutionen und Aussagen, die sich dem Bewußtsein unmittelbar darbieten, auf Grund der gesellschaftlichen Organisation selbst irrtümlich für deren wahre Wirklichkeit hält. Ideologie ist also, auf das Subjekt bezogen, falsches gesellschaftliches Bewußtsein, bezogen auf das sozialökonomische Interesse der herrschenden Klassen gesellschaftlich notwendiger Schein zwecks Verschleierung der tatsächlichen Interessenlagen«. 7 Bei einer Aufhebung der Klassengesellschaft wäre die Bedingung bzw. reale Basis für die positive Ausformung von Ideologie gegeben, da sie dann nicht mehr durch partikularistische Interessen bestimmt ist. Der Zusammenhang von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein wäre dann in der Ideologie präsent und ausgewiesen. Das Vertrauen auf den Sieg des Sozialismus mit dem Endziel der klassenlosen Gesellschaft bringt einen Aspekt in die marxistische Ideologiedefinition, den Ernst Bloch aufweist. Er bestimmt Ideologie von der Utopie her und unterscheidet zwei Seiten an ihr. Sie sei von Haus aus Ideologie der herrschenden Klasse, die den bestehenden gesellschaftlichen Zustand rechtfertige, indem sie dessen ökonomische Wurzeln verleugne, die Ausbeutung verschleiere. Ideologie ist »die Summe der Vorstellungen, worin sich die Gesellschaft mit Hilfe des falschen Bewußtseins jeweils gerechtfertigt und verklärt hat«. 8 Wahres Bewußtsein sei aber anzusetzen, wenn diese Ideologie darauf ausgerichtet sei, die wirklichen Bewegungen der Zeit zu begreifen und die in ihr liegenden progressiven Tendenzen zu ergreifen. Als gravierendste Bewegung der Zeit ist herauszustellen die Entwicklung der Arbeiterklasse hin zu einem »Geschichtssubjekt«, das »völlig neuartige, qualitativ höhere Eigenschaften« aufweist. Als »offener Interessenausdruck dieser Arbeiterklasse und auf der Grundlage einer zunehmenden Beherrschung der gesellschaftlichen Gesetze und damit des Gesellschaftsprozesses« bildet sich das System der sozialistischen Ideologie heraus. In der sozialistischen Gesellschaft, »die von der unter Führung der marxistisch- leninistischen Partei die Macht ausübenden Arbeiterklasse entwickelt wird«, beherrschen und lenken »Planung und bewußte Leitung der Volkswirtschaft... die sachlichen Vermittlungen«, womit »eine sozialökonomisch bedingte adäqua7 8
4
Schumann, H.-G. (1970), 171 Bloch, E. (1959), 175
te theoretische und praktisch-geistige Aneignung der ökonomischen Verhältnisse möglich« wird. »Die spontane Entstehung von sozialistischen Ideen, Normen, Wertungen usw. aus dem unmittelbaren Produktionsprozeß« schafft eine »objektive Basis, auf der die bewußte Entwicklung und Verbreitung einer sozialistischen Ideologie« erfolgen kann. Diese »erfaßt solche Resultate geistiger Tätigkeit, deren Entstehung, Weiterentwicklung und Rezeption in gesetzmäßiger Beziehung steht zu den sozialistischen Produktionsverhältnissen und den Grundinteressen des unter Führung der Arbeiterklasse stehenden gesellschaftlichen Gesamtsubjekts und die auf das praktische gesellschaftliche Verhalten der Klassen, Gruppen und Individuen der sozialistischen Gesellschaft gerichtet sind,.deren Handeln leiten, mobilisieren und motivieren«. »Die marxistisch-leninistische Partei ist der >Ideologe< der Arbeiterklasse und der sozialistischen Gesellschaft. Ihre politische Führungsfunktion schließt die ideologische und wissenschaftlich-theoretische mit ein«. Sozialistische Ideologie ist »bewußt an den gesellschaftlichen Interessen orientiert und muß stets deren dynamischer Entwicklung gerecht werden. Ihre Entwicklung ist ständige schöpferische ideologische Aneignung der Wirklichkeit... Die sozialistische Ideologie ist nicht nur die herrschende Ideologie, sondern auch das allein existierende ideologische System ... Ihrer stabilisierenden und systemorganisierenden Funktion kann die sozialistische Ideologie nur gerecht werden, indem sie den Individuen die Totalität des Gesellschaftsprozesses vermittelt . . . Ohne sozialistische Ideologie wäre das Handeln der Individuen und Kollektive nur unvollkommen durch die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse determiniert, nur so weit, wie im Unmittelbaren zugleich das Gesamtsystem wirkt. Durch die sozialistische Ideologie sind die Kollektive und Individuen befähigt, nicht nur im überschaubaren Lebensbereich souverän zu sein, sondern auch hinsichtlich der gesamtgesellschaftlichen Relevanz ihrer Tätigkeit. Ideologie ist deshalb unabdingbare Bedingung für die Beherrschung des Gesamtsystems und die Freiheit der Persönlichkeit. «9 Den marxistischen Ideologiebegriff hat Günter Waldmann im Hinblick auf das Moment der Übermittlung präzisiert.10 Sein Problem ist, wieso und wie jemandem falsche Bewußtseinsgehalte beigebracht werden können, die ja einerseits Bewußtsein sind und als solches rezipiert werden, gleichzeitig aber pervertiert sind und doch nicht mit dem Bewußtsein ihrer Perversion rezipiert werden sollen. Er fragt also, welche Formen der Kommunikation erforderlich sind und in welcher Weise sie es leisten, als rationale Systeme von Sinn dennoch oft extrem irrationale und sinnwidrige Einstellungen zu vermitteln. Er setzt an, daß heute die weitaus meisten Menschen unter den gegebenen Herrschaftsverhältnissen in spätkapitalistischen (und oft auch in staatssozialistischen) Gesellschaftssystemen nicht Subjekt sind, sondern weithin zum Objekt bestehender Produktions- und Konsumtionsverhältnisse (oder zum Material von Staats- und Parteipolitik) gemacht werden. Vor allem 9 10
Schliwa, H. (1969), 114ff. - Rauh, H.-Ch. (1980) Waldmann, G. (1976), 29ff.
5
in Gesellschaftssystemen mit massenmedialen Bewußtseinsindustrien ist das ökonomische, politische und überhaupt das gesellschaftliche Bewußtsein der meisten Menschen so konditioniert, werden ihre Bedürfnislagen massenmedial in dem Maße produziert, daß ihr Arbeits-, Konsum-, Freizeit-, Kultur-, ihr politisches wie überhaupt gesellschaftliches Verhalten weithin fremdbestimmte und außengesteuerte Reproduktion der bestehenden Produktionsund Herrschaftsverhältnisse ist. Dennoch bleiben Vernunft und in kommunikativer Hinsicht der Diskurs im Sinne von Habermas, d.h. diejenige Kommunikationsform, in der es um die Explikation und Diskussion geht, um die Erprobung und Bewährung der im kommunikativen Handeln prinzipiell als problematisierbar gegebenen Sinnzusammenhänge, wenn diese aktuell problematisiert sind,11 diejenige gegebene Kraft, die, obzwar gemindert, entstellt und pervertiert und so nur begrenzt, gelegentlich und bedingt wirksam, die das kommunikative Handeln des Menschen trägt. Was menschliche Vernunft so mindert, indem es den Diskurs entstellt und pervertiert, und den Menschen gesellschaftlich als Objekt verdinglicht, ist zu fassen als Ideologie·. Ideologie als das Sinnsystem, das seine normative Legitimation von Herrschaftsformen zwar als in rationalem Diskurs begründet ausgibt, denn anders wäre sie für kein vernunftsfähiges Wesen akzeptierbar, gleichzeitig aber jeden tatsächlichen rationalen Diskurs, der sie infragestellen oder aufheben würde, systematisch verhindert. Aufgrund dieser scheinrationalen Kommunikationsstruktur lösen Ideologien »die paradoxe Aufgabe: den prinzipiellen Rechtfertigungsanspruch gesellschaftlicher Normen berücksichtigen zu sollen, ohne doch den ungezwungenen Diskurs zulassen zu können, in der . . . die bestehenden Institutionen, ließe man ihn zu, ihres falschen Anspruches überführt würden«. 12 Und sie lösen den schwierigsten Teil dieser Aufgabe, nämlich die Verhinderung des Diskurses bei gleichzeitigem Rationalitätsanspruch, u.a. dadurch, daß bestimmte zentrale Normbegründungen und -bedingungen »aufgrund gewisser Tabuisierungsregeln nicht ins Sprachspiel einer gegebenen Lebensform aufgenommen werden«. 13 So vermag Ideologie der Doppelfunktion gerecht zu werden, »darzutun, daß der Geltungsanspruch von Normensystemen zu Recht besteht, und zugleich zu vermeiden, daß diskursive Geltungsansprüche thematisiert und geprüft werden können«. 14 Ideologie bewirkt durch ihre Mechanismen der Diskurseinschränkung und -Verhinderung, daß die Intersubjektivität, die Kommunikation konstituiert, aufgelöst wird zugunsten eines Bedingungsverhältnisses, in dem faktisch nur ein Partner Subjekt und der andere - trotz seines andauernden und oft institutionell eifrig gepflegten falschen Bewußtseins seiner Subjekthaftigkeit dessen Objekt ist, in dem also Kommunikation pervertiert wird zu einem
" Habermas, J.; Luhmann, N. (1971), lOlff. 12 Ebd. 259 13 Apel, K.-O. (1973), 261 14 Habermas, J. (1973), 156
6
Herrschaftsverhältnis und deshalb in der Lage ist, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren und einzuüben. Die Fortentwicklung des marxistischen Ideologiebegriffs hin zu einer sozialistischen Ideologie baut auf das Prinzip der Parteilichkeit im Sinne eines Absolutheitsanspruchs. Da ein solcher für nichtmarxistische Theoretiker nicht gilt, fallen deren Definitionsversuche unterschiedlicher, ja teilweise kontrovers aus. Aus der Vielzahl der Bestimmungsversuche seien die herausgestellt, die in der Ideologiediskussion eine wichtige Rolle spielen.
1.2.2 Positivistische Theorien Anknüpfend an die Erwartungen der Ideologen propagiert Auguste Comte (1798-1857) ein positiv-wissenschaftliches Denken, das sich gegen jede Religion und Metaphysik wendet und sie dem Verdacht der Vorurteilsbefangenheit aussetzt. »Weil positiv- wissenschaftliches Denken gerade auch in seiner Orientierung an der Objektwelt von Staat und Gesellschaft grundsätzlich als allein vernünftig, allgemeingültig, Vorurteils- also ideologiefrei bestimmt ist und damit ebenso als allein auf der Höhe der Zeit stehend angesehen wird, muß eine durch dieses Denken positiv-wissenschaftlich organisierte Gesellschaft unter dem Anspruch grundsätzlicher Ideologiefreiheit stehen«. 15 Im Sinne einer nicht wertenden, sondern exakt konstatierenden Sozialwissenschaft baut der Italiener Vilfredo Pareto (1848-1923) hier auf und legt offen, »daß Handeln von Menschen in gesellschaftlichen Zusammenhängen nur zum geringsten Teil rational motiviert und gesteuert ist. Eigentliche Handlungsantriebe sind in der Geschichte der Menschheit allemal Irrationalismen gewesen. Was als Rationalität im menschlich- gesellschaftlichen Handeln erscheint oder sich anbietet, ist immer nur sekundäre Rationalisierung, Kompensation als Verkleidung, Verhüllung oder Rechtfertigung von Irrationalismen durch Ratio.« Alle in der Geschichte der Menschheit wirksam gewordenen Sozialtheorien sind ihm deshalb Ideologien, »also sekundäre Rationalisierungen primärer Irrationalismen . . . Ideologiefreie Gesellschaft wäre selbst als Ideologie fungierender Traum, denn sie kann es . . . grundsätzlich nicht geben«. 16 Der Mensch ist in der Gesellschaft nicht zu bessern, sondern nur besser zu durchschauen. Eine Theorie, die die Funktion von Ideologien aufzudecken sucht, kann zwar keine Entideologisierung in der Gesellschaft bewirken. Sie kann sich aber selbst vom Ideologieverdacht lösen und ein aufklärerisches Anliegen beanspruchen. Pareto bettet seine Ideologielehre ein in eine Gesellschaftstheorie, nach der Gesellschaften grundsätzlich einen Klassen-, Stände- oder Schichtengegensatz aufweisen. Das bedeutet fortlaufenden Kampf um die Macht zwischen miteinander konkurrierenden Eliten. Im >Kreislauf der Eliten< sind Sozialtheorien die ideologischen Rechtfertigungssysteme für Machtinteressen. Sie sind notwendig, um diesen die 15 16
Lieber, H.-J. (1985), 53 Ebd. 61 f.
