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German Pages 348 Year 2016
Tommaso Speccher Die Darstellung des Holocausts in Italien und Deutschland
Edition Kulturwissenschaft | Band 81
2016-06-30 08-53-15 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0120433662237700|(S.
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4) TIT3207.p 433662237708
Tommaso Speccher (Dr. phil.), geb. 1976, hat Philosophie und Geschichte in Bologna und Berlin studiert. Er ist als Philosoph und Übersetzer sowie als Mitarbeiter im Haus der Wannsee-Konferenz und im Jüdischen Museum Berlin tätig.
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Tommaso Speccher
Die Darstellung des Holocausts in Italien und Deutschland Erinnerungsarchitektur – Politischer Diskurs – Ethik
2016-06-30 08-53-15 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0120433662237700|(S.
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Gefördert durch die Ernst Reuter Gesellschaft sowie durch die Axel Springer Stiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Danksagung | 9 Vorwort | 11
DER HOLOCAUST ALS EREIGNIS Historizität und Begrifflichkeit. Um den Holocaust herum | 23 Worte und Ereignisse | 25 Shoa versus Holocaust | 32 Schlussfolgerung | 37 Geschichte und Narrativität | 41 Historizität und Bedeutung | 43 Historizität und Narrativität | 49 Schlussfolgerung | 57 Semantik des Holocausts. Zwischen Außergewöhnlichkeit und Spektakularisierung | 59 Semantisches Feld des Holocausts | 63 Einzigartigkeit des Holocausts | 70 Schlussfolgerung | 75 Diskursivität und Historizität. Die Produktion des Holocausts | 79 Der Holocaustdiskurs | 83 Materialität, Diskurs, Repräsentation | 87 Schlussfolgerung | 89 Der Holocaust in philosophischer Perspektive. Subjektivität und Epochalität | 91 Subjektivität | 94 Philosophie und Geschichte | 96
DER HOLOCAUST ALS POLITISCHER DISKURS Der Holocaustdiskurs in Deutschland und in Italien | 105 Deutschland, Italien und Europa | 105 Erinnerungskultur in nationaler und europäischer Perspektive | 108 Memorialisierung und Diskursivität des Holocaustdiskurses | 114 Notwendigkeit und Komplexität des historischen Gedächtnisses | 119 Deutschland und der Holocaust | 125
Das Denkmal in Berlin und die deutsche Erinnerungskultur | 125 Politik und Schuld | 125 Schuld, Stigma, Einschnitt | 131 Die Schuldfrage | 134 Stunde Null | 134 Die Schuldfrage | 136 Die metaphysische Schuld | 139 Schuld, Trauma, Geschichte | 142 Stigma | 146 Der Eichmann-Prozess | 146 Die Holocaust-Serie | 149 Die Goldhagen-Debatte | 154 Einschreibung | 157 Die deutsche Wiedervereinigung auf nationaler und europäischer Ebene: Die Rolle des Holocaustdiskurses | 157 Der Holocaustdiskurs zwischen Nation und Internationalismus | 160 Italien und der Holocaust | 163 Der Shoadiskurs in Italien | 163
Das Museo della Shoa in Rom und der heutige politische Rahmen (von den neunziger Jahren bis 2011) | 163 Akteure und Hauptfiguren des italienischen Shoadiskurses (von 1945 bis zu den neunziger Jahren) | 168 Resistenza und Shoa | 170 Paradox der Resistenza: Die Befreiung und das Vergessen der antijüdischen Verfolgung | 170
Das italienische Judentum und die „Gerechten unter den Völkern“ | 175 Die katholische Auseinandersetzung mit der Shoa | 176 Die Katholische Kirche von 1943 bis 1961. Kontinuität und Vorurteil in der Betrachtung der jüdischen Gesellschaft | 176 Das Zweite vatikanische Konzil. Universalistischer Umbruch und Thematisierung des Shoadiskurses | 180
ARCHITEKTUR UND ERINNERUNG Architektur und Niederschrift | 187
Die Shoa schreiben und ihrer gedenken: Rom, Berlin, Europa | 187 Architektur als historischer Einschnitt | 193 Rom und Berlin: Die architektonische Sprache zwischen mythologischen Landschaften und materieller Niederschrift | 198 Die Architektur als lebende Form | 202 Der Dekonstruktivismus | 207 Peter Eisenman und das Ende der Architektur | 211 Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Historische Gründe und politische Funktion | 219
Architektur und Einschreibung zwischen Geschichte und Politik | 219 Die Geschichte zwischen Erhaltung und Fortschritt: Spiel und Fundament der Politik | 219 Die Neue Wache: Wiedergeburt und Umwandlung eines (post-)nationalen Gedenkens | 226 Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas | 232 Der Ort, der Raum, die grundsätzlichen Fragen der zwei Wettbewerbe (1994-95, 1997-98) | 232 Das Denkmal von Peter Eisenman (und Richard Serra) | 237 Das Denkmal durchqueren: Politische Funktion | 239 Villa Torlonia: Zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft | 243
Das Gedenken an die Shoa im heutigen Italien zwischen Notwendigkeit und Kompromiss | 243
Deportation, Vergessen und Mythos in den frühen künstlerischen Darstellungen der nationalsozialistischen Verfolgungen | 249 Die Gedenkstätte für die Deportierten der Ardeatinischen Höhlen (Fosse Ardeatine) | 249 Das Architekturbüro BBPR | 250 Die Risiera di San Sabba | 252 Das Museum der Shoa in der Villa Torlonia zwischen Herausforderung und Krise der Memoralisierung in Italien | 255 Vom MEIS zum Museum der Shoa in der Villa Torlonia | 255 Villa Torlonia zwischen Vergangenheit und Gegenwart | 257
ERFAHRUNG UND ETHIK Philosophischer Diskurs und Holocaust im Spiegel | 263 Dokumentalität, Praxis und Philosophie | 263 Kollektivität, Subjekt und ethischer Diskurs | 269 Ethisch-politische Funktion des Holocausts. Subjekt, Nation und Identität nach Hegel | 275 Im Innersten der Erinnerung. Die Erfahrung des Anderen bei Lévinas | 283 Religion, Sprachphilosophie und Nihilismus um den Holocaust | 291 Rituelle Praxis und Dunkelheit. Wiedererlangung des Nihilismus der Zerstörung | 301 Wege der Ethik | 307 Messianische Dringlichkeiten | 313 Schlussfolgerungen | 319 Literaturverzeichnis | 325
Danksagung
Die vorliegende Studie geht auf eine 2014 von der Freien Universität Berlin angenommene Promotionsschrift zurück. Mein Dank gilt all denen, die mich auf den unterschiedlichen Etappen dieser Arbeit mit fachlichem und freundschaftlichem Rat unterstützt haben. Namentlich hervorheben möchte ich Professor Dr. Gunter Gebauer für seine umsichtige und geduldige Betreuung der Dissertation. Weiterhin möchte ich mich ins Besondere bei Niels Betori Diehl für seine einzigartige Begleitung. Deine Anmerkungen, Übersetzungen, Umschreibungen und Korrekturen haben einen unverzichtbaren Wert für diese Arbeit gehabt. Danke für diese kompetente Unterstützung! Für Korrekturen und inhaltliche Anregungen danke ich weiterhin Esther Spicker, Lore Kleiber, Robert Schmidt, Karin Gambaracci, Gerd Kühling, Juliane Spitta, Gabriel Eikenberg, Christoph Raetzsch, Simon Schleusener, Boris Vormann, Marcus Gryglewsky und Maggie Comel. Ich möchte mich auch bei allen anderen Freunden und Mitarbeitern der Gedenkstätte Haus der Wannsee Konferenz in Berlin bedanken, die mir immer wertvolle Impulse gegeben haben. Verbunden bin ich für ihre großzügige Förderung der Nachwuchsförderungsgesellschaft der Berliner Universitäten, der Ernst Reuter Gesellschaft und der Axel Springer Stiftung. Den meisten Dank schulde ich mich meinen Eltern, Giuseppe Speccher und Mara Francesconi, sowie meiner Frau Barbara Antoniazzi.
Juni 2016
Tommaso Speccher
Vorwort
D IESE A RBEIT Diese Arbeit ist eine philosophische Untersuchung zur Darstellung des Holocausts, eines der nicht nur unter den europäischen Völkern meist geteilten Phänomene der letzten Jahrzehnte. Sie stellt das Ergebnis einer multidisziplinären Forschungsarbeit dar, die eine umfangreiche Quellenauswertung mit Betrachtungen und anthropologischen Analysen zusammenführt, die zwischen 2009 und 2013 vor Ort in den Städten Berlin und Rom getätigt wurden. Ausgehend von einer Fallstudie wird die epochale Bedeutung der historischen, architektonischen und politischen Entwicklung der Darstellung des Holocausts in Italien und Deutschland rekonstruiert. Aus diesem Grund konzentriere ich mich in meiner Arbeit auf die zwei nationalen HolocaustGedenkstätten in Rom und Berlin. Die Gesamtheit der Erfahrungen und Bedeutungsebenen, die beim Durchschreiten der Gedenkstätten, der ehemaligen Konzentrationslager und schließlich der dem Holocaust gewidmeten Architekturen geboten werden, eröffnet die Möglichkeit politische und kulturelle Aspekte unserer Gegenwart philosophisch zu begreifen. Die Gedenkstättenarchitekturen stellen faktisch die heutige materielle Artikulation historisch-sozialer und politischer Diskursivitäten dar, die vor mehr als siebzig Jahren in das so schockierende wie komplexe Ereignis der Verfolgung von Millionen von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und politischen Feinden kulminierten. Diese Architekturen konfrontieren uns jedoch auch mit philosophischen Fragen, die unsere heutige Zeit prägen. Was genau wird aber von den heutigen Bürgern in den holocaustischen Durchquerungen erlebt und geteilt? Welches Gewicht hat in jenen Erfah-
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rungen die Wahrnehmung der Gegenwart? Welche Vorstellung von Subjektivität wird in den holocaustischen Durchquerungen geboten und konsumiert? Welche politische Funktion haben die nationalen HolocaustGedenkstätten auf europäischer Ebene? Diese Fragestellungen bilden den Rahmen dieser Arbeit.
D IE S TRUKTUR Dem ersten Kapitel kommt die Funktion zu, den philosophischen Standpunkt innerhalb einer äußerst umfangreichen literarischen und wissenschaftlichen Produktion zum behandelten Thema einzuordnen. Die methodologisch-kritischen Arbeiten von Hayden White, James L. Young, Dan Dinner und Hans Blumenberg, sowie die Auseinandersetzung mit einer beträchtlichen Anzahl an theologisch-philosophischen Verweisen, von Theodor W. Adorno, Jacques Derrida, Hans Jonas bis hin zu Yehuda Bauer, kamen als Mittel zur Kontextualisierung der epistemologischen Bedeutung für eine Fallstudie zum Einsatz. Die Unterscheidung zwischen Ereignis und Darstellung, sowie das Beleuchten der vielseitigen und komplexen Beziehung zwischen historischen, philosophischen und politischen Aspekten, die in der Semantik und Phänomenologie des Holocausts präsent sind, waren dabei notwendige Schritte für eine Legitimierung dieser Arbeit. Ebenfalls von wesentlicher Bedeutung ist in diesem ersten Kapitel die Analyse und die Unterscheidung der allgemeinen Diskursivitäten, welche die Vermittlung und die Darstellung des Holocausts strukturieren – von jenen, die eher historisch-politischer Natur sind zu den Ethisch-Philosophischen. Die diskursiv-pragmatische Modalität der Analyse des Konstrukts Holocaust ermöglichte es, die Notwendigkeit einer Fallanalyse zu legitimieren und aufzuzeigen. Aus diesem Grund konzentriert sich das zweite Kapitel auf die Zusammenfassung der politischen und kulturellen Entstehungsgeschichte der Gedenkstätten. Anhand einer Gliederung der politischen und generationellen Diskurse, die seit der frühen Nachkriegszeit bis zum Entwurf und der Errichtung das Aufkommen und die Entwicklung dieses Bedürfnisses der Memoralisierung der Opfer des Holocausts geprägt haben, setzt sich dieses Kapitel mit den Unterschieden zwischen den zwei nationalen Geschichten auseinander.
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Es sollen jene politischen und kulturellen Elemente hervorgehoben werden, die die jüngste deutsche Geschichte von der Italienischen unterscheiden, in Bezug auf die Memoralisierung des Holocausts. Die intergenerationellen Diskurse im jeweiligen Land werden komparatistisch analysiert um jene Differenzen und Abweichungen in der Vordergrund zu rücken, die dem Leitfaden dieser Arbeit zugrunde liegen. Das die deutsche Kultur auszeichnende ethisch-politische Profil, geprägt durch intergenerationelle Auseinandersetzungen, wird beispielsweise mit der Rolle eines religiösuniversalistischen, vom Katholizismus und insbesondere vom Zweiten Vatikanischen Konzil geprägten Gefühls verglichen, das in der italienischen Gedenkkultur präsent ist. Es wird aufgezeigt, wie sich der Diskurs um den Holocaust in einer Kontinuität mit den nationalen Diskursen generiert, wobei er diesen eine Modalität identitärer Anerkennung liefert, die in gewisser Weise problematisch ist. Das dritte Kapitel der Arbeit konzentriert sich auf die strukturelle und philosophische Relevanz des architektonischen Diskurses: Die holocaustischen Architekturen sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenwirkens von sozialem Raum, historischer Zeit und individueller Erfahrung. Das Definieren der semantischen Unterschiede in den architektonischen Sprachen, die den zwei Gedenkstätten zugrunde liegen, ermöglicht die morphologische Natur der Repräsentation des Holocausts zu beleuchten. Das Berliner Denkmal von Peter Eisenman ist jedoch eher vom Dekonstruktivismus geprägt, während die römische Gedenkstätte von Luca Zevi sich eher in die naturalistische Tradition einordnen lässt. Wie jedes historische Ereignis definiert sich dieses auf paradigmatische Weise innerhalb des städtischen Gewebes und der ihm gewidmeten Topografien. Aus dieser Analyse tritt nicht allein das Gewicht der nationalen Kulturgeschichten – die Deutsche und die Italienische – oder die Evidenz ihrer Unterschiede hervor, sondern auch die ätiologische Bedeutung des Holocausts als historisches Ereignis. Die Geschichte ist ein Prozess der Osmose, Transformation und Verrat eines ursprünglichen Ereignisses, und dies ist insbesondere im Falle des Holocausts problematisch: Die historischen Fakten bestehen zunächst aus einer Reihe von Ereignissen, die anhand von Dokumenten festgehalten und bezeugt werden, die später in den Formen der Repräsentation neu modelliert und rekonstituiert werden. Die Funktion von Museums- und Gedenkstätten ist ja gerade die, jener Gesamtheit an Spuren, aus denen das ursprüngliche historische Ereignis besteht, Form, Ordnung und Perspektive
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zu geben. Daher wird an dieser Stelle die Architektur als einen symbolischen Katalysator gedacht, dem die Funktion der Komplexität des historischen Ereignisses Holocaust zukommt, und folglich auch der in dessen Repräsentation präsenten Kritizität, Form zu verleihen und diese zu verraten. Das Gewicht der Unterschiede zwischen nationalen Geschichten und Repräsentationen ermöglicht es zu begreifen, wie radikal und entscheidend sich die holocaustische Repräsentation in der Entstehung des politischen Sinnes innerhalb der heutigen europäischen Nationen auswirkt. Im vierten Kapitel wird an die eher hermeneutisch-philosophische Analyse angeknüpft. Ausgehend vom Gewicht der in den vorherigen Kapiteln analysierten nationalen Geschichten und von deren Konkretisierung innerhalb der Gedenk-Architekturen, wird in diesem Teil der politische und philosophische Kern hervorgehoben, der in der gesamten Arbeit präsent ist. Die Gedenkstätten der letzten Generation stellen uns vor zwei Arten überwiegend philosophischer Probleme: Das Erste betrifft die Frage der politisch-religiösen Identität und deren Deklination in den Ideen von Nation und eines kollektiven Gedächtnisses; das Zweite, jenes der Subjektivität. Das Hervorheben der Problematizität nationaler Gedenkstätten im Sinne von Architekturen, die innerhalb kollektiver und selbstreferentieller Identitäten entstanden sind (wie jene der jeweiligen nationalen Politiken) und den Anspruch haben, das Fehlen eines in früheren Zeiten durch jene Identitäten verbannten und verfolgten Anderen darzustellen, geschieht nicht mit der Absicht eine gewisse Instrumentalität des holocaustischen Gedenkens zu beleuchten, sondern im Versuch zu verstehen, wie sich hinter diesem Phänomen radikale politische Aspekte verbergen, welche die Gegenwärtigkeit betreffen. Das innerhalb der deutschen Kultur als Leitfaden presente „Schuldgefühl“, wie auch der innerhalb der italienischen Kultur aus der katholischen Narration hervorgehende Begriff der „Öffnung gegenüber dem Anderen“, müssen in gewisser Hinsicht als Ergebnis einer kaleidoskopischen Spiegelung verstanden werden. Den wahren Dreh- und Angelpunkt dieses Kaleidoskops stellt das Überleben selbst einer kollektiven Identität dar, die in gewisser Weise zur Verantwortung gerufen wird, sich durch das paradoxe Gedenken an die Juden Europas wiederzuerkennen, die von denselben Nationen deportiert und vernichtet wurden, die ihnen nun gedenken. Das Paradoxon dieser Identität liegt darin, dass sie sich im Gedenken an einen abwesenden Anderen legitimiert: hinter dieser kaleidoskopischen Spiegelung verbirgt sich die alte Frage nach einem nationalen
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Empfinden im heutigen Europa. Wenn es stimmt, dass nach dem Holocaust die Idee eines Nationalismus selbst verbannt wurde, kommt man nicht umhin zu bemerken, wie dieser in Form einer Identität zurückkehrt, die nicht mehr selbst-determiniert ist, sondern auf der Abwesenheit des Anderen gründet. Mit Berufung auf die große Tradition der Hermeneutik – von Augustinus bis Heidegger über Hegel und Taubes – wird die Frage eines Überlebens und einer Kontinuität der jüdisch-christlichen Geschichte im heutigen Europa beleuchtet, ausgehend vom Thema dieses problematischen identitären Überlebens. Welche Beziehung besteht zwischen einem mit sich selbst identischen Subjekt, und einem Anderen, in dem es sich mit ihm unter dem Einfluss der Architektur konfrontiert, die sich als Durchquerung, Veränderung, Übergangsritual präsentiert? Wohin gehen jene Subjekte, die sich innerhalb unserer Gedenkstätten bewegen? Was wird ihnen zu erkennen abverlangt? Zieht die Absicht Moralität aus der Auseinandersetzung mit einem Anderen zu generieren, der nicht mehr (da) ist – mit einer absoluten Alterität, also von einem ethischen Gesichtspunkt aus betrachtet – Konsequenzen nach sich? Bietet die Wahrnehmung eines Jemanden als unermessliche Distanz vielleicht Raum für eine politisch-religiöse Erfahrung? Bis zu welchem Punkt stimmen Identität und der Andere mit Christentum und Judentum überein? Das zweite Problem ist jenes der Subjektivität, wahrer Kern der holocaustischen Erfahrungen. Was an diesen Mahnmalen konstant bleibt, ist in der Tat die Rolle jedes einzelnen Betrachters/Besuchers/Bürgers: Die Durchquerung ist immer für das einzelne Individuum bestimmt, das sich infrage stellen muss und gleichzeitig in die Situation versetzt wird, nicht in der Lage zu sein, sich wiederzufinden. Die Verwirrung und eine gewisse Form von Entfremdung in der Wahrnehmung sind konstitutive Elemente der Gedenkorte der letzten Generation. Das Element der Verwirrung, das durch die desorientierende Wucht der monumentalen Formen gegeben ist, ist in Wirklichkeit bereits in den Gedenkstätten des neunzehnten Jahrhunderts präsent. Im Gegensatz zu den historischen Gedenkstätten, wie Triumphbögen oder Siegesdenkmäler, stellt das Ergebnis der Entfremdung hier aber nicht bloß die Teilnahme an einer Kollektivität dar, sondern vielmehr das Sich-Verlieren in einer ewigen Gegenwart, die einerseits eine Quelle für das Aufkommen eines ethischen Impulses und einer Bewusst-
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seinsreifung sein kann, andererseits aber letzten Endes ohne Namen bleibt und „nichts bedeutet“. Die Toten, die Opfer, die Deportationen – so wie sie in den verschiedenen Gedenkstätten dargestellt werden – verweisen auf einen Leitfaden, der sehr weit hinaus weist und der hier wie eine wahrhaftige ethische Herausforderung begriffen wird. Durch Wiederaufnahme der Verflechtungen einer Vielzahl von Ansätzen – von Paul Ricoeur bis Jan Luc Nancy, von Jacques Derrida bis Emmanuel Lévinas – habe ich hier den Begriff der „messianischen Dringlichkeit“ formuliert und geprägt, der einem Denken Ausdruck verleiht, nach dem die innerhalb der Gedenkstätten ermöglichten Erfahrungen eine Herausforderung an die Gegenwart darstellen.
D IE M ETHODE Diese Arbeit ist von einer Vielzahl methodologischer Perspektiven geprägt. Zum einen ist insgesamt ein starker Bezug zum sprachlichen Strukturalismus hergestellt worden: Die Grundunterscheidungen Zeichen/Bedeutung, Wort/Diskurs, Tatsachen und Ereignisse, die im französischen Strukturalismus von de Saussure bis Derrida präsent sind, werden hier als Stützen und zur Differenzierung der jeweiligen historischen Ereignisse im Sinne der Gesamtheit der Spuren und Zeugnisse genutzt. Dieser Aspekt ist eng damit verbunden, das, was mehrmals im Text als historische Ontologie beschrieben wird, hervorzuheben – die Relevanz der objektiven Gegenständlichkeit, im weitesten Sinne als Gesamtheit der Spuren, Dokumentalitäten, Einschreibungen verstanden, welche die Grundlage jeglicher historischen Darstellung bilden. Der Verweis auf Ian Hacking, sowie auf die wesentlichen, von John Searle und Maurizio Ferraris gebotenen Anhaltspunkte stützen also die Zentralität eines Diskurses um die Materialität nicht nur der historischen Ereignisse, sondern auch von deren Implementierung innerhalb von Konstellationen und Paradigmen des Gedenkens. Hans Blumenberg selbst hat mehrmals diese Zentralität der Materialisierung und Objektivierung der gegenwärtigen Paradigmen der Erkenntnis beschrieben. Diese Konzentration auf die Materialität spiegelt sich in der Anwendung von Instrumenten, die der ontologischen Betrachtung analytischer Prägung entliehen sind. Die Relevanz der Überlieferung und das Gewicht der Spuren kommen hier also in einer pragmatischen Form zum Einsatz, welche die
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Analyse des Holocausts auf einen Diskurs um die Rolle der Niederschrift und Medialität in der Gegenwart überträgt. Der Diskursanalyse, dem Kielwasser der foucaultschen Tradition folgend, kommt in dieser Arbeit eine wesentliche Rolle zu, aufgrund der Möglichkeit, die sie bietet, die einzelnen disziplinären Praxen getrennt zu halten – die Philosophische von der Historisch-Politischen, die Sprachliche von der Anthropologischen. Allein die Entscheidung, sich in zwei Kapiteln dieser Arbeit auf eine Fallstudie zu konzentrieren – im Sinne eines Vergleichs zwischen Deutschland und Italien – entspringt der Notwendigkeit, das Phänomen des Gedenkens nicht von einem allgemeinen Gesichtspunkt aus zu betrachten, sondern indem man die tatsächlichen Diskursivitäten historischpolitischer Prägung zum Ausgangspunkt macht, innerhalb deren das Phänomen im Laufe der Jahrzehnte zu seiner Definition gekommen ist. Die Analyse der politischen Diskurse und der sozialen Kräfte, die zum Entwurf und zur Konstitution der zwei nationalen Gedenkstätten geführt haben, wurden innerhalb eines generationellen Paradigmas strukturiert: Jene Gedenkstätten sind in der Tat das Ergebnis eines immanenten Werdens der historischen Memoralisierung und stellen den Ausgangspunkt intragenerationeller Diskursivitäten in beiden Nationen dar. Die Diskursanalyse bietet die notwendigen Instrumente zum Verständnis der ätiologischen Komplexität jener Art von Diskursivität. Die Analyse der politischen und historischen Diskurse sowie die Unterscheidung selbst zwischen analysierten Elementen erweisen sich jedoch ohne eine Beschäftigung und eine Perspektive, welche die Kritizitäten und die philosophisch relevantesten Aspekte zu beleuchten vermöge, als steril. Die Hermeneutik, als kritische und pragmatische Analyse der Daten, der historischen Ereignisse und der kollektiven Erfahrungen verstanden, ist Leitfaden dieser Arbeit. Die Herausforderung ist die einer Ausweitung der Analyse von historischen Phasen, kollektiven Erfahrungen und architektonischen Leistungen auf eine Betrachtung der heutigen Zeit. Philosophie zu praktizieren bedeutet, diesen Aspekt der Gegenwärtigkeit mit einzubeziehen, im Sinne einer Rückführung der historischen Phänomene und der Analysen der sozialen und politischen Ereignisse zu deren zeitgenössischem Kontext.
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D IE Z IELSETZUNGEN Diese Arbeit entspringt der persönlichen Erfahrung, die als Verantwortlicher für die Vermittlung in vier dem Holocaust gewidmeten Museen im Laufe von zehn Jahren erarbeitet wurde. Schon lange beschäftigt mich die Frage nach dem kulturellen Kern, der in den unterschiedlichen Gedenkstätten geboten wird und jene nach dem philosophischen Standpunkt, von dem ausgehend dessen wesentliche Aspekte zu analysieren wären. Der Versuch diese Dringlichkeit der philosophischen Analyse hervorzuheben hat jedoch allmählich meine Wahrnehmung des Phänomens verändert: Der intrinsische Wert der Erfahrung des Gedenkens verlangt nach einer multidisziplinären Analyse. Folglich ist die gesamte Forschungsarbeit von einer stetigen Vermischung von historischer Forschung, anthropologischer Analyse und hermeneutischer Kraft der philosophischen Analyse geprägt. Ziel dieser Arbeit ist die Beleuchtung der Repräsentation des Holocausts und der zahlreichen damit verbundenen Erfahrungen durch dessen Einbindung in das Herz der Welt, in der wir leben, die nicht allein von den politischen und sozialen Zielen geprägt ist, die sich die Nationen des – vermeintlich post-nationalen und post-identitären – Europas der heutigen Zeit gesetzt haben. Hinter den „klaren politischen Absichten“ verbirgt sich in der Tat ein zweiter Aspekt, der die Konstruktion selbst einer möglichen Welt betrifft. Die in der Spezifizität des Holocausts anwesenden Figuren konfrontieren uns in dieser Hinsicht mit einer Pluralität von Fragen: Welche Rolle übt die zutiefst verwirrende Darstellung der Abwesenheit der jüdischen Bevölkerungen in der kollektiven Vorstellungswelt des heutigen christlichen Europas aus? Welches politische Gewicht besitzen die nationalen Gedenkstätten und welches jene, die dem Gedenken an die Verfolgten gewidmet sind, die die radikale moralische Problematizität jedes identitären Prinzips vorführen? Welche kulturelle Funktion haben die in den Gedenkstätten zum Ausdruck kommenden architektonischen Sprachen inne, die in den Besuchern ein Gefühl von Verfremdung und ständigem Verlust an identitären Anhaltspunkten auslösen? Welcher ethische und politische Botschaft wird durch diese Massenerfahrung generiert? Zu dieser politischen Analyse kommt eine weitere hinzu, die eher philosophischer Natur ist. Der Holocaust ist nicht bloß in seiner Epochalität verwurzelt: In der Tat konfrontiert er uns mit einem in der gesamten Philosophie des Zwanzigsten Jahrhunderts präsenten Kern, und zwar jenem des
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Nihilismus. Die Wahrnehmung des Holocausts konfrontiert uns mit einem Gefühl der Zersplitterung und Zerstörung, das sehr viel mit jenem in den nihilistischen Paradigmen des präsenten Untergangs der westlichen Welt zu tun hat. Insbesondere die Fragmentierung der Welt da draußen in so sehr voneinander getrennte, nicht mehr zusammenfügbare Objekte, Spuren, Vorstellungswelten ist ein Element, das sich im holocaustischen Phänomen zu spiegeln scheint, nicht allein in der Fragmentierung der Körper, der Lebenswege, der Schmerzen sondern auch in einer wahrhaftigen Zerstreuung der Spuren. Letztendlich liegt dem Kult des Gedenkens der vergangenen Jahrzehnte gerade dieses moralische Bedürfnis zugrunde, jene Fragmentierung wieder aufzuheben und sie innerhalb konsumierbarer und teilbarer Erfahrungen zu lösen. Der Beitrag von Emmanuel Lévinas’ Eschatologien sowie von Jacob Taubes werden hier nicht dazu verwendet, eine Möglichkeit der vollkommenen Erlösung aufzuzeigen, sondern eher die einer Erfahrung und einer Praxis. Emmanuel Lévinas hat uns gelehrt, dass es möglich ist, jene scheinbare unerschüttliche Differenz zu überwinden, die in der Wahrnehmung von Geschichte präsent ist. Es ist demnach möglich, die Differenz nicht als nihilistische Duldung zu verstehen und zu praktizieren, sondern als „Begegnung mit dem Anderen“, als absolut ethischer Akt. Diese Analyse basiert auf der Überzeugung, dass die holocaustischen Erfahrungen – allen Widersprüchen zum Trotz – einen Raum der „ethischen Praxis“ generieren können, der eben nur aus der Begegnung mit dem Anderen entstehen kann.
Der Holocaust als Ereignis
Historizität und Begrifflichkeit Um den Holocaust herum
Über den Holocaust zu sprechen, nachzudenken und zu schreiben bedarf einer Konfrontation mit einem breiten Spektrum historischer Ereignisse, individueller und kollektiver Repräsentationen, epochaler Sinngebungen und Fragestellungen. Allein der Begriff Holocaust verweist auf eine Vielzahl von Bezügen, die dessen ursprüngliche Bedeutung erweitern und eine eindeutige Definition des Begriffs erschweren. Sowohl ein Versuch der Festlegung als auch die Frage, von was hier genau gesprochen werde, kann bereits schon als Standpunkt betrachtet werden oder als individuelle Perspektive. Genauso kann man in jener Begrifflichkeit eine vielschichtige Problematik nicht nur im Verhältnis zur Geschichte, sondern auch zur politischen und sozialen Sphäre erkennen. Nicht nur vom Standpunkt des Historikers aus verbindet man den Begriff zu Recht mit der Vernichtung von über fünf Millionen Juden durch die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges: Dieser Bezug ist in vielerlei Hinsicht korrekt, auch wenn er, wie wir in den folgenden Seiten sehen werden, eine gewisse ethymologische Unbestimmtheit enthält. Was sich dagegen in all ihrer Eindeutigkeit abzeichnet, ist die Ausweitung des Erläuterungsvermögens des Wortes selbst durch die Kraft und die Vielzahl seiner Bezüge im Laufe der Jahrzehnte. Jenseits der Vernichtung von Millionen von europäischen Juden, kann sich der Begriff Holocaust auf viele andere Ereignisse und Erinnerungen beziehen. Wenn man von strikt semantischen Überlegungen ausgeht, wird der Begriff allein von einem „Übermaß an Bezügen“ determiniert, die mit der Zeit zur Verschiebung seiner ursprünglichen Bedeutung beigetragen haben.
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Rekonstruiert man die Geschichte der Verwendung des Begriffs Holocaust in der Nachkriegszeit, so zeichnet sich ein schwer zu entwirrendes Konglomerat von Bezügen und Diskussionen ab, das hauptsächlich von unterschiedlichen Sensibilitäten und Gesichtspunkten ausgehend entwickelt wurde. Wenn am Ende der siebziger Jahren – vor allem im Zusammenhang mit der Erstausstrahlung der Fernsehserie Holocaust – eine bestimmte einheitliche Verbreitung des Begriffs festzustellen ist, so scheint in den selben Jahren das Bedürfnis nach einer genaueren und gewissenhafteren Einordnung immer größer geworden zu sein, die in der Lage ist, die Einzigartigkeit der Judenvernichtung gegenüber einer breiteren Definition von Genozid wiederzugeben. Seither hat sich viel geändert. Vor allem die Geschichte der Wahrnehmung der Judenvernichtung und die Rekonstruktion der Zeit des Nationalsozialismus im Allgemeinen haben einen beeindruckenden Grad an Vertiefung und Verbreitung erreicht. Eine auch nur oberflächliche Untersuchung der aktuellen Verwendungsmodi des Begriffs innerhalb verschiedener Kontexte – wie in Studienplänen, in journalistischen Debatten und an den Erinnerungsorten selbst, die von der Ukraine bis nach Spanien der Tragödie eine Form und eine geografische Position zuordnen – könnte eine sehr deutliche Darstellung der Fülle von theologischen, historischen, philosophischen und vor allem politischen Bedeutungen und Funktionen liefern, die diesem Begriff heute zugeteilt werden. Was ich hier allerdings herausarbeiten und untersuchen möchte ist, auf welche Weise der Signifikant Holocaust sich zum Träger einer eindeutigen semantischen Kritik macht, die vor allem die Unbestimmtheit und die Anzahl seiner Bezüge betrifft.1 Die Grundidee meiner
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Die Spannung zwischen den Begriffen „Signifikat“ und „Signifikant“ wird in Bezug auf die saussuresche linguistische Konzeption des sprachlichen Zeichens im ersten Kapitel erwogen. Ich werde mich an die allgemeinte Bedeutung jener Konzeption halten, um die linguistische Dichte des Begriffes Holocaust zu analysieren. Von jener Konzeption heraus (bzw. der Idee, dass das Wesen der Sprache ist daher das der Fluktuanz und der Transformation) wurden zentrale Themen und Dualismen der zeitgenössischen Philosophie gebildet (wie Langue/Parole, Zeichen/Zeichensynthese, Subjekt/Archiv usw.). Vor allem hat sich jedoch die Interpretation von Jacques Derrida als die wichtigste und einleuchtendste erwiesen: „Nun ist es aber Saussure, der die Beliebigkeit des Zeichens und seinen differentiellen Charakter zum Prinzip der allgemeinen Semiologie beson-
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Betrachtung ist, dass – von einem sprachlichen Gesichtspunkt aus – eine umfassende neue Lesart des Konstrukts Holocaust eine radikale Vertiefung der Komplexität der historischen und symbolischen Hauptthemen erlaubt, auf die es verweist. Im folgenden Kapitel werde ich die terminologischen, historischen und diskursiven Eigenschaften hervorheben, die in diesem Ausdruck enthalten sind: Vor allem aber ist es notwendig, sich jetzt auf das begriffliche und evokatorische Potenzial des Wortes Holocaust zu konzentrieren, in Verbindung mit dem historischen Ereignis, für das es zunächst stand. Das Konstrukt Holocaust muss vor allem in Bezug auf einige Aspekte der Geschichtsschreibung und der Philosophie gelesen werden, die es erlauben, eine umfassende Untersuchung seiner Folgen und seiner symbolischen Rolle in der heutigen Zeit vorzunehmen.