7
erforderlichen Zustimmungen und Energien von Massen zu sichern. Und Massen sind nur durch Ideologien mobilisierbar. Der Gedanke der Mobilisierung der Massen wird von Georges Sorel (1847-1922) aufgenommen, der im Mythos das Bindungsmittel sieht. Nicht Entmythologisierung in der aufklärerischen Tradition, sondern das Vertrauen auf Stärke in der Solidarität und die Befähigung zur direkten Aktion, etwa im Generalstreik, machen das Proletariat zu der Kraft, die die Gesellschaft regenerieren kann. Mythen dienen der Legitimation der Gewalt, dienen als Stimulanzmittel, eine Meinung, die in der Gewerkschaftsbewegung wie im Faschismus aufgegriffen wurde. Konsequent in der Tradition des Positivismus wird Ideologie etwa bei Theodor Geiger (1891-1952) im Gegensatz zu >WahrheitObjektivität< oder wissenschaftlicher Erkenntnis< bestimmt. Ihm ist Ideologie unechte Theorie, Scheintheorie. Ideologisch sind dann Aussagen, die im sprachlichen Gewände objektiver Tatsachenaussagen auftreten, die aber ihrem Inhalt nach persönlich bedingte, d.h. subjektive Werturteile sind. 17 Anzuschließen ist etwa Eugen Lemberg, der in den Ideologien die Antriebs- und Steuerungssysteme menschlichen Verhaltens sieht. Ideologien kompensieren Instinktreduktionen, geben den Menschen Sicherheit, Stabilität und Flexibilität. Die Theorie macht durchschaubar, wie und warum Ideologien für die Gesellschaft notwendig sind, klärt auf über strukturell-funktionale Zusammenhänge zwischen Weltanschauungen und Gesellschaftsordnungen. Sie bewertet weder den Sachverhalt, noch sucht sie ihn zu ändern. 18 1.2.3 Wissenssoziologische Theorien Um 1920 wird das Ideologieproblem Gegenstand einer Spezialdisziplin der Sozialwissenschaften, der Wissenssoziologie. Begründet wird diese durch Max Scheler (1871-1928) mit der Intention, geistig bedingtes und auf geistige Ziele ausgerichtetes Handeln nach sozialer Determiniertheit zu untersuchen. Ideologie wird von ihm bestimmt als klassen- bzw. gruppengebundenes Vorurteilswissen, das sich durch Vermischung mit verschiedenen Denkarten zu legitimieren sucht. Die Unterklasse verbindet mit dem Blick in die Geschichte ein negatives Urteil, mit dem Blick in die Zukunft eine positive Erwartung (Wertprospektivismus des Zeitbewußtseins). Die Wissenssoziologie soll wertneutral Gesetzmäßigkeiten der Entstehung von Ideologie, d.h. von Scheinwissen aufdecken. 19 Hier folgt ihm Karl Mannheim (1893-1947), nach dem Wissenssoziologie Denken bzw. Wissen in seiner Totalität, in seinen Strukturen, in Abhängigkeit von historisch sozialen Entwicklungen untersucht, die es unterschiedlich bestimmen. Dieses so unterschiedlich bestimmte Wissen wird als Ideologie bezeichnet. 20 Ideologie ist der Schein des Selbstverständlichen, 17
Geiger, T. (1956) u. (1953) Lemberg, E. (1977) u. (1971) "Scheler, M. ( 2 1960) 20 Mannheim, Κ. ( 5 1969) u. (1964) 18
8
das Berufen auf Prämissen wie auf Selbstverständlichkeiten. Die Motive für das Verhaftetsein in ideologischen Formen sind nicht Resultat objektiver sozialer Prozesse, sondern sie liegen in der Beschaffenheit der menschlichen Denkstruktur, oder aber in subjektiv-psychischem Befangensein in kollektiven Willensrichtungen. Ideologien haben ihre Funktion darin, die Strukturen einer Gesellschaftsordnung zu verdecken. Sie üben ihre Wirkung auf das Handeln der Menschen aus, auch wenn der in ihnen vorgestellte Inhalt letztlich unrealisierbar bleibt, indem sie selbst Motiv werden oder den Auslösefaktor bei einer schon vorliegenden Handlungsbereitschaft bilden. Da der Mannheim'sche Ideologiebegriff zu einseitig an historischen Abläufen orientiert, die Soziologie aber außer an geschichtlich abgeschlossenen Handlungsgefügen auch und vor allem an noch gegenwärtig vollzogenen bzw. gültigen Handlungen, Handlungschancen, Erwartungen und Institutionen interessiert ist, versucht sich Jürgen Frese unter Einbeziehung der Aussagen von Peter Christian Ludz, Hermann Lübbe, Niklas Luhmann und Helmut Schelsky in einer Weiterentwicklung auf wissenssoziologischer Basis. Er definiert Ideologie als ein »mehr oder weniger systematisch geordnetes Gefüge (bzw. Geflecht) von theoretische Geltung beanspruchenden Aussagen ..., das durch einen besonders hohen (bzw. abschnittsweise besonders dichten) Anteil ideologischer Aussagen auch als Ganzes wie ein ideologischer Satz fungiert, das von der Gruppe, auf die seine ideologischen Aussagen bezogen sind, als deren (Quasi-)Eigentum angesehen wird und das durch Intellektuelle, die nicht notwendig Mitglieder der Gruppe sind, (die »Ideologen der Gruppe«) produziert, verwaltet, entwickelt, verändert und in der politischen Öffentlichkeit propagiert und verteidigt wird«. Da die Definition mit dem Adjektiv >ideologisch< operiert, muß dieses in seinem Sinngehalt fixiert werden: Ideologisch »soll eine theoretische Geltung beanspruchende, allgemeine, thetische oder hypothetische Aussage über soziale Phänomene und Zusammenhänge heißen, die von Mitgliedern einer konkreten Gruppe, deren Organisationszweck nicht primär ein theoretischer ist, für wissenschaftlich als »wahr« erwiesen (bzw. erweisbar) gehalten und in der die Gruppe umgebenden politischen Öffentlichkeit (vor allem gegenüber entsprechenden Aussagen anderer Gruppen) mit Nachdruck verfochten wird, die ferner in dieser politischen Öffentlichkeit als Formulierung gemeinsamer Interessen, Ziele, Selbst- und Fremdeinschätzungen aller Mitglieder der Gesellschaft (oder eines bestimmten, die Gruppe übergreifenden Teils der Gesellschaft) verstanden werden soll und kann, die jedoch als Darstellung (bzw. Verhüllung) der besonderen Interessen, Handlungsziele, Selbst- und Fremdbilder der betreffenden Gruppe durch (die Partikularität verdeckende) allgemeine Formulierungen aufgefaßt werden kann ·, die durch diese Identifikation die besonderen Interessen usw. der Gruppe als umfassendere Öffentlichkeit zu legitimieren und durch Hervorhebung bzw. theoretisch sanktionierte Tabuierung bestimmter Handlungsmöglichkeiten die Orientierung der Handlungen einer mehr oder weniger unbestimmt großen Menge von Handelnden im Interesse der Gruppe zu regulieren geeignet ist, die damit als verbales Mittel sowohl zur Durchsetzung 9
der politischen, ökonomischen oder »sozialen« Zielsetzungen der betreffenden Gruppe gegenüber denen anderer Gruppen als auch zur Selbstrechtfertigung und »inneren Abstützung« der Handlungen der Grw/?/?enmitglieder (und damit zur Stärkung ihrer Handlungsbereitschaft) fungiert,«21 Während für das Adjektiv ein weiterer Sinnbereich eingeräumt wird, unterliegt der Ideologiebegriff selbst einer strengeren Festlegung. >Ideologisch< kann nach dieser Definition z.B. ein beliebiges Stück Kontext genannt werden, ohne daß damit gleichzeitig ein Urteil über den gesamten Text gefällt wird. Dadurch ergibt sich ein >operationaler< Vorteil gegenüber anderen Festlegungen. Betrachtet man die Auswahl und bezieht die zahlreichen weiteren Versuche mit ein, so zeigt sich, daß von Ideologie im weiteren und im engeren Sinne die Rede ist. »Der weitere Ideologiebegriff tendiert dahin, mit >BewußtseinDenkenVorstellungsweltGedankensystem< synonym zu werden, während der engere Ideologiebegriff nur das im strengen Sinne wirklichkeitsadäquate, sei es utopische, sei es dem jeweiligen Stand der technischen Entwicklung, dem Verhältnis von Produktivkräften und Produktivverhältnissen nicht mehr entsprechende und daher >ideologische< Denken meint. Für die Wertigkeit des Ideologiebegriffs ließe sich ein Schema entwickeln, das im Sinne einer Skala von einer eindeutig negativen bzw. (polemisierend-)pejorativ gemeinten über eine neutrale zu einer positivwertigen Fassung des Begriffs verliefe.« 22 1.3
Typologisierung von Ideologien
Der Politologe Kurt Lenk hat versucht, eine Typologisierung politischer Ideologien zu leisten, indem er an den immanenten Strukturen ideologischer Bewußtseinsformen anknüpft. Er unterscheidet Rechtfertigungs-, Komplementär-, Verschleierungs- und Ausdrucksideologien. Rechtfertigungsideologien versuchen eine auf rationaler Grundlage basierende Darstellung der gesellschaftlichen Zusammenhänge zu geben. In diesem Sinne sind die traditionellen Hochideologien, d. h. Liberalismus, Sozialismus, Nationalismus, Konservatismus, Rechtsideologien. Nach Genese, Funktion und Träger lassen sich drei Varianten unterscheiden. 1. Rechtfertigungsideologien sind ihrer Entstehung nach Instrumente des Klassenkampfes, die von aufsteigenden Klassen im Kampf gegen herrschende Stände und Klassen entwickelt werden. Sie sind Analysen der gesellschaftlichen Verhältnisse und Antizipation ihrer objektiven Möglichkeiten im Sinne der Veränderung. Im Stadium der Entstehung bestimmen die gesellschaftlichen Erfahrungen der Subjekte, die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, ihren Produktionsverhältnissen und ihren gesellschaftspolitischen Vorstellungen ihren Inhalt und ihre Funktion. Ihre Träger stehen auf Seiten der historisch jeweils fortgeschrittensten Produktivkräfte. 21 22
10
Frese, J. (1965) Lenk, K. (1971), 17
2. Zur Herrschaft gelangt, streben die Ideologien aufstrebender Klassen zur Verselbständigung gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie werden in dem Sinne apologetisch, d.h. die Lehre rechtfertigend, verteidigend, daß sie nunmehr etablierte Macht und Herrschaft rechtfertigen. Im Kern der Argumentation weiterhin rational, gewinnen sie ein immer stärkeres Maß an Irrationalität. Mit zunehmender Verselbständigung stabilisieren und sanktionieren sie die bestehenden Verhältnisse, indem sie diese als Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Interessen ausgeben. Ursprünglich kritisch gemeinte Begriffe werden allmählich ins Irrationale umgedeutet, wodurch Kritik sich in Apologie verkehrt. Ein Beispiel wäre jener Liberalismus, der sich zum r e volutionären Konservatismus< entwickelte.23 3. Zu den Rechtfertigungsideologien gehören auch diejenigen Ideologien, die die gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Zusammenhänge im Sinne einer Gegenrevolution herstellen. Es ist der einer herrschenden Klasse aufgezwungene Versuch, die eigene Klassenposition zu reflektieren und zu rechtfertigen. In ihnen überwiegt nach Genese und Funktion das sozialmetaphysische und ethische Element. Beispiel ist der Konservatismus, der als Gegenideologie zur liberalbürgerlichen Aufklärung von der Französischen Revolution ausgelöst wurde. Komplementärideologien gehen von der gegensätzlichen Struktur einer Gesellschaft aus, legitimieren diese aber nicht, sondern schaffen fiktive Ersatzwelten. Sie entstehen zumeist in Herrschaftssystemen, besonders aber in Zeiten wachsenden Krisenbewußtseins. Träger sind Herrschende wie Beherrschte, d. h. jene Klassen oder Gruppen, die keine Möglichkeit sehen können oder wollen, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Vor allem in der Welt vorkapitalistisch-feudaler Sozialstrukturen erfüllten Religionen die Funktion von Komplementärideologien. Aber auch in der Geschichte des Konservativismus erwiesen sich religiöse Gehalte zur Ideologienbildung tauglich. Die empirisch erhärtbare Tatsachenfolie dieser Ideologien ist dünn; umso stärker und emotional kräftiger ist ihr Wertkern. Komplementärideologien sind für jene Gesellschaften lebensnotwendig, in denen der Mehrheit der Menschen ein relativ hohes Maß an Triebverzicht abverlangt wird, etwa in Feudal- und Sklavenhaltergesellschaften. Komplementärideologien eignen sich zur Neutralisierung sozioökonomischer Konflikte, indem man diese etwa als Widerschein einer angeblich universellen Lebenstragik (Kulturpessimismus etc.) darstellt. Verschleierungsideologien haben die Funktion, der Kritik am bestehenden gesellschaftlichen System ein Ventil zu öffnen, d. h. ein Aggressionsobjekt zu fixieren, so daß eine solche Kritik nicht zu einer strukturellen Änderung der Verhältnisse führt. Die Verschleierungsideologie ist ein Vorstellungssyndrom, das sowohl im Kontext anderer Ideologien wie für sich allein auftreten kann. Beliebte Formen sind das Lenken von Schuld an >Auswüchsen< des Systems 23
Gerstenberger, H. (1969)
11