W ORTE
UND
E REIGNISSE
Das Thema der Beziehung zwischen Historizität und Sprachlichkeit, beziehungsweise zwischen den Ereignissen – all das, was von dem Geschehen übrig ist: Dokumente, Spuren, Zeugnisse – und deren Repräsentierbarkeit (Schrift, Wort und Begriff) verweist auf eine klassische historiografische Diskussion, welche auch die Untersuchungen zum Begriff Holocaust beeinflusst. Wenn man nämlich die Beobachtung von Reinhart Koselleck für gültig hält, nach der „in jedes Ereignis zahlreiche außersprachliche Faktoren ein[gehen], und es Erfahrungsschichten [gibt], die sich der sprachlichen Vergewisserung entziehen. […] Allgemeiner gesagt: Sprache und Ge-
ders der Linguistik erhoben hat. Und bekanntlich sind die zwei Motive – Beliebigkeit und Differenzialität – in seinen Augen untrennbar. Beliebigkeit kann es nur geben, weil das System der Zeichen durch Differenzen konstituiert wird, nicht durch die Fülle von Termini. Die Elemente des Bedeutens funktionieren nicht durch die kompakte Kraft von Kernpunkten, sondern durch das Netz von Oppositionen, die sie voneinander unterscheiden und aufeinander beziehen. Dieses Prinzip der Differenz berührt, als Bedingung der Signifikation, die Totalität des Zeichens, das heißt, die Seite des Signifié und die des Signifiant zugleich.“ Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1999, S. 39. Vgl. auch Christian Stetter: Schrift und Sprache, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1999.
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schichte bleiben aufeinander verwiesen, ohne je zur Deckung zu kommen“,2 muss man auch erkennen, dass dieser Verweigerungsprozess wesentlich ist in der Erfahrung der Vernichtung der europäischen Juden und der sich daraus ergebenden Beschreibbarkeit. Die Gesamtheit jener historischen Erfahrung scheint immer wieder geprägt zu sein von dieser Verweigerung gegenüber jenem Verstehen als Prozess der Beschreibbarkeit und einer Reduktion auf Begriffe. Welche Bedeutung hat aber dieser Rückzugsprozess, dieses Verschleiern? In Kosellecks Worten verbirgt sich eine Kernfrage der modernen Geschichtsschreibung, die Frage nach der Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit von Rekonstruktion, Beschreibung und Repräsentation historischer Ereignisse. Die Frage der „Unbestimmtheit“ und der „Unbegreiflichkeit“ in der Dokumentation historischer Ereignisse, die in den vierziger Jahren von Marc Bloch3 – vor allem in Bezug auf die „Antike“ – aufgeworfen wurde, spiegelt sich in der Geschichtsschreibung der siebziger Jahre wider als ein Problem der von Koselleck erwähnten „Niederschreibung der historischen Ereignisse“ selbst. Diese zwei Aspekte der Unbestimmtheit der Dokumente und der Unbeschreibbarkeit der historischen Ereignisse bilden somit den tragenden Kern der jüngeren Geschichtswissenschaften und in gewisser Weise einen Bestandteil der Möglichkeit einer Geschichtsschreibung an sich. Dieser Verweis auf eine bestimmte Art neuer Geschichtsschreibung ist unerlässlich bei dem Versuch, das terminologische Problem des Wortes Holocaust als ein historisches Problem zu betrachten: „Eine Geschichte vollzieht sich nicht ohne Sprechen, ist aber niemals identisch mit ihm, sie lässt sich nicht darauf reduzieren. Deshalb muss es über die gesprochene Sprache hinaus noch weitere Vorleistungen und Vollzugsweisen geben, die
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„So herrscht immer eine doppelte Differenz: zwischen einer sich vollziehenden Geschichte und ihrer sprachlichen Ermöglichung sowie zwischen einer vergangenen Geschichte und ihrer sprachlichen Wiedergabe. Diese Differenzen zu bestimmen ist freilich selber wieder eine sprachliche Leistung; sie gehört zum Geschäft des Historikers.“ Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1979, S. 300.
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Marc Bloch: Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, Stuttgart: Klett-Cotta 1974, S. 61-85.
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Ereignisse ermöglichen“.4 Dies betrifft alle historischen Ereignisse und deshalb auch die Vernichtung der europäischen Juden und die Gesamtheit der Ereignisse, die damit verbunden sind. Im Falle des Holocausts scheint diese Spannung zwischen Ereignissen und Sprachlichkeit eine extreme Form von Radikalität erreicht zu haben, die manche sogar dazu verleitet hat, das als Ende „jeder Möglichkeit des Erzählens“5 zu deklarieren: Hinter Adornos bekannter These – und dem epistemischen Bruch zwischen Geschichte und Sprache, auf den sie verweist – verbirgt sich jedoch mehr als eines der klassischen Hauptthemen der Historiografie. Wiederum von Kosellecks Aussagen ausgehend, ist mir hier die Festsetzung zweier wesentlicher Aspekte wichtig: a) Was Koselleck als „Verweigerungsprozess” bezeichnet, spiegelt sich im historischen Ereignis des Holocausts wie eine Art „Übermaß an Bedeutung“ wider, was, mit dem Ziel, das Ereignis selbst – auch wenn niemals endgültig – zu erklären, im Laufe der Zeit eine eindeutige Vermehrung von Perspektiven und Begriffen bewirkt hat. Diese übermäßige Zuweisung von Bedeutung ist sicherlich die Ursache einer ständigen Fremdverwendung des Begriffs Holocaust, die in diesem Kapitel analysiert werden soll. Es ist jedoch vorwiegend auch seine Macht, politische und soziale kollektive Erfahrungen zu evozieren. Das Ausmaß des Holocausts hat eine außerordentliche Verbreitung und Einbeziehung so unterschiedlicher sozialer Gruppen erfahren, die von diesem historischen und auch symbolischen
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Koselleck: Begriffsgeschichten, Frankfurt a/M: Suhrkamp 2006, S. 15.
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In Meditationen zur Metaphysik entwickelt Adorno eine gesamte existenzielle und philosophische Erwägung über die Krise der modernen Teleologie als „Struktur und Gewähr des poetischen Denkens und der Philosophie“. In diesem Sinn sollte auch folgender, berühmter Text verstanden werden: „Gelähmt ist die Fähigkeit zur Metaphysik, weil, was geschah, dem spekulativem metaphysischen Gedanken die Basis seiner Vereinbarkeit mit der Erfahrung zerschlug. Noch einmal triumphiert, unsäglich, das dialektische Motiv des Umschlags von Quantität in Qualität. Mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung ist der Tod zu etwas geworden, was noch nie zu fürchten war. Keine Möglichkeit mehr, dass er in das erfahrene Leben der Einzelnen als ein irgend mit dessen Verlauf Übereinstimmendes eintrete. […] Kein vom Hohen getöntes Wort, auch kein theologisches, hat unverwandelt nach Auschwitz ein Recht.“ Adorno: Die negative Dialektik, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1970, S. 355-61.
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Moment ausgehend, ihre Identität neu betrachten und neu lesen: Dies ist eine deutliche Konsequenz der so genannten „qualitativen und quantitativen Einzigartigkeit“6 des Holocausts als historisches Ereignis. b) Dieses Übermaß an Bedeutung wird in einem kontrapositiven und paradoxen Sinn von einer Art „Signifikanten-Leere“ begleitet, oder, besser gesagt, von der allgemeineren Unmöglichkeit Bedeutungen zu konstruieren, die in den Betrachtungen von T. W. Adorno, J. F. Lyotard und vor allem durch die ständigen epochalen und universalistischen Verweise von J. Derrida7 so gut beschrieben wird. Wie ich versuchen werde aufzuzeigen, hat diese „Krise des Zeichens“ nicht nur eine gewisse postmoderne und dekonstruktivistische Tradition beeinflusst, sondern war vielmehr Prüfstein für gewisse historiografische und soziologische Perspektiven und hat diese dann in die Krise gestürzt. Objektiv gesehen, stellen diese Mechanismen des Übermaßes an Bedeutung und der „Signifikantenleere/Signifikantenkrise“ die erste intuitive Eigenschaft des Begriffs Holocaust dar und bestimmen heute noch dessen „Erfolg“ und die Häufigkeit seiner Verwendung. Diese semantische Spannung verbirgt einen weiteren grundlegenden Aspekt, nämlich den der Dokumentalität und der Wichtigkeit der Zeugnisse: Der Holocaust stellt das erste historische Ereignis dar, das mit einer derartigen Detailfülle durch offizielle Spuren der Zeit wie etwa Gesetze, Fotografien, Filmmaterial und posthume Zeugnisse – vorwiegend in Form von Texten und Filmen – do-
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Hinter dieser Debatte steckt noch mal die Spannung zwischen sowohl philosophischen (wie die von Adorno) als auch historischen Betrachtungen über das Wesen des Holocausts: „The Holocaust, I think, has at least five, if not more, characteristics that had no precedent in human history; […] It is only from a historical perspective that the Holocaust came to be seen as a major event in the twentieth century.“ Yehuda Bauer: „Contemporary research on the Holocaust“, in: Konrad Kwiet/Jurgen Matthaus (Hg.): Contemporary responses to the Holocaust, Westport/London: Praeger 2004, S. 4-7.
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„Man wird es mir nachsehen, dass ich den Holocaust oder, wie es wörtlich heißt, den Alles-Verbrenner, wie ich ihn anderswo gern genannt habe, hier nur erwähne, um folgendes darüber zu sagen: Es gibt heute sicherlich das Datum jenes Holocaust, das wir kennen, die Hölle unseres Gedächtnisses; doch gibt es für jedes Datum einen Holocaust, er findet stündlich irgendwo auf der Welt statt. Jede Stunde zählt ihren Holocaust.“ Derrida: Schibbolet, Wien: Passagen 2002, S. 98.
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kumentiert worden ist. Bleibt man bei Kosellecks Lesart, so scheint der Holocaust eines der ersten historischen Ereignisse zu sein, in denen es fast zu einer Übereinstimmung zwischen dem Geschriebenen und den Ereignissen selbst gekommen ist. Dies dürfte wohl in einer bestimmten Weise die Idee einer Krise und eines Bruchs zwischen „Zeichen“ und „Ereignissen“ dementieren.8 Die unmittelbare Nähe zwischen Schriftlichkeit und Historizität in der Erfahrung des Holocausts erscheint offensichtlich, vor allem was eine bestimmte Klarheit und Glaubwürdigkeit der Dokumente selbst betrifft: Man denke bloß hierzu, wie die Periodisierung des Holocausts selbst als Endphase der antijüdischen Verfolgung ihre eigene spezifische Zuschreibung und „Objektivierung“ im Protokoll der sog. Wannsee-Konferenz finden konnte, in dem nicht nur der Ausdruck Endlösung der Judenfrage vor-
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In dieser Zäsur spiegelt sich auch der Interpretationskonflikt zwischen zwei wichtigen Traditionen wider. Einerseits stellt sich die philosophische Idee einer „ständigen semantischen Krise“ (eine Krise der Bedeutung) – Vgl. Derrida: Randgänge der Philosophie; Ders.: Schibbolet; Jean-Francois Lyotard: Das postmoderne Wissen, Wien: Passagen 1999; Ders.: Postmoderne Moralitäten, Wien: Passagen 1993; Ders.: Der Widerstreit, München: Fink 1989; Adorno: Die negative Dialektik – anderseits hat sich eine bestimmte andere Tradition entwickelt, die versucht, die Ermordung der Juden Europas als „rein historisches Ereignis“ zu betrachten: „Historisierung teilt mit vielen Begriffen der historischpolitischen Sprache das Schicksal, dass sein Bedeutungsgehalt vage ist, Fehldeutungen somit programmiert sind. Wer eine ‚Historisierung des Nationalsozialismus‘ fordert, muss darauf gefasst sein, mit dem ubiquitären Vorwurf der ‚Relativierung‘ oder ‚Verharmlosung‘ konfrontiert zu werden. Eine nähere Bestimmung dessen, was mit ‚Historisierung‘ gemeint ist, erscheint unerlässlich.“ Uwe Backes/Jesse Eckard/Rainer Zitelmann (Hg.): Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historiesierung des Nationalsozialismus, Berlin: Propyläen 1992, S. 25. Vgl. auch Dan Diner (Hg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zur Historisierung und Historikerstreit, Frankfurter a/M: Fischer 1987. Zur Frage des historiographischen Umgangs mit dem Holocaust vgl. auch Lucy Dawidowicz: The Holocaust and the Historians, London: Cambridge University Press 1981; Arno J. Mayer: Why Did the Evens Not Darken?: The ‚Final Solution‘ in History, New York: Pantheon Books 1989; Dominick LaCapra: History and Memory after Auschwitz, Ithaca/London: Cornell University Press 1998.
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kommt, sondern auch die Vision einer „endgültigen Gesamtlösung“.9 Diese Diskussion ist derart umfangreich und wohlbekannt, dass heute viele Historiker gar die Möglichkeit der Feststellung einer Adhärenz zwischen den Ereignissen und deren Nachweis erneut infrage stellen (gerade auf der Ebene der objektiven Beschreibbarkeit des Holocausts). Von dieser ursprünglichen Schwierigkeit ausgehend, wird die Frage der Thematisierung und also der Beschreibbarkeit des Holocausts ständig von einem Gefühl der Epochalität und der Wesentlichkeit überholt und durchdrungen, das in einem gewissen Sinne eine analytische Verdichtung der Ereignisse selbst nicht erlaubt. Von vielen bedeutenden Gesichtspunkten aus betrachtet würde also der Holocaust nicht allein den gigantischen und unvorstellbaren Prozess der Verfolgung, der Isolation in Gettos, der Deportation und schließlich der Vernichtung eines Großteils der europäischer Juden darstellen – nachweisbar, wenngleich, wie bereits erwähnt, nicht endgültig anhand von Dispositiven, Gesetzen, Protokollen – sondern im Grunde genommen etwas viel Größeres. Das Nachklingen des Wortes selbst scheint ein Gewicht zu haben und Reaktionen auszulösen, wie es kein anderer Begriff der gegenwärtigen Zeit zu tun vermag. Ausdrücke wie „Zivilisationsbruch“ oder „gestaute Zeit“ verweisen in den Worten Dan Diners eigentlich auf eine vorgeschichtliche und radikalere Ursprungsprinzip:
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„Die von Adolf Eichmann verfasste Niederschrift über diese Konferenz ist eines der wichtigsten überlieferten Dokumente zur Planung und Organisation des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden durch das NS-Regime. Durch diese Dokument ist die Konferenz am Großen Wannsee als Synonym für den kaltblütigen, verwaltungsmäßig und arbeitsteilig organisierten Massenmord der NS-Zeit in der Erinnerung.“ Peter Longerich: Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Planung und Beginn des Genozids an den europäischen Juden, Berlin: Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee Konferenz 1998, S. 11. Vgl. auch Christian Mentel: „Das Protokoll der Wannsee-Konferenz. Überlieferung, Veröffentlichung und revisionistische Infragestellung“, in: Norbert Kampe/Peter Klein (Hg.): Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2013, S. 116-38.
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Die Vernichtung der europäischen Juden war ein Geschehen des Zweiten Weltkrieges. Das Wort vom Holocaust ist eine durch Gedächtnis und Reflexion erfolgte Zuschreibung. Das intellektuelle Bemühen gilt der Frage nach dem historischen Ort des Ereignisses im kataklystischen zwanzigsten Jahrhundert, seiner Bedeutung für die Gattung – vornehmlich für das Menschenbild der westlichen Zivilisation. Solches Nachdenken ist in einem universellen Sinne introspektiv. Schließlich hat der Holocaust die elementaren Fundamente von Zivilisation und Kultur erschüttert.10
Diese Introspektivität spiegelt sich faktisch in diesem paradoxen Spiel zwischen dem „Übermaß an Bedeutungen“ und der Eigenschaft der „Unsagbarkeit“ (oder die Krise des Signifikanten), die im Wesen des Ausdrucks Holocaust liegt: Dieses chronische Abweichen des Begriffs kann auch in Bezug auf dessen mehrfache Verwendung festgestellt werden, um nicht nur Genozide zu definieren, sondern auch Aspekte, die eine Kollektivität oder gar globale Kulturen betreffen wie etwa HIV oder andere abnorme Formen menschlicher oder natürlicher Gewaltausübung.11 Dass sich hinter diesen Missverständnissen eine Form von Ignoranz gegenüber der korrekten Be-
10 Diner: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen: Vadenhoeck & Ruprecht 2007, S. 7. „Das Wort vom Zivilisationsbruch hat seine eigene Genese. Neben seiner Bedeutung als Chiffre jener epistemischen Versöhnung zwischen den gegenläufigen, jeweils in sich berechtigten Perspektiven auf das inkriminierte Geschehen – derjenigen das Warum? Ebenso wie der des Wie?, der Perspektive der jüdischen Opfer ebenso wie der der zu Opfern gemachten jüdischen Menschen – reflektiert jenes Wort die Denkanstrengung angesichts einer als solcher empfundenen Aporie: der Aporie eines zukunftsfrohen Weltverständnisses angesichts seines durch den Holocaust verursachten Dementis.“ Ebd., S. 19. 11 „The point is that once the unspeakable is constructed as a theological narrative of destruction, sacrifice, and potential redemption by the term Holocaust, it becomes appropriable as a generic, almost comfortable, appellation for a broad spectrum of disasters: hence the use of ‚Holocaust‘ to refer to African American and American Indian histories, the AIDS crisis, and abortion – to limit this appropriation to public discourse in the United States alone. Concern wit appropriation motivates replacing ‚Holocaust‘ with the Hebrew term Shoa“; Naomi Mandel: Against the Unspeakable. Complicity, the Holocaust, and Slavery in America, Charlottesville/London: Uni. Virginia Press 2006, S. 43.
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deutung von „Holocaust“ verbirgt, darf die Aufmerksamkeit nicht von der Erkenntnis ablenken, dass sich dieser Begriff mit gewissen Folgen verknüpft bzw. eine extrem problematische und zuweilen unbestimmte Ausbreitung erfahren hat und immer wieder erfährt. Mit dem Ausmaß seiner Verweise ist der Begriff Holocaust nicht mehr nur Anliegen von Theologen oder Historikern: Er gehört nunmehr zum Wortschatz der westlichen europäisch-amerikanischen Gemeinschaft. Seine Verwendung ist ausschlaggebend für Stellungnahmen und wesentliche historische, soziale, objektive Erfahrungen. Auf dieser Überzeugung basierend, möchte ich meine Untersuchung weiterführen: Von der Idee ausgehend, dass der Begriff des Holocausts und der semantische Apparat, der damit eng verknüpft ist, paradigmatische Aspekte und wesentliche Eigenschaften des Agierens, des Produzierens und des Repräsentierens seitens der Historizität der westlichen Welt enthüllen.
S HOA
VERSUS
H OLOCAUST
Auf was genau verweist der Begriff Holocaust? Was für eine Art von semantischem Feld wird an der Basis dieses Begriffs definiert? Inwieweit ist es möglich, den Begriff vom historischen Ereignis zu trennen und das historische Ereignis von der auf Erfahrung aufbauenden und epochalen Vorstellungswelt abzusondern, die das Ereignis selbst generiert hat? Wie kommt es dazu, dass sich der Begriff selbst mit vielen weiteren Ausdrücken austauschen lässt, beginnend mit „Shoa“ bis hin zu „Auschwitz“? Was genau bedeutet diese Austauschbarkeit? Diese Art von Fragestellung sollte eigentlich nicht im Sinne einer Dekonstruktion des Ereignisses an sich gelesen werden: Die Gefahr besteht in einer Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Juden Europas als ein abgeschlossenes, historisches Ereignis, das wie jedes andere behandelt werden soll, während es dagegen noch lebendig ist, vor allem in der Erinnerung und am Leib der Überlebenden und jener, die diesen am nächsten stehen. Man kann jedoch nicht umhin, die Worte bzw. die Begriffe zu hinterfragen, mit denen dieses historische Ereignis täglich beschrieben wird. In diesem Sinne stellt sich die Frage, ob das, von dem hier die Rede ist, überhaupt verstanden wird, wenn man den Begriff Holocaust verwendet: Abgesehen von der Pluralität der Stimmen, die den Begriff heute noch in dessen
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uniqueness wahrnehmen und überarbeiten, wird er von vielen Seiten für sich beansprucht und vor allem in Bezug auf seine natürliche Ausbreitung und seine Legitimität verhandelt. Der erste problematische Aspekt ist gerade, wie von Giorgio Agamben beschrieben,12 der Bezug zwischen dem Begriff Holocaust und dem spezifischeren Begriff Shoa. Obwohl es auf theoretischer und praktischer Ebene zum Beispiel wohl bekannt ist, dass der erste Begriff eine gegenüber der Shoa größere Vielzahl an Verweisen bietet – auch wenn er eine Art theologisch-hermeneutische Zweideutigkeit produziert – wird der effektive Einsatz dieser Begriffe oft nicht bedacht:13 Es würde genügen, hier auf die fast
12 In diesem Sinn lohnt es sich nicht so viel, eine ethymologische Richtigkeit zu beanspruchen: „Auch die Geschichte eines falschen Begriffs kann lehrreich sein. Im Italienischen ist ‚olocausto‘ die gelehrte Transkription des lateinischen Substantivs holocaustum, das seinerseits als Übersetzung des griechischen holókau(s)tos eintritt (dieses ist allerdings ein Adjektiv und bedeutet wörtlich ‚ganz verbrannt‘). Die Bedeutungsgeschichte des Wortes ist im Wesentlichen christlich, denn die Kirchenvater benutzen es, um die komplexe Opferlehre der Bibel zu übersetzen. […] Von hier aus tritt der Ausdruck Holocaust seine semantische Wanderung an, bis sich in den Volkssprachen immer mehr die Bedeutung verfestigt, wie sie die heutigen Wörterbücher verzeichnen: ‚Höchstes Opfer im Zusammenhang einer vollkommenen Hingabe an heilige und höhere Ziele‘. […] Auch die Juden benutzen zur Bezeichnung der Vernichtung einen Euphemismus. Es handelt sich um das Wort so’ah, der ‚Zerstörung, Katastrophe bedeutet‘ und in der Bibel häufig die Vorstellung einer göttlichen Strafe einschließt: so ist im Euphemismus so’ah doch keinerlei Spott enthalten. Wenn dagegen mit dem Begriff ‚Holocaust‘ eine auch nur entfernte Verbindung zwischen Auschwitz und biblischen olah, zwischen dem Tod in den Gaskammern und der ‚vollkommenen Hingabe an heilige und höhere Ziele‘ hergestellt wird, dann kann das nur wie Hohn klingen.“ Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt: Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a/M: Suhrkamp 2003, S. 27-28. 13 „A case in point: the phrase, ‚The Holocaust‘ in contemporary American language. There can be little question exactly what this terminology means in common parlance. Indeed, ‚The Holocaust‘ has very narrow and specific connotations well recognized and well understood by anyone who has a reasonable working knowledge oft he American idiom. Actually, one can delineate two connotations in this rubric – one general, the other specific. In general, a „holo-
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vollständige Austauschbarkeit der Begriffe hinzuweisen, der in fast allen Schulen, Kommunikationsmitteln und vielleicht auch akademischen Kontexten dem Thema des Genozids an den Juden begegnet wird. Eine derartige Überlegung ist nicht auf einfachem Wege anhand einer technischgeschichtlichen oder ethymologischen Stellungnahme, wie bei Agamben, anzugehen, einfach weil ihre Bedeutung auf ein wesentliches Kernthema verweist, das den symbolischen, historischen und epochalen Wert des Holocausts selbst betrifft. Wenn das Wort Shoa an die Einzigartigkeit der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas erinnert, so ist aber der Begriff Holocaust durch seine Universalität und seinen Verweis auf die Komplexität des Verfolgungs- und Konzentrationslagersystems der nazifaschistischen Vernichtung gekennzeichnet: Innerhalb dieses Systems stellten die Juden eine der staatsfeindlichen Kategorien dar, zusammen mit den Sozialdemokraten, den Kommunisten, den Homosexuellen, den Roma, den Zeugen Jehovas, den Behinderten, den Sinti, den Asozialen. Wenn es nämlich offenkundig ist, wie das Element des Rassenhasses gerade die jüdische Bevölkerung als ausschließliche Zielscheibe sah, so darf nicht in Vergessenheit geraten, wie andere Ausdrücke wie der des „Untermenschen“ – der in der Regel den slawischen Bevölkerungen, aber vor allem den „Zigeunern“ (Sinti und Roma) galt – ähnliche Verfolgungen nach sich zogen. Man denke hier nur an
caust“ now is commonly used to connote a genocide, i.e., the systematic murder of any ethnic group. [...] But the most common and most prominent use of this phrasing does not seem to require any qualification; after all it is taken to be the archetype, the prime case, against which all secondary applications of ‚holocaust‘ are measured and from which they each draw their sense of meaning. [...] And yet, on second thought, perhaps there is more to be said about ‚The Holocaust‘ than simply this. The sense one has today of what ‚The Holocaust‘ means did not evolve in a vacuum bit, like all semantic developments, has a context. Moreover, in examining that context, one is necessarily drawn into a consideration oft hat other side of language, the self-revelatory aspect involved in the choice of a given word of phrase. For, as it turns out, ‚Holocaust‘ is a rather strange term; and its use as the label to designate the Jewish genocide is neither obvious nor inevitable – in fact, it is surprising.“ Zev Garver/Bruce Zuckermann: „Why Do We Call the Holocaust ,The Holocaust‘? An Inquiry into the Psychology of Labels“, in: Modern Judaism 9, no. 2 (1989), S. 197-98.
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das Bestehen eines Begriffes wie der des Porrajmos oder Samudaripen,14 oder selbst der Begriff Churban: all diese Ausdrücke sind irgendwie Teil der Menge an Bezügen, die mit den Begriffen Holocaust und Shoa beginnen. Die unvermeidbare Austauschbarkeit beider Begriffe – nicht bloß, wenn man an andere Begriffe wie „Auschwitz“ oder „Hitler“ denkt – ist zum Teil auch die einfache Auswirkung einer komplexeren Frage und zwar das, was Michael Rothberg in einem Aufsatz als Spannungsfeld zwischen Historisierung und Universalismus beschrieben hat, als Teil der Wahrnehmung dieser Erscheinung selbst: Of all dilemmas, paradoxes, and enigmas facing those who study the Holocaust, the question of its uniqueness or singularity is perhaps the most vexing and divisive. […] Thus, the uniqueness of the Shoa is counterposed to its historicization, the one excluding the other. Similarly, the singularity of the Holocaust is counterposed to its universality – and once again, the one excludes the other.15
Das Thema der Beziehung zwischen Historizität und Einzigartigkeit des Holocausts ist vor allem in Verbindung mit der Frage des Vergleichs zwischen dem Begriff und anderen Formen der Verfolgung und Vernichtung im Zwanzigsten Jahrhundert bedeutsam. Der Verfasser ist der Überzeugung, dass der Holocaust absolut einzigartig ist, jedoch nicht nur als histo-
14 G. Lewy und dann S. Milton (zusammen mit dem renommierten HolocaustForscher Yehuda Bauer) haben sich mit dem Schicksal von Sinti und Roma im Dritten Reich befasst. Die beiden sehen deutliche theoretische Parallelen in der Behandlung von Juden und „Zigeunern“, obwohl nach Lewys Meinung „Der Zigeunerpolitik der NS-Regimes die fanatische Entschlossenheit fehlte, die das mörderische vorgehen gegen die Juden kennzeichnete.“ Guenter Lewy: ‚Rückkehr nicht erwünscht‘. Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich, Berlin: Propyläen 2001, S. 374. Zur Debatte vgl. Yehuda Bauer und Sybil Milton: „Correspondence. Gypsies and the Holocaust“, in: History Teacher 25 (1992), S. 513-17. 15 Alan Milchman/Alan Rosenberg: „Two Kinds of Uniqueness: The Universal Aspect of the Holocaust“, in: Rochelle L. Millen (Hg.): New Perspectives on the Holocaust. A Guide for Teachers and Scholars“, New York/London: New York University Press 1996, S. 6-7.
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risches Ereignis, sondern auch als kulturelle und epochale Erscheinung. Die Faktoren, die den Holocaust einzigartig machen, sind nicht allein in den historischen Ereignissen zu suchen, sondern auch in der Kraft, Spezifität und Singularität deren Repräsentation. Der Begriff Holocaust setzt sich mit einem sich stetig ausweitenden, semantischen Komplex auseinander, weil sich Mittel und Instrumente für seine Wiedergabe und Repräsentation fortlaufend vermehren: Man denke hier nur an die Flut von emotionalen und sozialen Schwingungen, die er innerhalb der westlichen Gesellschaft auszulösen vermag, vor allem durch die unzähligen filmischen und literarischen Repräsentationen, die ihn schonallein zu einem singulären Ereignis machen und gemacht haben. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, etwas vielleicht Selbstverständliches, dennoch Essentielles zu betonen: Der Holocaust ist ein historisches Ereignis, dessen Außergewöhnlichkeit und Einzigartigkeit eng mit der Entwicklung der visuellen Medien in der Nachkriegszeit verknüpft ist.16 Die Wichtigkeit dieser Revolution anzuerkennen ist unerlässlich: Sie hat nicht nur die nie erzählten und blutigsten Aspekte der Geschichte sichtbar gemacht; diese Revolution der Medien und der Kommunikationsinstrumente hat die Art und Weise, in welcher Geschichte erzeugt, konstruiert und dargestellt wird, verändert.17 Gleichzeitig ist es aber so, dass der Holocaust nicht nur eine
16 „Doch sobald sich die Kamera vom Stativ emanzipiert hatte, sobald sie wirklich tragbar, mit einem Entfernungsmesser und einer Vielfalt von Objektiven ausgestattet war, die selbst aus der Entfernung ungeahnte Wunder bei der Herstellung von Nähe vollbrachten, wuchs der Fotografie bei der Vermittlung des Schreckens von massenhaft produziertem Tod eine Unmittelbarkeit und eine Autorität zu, die jeder sprachlichen Darstellung überlegen war. Wenn es ein bestimmtes Jahr gab, in dem Fotos mit ihrer Fähigkeit, die abscheulichsten Realitäten nicht nur aufzuzeichnen, sondern regelrecht zu definieren, alle noch so komplexen Erzählungen übertrumpften, dann war es sicherlich das Jahr 1945 mit den Bildern, die im April und Anfang Mai in den Tagen nach der Befreiung der Lager Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau aufgenommen wurden.“ Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München/Wien: Hanser 2003, S. 31-32. 17 An dieser Stelle knüpft sich das Thema der Beziehungen zwischen dem historischen Geschehen und der Erinnerung an dieses Geschehen wieder, bzw. zwischen kultureller und natürlicher Kommunikation. „Der Prozess, der die Übertragung von im Gedächtnis einer Generation enthaltenen Informationen auf das
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Erscheinungsform einer Medienrevolution darstellt; der Genozid an den Juden verbirgt eine radikale menschliche, historische und philosophische Komplexität, die weiterhin auf das Bedürfnis drängt, den Sachen auf den Grund zu gehen, unermüdlich nachzuforschen und nachzudenken.
S CHLUSSFOLGERUNG Wenn es also notwendig ist, beim Wort zu beginnen – beim grundlegenden Signifikanten – um sich mit der Vernichtung der Juden Europas zu konfrontieren, stellt uns das Wort selbst vor weitere Fragen. Schon seit der Nachkriegszeit haben sich die Phasen der Verwendung der Begriffe Holocaust und Shoa komplex und diskursiv gestaltet: Das, was heute von dieser Diskussion übrig bleibt – abgesehen von der Frage der geografischen Verbreitung18 – ist eine progressive weitere Aushöhlung dieser Worte zuguns-
Gedächtnis der darauf kommenden Generation ermöglicht, kann überhaupt als Kernfrage der menschlichen Kommunikation angesehen werden: Alle Lebewesen übertragen genetische Informationen von einer Generation auf die andere, der Mensch überträgt außerdem auch Informationen, welche Individuen im Laufe ihres Lebens bei ihrer Konfrontation mit der Welt sich angeeignet (erworben) haben, was gewöhnlich als die Historizität des Menschen bezeichnet wird.“ Vilém Flusser: Kommunikologie, Frankfurt a/M: Fischer 2007, S. 309. Zu dem Gesamtzusammenhang von Gedächtnis, Geschichte und Kultur siehe: Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C.H. Beck 2006; Ders.: Geschichte im Gedächtnis München: C.H. Beck 2007; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H. Beck 1992. 18 Pragmatisch betrachtet, kann heutzutage auf den Begriff Holocaust scheinbar noch nicht verzichtet werden, obwohl mancher gute, objektive Grund für die Verwendung des Terminus Shoa anstelle von Holocaust sprechen mag: „in the English-speaking world the word is so deeply rooted, that it is impractical to deviate from it.“ Walter Laqueur/Judith T. Baumel (Hg.): The Holocaust Encyclopedia New Haven/London: Yale University Press 2001, S. XIII. Vgl. auch Peter Novick: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stutt-
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ten der thematischen und historischen Komplexität, die sie offenbart. In einem positiven Sinne hat die evokative Kraft der Begriffe – welche die Interpretation der Postmodernen so markant kennzeichnet – mehr Raum für eine thematische und historische Vertiefung gelassen: Von diesem Interesse zeugt gerade das Vorhandensein von Schulen und Studiengruppen innerhalb der verschiedenen Forschungs- und Gedenkstätten Europas.19 Worte genügen nicht mehr, sodass Ausdrücke wie „Holocaust“ und „Shoa“ – sowie „Auschwitz“, „Churban“ oder „Porrajmos“– selbst von einer narrativen Auslegung und einer Diskursivität der historischen Ereignisse kritisch überholt worden sind. Am Ende sind sie nicht imstande, die Gesamtheit der evozierten Ereignisse zu umfassen.20 Die Diskussion um die Nutzung der Begriffe stellt uns somit vor zwei Fragen: a) Die Verwendung, die Verbreitung und die direkten Kritiken des Begriffs Holocaust wie auch des Wortes Shoa werfen sprachliche und historische Fragen auf: Wie vielen historischen Ereignissen dient das Wort Holocaust (bzw. Shoa) als Signifikant? Welches semantische Feld eröffnet dieser Begriff? Inwieweit können Worte ein historisches Ereignis defi-nieren und eingrenzen?
gart/München: DTV 2001, S. 178; Ulrich Wyrwa: „Holocaust. Notizien zur Begriffgeschichte“, in: Jahrbuch zur Antisemitismusforschung 8 (1999): S. 300-11. 19 Heute kann man die zuletzt aktualisierte Liste der verschiedenen Gedenk- und Erinnerungsorte unter der folgenden Adresse finden: http://fra.europa.eu/fra Web-site/ attachments/Focus-Report-Discover-the-Past-for-the-Future.pdf (Juni 2016). 20 „Die Auseinandersetzung damit führt dann schließlich in der Zusammenfassung zu einem Plädoyer für die These, dass beide Völkermorde nicht nur direkt, sondern auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Rassenpolitik und unter Heranziehung einer wissenschaftlichen Genozid-Definition mit einander vergleichbar sind. Damit sind jedoch keineswegs alle Probleme gelöst. Die Kontroverse, und um eine Kontroverse handelt es sich zweifellos, ist nämlich untrennbar mit bestimmten politischen, moralischen und selbst religiösen Momenten verbunden. Juden mögen sich als ‚auserwählte Opfer’ betrachten, und Sinti und Roma können darauf hinweisen, dass sie härter und länger verfolgt und diskriminiert wurden als Juden.“ Wolfgang Wippermann: ‚Auserwählte Opfer?‘ Shoa und Porrajmos im Vergleich eine Kontroverse Berlin: Frank & Timme 2005, S. 11-12.
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b) Die Gesamtheit der auf Erfahrung aufbauenden, historischen, repräsentativen und symbolischen, mit dem Begriff Holocaust verbundenen Ebenen bewirkt scheinbar dessen Unangemessenheit selbst: Wo beginnt die Sprache als Wort, diese Ereignisse darzustellen? Welche symbolische, imaginäre und kollektive Kraft entwickelt sich aus diesen Ereignissen heraus gegenüber und nach der Verwendung der Begriffe selbst? Ein umfassender sprachlicher Annäherungsversuch an die Historizität strukturiert sich von einer Untersuchung ausgehend, die, beim Wort beginnend, auf die Handlungen, die Narrationen und die Diskursivität zuzugehen weiß, welche in den verschiedenen historischen Ereignissen enthalten sind. „Narrativität“ und „Diskursivität“ sind zwei Schlüsselbegriffe der Geschichtsschreibung, die die Komplexität der historischen Ereignisse in deren sprachlicher, anthropologischer und philosophischer Gliederung neu definieren können. Der Holocaust erlaubt aufgrund seiner Komplexität gerade diese Art von Betrachtung.
Geschichte und Narrativität
Der Holocaust – oder besser gesagt die Gesamtheit der Ereignisse, auf die dieser Begriff, wie der von der Shoa zu verweisen scheint – wird hier also als ein historisches Gesamtereignis gelesen, das alle epochalen Spannungen unserer westlichen Gegenwärtigkeit.1 Sein Wesen und die Möglichkeit selbst, dieses Wesen zu verstehen, definieren sich aber nicht über seine eigene Historizität hinaus, sondern von historisch-philosophischen Paradigmen ausgehend, allen voran die Beziehung zwischen Historizität und Sprachlichkeit. In diesem ersten Teil der Arbeit wird es jedoch wesentlich sein, den epochalen Aspekt des Holocausts – in seiner evokativen Kraft – nicht außer Acht zu lassen, jedoch mit dem Versuch verbunden, seine faktische und epistemologische Spezifität als historisches Ereignis zu beschreiben und daher als dekonstruierbare und – innerhalb einer qualitativen, sprachlichen und prozesshaften Analyse – verdichtbare Tatsache zu beleuchten. Die Arbeit, die ich nun vorstellen möchte, basiert auf der Idee einer Wiederaufnahme der kommunikativen, sprachlichen und diskursiven
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J. Alexander spricht auch über die universalistische und zunehmende (teilweise moralische) Prägung des Holocausts: „The archetypical trauma drama of the twentieth century that became ever more generalized and more accessible, and the criteria for moral responsibility in social relations, once closely tied to American perspectives and interests, came to be defined in a more evenhanded, more egalitarian, more self-critical – in short, a more universalistic – way.“ Jeffrey C. Alexander: „On the Social Construction of Moral Universals. The ‚Holocaust‘ from War Crime to Trauma Drama“, in: European Journal of Social Theory 5 no. 1 (2002), S. 41.
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Aspekte des Holocausts: Dieses Phänomen äussert sich heute immer mehr als ein kultureller Prozess und ein Prozess kollektiver Kommunikation. Obwohl er eine Reihe von theologischen und philosophischen Fragestellungen aufwirft, die bereits weiter oben aufgeführt worden sind, stellt sich der Holocaust in der Tat vor allem als historisches Ereignis dar, als reales Ereignis, das sich freilich aus den Zeugnissen, jedoch vor allem aus den Dokumenten, Spuren, Objekten und Orten zusammensetzt, die uns die Möglichkeit einer detaillierten und analytischen Rekonstruktion bieten. Ohne die enorme historisch/analytische Arbeit der Rekonstruktion Tag für Tag, Akte für Akte des Vernichtungsprozesses; ohne diese Art objektiver Feldanalyse würden wir heute nicht über die Gesamtdarstellung der antijüdischen Verfolgung verfügen. Diese Perspektive – die sich dank Schulen, Debatten und Dokumentationszentren zur Erforschung des Holocausts herausgebildet hat2 – ist immer durch eine andere Gesamtheit von Modalitäten philosophischer und stark symbolisch- theologischer Prägung widerspiegelt worden, die auf die Frage nach der außerhistorischen oder zumindest intrahistorischen Bedeutung dieser Gesamtheit von Daten und Analysen ausgerichtet ist und von ihr generiert wird.3
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Unter den zahlreichen allgemeinen, historischen, einführenden Büchern über den Holocaust werde ich folgende Werke in Betracht ziehen: a) das durch einen klaren, konstruktivistischen Charakter geprägte Buch von Raul Hilberg: The Destruction of the European Jews, New Haven/London: Yale University Press 2002; b) Saul Friedländer: Nazi Germany and the Jews. The Years of Persecution 1933-39, New York: Harper Collins 1997; Ders.: The Years of Extermination, New York: Harper Collins 2007; in diesen Texten versucht Friedländer durch eine bestimmte Erzählstruktur, die theoretische Diskussion der letzten Jahrzehnte über die Rolle der Narrativität in der Geschichtsschreibung erscheinen zu lassen; c) Die Arbeit von Wolfgang Benz: Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München: Oldenbourg 1991; Ders.: Der Holocaust, München: C.H. Beck 2005 stellt sich als notwendigen Beitrag dar zur bundesdeutschen Diskussion; vgl. auch Aly Götz: Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a/M: Fischer 2005.
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Neben den bekannten metaphysisch-philosophischen Interpretationen des Themas, wie die von Hans Jonas, Jacques Derrida, Jean-François Lyotard, Emmanuel Lévinas, müsste man die frühen rein theologischen Entwicklungen über die
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„Historizität“ und „Bedeutung“ sind zwei Begriffe, innerhalb derer von der Schule bis hin zu den Universitäten und Akademien das Thema des Holocausts gedacht, beschrieben und scharf umrissen wird: Diese Dichotomie prägt viele der methodologischen Spannungen, die das Thema des Holocausts betreffen und sorgt gleichzeitig für die Erhaltung der Lebendigkeit einer Art unerschöpflichen Produktivität. Die wechselseitige Abhängigkeit beider Begriffe darf nicht als selbstverständlich gelten, sie birgt vielmehr einen problematischen Kern in sich, der erklärt werden muss, der bei anderen historischen Ereignissen nicht auftritt und die Beziehung selbst zwischen historischer Faktizität und seiner Lesbarkeit betrifft. Wenn das, was Koselleck sagt, wieder einmal über die fundamentale Beziehung zwischen Sprache und Materialität stimmt, so bin ich der Meinung, dass diese Kreisförmigkeit – die jedes historische Ereignis charakterisiert – im Falle der Konstruktion des Holocausts viel tiefer gehende Bedeutungen annimmt. Die im Holocaust enthaltene Beziehung zwischen Historizität und Sprachlichkeit ist aus zwei wesentlichen Gründen durch eine unterschiedliche epistemologische Qualität gekennzeichnet, die eine gewisse Einzigartigkeit der Judenvernichtung betrifft, vor allem in Bezug auf deren ethische und humanitäre Auswirkungen: a) In der Erfahrung der Judenvernichtung scheint der Niederschrift des historischen Ereignisses etwas Außergewöhnliches anzuhaften. Obwohl die Nationalsozialisten alles Erdenkliche getan haben, um konkrete Beweise und Spuren ihres Handelns zu beseitigen, bleiben offensichtliche Spuren ih-
Bedeutung und zunächst über die Existenz eines religiösen Anspruchs nach Auschwitz konfrontieren; vgl. dazu Gregory Baum: „Theology after Auschwitz: A Conference Report“, in: The Ecumenist 12, 1974; Wolfgang Zucker: „Thirty Years after the Holocaust: A Midrash for the Church“, in: Lutheran Forum 9, 3 1975; Alice L. Eckardt: „Post-Holocaust Theology: A Journey out of the Kingdom of Night“, in: Holocaust Genocide Studies 1, 2 1986; Alice L. Eckardt: „The Holocaust, the Church Struggle, and Some Christian Reflection“, in: Richard Libowitz (Hg.): Faith and Freedom: A Tribute to Franklin H. Littell, 1987; H. James Cargas: Shadow of Auschwitz. A Christian Response to the Holocaust, New York: Crossroad 1990; Arthur R. Eckardt: Reclaiming the Jesus of History. Christology Today, Minneapolis: Fortress Press 1992.
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rer Verbrechen erhalten: Die Konzentrationslager, die juristischen Protokolle und Akten, wie auch die verschiedenen Orte der Razzien, Konzentrierungen und Deportationen bleiben als unauslöschbare Spuren in ganz Europa bestehen, von Spanien bis in die Ukraine. Diese Akten, Dokumente und Orte sind Zeugnisse und Fakten, deren Bedeutung nicht nur an einen analytischen Aspekt gebunden ist oder etwa darin besteht, uns über ein Geschehnis, eine politische Entscheidung oder ein System von Verfolgung und Zwangsarbeit zu informieren. Diese Gesamtheit von Orten, Räumen und Dokumenten steht in engster Beziehung zu diesem Riss und diesem Nicht-Aussprechbaren, das sich auf der Schwelle der Geschichte und der Interpretation selbst der nationalsozialistischen Verbrechen befindet. In gewisser Hinsicht – auch wenn keineswegs bewiesen, obwohl denkbar – ist die Krise der Sagbarkeit des Holocausts von der selben Zuschreiblichkeit charakterisiert, besser gesagt von der Dramatik, die Folgerichtigkeit und Kompaktheit der verbliebenen Spuren zu generieren scheint. b) Diese gespenstische Gesamtheit von Bedeutungen existiert und lebt weiter innerhalb der sozialen und historischen Kultur der westlichen Welt und sollte nicht als Effekt einer besonders mystischen oder trüben Beziehung zur Geschichte betrachtet werden: Sie ist selbst Geschichte. Sie gehört für Millionen von Menschen zur täglichen Erfahrung und stellt eine unersetzliche Möglichkeit für die europäischen Völker dar, sich mit der Geschichte selbst zu konfrontieren und sich ihr anzunähern. Diese Wunde, die individuelle und kollektive Gewissen in die Krise zu führen scheint, ist paradoxerweise von dieser analytischen und objektiven Linie ausgehend – in Verbindung mit dem „Wer“, dem „Wann“, dem „Wie“ und dem „Wo“ der Vernichtung – strukturiert und geprägt, die uns immer wieder erklärt, wie es zu diesem Prozess der Verfolgung, Gettoisierung, Konzentration und Vernichtung kommen konnte. Gerade diese Linearität, diese offenkundige Komplexität wird jedoch in eine Krise geführt und ständig mit einem Überschuss an Bedeutung belastet. Der Holocaust ist in seinem Wesen als historisches Ereignis zerrissen. Die, von diesen zwei Blickpunkten ausgehend, produzierte Kreisförmigkeit generiert faktisch die heutige Repräsentation des Holocausts aufgrund dieser internen Eigenschaft der Undefinierbarkeit: Diese Kreisförmigkeit ist eine Art epistemologische Spirale, die versucht, historische Ereignisse (Was ist geschehen?) mit deren Verständlichkeit von einem ethischen und symbolischen Gesichtspunkt aus gesehen (Welche Bedeutung
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hat das Geschehene?) auf rationeller Ebene wieder zusammenzuführen, wobei sie das klassische Thema der Unbeschreibbarkeit und der Unüberwindbarkeit (trotz disziplinarischer Forderungen) weiter bestehen lässt. Selbst Raul Hilberg, als einer der großen Historiker des Holocausts anerkannt, hat sich oft mit diesem dramatischen Auflösungsprozess der historischen Daten und der Folgerichtigkeit der Phasen des Holocausts auseinandergesetzt: Ausgerechnet derjenige, der uns als Erster anhand einer detailreichen und analytischen, auf fünfzig Jahre Forschung gestützten Arbeit das weitreichendste Spiegelbild der Evolution der Judenvernichtung geliefert hat, musste mehrmals erfahren, wie der analytische Charakter des Historikers sich an der unmerklichen Auflösung der Ereignisse selbst stößt. In ihren fortgeschrittenen Phasen hat die Holocaust- Forschung mannigfaltige Spezialisierungen hervorgebracht. Indem der Gegenstand in immer kleiner werdenden Bestandteilen bearbeitet wird, lassen sich Ähnlichkeiten und Unterschiede deutlicher sichtbar machen, doch gibt es keine Endgültigkeit. Alle Ergebnisse befinden sich stets in einem Zwischenstadium, das man zu jeder Zeit ändern kann. Das liegt im Wesen des empirischen Vorhabens. Wohl ist die Historiographie auch eine Kunstform, die das Streben nach Vollendung fordert, aber die Wirklichkeit der Ereignisse ist nicht rekonstruierbar.4
Hinter diesem tiefen Dilemma verbirgt sich jedoch ein weiteres klassisches Problem der historischen Wissenschaften: die Spannung zwischen Historizität und Narrativität. Vom Standpunkt der historisch/analytischen Wissenschaften aus betrachtet, können die semantischen und lexikalischen Nuancen der oben erwähnten Begriffe und der Interpretationen innerhalb der objektiven Unterscheidungen und einer Art disziplinarischer Erklärbarkeit des Objekts der eigenen Analyse vollständig entschlüsselt werden. Der Historiker wird sich mit der „Phase für Phase“ durchgeführten Überschreibung der zwischen 1933 und 1945 geschehenen Ereignisse beschäftigen, der Rechtstheoretiker wird die legislativ-normativen Passagen der antijüdischen Reglungen neu bewerten und der Soziologe wird versuchen, die verschiedenen Tendenzen innerhalb des sozialen Zusammenlebens zur Zeit des Nationalsozialismus zu verstehen, indem er in einer Reihe von Untersuchun-
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Hilberg: Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren, Frankfurt a/M: Fischer 2002, S. 242.
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gen, welche eine Formulierung der so genannten „puren Vergangenheit“ zum Ziel haben, die Motive für den Genozid betrachtet. Nach Abschluss einer derartigen Analyse wird man auf einer zweiten Ebene legitimiert, Worte, Begriffe und Ausdrücke zu finden (wie Shoa statt Holocaust) die in der Lage sind, dieses Ereignis selbst tiefgründig zu erfassen und einzuordnen, und man wird vielleicht gar in der Lage sein, einen präziseren Bezug zwischen Wörtern und Ereignissen zu definieren. Die Gesamtheit der in die Untersuchung des Holocausts involvierten analytischen Perspektiven haben eine wesentliche Rolle gespielt, vor allem im Hinblick auf das Bedürfnis nach Erkenntnis über den Vernichtungsprozesses und dessen verschiedener Phasen. In diesem Sinne würde es genügen, an die begrifflichen Abfolgen wie die der „Verfolgung, Gettoisierung, Konzentration und Vernichtung“ zu denken: Derartige Ausdrücke und die Fakten, mit denen sie in einer wechselseitigen Beziehung stehen, werden von einer breiten Mehrheit der europäischen Bevölkerung verstanden und geteilt, aufgrund der Bilder, der Filme und der Rekonstruktionen, die verschiedene Medien vorgeschlagen haben, die, von vielen Gesichtspunkten aus gesehen, mehr oder weniger diskutabel, aber dennoch vollkommen nachvollziehbar sind. Dieser Beschleunigung anhand ausführlicher Beschreibungen und historiografischer Rekonstruktionen ist jedoch immer wieder auf die symbolische und außergeschichtliche Radikalität des Ereignisses selbst gestoßen: bereits seit den ersten Interpretationen der Nachkriegszeit hat sich ein Sinn für eine gewisse Form des Übertreibens entwickelt, der auf allen interpretativen Ebenen dieses historischen Ereignisses und mit dem Auftreten einer mit ihm verbundenen diskursiven Normalität zu finden ist.5 Gerade auf dieser Ebene kommt nämlich ein anderer Blickpunkt hinzu, der nicht nur die Philosophie der ersten „Generation nach Auschwitz“ durchdrungen, son-
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„Die Wahrheit ist, dass die einzelnen ‚Elemente‘ des Holocaust – die ihn in ihrer Summe erst möglich machten – durchaus normal waren – ‚normal‘ nicht im Sinne vertrauter, gründlich beschriebener und klassifizierter Phänomene (dazu war die Erfahrung des Holocaust zu neu), sondern weil diese sich dem Begriff der Zivilisation und ihrer Zielvorstellungen, Prioritäten und inhärente Visionen unterordneten – allen voran dem Streben nach menschlichem Glück und der perfekten Gesellschaft.“ Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg: Europäische Verlaganstalt 1992, S. 22.
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dern auch bestimmte Tendenzen im pragmatischen Bereich charakterisiert hat:6 dieser Blickpunkt sieht den Holocaust nicht als normales historisches Ereignis, das mit den bewährten Instrumenten der historischen Forschung analysiert werden kann, sondern spricht ihm eine symbolische und methodologische Bedeutung zu, die „jenseits“ des Gewohnten liegt. In einem gespannten Verhältnis zur historischen Forschung selbst hat dieser Blickpunkt ständig das radikale Bedürfnis der Findung einer Repräsentationsform und der Wortfindung – jenseits der technischen Erklärungen – generiert, um den Holocaust nicht nur als historisches Ereignis zu beschreiben und zu beleuchten. Dieses radikale, viszerale Bedürfnis – nicht nur seitens der Überlebenden, sondern auch all derer, die mit ihnen in Kontakt getreten sind – hat grundlegende literarische, philosophische und ethisch/soziale Bewegungen ins Leben gerufen und charakterisiert, die im Laufe der Zeit in Büchern, Erzählungen, Fernsehserien, philosophischen Schulen, großen Hollywoodproduktionen und internationalen Vereinigun-
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In den von Domick LaCapra und Cathy Caruth entwickelten Theorien kann man den Versuch erkennen, die Narrativität des Holocausts neu zu denken. Besonders in der Philosophie von Caruth findet man die Idee der Wiedergewinnung der psychologischen (in Bezug auf Freud und Lacan) bzw. ethischen (in Bezug auf Lévinas) Bestandteile des Holocausts. Deren Versuch ist es, eine gesamte psychologisch/historische Perspektive zu gründen: „I would like to suggest that is here, in the movement from German to English, in the rewriting of the departure within the languages of Freud’s text, that we partecipate most fully in Freud’s central insight, in Moses and Monotheism, that history, like trauma, is never simply one’s own, that history is precisely the way we are implicated in each others traumas. For we – whether as German – or as English-speaking readers – cannot read this sentence without, ourselves, departing. In this departure, in the leave-taking of our hearing, we are first fully adressed by Freud’s text, in ways we perhaps cannot yet fully understand. And, I would propose today, as we consider the possibilities of cultural and political analysis, that the impact of this not fully conscious address may be not only valid but indeed a necessary point of departure.“ Cathy Caruth: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative and History, Baltimore: John Hopkins University 1996, S. 23. Vgl. auch Dominick LaCapra: Representing the Holocaust. History, Theory, Trauma, Ithaca/London: Cornell University Press 1994; Ders.: Writing History, Writing Trauma, Baltimore: John Hopkins University Press 2001.
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gen Gestalt genommen haben, die auf irgendeine Weise von dieser emotionalen Radikalität zeugen. Dieselben Fragen der sechziger Jahre, die Adorno stellt, weisen auf diese absolute Spezifität und Außergewöhnlichkeit des Genozids der Juden und seiner Sagbarkeit hin. Zwischen Adornos tief greifender Betrachtung – in welcher die Untauglichkeit des Wortes und somit des wesentlichen Instruments des Sagens und Repräsentierens selbst behauptet wird – und der jetzigen Zeit liegen fast vierzig Jahre, unzählige Erzählungen, Bücher, Forschungen, Filme, Drehbücher und auch fast zwei Generationen. Die Wahrnehmung des Holocausts unterscheidet sich heute deutlich von der Damaligen in vielen Aspekten, vor allem durch ihre starke Tendenz zur Verbreitung:7 von diesem Gesichtspunkt aus ist es offensichtlich, wie der Ort der „adornianischen Unsagbarkeit“ vollständig eingenommen worden ist von einer Fülle von Repräsentationen, Rekonstruktionen und vor allem Erklärungen. Vom Gesichtspunkt der Sprache aus betrachtet, könnte man sagen, dass die Worte begonnen haben, sich in Repräsentationen, Vorstellungswelten, Narrativitäten und geteilten Erfahrungen philosophischer, symbolischer und theologischer Natur zu artikulieren und zu bilden; dabei ist mit der Zeit die Behauptung Adornos ins Vergessen geraten, nach der „kein vom Hohen getöntes Wort, auch kein theologisches, [...] unverwandelt nach Auschwitz ein Recht [hat].“8
7
Der zunehmende Charakter des Holocausts hat viel mit seiner eigenen politischen und sozialen Bedeutung zu tun, wie von Natan Sznaider: Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive, Bielefeld: Transcript 2008, S. 77-97; Norbert Frei: „Deutschlands Vergangenheit und Europa Gedächtnis“, in: Helmut König/Julia Schmidt/ Manfred Sicking (Hg.), Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld: Transcript 2008, S. 83; erwähnt.
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Adorno: Die negative Dialektik, S. 360.
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Diese Diskussion zwischen Geschichte und Außergeschichtlichkeit der Bedeutung – also zwischen den Ereignissen und deren möglicher Repräsentation, deren Verständlichkeit und folglich deren Bedeutung – zwingt mich auf eine weitere Reihe methodologischer und literarischer Fragen zurückzukommen, die dem Historismus sehr am Herzen liegen und auf eine gewisse Geschichtsphilosophie, die ebenfalls einer pragmatisch-analytischen Tradition entstammt. Solche Fragen betreffen einerseits das Problem der Wahrhaftigkeit der Geschichte (d.h. auf wie viele und auf welche Ereignisse stützt sich die historische Definition des Holocausts als Fakt?) und andererseits die Tatsache, dass historische Wahrheiten nie an sich erschlossen werden können, sondern dass deren Bedeutung auf irgendeine Weise vor allem durch eine Schriftlichkeit interpretiert werden kann, deren Bedeutung immer wieder interpretiert und ausgetauscht werden muss (d.h. welche und wie viele Bedeutungen sind in dem historischen Ereignis des Holocausts enthalten?). Dieses Problem betrifft die gesamte Geschichte der Geschichtsschreibung bis zum Holocaust und verweist auf einen hermeneutischen Knoten zwischen Worten und Dingen. Vom Gesichtspunkt der klassischen Geschichtsschreibung aus betrachtet, handelt es sich bei dem Problem der Beziehung zwischen historischen Ereignissen und deren Interpretation um eine alte Frage, die bereits seit Aristoteles die Idee von Geschichte als „Konstruktion eines Diskurses über die vergangenen Ereignisse“9 beeinflusst. In den wohlbekannten Worten Ciceros liegt vielleicht einer der zentrale Punkte dieser Beziehung, diese unauflösliche Verbindung zwischen den drei Aspekten der „Erinnerung als Gedenken“, des „Lernens als Wissen“ und vor allem der Rolle der Geschichte für das „Leben“: „Historia est testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis“.10 Den Historiker Cicero zu zitieren, bedeutet in diesem Kontext, die gesamte Dis-
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Epiktet selbst bemerkte in seinem Handbuch der Moral (5) wie „nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen und Urteile über die Dinge“; Übersetzung Rainer Nickel, http://www.philo.uni-saarland.de/people/ analytic/strobach/alteseite/veranst/therapy/epiktet.html, (Juni 2016).
10 M. Tullio Cicerone: De Oratore II, 36: http://www.thelatinlibrary.com/cicero/ oratore2.s.html, (Juni 2016).
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kussion vor eine radikale Frage zu stellen, nämlich die der Geschichte als Erkenntnisform in seiner ganzen Allgemeinheit. Somit wird nicht nur die Möglichkeit angezweifelt, wie die Geschichte zu interpretieren oder deren Bedeutung zu verstehen sei, wir werden dadurch sogar vor die Frage gestellt, wie sich etwas, wie eben die Geschichte, in ihren verschiedenen Aspekten der „Textualität“, der „Memorialisierung“ und der „Bedeutung“ überhaupt bildet. Wenn ich von der Bildung historischer Ereignisse spreche, kann der erste Hauptaspekt zuallererst in den Spuren, den Zeugnissen von „all dem, was bleibt“ (im Falle des Holocausts Unmengen von Dokumenten!) gefunden werden. Aber worüber informieren uns diese Dokumente? Inwieweit können sie uns, einzeln betrachtet, etwas über die Geschichte selbst erzählen? Man könnte den Fokus beispielsweise auf eine der Hauptakten der Judenvernichtung legen, also auf das Protokoll des Hauses der Wannseekonferenz: in dem Protokoll, das von der Anwesenheit von fünfzehn Repräsentanten des nationalsozialistischen Staates – unter ihnen Adolf Eichmann – zeugt, wurde zum ersten Mal die Endlösung der Judenfrage genannt und definiert. Die an diese Konferenz und an dieses Protokoll gebundenen historiografischen Probleme sind vielfältig:11 An dieser Stelle möchte ich nun die Frage aufwerfen, ob dieses Dokument, original und vollständig lesbar („Originarität“ und „Lesbarkeit“ sind wesentliche Aspekte für eine historische Rekonstruktion), in der Lage ist, uns etwas Spezifisches und ebenso Originales wie Einzigartiges über die sog. Endlösung selbst zu vermitteln. Kann also ein Dokument dieser Art losgelöst von all dem gelesen werden, was danach gekommen ist oder von den dutzenden Briefen, die in den Monaten davor geschrieben wurden? Um es noch deutlicher zu formulieren: Kann dieses Dokument ohne eine Übersicht über das Ganze verstanden werden oder lesbar sein, angefangen bei Mein Kampf von Hitler bis hin zur Befreiung von Auschwitz? Und sind wir uns tatsächlich dessen sicher, dass diese zwei Verweise genügen und dass wir nicht eher zurückblicken müs-
11 Vgl. Kurt Pätzold/Erika Schwarz (Hg.): Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der „Endlösung“, Berlin: Metropol 1992; HDWK (Hg.): Die Wannsee- Konferenz und der Volkermord an den europäischen Juden. Katalog der ständigen Ausstellung, Haus der Wannsee Konferenz: Berlin 2006.
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sen bis zu den Theorien Gobineaus oder dass wir sogar die Geschichte des Begriffs „Lebensraum“ studieren sollten?12 Wenn es denn so ist – und das behaupteten bereits die Stoiker – dass das Verhältnis zwischen Geschichte, Sprachlichkeit und Bedeutung den intimsten Kern der Historizität bilde, dann muss man auch wahrnehmen, wie, von bestimmten klassischen Betrachtungen des Stoizismus ausgehend, durch die moderne Geschichtsschreibung und die Erfahrung der Annales, die zeitgenössische Geschichtsschreibung sich an einem gewissen Punkt mit radikalen Veränderungen hat auseinandersetzten müssen, die mit einer bestimmten Materialisierung der Geschichte und deren explosiver Reproduzierbarkeit verbunden sind. Heute wird Geschichte nicht nur in den Bibliotheken oder in den greifbaren Spuren der Vergangenheit aufbewahrt, sondern sie reproduziert sich in medialer und höchst beschleunigter Form. Daraus folgt, dass nicht nur die Interpretation oder die Existenz von Bedeutungen in eine Krise gestürzt werden, sondern vor allem, dass die Relevanz und die Rolle der Dokumentalität der historischen Ereignisse ganz andere Eigenschaften gegenüber der Vergangenheit angenommen haben. Der Zugang zum Holocaust oder zu anderen historischen Ereignissen ähnlicher Bedeutung ist heute zutiefst von der medialen Revolution beeinflusst, die zu einer totalen Verbreitung von Vorstellungswelten, Narrationen und Szenerien geführt hat: Wie hat diese Transformation der Medien die Existenz der historischen Ereignisse und daher ihre Interpretation verändert? Auf dieser Ebene werde ich mich auf eine Reihe von philosophischhistorischen Beiträgen mit pragmatischem Ansatz stützen. Was die Interpretation des Holocausts betrifft, vermag die von Hayden White vorgeschlagene Lesart eine starke Basis zu bieten, nicht nur weil sie in den Kontext der amerikanischen Kultur eingebettet ist, sondern hauptsächlich we-
12 J.A. De Gobineau wurde durch seine Theorien der arischen Herrenrasse bekannt: diese Theorien, besonders die Idee der negativen Auswirkungen der Rassenmischung, hatten in Deutschland großen Einfluss auf die völkische Bewegung sowie den NS. „Lebensraum im Osten“ ist ein politischer Begriff, der mit der germanischen oder „arischen“ Besiedlung von Gebieten außerhalb der deutschen Grenzen verbunden ist. Er wurde von der völkischen Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich geprägt und von Nationalsozialisten im Deutschen Reich 1933 bis 1945 rassenbiologisch interpretiert.“ siehe HDWK: Katalog der ständigen Ausstellung, S. 56-58.