auf Außenseitergruppen der Gesellschaft (Antisemitismus) oder die Rechtfertigung bestehender ökonomischer und gesellschaftlicher Verhältnisse durch Mythologeme (natürliche bzw. anthropologisch-fixierte Unterschiede zwischen den Menschen in Anlage und Leistung). Ausdrucks- oder vielleicht besser Mobilisierungsideologien nehmen die verschiedensten Formen und Teilelemente politischer Ideologien in sich auf, besitzen daher Konglomeratcharakter. Mythische Gebilde weltanschaulicher Art werden hochstilisiert zu Glaubenssätzen. Ausdrucksideologien funktionieren vorwiegend nach dem Freund-Feind-Schema. In ihnen treten offen aggressive und expansionistische nationale Machtansprüche zutage und drängen zur Aktion. Komplementärideologien gehen häufig, wenn sie kollektiviert und >totalitär< werden, in Ausdrucksideologien über. Die bloß weltanschaulich-theoretische Existenz eines völkischen Nationalismus, Imperialismus, Sozialdarwinismus, eines völkischen Konservativismus, des Antisemitismus, von Eliten- oder Gemeinschaftsideologien bis ins späte 19.Jahrhundert gerät im 20.Jahrhundert mit dem Durchbruch eines kollektiven Machtwillens zu Faschismus, Rassismus, Nationalsozialismus. Nationalsozialistische Weltanschauung ist die popularisierte Synthese der im 19Jahrhundert aufkommenden völkischen, imperialistisch-sozialdarwinistischen, national-chauvinistischen und antisemitischen Tendenzen zu einem mythologischen Gemenge, zum völkisch-weltanschaulichen Eintopf. Sie ist nicht mehr Ideologie in der Form der großen Rechtfertigungsideologien wie etwa des Liberalismus, sondern vulgäre Ausdrucksideologie. Der Anspruch von Ausdrucksideologien ist kein rational- argumentativer. Er besteht im emotionellen Appell an jene sozialen Triebschichten, die jenseits und vor der Rationalität gelegen sind. Deshalb geht es den Ausdrucksideologien um propagandistisch zugkräftige, massenwirksame Parolen mit hohem emotionalem und geringem Erkenntniswert. Ausdrucksideologien wollen nicht überzeugen, sondern begeistern. Sie fordern Gläubigkeit und Einsatzbereitschaft. Politisches >Denken< und Handeln gerinnen zur Akklamation der Entscheidungen >einsamer< Führer, die sich als Inbegriff des nationalen Aufbruchs und einer völkischen Erhebung zu geben wissen. Die bürgerlichen Ideologien des 18.Jahrhunderts, die sog. Hochideologien, sieht Lenk entstanden in einer Systemeinheit von Gesellschaftstheorie, Staatslehre und Wirtschaftstheorie. Diese zerbricht auf dem Weg ins 20.Jahrhundert, zerfällt in arbeitsteilige Einzelwissenschaften. Der Weg der Hochideologien zu den ideologischen Entwürfen des 20Jahrhunderts ist verbunden mit einem permanenten Substanzverlust hinsichtlich der Rationalität der Erkenntnis sozialer, ökonomischer und politischer Zusammenhänge. Die vergleichsweise hohe Rationalität und Konsistenz bügerlicher Theorieentwürfe in früheren Jahrhunderten ergab sich aus deren Anspruch, stellvertretend für die gesamtgesellschaftlichen Interessen jene des historisch fortgeschrittenen Bürgertums zu vertreten. Bürgerliche Rationalität und gesamtgesellschaftlicher Fortschritt waren deckungsgleich, als die partikularen Klasseninteressen 12
sich zum Anwalt der die feudalständische Gesellschaft transformierenden Produktivkräfte erheben konnten. Demgegenüber zerbricht nach der Etablierung der liberalen Erwerbsgesellschaft die Identität der bürgerlichen Rationalität mit der Vernünftigkeit gesellschaftlicher Prozesse, sobald der vierte Stand, die Industriearbeiterschaft, als lebendiger Widerspruch der scheinbaren Harmonie in der politischen Realität ein Ende bereitet. Die großen Themen des 18.Jahrhunderts, Vernunft und Freiheit, Natur und Fortschritt, die zugleich auch Wege zur Emanzipation vom feudalen Absolutismus und seinen Schranken waren, verwiesen alle auf einen konkreten historischen Zusammenhang, d.h. auf die überkommenen Traditionen ständestaatlicher Ordnung, die es im bürgerlichen und damit menschheitlichen Interesse zu überwinden galt. Die politische Philosophie und Sozialtheorie der Aufklärung hatte gerade wegen ihrer utopischen Perspektiven einen genau angebbaren Bezug zur politischen Praxis. Sie war damit stets eine Artikulation des politischen Selbstverständnisses der bürgerlichen Epoche. Der emphatische Heroismus der bürgerlichen Aufklärungstheorie aus dem Geist der objektiven Vernunft war die Klammer, die alle Fraktionen dieser Theorie am Ausgang des 18.Jahrhunderts verband. Der Substanzverlust bürgerlicher Ideologien, der der Ausbildung dezisionististischer, d.h. durch Gesetz für Recht erklärter Weltanschauungen zugute kommt, die damit verbundene Ideologisierung des Bewußtseins mit Bruchstücken ehemaliger Hochideologien signalisiert den Niedergang der liberalen und bürgerlich-industriellen Gesellschaft. Je weniger das deutsche Bürgertum gesamtgesellschaftliche Interessen vertreten konnte, um so irrationaler und für das Machtdenken anfälliger wurden auch seine ideologischen Vorstellungen. Nachdem im 20.Jahrhundert der Weg einer rationalen Rechtfertigung bürgerlicher Gesellschaft durch die Dynamik des sozio-ökonomischen Prozesses verstellt wurde, verdrängten weltanschaulich bestimmte Ausdrucksideologien mit ihren dezisionistisch instrumentierten kollektiven Mythen deren antagonistische Struktur. 24 Nach 1945 kam die Meinung auf, daß die Bundesrepublik als moderne industrielle Gesellschaft auf dem Weg ins postideologische Zeitalter sei, daß die technische Zivilisation pragmatisch werde und keiner konstruktiv-ideologischen Gedankengebäude mehr bedürfe, um sich zu reproduzieren. Die postideologische These setzt Ideologie mit Hochideologie gleich, meint einen Prozeß des Verlustes ihrer gesellschaftlichen wie politischen Funktion. Dagegen scheint sich seit den sechziger Jahren eine neue Welle der Re-Ideologisierung anzubahnen, deren Ursache in einer Verunsicherung des politischen Denkens liegt, die wiederum auf eine Identitätskrise des modernen Menschen hindeute. 25 Heute findet, »bei allem Substanz- und Funktionsverlust klassischer Ideologien als geschichtsphilosophisch begründeter, politischtheoretischer Handlungsprogramme, der konstatierbar ist, . . . Ideologiebildung gleichsam unterhalb der Schwelle solcher Ideologien statt. Als neue 24 25
U n k , K. (1971), 20ff. Bracher, K D . (1982), 291
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Mittel der ideologischen Absicherung politischen Denkens und der ideologischen Rechtfertigung eines entsprechenden politischen Handelns fungieren in denunziatorischer Enthüllung wie manipulatorischer Verhüllung immer häufiger Begriffe, die im Rahmen sozialwissenschaftlicher Analysen und Diskussionen entstehen, die innerhalb solcher wissenschaftlicher Argumentationszusammenhänge ihren ganz bestimmten Ort und auch ihre ganz bestimmte, analytische Funktion haben und die doch über die damit gegebenen methodisch- analytischen Grenzen hinausdrängen, wenn sie in die allgemeine politische Rede gelangen und dadurch zu Schlüsselbegriffen politischer Polemik werden. Dann können sie - dem wissenschaftlich-analytischen Argumentationszusammenhang, der unabdingbar sich selbst gegenüber immer kritisch bleiben muß, enthoben - ideologische Funktion in der Gesellschaft oder doch für gesellschaftliche Gruppen und ihre Auseinandersetzungen übernehmen.« 26 1.4
Ideologiekritik
Lenk stellt heraus, daß es in der Geschichte der Ideologienlehre zwei deutlich voneinander unterschiedene Spielarten von Ideologiekritik gab, eine konservative und eine radikalaufklärerische. 27 Die konservative Variante ist gekennzeichnet durch ihr Entfachen von Zweifeln an überkommenen Werten unter den jeweils herrschenden Schichten zugleich mit ihrer Scheu vor den Konsequenzen einer Desillusionierung im Volke. Festgefügte Vorurteile sollen zur Stabilisierung der Herrschaft belassen werden. Die Verbreitung der Wahrheit findet ihre Grenzen an der Staatsräson. Um der allgemeinen Ruhe und Sicherheit willen müssen bestehende Herrschaftsordnungen erhalten bleiben. Waren die Kritiker auch selbst Freigeister, so empfahlen sie den Herrschenden, für den Erhalt von Moral, Religion und Sitte zu sorgen. Nur wenige >freie Geisten wurden für fähig gehalten, Wahrheit zu ertragen. Für die Masse schienen Mythen und Lebenslügen unentbehrlich. Die Frage nach wahr und falsch tritt hinter der nach der sozialen Nützlichkeit von bestimmten Religionen, Metaphysiken und Überzeugungen zurück. Was dem Staat, dem Vaterland, dem Ansehen der Nation dient, wird für gut gehalten, und dementsprechend sind alle Wahrheiten schlecht und verfemt, sofern sie sich nicht dem Machtwillen der jeweils Herrschenden einfügen. Zur Bändigung des Volkes, zur Triebbändigung der Individuen, wird jede Form staatlich verordneter Ideologie als nützlicher erachtet als die Freiheit des Denkens, die, wenn überhaupt, nur wenigen dazu Berufenen vorbehalten sein darf. Der pessimistische Grundzug, der durch alle konservativen Ideologielehren geht, läßt allzuoft die Zukunft als Wiederkehr und bloße Verlängerung des Vergangenen erscheinen. Menschliche Spontaneität, die auf Glück und Freiheit zielt, wird von vornherein als vergeblich denunziert. Damit verkehrt sich die 26 27
14
Lieber, H.-J. (1985), 139 U n k , K. ( 8 1984), 32ff.
ursprünglich aufklärerische Tendenz der Ideologiekritik in ihr Gegenteil: sie wird zur Gegenaufklärung. Der zweiten Richtung ideologiekritischen Denkens geht es nicht um das Aufrechterhalten überkommener, im Volk verbreiteter Meinungen und um die Isolierung der elitären Skepsis gegenüber den breiten Bevölkerungsschichten. Gerade dieses Festhalten einer doppelten Wahrheit ist der radikal aufklärerischen Form der Ideologiekritik ein Symptom der herrschenden Unfreiheit. Sie geht aus von der geschichtlichen Erfahrung, daß dem Versuch, >gefährliche< Wahrheiten geheimzuhalten, niemals ein dauernder Erfolg beschieden sein konnte. Es sei sinnlos, eine Macht nur um der Erhaltung geordneter Verhältnisse willen auch dann zu stützen, wenn sie zu ihrem Fortbestand der Unwahrheit bedarf. Der in den konservativen Theorien geübten Reduktion kultureller Phänomene auf Triebelemente steht hier ein historisches Verständnis der Ideologien gegenüber. Diese werden nicht einfach als Schein abgetan, sondern als notwendiger Bestandteil eines gesellschaftlichen Systems kritisiert. Während die konservative Ideologienlehre nur die kulturellen Phänomene als eine Bemäntelung vitaler Interessen begreift, bezieht die radikale Kritik den sozialen Lebenszusammenhang mit ein. Deshalb mündet sie in eine systematische Analyse jener gesellschaftlichen Prozesse, die für das Zustandekommen der ideologischen Gebilde von Bedeutung sind. Die Kritik an der Unwahrheit herrschender Ideologien führt somit zum Zweifel an der Legitimation des Absolutheitsanspruchs der bestehenden Machtverhältnisse. Liegt den konservativen Ideologielehren ein Moment der Geistverachtung zugrunde, so verbündet sich die aufklärerische Ideologiekritik auch dann mit der menschlichen Vernunft, wenn diese sich als relativ ohnmächtig erweist. Von der pragmatistischen Bewertung des Geistigen unterscheidet sie sich vor allem dadurch, daß ihr die Wahrheit einer Theorie nicht als bloße Funktion ihres Erfolges gilt. Ideologiekritik in diesem Sinne will und kann keinen Ersatz für Illusionen bieten, sondern umgekehrt nur den Wahrheitsersatz, den die Ideologien darstellen, auflösen, um sich der historischen Wahrheit wenigstens anzunähern. 2 8
28
Lenk, K. (1971), 171 15
2.
Ideologische Handhabung von Sprache
2.1
Sprache als gesellschaftliches Kommunikationsmittel
Sprache kann aufgefaßt werden als gesellschaftliches Kommunikationsmittel, das auf der Grundlage eines lautlichen Mediums Inhalte zu transportieren oder Funktionen zu erfüllen hat. Individuen bedienen sich der Sprache instrumental, um Informationen, Handlungsanweisungen auszutauschen oder Emotionen zu signalisieren. Im kommunikativen Handeln aktualisieren sie Elemente, Ausschnitte aus Sinnsystemen, die historisch entwickelt und normativ angelegt, Intersubjektivität und dialektische Vermittlung bei Kommunikationsprozessen ermöglichen. Und sie erzielen kommunikative Effekte, die, je nach Intentionen, Bedingungen, Verfahren, Prozessen oder Strukturen, graduelle Unterschiede erreichen können. Für die menschliche Gesellschaft ist das Kommunikationsmittel Sprache ein Hauptelement des Aufbaus, der Ausformung und der Interaktion.1 Man kann auch absoluter setzen: Aufbau und Strukturierung gesellschaftlichen Lebens sind ohne Sprache unmöglich. Ohne die Verfahren verläßlicher Kommunikation, ohne intersubjektiv verständliche Sachdarstellung und Selbstdarstellung des Individuums ist die Bildung interpersonal verläßlicher sozialer Ordnungen undenkbar. Sprache und Sozialität bedingen sich. Nur auf der Basis intersubjektiver Information, Kommunikation und Handlungsbeeinflussung können rekurrente, d.h. zurückgreifende, zeitlich stabile und reflexiv einklagbare soziale Strukturen entstehen und gestützt werden.2 Innerhalb eines mit Hilfe formeller und informeller Regeln, Agenturen und Institutionen funktionierenden gesellschaftlichen Systems stellt sich Sprache als aus der Historie entwickeltes Sprachsystem, als lexikalischer Bestand und als Rede nicht als ein unveränderliches oder unveränderbares Kommunikationsinstrument dar, sondern als Resultat eines konkreten gesellschaftlichen Verwertungsprozesses. Sprache kann also nicht als statische Ganzheit aufgefaßt werden, sondern sie ist als ein Bestandteil einer spezifischen Sprachkommunikationsrealität anzusehen. Sie wird als ein Vehikel einer sie total umschließenden außersprachlichen Realität bestimmt von ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren, die im komplexen Gesellschaftsprozess dadurch entstehen, daß sich die Gesellschaft auseinanderzusetzen hat mit der Wirklichkeit des sozialen Kontextes und den damit zusammenhängenden speziellen Bedingungen.3 1 2
16
König, R. (1969), 143ff. Schmidt, S.J. (1972), 91 f.