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gen der Radikalität, mit der sie die Historizität behandelt, indem sie dem klassischen Verhältnis zwischen den Dingen (Ereignisse, Begebenheiten) und den Worten (von der Dokumentalität zur Interpretation selbst) ein drittes Element, welches die Narrativität betrifft, hinzufügt: Ich betrachte das Werk des Historikers als offensichtlich verbale Struktur in der Form einer Erzählung. Geschichtsschreibungen (und ebenso Geschichtsphilosophien) kombinieren eine bestimmte Menge von ‚Daten‘, theoretische Begriffe zu deren ‚Erklärung‘ sowie eine narrative Struktur, um ein Abbild eines Ensembles von Ereignissen herzustellen, die sich in der Vergangenheit zugetragen haben sollen. Zudem haben sie, so behaupte ich, einen tiefenstrukturellen – allgemein poetischen und insbesondere sprachlichen – Gehalt; er fungiert als das vorkritisch akzeptierte Paradigma, wie eine spezifisch ‚historische‘ Erklärung auszusehen hat. Dieses Paradigma spielt in allen historiographischen Schriften, deren Horizont umfassender als der des Archivberichts oder der Monographie ist, die Rolle des ‚Meta-historischen‘ Elements.13
Hayden White folgend, könnte man sagen, dass das Element des Bruchs (aber vielleicht auch die Lösung des Bruchs) zwischen Historizität und Sprachlichkeit – auch hinter dem Ereignis des Holocausts verborgen – mit diesem narrativen Potenzial übereinstimmt, das typisch für jedes historische Ereignis ist, vor allem seit der Moderne: Man hat kein historisches Ereignis ohne seine gleichzeitige Interpretation und Beschreibung wie auch ohne seine Konstruktion anhand narrativer Prozesse. Der Historiker dürfte sogar der Hauptförderer dieses narrativen Vorgangs und dieser symbolischen Konstruktion sein. In den Betrachtungen Whites gibt es jedoch einen tieferen und technischeren Aspekt: Zwischen den Ereignissen und deren Repräsentation entsteht ein produktiver Prozess, den man als symbolischen und imaginativen Prozess verstehen soll, der nicht nur mit der Rolle des Historikers oder der Geschichtsschreibung zu tun hat: Diese Art von Raum charakterisiert die Identität der historischen Ereignisse selbst weit über die des neunzehnten Jahrhunderts hinaus. Anhand Whites Theorie wird die Idee ausgestaltet, dass die Geschichte faktisch mit dem produktiven Ort übereinstimmt, der
13 Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a/M: Fischer 1991, S. 9-10.
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sich zwischen der Welt der Ereignisse und deren Repräsentation konstituiert:14 Die Geschichte ist Produktivität und wird durch die Konstruktion von Narrativitäten und Repräsentationen generiert. In der Betrachtung von J.E. Youngs kondensiert sich eine weitere Vertiefung dieser Revolution – übrigens ganz besonders in Verbindung mit dem Holocaust: Die moderne Literatur- und Geschichtstheorie hat den Holocaust-Forschern zunehmend bewusst gemacht, dass man die Darstellung des Holocaust und die Ereignisse des Holocausts nicht losgelöst voneinander interpretieren kann. Denn sowohl die Ereignisse als auch ihre Darstellungen sind letztlich von den Formen, der Sprache und den kritischen Methoden abhängig, mit denen sie erfasst werden. In der Holocaust Literatur werden, ebenso wie in den Bezeichnungen, Periodisierungen, Genres und Symbolen, die wir mit dieser Zeit verbinden, religiöse Bedeutung und Signifikanz, historische Ursachen und Wirkungen reflektiert und zugleich produziert. Was vom Holocaust erinnert wird, hängt davon ab, wie es erinnert wird, und wie die Ereignisse erinnert werden, hängt wiederum von den Texten ab, die diesen Ereignissen heute Gestalt geben.15
14 „Neuere Diskurstheorien hingegen heben die Unterscheidung zwischen realistischen und fiktionalen Diskursen, die sich auf die Annahme eines ontologischen Unterschieds zwischen ihren jeweils realen beziehungsweise imaginären Referenten stützt, auf und betonen statt dessen ihre Gemeinsamkeiten. Als semiologische Apparate nämlich produzierten realistische und fiktionale Diskurse dadurch Bedeutung, dass sie Signifikate (konzeptuelle Inhalte) systematisch mittels außerdiskursiver Entitäten, die als Referenten fungieren, ersetzten. In diesen semiologischen Diskurstheorien erweist sich die Erzählung als ein besonders effektives System der diskursiven Sinnproduktion, mit dessen Hilfe dem Individuum nahegelegt wird, eine spezifisch‚ imaginäre Beziehung zu seinen realen Daseinsbedingungen‘ einzugehen, das heißt eine nicht reale, aber sinnvolle Beziehung zu den sozialen Formationen, innerhalb derer es sein Leben zu leben und sein Schicksal als soziales Subjekt zu erkennen verpflichtet ist.“ White: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a/M: Fischer 1990, S. 8. 15 James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt a/M: Jüdischer Verlag 1992, S. 13-14.
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In diesem Text aus dem Ende der achtziger Jahre, Writing and Rewriting the Holocaust, schließt J. E. Young das, was man als die erste Phase der Betrachtungen zum Holocaust bezeichnen könnte, faktisch ab: die Phase der Texte Amerys, Levis, Wiesels oder noch die der direkten Zeugnisse, derjenigen, die da waren und die dadurch, dass sie „es selbst gesehen haben“ in der Lage sind, über die Schrecken der Judenvernichtung „Zeugnis abzulegen“. In der Tat gehörten (und gehören) diese großen Intellektuellen der so genannten ersten Generation an, das heißt, sie zählen zu denjenigen, die in einem gewissen Sinne ein seltenes Verhältnis zur Geschichte hatten und wahrscheinlich auch die Möglichkeit, Narrativität und Historizität miteinander übereinstimmen zu lassen.16 Der zitierte Text enthält jedoch zwei weitere Aspekte, die zu betonen sind: a) Über den Bezug zum Topos (Ereignis/Text) der klassischen Geschichtsschreibung hinaus, verweist James Young in dieser Passage auf jenes Problem, das er in seinem Werk exemplarisch ausgearbeitet hat: In der Entwicklung des Holocausts als historisches Ereignis muss sich die substanzielle Beziehung zwischen Ereignissen und deren Repräsentation (d.h. zwischen historischen Ereignissen und Niederschrift/Vermittelbarkeit derselben) mit einem neuen Begriff konfrontieren, der die Gesamtheit der Modalitäten betrifft, in die diese originäre Beziehung eingefügt wird. Der Holocaust war eines der ersten historischen Ereignisse, das gefilmt/fotografiert und auf alle uns bekannten Medien aufgenommen wurde, das sich aber vor allem durch Formen archetypischer „Wiederholung“ und „Rekonstruktion“ charakterisiert, die das historische Ereignis selbst generieren. Ohne die Beharrlichkeit, die Verbreitung und die Zugänglichkeit dieser Vorstellungswelt wäre der Holocaust noch weniger vorstellbar.17
16 „Testimony, then, has changed. Survivors are no longer motivated to tell their stories before the camera purely by an internal necessity, though this necessity still exists. A veritable social imperative now transforms the witness into an apostle and prophet.“ Annette Wieviorka: The Era of the Witness, Ithaca/London: Cornell University Press 2006, S. 135-36. 17 Diese soziale und praktische universelle Prägung des Holocausts bringt uns einen Schritt weiter in die Erörterung der innersten Beziehung zwischen Geschichte und Bildlichkeit: Es ist nicht mehr eine Frage des Zeichnens („Um sich zu erinnern, muss man sich ein Bild machen.“), Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München: Fink Verlag 2007, S. 53-65; oder der „Monumentalität
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b) Ist es, von einem Gesichtspunkt aus betrachtet, klar, wie jedes historische Ereignis an sich bedeutend ist und durch die Beziehung von Faktizität und Repräsentation ins Leben gebracht wird,18 so wäre es andererseits vielleicht weniger voraussehbar, wenn man beginnen würde, sich mit einem Aspekt zu konfrontieren, der den Holocaust betrifft, und zwar die Modalität jener Gegenüberstellung. Die Rekonstruktion der Art von Textualität, durch die die Narration des Holocausts produziert wird, zeigt sich in all ihrer Eigenart: Die Repräsentation des Holocausts hat nicht nur mit der textlichen und kontextualen Rekonstruktion einer Gesamtheit historischer Ereignisse etwas zu tun, sondern vielmehr mit der Entwicklung von absolut revolutionären Techniken, Erfahrungswerten und Modalitäten der Darlegung in der Repräsentation von Geschichte. Das Kino, die Musealisierung, die Theatralisierung, die Multimedialität, die Bezeugbarkeit haben aus dem Holocaust eine einzigartige Form der historischen Narrativität gemacht. Ich werde hier versuchen aufzuzeigen, inwieweit Qualität und Spezifität dieser Medien nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Konstitution selbst des Holocausts charakterisiert haben. Gedenkstätten, Filmarchive und multimediale Museumspräsentationen bestehen nicht nur aus Aufzeichnungen und Archiven vergangener Ereignisse, sondern vielmehr aus Mechanismen der Produktion, Wiederholung und Evozierung dieser Vergangenheit. Der Holocaust ist in gewisser Weise paradigmatisch, wenn es darum geht, die Rolle, die Typologie und die Spezifität gänzlich zu erfassen, wel-
der Geschichtsstellung“ (wie auch in Young: Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur, Hamburg: Hamburger Verlag 2002, S. 720, erwähnt). Die Konstitution des Holocausts beeinflusst die gesamte Wahrnehmung und Erkenntnis einiger Prozesse der heutigen Welt. Wenn man sich über bestimmte Fragen hinaus bewegt (wie die: Was für eine Idee der Subjektivität wird durch die verschiedene Schilderungen des Holocausts vorgeschlagen? Welches sind die geistlichen Hierarchien, die durch die Darstellung des Holocausts widerspiegelt werden? Und noch: Wie werden diese Hierarchien anerkannt oder inkorporiert?) könnte es ziemlich klar scheinen, inwieweit jenes historische Paradigma im Mittelpunkt der Konstitution unserer Welt steht. 18 Zu den sozialwissenschaftlichen Auswirkungen des Themas vgl. Doris Bachmann-Medick: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Tübingen/Basel: Francke 1996, S. 298-330; Ders.: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg: Rowohlt, 2006.
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che die historischen Ereignisse in der sozialen und kulturellen Geschichte des westlichen Menschen einnehmen. In seinen auf ganz Europa verteilten Rekonstruktionen – im nordamerikanischen Kontext nimmt dies noch problematischere Formen an19 – wird der Holocaust mit seiner geballten, emblematischen und symbolischen Kraft täglich dargestellt, evoziert und geteilt, wobei eine Art grundlegende Historizität entsteht. Von Auschwitz zum Holocaust Memorial in Washington beschäftigen sich gerade Generationen von zukünftigen Bürgern damit, eine gewisse Art von Historizität lesen zu lernen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Diese ist von bestimmten Regeln definiert und vollkommen in eine Welt aus Archiven, Ausstellungen, Live Experiences und getreuen Rekonstruktionen der Ereignisse um den Holocaust hineinprojiziert, die jedoch ein starkes diskursives und soziales Potenzial aufweisen. In dieser Perspektive kann man deshalb beobachten, wie zu dem Mechanismus der Kreisförmigkeit zwischen Ereignissen und Repräsentationen (bzw. Geschichte und Repräsentation, Dinge und Worte/Niederschrift/Bilder) im Fall des Holocausts ein drittes Element hinzugekommen ist und zwar um den wesentlichen Faktor der Wiederholbarkeit und der Spektakularisierung.
19 Beispielweise am Holocaust Mahnmal in Washington, wo durch die Ausstellung die gesamte Folge des Prozesses der Verfolgung, Ghettoisierung, Vernichtung entwickelt wird: Die Besucher sollten von Beginn an die ganze Erfahrung der Vernichtung wie die damaligen Deportierten erleben; „The half century that has passed since Hitler’s Final Solution has enabled Americans to reappraise their involvement in the Holocaust in a variety of other media. […] The United States Holocaust Memorial Museum provides a bridge between the European experience and the United States’ more remote implication in the catastrophe Its location adjacent to the Washington Mall places Holocaust memory within American public space. At the same time, visitors are immediately removed from American geography: they are given identity cards, taken through crowded, narrow exhibit corridors, put on cars resembling German transport trains, and, through a variety of photographs, artifacts, and oral and filmed interviews, asked to confront the stark reality of the lives of Holocaust victims and survivors – people much like themselves.“ Joyce Antler: „Three Thousand Miles Away. The Holocaust in Recent Works for the American Theater“, in: Hilene Flanzbaum (Hg.): The Americanization of the Holocaust, Baltimore: Johns Hopkins University 1999, S. 140.
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S CHLUSSFOLGERUNG Der Holocaust stellt heute mehr als je zuvor ein soziales, kommerzielles, touristisches und spektakuläres Produkt von planetarischen Dimensionen dar, das anhand von Lernparcours, Filmen und Neurepräsentationen erlebt werden kann, deren Dimension, Organisation und Verbreitung gegenüber jedem anderen historischen Ereignis außerordentlich ist. Dies hängt sicherlich mit der beeindruckenden Anzahl der faktisch betroffenen Personen zusammen und also mit den Überlebenden oder denjenigen, die ihnen am nächsten stehen – aber nicht nur das: Die Bilder, die Narrativität und das vom Holocaust offenbarte Symbolische reichen weit über den Verweis auf die historische Spezifität der einzelnen Geschehnisse und vor allem der Kategorie der Opfer, also der jüdischen Bevölkerung – wie übrigens auch auf die Spezifität der Täter selbst20 – hinaus, und schaffen eine Art historische und epochale Dimension. Diese Fähigkeit des Holocausts ist strikt an den Aspekt der Narrativität gebunden, oder besser gesagt an die Gestalt seines Repräsentiert-Werdens, an den Stil, mit dem diese historischen Ereignisse dargelegt und diskutiert worden sind: Dieses Potenzial gilt es nun zu erkennen und zu dekonstruieren.
20 Das umfassende Thema der Beziehung und der gegenseitigen Anerkennung zwischen Opfer und Täter ist ein gigantisches Thema, das in der Literatur sowie in allen bildenden Künsten behandelt worden ist: „Eines der eindrucksvollsten Ergebnisse, das aus diesen Aporien hervorgegangen ist, war die Entstehung von ‚Gegen-Monumenten‘ (countermonuments): von mutigen, geradezu schmerzhaft selbstreflexiven Erinnerungsräumen, die die Prämissen ihrer selbst radikal in Frage stellen.“ Young: Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur, S. 14-15.
Semantik des Holocausts Zwischen Außergewöhnlichkeit und Spektakularisierung
Von dem radikalen Aspekt der kritischen Verbindung zwischen Historizität, Repräsentation und Diskursivität ausgehend, haben mehrere Beobachter den Holocaust als ein „grundlegendes Ereignis“ betrachtet, welches Linien, Perspektiven und Blickpunkte festlegt, von denen verschiedene Generationen aus unterschiedlichen ethnischen und sozialen Gruppen nicht nur bereit sind, moralische und politische Werte anzuerkennen, sondern auch Verhalten und Haltungen anzunehmen und zu unterstützen.1 Auch dem oberfläch-
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Sidra DeKoven Ezrahi versucht den Kern dieser Fragestellung zu ermitteln: „My argument is that the discourse that has evolved in the pages of this and other journals and the cultural and intellectual enterprises of the last decades have generated two major clusters of attitudes with far-reaching implications. In the literature of testimony as well as of the imagination, in the theories of historiographical and of poetic representation, one can begin to discern a fundamental distinction between a static and a dynamic appropriation of history and its moral and social legacies. The static or absolutist approach locates a nonnegotiable self in an unyielding place whose sign is Auschwitz; the dynamic or relativist position approaches the rappresentation of the memory of that place as a construction of strategies for an ongoing renegotiation of that historical reality. My purpose in referring here to a wide range of literature, film, critical and theoretical discussion is to try to demonstrate the diffusion of these two sensibilities in postwar culture at large, with allowances for the particular semantics of each interpretive community.“ Sidra DeKoven Ezrahi: „Representing Auschwitz“, in: History and Memory 7, 2 1995, S. 122-23. Siehe auch Diner: Ist der Nationalso-
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lichsten Beobachter, der mit dem Thema nicht sehr vertraut ist, erscheint klar, dass der Holocaust und seine historisch-philosophischen Folgen die Erfahrung, die Wahrnehmung und die Entscheidungen vieler menschlicher Gruppen in der heutigen Zeit beeinflusst: Von den Schulgruppen, die jedes Jahr Millionen von Studenten in die ehemaligen Konzentrationslager bringen, die über Zentraleuropa verstreut sind, bis hin zu den Entscheidungen und Stellungnahmen des Europäischen Parlaments wie auch der verschiedenen nationalen Parlamente zu unterschiedlichen Themen sozialer oder ethischer Ordnung oder zur Bildung, wenn nicht spezifisch in Bezug auf Gedenkfeiern.2 Doch wie konnte sich die mit dem Holocaust verbundene Vorstellungswelt auf solch eine Weise uniformieren? Im ersten Teil dieses dritten Abschnitts werde ich den Aspekt der Synchronie dieser Konstitution des Holocausts hervorheben, mit besonderem Augenmerk auf seine Eigenschäften als komplexes historisches Ereignis, das nicht nur die Vernichtung der Juden betrifft. Aus diesem Grund werde ich das Konzept des semantischen Felds einleiten, welches erlaubt, in einem funktionellen und erweiterten Sinn an den Holocaust zu denken. Im zweiten Teil dieses Abschnittes werde ich dagegen die qualitativen und historischen Eigenschaften dieses Feldes ermitteln. Die Idee des Holo-
zialismus Geschichte?; Alan Rosenberg/Evelyn Silvermann: „The Issue of the Holocaust as a Unique Event“, in: Isidor Wallimann/Michael N. Dobkowski (Hg.): Genocide and the Modern Age: Etiology and Case Studies of Mass Death, Ann Arbor: Pierian Press 1992. 2
„Am Morgen des 27. Januar 1945 befanden sich im Konzentrationslager Auschwitz noch etwa 7000 Gefangene. Über eine Million Menschen kamen in Auschwitz ums Leben. Es wird angenommen, dass insgesamt sechs Millionen Juden in Konzentrationslagern ermordet wurden. Der Europarat war die treibende Kraft hinter der Einführung eines Tages zum Gedenken an den Holocaust und zur Verhütung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Oktober 2002 beschlossen die Bildungsminister aus den Mitgliedsstaaten des Europarates die Einführung dieses Gedenktages. Während Deutschland und Frankreich den Tag am 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz, begehen, haben andere Länder je nach ihren jeweiligen historischen Erfahrungen ein anderes Datum gewählt“; Europarat, http://hub.coe.int/de/27-january-holocaust-remembranceday/, (Juni 2016).
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causts – sowie die Gesamtheit der Repräsentationen, Vorstellungswelten und Diskurse, die aus ihm erst ein semantisches Feld machen – ist eine Konstruktion, die nicht nur von der Intensität der historischen Ereignisse, sondern auch von Aspekten medialer und kommunikativer Ordnung generiert und produziert worden ist, die untersucht werden sollten. Das, was wir heute Holocaust nennen, ist ein soziales, historisches und politisches Produkt. An diesem Punkt bin ich aber erst einmal an der Fixierung eines Aspekts methodologischer Ordnung interessiert – deutlich verbunden mit dem synchronischen Element – jedoch vor allem in Verbindung mit der Ausserordentlichkeit des Holocausts selbst und der Memorialität (als Kultur und Didaktik), die mit ihm verbunden ist. Ausgangspunkt meiner gesamten Arbeit ist die Idee dieser doppelten Einzigartigkeit des Holocausts: auf historischer und auf repräsentativer Ebene. Der Holocaust, den wir heute kennen, ist das Ergebnis eines Komplexes von Diskursen politischen und epochalen Typus: Bereits in der Nachkriegszeit hat man begonnen, die Intensität der Vernichtung der Juden Europas hervorzuheben und parallel dazu eine neue Modalität der Auseinandersetzung mit Geschichte zu entwickeln. In der Zeit gleich nach dem Zweiten Weltkrieg hätte kein Beobachter eine solch entscheidenden Prozess der mit dem Holocaust verbundenen Erinnerungen vorausahnen können.3 Diese Evolution, dieser Prozess hat sich allmählich durch eine Pluralität von Aspekten konstituiert: a) Die Aufdeckung der einzelnen Ereignisse und Geschehnisse; b) die Modalität der Veröffentlichung dieser Ereignisse; c) die Wirkung und die öffentliche Verbreitung dieser einzelnen Ereignisse. Von all diesen Momenten wird der Eichmann-Prozess von vielen als der grundlegende Übergangsmoment betrachtet, nicht nur weil er in der Tat eine Explosion des Interesses in Frankreich, in den Vereinigten Staaten und in Israel ausgelöst hat, sondern eher, weil zu diesem Anlass zum ersten Mal Geschichte, Repräsentation und Be-
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Vielleicht aus dem ganz einfachen Grund dass, „[n ] ach Krieg und Zusammenbruch [...] nichts sehnlicher gewünscht [wurde,] als die Rückkehr zur Normalität, und in die wurde dann nicht wenig von dem, was man sich als normal anzusehen gewöhnt hatte, mit hineingenommen. Besonders beschämend war zum Teil der Umgang mit den Opfern und ihren Hinterbliebenen.“ Christian Meier: Das Gebot zu Vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns, München: Siedler 2010, S. 61.
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deutung einen gemeinsamen Kern gefunden haben:4 In den Worten Gideon Hausners, dem Organisator (vielleicht besser seinen genauen Beruf angeben? Organisator klingt auch nach Organisator der Deportationen, also irgendwie als Gegenbild zu Eichmann) des Eichmann-Prozesses, ist der Hauptschlüssel enthalten, der den Willen und die Zielvorstellungen hinter der Konstruktion eines Prozesses verstehen lässt, der sich nicht nur und nicht so sehr gegen Eichmann richtete, sondern eher die Funktion der Konstruktion einer historischen epochalen Vorstellungswelt innehatte.5 Von dem Prozess ausgehend, der weltweit ausgestrahlt wurde, haben sich alle Themen entwickelt, die den Holocaust, wie wir ihn heute kennen, festlegen und definieren: Die Beziehung von Geschichte und Gerechtigkeit, die Diskussion um die Menschenrechte, die Frage zur Verantwortung und die zur Planung der Vernichtung, die Beziehung zwischen dem Guten und dem Bösen und die Frage nach den täglichen Deportationen während der blutigen Phase der Vernichtung. Ich werde mich nicht tiefgehend auf den Eichmann-Prozess konzentrieren, sondern eher versuchen, die Elemente der Spektakularisierung zu enthüllen, auf denen der Prozess – als sympto-
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„The Eichmann trial marks a pivotal moment in the history oft he memory oft he genocide, in France and the United States as well as in Israel. It opens a new era, in which the memory oft he genocide becomes central tot he way many define Jewish identity, even as the Holocaust demands to be admitted to the public sphere. Scholars from various countries who have studied the evolution of the construction of memory have all noticed this shift. The trial itself was also powerfully innovative. Everything happened there fort he first time.“ Wieviorka: The Era of the Witness, S. 56.
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„Es war für die Festigung unserer Jugend unbedingt erforderlich, dass sie die volle Wahrheit dessen, was geschehen war, erfuhr, denn nur durch solche Kenntnis waren Verständnis und Aussöhnung mit der Vergangenheit zu erreichen. Unsere jüngere Generation die so völlig im Aufbau und Schutz des neuen States aufging, besaß viel zu wenig Einblick in Ereignisse, die von Rechts wegen ein entscheidender Punkt ihrer Bildung und Erziehung sein sollten. [...] Hier lag ein Bruch zwischen den Generationen vor, der möglicherweise zum Quell eines Abscheus vor dem Gestern der Nation werden konnte. Dieser Bruch ließ durch sachliche Aufklärung beseitigen.“ Gideon Hausner: Gerechtigkeit in Jerusalem, München: Kindler 1967, S. 444.
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matisches Ereignis – basierte wie auch die grundlegenden Spuren, die er in der Kultur der Nachkriegszeit hinterlassen hat.
S EMANTISCHES F ELD
DES
H OLOCAUSTS
Der Fall Eichmann stellt in der Konstitution des Gedenkens an den Holocaust den Knotenpunkt dar, um zu verstehen, wie das Gedenken in die Grundstruktur der westlichen Welt eingeschrieben worden ist. Der Prozess hat drei konstitutive und charakterisierende Kerne freigelegt, die sich nicht nur innerhalb einer historischen Vision kondensieren, sondern die Grundlage für die Wahrnehmung selbst der zeitgenössischen Geschichte und des Sinnes der Geschichte bilden. Die drei grundlegenden Themen, die aus dem Eichmann-Prozess hervorgehen, sind a) die Subjektivierung des Zugangs zur Geschichte; b) die soziale Verbreitung des Angebots dieser neuen Form von Historizität; c) das Vorführen der Nacktheit des Menschen. Mit diesen Themen hat man sich in den letzten Jahrzehnten auf verschiedenen Ebenen auseinandergesetzt, von der Beziehung zwischen Zeugnis und Historizität bis hin zur Ausbeutung von Geschichte für die eigenen Zwecken. Sicherlich hat jene Annäherung an historische Ereignisse, die aus den Repräsentationen des Holocausts und aus den Diskursen entwickelt wurde – und die der Prozess zu Beginn der sechziger Jahre produziert hat – eine neue Wahrnehmung der Historizität als solche bestimmt und vor allem großen Teilen der westlichen Bevölkerung einen Zugang zur Geschichte ermöglicht, die ein paar Jahrzehnte zuvor von dieser Möglichkeit ausgeschlossen waren.6 Diese epochale Veränderung im Sinne einer Vermassung und Verbreitung des historischen Wissens muss über ihren grundlegenden anthropologischen Aspekt als historisches Ereignis hinaus betrachtet werden, den Koselleck so wirkungsvoll analysiert hat:
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Die Geschichtsschreibung hat sich von dem Geschichtskennen getrennt. Das Geschehen konstituiert sich nicht mehr durch eine privilegierte wissenschaftliche Perspektive sondern durch eine Wiederholung des fiktiven und spürbaren Charakters des Geschehens selbst.
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Jede Geschichte konstituiert sich durch die mündliche und schriftliche Kommunikation der zusammenlebenden Generationen, die je eigenen Erfahrungen einander vermitteln. Und erst wenn durch das Aussterben der alten Generationen der mündlich vermittelte Erinnerungsraum zusammenschmilzt, rückt die Schrift zum vorrangigen Träger geschichtlicher Vermittlung auf.7
Indem er sich in einem problematischen Spannungsverhältnis zu dieser Definition befindet, stellt der Holocaust ein historisches Ereignis dar, das in einer gewissen Weise für sich selbst steht, weil es einerseits von einem epochalen Verschwinden der Grundbedingung eines „radikalen Zusammenlebens“8 charakterisiert ist und andererseits nach einer Explosion und Verbreitung der Schriftlichkeit und der Träger entsteht, die es als historisches Ereignis reproduzieren sollen. Die Modalitäten der Konstitution dieser Schriftlichkeit auf den Trägern ist nicht einfach nur ein Prozess der Auswechslung der alten mündlichen Kommunikationsformen:9 Sie stellt das Fundament selbst des historischen Wissens dar, seine Schaffung.
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Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 18.
8
Damit ist gemeint, dass die Voraussetzungen, die die Wahrnehmung einer Gesellschaft von einem Subjekt kennzeichneten, sich tief verändert haben. Die klassische Idee eines Zusammenlebens (zwischen Außen und Innen) scheint, von der Lage der einzelnen Person her betrachtet, in der heutigen Gesellschaft verschwunden zu sein. „Individualisierung wird dementsprechend hier als ein historisch widersprüchlicher Prozess der Vergesellschaftung verstanden. Die Kollektivität und Standardisierung der entstehenden individualisierten Existenzlagen ist allerdings schwer zu durchschauen. Dennoch sind es gerade das Hervorbrechen und bewusst Werden dieser Widersprüchlichkeit, die zur Entstehung neuer soziokultureller Gemeinsamkeiten führen können.“ Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1986, S. 119.
9
Das hat auch zu tun mit der von Elias entworfenen Idee der Zeitlichkeit und der Zeitsensibilität als „Symptom der Zivilisationsprozesses“; vgl. Norbert Elias: Über die Zeit, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1988, S. XXXIII. Die neuen Kommunikationsmaschinen – vom Telegrafen bis zum Satelliten, von der Fotografie bis zum Computer – öffnen die natürliche zeiträumliche Begrenztheit unseres Wahrnehmungs- und Mitteilungsfeldes ins Unermessliche. Vgl. Gilles Deleuze:
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Wie ich aufzeigen werde, haben bestimmte Formen der Unterstützung der historischen Narrativität mit derselben klassischen Dichotomie zwischen Vorsprachlichkeit und Schriftlichkeit gebrochen,10 indem sie neue Zugangsmodalitäten und neue Konfigurationen bieten: Die Fotografie sowie die Videomedialität sind nicht nur neue Träger, sondern stellen revolutionäre Knoten dar, die den Zugang zum historischen Wissen zutiefst verändert haben.11 Diese neuen Modalitäten und neuen Konfigurationen werden in dieser Arbeit weiter vorn als soziale Objekte betrachtet, jedoch möchte ich nun erst ihre epochale Radikalität herausarbeiten und sie gleichzeitig wieder mit einer Idee des Holocausts als „semantisches Feld“ verbinden. In den Sprachwissenschaften steht ein semantisches Feld für eine „Gesamtheit von Worten einer selben Sprachen, die sich auf dieselbe Bedeutungsebene beziehen“:12 Innerhalb meiner Betrachtung wird der Begriff des semantischen Felds auf die Idee einer „Gesamtheit von Zeichen, Verweisen und Bedeutungen erweitert, die einem historischen Ereignis angehört, es konstituiert und deren Eigenschaften dieselben Zugangsmodalitäten für das Ereignis determinieren“.13 Mit dem Begriff Zugang bezeichne ich hier die
Das Zeit-Bild, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1991, S. 39; Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photografie, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1985, S. 15-21. 10 Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 35. 11 „Im Vorwort zur zweiten Ausgabe (1843) von Das Wesen des Christentums schreibt Feuerbach, unsere Epoche ziehe das Bild dem Ding vor, die Kopie dem Original, die Darstellung der Realität, die Erscheinung dem Sein – und sei sich dessen durchaus bewusst. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde seine warnende Klage abgewandelt in die weithin akzeptierte Diagnose: eine Gesellschaft wird ‚modern‘, wenn eine ihrer Hauptaktivitäten das Produzieren und Konsumieren von Bildern ist, wenn Bilder, die einen außerordentlich starken Einfluss auf die Forderungen haben, die wir an die Realität stellen und die selbst begehrter Ersatz sind für Erfahrungen aus erster Hand, unentbehrlich werden für die Gesundheit der Wirtschaft, für die Stabilität des Gemeinwesens und das Streben nach dem privaten Glück.“ Sontag: Über Fotographie, München/Wien: Hanser 1978, S. 141. 12 Vgl. Dietrich Busse: Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart: Klett-Cotta 1987, S. 40.. 13 Ebd.
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Möglichkeit, einen Einstieg zum semantischen Feld eines historischen Ereignisses zu erlangen: Diese Möglichkeit unterscheidet sich sehr von der Fähigkeit eines Historikers, Strukturen, Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung oder einfache Verkettungen von Geschehnissen zu erkennen und betrifft vielmehr die Kraft des Feldes selbst. Im weiteren Verlauf dieses Buches werde ich auf diese Modalität des Zugangs zu historischen Ereignissen zurückkommen: auf dieser Ebene meines Gedankengangs möchte ich nun das Problem der Kraft und der Autonomie des Holocausts als semantisches Feld hervorheben. Die erste wesentliche Eigenschaft und Kraft dieses Felds ist an seine Spektakularisierung und mediale Konstitution gebunden. Das, worauf wir uns konzentrieren sollten, ist heute nicht so sehr die Existenz eines Marktes oder eines touristischen Angebots, das an die Schilderung der Vernichtung der Juden Europas gebunden ist.14 Was mich hier interessiert, ist die Qualität und die Eigenschaften dieses semantischen Feldes zu verstehen, was als Bedeutungs- und Bezugsnetz verstanden werden muss, das aber auch aus einfachen Objekten, Bildern und Fotografien bestehen kann. Diese Gesamtheit von Bezügen bedarf nicht eines Kultur- oder eines Generationsaustauschs (im Sinne Kosellecks), um vertieft und realisiert zu werden, sondern bietet sich selbst in ihrer Kraft und Spektakularität an. Dieses vom Konstrukt Holocaust produzierte symbolische und evokative Potenzial durchdringt den theologischen Diskurs ebenso wie verschiedene Bereiche der Werbung und der Kommunikation, sodass es die Diskursivität selbst auf eine untergeordnete Ebene schiebt. Das Wort Holocaust, wie auch Shoa oder Auschwitz (oder eine einfache fotografische Abbildung Hitlers) bergen so etwas wie einen radikalen symbolischproduktiven Drang in sich, eine Verweisstruktur, die den Gedanken auf-
14 Damit beziehe ich mich auf die umstrittenen aber auch notwendigen Überlegungen von N.G. Falkenstein über die vermutliche Existenz einer Holocaust Industry: „I will argue that ‚The Holocaust‘ is an ideological representation of the Nazi holocaust. Like most ideologies, it bears a connection, if tenuous, with reality. The Holocaust is not an arbitrary but rather an internally coherent construct. Its central dogmas sustain significant political and class interest. Indeed, The Holocaust has proven to be an indispensable ideological weapon.“ Norman G. Finkelstein: The Holocaust Industry. Reflection on the Exploitation of Jewish Suffering, New York: Verso 2000, S. 3.