Eine so bestimmte Sprache ermöglicht nicht nur lediglich auf Realien bezogene Interaktionen, Informationen, Handlungsanweisungen oder etwa auch das Signalisieren von Emotionen, sondern sie übermittelt Inhalte, die ihrerseits der Gesellschaft entstammen, Ausdruck ihrer Pluralität und damit Meinungsvielfalt oder aber Gerichtetheit sind. Jedes Individuum ist in und durch seine Sprache, d.h. durch seine Verhaltensform, stets schon gesellschaftlich vermittelt, und jede Wirklichkeit ist ihrerseits vermittelt durch die erkennenden Subjekte und deren subjektiv-objektive Sprache, insofern, als >das Wirkliche< für den Menschen allein das Bedeutungsvolle ist, Bedeutungen aber nur in gesellschaftlich stabilisierten Verfahren der Sinnkonstitution gesetzt werden können. 4 Sprache bildet Wirklichkeit nicht ab. Sie ist vielmehr ein Handlungsleitsystem, das gewisse stets und notwendig perspektivische Deutungen der Erfahrung und ihrer Transformation in kognitiven Operationen reguliert. Ein Wort gibt so nicht etwa das Bezeichnete wieder, sondern weist auf die Bedeutung hin, die dem Bezeichneten zugemessen wird. Da ein Wort die Variantenvielfalt der von ihm systematisierten Realien, Informationen, Handlungsanweisungen, Demonstrationen und Emotionen reduziert und gleichzeitig abstrahiert, enthält es bereits auf der primären Stufe des Verwertungsprozesses der Natur die originären Wertzuweisungen in der Form der Bedeutungsgebung nur verdeckt durch das sprachliche Symbol. Da der Verwertungsprozess der Natur aber fortschreitend vergesellschaftet wird, laden sich die originären Bedeutungszuweisungen zusätzlich mit Werten auf, mit den Werten, »die gesellschaftliche Institutionen als Reduktionen von sozialem Sinn mit dem Verwertungsprozess der Natur verbinden. Sprache zeichnet also nicht >Realität< (als Existenz der Realien) ab, sondern symbolisiert als Quasi-Institutionalisierung >SinngesellschaftlichLebensform< (Wittgenstein) ist eingebettet in soziokulturelle Situationen. Während ein Individuum Wörter, Begriffe, Symbole und syntaktische Strukturen erwirbt, festigt es sein Wissen und seine Sprache, indem es sie gegenüber seiner Umgebung anwendet. Als Folge davon assimiliert es unbeabsichtigt die politischen und sozialen Werte oder Bezugsrahmen seiner Gruppe, die in bestimmten Kultur- oder Handlungsmustern praktizierten Idiome, Wendungen, Floskeln oder Klischees; die Sprache bzw. der sprachliche Kode einer Gruppe wird somit kontextspezifisch. Die Möglichkeit, über das hinauszugehen, was der eigene Gruppen- oder situative Kode enthält, setzt die Anerkennung und das Erlernen anderer Kodes voraus. Der Wechsel von einem Kode zu einem anderen entspricht dann nicht nur dem Wechsel der akzeptierten und praktizierten Sprache, sondern auch dem des sozialen Kontextes. Durch die Übernahme und Anwendung des vorgefundenen Gesellschaftsprodukts Sprache werden dem Individuum zugleich die vorgeformten Interpretationsgehalte der Sprache über die soziale Rolle des einzelnen, über 7 8
18
Grünert, H. (1974), 19f. Schumann, H.-G. (1970), 168f.
das Interessenverständnis und über den gesamtgesellschaftlichen Kontext vermittelt. Noch bevor es selbst zur Erkenntnis der realen sozialen und politischen Strukturen seiner Umwelt, zur Erkenntnis von Übereinstimmung oder Widerspruch zwischen Wirkungszusammenhang und Deutung gelangen kann, wird sein Denken, sein Analyse- und Interpretationsvermögen, durch das vorgegebene und vorgeprägte Kommunikationsmittel der Gesellschaft, durch die Sprache, eingestimmt. Es übernimmt unbewußt mit dem Kommunikationsmittel tradierte, verfestigte oder verselbständigte Vorstellungen, Lehren, Rechtfertigungen, Verschleierungen und Selbstmißverständnisse sozialer Klassen bzw. Gruppen oder politischer Verbände über Zweck und Funktion sozialer Herrschaft und politischer Gewalt.9 Für Oswald Kästle ist Herrschaft Aneignung fremden Willens und fremden Produkts. Mit der Aufteilung der Gesellschaft in Klassen sei eine Herrschaftsbeziehung zwischen den nicht-produktiven Funktionsträgern und den materiellen Produzenten gesetzt. Entsprechend den beiden Grundformen des ökonomischen Verhältnisses zwischen Individuen, Gruppen oder Klassen lassen sich zwei Grundformen kommunikativer Beziehungen ausmachen: Herrschaft und Partnerschaft, d.h. Aneignung fremden Willens und fremden Produkts, bzw. solidarisches, von Herrschaft befreites gemeinsames Handeln und Kommunizieren. In der Klassengesellschaft sind herrschaftliche und davon abgeleitete Machtbeziehungen konstitutiv und vorherrschend. Partnerschaft ist nur partiell, oft nur als bewußter Gegenentwurf zu den herrschenden Beziehungsformen möglich. Wenn Herrschaft durchgesetzt oder verteidigt wird, ist das Mittel dazu stets Gewalt. Müßten jedoch Gehorsam, Unterwerfung jedesmal mit physischer Gewalt erzwungen werden, wäre Herrschaft zwecklos. Machtbeziehungen werden deshalb meist >gewaltlos< geregelt. Der Zwang setzt nicht erst mit dem Befehl ein, sondern ist jeweils schon in den beherrschten Individuen verankert. Die Übernahme verbindlicher Handlungsanweisungen (Normen) und die Bereitschaft zum Befehlsempfang wird in der Sozialisation erworben und in der entfremdeten Arbeit täglich reproduziert. Gewaltförmigkeit von gesellschaftlichen Beziehungen erschöpft sich keineswegs in der Ausübung unmittelbar physischen Zwanges. Wesentlich häufiger und wichtiger ist die kalte Gewalt der Verhältnisse, der >Sachzwängeinstrumentaler< Handlungen, so tritt ideologische Gewalt in Form von Sprache auf: Kommunikationshandlungen stellen unter den Bedingungen von Herrschaft schlicht Ausübung von Gewalt dar. Als typischer kommunikativer Akt in der Klassengesellschaft wird der Befehl angesehen im Sinne einer symbolvermittelten Ausübung von Gewalt zum Zwecke der Unterwerfung und Steuerung fremden Bewußtseins. Die Gewaltträchtigkeit aktueller Befehlshandlungen wie internalisierter Verhaltens- und Einstellungsmuster scheint auf in der expliziten oder impliziten Androhung von Sanktionen durch den Befehlsgeber bzw. in den verkümmerten oder zer9
Schumann, H.-G. (1970), 169 19
störten Symbolformationen des unter Zwang agierenden Individuums. Sprache tritt in doppelter Weise als Mittel von Herrschaft auf: als aktueller Befehl, als direkt oder indirekt ausgesprochene Handlungsanweisung und als Norm, die Individuen in Form von Verhaltensmustern, Erwartungen und Einstellungen zu ihren Handlungen disponiert. In einer Gesellschaft, die durch Herrschaft der Minderheit über die instrumentalisierte Mehrheit gekennzeichnet ist, dürften, vor allem im Bereich des öffentlichen LebensVertretenen< und ihren >Vertreternökonomischen< Gründen wird versucht, die gewaltsame Auseinandersetzung zu meiden. Deshalb treten an die Stelle gewaltsamer Mittel sprachliche: im Vorfeld möglicher gewaltsamer Auseinandersetzungen werden Möglichkeiten der Situationsänderung durchgespielt, >ventiliertdie anderen< sich auf diese Beschreibung einlassen und dann eine >Verortungneuen< Situation einläßt. Die Handlungen des Siegers können leicht als Konsequenzen erzielter argumentativen Einigung ausgegeben werden. In einer Situation der Schwäche kann Gesprächsbereitschaft dagegen schon der Kapitulation gleichkommen. Ohne Möglichkeiten des Abbruchs der Kommunikation ist das Funktionieren politischen Sprechens nicht zu begreifen. Ist Sprache als Medium politischer Auseinandersetzung angenommen, bewegt sich der weitere Kampf um sprachliche Durchsetzung von Orientierungskategorien bzw. um Mobilisierung bereits herrschender, legit i m e n Orientierungsschemata für die eigene Sache.
2.2
Ideologiesprache
Hans-Gerd Schumann hat den Begriff von der >ideologischen Handhabung der Sprachefreien WerbungPluralismus< in demokratischen Staatsgebilden wird auf die >Herrschaft der Verbände< aufmerksam gemacht. Verbände sind also ebenso wie Parteien Faktoren der politischen Willensbildung. Ihnen als Interessengruppen und den Massenkommunikationsmitteln wird eine wichtige Funktion bei der Vorformung des politischen Willens zugeschrieben. Indem sie auf Regierung und Verwaltung Einfluß nehmen, arbeiten sie mit an der politischen Willensbildung. Parteien und Verbände sollen bzw. müssen ebenso wie Regierung und Verwaltung ihr Handeln öffentlich vollziehen, d.h. allgemein erfahrbar machen, wodurch eine Kontrolle durch die Bürger ermöglicht wird. Öffentlichkeit hat nach Habermas einen Strukturwandel erlebt.35 Im liberalen und bürgerlichen Zeitalter gab es ein Abbild des liberalen Modells bürgerlicher Öffentlichkeit, die die Gesellschaft als Sphäre privater Autonomie garantierte. In Konfrontation mit dieser Gesellschaft stand eine bis auf wenige Funktionen limitierte öffentliche Gewalt. Zwischen beiden existierte der Bereich der zum Publikum versammelten Staatsbürger, ein räsonierendes Publikum mit kritischer Einstellung gegenüber dem Staat. Aus diesem Publikum hat sich jedoch eine Politik, Kultur und Probleme konsumierende Masse entwickelt. Der einzelne gehört in seiner politischen Position einem Zwischenbereich zwischen Gesellschaft und der Herrschaftsorganisation des Staates an, der sich schwer definieren läßt. Öffentlichkeit existiert an sich nicht mehr, sondern kann nach Bedarf periodisch hergestellt werden. 36 Wie ist aber diese Herstellung von Öffentlichkeit zu bewerkstelligen? Die Möglichkeiten dafür bieten die Massen- und Werbemedien, die die Meinungen einzelnen Gruppen im Räume der Öffentlichkeit, d.h. auf der Zeitungsseite, im Fernsehspot, in der Wahlillustrierten usw. präsentieren. Präsentieren politische Gruppen nicht ihre Meinung in dieser Öffentlichkeit und liest und hört man nichts von ihnen, so existieren sie nur für ihre Funktionäre und Mitglieder. Aus diesem Öffentlichkeitsgrundsatz, aus diesem Öffentlichkeitsanspruch entwickelt sich der Werbegrundsatz, die Werbenotwendigkeit. In die Öffentlichkeit wirken, heißt noch lange nicht, den Willen des Bürgers bewegen wollen. Aber dieses >den Willen des Bürgers bewegen wollen< ist 35 36
Habermas, J. (21968) Abromeit, H. (1972), 49 37
notwendig für den Bestand von Gruppierungen mit einheitlichen und weitgehenden einheitlichen Vorstellungen. Bestünde die Möglichkeit politischen Werbens nicht, so erstürbe wohl alles in kleinen konspirativen Gruppen, die zur Durchsetzung ihrer Interessen zum Terror, zur Erpressung und Bestechung als den anderen Mitteln der Beeinflussung greifen müßten. Der von Habermas erkannte Strukturwandel der Öffentlichkeit hat diesen Werbezwang bewirkt. Aus den losen politischen Vereinigungen des liberalen Zeitalters wurden die heutigen Parteien und Verbände, die sich an alle Staatsbürger wenden und mit Hilfe moderner Methoden systematischer Werbung diese für sich zu gewinnen versuchen. Außer diesen organisierten Gruppen, außer den Regierungen und Verwaltungen, operieren auch spontane oder lose Gruppierungen (Bürgerinitiativen etc.)37 zur Durchsetzung ihres politischen Willens mit Werbemethoden, wenn sie es nicht von vornherein auf Gewaltmaßnahmen zur Durchsetzung ihrer Ziele abgestellt haben. Im Wettbewerb, dem den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften zugrundeliegenden Strukturprinzip, geht es darum, Ideen, Auffassungen, Ziele trotz vieler Angriffe der konkurrierenden Gruppen zu präsentieren. Die Notwendigkeit, aber auch die Freiheit der Auseinandersetzung in demokratischen Staatssystemen, formen Willensdurchsetzung, formen Politik zum mehr oder weniger friedlichen Wettstreit, zum verbalen Kampf um die Macht. Um an die Öffentlichkeit zu gelangen, wird im politischen Raum mit Werbetechniken gearbeitet analog denen, die im wirtschaftlichen Raum erfolgversprechend erscheinen. Zu den klassischen Werbetechniken treten hinzu die indirekten, die Methoden der Public Relations, der Versuch, sich >eine gute Presse< zu verschaffen durch Einwirkung auf die Massenmedien bzw. durch das Präsentsein in ihnen (Presseartikel über die Parteien; Berichte von Parteitagen; Auftreten der Repräsentanten; Interviews etc.).38 Hier kommt es darauf an, einen aktivierenden Charakter gegenüber der allgemeinen Information zu erreichen, aufzuzeigen, wer hinter gewissen Ideen steht, wer sie vertritt, für ihre Durchsetzung einzustehen bereit ist. Während die Wirtschaftswerbung in bestimmten Bereichen eingeschränkt ist, z.B. durch das Verbot der vergleichenden Werbung, kennt die politische Werbung solche Schranken nicht. Die Herabsetzung der Konkurrenz durch Kritik an deren Leistungen, auch oft an den persönlichen Verhältnissen ihrer Repräsentanten, ist üblich. Über Mitteilungen von diesen persönlichen Verhältnissen der Repräsentanten, über den positiven oder negativen Aufbau von Images, kann es dem Bürger sogar ermöglicht werden, Einblicke in die Interessengruppierung selbst zu erhalten. Allerdings liegen hier auch Gefahren, wenn dieses Aufzeigen in persönliche Verunglimpfung oder gar in Rufmord ausartet. Die Wirtschaftswerbung arbeitet vor allem mit den Mitteln des kontrollierten Grundreizes, d.h. mit einer unter die Haut gehenden Provokation 37 38
38
Schenk, M. (1982) Lang, H.-J. (1980)
der latenten Wünsche, Hoffnungen und Ängste der Massen. Wie schon ausgeführt, bauen die Individuen von früher Kindheit an Ordnungsvorstellungen auf, finden zuerst in den Eltern, dann in den Repräsentanten des Staates Garanten und Gewährleistende für Schutz und Recht. Diese stetig aufgebauten Erwartungen nutzt die Werbung, indem sie Idole bzw. Kommunikatoren anbietet, die zur Identifizierung analog den Eltern einladen, oder aber extreme Kontrastfiguren, die als Gefahren für Ordnung, Sicherheit und Recht aufgebaut werden. Auf der einen Seite wird versucht, Gelegenheit anzubieten für das Erleben angstfreier Situationen und Omnipotenzgefühle, indem eine aggressionsfreie, von Pflichten befreite und lustvolle Welt zur Identifizierung einlädt und die auftretenden Figuren die Aura der Macht besitzen. Wo Identifikationshilfe angeboten wird, da droht aber zugleich bei deren Ablehnung die soziale Isolation. Die von den frühen Erlebnissen ausgehenden irrationalen Vertrauensbeziehungen versuchen die Werber von den Umworbenen auf die für ihre Klientel stehenden Präsentationsfiguren zu übertragen. Dieses unbewußte Übertragen von Wünschen und Idealvorstellungen führt auch häufig dazu, daß die Umworbenen Idealvorstellungen ihrer selbst in die Kommunikatoren verlegen, daß sie diese nicht mehr auf ihre Aussagen hin überprüfen, sondern alles unreflektiert akzeptieren. Bei der Übertragung dieser Werbemechanismen auf die politische Werbung sind noch einige Voraussetzungen zu berücksichtigen: In den heutigen demokratischen Gesellschaftssystemen sind die werbenden Parteien, Verbände oder sonstigen Gruppierungen weitgehend systemimmanent, unterscheiden sich nur in gradueller Abstufung in ihren Programmen und Zielsetzungen, identifizieren sich weitgehend mit dem Staat und vertreten häufig ein Status-quo-Interesse. Da es keine ständigen Abgrenzungsnotwendigkeiten gibt, konzentriert sich die werbliche Auseinandersetzung überwiegend auf die Zeit des Wahlkampfes,39 Dieser wiederum dient hauptsächlich der Bestärkung und Intensivierung bereits vorhandener Einstellungen, der Aktivierung schon gewonnener Anhänger und nicht zuletzt der Rationalisierung der Wahlentscheidung des vorentschiedenen einzelnen vor sich selbst. Wahlsoziologische Untersuchungen bestätigen immer häufiger, daß die Mehrzahl der Wähler politisch uninteressiert ist, politische Information, wenn überhaupt, nur selektiv aufnimmt, in der Wahl nach Gewohnheit der Familie oder Gruppe entscheidet oder sich von unpolitischen Kriterien leiten läßt. Ursachen für diese Indifferenz und Verbraucherhaltung sind ein Mangel an persönlicher Betroffenheit, eine antizipierte und reale gesellschaftliche Hilflosigkeit, eine durch die Personalisierung der Politik gestärkte Undurchschaubarkeit der politischen Geschehnisse.