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kommen lässt, dass dieses historische Ereignis tatsächlich etwas mehr bezeugt als eine Anzahl von Geschehnissen oder ein einzelnes radikales Ereignis. Die effektive Austauschbarkeit all dieser Begriffe (und man könnte weitere hinzufügen, wie etwa den Namen „Hitler“ oder „Treblinka“ oder auch den Schriftzug „Arbeit macht frei“) ist nicht einfach nur das Ergebnis eines verwirrten oder gleichgültigen Zustands der öffentlichen Meinung, sondern eher ein weiteres Zeichen der semantischen Vielfalt, die seit dem historischen Ereignis der Vernichtung der Juden generiert wurde: Diese Radikalität, die den Fakt der Vernichtung der Juden Europas mit einer diskursiven und repräsentativen Struktur verbindet, wird hier als „grundlegende Historizität“ bezeichnet.15 Der Begriff der grundlegenden Historizität ist vor allem methodologisch und daher funktionell im Sinne der Erkennung einer substanziellen Vertikalität, die eine Verbindung zwischen der Historizität der geschichtlichen Ereignisse und deren Repräsentierbarkeit mit der Konstitution von Geschichte an sich herstellt. Der Holocaust ist ein bedeutendes historisches Ereignis, wie es die Haskala (Aufklärung) oder die Magna Graecia sind, weil er sich in die scheinbar zufällige Geschichte der Menschheit einschreibt und sich zum Träger einer originären Bedeutung macht, die vor allem die Praxen und die Prozesse der Erinnerung an die Konstitution des Gegenstands der Erinnerung selbst bindet: das ist der Kern der „Gedächtniskunst“.16
15 Dieser Begriff einer „grundlegenden Historizität“ nährt sich den Überlegungen von Maurice Merleau-Ponty: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1965, S. 414-18. „Das Problem der existentiellen Modalität des Sozialen berührt sich hier mit allen anderen Transzendenzproblemen. Ob es um meinen Leib, um die Naturwelt, um die Vergangenheit, um Geburt und Tod geht, stets ist die Frage die eine und selbe, wie ich Phänomenen eröffnet zu sein vermag.“ Ebd., 416. 16 „Wer in dieser Weise schon im ‚Heute‘ auf das ‚Morgen‘ blickt, muss das ‚Gestern‘ vor dem Verschwinden bewahren und es durch Erinnerung festzuhalten suchen. In der Erinnerung wird Vergangenheit rekonstruiert. In diesem Sinne ist die These gemeint, dass Vergangenheit dadurch entsteht, dass man sich auf sich bezieht. Mit diesen beiden Begriffen, Erinnerungskultur und Vergangenheitsbezug, wollen wir das Programm dieser Studie eingrenzen und von dem absetzen,
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Dieselben Geschichtswissenschaften werden von der radikalen Kraft einiger Bilder und Szenarien grundlegend erschüttert, anhand derer wir erlernen, historische Ereignisse – und in diesem Fall der Holocaust – zu lesen und uns damit auseinanderzusetzen. In einer weiteren, stark philosophisch geprägten Passage versucht sich Reinhart Koselleck mit epistemologischer Dringlichkeit in die Richtung der Rolle gewisser Ideen und ihrer originären anthropologischen Natur zu bewegen, in Zusammenhang mit der Konstitution des historischen Wissens: Den Grund und die Eigenschaft dieser Ideen erneut durchzugehen, ermöglicht uns, über die Radikalität der Repräsentation des Holocausts und über die Bedeutung ihrer spektakularisierten Verbreitung nachzudenken. Es gibt zahlreiche naturale Vorgaben geologischer, geografischer, biologischer und zoologischer Art, die die Menschen mit den Tieren teilen, ohne die aber auch keine Geschichte möglich ist. Jede historische Anthropologie muss sich mit derartigen Vorgaben beschäftigen, die als naturale Bedingungen in das Reich der Geschichte hineinragen. Man mag diese Bedingungen, die die Menschen mit den Tieren teilen und die insofern auch vor- und außersprachlich sind, metahistorisch nennen.17
Koselleck führt dann diese drei „Bedingungen der Geschichte“ auf: Die erste ist „die Spanne zwischen Geburt und Tod“; die Zweite die „immer gültige Differenzbestimmung zwischen Innen und Außen“; die Dritte ist die „Zuordnung von Herrn und Knecht, formalisiert: Die Opposition von oben und unten“. Diese Triade von Ideen und Spannungsfeldern ist nicht das Ergebnis einer einfachen anthropologischen Vermutung, sondern der Versuch, die Bedingungen der Historizität von einer post-hegelianischen und somit nicht ideologischen, sondern anthropologischen Perspektive aus betrachtet, zu ermitteln.18 Was Koselleck „vorsprachliche Bedingungen
was demgegenüber dem Komplex der ‚Gedächtniskunst‘ zugeordnet werden kann.“ Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 31. 17 Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 33-34. 18 „Zusammengefasst: früher/später, innen/außen, oben/unten sind drei Oppositionsbestimmungen, ohne die keine Geschichte zustande kommt, wie auch immer sie sich im einzelnen wirtschaftlich zusammensetzt – aus wirtschaftlichen, religiösen, politischen, sozialen oder sonstigen Faktoren. Diese Skizze ist gewiss plakativ, aber sie soll mein erstes Argument erhärten, dass Sprache und Ge-
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menschlicher Geschichte“ nennt – das heißt diese drei Formen grundlegender Historizität – sind Bedingungen und Spannungen ohne die historische Ereignisse weder konstituiert noch repräsentiert werden können. An einer anderen Stelle hat sie der Historiker John Rüsen Ästhetik, Kognitivität und Politik genannt und damit zum Ausdruck gebracht, wie die historischen Repräsentationen dank der paradigmatischen Beziehung von „Ereignissen“, „Produktion“ und „Prozessen“ bestehen können.19 Im folgenden möchte ich gerade die Spektakularisierung und die Darbietung des Holocausts, beginnend mit der Verkörperung dieser drei Momente, überprüfen. Die „ästhetische Dimension“ des Sehens und des Wahrnehmens, die „kognitive Fähigkeit“, Ideen und Meinungen zu entwickeln und schließlich die „reine Zugehörigkeit“ zu einer bestimmten politischen und sozialen Wirklichkeit sind drei Aspekte, die ständig wiederkehren und dazu beitragen, historische Prozesse zu definieren. Welches Gewicht nimmt aber in der Repräsentation und Spektakularisierung des Holocausts die Beziehung zwischen Leben und Tod (Ästhetizität) ein? Wie zentral ist der hierarchische Aspekt in der Repräsentation des Holocausts, vor allem in der Beziehung zwischen dargestelltem Objekt und observierendem Subjekt (Politizität)? An wechem Ort wird eine Idee von „Innen“ und „Außen“ in der Repräsentation des Holocausts generiert (Kognitivität)? All diese Fragen bilden die Grundlage dieser Forschungsarbeit und werden in den nächsten Kapiteln durch eine Fallstudie nachgegangen, nachdem ein angemessener, historisch-philosophischer Blickpunkt klare Konturen angenommen haben wird. Zunächst ist es notwendig hervorzuhe-
schichte nicht restlos zur Deckung gebracht werden können. Die drei genannten formalen Oppositionspaare bestimmen bereits vorsprachlich die konkreten Geschichten.“ Ebd., S. 35. 19 „Die Geschichtsdidaktik ist also eine genuine Reflexionsinstanz der deutschen Erinnerungskultur, indem sie die Bedeutung des Geschichtsbewusstseins für die Gegenwart reflektiert. Ihr Untersuchungsfeld ist die Gesamtheit praktischer Verwendungszusammenhänge und Orientierungsleistungen historischer Erinnerung in der Schule und im Alltag, in der Wissenschaft und in der Politik, in Gesellschaft, Öffentlichkeit, Medien und Kunst, aber auch in den Individualisierungs- und Sozialisierungsprozessen Heranwachsender.“ Jörn Rüsen: Kultur Macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Wien: Böhlau 2006, S. 89.
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ben, wie mir das kritische Zurückkehren zur zeitgenössischen Geschichtsschreibung innerhalb meines Gedankengangs erlaubt, eine gewisse hermeneutische Legitimität meiner Betrachtung zu konstruieren: In dem Moment, wo die anfängliche Debatte zwischen Historizität und Begrifflichkeit auf den Holocaust übertragen wird, verlässt sie langsam den Kontext der Geschichte als Disziplin, um in den der Philosophie einzutreten, als Studie über die symbolischen Formen und die Prozesse, die das Geschehen konstituieren und ihm Gestalt geben. Der Holocaust ist ein langer Einschreibungs-, Produktions- und Wiederholungsprozess von Traumata,20 Handlungen, Szenarien, Bildern und Diskursen, die im westlichen zeitgenössischen, historischen Präsens die Definition der Subjektivität charakterisieren. Wie erfolgt dies aber und wo befindet sich ein solches hermeneutisches und evokatives Potenzial des Konstrukts Holocaust?
E INZIGARTIGKEIT
DES
H OLOCAUSTS
Wie bereits bemerkt, bedarf der Blickpunkt des Historikers, des Analytikers, wie auch der Blickpunkt eines Jeden, der versuchen sollte, nur den prozessualen und faktischen Aspekt des Holocausts zu betrachten, einer
20 In diesem Zusammenhang beziehe ich mich auf die rein literarische Bedeutung des Terminus „Trauma“ (=Wunde): man soll jedoch darauf achten, wie eine bestimmte philosophische Perspektive den Begriff in einem historischen und epochalen Sinn versteht. „I think historiography involves an element of objectification, and objectification may perhaps be related to the phenomenon of numbing in trauma itself. As a counter-force to numbing, empathy may be understood in terms of attending to, even trying, in limited ways, to recapture the possibly split-off, affective dimension of the experience of others. Empathy may also be seen as counteracting victimization, including self-victimization. It involves affectivity as a crucial aspect of understanding in the historian or other observer or analyst. As in trauma, numbing may function for the historian as a protective shield or preservative against unproblematic identification with the experience of others and the possibility of being traumatized by it.“ LaCapra: Writing History, S. 39-40. Vgl. Caruth: Unclaimed Experience, S. 10-24.
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thematischen und problematisierenden Erweiterung:21 Man muss mit dem diskursiven und evokativen Potenzial das betreffende Feld berücksichtigen. Aber wo wird diese Fülle und diese Macht generiert? Welche Elemente verwandeln ein historisches Ereignis in eine Art große Theatralisierung, in der sich reale Geschehnisse, Schauspiel, Drehbuch und Figuren, alle innerhalb einer einzigen chorartigen Aufführung, zusammenzudrängen scheinen? Was war der Konstruktions- und Definitionsprozess dieser großen historischen Vorstellungswelt und wie hat er sich entwickelt? Welche Rolle hat darin die mediale Verbreitung gespielt? Die Liberalisierung des Zugangs zu Bildarchiven, Filmen und Memoiren? Und vor allem welches Gewicht wird dann die deutsche Wiedervereinigung bzw. die Konstruktion einer neuen politischen europäischen Entität für die Definition einer Übersicht dieser Ereignisse haben? Diese Fragen enthalten Aspekte politischer, kultureller und materieller Ordnung, die anhand einer Gesamtanalyse neu geordnet und entwickelt werden sollten. Klar ist, dass der Duktus dieser Fragen sich vor allem im Kielwasser der großen kritischen Deutungen der Modernität bewegt: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Guy Debord haben in der materiellen und kulturellen Produktion des Zwanzigsten Jahrhunderts die Konstruktion einer Welt von Überbauten und Repräsentationen erkannt, die auf die Entwicklung von Mechanismen der Produktion und Konsumption ausgerichtet ist: Bestimmte Beschreibungen der Spektakularisierung, der Produktion und des Konsums von Kultur wären auch der Wahrnehmung des Holocausts nicht fremd, der also dem Modell der „Konstitution der kulturellen Ereignisse als Spektakel“ folgen würde, das in den originären Betrachtun-
21 „I have had to reconstruct the process of destruction in my mind, combining the documents into paragraphs, the paragraphs into chapters, the chapters into a book. I always considered that I stood on solid ground: I had no anxieties about artistic failure. Now I have been told that I have indeed succeeded. And that is a cause of some worry, for we historians usurp history precisely when we are successful in our work, and that is to say that nowadays some people might read what I have written in the mistaken belief that here, on my printed pages, they will find the true ultimate Holocaust as it really happened.“ Hilberg: „I Was not There“, in: Berel Lang (Hg.): Writing and the Holocaust, New York: Holmes&Meyer 1988, S. 25.
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gen der Dialektik der Aufklärung enthalten ist.22 Ich denke, dass diese marxistischen Theorien, trotz der Güte und der Wirksamkeit der verschiedenen Ideen von Verdinglichung, Reproduktion und Wiederholung nicht das wesentliche Potenzial an Kreativität und Bedeutung des Holocausts erkennen, welches auf jeden Fall das Ergebnis eines historischen und sozialen Bedürfnisses ist, das es zu erforschen lohnt. Das Begreifen des Holocausts – von Adornos philosophischen Betrachtungen bis hin zu denen von Agamben – hängt mit einem tieferen Verständnis der tragenden Achsen der Gegenwärtigkeit zusammen: Hierzu beziehe ich mich nicht so sehr auf den historischen Aspekt, sondern auf einen ganzen Apparat von Instrumenten, Blickpunkten, sprachlichen Techniken und Strukturen, die das kulturelle und strukturelle Gut bilden, innerhalb dessen die europäisch/amerikanische, vor allem die westliche Gegenwärtigkeit ihre Repräsentation der Geschichte konstituiert. Dieser Prozess der Teilnahme und Konstituierung in Bezug auf die Erfahrung des Holocausts steht nicht nur in Verbindung mit seiner Popularisierung durch die großen Hollywoodproduktionen und auch nicht allein durch die Verbreitung der sogenannten Holocaust and Genocide Studies:23 Er ist wahr-
22 „Die Verkümmerung der Vorstellungskraft und Spontaneität des Kulturkonsumenten heute braucht nicht auf psychologische Mechanismen erst reduziert zu werden. Die Produkte selber, allen voran das charakteristischste, der Tonfilm, lähmen ihrer objektiven Beschaffenheit nach jene Fähigkeiten. Sie sind so angelegt, das ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, dass sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will. Die Anspannung freilich ist so eingeschliffen, dass sie im Einzelfall gar nicht erst aktualisiert zu werden braucht und doch die Einbildungskraft verdrängt.“ Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a/M: Fischer 2009, S. 134. 23 „In American academic communities, Holocaust research steadily grows. In 1990, about eighty books were published in the United States about the Holocaust. A new field of study, the ‚Sociology of the Holocaust‘ now adresses ‚social problems, social control, social psychology, and deviance‘ as it relates to the Nazi genocide. In 1995 and 1996, over one hundred dissertations focused on the Holocaust; entire scholarly journals are now devoted to its study.“ Flanzbaum (Hg.): The Americanization of the Holocaust, S. 6.
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scheinlich in die Natur dieses historischen Phänomens selbst eingeschrieben und dieses Eingeschrieben-Sein reproblematisiert auch die gesamte traditionelle Betrachtung, die an das Thema der Beziehung zwischen Uniqueness und Historizität gebunden ist. Der Holocaust definiert sich wie eines der grundlegenden Paradigmen der westlichen Welt und resignifiziert implizit – wenn auch auf der Ebene der Massenkultur – ethische Werte, Repräsentationen der Gemeinschaft und der Subjektivität. Dies passiert nicht nur aufgrund einer Frage der Beispielhaftigkeit, sondern in einem erweiterten Sinne, da er sich paradigmatisch strukturiert und eine Reihe von effektiven Repräsentationen des „Subjekts“, der „Gemeinschaft“, der „Räumlichkeit“ und der „Zeitlichkeit“ generiert und konfiguriert. Dieser Aspekt ist aus meiner Sicht das Ergebnis zweier grundlegender und konstituierender Konnotationen des historischen Ereignisses als solches: a) Die Vernichtung der Juden Europas während der Zeit des NaziFaschismus bleibt in seiner Bedeutung und Struktur (Quantität und Qualität) ein einzigartiges historisches Ereignis: Sie hat auf tragische Weise, geografisch und symbolisch gesehen, die gesamte, sogenannte westliche Welt, von Europa bis zu den Vereinigten Staaten, geprägt.24 b) Diese Einzigartigkeit wurde dank der enormen medialen und kommunikativen Möglichkeiten zutage gefördert, die eine fast gleichzeitige Verbreitung revolutionärer Archivierungs-, Medialisierungs- und Kommunikationsmittel geschaffen und gleichzeitig den Massen zugänglich gemacht hatte. Und warum nicht die andern Verbrechen der Nazis? Das Gemisch aus diesen zwei Elementen – der Einzigartigkeit und der Spektakularisierung – hat das Ereignis des Holocausts und auch seine konstante kreative und archetypische Kraft unauslöschlich definiert. Man könnte sich auf dieser Ebene fragen, welche Rolle diese Einzigartigkeit in Verbindung mit den Möglichkeiten der Spektakularisierung und also der Schaffung des Ortes des Ereignisses selbst genau gespielt hat. Wie ich bereits versucht habe aufzuzeigen, stellt die (scheinbare) Signifikations-leere, die
24 Aus der Perspektive einer Diskursanalyse wird jedoch klar, inwieweit der Holocaust und dessen Konstitution sich auf ganz verschiedene Weise an diesen zwei regionalen Orten reproduziert haben. Am wichtigsten wird es sein, die qualitativen Verhältnisse zwischen Ereignissen und deren Darstellung im Falle von Europa und den Vereinigten Staaten zentral zu analysieren.
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der Holocaust uns vermittelt hat, im Wesentlichen das grundlegende Element dieser Einzigartigkeit dar: Ich möchte auf diese Weise darauf aufmerksam machen, wie die Intensität des historischen Ereignisses an sich einen Abgrund eröffnet und ein epochales Bedürfnis geschaffen hat, in denen Erzählungen, Dokumente und Repräsentationen verschiedenster Art unendlichen Stoff gefunden haben und finden werden, um sich weiterhin reproduzieren und behaupten zu können. Diese Signifikationsleere (die so gut von der Prosa und den Abenteuern Adornos und der Dekonstruktion beschrieben worden ist) stellt in Wirklichkeit eine unerschöpfliche Quelle von Symboliken und Metaphern dar, von anzestralen Paradigmen, die den Menschen und seine Nacktheit, die Wahrheit und seine Beziehung zur Geschichte betreffen. Wenn sich einerseits die Kommerzialisierung und Verdinglichung des Holocausts auch in diesem Fall selbst als Mechanismus entpuppt, der an diese „Gesellschaft des Spektakels“ gebunden ist […] so kann man ihm andererseits auch nicht eine gewisse Radikalität aberkennen. Man kann nicht nur einfach auf eine Vorstellung von Voyeurismus oder von Konsum, von Gütern oder Kultur hinweisen: Die Nacktheit und die Grausamkeit der Spuren, die Auschwitz hinterlassen hat, stellen eine Mahnung und ein Zeichen dar, das konstitutiv ist. Und gerade die „Nacktheit des Menschen“ – die einen der wesentlichen Kerne der Wahrnehmung des Holocausts ist – stellt sowohl in ihrem Aspekt der physischen Nacktheit als auch in dem der daraus folgenden moralischen Nacktheit einen grundlegenden Moment der Analyse der Spektakularisierung des Holocausts dar. Die Präsenz und die Kraft jener Bilder, der Bilder der aufeinandergestapelten Körper in Auschwitz (wenn auch mit ihrer grundsätzlichen Paradoxie)25 ist ein historisches Ganzes, das unentbehrlich ist, um die anfängliche und konstitutive Prägung zu verstehen, die der Holocaust hinterlassen hat. Die Idee der Nacktheit jedoch, oder besser gesagt die ihrer Zurschau-
25 „Wenn das Bild ‚alles‘ wäre, müsste man zweifellos zu dem Ergebnis kommen, dass es keine Bilder der Shoa gibt. Aber gerade weil das Bild nicht alles ist, bleibt es legitim, zu sagen: Es gibt Bilder der Shoa; und wenn sie auch nicht alles sagen – und noch weniger ‚das Ganze‘ umfassen – verdienen sie es doch betrachtet und als besonderer Tatbestand, als Zeugnis und Teil des Ganzen dieser tragischen Geschichte befragt zu werden.“ Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 99-100.
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stellung, hat sicherlich eine Anzahl von deutlichen Auswirkungen hervorgerufen: Die Körperlichkeit des Opfers, des Individuum, die in diesem Prozess vorgeführt wird, verweist auf andere Bedeutungen sozialer, theologischer und ästhetischer Natur sowie kollektiver Psychologie:26 aber verlieren die Opfer in den dargestellten Leichenbergen nicht gerade ihre Individualität?
S CHLUSSFOLGERUNG Der Spektakularisierungsprozess kann auf sehr verschiedenen Ebenen festgestellt werden. Sicherlich konstituiert er sich irgendwie mit dem historischen Ereignis selbst: Diese innere Verbindung erscheint essenziell für meine Analyse, einerseits, weil sie die Konstitution der Geschichte als Repräsentation legitimiert, andererseits, weil sie mich dazu führt, mich innerhalb sehr unterschiedlicher semantischer Felder und Narrative auf die Konstitution dieser Repräsentation zu konzentrieren: Diese gründen einerseits auf den historischen Fakten selbst, andererseits auf deren progressiver Reproduktion auf Trägern, Datenbanken und in Diskursen. Darüber hinaus muss betont werden, wie sich diese Form der Spektakularisierung einerseits auf zeitlicher Ebene nach dem Zweiten Weltkrieg und auf territorialer Ebene in Bezug auf die einzelnen Staaten und die unterschiedlichen politischen Wirklichkeiten, die davon profitiert haben, entwickelt hat. Ich werde diese zwei Fragen in den folgenden Kapitel angehen und mich auf die Entwicklung der Konstruktion der Repräsentation des Holocausts innerhalb zweier nationaler, europäischer Wirklichkeiten konzentrieren: Deutschland und Italien. Wenn also die Betrachtung der Spektakularisierung auf Themen historischer und geografischer Ordnung verweist – abgesehen von den bereits genannten Themen philosophischer Ordnung – die auch an die Modernität und deren Krise gebunden sind, halte ich es hier für wesentlich, drei
26 „Geschichtsbewusstsein ist immer geprägt durch die Sinnbildungsmechanismen der Autobiographie, und umgekehrt kommt keine autobiographische Selbstdeutung ohne Kategorien aus, die übergreifende, allgemeine und fundamentale Zeitdimensionen betreffen.“ Jörn Rüsen/Jürgen Straub (Hg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit: Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein. Erinnerung, Geschichte, Identität II, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1998, S. 10.
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Ebenen festzulegen, welche die Eigenschaften des Holocausts als Spektakel betreffen: a) Ebene der Träger: Wie bereits erwähnt, stellt der Aspekt der Träger einen der wesentlichen Gründe für die Spektakularisierung des Holocausts dar. Der Holocaust überlebt und wird reproduziert durch Bilder, Videos, Texte, Memoiren, Bibliotheken, hollywoodianische produktionen, Live Experiences. Die Reproduzierbarkeit und Haltbarkeit dieser Träger hat deren Verbreitung auf planetarischer Ebene erlaubt. Diese Inhalte werden jedoch größtenteils in der westlichen Welt (Europa, Vereinigte Staaten) erkannt und wahrgenommen: Diese Tatsache kann auf unterschiedliche Weise erklärt werden, ist aber vor allen Dingen das Ergebnis einer grundlegenden Nähe des Holocausts. b) Ebene der Nähe/Kontextualität: Das Ereignis ist historisch und dramatisch auf die Oberfläche von dem eingeschrieben, was wir heute das geografische Europa nennen können, und hat die jüdischen (und nichtjüdischen) Völker Europas direkt betroffen. Die Einbeziehung anderer politischer Entitäten (Vereinigte Staaten, Argentinien) und deren Nutzung der Repräsentation des Holocausts haben zum Exil in die amerikanische Welt vieler deutscher und mitteleuropäischer jüdischer Gemeinden geführt, die dem Genozid entfliehen wollten. Die Ebene der Nähe – das heißt der Nähe oder Übereinstimmung des historischen Ereignisses mit seiner Interpretation – spielt eine wesentliche Rolle, um die Eigenschaften der Repräsentation des Holocausts in unterschiedlichen Staaten zu verstehen. Diese Nahe/ Kontextualität ist jedoch das Ergebnis eines sehr langen Prozesses der individuellen Teilhabe und des Austausches innerhalb eines weiteren wesentlichen Aspekts der Spektakularisierung des Holocausts. c) Ebene der Narrativität/Diskursivität: Die aktuelle Repräsentation des Holocausts ist das Ergebnis einer Produktionsarbeit und Beteiligung an Diskursen und Narrativitäten. Der narrative und diskursive Aspekt stellt die Möglichkeit selbst dar, die verschiedenen Träger, von denen ich anfangs gesprochen habe, zu diskutieren, zu verstehen und zu interpretieren. Die Diskursivität ist mit der einzigartigen und epochalen Kraft des Holocausts eng verbunden, weil sie auf einer direkten Auseinandersetzung mit den Werten, den Praktiken, und der Objektivität der westlichen Gegenwärtigkeit gründet und durch diese konstituiert wird. Dieser Aspekt verrät auch die wesentliche Eigenschaft heutiger historischer Formen des Wissens, die
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eben ein soziales und kollektives Produkt sind.27 Diese Adhärenz der Konstruktion des Holocausts mit der westlichen Gegenwärtigkeit bietet viele Ansätze zur Interpretation. Im letzten Teil dieses Kapitels werde ich die Repräsentation des Holocausts in die Nähe bestimmter Theorien der Postmoderne rücken, während ich nun erst einmal versuchen möchte, die diskursive Vereinigung von Spektakularisierung und Sozialisierung zu vertiefen, die er mit sich bringt.
27 „Daraus resultiert die Vermutung, dass die Erzählung keineswegs nur ein Code unter vielen ist, derer sich eine Kultur bedienen kann, um die Erfahrung Sinn zu verleihen, sondern vielmehr ein Metacode, eine menschliche Universalie, auf deren Basis sich transkulturelle Botschaften über die Natur einer gemeinsam erlebten Realität weitergeben lassen.“ White: Die Bedeutung der Form, S. 11.
Diskursivität und Historizität Die Produktion des Holocausts
Das, was heute als Holocaust bezeichnet wird, ist eine Gesamtheit historiografischer, sozialer und narrativer Spannungen, die weit über das historische Ereignis selbst hinausweisen. Der Holocaust ist das Ergebnis eines Prozesses der Einschreibung, Überarbeitung und Kristallisierung wesentlicher Diskurse, die mit bestimmten ästhetischen, politischen und psychologischen Paradigmen der sogenannten Gegenwärtigkeit zu tun haben. Diese Diskurse haben nicht nur die Funktion, den Subjekten zu erlauben, die Welt zu bewohnen1 oder dessen Paradigmen zu verstehen, sondern vor allem die, sie anhand ihrer Wiederholung zu konstruieren. Darüber hinaus erlaubt uns diese Idee einer Konstitution des Holocausts in seinen Aspekten der Spek-
1
Um die soziologische, ästhetische und historische Relevanz des Holocausts als radikale Erfahrung zu deuten, werde ich mich auf verschiedene sozialwissenschaftliche und philosophische Konzepte stützen. Der Begriff Habitus könnte uns z.B. erlauben, die praktische Radikalität des Holocaustsdiskurs zu betonen: „Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungs-schemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen.“ Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1987, S. 101. Vgl. auch Beate Krais/Gunter Gebauer (Hg.): Habitus, Bielefeld: Transcript 2002, S. 53-60.
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takularisierung und Radikalität als Konstruktion einer europäischen und westlichen Vorstellungswelt, diese Vorstellungswelt selbst als historische, selektive Wirkung zu lesen, auf die bestimmte Theorien, Haltungen und Perspektiven der Europäischen Gemeinschaften von heute zurückgeführt werden können.2 Zum Zweck der Auseinandersetzung mit der thematischen und semantischen Komplexität des Holocausts, werde ich hier die Idee der „Diskursivität“ und das Konzept von „Diskurs“ einführen, die durch die historische Diskursanalyse entwickelt wurden. Die „historische Diskursanalyse“ könnte als transversale Tradition von Theorien historischen und soziologischen Typus bezeichnet werden, mit dem Ziel, anhand des Konzepts der Diskursivität die Beziehung zwischen Sprache, Gesellschaft und Geschichte zu verstehen. Sie konstituiert sich auf explizite Weise, von einem Schnittpunkt verschiedener sprachlicher und philosophischer Theorien3 ausgehend und verdichtet sich jedoch in der Idee der Diskursivität als Spur einer historischen soziokulturellen Wirklichkeit: Die historische Diskursanalyse geht grundsätzlich vom Konstruktionscharakter soziokultureller Wirklichkeiten aus und fragt vor diesem Hintergrund nach den Arten
2
Die Widerspiegelung zwischen der vermutlichen extra- historischen Bedeutung des Holocausts als Makro-Struktur, und seiner historischen Darlegung wird in dieser Arbeit durch die Betrachtung der Erfahrung der einzelnen Person im Zentrum des Erinnerungsprozesses Infrage gestellt. Der Holocaust wird hier als individuelle und kulturelle soziale Produktion betrachtet: ich werde den Holocaust auf der Linie einer „Analyse der Funktionsweise der Felder der kulturellen Produktion“ denken; siehe Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1994, S. 217-18.
3
Im Mittelpunkt meiner Untersuchungen steht die Idee der Diskursivität als materieller und sprachlicher Zusammenhang. Theoretisch werde ich mich zwischen der von Derrida entwickelten „Zeichentheorie“ und der foucaultschen Betrachtung bewegen, dass die Diskurse „in einem Zwischenbereich zwischen den Worten und den Dingen produziert werden, wo diese eine kompakte Materialität mit eigenen beschreibbaren Regeln darstellen, um auf diese Weise die gesellschaftliche Konstruktion der Dinge ebenso zu steuern wie dem sprechenden Subjekt einen Ort zuzuweisen, an dem sich sein Sprechen und seine Sprache erst entfallen können.“ Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a/M: Suhrkamp 2003, S. 34.
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und Weisen, mit denen im historischen Formen des Wissens, der Wahrheit und der Wirklichkeit hervorgebracht werden. Als Diskurse werden dabei geregelte und untrennbar mit Machtformen verknüpfte Ordnungsmuster verstanden, in denen diese Konstruktionsarbeit organisiert wird. Sie lassen sich häufig in sprachlicher Form fassen, jedoch können prinzipiell alle Elemente soziokultureller Wirklichkeit zum Gegenstand entsprechender Analysen gemacht werden, denn es gibt kein Medium, keine Praxis und keinen Gegenstand die nicht zur Formierung mindestens eines Diskurses beitragen würden. Diskurse wirken dabei sowohl produktiv als auch restriktiv, sie sind strukturiert und bringen ihrerseits Strukturen hervor. Da solchen Diskursen Regelhaftigkeiten unterliegen, können sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht werden. Die historische Perspektive gewinnt hierbei besondere Relevanz, weil Diskurse keine andere Basis haben als ihre eigene Historizität.4
Dieses methodologische Zitat hat den Vorzug, die klassische Problematizität der Diskurse und der Konstruktion von dem Sinn, dessen Funktion sie zu sein scheint, zu verdeutlichen. Der Holocaustdiskurs ist ein Konstrukt, der sich in einer zunehmenden und inneren Entwicklung befindet, der aber Blickpunkte und soziale Objektivitäten bestimmt: Seine eigene Historizität begleitet Veränderungen in der Politik und in den öffentlichen Meinungen unserer Gegenwart. Und dies ergibt sich ja nicht aufgrund seiner mutmaßlichen, originären und ahistorischen Kraft:5 Ganz im Gegenteil er-
4
Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse, Frankfurt a/M: Campus 2008, S. 98.
5
Man muss jedoch auf die innere kritische Logik jeder Diskursivität achtgeben: die Diskursivität des Holocausts sollte jenseits der typischen Dualismen Strukturalität/Substanzialität; Sprachlichkeit/Materialität in Betracht gezogen werden: „Das Feld der diskursiven Ereignisse dagegen ist die stets endliche und zur Zeit begrenzte Menge von allein den linguistischen Sequenzen, die formuliert worden sind; sie können durchaus zahllos sein, sie können durch ihre Masse jegliche Aufnahme-, Gedächtnis- oder Lesekapazität übersteigen: sie konstituieren dennoch eine endliche Menge.“ Michael Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1981, S. 42. Anderseits, um eine tiefe Interpretation des Holocaust zu schaffen, ist notwendig auch jenseits „jenen Mehrdeutigen und Paradoxa, die dem Gebrauch der Sprache selbst inhärent sind, sondern nach der kompakten Formation von énoncés, von positiven, historisch vorfindlichen Aussagen.“ Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 34.
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folgt die Konstitution des Holocaustdiskurses durch seine Definition als historisch-diskursives Ereignis und die Historizität des Sinnes und (also der Diskurse) stellt das Prinzip dar, durch das die Subjekte lernen eine Welt zu erkennen und als Zeugen aufzutreten. Diese Wahrnehmung der Wichtigkeit der Diskursivität ist kaum funktionell hinsichtlich einer Überwindung der Materialität selbst der Diskurse und deren Einwurzelung:6 Der Holocaust hat unauslöschbare Spuren hinterlassen, die als Zeichen und Verweise für jede spätere Aussage wirken; berechtigt ist daher in diesem Sinne die Frage über die Adhärenz der verschiedenen Diskurse an diese Zeichen und Verweise. All das verbindet sich also mit dem methodologischen Aspekt der Beziehung zu Historizität, Dokumentalität und Narrativität wieder oder, anders gesagt, zu der Existenz der historischen Ereignisse als Zeichen, Niederschrift, Repräsentation. Wie ich bereits erwähnt habe, kommt zu diesem Mechanismus jedoch eine Form von Wiederholbarkeit und von Materialität hinzu, welche der Holocaust als „gesellschaftliche Konstruktion“ vollkommen charakterisiert.7 Die Vernichtung der Juden Europas ist ein histo-
6
Wie von einer bestimmten historischen Semantik erwähnt: „Jede Abbildtheorie der Sprache lebt von der Ausstellung, dass es jenseits menschlicher Wahrnehmungstätigkeit eine (vorsprachliche) Wirklichkeit gebe, die Bezugspunkt und Grundlage des Erkennens sei. Diese Vorstellung ist trivial, solange nicht übersehen wird, dass diese Wirklichkeit als angeeignete, für uns bedeutungsvolle Resultat unserer Tätigkeit (sowohl sprachlicher als auch außersprachlicher) ist. Die Gegenstände bedeuten nicht an sich, sondern erst, indem wir mit ihnen umgehen, praktisch wie sprachlich, und so einen Bezug zu ihnen entwickeln.“ Busse: Historische Semantik, S. 90.
7
Dieser Aspekt wird durch die allgemeine Idee eines produktiven, symbolischen und sozialen Charakters der Geschichte (bzw. des Holocausts) betrachtet werden. „Die symbolische Sinnwelt bringt Ordnung in die Subjektive Einstellung zur persönlichen Erfahrung. […] Auch in die Geschichte bringt die symbolische Sinnwelt System. Sie weist allen allgemeinen Ereignissen in einer zusammenhängenden Einheit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umschließt, ihren Platz zu. Für die Vergangenheit hält sie Erinnerung bereit, deren alle teilhaftig sein können, die zu der betreffenden Gesellschaft gehören.“ Peter L. Berger/Thomas Luckmann (Hg.): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Stuttgart: Fischer 1969, S. 98-110.
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risch bezeugter Fakt, der auf die Oberfläche des alten Kontinents eingeschrieben und eingeprägt ist, dessen Existenz (als Ereignis) zu leugnen, sinnlos wäre – auch in Funktion eines entfesselten, diskursiven Nominalismus – und der vor allem die Bedeutung seiner Auslegung als Narrativität (als Diskurs, eben) hinterfragt. Die Bedeutung der Begriffe „Narrativität“ oder „Diskursivität“ ist nicht die allgemeine einer Konstruktion von Geschichten, sondern eher die der Umreißung der Formen der Gegenwart, also die sprachliche und räumliche Konstitution von dem, was die Geschichte, im Sinne von Fakten und Ereignissen, hinter sich lässt. Die kollektive Repräsentation des Holocaust konstituiert sich als Spur, Zeichen, Zeugnis und zuletzt als Diskurs. Und dieser Diskurs wiederholt und remodifiziert sich wiederum in den Formen der sozialen und politischen Erfahrung der Subjekte, die sie konstituieren, jedoch immer in Bezug auf die grundlegende Historizität.8
D ER H OLOCAUSTDISKURS Welches und wie viele sind die grundlegenden Diskurse, aus denen der Holocaust besteht? Diese Frage verweist, siebzig Jahre zurück und mit einer gewissen Distanzierung von dem Ereignis selbst, auf die Pluralität ihrer Phasen und Metamorphosen. Was ist also der Holocaust heute? Von wie vielen symbolischen, disziplinären und ethischen Ebenen ausgehend, können die grundlegenden Diskurse des Holocaust ermittelt werden? An dieser Stelle möchte ich vier davon hervorheben, die der historischen, symbolischen, wissenschaftlichen und epochalen Ordnung angehören. Von einem methodologischen Blickpunkt aus betrachtet, werde ich jeden dieser Diskurse mit dem Schematismus der foucaultschen Analyse in seinen vier Cha-
8
„Das System der Dispositionen als Vergangenheit, die im Gegenwärtigen überdauert und sich in die Zukunft fortzupflanzen trachtet, indem sie sich in den nach ihren eigenen Prinzipien strukturierten Praktiken aktualisiert, als inneres Gesetz, welches ständig dem nicht auf unmittelbare Zwänge der jeweiligen Situation zurückführbaren Gesetz der äußeren Notwendigkeit Geltung verschafft, liegt der Kontinuität und Regelmäßigkeit zugrunde, die der Objektivismus den sozialen Praktiken zuschreibt“; Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 102.
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rakteristika in Zusammenhang bringen:9 Örtlichkeit, Zuschreiblichkeit, Begrenzlichkeit und Archivierung. Darüber hinaus bringt jede dieser Ebenen auch ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Begrifflichkeit und Historizität mit sich, das deren Grad an Überprüfbarkeit bestimmt: a) Es gibt einen Holocaust als historischen Diskurs und als Fakt des Genozids der Juden Europas: Als Plan der vor der Machübertragung Hitlers im Januar 1933 geschmiedet und vorbereitet würde, später dann während der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 bestimmt und formell festgelegt wurde – unter dem emblematischen Ausdruck der Endlösung der Judenfrage. Dieser Fakt besteht hauptsächlich aus dem Protokoll jener Konferenz und aus den Dokumenten, politischen Handlungen, Zwangsarbeitslagern, Vernichtungslagern, Fotografien, Karteien und verschiedenen Archiven: seine Nähe zu den Fakten historischer Ordnung ist unmittelbar. Der Begriff Holocaust wurde eigens ausgesucht, um den Effekt, die Wirkung und die Gesamtschau dieser einzelnen Dokumente, Handlungen und Orte zu bezeichnen und zu beschreiben, die in einer allgemeinen Perspektive neu gelesen und neu überdacht werden.10 b) Es gibt einen Holocaust als universalistische und symbolische Diskursivität, innerhalb derer mittlerweile ein Großteil der nicht nur im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen an einer Vielzahl spezifischer sozialen Gruppen und Kategorien einbegriffen werden (politische Gegner, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, „Asoziale“, Kommunisten, Sinti und Roma …), sondern auch Verbrechen gegenüber anderen historisch-politischen Wirklichkeiten und dies auch in rückwirkendem Sinne (Genozid an den Armeniern, an den Tutsi in Ruanda). Das heißt, dass Intensität und Eigenschaften der Vernichtung der Juden eine Art Interpretationsmöglichkeit generiert haben, anhand derer andere historische Ereignisse eingeordnet und gedeutet werden können, welche dieselben Eigenschaften zu haben scheinen. Die historische Nähe und die Sprachlichkeit sind in diesem Fall etwas problematischer, da die historische Diskursivität zerrissen und ausgenutzt
9
Der Bezug auf die foucaultsche Diskursanalyse wird hier auf einer methodologischen Linie verstanden: am wichtigsten ist nun seine Idee der Diskursivität als „Örtlichkeit wo bestimmte conditions formelles gespielt und erkannt werden können.“ Foucault: Archäologie des Wissens, S. 62-64.
10 Vgl. Kampe/Klein (Hg.): Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, S. 17115.
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wird, um Prozesse und Situationen zu bezeichnen, die sehr weit entfernt von deren originärer Verwendung sind.11 c) Es gibt einen Holocaust, der von seinem streng theologischen Aspekt und den daraus resultierenden Bedeutungen ausgehend verstanden wird: Diese Art von Paradigma hat in einigen nordamerikanischen akademischen Kreisen der siebziger Jahre Gestalt angenommen und beeinflusst und legitimiert jedoch in großem Maße die zeitgenössische theologischpolitische Literatur und die dazugehörigen verschiedenen Standpunkte. Dieser Diskurs ist nicht sehr bekannt, aber er stellt faktisch die wesentliche Modalität dar, innerhalb der sich die verschiedenen philosophischen Schulen den Problemen der Bedeutung genähert haben, die mit dem Begriff verbunden sind. Dieser Blickpunkt hat sich in das Zentrum der Frage der Funktion und der Bedeutung des Begriffs verschoben, indem er Diskurse und Blickpunkte strukturiert hat, die für die Nutzung auch anderer Begriffe wie Shoa, Parrajmos, Churban entscheidend beigetragen haben. Man könnte diese Verwendung des Begriffs als regelnd bezeichnen. d) Es gibt schließlich den Holocaust als historisch-epochale Kategorie, als Möglichkeit und als mythische Spannung, mit der Funktion moralische, ethische und humanitäre Kategorien festzulegen: In diesem Sinne erweist sich als offensichtlich die Kraft des so genannten progressiven Charakters des Holocausts, der gerade diese kreative Kraft beinhaltet, von der ich in den vorherigen Kapiteln gesprochen haben. In diesem Verweis verbirgt sich der problematische Kern dieser Arbeit: Das Vorhandensein seiner Bedeutung muss vertieft und dekonstruiert werden. Es scheint fest zu stehen, dass sich hinter jedem wichtigen, historischen Ereignis (als Diskursivität betrachtet) solche faktischen, semantischen, lexikalischen und symbolischen Strukturen verbergen. Was den Holocaust betrifft, muss man jedoch bedenken, dass diese Strukturen erst heute in ih-
11 Auf dieser Ebene der Grenzbarkeit wird der konstitutive Charakter des Holocaustdiskurs in Frage gestellt: welches ist die innere Beziehung zwischen diesem Diskurs als diskursivem und dem Holocaust als historischem Ereignis; zu der Frage der Beziehung zwischen Diskursivität und Ereignissen siehe Marcus Otto: „Zur Aktualität historischen Sinns. Diskursgeschichte als Genealogie immanenter Ereignisse“, in: Franz X. Eder (Hg.): Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen, Heidelberg: Verlag für soziale Wissenschaft 2006.
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rer definierten Form auffindbar sind, siebzig Jahre nach den Ereignissen und nach dem Entstehen von dem, was Jan Assmann „kollektives Gedächtnis“ nennt.12 Der Holocaustdiskurs verfestigt und definiert sich in einer immer institutioneller und stabiler werdenden Form. Dieser Stabilisierungsprozess hat mit dem Konvergieren unterschiedlicher Aspekte historischer, sozialer und politischer Ordnung begonnen. Der Fall der Mauer ist das grundlegende Ereignis, das in einem positivem Sinne eine Art von Formalisierung gegenüber der geografischen und topografischen Anerkennung des Holocausts erlaubt hat:13 dieses Ereignis hat die Wiederherstellung einer gewissen Einheitlichkeit in der Wahrnehmung der historischen Ereignisse ermöglicht. Wenn wir die heutige Landkarte Europas von Port Bou bis hin zur Babyn Jar betrachten, sehen wir, dass die Repräsentationen und die Rekonstruktionen des Holocausts eine beträchtliche Einheitlichkeit und Stabilität erreicht haben, die viel mit der weiter oben ausgearbeiteten Vierteilung zu tun hat.14 Die vier Diskurse, die ich hier aufstelle, scheinen ihre Legitimität und Definition gerade im Laufe der letzten zwanzig Jahre und im Zusammenhang mit der Definition eines vereinten Europas gefunden zu haben. Es geht mir hier nicht so sehr darum, diese vier Diskursivitäten mit einem politischen Diskurs des vereinten Europas in Einklang zu bringen, sondern um die Frage, in welcher Art von Beziehung diese Diskurse mit der Konstitution einer politischen, übernationalen Entität, wie die der Europäischen Uni-
12 „Mit anderen Worten: das Individuelle Gedächtnis baut sich bestimmten Person kraft ihre Teilnahme an kommunikativen Prozessen auf. Es ist eine Funktion ihrer Eingebundenheit in mannigfaltige soziale Gruppen, von der Familie bis zur Religions- und Nationsgemeinschaft. [...] Das Kollektivgedächtnis haftet an seinen Trägern und ist nicht beliebig übertragbar. Wer an ihm teilhat, bezeugt damit seine Gruppenzugehörigkeit.“ Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 3639. 13 Vgl. Claus Leggewie/Erik Meyer: „Ein Ort, an den man gerne geht“. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München: Hanser 2005. 14 In Port Bou kann man ein an W. Benjamin gewidmetes Mahnmal besichtigen: für eine spannende literarische und philosophische Rekonstruktion der Bedeutung und der Ausstrahlung dieses Ortes siehe Sznaider: Gedächtnisraum Europa, S. 33-43.
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on, stehen. Welche Rolle spielt die evokative Kraft dieser symbolischen Inhalte? Welche Beziehung besteht zwischen bestimmten Betrachtungen in Verbindung mit dem Holocaust und der Konstitution eines postnationalen Staates wie Europa? Wie sehr wird die europäische Vorstellungswelt durch diese Spur und dieses Zeichen des Gedenkens an den Holocaust beeinflusst?
M ATERIALITÄT , D ISKURS , R EPRÄSENTATION Heute gibt es in Europa mehr als fünfhundert Gedenkstätten für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Viele davon stellen auf eine gewisse Weise die Spur dar, innerhalb derer die antijüdische Verfolgung der Nationalsozialisten Phase für Phase, Dokument für Dokument rekonstruiert werden kann. Diese Topografie wird innerlich durch die vier oben genannten Leitgedanken gestützt und charakterisiert eine Form von transversaler Identität des vereinten Europas. Sicherlich ist der Diskurs um die politische Erkenntnis (der individuellen Verantwortungen und der nationalen Kollaborationen) sehr präsent, aber noch präsenter ist der geografische, topografische Abdruck, der Städte, Regionen, Staaten und Landstriche Europas markiert; diese Schneise ist die tragische, offene Wunde, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat und die durch ihre Präsenz vor der Gegenwärtigkeit immer wieder die Diskurse um den Holocaust transformiert hat. Diese Wunde ist jedoch nicht nur das traumatische Zeichen des Zwanzigsten Jahrhunderts, sondern die Spur, die der europäischen Gegenwärtigkeit erlaubt hat, neu zu beginnen und ihre eigene Geschichte zu rekonstruieren und neu festzulegen. Durch den Fall der Mauer tritt eine hektische Beschleunigung jenes Prozesses der Definition vieler nationaler Identitäten ein, von ihrem Bezug auf die Erfahrung der totalen Vernichtung ausgehend. Gleichzeitig muss freilich an die gegenwärtige Überlagerung anderer Gedenken und anderer Produktionen von Repräsentationen der Geschichte erinnert werden: Was hier jedoch offen zutage tritt, ist die Tatsache, dass die Gesamtheit der an den Holocaust gebundenen und hier genannten Perspek-
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tiven und Vorstellungswelten eine wesentliche und konstitutive Rolle spielen, vor allem von ihrer Materialität ausgehend.15 Die an den Holocaust gebundene Diskursivität besitzt eine historische und topografische Wirksamkeit, die sich durch ein ständiges Verweisen auf Ereignisse, auf die Materialität, die Wirksamkeit und die Niederschrift der historischen Ereignisse zu legitimieren scheint. Wenn man im Sinne Bordieus das soziale Feld als den pluridimensionalen Raum bezeichnen wollte, der sich aus Praxen, Modalitäten und auch Diskursen zusammensetzt,16 könnte es interessant sein, die Frage über die reale Rolle des Holocaustdiskurses in der sozialen Landschaft des vereinten Europas zu stellen. In dieser Ästhetizität, in dieser Kraft und Radikalität des Szenarios der totalen Vernichtung verbirgt sich und enthüllt sich eine Nacktheit, die in Verlegenheit bringt und erdrückt und gleichzeitig verlangt, betrachtet und respektiert zu werden. Diese Materialität und diese Nacktheit sind auf verschiedene Weisen bezeichnet und durch unterschiedliche Lesarten erkannt worden: Hier geht es darum, ihre Qualität und evokative Kraft zu rekonstruieren, um die Konstruktion eines sozialen und politischen Diskurses zu fördern.17
15 „Der Geist weht eben nicht, wo er will, sondern ist ein Effekt von diskursiven Strukturen, die historisch situiertbar sind, eine soziale Kontur haben und an bestimmten Medien gebunden sind. Dieser historisierende Zug der Foucaultschen Diskursanalyse begründet zugleich ihren materialistischen Charakter. Zu behaupten, dass Diskurse nicht ‚Geist‘ oder bloßer ‚Sinn‘ seien, impliziert, solchen Strukturen eine spezifische Materialität zuzuschreiben, die Diskurse grundlegend von einem geistesgeschichtlich verstandenen Rede- oder Themen- beziehungsweise – und vor allem – Traditionszusammenhang unterscheidet. Dieser Materialität ist eine spezifische Eigenlogik inhärent, eine Spezifität, die jeden gemeinten Sinn notwendigerweise mitprägt und das subjektiv ‚Gemeinte‘ vom tatsächlich Gesagten trennt.“ Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 37. 16 Landwehr: Historische Diskursanalyse, S. 82. 17 „It is worth pointing out in this connection that in recent years several refined readings of Bataille, starting with that of Jean-Luc Nancy, have attempted to link his thought to a conception of community in which the very categories of ethics and politics are seen as undergoing a radical reconfiguration. [...] Following Nancy, the fundamental thesis is that, in naming communication the moment at which two beings who are, lacerated, suspended, both leaning over their own
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Im vierten Teil dieser Abhandlung werde ich diese Vorstellungswelten den klassischen Vorstellungswelten der Nationalstaaten gegenüberstellen: Ich werde die Frage aufwerfen, welche Art von Repräsentation des Subjekts der Holocaust aufstellt und welchen Bezug diese zur Konstitution eines übernationalen Organismus hat. Ich werde ebenfalls die Frage aufwerfen, inwieweit Europa sich auf der Suche nach einem Szenario befindet, das es von seiner widersprüchlichsten Ideen befreien kann und zwar von der Idee der Nation als Körper. Ich werde schließlich auch der Frage nachgehen, welche Funktion das Konstrukt des Holocausts in der Konstruktion einer postnationalen europäischen Vorstellungswelt übernimmt.
S CHLUSSFOLGERUNG Um sich mit dieser symbolischen und semantischen Plurivalenz des Holocaustdiskurses auseinander zu setzen, habe ich mich also dazu entschlossen, diese weitere methodologische Perspektive einzufügen, die der Diskursanalyse. Die Reichhaltigkeit des semantischen Feldes des historischen und epochalen Ereignisses des Holocausts stellt viele der klassischen, disziplinären Blickpunkte infrage, von dem der Beziehung zwischen Geschichte und Repräsentation bis hin zu dem der Beziehung zwischen Narrativität und Diskursivität. In dieser Arbeit werde ich mich dieser Grundproblematik widmen, indem ich den Fokus gezielt auf den Diskurs des Holocausts als politischen/sozialen Diskurs richte. Im zweiten Teil werde ich die Entwicklung des Holocaust Diskurses in zwei europäischen Staaten auf synchronischer und diachronischer Ebene analysieren: Ich werde versuchen darzulegen, auf welche Weise die Gesamtheit der an den Holocaust gebundenen Diskursivitäten im Deutschland und im Italien der Nachkriegszeit entwickelt worden ist, durch die Untersuchung offizieller und nationaler Repräsentationen zu diesem Thema. Es wird eine Gliederung aufgestellt, um bei-
nothingness‘, put themselves ‚at stake‘, Bataille was driven to think a subjectivity that is no longer shut up in the arrogance oft he self-sufficient individual of modernity but rather open, passively exposed to he other and disposed to encounter it in a reciprocal exposure that has its essential cipher in the sharing out of death.“ Adriana Cavarero: Horrorism. Naming Contemporary Violence, New York: Columbia University Press 2009, S. 52.
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de Phänomene parallel auf einer nationalen Ebene zu analysieren, in dem Versuch zu verstehen, wie man von einer nationalen Ebene ausgehend zur Konstruktion einer Art „Netzwerk des übernationalen Gedenkens“18 gekommen ist, dem sich viele politische Wirklichkeiten der Europäischen Union hinzu orientieren scheinen. Wie ich versuchen werde aufzuzeigen, steht nicht nur das „an was“ man gedenkt und die Art „wie“ man gedenkt auf dem Spiel, sondern vielmehr bestimmte Orientierungen und wesentlichen Sichtpunkte der westlichen europäisch-amerikanischen Welt.
18 „Damit wird auch die Beziehung zwischen Erinnerung und Geschichte neu geschrieben. Es geht nicht mehr um Nationalgeschichte, sondern um Erinnerungsgeschichte. In der Erinnerung können mehrere Geschichten – und damit auch Universalismus und Partikularismus, das Allgemeine und das Besondere – gleichzeitig existieren.“ Sznaider: Gedächtnisraum Europa, S. 11.
Der Holocaust in philosophischer Perspektive Subjektivität und Epochalität
Holocaust und Philosophie, also! Diese beiden Begriffe verweisen sofort auf eine Gesamtheit wohlbekannter, literarischer Bezüge: Von Theodor Adorno bis Hans Jonas, von Jacques Derrida bis Emmanuel Lévinas scheinen der Holocaust und seine Diskursivität nicht nur eine zentrale Rolle auf der Inhaltsebene zu spielen, sondern vor allem auf der originären Ebene, fast wie wenn die Vernichtung der Juden etwas Antizipatorisches und Grundlegendes gegenüber dem philosophischen Diskurs selbst darstellen würde. Die Thesen dieser Autoren sind unangreifbar und integer, ungeachtet dessen, dass viele dieser Autoren jüdischer Abstammung oder zumindest von dieser Tragödie direkt betroffen oder berührt worden waren. In den Worten Jonas’, in seiner Idee der ethischen Radikalität der Bedeutung des Holocausts, ist vielleicht die umfangreichste und allgemeingültigste Formulierung der Rolle des Holocausts für die Gegenwärtigkeit enthalten.1 Es be-
1
„Aber für den Juden, der im Diesseits den Ort der göttlichen Schöpfung, Gerechtigkeit und Erlösung sieht, ist Gott eminent der Herr der Geschichte, und da stellt Auschwitz selbst für den Gläubigen den ganzen überlieferten Gottesbegriff in Frage. Es fügt in der Tat, wie ich soeben zu zeigen versuchte, der jüdischen Geschichtserfahrung ein Nie Dagewesenes hinzu, das mit den alten theologischen Kategorien nicht zu meistern ist. Wer aber vom Gottesbegriff nicht einfach lassen will – und dazu hat selbst der Philosoph ein Recht –, der muss, um ihn nicht aufgeben zu müssen, ihn neu überdenken und auf die alte Hiobsfrage
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steht kein Zweifel daran, dass die erste philosophische Ebene der Fragestellung die der Ethik sein muss, aber es ist ebenso offensichtlich, dass sich die Last des Genozids an den Juden in anderen Aspekten ausgewirkt hat. Von den philosophisch-literarischen Betrachtungen Adornos bis hin zu Lyotards Idee der Postmodernität oder dem Begriff der Differance bei Derrida, scheint sich der Holocaust als der große Diskurs zu positionieren, der nie geführt wurde, der aber in einem großen Teil der zeitgenössischen, philosophischen Literatur ständig präsent ist. Dort wo er thematisiert wurde, hat er in den Bereichen der ethisch- sozialen und politischen Wissenschaften eine Entwicklung erfahren und spielt immer noch, auch vom Gesichtspunkt des internationalen Rechts und des Völkerrechts aus gesehen, eine wesentliche Rolle. Die Verbreitung der philosophischen Betrachtungen über den Holocaust hat jedoch nicht nur eine offensichtliche und ausgesprochene Entwicklungsform gefunden: Begriffe wie der der „Postmodernität“, der „Dekonstruktion“ oder der „Textualität“ scheinen eine starke Prägung erfahren zu haben, im Wesentlichen von dieser nicht aussprechbaren und nicht thematisierbaren Kraft des Holocausts selbst ausgehend. Es ist jedoch nicht nur die intrinsische Leere des Holocausts, die zu einem ethischen Diskurs geführt hat, der die Fähigkeit des Verstehens und der Wortfindung besitzt: seine Auslegung und seine faktische Fülle haben bedeutende Betrachtungen ins Leben gerufen, wie die der Philosophin Hannah Arendt oder die Interpretationen von Zygmunt Baumann: Auch hier fügt sich die Spannung zwischen der Geschichte (als Gesamtheit von Ereignissen) und deren unvergänglichem Äußeren wieder zusammen, die Beziehung also zwischen der Geschichte (als Linearität) und der Bedeutung (als Vertikalität). Die radikale Kraft der Geschichte (ihre Grundsätzlichkeit) liegt gerade in dieser Fähigkeit, sich als raumzeitlicher Ort in der dritten Dimension zu konstituieren, dank der Anwesenheit eines Interpreten und also der Existenz eines Subjekts, das sich konstituiert und sich durch diese selbe Perspektive identifiziert.
eine neue Antwort suchen. Den ‚Herrn der Geschichte‘ wird er dabei wohl fahren müssen. Also: Was für ein Gott konnte es geschehen lassen?“ Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1987, S. 15. Vgl. auch Ders.: Zwischen nichts und Ewigkeit, Göttingen: Kleine Vandenhoeck Reihe 1963, S. 165.
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Die originäre Absicht meiner Arbeit ist die der Auseinandersetzung mit der Repräsentation des Holocausts, indem ich sie als grundlegendes, semantisches Feld der Zeit begreife, in der wir gerade leben. Was bedeutet jedoch, die Gegenwärtigkeit zu analysieren? In welcher Beziehung steht sie zu einer Semantik des Holocausts? Und überhaupt, wie kann ein Bezug hergestellt werden zwischen einem historischen Ereignis und seiner Fähigkeit die Verschiebungen innerhalb der heutigen Zeit zu beeinflussen? Diese Fragestellungen entspringen nicht bloß einem persönlichen und willkürlichen Bedürfnis, sich mit einem historischen Ereignis, von mehreren Blickpunkten ausgehend, zu befassen: Es ist die Natur des Holocausts selbst, die ihn zu einem allgegenwärtigen historischen Ereignis macht, dessen Radikalität die Konstruktion unserer Gegenwart beeinflusst. Diese Art von Kraft geht weit über die besprochenen ethischen Fragen hinaus, die das Problem der Gerechtigkeit betreffen, wie auch die Beziehung zwischen radikalem Bösen und Guten. Die symbolische und historische Kraft des Holocausts hat manche Autoren dazu veranlasst, in diesem Ereignis einen fast final-rationalistischen Zielpunkt der modernen Geschichte zu lesen,2 oder gar eine Konstante.3 All diese unterschiedlichen Lesarten, die in ebenso vielen wissenschaftlichen Feldern der Ethik, der Soziologie, der Philosophie als Kritik wurzeln, stellen nicht nur einfache Perspektiven dar, sondern haben – in einer Kreisbewegung – zur Konstruktion der Repräsentation des Holocausts selbst beigetragen. Sie gehen nicht von einer disziplinären Vorherrschaft der Analyse des Holocausts aus, sondern bezeugen seine totale Universalität: Der Holocaust stellt ein Ereignis dar, dass die Soziologie genau so wie die Geschichtsschreibung, die Philosophie wie die Ethik befragt. Die hier präsentierte Abhandlung wird sich weder thematisch als Verteidigung einer dieser Perspektiven konstituieren noch wird sie versuchen,
2
Vgl. Agamben: Homo Sacer. Die souveranität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a/M: Suhrkamp 2002, S. 127-89; Bauman: Dialektik der Ordnung, S. 20-25.
3
„In dieser Perspektive wird das Lager, dieser reine, absolute und unübertroffene biopolitische Raum (insofern er einzig im Ausnahmezustand gründet), als verborgenes Paradigma des politischen Raum der Moderne erscheinen, dessen Metamorphosen und Maskierungen zu erkennen wir lernen müssen“; Agamben: Homo Sacer, S. 131.
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eine einheitliche Repräsentation dieser zu liefern. In dieser Arbeit möchte ich den hermeneutischen und epistemologischen Mechanismus aufdecken, der den Holocaust zum wesentlichen Motor der jüngsten europäischen Geschichte macht. Bevor ich dieses Kapitel abschließe, werde ich mich hier auf der Basis zweier klassischer, philosophischer Aspekte bewegen: Die Idee der Subjektivität und die der Historizität.
S UBJEKTIVITÄT In den vorhergehenden Kapiteln wurde hervorgehoben, auf welche Weise die Repräsentation des Holocaust sich im Aspekt der Spektakularisierung und der Verbreitung konstituiert. Wie ich versucht habe aufzuzeigen, entspringt diese Spektakularisierung einer doppelten (historischen und medialen) Einzigartigkeit, weist aber gleichzeitig bestimmte Eigenheiten auf, die das historische Ereignis durch drei Schlüsselparadigmen stützen und konstituieren: das ästhetische, das kognitive und das hierarchische Paradigma. Diese drei Aspekte, die auf eine gewisse Weise die Anerkennung eines historischen Ereignisses als solches markieren, sind drei Aspekte begrifflicher Ordnung, die jedoch von den Spuren des Holocausts legitimiert sind: a) die Repräsentation einer ästhetischen Grenze durch das Ausstellen der Nacktheit; b) die Konstruktion eines Ortes, derart einer „historischen Topografie“; c) die Definition eines Bezugs zwischen Individuum und Ordnung. Diese sind die drei Paradigmen, innerhalb derer sich die Diskursivitäten um den Holocaust bewegen und sich in den Erfahrungen des europäischamerikanischen, westlichen Subjekts widerspiegeln. Wer ist jedoch das Subjekt, das sich im Mittelpunkt dieser Erfahrung befindet? Ist es das repräsentierte Subjekt oder das Subjekt, das von der Repräsentation profitiert? Stellt die ausgestellte Nacktheit des Gefangenen und des Verfolgten nur die Nacktheit des in einer siebzig Jahre zurückliegenden Geschichte vermissten Gefangenen dar oder ist sie vielleicht das Sinnbild, in gewisser Weise der Spiegel des Gefangenen der heutigen Zeit? In meiner Rekonstruktion ist das moderne europäische oder amerikanische Subjekt – als Konsument, Nutznießer und Hauptfigur verstanden – einerseits das tatsächlich ausgestellte Subjekt, das berufen wird, die Definition und die Konstruktion einer Geschichte zu verkörpern. Andererseits scheint sich diese Geschichte in ihren paradigmatischen Aspekten der Narrativität
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und Diskursivität als von Individuen verkörperte Geschichte zu konstituieren. Ich werde versuchen, die Repräsentationen des Subjekts zu dekonstruieren, die in der an den Holocaust gebundenen Vorstellungswelt enthalten sind: Die Eigenschaften jener Subjektivität (Armut, Magerkeit, Entbehrung, Einsamkeit) werden anhand von Vorstellungswelten, Narrativitäten und Diskursen eingehend dargelegt und konstituiert, die ihre Legitimierung und Definition nicht nur in der materiellen Ausstellung von Videomaterial, Filmen und Fotografien finden, sondern auch von Living Experiences, welche die europäischen Bürger aufgefordert werden zu beschreiten um sie zu erfahren.4 Ich werde mich im vierten Teil dieser Arbeit mit der Figur der ausgestellten Subjektivität in der Repräsentation des Holocausts auseinandersetzen. Hier konzentriere ich mich auf den Versuch einer Überholung der verschiedenen Lesarten strukturalistischen oder dekonstruktivistischen Typus zugunsten einer Idee von Subjektivität als Hauptfigur und Dreh- und Angelpunkt der Konstitution der historischen Prozesse. Wie ich versuchen werde aufzuzeigen, generieren sich Paradoxe wie die „Frage der Zeugnisse“5 genau aus dieser offensichtlichen Gegensätzlichkeit zwischen dem Bedürfnis nach einem Universalismus des historischen Wissens und dessen notwendiger und augenfälliger Wiederholung bzw. dessen Konsum, für eine Subjektivität in individualisierte und maßgeschneiderte Form gebracht. Die Subjektivität ist der jeweilige und wesentliche Dreh- und Angelpunkt hinsichtlich der Konstruktion eines Holocaustdiskurses. All das, was von der Vernichtung übrig geblieben ist, (Dokumente, Architekturen, Zeugnisse, Diskurse) erfüllt einen Sinn, weil es nicht einer Gemeinschaft, sondern Subjekten zur Verfügung gestellt wird, weil es von Subjekten genutzt und konsumiert wird: Dieser Aspekt betrifft natürlich in indirekter Form die Art, in der wir heute das gesellschaftliche Zusammenleben, oder, besser ge-
4
„Bei der heutigen Bio-Macht ist „das Überleben“ der Punkt, an dem die beiden Seiten zusammenfallen und das arcanum imperii als solches zutage tritt. Deswegen bleibt es gerade in seiner Exponiertheit unsichtbar, verbirgt sich, je mehr es dem Blick ausgesetzt ist.“ Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 136.
5
Vgl. Geoffrey Hartman: „Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoa“, in: Ulrich Bauer (Hg.): ,Niemand zeugt für den Zeugen‘. Erinnerungskultur nach der Shoa, Frankfurt a/M: Suhrkamp 2000.
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sagt, die Funktion selbst des gesellschaftlichen Zusammenlebens verstehen.6 In diesem letzten Abschnitt möchte ich einige Hypothesen aufstellen, welche die Bedeutung und die Relevanz dieses dem Holocaustdiskurs Ausgesetzt-Sein betreffen. Auf welcher historischen Vorstellungswelt aufbauend, strukturieren sich die Diskurse über das Thema der Vernichtung der Juden? Welche Vorstellungswelt verbirgt sich hinter den Hitlerporträts, dem Schriftzug „Arbeit macht frei“, der ständigen Reproduktion apokalyptischer Vorstellungswelten, an die uns die Repräsentation des Holocausts gewöhnt hat?
P HILOSOPHIE
UND
G ESCHICHTE
Die philosophischen Systeme haben sich immer die Ermittlung der tragenden Struktur, des Paradigmas als Ziel gesetzt, innerhalb der es möglich ist, den Geist einer Epoche auszumachen, oder zumindest die Eigenheiten, die in der Lage sind, Sinn, Richtung und Finalität eines historischen Moments zu erfassen. Genau betrachtet, bestand dieses Paradigma nicht nur aus einer Perspektive, innerhalb der Spannungen, Erkenntnisse oder Problematiken gelenkt werden können, sondern vor allem aus einer Art Gesamtantwort auf die Spannungen einer historischen Phase. Für den Verfasser dieses Buches stellt die Philosophie immer einen Maßstab für die heutige Zeit dar, eine Aufzeichnung des Fließens der eigenen Gegenwärtigkeit, die immer mit Spuren, Erwartungen und Diskursen zu verknüpfen ist. Der Holocaust wird nicht von der Gegenwärtigkeit determiniert und determiniert sie auch seinerseits nicht: Er schreibt sich jedoch pünktlich als Filter, Schematismus und Feld in das Werden der heutigen Zeit ein. Dieses Feld definiert sich grundsätzlich als „Optik“ im Sinne Merleau-Pontys, oder, um mit Kant zu sprechen, als „Schematismus a priori“. Diese Art der Einbeziehung philosophischer Beiträge in die Analyse des Holocausts als Diskurs wird zu einem tiefen Verständnis der wesentlichen und radikalen
6
Ebd., in der Einleitung.