39
Wolf, W. (1980); Radunski, P. (1980); Ellwein, T. (1980); Räder, H.-G. (1978) - Vorzügliche Zusammenstellung von Werbematerialien und Analyseanleitungen in Praxis Deutsch 18/1976.
39
Die Beauftragung kommerzieller Werbeagenturen führt zu einer Angleichung der politischen an die Markenartikelwerbung, wobei der Aufbau der Partei- oder Politiker-Images sich auf die Ansprache der gleichen Wünsche und Antriebe der Menschen richtet wie der beim Aufbau von Marken-Images. Die Gruppenziele werden personifiziert. Stars im Sinne der Unterhaltungsindustrie kopieren deren Auftretensformen und Gehabe. Auftritte werden sorgfältig organisiert, um gewünschte Anknüpfungspunkte an Show- Effekte zu erreichen. Die Funktion der Personalisierung richtet sich auf die Idealisierung der im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehenden politischen Personen zu Führerfiguren, ja zu Übermenschen. Die Politik ihrerseits wird zu >vermenschlichen< versucht, indem moralische Kategorien statt der argumentativen stehen. Politische Probleme und Punkte der Auseinandersetzung werden transformiert in allgemein zwischenmenschliche. Damit wird vor allem versucht, Wellen der Sympathie und des Wohlwollens für die zu Wählenden auszulösen. Andererseits führt das Verdrängen von Information und Argumentation, das Belassen der Angesprochenen in einem allgemeinen diffusen Gefühlsbereich, zu Unsicherheiten. Die Verbindung glanzvoller Darstellung des Erreichten mit dem abstrakten, dem irrationalen Appell an die Sorge vor ungewisser Zukunft kann das Bestreben nach Festhalten am status quo verstärken. Die Diffamierung bestimmter Repräsentanten oder Gruppen dient der Ablenkung eventuell aufkommenden Unbehagens am status quo nach außen und der Neutralisierung innerhalb der eigenen Gruppierung. Generell kennzeichnet die Inhalte der Wahlwerbung ein Zurücktreten des Programmatischen, in dem sich das Wollen einer Partei oder Gruppierung konkretisieren würde und das einen Maßstab zur Bewertung abgeben könnte. 40 Die Ziele werden global dargestellt, bleiben vieldeutig. Sachliche Konflikte werden ausgeklammert zugunsten von abstrakter Kritik und Diffamierung des Gegners. Die ideologische Massensteuerung durch die politische Werbung tendiert nicht mehr auf das Überreden- oder Überzeugenwollen durch weltanschauliche Parolen, sondern auf die Präparierung und Zurichtung einer von früh auf formierten Mentalität. Damit entfällt auf Seiten der Adressaten weitgehend die Möglichkeit zur politischen Alternative. Ideologie wird so der gar nicht reflektierte Mentalitätsunterbau gleichgeschalteter Individuen, die einmal institutionalisiert, ihre ihnen als Konsumenten, Wähler oder Familienväter zugedachte Funktion in der Gesellschaft blind vollziehen. Die sprachliche Mitteilung auf dieser genannten werblichen Basis wird organisiert mit Hilfe einer eingeschränkten Variation von Sprachhandlungstypen. 41 Vorherrschend sind Empfehlungs- (»Wählen Sie die Freien Demokraten!« analog »Genießen Sie LORD EXTRA!«), Behauptungs- (»Wir schaffen die alten Zöpfe ab! F.D.P.« analog »Badedas befreit vom Alltag!«), Präskriptions- (»Die deutsche Frau wählt Hitler!« analog »Männer wollen Spiee!«), Versicherungs- (»Wir kämpfen für die internationale Abrüstung!« 40 41
40
Abromeit, H. (1972), 100 Vgl. Strauss, G. (1986), 45ff.
analog »REXONA läßt Sie nicht im Stich!«), Beurteilungs- (»Wir haben die r i c h t i g e n Männer!« analog »SILAN spült w u n d e r b a r weich!«) und Präsentationshandlungen (»CSU - d i e Partei für alle!« analog »Vernell - d e r große Weichspüler!«). Der Grund für diese Restriktion liegt darin, daß die Werbesprache die Bedingungen für den erfolgreichen Vollzug bestimmter Sprechhandlungen nicht erfüllen kann, nämlich Ernsthaftigkeit und Wahrheitsverpflichtung. Außerdem sind diese wenigen Varianten ausreichend für die notwendig oberflächlichen Beziehungen zwischen Werbe-Kommunikator und Wahlvolk, denn eine echte Partnerschaft findet sich nicht in dieser Kommunikationsstruktur. Performative Verben oder situationsbezogene Referenzmittel finden keine Verwendung, denn der Werbekommunikator spendet zwar die vom Empfänger gewünschten Entscheidungshilfen, wird dabei aber nicht als jemand erlebt, der eine Abhängigkeitsbeziehung zu sich herstellen möchte. Ebenso behauptet der Werber nie explizit die allgemeinen Voraussetzungsbedingungen, z.B. persönliche Bekanntschaft, Einschmeichelei, Herstellung einer Vertrauensbeziehung, Befriedigung der Erwartungen von Schutz und Hilfe, die für seine Strategie von wesentlicher Bedeutung wären. Durch die Verschmelzung von Selbst- und Objektvorstellung und durch mangelnde Trennung von Ich und Nicht-Ich verfällt der Empfänger total der strategisch geplanten Werbung. Er kann die Realität nicht richtig einschätzen und ist daher auch nicht fähig, die Aussagen und Voraussetzungsbedingungen zu bezweifeln oder zu widerlegen. Widerspruch und Mißtrauen werden dadurch unmöglich. Durch die Allgemeinheit und Offenheit der Aussagen gibt sich der Werbekommunikator als beinahe allwissend, weil ein Aspekt Antwort nahezu auf alle Fragen in seinen Aussagen vorhanden ist. Zudem sind die Aussagen durchgehend mit zeitenthobenen Referenzen ausgestattet, so daß immer noch die Möglichkeit offengehalten wird, sie wenn nicht auf die Gegenwart, so doch auf eine unbestimmte Zukunft beziehen zu können. Da der Werber seine Sprachhandlungen nicht explizit äußert und begründet, bedient er sich des außersprachlichen Symbolkontextes als visuellen Beweismittels. Politische Werber begründen selten in einem Sprachhandlungsvollzug die Wahrheit der Aussage, indem sie sie begründend behaupten oder als Meinung vertreten und für sie einstehen. Ihre Aussagen versichern sie meist, indem sie mit ihrer Autorität oder Pseudoautorität für ihren Wahrheitsgehalt zu bürgen scheinen. Werden die Aussagen nun aber bezweifelt, so wird dadurch auch die Autorität und damit der Kommunikationspartner angegriffen, was dann zu Reaktionen führen kann wie: Sie glauben mir wohl nicht? Sie bezweifeln meine Versicherung? Sie nehmen mich nicht ernst? usw. Akzeptiert der Angesprochene diese Reaktion, so nimmt er damit das Autoritätsgefüge für den weiteren Verlauf des Gesprächs als dominierend und verbindlich an. Auf der genannten kommunikativen Grundlage stellt sich Werbekommunikation nicht als ein auf Regeln beruhendes, überprüfund einklagbares Beziehungsgefüge dar, sondern als verzerrte Kommunikation, die dem bloßen Transport von Schlüsselreizen dient. 42 42
Gast, W.; Jacoby, K.; Wachtel, M. (1982); Goldberg, H.-P. (1985)
41
2.3.2 Agitation und Propaganda Konträr zu der für fortgeschrittene kapitalistische Gesellschaften festgestellten weitgehenden Entpolitisierung der Öffentlichkeit müssen wir für totalitäre Gesellschaften eine Ideologisierung der Öffentlichkeit in einem Ausmaß feststellen, daß alle Geschehnisse, selbst die des täglichen Lebens, politische Färbung erhalten. Als Teil einer allgegenwärtigen politischen Totalität >partizipiert< das Individuum am politischen Geschehen, bleibt jedoch politisch ohnmächtig. Allgegenwärtig sind in solchen Systemen Agitation und Propaganda. In den Gesellschafts- und Kommunikationstheorien kapitalistischer Staaten spielt der Begriff der Agitation kaum eine Rolle; die Definitionen bleiben deshalb auch völlig unscharf. Agitation wird gesehen als kämpferische Methode der Werbung. Sie sei laut und radikal und versuche, »durch die Verneinung des fremden Werbeinhaltes dem eigenen zum Siege« 43 zu verhelfen. Die Verneinung besitzt insofern eine große Schlagkraft, weil sich die Menschen meist nur in der Ablehnung eines gegenwärtigen Zustandes einig, während sie über den Weg, der zu einer positiven Lösung führt, in der Regel jeweils verschiedener Ansicht sind. Deshalb bevorzugt der Agitator vornehmlich die Negation, hütet sich vor allem auch, konkrete Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Zudem liegt in der entrüsteten Ablehnung und einer daraus abgeleiteten allgemeinen Forderung ein vorwiegend emotionales Element. Eine aufbauende und wegweisende Kritik dagegen stellt an die Denktätigkeit und Urteilsfähigkeit der Angesprochenen gewisse Ansprüche. Erstes Erfordernis der Agitation ist aber das Bewegen über die Emotion. Der Agitator will Glauben erzeugen, wünscht und braucht eine fügsame und willenlose Masse und kann mit einem kritischen Publikum nichts anfangen. Sprachlich kommt es zu einer Überbetonung der Form. Mit wohlgesetzten Texten und selbstsicherem Vortrag wird versucht, die vagen Inhalte zu überdecken. Für die Art und Methode, mit der Agitation betrieben werden kann, stehen Analysen aus den USA: »Der Agitator arbeitet und argumentiert mit Täuschungen, Betrügereien, Listen, Tücken, Ränken, die er gewinnend vorträgt oder die sich wie die Faseleien eines Irren anhören. Alles beruht auf stereotypen, schemahaften und immer wiederholten Beweggründen, die die Konstanten der Agitation sind. Der Agitator versucht die sozialen und psychologischen Spannungen zu erkennen; er richtet seine agitatorischen Ergüsse direkt in die so prädisponierte und aufnahmebereite Empfänglichkeit seines Auditoriums. Der Agitator trägt seine Thesen mit einer beherrschten Frivolität vor, seine Äußerungen sind oft zweideutig, dunkel, mißverständlich. Man kann ihn nicht irgendwie festnageln; er ist oft unseriös, obwohl er sich mit sehr ernsten Fragen befaßt«. 44 Agitatoren werden hier »Propheten der bewußten Täuschung und Betrügerei« genannt. Für die deutsche Vergan43 44
42
Schultze-Pfaelzer, G. (1923), 79 Loewenthal, L., Gutermann, N., Prophets of Deceit. A Study of the Technique of the American Agitator, New York 1949 (zit. Hundhausen, C. (1975), 24)
genheit werden Hitler »und der ihm hörige Josef Goebbels« als typische Agi-~ tatoren herausgestellt, wobei Goebbels sich zum Propagandisten entwickelte. 45 Hitler, der der festen Überzeugung war, daß Deutschland den 1. Weltkrieg deshalb verlor, weil die Deutschen propagandistisch versagt hatten, unterschied zwischen totalitärer Propaganda .und Propaganda im totalen Staat. Totalitäre Propaganda hat die Machtergreifung durch »Zersetzung des bestehenden Zustandes« und die gleichzeitige »Durchsetzung dieses Zustandes mit der neuen Lehre« vorzubereiten. Sie soll die politischen Gegenkräfte lähmen und das Volk für den Sieg der Idee reif machen, »während die Organisation den Sieg erficht«. Totalitäre Propaganda ist deshalb ein entscheidendes Mittel zur Niederringung des Gegners und zur Eroberung von Macht und Herrschaft. 46 Dabei standen bei Hitler und Goebbels die Ziele fest, die man erreichen wollte. Die Taktik wurde dagegen den Bedürfnissen angepaßt. Wurden die Sowjets in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg von der NS-Propaganda als Wegelagerer und Verbrecher beschimpft, so wurden aus ihnen zwischen dem 22. August 1939 und dem Einfall in die Sowjetunion über Nacht Waffenbrüder. Der Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes in Moskau ließ die NS- Propagandisten die Freundschaft der beiden Völker verkünden, die sich wiedergefunden hatten. 47 Wahrheit und Wirklichkeit spielen keine Rolle. Die »Richtigkeit ist ausschließlich zu messen an ihrem wirksamen Erfolg.« 48 1937 hatten die Nationalsozialisten bereits Probleme mit dem Propagandabegriff. Das Reichspresseamt erließ am 28.7. die Anweisung: »Es wird gebeten, das Wort >Propaganda< nicht mißbräuchlich zu verwenden . . . Es gibt also keine >Greuelpropagandaviele Ideen< geben, dermaßen viele, daß alle Ideen in ihrer Gesamtheit auf der Stelle nur von (verhältnismäßig) wenigen Personen angeeigent werden. Der AGITATOR dagegen, der über die gleichen Fragen spricht, wird das allen seinen Zuhörern bekannteste, hervorstechendste Beispiel wählen, z.B. den Hungertod einer arbeitslosen Familie, die Zunahme des Elends usw. - und er wird alle seine Bemühungen darauf richten, von dieser allbekannten Tatsache ausgehend, der Masse seine Idee zu vermitteln: die Idee von der Sinnlosigkeit des Widerspruches zwischen dem Zunehmen des Reichtums und dem Wachstum des Elends; er wird bemüht sein, in der Masse Unzufriedenheit und Empörung hervorzurufen, aber diese restlose Analyse dieses Widerspruchs wird er dem Propagandisten überlassen.« 52 So wird die Agitation als schlagwortartige und prägnante Ansprache der breiten Massen betrachtet, die Propaganda jedoch 51 52