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Rolle des Holocausts in der Vorstellungswelt der heutigen Zeit verhelfen, auch in Bezug auf die Modernität der Technik und der Kommunikation.7 Diese Betrachtungsweise des Holocausts in dessen möglichem Umfang kann auf verschiedene Weisen ausgearbeitet werden: Mag es auch einerseits scheinen, als würde die Distanz von dem Ereignis selbst nichts anderes als die Erweiterung und Verschärfung der verheerenden und tragischen imaginären Folgen bewirken, so verfestigt sich andererseits der Eindruck einer Trennung zwischen dem historischen Ereignis selbst und seiner Repräsentation. Diese Trennung ist sicherlich riskant, aber offensichtlich notwendig in Anbetracht des historisch Werdens der Zeit, die uns bereits über einem Zeitbogen von drei Generationen von diesen Ereignissen trennt und daher im Einklang mit dem, was Jan Assmann als die Durchgangszeit vom kommunikativen zum kollektiven Gedächtnis bezeichnet hat, steht. Blumenbergs Optik ist in diesem Sinne sehr produktiv: Einerseits versucht er den historischen Diskurs als Matrix oder Schematismus, gerade von Kants Philosophie ausgehend, zu gründen, mit dem fast erklärten Versuch, die unterirdische und radikale Verbindung einer Theorie der Geschichte mit einer „Theorie der Welt“ zu erkennen. Auf einer anderen Ebene aber ist es gerade Blumenbergs Idee der „Metaphorologie“, des Reichtums der historischen Wissenschaft, die für meine Arbeit relevant ist: Der Mensch ist im Wesentlichen nie Herr der Geschichte, sondern die Geschichte selbst ist es, die durch ihr metaphorisches sich Konstruieren den Kulturen erlaubt, zu strukturieren, zu erkennen und zu interpretieren. Dies gesagt, ist es klar, dass man beweisen oder zumindest überprüfen müsste, inwieweit dem Holocaust innerhalb unserer europäischen und westlichen Gesellschaft diese Art von Rolle zugeteilt worden ist. Was irgendwie bewiesen werden muss, ist, wie die Metaphern des Holocausts funktionieren: Wenn man Blumenberg folgt, geht es unter anderem darum, die Dichotomie von Realität und Vorstellung zu überholen (die im Fall dieser Untersuchung vergleichbar wäre mit der von der Geschichte und deren Repräsentation), um unterirdisch (durch die transversalen Spalten) zu graben und somit das zu erfassen, was den viszeralsten Körper des historischen Ereignisses ausmacht. Es geht darum zu verstehen, wie dieser Versuch, Ge-
7
Ich beziehe mich hier an das Forschungsprogramm von Ulrich Beck und Wolfgang Bonß: Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a/M: Suhrkamp 2001, S. 11-59.
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schichte zu erzählen, das heißt die Ereignisse, die den Holocaust betreffen, zur Erschaffung eines wahrhaftigen Holocaustdiskurses geführt hat: die Einzigartigkeit des Holocausts entsteht in Erzählungen, politischen Debatten, gemeinschaftlichen Repräsentationen, Memoiren, Museen, nationalen Feiertagen und Hollywoodproduktionen, die Millionen von Menschen in Diskussionen und kollektive Erfahrungen einbeziehen. Solche Träger sind nicht nur ein Mittel oder ein Instrument, sondern sie stellen die Art und Weise dar, wie eine kollektive Erfahrung der Geschichte entsteht. In dieser Art von Untersuchung ist der Gedanke, dass der Holocaust genau mit dieser Produktion von Objekten für die Massen übereinstimmt, von zentraler Bedeutung! Doch welche Eigenschaften besitzen diese Objekte? Wie strukturieren sie sich? In dieser Arbeit werde ich versuchen, diese Massenproduktion auf bestimmte strukturelle und hermeneutische Eigenschaften unserer Zeit zurückzuführen. Hier geht es nicht lediglich darum, zu sagen, dass das Fernsehen den Holocaust in unsere Häuser gebracht hat, sondern vielmehr darum, uns zu fragen, durch welche Paradigmen das Fernsehen unsere Art, uns als historische Individuen zu verstehen, strukturiert hat. Welche Idee des Subjekts spiegelt der Holocaust wider? Welche Art von Bild der Gesellschaftlichkeit bietet der Holocaust in seinen vielen Formen? Welche Beziehung hat der Holocaust mit dem Religiösen? Der Holocaust hat sich also weit über eine Positionierung als „Ereignis“ oder als „Gesamtheit von Ereignissen“ oder als bloße „Repräsentation“ und „Spektakularisierung“ hinaus auf eine bestimmte Art und Weise in jener Kategorie charakterisiert, die von Hans Blumenberg als „absolute Metapher“8 bezeichnet wird: Sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen er-
8
„Dass diese Metaphern absolut genannt werden, bedeutet nur, dass sie sich gegenüber dem terminologischen Anspruch als resistent erweisen, nicht in Begrifflichkeit aufgelöst werden können, nicht aber, dass nicht eine Metapher durch eine andere ersetzt bzw. Vertreten oder durch eine genauere korrigiert werden kann. Auch absolute Metaphern haben daher Geschichte. Sie haben Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begriffe, denn der historischer Wandel einer Metapher bringt die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein, innerhalb deren Begriffe ihre Modifikationen erfahren.“ Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1998, S. 13.
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fordert nämlich eine Art „metaphorologische Paradigmatik“.9 Die Kraft, das Gewicht und die Zentralität des Holocausts liegen in diesem klassischen und nie gelösten Kreislauf aus Faktualitäten, Diskursen und Bedeutungen, die durch ihre archetypische und paradigmatische Spannung den wesentlichen Kern der Rolle und der Eigenschaften der „Wahrheit“ und also des Systems des Wissens in der Neuzeit charakterisieren.10 Hinter dieser Bedeutungsleere verbirgt sich ein hermeneutischer Kern, der darüber hinaus letztendlich eine der Hauptlinien des neuzeitlichen Weltverhaltens darstellt – oder besser gesagt, die Metapher der nackten Wahrheit.11 Der Holocaust stellt sich als Ausstellung und Repräsentation jener Nacktheit dar, die im Sinne Blumembergs auf radikale Weise die Essenz unserer Modernität aufzeigt, und zwar das Bedürfnis und die Notwendigkeit einer unvollendeten Welt, die man in der gesamten philosophischen Rhetorik wiederfindet, von den Neuplatonikern bis Kant.12 In dieser Arbeit wird die Tatsache nicht außer Acht gelassen, dass sich hinter dem problematischen und disziplinären Aspekt der Beziehung zwischen Repräsentativität und Spektakularisierung des Holocausts ein in der Geschichte der Modernität innerer Kern verbirgt: In diesem Sinne werden hier keine pseudo-negationistischen oder revisionistischen Thesen verfolgt, ich werde mich eher mit der intimsten Struktur des historischen Ereignisses auseinandersetzen. Die Kraft und die Tragweite des Holocausts entspringt
9
„Die Aufgabe einer metaphorologischen Paradigmatik ist freilich nur die einer Vorarbeit zu jener noch obliegenden ‚tieferen Untersuchung‘. Sie sucht Felder abzugrenzen, innerhalb deren man absolute Metaphern vermuten kann, und Kriterien für deren Feststellung zu erproben.“ Ebd., S. 12.
10 „Die Neuzeit gibt, unter dem normativen Begriff der ‚Objektivität‘, prinzipiell jeden Vorbehalt in Bezug auf die Wahrheit auf: sofern sie einmal dem Gegenstande abgewonnen, abgenötigt ist, wird sie zum öffentlichen Eigentum der Menschheit, zur prinzipiell jedermann zugänglichen Sachen; erkennen und veröffentlichen ist für den professionell fungierenden Forscher der Neuzeit so gut wie dasselbe, und das barbarisch Nackte bleibt Stilmerkmal solcher ,Veröffentlichung‘.“ Ebd., S. 70. 11 Ebd., S. 71-72. 12 „Die ‚unvollendete Welt‘ legitimiert den demiurgischen Willen des Menschen und gehört in die Geschichte der Bewusstseinselemente, die das technische Zeitalter fundieren.“ Ebd., S. 85.
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der Relevanz und Intensität der Vernichtung der Juden, sie charakterisiert sich jedoch allmählich dank eines Repräsentationsprozesses in spektakularisierten Formen, die viel mit der Modernität zu tun haben: Nicht nur die Fülle der Techniken, durch die er repräsentiert wird, charakterisiert den Holocaust, sondern auch deren Organisation und vor allem deren Konsum. Die Memoiren, die ehemaligen Konzentrationslager und nationale Mahnmale, an denen das Gedenken an den Holocaust auf vollkommen kommodifizierte Weise angeboten wird, sind in diesem Sinne emblematisch, weil sie eine umfangreiche und multimediale Struktur bieten, innerhalb der Geschichte (oder eher deren Repräsentation?) strukturiert, gelebt, verarbeitet und wiederholt wird. In diesem Sinne wird hier der Versuch unternommen, der streng hermeneutisch-philosophischen Betrachtung eine solche pragmatisch-analytische Ordnung hinzuzufügen, die sich tiefgehend mit der Frage beschäftigen wird, ob die alte transzendentale Dialektik in der heutigen Welt nicht irgendeine Kristallisierungsform, eine Definition gefunden habe. Die heutige Multimedialität ist wie die Stütze von Kants großem Traum einer Unendlichkeit der Welt, der Seele, der Objekte und also der Unendlichkeit der menschlichen Erfahrung selbst. Der Holocaust ist eine dieser Strukturen, die eine Verwirklichung dieser vierten Dimension erlauben, die vom Sinn für das Unendliche und das Religiöse gegeben ist, der letztendlich das durch und durch menschliche Bedürfnis eines „Sinnes des immer noch Kommenden“ darstellt: Ich werde versuchen die Repräsentation des Holocausts von unten her neu zu lesen, im Versuch die Radikalität und Eigenheit seiner evokativen Kraft zu begreifen. Hinter diesem historischen Phänomen bzw. Massenphänomen verbirgt sich wieder einmal diese Idee einer geheimen Vorstellungswelt, die in jeder historischen und menschlichen Einschreibung enthalten ist. Mit dieser Forschungsarbeit wird versucht, diese imaginäre und repräsentative Vorstellungswelt des Holocausts einzukreisen und dessen typologische Evolution zu verfolgen. Was bereits jetzt festzustehen scheint, ist, dass dieses historische Ereignis (diese Repräsentation) nicht einseitig ausgerichtet ist: Wenn es so ist, dass sich die Bedeutung und die Intensität der Repräsentationen des Holocausts zu Recht auf das historische Ereignis an sich stützen, ist ebenso davon auszugehen, dass das historische Ereignis an sich heute im Wesentlichen in den organisierten Formen seiner Repräsentation existiert. Diese Verschiebung von Wirklichkeit und Repräsentation
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übersteigt die Kreisförmigkeit der jüngsten Hermeneutik – die in der Sprache selbst jene Wirklichkeit konstituierenden Kräfte erkennt – kristallisiert sich aber in Formen und Paradigmen, die nicht nur das Ereignis als solches festlegen, sondern auch dessen Intensität und Bedeutungsverweise. Die Untersuchung historischer Phänomene führt heute zu einer Anerkennung deren unterschiedlicher Spezifitäten und konstitutiver Formen. Eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust wäre zumindest beschränkt, nicht nur ohne die Frage, inwieweit er sich innerhalb repräsentativer Formen manifestiert habe; vielmehr auch, auf welche Art und Weise die Struktur und die Qualität dieser Formen das historische Phänomen selbst beeinflusst hätten. Der Holocaust hat im Laufe der Zeit Trauma, Leiden, Genozid bedeutet: Was heute davon übrig bleibt, ist aber Spektakel, Marketing, Gedenkstätten, Öffentlichkeit. Die Intensität und die Dimensionen des historischen Ereignisses haben zur Schaffung und Definition eines ganzen Diskursfeldes von Vorstellungswelten und repräsentativen Dimensionen geführt, in denen der heutige Mensch sich wiederfindet und seine Position in der Welt behauptet. Die Kreisförmigkeit der Beziehung zwischen Historizität und Repräsentierbarkeit des Ereignisses selbst hat aus ihm wiederum eine enorme, treibende Kraft an Metaphern, Symbolismen, ästhetischen und moralischen Paradigmen gemacht und dadurch eine neue kulturelle Entität geschaffen, die sich zwischen die zwei klassischen Elemente der Historizität und der Repräsentierbarkeit einfügt. Die Behauptung der Existenz eines semantischen Felds, das hinter einem beliebigen historischen Ereignis verborgen liegt, kann hier vielleicht dünn erscheinen: Der wirklich relevante und problematische Aspekt ist die Frage nach der Legitimität dieses Feldes und um die Art der symbolischen Vorstellungswelt, die es erschafft. Ich werde allmählich versuchen, die zentralen politisch-, evokativ- und sozialen Kerne des semantischen Feldes Holocaust in zwei europäischen Ländern zu ermitteln, mit dem Ziel, dessen grundlegende, politisch-metaphorische Aspekte zu begreifen.
Der Holocaust als politischer Diskurs
Der Holocaustdiskurs in Deutschland und in Italien
D EUTSCHLAND , I TALIEN
UND
E UROPA
Im ersten Kapitel dieses Buches habe ich versucht darzulegen, auf welche Weise der Konstruktionsprozess des Holocaustdiskurses heute international reproduziert und wahrgenommen wird. Wie wir gesehen haben, setzt ein Versuch der Dekonstruktion dieses Komplexes eine mehrschichtige Analyse auf sozialer, politischer und philosophischer Ebene voraus. Die im ersten Kapitel betonte Aufmerksamkeit für die „epochale Radikalität“ des Holocausts stellt eine in verschiedenen Bereichen verbreitete These dar – von den sozialen Wissenschaften bis hin zur Philosophie – die jedoch im Grunde genommen erst bewiesen werden muss: Zu hinterfragen wäre die tatsächliche, symbolische und kollektive Verbreitung dieser These.1 Die Tat-
1
Gertrud Koch bezieht diese grundsätzliche Bedeutung des Holocaust auf dessen epistemologisch-hermeneutischen Kern: „auf einer epistemologischen Ebene: Fakten werden durch Wahrnehmung vermittelt. Auch wenn wir an deren Existenz glauben, ist unser Wissen über sie nie sicher. Aber, der Holocaust ist nicht der Holocaust einer Epistemologie, sondern der des Mordes von sechs Millionen Juden in Europa, und dargestellt ist er eine Tatsache, von der wir überzeugt sind, dass sie wahr und keine Metapher ist. Auf einer hermeneutischen Ebene: Welches Wissen auch immer wir haben in Bezug auf Tatsachen, von denen wir glauben, sie seien wahr, es bleibt ¸tot‘, solange wir keinen Gebrauch davon machen, um diese Fakten zu interpretieren, mitzuteilen und zu vermitteln.“ Gertrud
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sache, dass über den Holocaust ausführlich diskutiert wird oder dass er als Gegenstand nicht nur in Museen oder Studienzentren, sondern auch an Hochschulen behandelt wird, liefert uns noch kein klares Bild über die Natur seiner Verbreitungskraft und seiner Fähigkeit, lokale bzw. internationale politische Entscheidungen zu beeinflussen. Die im ersten Kapitel ausgearbeitete Idee eines im Holocaustdiskurs enthaltenen Übermaß an Bedeutung, das letzten Endes durch die evokative Kraft der Bilder, der Narrativitäten und der Zeugnisse gegeben ist, kann nicht zur Genüge erklären, auf welche Weise heute seine Spur ständig an Orten und in Praxen reproduziert wird, die für seine Repräsentation funktional sind. In diesem zweiten Kapitel werde ich versuchen, die Entwicklung der Repräsentation des Holocausts innerhalb von zwei europäischen Staaten – Deutschland und Italien – historisch nachzuvollziehen. Einerseits werde ich die Hauptmomente der Verarbeitung der Erinnerung an den Holocaust in beiden Ländern hervorheben, in Form von historischen Ereignissen, öffentlichen Auseinandersetzungen, politischen Debatten; andererseits werde ich analysieren, auf welche Weise sich diese zwei öffentlichen Diskurse innerhalb zweier nationaler Mahnmale, die sich in Rom bzw. in Berlin befinden, materiell fixiert und konstituiert haben: Obwohl zwei unterschiedlichen nationalen Geschichten entwachsen, tragen jedoch diese zwei Mahnmale gleichzeitig zu einer Einschreibung des Gedenkens auf europäischer Ebene bei. Nach Momenten kultureller und sozialer Konfrontation auf nationaler Ebene hat sich der Holocaustdiskurs im Laufe der Jahrzehnte in und durch Gedenkstätten kristallisiert, die in einem gewissen Sinne einen Kanon der Interpretation und der Lesart dieser europäischen und internationalen Erfahrung darstellen. Anhand einer pragmatisch-soziologischen Terminologie möchte ich nun zwei Konstruktionsprozesse des Holocaustdiskurses aufzeigen: a) Dynamisch-historischer Prozess: Der heutige Holocaustdiskurs ist das Ergebnis jahrzehntelanger internationaler Forschungen, Debatten und Konfrontationen, die auf unterschiedliche Art die Ebenen des Sozialen, des Politischen und der verschiedenen Generationen in den einzelnen europäischen Staaten und später in Israel und in den Vereinigten Staaten einbezogen haben. Die auf zwei Länder wie Deutschland und Italien beschränkte
Koch (Hg.): Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung, Köln/Weimar/ Wien: Böhlau 1999, S. 297.
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Analyse der Evolution dieser Prozesse ermöglicht, spezifische Praxen und Formen auszumachen, innerhalb derer der Holocaustdiskurs sich definiert hat. Der deutsche Fall zeichnet sich durch seine politisch-symbolische Einzigartigkeit der Diskursivität um das Gedenken an den Holocaust aus: Obwohl es sich nicht um eine Thematik „der ersten Stunde“2 handelt, ist dieser immer in Form einer historischen und topographischen Spur präsent, vom Beginn der Bonner Republik bis hin zum exemplarischen Ereignis der Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin. In Italien dagegen treten schwächere und weniger an eine politische Radikalität gebundene Aspekte sozialer und religiöser Natur hervor als in Deutschland. b) Topografisch-struktureller Prozess: Der Holocaust ist heute als „soziales Objekt“ erkennbar in vielen Gedenkstätten, die durch Dokumente, Führungen und architektonische Strukturen den Kanon bestimmt haben, durch den die historische Erfahrung des Holocaust gelesen und wahrgenommen wird: Diese Art Topografie überschreitet die Grenzen des nationalen Gedächtnisses und konstituiert sich innerhalb eines internationalen Netzwerks, das die europäischen Staaten, Israel und Nordamerika einbezieht. Den schriftlichen und symbolischen Aspekt dieser Orte werde ich im dritten und vierten Kapitel dieses Buches behandeln: Es ist jedoch notwendig, zunächst den sozialen und symbolischen Wert dieser Orte zu begreifen, die strukturiert und organisiert sind, um Subjekten aus unterschiedlichen Kontexten auf erfahrungsbezogene und tief greifende Weise Zugang zu einer gemeinsamen historischen Narration zu verschaffen. Diesen zwei Prozessen entsprechen auch zweierlei Typologien von Diskursivität: Die eine ist kommunikativer Art, und resultiert dementsprechend aus der Produktion historischer, intergenerationeller Diskursivitäten; die andere ist erfahrungsbezogen und kollektiver Art, hervorgebracht durch den Aufbau, den Konsum und die Wiederholung von Diskursen innerhalb sozialer Topografien. In diesem Sinne hat das Konzept der Erinnerungskultur, von Maurice Halbwachs eingeführt und später durch Jan Assmann kanonisiert, in den letzten Jahrzehnten zu einem Wendepunkt in der Betrachtung
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Die jüngste Studie von Bernard Dörner hat letztlich durch Hunderte von Dokumenten und Zeugnissen geklärt, inwieweit Folgendes zutrifft: „Doch nach Auswertung der zeitgenössischen Quellen steht zweifelsfrei fest, dass der Judenmord in Deutschland während der NS-Zeit kein Geheimnis war.“ Bernward Dörner: Die Deutschen und der Holocaust, Berlin: Ullstein 2007, S. 605 ff.
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dieser Dynamik geführt, indem es zur Erarbeitung von Konzepten für die strukturelle Analyse der Überlieferungsprozesse geliefert hat. Wie wir später sehen werden, stellt der Holocaustdiskurs einen der vielen Diskurse dar, die innerhalb der verschiedenen nationalen Debatten präsent sind: Er überschneidet sich mit anderen epochalen, politischen und kollektiven Gedächtnissen, durch die er ebenfalls charakterisiert und bedingt wird. Dennoch entwickelt das Gedenken an den Holocaust eine gewisse radikale kommunikative Kraft: seine traumatische Dimension. In den nächsten Kapiteln will ich der Rolle des Traumas in der kollektiven Wahrnehmung der Geschichte philosophisch auf den Grund gehen. Der Holocaustdiskurs ist zutiefst von der Last eines kollektiven Traumas geprägt, das konsumiert und gelebt wird, dabei aber zu jenem Zusammenhalt und jener Anerkennung beiträgt, welche für die Definition eines sozialen Körpers wesentlich sind. Zur gleichen Zeit bedarf der Holocaustdiskurs einer angemessenen methodologischen und formalen Struktur, um eingegrenzt und rekonstruiert werden zu können. Diese Isolierung des Holocaustdiskurses bildet die Basis meiner Arbeit: Jedoch sollen vor der Ermittlung dessen wichtigster Phasen in Deutschland und Italien die Begriffe des Gedenkens und der Gedenkkultur, auf die ich mich hier beziehe, klar definiert werden.
E RINNERUNGSKULTUR IN NATIONALER UND EUROPÄISCHER P ERSPEKTIVE Um den Begriff der Erinnerungskultur zu klären, müsste man zunächst auf die klassische anthropologisch-soziologische Literatur zurückgreifen. Den Hintergrund dieser Perspektive bildet die Frage nach dem dynamischen Verhältnis zwischen subjektivem und sozialem Gedächtnis:3 Obwohl jede Form des Erinnerns nur durch Individuen getragen werden kann, bewegt sich jeder Erinnerungsprozess zugleich in einem Spannungsfeld zwischen
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Spricht man – nach A. Assmann – vom „Funktionsgedächtnis“ oder „Speichergedächtnis“, so stellt man sich das Gedächtnis als einen sozialen und dynamischen Prozess vor; Aleida Assmann, „Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis. Zwei Modi der Erinnerung“, in: Kristin Platt/Dabag Mihran (Hg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerung und kollektive Identitäten, Opladen: Leske + Budrich 1995, S. 177-78.
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subjektiver Erfahrung, wissenschaftlich objektivierter Geschichte und kultureller Kommemoration. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs hat eine solche soziale Bedingtheit des Erinnerns postuliert: Der Einzelne erweist sich in der Regel „eingebunden in unterschiedliche Gedächtnishorizonte“, die durch Familie, Generation, Gesellschaft und weitere Aspekte verschiedener Kulturen bestimmt werden.4 Dieser Aspekt ist von mehreren philosophischen Schulen aufgenommen und weiterentwickelt worden.5 In diesem Zusammenhang ist es jedoch notwendig, auf zwei weitere Begriffe der neueren Erinnerungsdebatte zu verweisen: das „kommunikative Gedächtnis“ und das „kulturelle Gedächtnis“.6 Der erste Begriff bezieht sich auf die tatsächliche und tradierte historische Erfahrung, die von maximal drei Generationen nachempfunden werden kann. Im Gegensatz zu diesem Gedächtnis, das die Stabilisierung einer sozialen Ordnung durch radikale inhaltliche Engführung, hohe symbolische Intensität und starke psychische Affektivität erreicht, stützt sich das „kulturelle Gedächtnis“ auf externe Medien und Institutionen wie Artefakte, Texte, Bilder, Architekturen. Dieser zweite Begriff stellt bei einer näheren Betrachtung eine zunehmend spannungsreiche Entwicklung dar: Heutzutage scheint die Vorstellung des Holocaust immer mehr ein kollektiver und immer weniger ein kommunikativer Prozess zu sein. Die Konstruktion dieser besonderen Vergangenheit
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Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1985, S. 203-96.
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Man könnte beispielsweise an die Interpretation sozialer Handlungen als Text denken: Der Text als Modell für das Verständnis kultureller Bedeutung, die in Handlungen zum Ausdruck kommt, war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu den postmodernen Theorien des Erkennens. Vgl. Clifford J. Geertz: The Interpretation of Culture, New York: Basic Books 1977, S. 3-28; Paul Ricoeur: Vom Text zur Person: Hermeneutische Aufsätze (1970-1999), Leipzig: Meiner 2007. Durch jene Metapher lassen sich viele Dualismen wie Archiv/Subjekt, Kollektives Gedächtnis/Individuelles Gedächtnis, Vergangenheit/Gegenwart, Geschichte/Erzählung verstehen.
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Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 50-52.
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erscheint folglich immer mehr als Element der heutigen „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“.7 Hinter dem wichtigen Thema „kommunikatives Gedächtnis“, das im Anschluss an Halbwachs in verschiedenen anderen Forschungen wie etwa die von P. Nora (in Bezug auf die französische Geschichte) oder von E. François und H. Schulze (in Bezug auf den deutschen Raum) weiterentwickelt wurde, verbirgt sich nun das Problem des „kulturellen Gedächtnisses“ als „Konstruktion des Erinnerns als Tatsache“: Wenn wir an den Holocaust im Besonderen denken, müssen wir darüber hinaus zwischen den Ritualen und der Denkmalikonographie unterscheiden, zwischen den individuellen Erfahrungen und den tatsächlichen Erinnerungsstrukturen.8
Die kollektiven Gedächtnisse leben weiter durch Zeichen, Träger und Einschreibungen, die auf spezifische Weise räumlich angeordnet und materiell festgesetzt werden. Diese ontologisch-analytisch ausgerichtete Theorie, die das kollektive Gedächtnis als „ein soziales Objekt“ verstehen will, bezieht sich auf die Philosophien von John Searle, Maurizio Ferraris, Ian Hacking u.A.9 Solche Philosophien fragen nach der Konstruktion und der darauffol-
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Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit; John R. Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Hamburg: Rowohlt 1997.
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James E. Young: Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München: Prestel 1994, hier S. 22. „Da ich 1951, sechs Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges, geboren wurde, besitze ich persönlich keine Erinnerung an den Holocaust. Alles was ich über den Holocaust weiß, ist das, was mir die Opfer in ihren Tagebüchern, die Überlebenden in ihren Erinnerungen überliefert haben. Ich erinnere mich nicht an konkrete Geschehnisse, sondern an die zahllosen Erzählungen, Romane und Gedichte über den Holocaust, die ich über die Jahre hinweg gelesen, an die Theaterstücke, Filme und Videodokumentationen, die ich gesehen habe.“ Ebd., S. 19.
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Damit beziehe ich mich nicht auf die „heideggersche Ontologie“, sondern auf die analytische Ontologie: „Und dennoch – nehmen wir einmal an, wir wollten in ganz allgemeiner Form über alle Arten von Gegenständen reden und darüber, wo durch ihr Eintritt ins Sein möglich wird. Da ist es schon praktisch, sie alle
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genden selbstständigen Existenz einer sozialen und objektiven (nämlich kulturellen) Welt. Die selbständige Existenz des Gedächtnisses als „objektive Welt“ zu behaupten, erscheint sowohl in geschichtswissenschaftlicher10 als auch in philosophischer Perspektive zunächst als eine Anthropomorphia inversa.11 Dieser Ansatz setzt jedoch nicht den Ausschluss individueller oder kollektiver Subjektivitäten und „kommunikativer Erfahrungen“ voraus. Diese sollen vielmehr von der Materialität des „kollektiven Gedächtnisses“ aus erschlossen werden. Wie Searle im Jahr 1995 beschreibt, gründet sich eine starke, realistische, ontologische Perspektive nicht nur auf der generellen Betrachtung, dass „ein großer Teil unserer Weltsicht auf unserem Begriff der Objektivität und dem Kontrast zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven beruht“:12 Eine ontologische Perspektive könne z.B. erklären, wie ein bestimmtes kollektives Gedächtnis als „eine gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit“ organisiert wird. Wenn man sich dem Holocaust und dessen Darstellung mit einer solchen Perspektivierung des kollektiven Gedächtnisses nähert, bemerkt man sofort, dass ein derartiges Gedächtnis sich – außer
unter der Rubrik ‚Was es gibt‘ – oder ‚Ontologie‘ – zusammenzufassen.“ Ian Hacking: Historische Ontologie, Zürich: Chronos 2006, S. 9. 10 „Historiker haben es ständig mit der ‚doppelten Konstituierung‘ von Realität zu tun. Zum einen wird diese durch die subjektive Perzeption der Lebensbedingungen geschaffen und dieser Wahrnehmung pflegen Menschen in aller Regel mit ihrem Handeln zu folgen. Zum anderen gibt es eine objektivierbare Wirklichkeit, die sich in Konjunkturzyklen, demographischen Bewegungen, Sozialstrukturen und so weiter erfassen lässt.“ Hans-Ulrich Wehler: Literarische Erzählung oder kritische Analyse?, Wien: Picus 2007, S. 49-51. 11 Dieser Begriff ist von Heinz von Foerster: „Wahrnehmen wahrnehmen“ in: Karlheinz Barck/Peter Gente (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästethik, Leipzig: Reclam 1990, S. 434-44, eingeführt worden. Die Bedeutung dieses Begriffs besteht in der Idee einer Umkehrung des Prozesses des Kennens und bezieht sich auf eines der klassischsten philosophischen Probleme: das Verhältnis zwischen der Subjektivität (eine individuelle wie auch soziale Subjektivität) und der Objektivität (die Welt und die Sachverhalte). 12 Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 17.
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den immer wichtigen (aber nicht ewig lebenden) Zeugen13 – durch verschiedene Objekte und in verschiedenen Räumen gebildet und gespeichert hat. Hinter diesem bestimmten, europäischen, kollektiven Gedächtnis wie dem des Holocaust gibt es immer eine Reihe von Objekten wie etwa Dokumente, Fotos, Gesetze, Filme, aber auch Architekturen und Kunstwerke, anhand derer nationale „Kollektivvorstellungen“, „symbolische Sinnwelten“ und insbesondere „Erinnerungsorte“ gestaltet werden. Als Folgerung der vorangehenden Überlegungen kann nun festgelegt werden, dass das Gedächtnis des Holocaust auf zwei verschiedenen Ebenen betrachtet werden muss. Auf der einen Seite hat sich dieses Gedächtnis in den letzten 70 Jahren (fast drei Generationen lang!) als kommunikatives Gedächtnis in den verschiedenen nationalen Räumen entwickelt. Andererseits konstituiert es sich in Form einer bestimmten Darstellung, als europäisch-internationales, kollektives Gedächtnis, das in den verschiedenen, den NS-Verbrechen gewidmeten Erinnerungsorten, sichtbar und erfahrbar ist. Sieht man das Problem aus dieser Perspektive, so wird deutlich, dass die im ersten Kapitel vorgeschlagene diskursanalytische Theorie ermöglicht, diese beiden Betrachtungsweisen zu integrieren. Die Entwicklung und Tradierung historischer Ereignisse ist (untrennbar) mit ihrer Repräsentation verknüpft,14 was wohl bedeutet, dass die Geschichte nur in vermittelter
13 „Wo besteht ein Wort, fragt Celan, wo flammt ein Wort, welches diese zweifache Belastung seitens der Zeugen und seitens der Zuhörer zugleich bezeugen und mindern könnte? Das Wort, das diese Doppelung der Überforderung des Zeugen durch die Aufgabe des Publikums ausdrücken könnte, wäre ein flammendes Wort: ein Wort, das auflodert, bevor es der Vernichtung durch Feuer anheim fällt. Was zu lesen bleibt sind Spuren, Asche, Abdrücke, sprich die Umrisse dessen, was aus der deutschen Sprache und Kultur für immer verloren ist und nun als unwiederbringliche Abwesenheit dieser Sprache und Kultur von innen ihre Form, und möglicherweise ihre Bestimmung für die Zukunft, gibt.“ Baer: Niemand zeugt für den Zeugen, S. 26. Diese Betrachtung des Problems finde ich relevant, hinzu kommt die folgende Frage, in welcher Form „diese Spuren, Asche, Abdrucke“ untereinander organisiert worden sind. 14 Vgl. Jörn Rüsen: Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft, Stuttgart: J.B. Metzler 1976; Hans M. Baumgartner: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt
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Form, als repräsentierte Realität, zu begreifen ist. Nichtsdestotrotz ist in den letzten Jahrzehnten diese Theorie, die von Foucault nicht methodisch präzisiert wurde, in der Literaturwissenschaft, in der Soziologie und immer häufiger auch in der Geschichtswissenschaft angewendet, diskutiert und weiterentwickelt worden:15 Sie stellt insbesondere Fragen nach den historischen und institutionellen, kommunikativen Phasen, in denen Aussagen um einen bestimmten Diskurs auftauchen, sowie nach der Organisation der Aussagen selbst, das heißt nach den Prinzipien ihrer kollektiven Darstellung. Mit dieser doppelten Perspektive können die beiden oben skizzierten „kommunikativen“ und „kollektiven“ Aspekte des Holocaustdiskurses erfasst werden. Darüber hinaus kann die Diskursanalyse gerade im Rahmen der hier projektierten Fallstudie fruchtbar und erfolgreich angewandt werden. In diesem Kapitel werde ich mich zunächst der Konstruktion von zwei großen nationalen, kom-munikativen Gedenkformen an den Holocaust zuwenden – dem Italienischen und dem Deutschen –, um mich danach mit der Analyse der Produktion eines europäischen, kollektiven Gedenkens zu befassen, das dem Holocaust gewidmet und in den verschiedenen Gedenkstätten, die über ganz Europa verstreut sind, konsumiert sowie geteilt wird. Der Übergang von in sich unterschiedlichen nationalen Gedenken zu einem transnationalen Gedenken, das sich im Laufe der letzten 70 Jahre europäischer Geschichte vollzogen hat, ist an eine politische Notwendigkeit gebunden, Repräsentationslogiken zu überwinden, die mit dem Nationalkörper verbunden und zugleich eng mit nationalen Prozessen verwoben sind. In Italien und in Deutschland ist dies eindeutig das Ergebnis von zwei voneinander abweichenden, oft gegensätzlicher Richtungen, die seit Anbeginn durch zwei verschiedene historische Spuren festgelegt wurden: Dennoch ist die Bewegung beiden Nationen gemein und dies führt zu einer Internationalisierung der historischen Repräsentation. Dort, wo nationale Siegesdenkmäler als Zeichen der Gründung einer Nation standen, stehen heute Holocaust-Denkmäler, als Zeichen einer Krise der nationalen Anerkennung. Dort, wo bis vor siebzig Jahren nationale Mo-
a/M: Suhrkamp 1997, S. 167-343; Reinhart Koselleck: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 9-102. 15 Vgl. Foucault: Archäologie des Wissens; Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse; Landwehr: Historische Diskursanalyse.