44
Lenin, W. J. (1929), 6 Ebd., 33
als Aussprache auf h ö h e r e m Niveau, die in erster Linie zur Kaderbildung und zur Beeinflussung der Parteimitglieder dient. Obwohl es sicher Überschneidungen gibt und ein Propagandist oft gleichzeitig Agitator sein kann, gilt eine simple Gleichung: Propaganda = Schulung (»Propaganda soll die kommunistische Lehre, die Theorie des Marxismus-Leninismus verbreiten«), Agitation = Aktivieren (»Agitation soll die Massen . . . zu direkten und konkreten Aktionen aufrufen«). 5 3 Propaganda hat die Erziehung eines Volkes im Geiste einer Ideologisierung oder Indoktrination als Bewußtseinsumbildung zu leisten. Und schon 1841 wies Heinrich Heine besorgt darauf hin, d a ß die »Propaganda des K o m m u n i s m u s . . . eine Sprache« besitze, »die jedes Volk versteht: die Elemente dieser Universalsprache sind so einfach, wie der H u n ger, wie der Neid, wie der Tod.« 5 4 I n n e r h a l b totalitärer Herrschaftssysteme werden sämtliche Lebensbereiche und - z u s a m m e n h ä n g e in Staat und Gesellschaft in ihrer Komplexität zentral gesteuert. Die Prinzipien der Herrschenden werden f ü r absolut erklärt. Die Macht wird total gestaltet, d.h. auf sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausgebreitet. Folge dieser Eigenart ist, daß kein N e b e n e i n a n d e r von Machtzentren geduldet und, falls noch vorhanden, vernichtet wird. Jede Konk u r r e n z der Werte und der Meinungen wird aufgehoben. Das Bewußtsein der Beherrschten wird im Sinne der Ideologie manipuliert. Gegenreaktionen werden durch Terror u n t e r b u n d e n . Ziel ist die ständige und sich auf alles erstreckende Beherrschung des einzelnen Menschen, eine Beherrschung, die durch ständige U m f o r m u n g des noch nicht Beherrschten und ständige Schulung des schon Beherrschten erfolgen kann. Der totalitäre Staat darf seine Bürger nicht den persönlichen Meinungen, S t i m m u n g e n und A f f e k t e n überlassen, sondern er m u ß diese bewußt bilden, steuern u n d gegebenenfalls verändern. Kritik ist unerwünscht, was dadurch erklärt wird, d a ß alle aufgetretenen Schwierigkeiten durch Verhältnisse der k a m e r a d s c h a f t l i c h e n Zusammenarbeit< beseitigt werden können. Unpolitische Fragen betreffende gelenkte Kritik und Selbstkritik dienen teilweise als Ersatz f ü r öffentliche Meinung, haben aber nicht deren Bedeutung. Alle totalitären Staaten sind bestrebt, sämtliche Propagandamittel in ihre H a n d zu b e k o m m e n und deren L e n k u n g zentral zu steuern. Dazu gehören vor allem die Massenkommunikationsmittel, aber auch Film, Theater, Musik, bildende Kunst, Bildungs-, Rechts- und Verwaltungsbereiche, A r m e e usw. 55 A n d e r e Informationsmöglichkeiten werden von den zu ideologisierenden Individuen fernzuhalten versucht, wobei sich die Wirkungen der Eigenpropaganda steigern, w e n n dieses Abschneiden von anderen Informationsquellen sich über längere Z e i t r ä u m e erstreckt.
" S c h ü t t e , M. (1968), 23 54 H e i n e , H., Lutetia, In: Sämtliche Schriften, Bd. 5, 1974, 375 55 Abel, K.-D. (1968); Balle, H. (1963); Bramsted, E.K. (1971); Diel, H. (1960); Frind, S. ( 1 9 6 4 ) ; H a g e m a n n , J. (1970); Storek, H. (1972). - Dasbach-Mallinckrodt, A. (1971); Picaper, J.-P. (1976); Richert, E.; Stern, C.; Dietrich, P. (1958); Riedel, H. (1977)
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Propaganda im totalitären Staat kann keine willkürlichen Ziele wählen, sondern muß solche verfolgen, die seinen Bestand sichern helfen. Die Einwirkungen auf das Individuum werden als Erziehungs- bzw. Umerziehungsprozesse gesehen, die sich über den gesamten Lebenszeitraum erstrecken. Im Dienst einer solchen Erziehung bzw. Umerziehung hat Propaganda drei Aufgaben: »Sie muß erstens zum Erwerb von Wissen führen, von sachlichen Orientierungen in den Erscheinungen und Gesetzmäßigkeiten der Realität. Sie muß zweitens führen zur Aneignung damit zusammenhängender Haltungen, Einstellungen, Motivations- Strukturen, die die Stellungsnahmen der Menschen zur Wirklichkeit wesentlich mitbedingen. Schließlich muß sie, drittens, den Erwerb von Handlungen und Verhaltensweisen selbst anzielen.« 56 Das Endziel der totalitären Propaganda ist, daß der Bürger sich dem Machtanspruch des Systems nicht unter dem Druck des Terrors unterwirft, sondern diesen aus innerer Zustimmung, also >selbstgewollt< bejaht. Auch Gleichgültigkeit ist unerwünscht. Trotzdem wird wohl ein totales Durchdringen der Ideale und damit der Ideologie nicht zu erreichen sein, denn Kräfte lösen notwendigerweise stets Gegenkräfte aus. Insofern ist der Erziehungs-, der Umerziehungs-, der Indoktrinationsprozeß ein nie abgeschlossener. Macht muß stets erneuert werden, und die Propaganda wird immer, wie Hitlers Reichssendeleiter Hadamowsky es ausdrückte, »Wille zur Machtwerdung« bleiben. 57 Totalitäre Propaganda muß erkannt werden als »ideologische Überwältigung des Menschen.«5* Entscheidend für sie ist ihre Glaubwürdigkeit, die als »subjektiv zureichendes Fürwahrhalten« im Sinne Kants zu kennzeichnen ist.59 In der Literatur zur Propaganda wird aber zur Frage der Glaubwürdigkeit vorausgesetzt, daß sie >wahr< sein müsse. Dazu Georg Klaus: »Ziel der Politik ist nicht primär die Gewinnung wahrer Aussagen über politische Sachverhalte. Das eigentliche Ziel der Politik ist vielmehr, Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen zu veranlassen, um bestimmte Klasseninteressen durchzusetzen. Die politische Sprache und die Sprache der Agitation dienen also nicht in erster Linie der sprachlichen Formulierung wahrer Aussagen, sondern der Beeinflussung des Bewußtseins der Menschen, an die sie sich wenden, und zwar mit dem Ziel, diese zu einer bestimmten Verhaltensweise zu veranlassen bzw. die Wahrscheinlichkeit einer solchen Verhaltensweise zu vergrößern . . . Der Sozialismus ist seit der Urgemeinschaft die erste Gesellschaftsordnung, in der Lüge und Täuschung aus dem Verkehr der Menschen verwiesen werden. Es sind aber zugleich fundamentale wissenschaftliche Gründe. Wird eine wahre Aussage als Aussagesatz formuliert und dieser in einer politischen Rede, als Stück einer Agitation benutzt, so wirkt er auf das Bewußtsein bestimmter Menschen ein, erzeugt 56 57 58
59
46
Hiebsch, H. (1964), 7 Hadamowsky, E. (1933). Vgl. Scheel, K. (1970); Schwipps, W.; Goebel, G. (1971) Stammer, O., Demokratie und Diktatur, in: Politische Soziologie und Demokratieforschung, Fs.f. O. Stammer, Berlin 1965, 201 Hundhausen, C. (1975), 14, 94
im günstigsten Fall - die gewünschten Appraisoren und Preskriptoren, und damit schließlich auch das gewünschte Handeln der Menschen. Damit ist der Prozeß nicht abgeschlossen, denn wenn er auf Grund einer falschen Aussage einsetzt, entdecken die Menschen schließlich und endlich, daß ihr Handeln in Widerspruch zur objektiven Realität gerät. Sie werden nach den Ursachen suchen und dann, wenn sie wissenschaftlich geschult sind (z.B. die marxistische Theorie begriffen haben), entdecken, daß ihr Handeln falsch war, weil der Ausgangspunkt, die Aussage, die zu dem bestimmten Aussagesatz usw. führte, einen Sachverhalt meint, der von dem tatsächlichen Sachverhalt verschieden ist . . . Wahre Aussagen setzen sich . . . schließlich und endlich durch, wobei dieser Prozeß außerordentlich mühselig sein kann und erst im Verlauf einer langen politischen Entwicklungsgeschichte zum Ziel gelangt.« 60 Weiter ist für Agitation und Propaganda wichtig die Parteilichkeit. »Der Agitator, der Politiker ist immer parteilich«, sagt Georg Klaus. »Parteilichkeit in der Agitation und Propaganda erfordern vom fortschrittlichen Agitator, z.B. aus der Menge der zur Verfügung stehenden wahren Aussagen diejenigen auszusuchen (auszusondern, auszuwählen), die die wesentlichen Zusammenhänge, Entwicklungsgesetze und -tendenzen ins Bewußtsein rücken und damit den Interessen der fortschrittlichen Partei optimal dienen . . . Die Wahrheit ist weder parteilich noch unparteilich, und ebenso sind Aussagen und Aussagesätze weder parteilich noch unparteilich. Parteilich ist der Gebrauch, den wir von diesen Sätzen machen, parteilich ist die Art und Weise der Auswahl von Aussagesätzen aus der Menge der vorliegenden Aussagesätze.« 61 Die Folge solcher Aussagen ist, daß die vertretene Doktrin oder Lehre in einer apodiktischen Dialektik als unumstößlich und als wahr erklärt wird, daß man ihr wissenschaftlich abgesicherte Aussagekraft zudiktiert, und dieser Festlegung haben sich alle emotionalen Regungen des Denkens zu unterordnen. Wichtigste Methode der Propaganda ist die der Selektion aus einer Fülle von Nachrichtenmaterial, wobei diese Selektion nach dem Schema schwarzweiß verfährt. Das selektierte Material ist auf den einfachsten Nenner zu bringen nach der Regel: Verlange vom Publikum das Minimum an geistiger Anstrengung. Deshalb bedarf es des starken Pathos in der Aussageweise, des Superlativischen, 62 der sprachlichen Verkürzung, der stereotypen Formeln,63 der Banal-, Trivial- und Leerformeln, der Klischees, der Schlagwörter, der Slogans usw. Als bekannteste Losungen von Sozialisten und Kommunisten sind etwa herauszustellen: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« »Friede den Hütten, Krieg den Palästen!« 60 61 62 63
Klaus, G. (1971), 193ff. Ebd., 197 f. Kinne, T.-M. (1973) Stötzer, G. (1970) 47
»Es lebe die R e v o l u t i o n des d e u t s c h e n Proletariats!« » A u f z u m Klassenkampf!« »Krieg d e m Kriege!« »Fort mit der Heuchelei des Burgfriedens!« » S c h l u ß mit Kapitalismus und H o h e n z o l l e r n , mit Polizeibütteln und Junkertum, mit Krieg und Hungersnot!«
2.3.3 Gesteuerte K o m m u n i k a t i o n Gesteuerte K o m m u n i k a t i o n tritt gewöhnlich in politischen Systemen auf, in denen alle sozialen und wirtschaftlichen Institutionen e r k l ä r t e r m a ß e n den Interessen einer Partei oder einer G r u p p e u n t e r w o r f e n sind. Totalitäre Systeme manipulieren bewußt Sprache u n d D e n k e n mittels rigider Kontrolle der Bildungseinrichtungen und Massenmedien. Orwell hat im A n h a n g zu seiner Utopie >1984< ein Beispiel f ü r eine total gelenkte Sprache vorgeführt. In dieser hat ein Wort wie >frei< z.B. keine geistige, ethische oder politische Bedeutung mehr, es verbindet sich damit vielmehr nur noch der Sinn »frei von Flöhen oder von U n k r a u t « . Das Konzentrationslager heißt >LustlagerFriedensministerium< (>Minipaxministerium pacisc). Ein Wort wie Menschenrechte läßt sich in dieser Sprache ü b e r h a u p t nicht m e h r übersetzen. Es k ö n n t e nur noch wiedergegeben werden durch >VerbrechdenkVerbrecherdenkweise< lauten würde. Hier bei Orwell haben wir zwar ein fiktives, aber das extremste Beispiel einer Sprach- und K o m m u n i k a t i o n s l e n k u n g , d e n n diese verkürzte Sprache zielt auch auf eine Schwächung der sprachlich- intellektuellen A u f m e r k s a m keit. 64 Reale Beispiele f ü r eine Sprach- u n d K o m m u n i k a t i o n s l e n k u n g haben wir im NS-Staat und in der Deutschen Demokratischen Republik. A b 1933, kurz nach der M a c h t ü b e r n a h m e der Nationalsozialisten in Deutschland, m u ß t e n z.B. Gymnasiasten einen eigens eingerichteten Unterricht besuchen, der die faschistische Ideologie, die politischen Persönlichkeiten des Dritten Reiches u n d die geschichtliche Sendung< der nationalsozialistischen Bewegung behandelte. Ein wesentliches Ziel war, die Schüler mit der regierungsoffiziellen Terminologie vertraut zu machen und »auch bis in die Sprachregelung hinein identische Wertungen der Geschehnisse herzustellen«. Das ideologische Ziel des Unterichts bestand in der Weitergabe festgelegter Interpretationen und Definitionen. 6 5 Die zentrale Kontrolle und Überwachung der Massenmedien lag beim Reichspropagandaministerium. Das Reichspresseamt war f ü r Periodika zuständig, die R e i c h s s c h r i f t t u m s k a m m e r überwachte die Produktion von Büchern u n d Zeitschriften. 6 6 Praktisch sämtliche Publi64 65 66
48
Betz, W. (1960), 85 Müller, C. (1975), 37 Abel, K.-D. (1968); Fischer, H.-D. (1982); H a g e m a n n , J. (1970); Sänger, F. ( 1 9 7 9 ) ; Storek, H. (1972); S ü n d e r m a n n , H. (1973); Toepser-Ziegert, G. (1984ff.)
k a t i o n e n w u r d e n mit d e r offiziellen Ideologie g l e i c h g e s c h a l t e t , wobei das Ziel war, die Publizistik als politisches F ü h r u n g s m i t t e l zu v e r w e n d e n . Selbst akad e m i s c h e P u b l i k a t i o n e n k a m e n nicht u m h i n , sich d e r faschistischen T e r m i nologie zu bedienen. W ö r t e r b ü c h e r und L e x i k a w u r d e n bearbeitet,
indem
m a n Begriffe e l i m i n i e r t e , n e u e einfügte und a n d e r e neu definierte. Diese Ä n d e r u n g e n stellen einen d i r e k t e n E i n g r i f f in den S p r a c h g e b r a u c h dar. In A n o r d n u n g e n des R e i c h s p r e s s e a m t e s w u r d e den >Schriftleitern< in den Z e i t u n gen die V e r w e n d u n g o d e r V e r m e i d u n g v o n Begriffen b e f o h l e n . U r s p r ü n g l i c h >Sprachregelungen
Tagesparolen
des
Reichspressechefsdeutsch-österreichischer Anschluß< soll nicht mehr benutzt werden.« »Es wird gebeten, das Wort >Volkstrauertag< zu ersetzen durch das Wort >HeldengedenktagGefallenen< der Bewegung, sondern immer nur von den >Ermordeten< der Bewegung gesprochen werden. Es soll damit dargetan werden, daß die nationalsozialistischen Kämpfer nicht durch einen ehrlichen Gegner gefallen sind, sondern meuchlings ermordet wurden.« »Eine Zeitung habe wieder geschrieben, daß die Nationalisten 68 >Arbeiter< erschossen hätten. Es müsse, wie man wisse, >Marxisten< heißen.« »Die Reichspropagandaleitung der NSDAP habe für den Bolschewismus das Schlagwort verwendet >Weltfeind Nr. 1Weltfeind Nr. 2< usw. ihre Gegner zu bezeichnen. Die Presse soll diese weitere Verwendung des Schlagwortes nicht aufgreifen.« »Es ergeht die dringende Anweisung, daß ab heute das Wort >Völkerbund< nicht mehr von der deutschen Presse verwendet wird. Dieses Wort existiert nicht mehr.« »Es ist festgestellt, daß das Wort >Kluft< aus dem Hebräischen stammt und in die Gaunersprache übernommen wurde. Die deutsche Presse wird ersucht, statt des Wortes Kluft >Kleidung< zu setzen.« »Die Verwendung des Begriffes >Großdeutsches Weltreich< ist unerwünscht. Letzteres Wort ist für spätere Gelegenheiten vorbehalten.« »In allen Meldungen, Kommentaren usw. muß das Wort >Krieg< vermieden werden. Deutschland schlägt einen polnischen Angriff zurück. Das ist die Devise.« »Es soll in Zukunft nicht mehr von deutschen Flüchtlingen, Evakuierten usw. gesprochen werden, sondern immer von > Rückgeführtem oder >rückgeführten VolksgenossenPlutokratie< zu übersetzen, und zwar wird empfohlen mit >Herrschaft des GeldesKerl< nicht mehr im positiven Sinne zu verwenden. Ein Kerl ist etwas Verächtliches und kann auf Männer wie Churchill usw.
49
10.03.1941
12.05.1941
23.06.1941
14.08.1941
30.09.1941
06.10.1941
15.11.1941
13.12.1941
08.02.1942
16.03.1942 08.03.1943
28.01.1944
angewendet werden, nicht aber auf deutsche Soldaten. Deutsche Soldaten und Mitglieder der Parteiorganisationen sind M ä n n e r . Dies soll sich bis z u m letzten Schriftleiter durchsprechen.« »Die katholische und die evangelische Kirche verfälschen bewußt den Begriff >FührerFührer< sei, bevor die Partei ihn schuf, niemals auf Christus angewandt worden. W e n n dieser Begriffsverfälschung nicht mit aller Schärfe ein Riegel vorgeschoben werde, hätten die Kirchen die Möglichkeit, mit durchsichtiger Perfidie ü b e r h a u p t jeden deutschen Staatsbegriff zu entwerten. Der Staat stehle der Kirche nicht ihre Parolen. Die Kirche solle gefälligst ihre H a n d von seinen Parolen lassen. Jeder, der sich in dieser Weise gegen die geheiligten Staatsbegriffe vergehe, werde zur Rechenschaft gezogen werden.« » D e r Ausdruck Angelsachsen soll nicht m e h r gebraucht werden und in polemischer F o r m auf A m e r i k a angewendet werden. Wir wollen i m m e r noch unterscheiden zwischen der Kriegsclique in USA u n d dem USA-Volk.« »Das Wort >rot< ist zur K e n n z e i c h n u n g des sowjetrussischen Gegners vorerst nicht m e h r zu verwenden. An Stelle des Wortes >rot< kann m a n sagen >die bolschewistische Armee< oder die bolschewistischen M a c h t h a b e n usw.« »Das O K W bittet, in Z u k u n f t den Ausdruck >Kampfflugzeuge< n u r f ü r die deutschen Flugzeuge a n z u w e n d e n und f ü r die feindlichen lediglich >BombenflugzeugeAufklärer< oder >Jagdflugzeuge< zu verwenden.« »Es wird gebeten, stets Leningrad statt Petersburg zu sagen. Es soll auch nicht von sowjetischen A u t o b a h n e n gesprochen werden. Autob a h n e n sind i m m e r deutsch.« »Es soll nicht m e h r von sowjetichen oder von sowjetrussischen Soldaten gesprochen werden, sondern höchstens von >Sowjetarmisten< oder schlechthin von Bolschewisten, Bestien oder Tieren.« »Es ist aufgefallen, d a ß einige Berichte in einigen Zeitungen die Worte >erschießen< oder s t a n d r e c h t l i c h erschießen< ersetzt haben d u r c h >liquidieren< oder >in S o n d e r b e h a n d l u n g nehmenPartisäne< ist nicht m e h r als Bezeichnung f ü r das H e c k e n s c h ü t z e n t u m zu verwenden. Die richtigen Ausdrücke sind: >Stalin-BanditenPlündererRäuberMordbrennerAlliierte< f ü r England, Amerika, C h i n a , Niederländisch Indien usw. ist strengstens verboten. Wir k e n n e n die W i r k u n g dieses Wortes aus dem ersten Weltkrieg und wollen sie nicht m e h r a u f k o m m e n lassen.« » D e r Ausdruck >vaterländisch< ist auch im positiv gemeinten Sinne nicht m e h r zu verwenden.« » D e r Begriff >Parteigenosse< ist nur im Z u s a m m e n h a n g mit der N S D A P zu verwenden, keinesfalls bei Meldungen oder Berichten etwa über die englische Arbeiterpartei, die k o m m u n i s t i s c h e Partei in der Sowjetunion usw.« »Die Presse wird nochmals darauf hingewiesen, d a ß typische jüdischamerikanische Slangausdrücke der Film- und Sportsprache (Beispiel das Wort G a g u n d dgl.) auszumerzen sind.«
Mit solchen Sprachregelungen werden die kommunizierten Nachrichten im Dritten Reich unzweideutig prägnant; subtile Interpretationsabweichungen 50
sind nicht m e h r möglich. Einfache Bezeichnungen erleichtern die Identifizierung von Freund und Feind. W u r d e der russische Soldat als Tier bezeichnet und nicht als menschliches Wesen und wurde dieses Etikett von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert, so sprach im Fall seiner G e f a n g e n n a h m e nichts dagegen, ihn umzubringen. Ähnliches gilt f ü r die amerikanischen Bezeichnungen >gooks< und >dinks< f ü r Vietnamesen, wo es nach Aussagen von Vietn a m v e t e r a n e n durch diese Bezeichnungen psychologisch erleichtert wurde zu töten. 6 7 In unserer Gegenwart finden wir in der D D R eine ähnlich gestörte Kommunikation. 6 8 So bestand nach 1945 dort die Notwendigkeit, aus der faschistischen Zeit s t a m m e n d e Begriffe und Definitionen zu eliminieren, politische und ökonomische Ausdrücke der sozialistischen Ideologie anzupassen. 6 9 Die Regulierung der politischen K o m m u n i k a t i o n wird in der Forschungsliteratur als besser organisiert angegeben als im Dritten Reich. 70 Sprachliche Modifikationen ergeben sich als Resultat von regierungsamtlicher Kontrolle der Massenmedien, der Verlage u n d der Bildungseinrichtungen. Verwaltet wird die Sprache durch ein ausgefeiltes Kontrollsystem, an dessen Spitze die Abteilung f ü r Agitation und Propaganda des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei steht. Gearbeitet wird ebenfalls mit detaillierten Anweisungen, die täglich von der Abteilung an die Vertreter von Presse, F u n k und Fernsehen ergehen. In »Argumentationssitzungen« wird eher befohlen als argumentiert. Bestimmt werden die Schwerpunkte der Berichterstattung (Randu n d Schlagzeilen- Argus), die zu verwendenden Zitate u n d die Sprachregelungen. Freigabescheine f ü r die journalistischen Produkte dienen der Dokumentation der Verantwortlichkeit. Nachrichten und Berichte erfordern eine »einheitliche, parteiliche Form, die die Vorzüge des realen Sozialismus herausstellt und dem Klassenfeind keine Möglichkeit bietet, diesen zu unterwandern«. 7 1 Vor allem bei Nachrichten und bei Berichten über offizielle Veranstaltungen m u ß jeder Artikel damit beginnen, die lange Liste der Funktionäre mit allen Titeln aufzuzählen. Die folgenden A u s f ü h r u n g e n haben sich streng an die von der Organisation und von den R e d n e r n vorgegebenen Formulierungen zu halten. A u c h Leserbriefe werden eingesetzt, u m die Parteim e i n u n g und die Parteibegriffe zu vermitteln. D a n e b e n besteht eine sehr intensive Journalistenschulung und -Überwachung. Seit 1968 hat das Zentralinstitut f ü r Sprachwissenschaft eine wichtige Funktion bei der U n t e r s u c h u n g u n d auch Steuerung der gesellschaftsrelevanten Aspekte des öffentlichen Sprachgebrauchs der D D R . Die ursprünglichen Veränderungen bestanden wie in nationalsozialistischer Zeit im Auslöschen von Wörtern, in der Neudefinition von Begriffen, d e m H i n z u f ü g e n von Lehnwörtern (vorzugsweise aus dem Russischen) und der Schöpfung neuer Begriffe. In der Zwischenzeit 67 68 69 70 71
Mueller, C. (1975), 36ff. Ebd., 49ff. Hecht, G. (1961); Riedel, H. (1977) Reich, H.H. (1968), 333ff. Loeser, F. (1984)
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ist vor allem die semantische Ebene von Begriffen im hohen Maße durch Definitionen und durch einen genau umschriebenen Kontext festgelegt. Selbstverständlich wird auch der Deutschunterricht an den Schulen in den Dienst der Sprachlenkung gestellt. Gefordert wird, »zu einem Zeitpunkt, da von Staat und Gesellschaft große Anstrengungen gemacht werden, um in den werktätigen Menschen, insbesondere aber in der Jugend das sozialistische Bewußtsein zu entwickeln, die Sprachinhalte zum Ausgangspunkt der Betrachtungen zu machen« 72 und dadurch die »sprachliche Qualifizierung mit der Erziehung zum Patriotismus« zu verbinden. »Je eingehender sich der Schüler mit der Sprache der fortschrittlichen Menschen unserer nationalen Gegenwart und Vergangenheit auseinandersetzt, desto mehr gewinnt er mit der Kenntnis und dem sicheren Gebrauch der Muttersprache auch die Fähigkeit, seine nationale Pflicht zu erkennen und zu erfüllen«. 7 3 Und: »Der Schüler, der die allgemeinbildende deutsche Schule verläßt, muß einen festen Fonds von Wörtern, einen produktiven Wortschatz besitzen, um in den lebenswichtigen Fragen der Nation, im Kampf um die Einheit unseres Vaterlandes, in den Fragen des friedlichen Aufbaus sich jederzeit sicher und überzeugend auszudrücken und verständigen zu können. Das verlangt die systematische Erlernung . . . von wichtigen Internationalismen des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens, einen festen Schatz von Wörtern der wissenschaftlichen Lehre von der Entwicklung der Gesellschaft und der allgemeinen Grundlage der modernen Produktion.« 74 Die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften ließ in den siebziger Jahren die »Rolle der Sprache im Überzeugungsprozeß« untersuchen, um das »Niveau der Verbreitung des Marxismus-Leninismus als Wissenschaft und als Methode« im muttersprachlichen Unterricht wie durch die Massenkommunikationsmittel zu verbessern.« 75 Während in der DDR selbst eine Sprachlenkung abgestritten wird, erkennt man sie den >imperialistischen StaatenSchreibtischtäter< sich differenzieren, d.h. in einem größeren Umfang sich an dem traditionellen Vorrat von Sprache beteiligen müssen, durch den allein kompliziertere Zusammenhänge erschließbar werden. Die Verfügbarkeit eines größeren Wortschatzes und die Fähigkeit, ihn so einzusetzen, daß Personen, Objekte und Sachverhalte optimal verständlich werden, unterscheidet Stäbe von den Kommandos. Politische und ideologische Gruppierungen, Parteien aller Art grenzen sich symbolisch voneinander ab, und alle regulieren die Kommunikation ihrer Anhänger bzw. können nur durch die Regelung von Kommunikation sich als solche Gruppierungen konstituieren. Wichtig wird für die Gruppierung die Gleichzeitigkeit von innen und außen: Zugänglichkeit für ihre Anhänger, Zugänglichkeit zum übergeordneten Ordnungssystem, d.h. zum Staat, zur Macht. Von der Alltagssprache unterscheidet sich die Sprache, der Dialekt der Gruppierung durch den diskursiven Symbolismus, d.h. durch die Verfestigung der geltenden Doktrin im Symbol, etwa im Begriff der Gleichheit, durch die in Symbolen, in Miranda (Begriffe, die die Hochwerte der Ideologie tragen, etwa Führerprinzip, Rassenreinheit, volkhaft) und Anti-Miranda 78 (Begriffe, die das zu Bekämpfende, die Aggression der Gegenseite beinhalten, z.B. Weltverschwörung, Verjudung, überwuchern) sich ausdrückende Zuge77 78
Vgl. Pross, H. (1974); Sarcinelli, U. (1983) Strauss, G . (1986), lOOff.
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hörigkeit und Distanz. Das aufgezeigte Problem der simultanen und integralen Präsentation nach innen und außen läßt sich symbolisch verhältnismäßig leicht meistern, solange vertraute Feinde das Äußere gegen das Innere abgrenzen. Dann einigt das dunkle Feindbild die Gruppierung und ihre Anhänger. Es gibt dem Vergleich die Richtung. Die Gestalt des Feindes erlaubt so viel Dunkelheit und Niedrigkeit zu symbolisieren, wie gebraucht wird und die innere Verfassung vergleichsweise erleuchtet, um die Ordnung befindlich erscheinen zu lassen, worüber sich dann jedermann erfreut zeigt. Ein äußeres Feindsymbol zu haben ist für jede ideologische Gruppierung, aber auch für jedes totalitäre und angeschlagene Regime höchst willkommen, weil es innen und außen anschaulich abgrenzt. Verwiesen sei auf die DDR, die in der Bundesrepublik ihr Feindbild verfestigt hat, im sog. kapitalistischen Ausbeuterstaat. Verwiesen werden kann auch auf die von rechtsradikalen Gruppierungen, etwa der >Nationaldemokratischen Partei Deutschlands< (NPD), in der Bundesrepublik aufgebaute > Volksfeind-Ideologiein OrdnungRechtseinrichtungRechtsgutRechtsschutz< sind Begriffe, die aus der diskursiven Symbolisierung sich ergeben und in höchst komplizierte, im Zuge immanenter Analyse sich verfeinernder Unterscheidungen ausgetüftelt werden. Diese Verfeinerungen erfolgen in der Auseinandersetzung darüber, was sanktionsfähig ist und was nicht. Je intensiver und je differenzierter diese Fortbildung erfolgt, desto mehr bestärkt sie die Zusammengehörigkeit von Gesetz und Sanktion. Wo die Revolution sich nicht durch Recht durchsetzen kann, rechtfertigt sie doch wenigstens ihre physische Gewalt durch Berufung auf die Sprüche ihrer Führer, die sich symbolisch herleiten von sanktionierten Texten, denen Gesetzmäßigkeit und setzende Kraft zugesprochen werden. Sie fungieren als heilige Bücher (Hitlers >Mein KampfRotes BüchleinGrünes Büchleinliberal< erstmals in einem Parteinamen auf, in der >Nationalliberalen ParteiFortschrittsparteiLiberale Vereinigung< und ab 1884 die >Deutsche Freisinnige ParteiDeutsche Demokratische Partei< gegründet, die Verbindung der liberalen Idee mit der demokratischen bekundet werden. Da liberale Grundsätze aber zunehmend auch von anderen Parteien, von den Konservativen bis hin zu den Sozialdemokraten vertreten wurden, blieb dem politischen Liberalismus immer weniger Spielraum für die Umsetzung in praktische Politik. Während sich die nationalen Liberalen den konservativen Kräften näherten, öffnete sich zu Beginn des 20.Jahrhunderts das >linke< Spektrum den sozialistischen Ideen. »Das liberale Prinzip wird siegen, aber nicht ohne den Liberalismus der Masse«, formulierte Friedrich Naumann. 1 4 Theodor Barth sah in der »Kooperation des liberalen Bürgertums mit der in der Sozialdemokratie organisierten Arbeiterschaft . . . den einzige(n) Weg, der zu einer wirklichen Demokratisierung Deutschlands führen könne«. 15 Dagegen empfanden große Teile des Bürgertums nach 1918 die Gefahr, politisch links überholt und aus der Fremdherrschaft des Feudalismus in eine solche des Sozialismus gedrängt zu werden, ohne daß sich eine eigentlich 12
Meyers Konservationslexikon (große Ausgabe) 1852, Bd. 19, 235ff. Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei Juni 1867 14 Naumann, F., Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik, BerlinSchöneberg 1900 (Werke, Bd. 2, 1964) 37f. 15 Barth, T., Liberalismus und Sozialdemokratie, Berlin 1908, 22f. 13
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>bürgerliche< Gesellschaft hätte stabilisieren können. Es existierte ein relativ großes Wählerpotential, das nach einer selbständigen bürgerlichen Initiative verlangte. Zum anderen versuchte das >KapitalDeutschen Demokratischen Partei< bestimmen. Personelle Probleme führten zur Gründung einer zweiten liberalen Partei, der >Deutschen Volkspartei< unter Stresemann, so daß der Liberalismus den Weg in die Weimarer Republik zersplittert antrat. Entgegen den Wünschen der Industrie akzeptierten die Liberalen die fortschrittliche Entwicklung in der Sozialpolitik, bemühten sich so, die Klassengegensätze zu entschärfen. Sie sahen im Staatssozialismus, in der Staatswirtschaft aber ein Übel, dem die industrielle Individualisierung (Stresemann) positiv gegenübergestellt wurde. Nachdem Versuche einer Sammlung scheiterten, verloren die Liberalen immer mehr Kräfte nach rechts und links. Das soziale Elend, das sich immer stärker ausbreitete, ließen die Zugkraft liberaler Ideen schwinden. 1932 konnte Gregor Straßer erklären, daß die große antikapitalistische Sehnsucht zur »Überwindung des Liberalismus und dem Aufkommen eines' neuen Denkens in der Wirtschaft und einer neuen Einstellung zum Staat« führen werde. 16 Liberale Politik war nicht mehr überzeugend vertreten worden. Die Repräsentanten der liberalen Parteien waren unsicher und ratlos. Es konnte von den Wählern keine klare politische Willensbildung in den liberalen Parteien und Splittergruppen mehr erkannt werden. Die Untätigkeit im liberalen Lager führte dazu, daß in der politisch brisantesten Lage den Gegnern das Gesetz des Handelns überlassen wurde. 17 In der Nachkriegszeit wurde die liberale repräsentative Demokratie, die zugleich ein freiheitlicher und sozialer Rechtsstaat sein soll, zur Forderung der Liberalen. Liberal charakterisiert dann vor allem die Abgrenzung einerseits zur eher konservativen Demokratie, andererseits zu einer eher sozialistischen. In seinem Überblick über die Verwendungsweisen des Begriffs liberal im Jahre 1971 kommt Sucharowski zu der Festlegung, daß er vor allem bezogen wird auf die politische Gruppe, die sich den Namen >liberal< gegeben hat, d.h. auf die Freie Demokratische Partei. Nach wie vor wird dem Begriff liberal der semantische Wert >politisch frei< primär zugewiesen. Freiheit findet sich als verfassungsrechtliche Wirklichkeit in der Demokratie. Diese wird als Möglichkeit zur Sicherung des individuellen Bereiches vor unrechtmäßigen und willkürlichen Eingriffen des Staates verstanden, ebenso als Methode friedlicher Veränderung bzw. Machtablösung anerkannt. Freiheit ist realisiert in der Garantie der bürgerlichen Freiheitsrechte, etwa im Recht auf den Arbeitsplatz, in der Sicherung 16 17
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Straßer, G., Antikapitalismus, Nationalsozialistische Monatshefte 3, 1932, H. 23, 1 Vgl. Jochmann, W., Der deutsche Liberalismus und seine Herausforderung durch den Nationalsozialismus, In: Thadden, R.v. (1978) 115-128
vor innerbetrieblicher Willkür, was zugleich Befreiung von Existenzangst bedeutet. Freiheit erweist sich zudem als Aufgabe, denn »Liberalismus kann . . . niemals statisch sein, sondern muß stets dynamisch begriffen werden«, und er »heißt Einsatz für größtmögliche Freiheit des einzelnen Menschen«. 18 Mit Freiheit sind verbunden das Unabhängigkeits-, das Öffentlichkeits-, das Toleranz- und das Sozialprinzip, die gewisse Einschränkungen bringen, das »Größtmögliche« an Freiheit aber ermöglichen. So wird im wirtschaftlichen Bereich nicht mehr dem freien Spiel der Kräfte Vorrang gegeben, denn »bald zeigte sich, daß absolute Vertragsfreiheit, das freie Spiel der Kräfte, nicht zum vollkommenen Wettbewerb führten, sondern zu seiner fortlaufenden Einschränkung . . . Heute sehen wir viel klarer, daß Privateigentum an Produktionsmitteln und Marktfreiheit zu einer immer größeren Ungleichheit führten, welche die Freiheit der großen Zahl gegenüber der Freiheit kleiner Gruppen unerträglich einschränkt«. 19 Der Gebrauch des Begriffs >liberal< mit dieser sozialistischen Komponente 20 markiert die Lösung von den großbürgerlich-nationalen Traditionen des älteren Liberalismus und die Hinwendung zum Sozialliberalismus, der in der Sozialliberalen Koalition verwirklicht werden sollte. Sucharowski fand in seinen Belegen auch eine semantische Komponente, die liberal als zugehörig zur politischen Mitte< ausweist. Hierbei findet eine Einordnung der sich liberal nennenden Partei bzw. politischen Gruppe in das traditionelle >RechtsMitteLinks