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numente standen, stehen heute Museen, die auf extranationale Erfahrungen und Bedeutungen verweisen. Im Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin so wie in dem Museum der Shoa in Rom kristallisiert sich diese paradoxe Form eines aus einer nationalen Debatte resultierenden Denkmals, das sich jedoch nicht nur auf Ereignisse bezieht, die sich anderorts zugetragen haben, sondern vor allem auf Bedeutungen, die nicht ausdrücklich national sind. Die symbolische Funktionalität dieser Denkmäler, die sich aus der Anwendung einer spezifischen architektonischen und symbolischen Sprache ergibt,16 führt in die Weite und zu einer Zersetzung der alles umfassenden und unmissverständlichen Bedeutungen einer nationalen Repräsentation.
M EMORALISIERUNG UND D ISKURSIVITÄT DES H OLOCAUSTDISKURSES Beide den Opfern des Holocausts gewidmeten nationalen Denkmäler sind artikulierte, symbolische Ausdrücke, die sich aus der Entwicklung von Generationen von Debatten und der Konstruktion eines nationalen, kommunikativen Gedenkens ergeben: Sie beziehen sich jedoch auf einen extranationalen und post-identitären Anhaltspunkt.17 Dies ist nicht nur das Ergebnis einer globalen Tendenz zur Zersetzung der nationalen Repräsentationen in der heutigen Welt,18 sondern auch Folge der Entwicklung eines „Paradoxes
16 Aus einer gewissen Naturalistischen Tradition in Rom, aus dem Dekonstruktivismus in Berlin; siehe 3. Teil dieses Buches. 17 Vgl. Richard McMahon (Hg.): Post-identity? Culture and European Integration, Abingdon: Routledge 2013. 18 „Der Nationalstaat ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr in der Lage, der Gesellschaft seine einheitliche und vereinheitlichenden Vorstellungen aufzuerlegen. Der hegemoniale Staat wird durch eine zunehmend globalisierte Gesellschaft ersetz, in welcher Erinnerungen verschiedener Gruppen das zeitliche Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verändern. [...] Die Entmystifizierung der Nation ist mittlerweile ein integraler Bestandteil des politischen und kulturellen Diskurses.“ Levy und Sznaider: Erinnerung im Globalen Zeitalter, S. 46-47.
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der Repräsentation“,19 das sich nach Jahrzehnten der Konfrontation mit der Vorstellungswelt des Holocausts verwirklicht und manifestiert hat. Die einzig mögliche Memoralisierung hat einen postidentitären Bezug, auch wenn sie das Ergebnis eines starken Willens nationaler und kollektiver Natur ist. Die zwei Denkmalprojekte und deren Konzeptualisierung als jene topografische Handlung, die sie charakterisiert, sind aus dem Paradox entstanden, die Denkmalsetzung als etwas zu denken, bei dem ein starkes Identitätskonzept von einem post-identitären Bezug überholt wird. Die Untersuchung der technischen Realisierung des Beschriebenen innerhalb der zwei Denkmäler wird Gegenstand der nächsten Kapitel sein. In diesem zweiten Teil des Buches wird dagegen, der Versuch unternommen die Natur des Konstruktionsprozesses des historischen kommunikativen Gedenkens an den Holocaust zu analysieren, der zur Entscheidung führt, Denkmäler zu errichten. Die Rekonstruktion dieser zwei Prozesse verlangt eine Konfrontation mit mindestens vier unterschiedlichen Aspekten, welche innerhalb der zwei Länder die Morphologie der Memoralisierung des Holocausts strukturieren: a) Der Erste ist historischer Ordnung: Er betrifft den spezifischen Unterschied zwischen einer italienischen und einer deutschen „nationalen jüdischen Geschichte“, und deshalb auch den Unterschied zwischen der ökonomischen, sozialen und politischen Rolle, die der deutschen und italienischen jüdischen Gemeinschaft in der jeweiligen Nation zukam.20 Die Be-
19 „Ein Bild der Shoa zu analysieren, läuft nicht darauf hinaus, angesichts dieses verblassenden Bildes wieder Hoffnung zu schöpfen‘. Es bedeutet nicht, Trost in der Abstraktion zu finden, es bedeutet, zu versuchen, trotz allem, trotz der Komplexität des Phänomens, zu verstehen und immer wieder die Frage nach dem Wie zu stellen. Man verweist nicht einseitig auf das Unsagbare und das Unvorstellbare dieser Geschichte, man arbeitet mit ihm und also dagegen: indem man das Sagbare und das Vorstellbare als eine endlose, notwendige, wenn auch nur bruchstückhaft zu bewältigende Aufgabe begreift.“ Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 220-21. 20 Für einen ausführlichen Vergleich zwischen der deutsch-jüdischen und der italienisch-jüdischen Emanzipationsgeschichte siehe Andreas Reinke: Geschichte der Juden in Deutschland 1781-1933, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 12-34; Tullia Catalan: „Ebrei e nazione dall’ emancipazione alla
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deutung dieser Unterscheidung hat mit dem demografischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Gewicht zu tun, das den zwei Gruppen vor den dreißiger Jahren in den jeweiligen Ländern zukam: Es ist nämlich offensichtlich, dass sich die zwei nationalen Debatten nach dem Zweiten Weltkrieg auf unterschiedliche Weise und mit verschiedener Intensität entwickelt haben, gerade in Bezug auf das reale und symbolische Gewicht der jüdischen Kultur in jeweiligen Land vor dem Anbruch des faschistischen Regimes. Wie ich im zweiten Teil dieses Buches versuchen werde darzulegen, spiegelt sich dieses Gewicht auf exemplarische Weise in derselben Kraft der Einschreibbarkeit des Holocausts wieder, die auf dem gesamtdeutschen Territorium so lebendig und intensiv, in Italien jedoch so spärlich und zusammenhangslos erscheint. b) Der zweite Aspekt ist kulturell-symbolischer Ordnung und betrifft die Dimension des Gedenkens an die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in seinen zwei nationalen Ausprägungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Unterschiede zwischen den zwei Phänomenen werden deutlich hervortreten: Die Konfrontation mit den Deportationen und mit der späteren (vor allem antijüdischen) Massenvernichtung, die während der NS-Zeit stattgefunden haben, ist seit Beginn der achtziger Jahren bis Heute als Leitmotiv präsent. Wenn sie auch einerseits nur innerhalb der intergenerationellen Diskussion, die aus der 68er Bewegung hervorging, und als öffentliche Debatte hervortritt, strukturierte sie sich bereits in der Nachkriegszeit durch Gerichtsprozesse und das couragierte Auftreten von Überlebenden und Nazigegner wie Joseph Wulf,21 die begannen, gewisse Grundfragen zu thematisieren.22 In Italien hatte das Gedenken an die antijüdischen Verfolgungen aus zweierlei Gründen ein ganz anderes Gewicht: Der Erste betrifft die Tatsache, dass die antisemitische Politik in Italien nicht die zentrale Rolle ge-
crisi di fine secolo“, in: Marcello Flores et al. (Hg.): Storia della Shoa in Italia. Vicende, memorie, rappresentazioni, 2 Bd., Torino: UTET 2010. 21 Siehe Klaus Kempter: Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 22 Siehe die Einleitung von Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die Ns-Vergangenheit, München: C.H.Beck 1996, S. 7-24.
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spielt hat, die sie in der Hasspolitik des Nationalsozialismus einnahm;23 der zweite Grund betrifft eine gewisse Verdrängungstaktik der italienischen Grausamkeiten und des Rassismus, die funktional war in der Konstruktion des Mythos des „guten Italieners“,24 deren Aufgabe es war, die äußerst realen und dokumentierten Verfolgungen der italienischen Juden zu verbergen, sodass im Kontext der antijüdischen Verfolgung die tatsächlichen Verantwortlichkeiten einer bestimmten italienischen Kultur (die auch in der Nachkriegszeit fortbestand)25 genau so wie die der Polizeiapparate und gewisser politisch-administrativen Strukturen mystifiziert werden konnten.26 c) Der dritte Aspekt ist hermeneutischer Ordnung und betrifft das Problem der Interpretation der unterschiedlichen Prozesse, also das genaue Verständnis der Funktion des Gedenkens an den Holocaust, um den Weg zu skizzieren, der von einer nationalen zu einer post-nationalen Repräsentation führt. Die Natur des deutschen Gedenkens spielt auch hier eine wesentlichere Rolle im Vergleich mit dem Italienischen: Wenngleich sich Verfolgung und Vernichtung einer einzelnen Person qualitativ und vom theologischen Gesichtspunkt aus betrachtet in beiden Fällen deckt, so ist es offen-
23 Mindestens bis zum November 1938, als die deutsche „Rassengesetze“ in Italien aufgenommen wurden; vgl. Michele Sarfatti: „La legislazione antiebraica 19381943“, in: Marcello Flores et al. (Hg.): Storia della Shoa in Italia. Vicende, memorie, rappresentazioni, S. 283-302. 24 „Il mito degli ‚italiani brava gente‘, che ha coperto tante infamie, e anche queste che esporremo, appare in realtà, all'esame die fatti, un articolo fragile ed ipocrita. Non ha alcun diritto di cittadinanza, alcun fondamento storico. Esso è stato arbitrariamente e furbescamente usato per oltre un secolo e ancor oggi ha i suoi cultori, ma la verità è che gli italiani, in talune circostanze, si sono comportati nella maniera più brutale, esattamente come altri popoli in analoghe situazioni. Perciò non hanno diritto ad alcuna clemenza, tantomeno all'autoassoluzione.“ Angelo Del Boca: Italiani brava gente? Un mito duro a morire, Vicenza: Neri Pozza 2005, S. 10. 25 „È una storia in gran parte tutta da scrivere, quella del razzismo e dell'antisemitismo in Italia dopo il 1945. E niente sembra oggi annunciarne la conclusione.“ Francesco Cassata: La difesa della razza. Politica, ideologia e immagine del razzismo fascista, Torino: Einaudi 2008, S. XV. 26 Luigi Ganapini: „I persecutori italiani“, in: Marcello Flores et al. (Hg.): Storia della Shoa. Vicende, memorie, rappresentazioni, 1. Bd., S. 455-73.
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sichtlich, dass sich das historische Gewicht des Holocausts in Bezug auf individuelle und kollektive – und folglich politische – Verantwortungen stark in der deutschen Geschichte widergespiegelt hat. Es muss nun erörtert werden, ob es möglich ist, ein Modell festzulegen das es erlaubt, den Transformationsprozess einer bestimmten deutschen, nationalen – und später einer europäischen – Identität vollständig zu rekonstruieren: Die Entwicklung unterschiedlicher sozio-psychologischer Interpretationen im Laufe der Jahrzehnte ist das Gesamtergebnis derselben Radikalität, die der Holocaust auf das deutsche Gedenken überträgt. Der italienische Fall ist viel zusammenhangsloser: Den Hauptaspekt dieser Nichthomogenität stellt vor allem die Rolle der katholischen Kirche dar, die in einer bestimmten Weise nicht nur eine Reflexion politischer Natur über Verantwortungen administrativer und moralischer Ordnung vorweggenommen – ja fast ersetzt –, sondern auch die Frage der antijüdischen Verfolgung in die theologische Frage eingebettet hat. Dieser charakterliche Unterschied – vorwiegend sozial-politisch in Deutschland bzw. theologisch-kulturell in Italien – markiert die Lücke und den Unterschied zwischen den zwei nationalen Gedächtnissen und deren Überarbeitung. Hierzu aber auch in Deutschland große Unterschiede, Deutschland ist in dieser Beziehung sehr heterogen-geografisch. In manchen Regionen ist die katholische Kirche ähnlich stark wie in Italien und hat im Alltagsleben eine feste Bedeutung. d) Der letzte Aspekt ist politisch-philosophischer Ordnung und hat mit der Verständnisfrage zu tun, welche kulturellen, symbolischen und existentiellen Elemente des Prozesses der Memoralisierung dieses große kollektive und post-nationale Gedenken an den Holocaust ins Leben gerufen haben. Wie ich zu beschreiben versuchen werde, strukturiert sich der Holocaustdiskurs als „negativer Diskurs“:27 Hinter dieser Modalität verbirgt sich seine metaphorologische Kraft. Diese vier Momente sollen mir als Ausgangspunkt für meine Überlegungen über die zwei nationalen Gedächtnisse dienen. Sowohl für den italienischen als auch für den deutschen Fall werde ich ein interpretatives Schema anwenden, das mir erlaubt, die wesentlichen Phasen der zwei Phänomene zu analysieren: Mein Ausgangspunkt und Ziel ist es jedoch, den
27 Im Sinn eines ¸negativen Gedächtnisses‘ siehe Koselleck: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte: S. 241-53.
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Fokus auf die Errichtung der zwei nationalen Gedenkstätten zu setzen, indem ich sie als historische Apparate interpretiere und folglich als darlegende Mechanismen der Bedeutung der kulturellen und sozialen Prozesse, auf denen in Deutschland und in Italien die Repräsentation des Holocausts basiert.
N OTWENDIGKEIT
UND K OMPLEXITÄT DES HISTORISCHEN G EDÄCHTNISSES Die Existenz eines „kollektiven europäischen Gedächtnisses“ zu behaupten, kann sich als riskant oder zumindest als verallgemeinernd erweisen. Obwohl innerhalb mehrerer wissenschaftlicher Analysen beobachtet wurde dass die Wirkung der Repräsentation des Holocaust nach 1989 (die einer Uniformierung der verschiedenen politischen und symbolischen Tendenzen für ein vereintes Europa war)28 sollte nun kritisch hinterfragt werden, was für eine Rolle dann die Verfolgungen unter Stalin oder innerhalb des sowjetischen Blocks einnehmen.29 Es geht nicht darum die Rolle der einzelnen nationalen Politiken der Diktatoren jenseits des Eisernen Vorhangs oder der Kollaboration in der Zeit des Nationalsozialismus zu studieren.30 Ich versu-
28 „Der Holocaust werde deshalb zunehmend zu einem veritablen Gründungsereignis umgeformt.“ Dan Diner: „Der Holocaust in den politischen Kulturen Europas: Erinnerung und Eigentum“, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.): Auschwitz, Sechs Essays zu Geschichte und Vergegenwärtigung, Dresden: Hannah Arendt Institut für Totalitarismenforschung 2001, S. 65. 29 „Gegenüber der Prädominanz der NS-Vergangenheit im Geschichtsbewusstsein der Deutschen konnte sich die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur bis Heute nicht hinreichend Geltung verschaffen. […] Dabei kann es, um Missverständnisse gleich vorzubeugen, nicht um fragwürdige Gleichsetzungen beider Diktaturen gehen. Ganz im Gegenteil, die Erinnerung an die kommunistische Diktatur muss sich meines Erachtens von allen Analogieversuchen emanzipieren.“ Peter März/Hans-Joachim Veen: Woran Erinnern? Der Kommunismus in der Deutschen Erinnerungskultur, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2006, S. 9. 30 „Europa versucht, sein Gedächtnis wieder zu finden. Mit der Katastrophe von Auschwitz hatte ein Ausblendungsakt begonnen, der bis heute fortwirkt. Es ist
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che hier, den Fokus auf die nationalen Geschichten Deutschlands und Italiens zu setzen. Die Idee meiner Arbeit ist die, eine Morphologie zu gestalten, die sich, von der Gegenwart ausgehend, als Rekonstruktion des Entstehungsprozesses der zwei Diskursivitäten des Holocausts versteht. Als Ausgangspunkt der Konfrontation zwischen italienischer und deutscher Geschichte der Nachkriegszeit muss meiner Meinung nach die Wendung des italienischen „Verrats“ am 8. September als Ausgangspunkt gesetzt werden, der Tag also, an dem Italien faktisch vom Pakt mit Deutschland zurücktrat:31 Aus historischer Perspektive kann nicht klar beantwortet werden, was geschehen wäre, wenn Italien weiterhin Krieg geführt hätte, aber es ist offensichtlich, dass dieser Tag für einen verändernden Moment innerhalb der Erinnerung steht, der dazu dienen kann, die gesamte Geschichte der Nachkriegszeit, des italienischen Widerstandskampfes – der Resistenza – bis hin zur Verarbeitung der Verbrechen des Faschismus32 und dessen progressiv wachsender Distanz vom deutschen Paradigma zu verstehen. Die historische Ereignisse während der Resistenza (8. September 1943 – 25. April 1945) werden die gesellschaftliche Aufarbeitung des Faschismus, und deshalb die Perspektive auf die Verfolgungen der italienischen Juden, für immer stark beeinflussen: stark Geprägt wurde die historiografi-
wie wenn sich alle Völker 1945 verschworen hätten, diese Ereignis ein für alle Mal zu bannen […] Die Enthüllung der Verbrechen von Auschwitz im Jahre 1945 und die eindeutige Verantwortung der Deutschen hat diese Ausrichtung des europäischen Gedächtnisses auf die Verbrechen der Deutschen und im deutschem Namen bewirkt. In ihrem Schatten hat sich eine Amnesie herausgebildet, die für die wirtschaftliche Einigung funktional war.“ Antonia Grunenberg: Die Lust an der Schuld. Von der Macht der Vergangenheit über die Gegenwart, Berlin: Rowholt 2001, S. 163-64. 31 Siehe Mimmo Franzinelli: „L’ 8 settembre“, in: Mario Isnenghi (Hg.): I luoghi della Memoria. Personaggi e date dell'Italia Unita, Roma/Bari: Laterza 1997, S. 241-70. Vgl. auch Istoreco (Hg.): 8 settembre 1943. L'armistizio e l'inizio della Resistenza. Con articoli tratti da ,Ricerche Storiche‘ 2013. http://www. istoreco.it, (Juni 2016) und Filippo Focardi: Il cattivo tedesco e il bravo italiano. La rimozione delle colpe della seconda guerra mondiale, Roma/Bari: Laterza 2013, S. 15-32. 32 Ebd., S. 33-106.
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sche Debatte der Nachkriegszeit vom durch die Resistenza erzeugten, radikalen Bruch denn jene Ereignisse übten Einfluss auf die Verarbeitung der italienischen Geschichte in all deren Formen aus, bis hin zur einstimmigen Repräsentation der Gedenkstätte und des Museums in Rom. Was dagegen den deutschen Fall betrifft, wird es gerade der erbitterte Kampf bis zum 2. Mai 1945 sein, der die Irreversibilität jenes Zusammenbruchs bedingt, den der Theologe Karl Barth bereits im Januar desselben Jahres als „Stunde Null“ bezeichnet hatte.33 Dieses Auseinandergehen von Erfahrungen im Kontext der Entstehung der italienischen Resistenza und des deutschen Zusammenbruchs entscheidet auf unauslöschliche Weise die Schicksale der zwei nationalen Gedächtnisse: die Rekonstruktion der antijüdischen Verfolgung (und später ihres Gedenkens innerhalb eines Holocaustdiskurses) fügt sich auch und vor allem in diese radikale Trennung zwischen unterschiedlichen Definitionen historischer Ereignisse ein.34
33 „Als geschichtsinterpretierende Vokabeln werden Jahr Null, Nullpunkt und Stunde Null verwendet, um einen uneingeschränkten ‚Bruch‘ mit der Zeit des Nationalsozialismus nach 1945 zu unterstellen und (real vorhandene) Kontinuitätslinien zu negieren. Meist werden die Ausdrücke tentativ benutzt, um in den bestimmten Bereich nach sich neu eröffnenden Handlungsmöglichkeiten zu fragen und zugleich nach möglichen, nicht zu verdrängenden Belastungen oder Traditionen aus der Vergangenheit. Die Geschichte der Verwendung dieser Geschichtsvokabel ist seit der frühen Nachkriegszeit begleitet von einem öffentlichen sprachkritischen Diskurs über die Angemessenheit des Ausdrucks.“ Thorsten Eitz/Georg Stötzel: Wörterbuch der ,Vergangenheitsbewältigung‘. Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 2007, hier S. 586-87. Vgl. auch Torben Fischer/Matthias N. Lorenz: Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, Bielefeld: Transcript 2007, S. 42, „Mythos ‚Stunde Null’, stets umkämpfter Ausdruck, der als Vokabel einer Ideologie, deutsches Masternarrative, Ausdruck realer Erfahrungen oder eines Tatsachenbefundes, als Legende oder auch als Metapher gedeutet worden ist.“ 34 „Il binomio concettuale ed interpretativo fondato sui valori – seppur genericamente estesi e variamente interpretati – del Risorgimento e della Resistenza costituisce la chiave interpretativa essenziale per interpretare comportamenti ed indirizzi degli ebrei italiani prima, durante e dopo il fascismo.“ Mario Toscano: „Storiografia e identità: revisione e critica dell’autorappresentazione degli ebrei
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Wie wir bereits gesehen haben, stellt die Spur im Sinne der Niederschrift des historischen Ereignisses eine Notwendigkeit für die Existenz von Diskursivität dar, wobei jedoch das Gegenteil nicht zutreffend ist. In diesem Sinne stellen die zwei Gedenkstätten das in Boden und Stein gemeißelte Ergebnis einer Parabel dar, die mit den zwei gezogenen Furchen, den zwei Spuren also, ihren Anfang nahm, die seit dem 8. September 1943 auseinander laufen. Um die zwei Prozesse interpretieren zu können, ist es deshalb unerlässlich, eine methodologische Lesart zu bieten, die in den grundlegenden Ereignissen fußt, um dadurch die Struktur der Memoralisierung seit der Nachkriegszeit bis zur Errichtung einer nationalen Gedenkstätte ausmachen zu können. Das (bereits erwähnte) Modell Jan Assmanns, das generationelle Modell, unterstützt eine derartige Analyse vollständig und macht von der Idee Gebrauch, dass die Kerne eines späteren kollektiven Gedächtnisses im Dialog, im Austausch und davor in der intergenerationellen kommunikativen Kodifikation festgelegt werden. Es stellt sich also folgende Frage: Anhand welcher philosophischen Betrachtungen, sozialen Gegebenheiten und politischen Debatten können wir, von der historischen Vernichtung ausgehend bis zum Aufkommen der Notwendigkeit einer dem Holocaust gewidmeten nationalen Gedenkstätte, den Einschnitt des Holocaustdiskurses verfolgen? Die ist die zentrale Fragestellung meiner Arbeit, mit der ich versuche, eine diskursive und hermeneutische Einheit der Entwicklung des Gedenkens an den Holocaust aus einem nationalen und europäischen Kern herauszuarbeiten. In diesem Kapitel werden deshalb die zwei historischen Prozesse des Holocaustdiskurses in Italien und Deutschland analysiert: Der Blickpunkt ist deskriptivphilosophischer Art;35 aus diesem Grund versuche ich hier zwei interpretative Schemen soziokollektiver Art aufzustellen, innerhalb derer die zwei Phänomene insgesamt interpretiert werden können. Wie bereits beschrieben, besteht die Morphologie eines Diskurses aus unterschiedlichen Merkmalen, die in der Beziehung zwischen religiöser Kultur, Politik und Gesellschaft zu suchen sind, aber auch im Stellenwert,
in Italia. Alcune considerazioni introduttive“, in: Cristina Benussi/Ariel Toaf/ Mario Toscano (Hg.): Storie di ebrei fra gli Asburgo e l’Italia. Diaspore/Galuyot, Udine: Gaspari 2003, S. 46. 35 Siehe Michael Dürr/Peter Schlobinski: Einführung in die deskriptive Linguistik. Grundlagen und Methoden, Göttingen: Vandenoeck & Ruprecht 2006.
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den die zwei Gesellschaften der Verfolgung der jüdischen Minderheit zuordnen. An der Basis dieses Massivs stehen die Spuren, sprich die Geschichte als Einschreibung, Spur und oftmals Wunde: Dieser Wunde muss nachgegangen werden, und sie muss mit einer kathartischen Bewegung, die historische Praxis und philosophische Analyse vereint, ans Licht befördert werden. Ich will versuchen, den zutage getretenen, historischen Tatsachen einen kulturellen und symbolischen Blickpunkt entgegenzusetzen, ohne die Tatsache aus den Augen zu verlieren, dass die Geschichtswissenschaft „mit der Erinnerung [...] ihr eigenes lebensweltliches Fundament“ thematisiert.36
36 „Und damit auch die Subjektivität der Historikerinnen und Historiker und ihres Publikums als einen Faktor, der auch das wissenschaftliche historische Denken beeinflusst. Erweitert man den thematischen Umkreis dieser Diskussion auf den reichhaltigen und vielfältigen Themenkreis des Geschichtsbewusstsein, dann stellt sich ganz unvermeidlich die Frage nach unbewussten Faktoren, die die mentalen Prozeduren des Geschichtsbewusstseins bestimmen und Einfluss nehmen auf die spezifischen Sinnbildungsleistungen, in denen es zur Konzeption und Repräsentation von ‚Geschichte‘ als Ergebnis einer Verarbeitung der Erfahrung der Vergangenheit geht.“ Rüsen/Straub: Die dunkle Spur der Vergangenheit, S. 9. Vgl. Auch Burkhard Liebsch/Jörn Rüsen (Hg.): Trauer und Geschichte, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2001. Dieselbe wissenschaftliche Sorge, nämlich die Psychologiewissenschaft der Geschichtswissenschaft zu nähern, hat sich auch in der amerikanischen Philosophie, wie bei LaCapra: Representing the Holocaust; Dominick LaCapra: „Revisiting the Historians’ Debate. Mourning and Genocide“, in: History and Memory, n°9, 1/2 (1997); LaCapra: History and Memory after Auschwitz; Caruth: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative and History, entwickelt. Der deutsch-politische Blick auf das Thema wurde von Grunenberg: Die Lust an der Schuld. Von der Macht der Vergangenheit über die Gegenwart; Gesine Schwan: Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens, Frankfurt a/M: Fischer 1997.
Deutschland und der Holocaust
D AS D ENKMAL
IN B ERLIN UND DIE DEUTSCHE E RINNERUNGSKULTUR Politik und Schuld Wer sich zwischen den Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin bewegt, hat das Gefühl, in eine komplexe und epochale Stimmung zu versinken, die zugleich anziehend und zurückweisend wirkt: Die Historizität der Berliner Gedenkstätte, deren Präsenz als historischer Einschnitt mindestens so intensiv erfasst wird, wie deren völlige Asymbolizität und das Fehlen jeglichen Anhaltspunktes. Von den ausdrücklichen Absichten des Architekten abgesehen, über die ich im dritten Kapitel sprechen werde, fühlt sich der Besucher in eine doppelte Lage versetzt: Zum einen wird er mit der Orientierungslosigkeit des tatsächlichen Ortes konfrontiert; zum anderen wird ihm bald klar, dass die Wahrnehmung einer fehlenden Bedeutung bereits von der Existenz einer tragischen und tief gehenden vollständig Geschichte erklärt wird – einer Geschichte, die nicht nur mit der Verfolgung der Juden Europas zu tun hat, die im unterirdischen Learning Center beschrieben wird, sondern vor allem mit der Schwierigkeit, diese Verfolgung mittels einer gemeinschaftlichen, politischen Repräsentation zu veranschaulichen. Aus dieser Spannung heraus zwischen Symbolischem und Historischem, zwischen evokatorischem Bruch und analytischer Rekonstruktion, entsteht und strukturiert sich die Gedenkstätte: Sie stellt das Ergebnis einer jahrzehntelangen Thematisierung der Bedeutung und Rolle der Vernichtung der Juden für die deutsche Politik dar. Die Radikalität jener Erfahrung wird,
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wie mir scheint, mit der Aussage Joschka Fischers bei der Gedenkrede zum 60. Jahrestag der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager am 24. Januar 2005 in New York tiefwirkend zusammengefasst: Dieses barbarische Verbrechen wird für immer Teil der deutschen Geschichte sein. Es bedeutete für mein Land den absoluten moralischen Tiefpunkt, einen Zivilisationsbruch ohne Beispiel. Das neue, das demokratische Deutschland hat die Lehren daraus gezogen. Es ist von der historisch-moralischen Verantwortung für Auschwitz tief geprägt.1
Fischer zu zitieren, heißt, einen der größten Befürworter der Realisierung der Gedenkstätte zu zitieren: Er stellt jene zweite Generation dar, die nach dem Krieg und den Verbrechen geboren wurde und mehrheitlich für eine radikale Politik der Konfrontation mit dem und Analyse des Nationalsozialismus und deren Tätern einfordert. Genauer betrachtet, unterscheidet sich Fischers Äußerung kaum von den Aussagen zahlreicher anderer deutscher öffentlicher und politischer Figuren der Nachkriegszeit bis zur heutigen Zeit. In jenen Worten sind jedoch zwei Aussagen enthalten, die auf eine philosophische und interpretative Komplexität verweisen, die wesentlich für meine Argumentation ist: a) Die Erste ist die des „absoluten moralischen Tiefpunkts“ und betrifft, zumindest in Form einer politischen Äußerung und als Vision, die transzendentale Bedeutung der Beziehung zwischen einer bestimmten deutschen Kultur zu den Verbrechen der Nazis. Dieser Aspekt einer bürgerlichen Transzendenz der Konfrontation mit dem Holocaust bildet den Kern des politischen Willens einer gesamten Generation,2 der bis zur Errichtung der Berliner Gedenkstätte geführt hat. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich dagegen auch eine Vielzahl höchst kritischer Stimmen gegen eine absolute
1
Joschka Fischer: „Rede bei den Vereinten Nationen. ‚Zivilsationsbruch ohne Beispiel‘“, in: Süddeutsche Zeitung 2005 http://www.sueddeutsche.de/politik/ joschka-fischers-rede-zivilisationsbruch, (Juni 2016).
2
In diesem Bezug würde der kritische Begriff „Konsensgesellschaft“ verwendet, in Jan Ross: „Hegel der Bundesrepublik“, in: Zeit no. 42, http://www.zeit.de/ 2001/42/200142_habermas.xml/seite-1, (11. Oktober 2001).
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Zentralität des Gedenkens an den Holocaust erhoben,3 wobei es jedoch unmöglich ist, die Tatsache zu ignorieren, dass jene Zentralität sich aus Worten und Handlungen der offiziellen Politik ergibt (und determiniert).4 b) Der zweite Begriff ist der des „Geprägt-Seins“, des GezeichnetSeins, des Stigmas:5 In den vergangenen Jahrzehnten ist dieses Zeichen auf verschiedenste Weise definiert und neu formuliert worden, von der Idee einer ursprünglichen Schuld6 bis hin zur politisch-sozialen Stigmatisierung.7
3
Hier beziehe ich mich auf den berühmten „Historikerstreit“ der 80er Jahre: „Der Historikerstreit der Jahre 1986 und 1987 entzündete sich an zwei polemischen Thesen Ernst Noltes. [...] Gegen diese Äußerungen erhob sich, eröffnet von Jürgen Habermas, ein Sturm der Entrüstung, der sich bald in einer Vielzahl von öffentlichen Stellungnahmen entlud und in mehrere Einzeldebatten diversifizierte“; Ulrich Herbert: „Der Historikerstreit. Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte“, in: Martin Sabrow/Raplh Jessen/Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte, München: C.H. Beck 2003, S. 94. Vgl. auch Diner: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zur Historisierung und Historikerstreit; Ernst Nolte: Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten Historikerstreit, Berlin: Ullstein 1987.
4
„Seit dem Historikerstreit hat sich viel verändert: Die politische Lagerbindung in der Historikerzunft hat an Bedeutung verloren, die Dynamisierung öffentlicher Debatten durch die Medien hat zugenommen. Vor allem aber ist der Holocaust ins Zentrum der wissenschaftlichen wie der öffentlichen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit geraten, wenn nicht als eine direkte, so doch als mittelbare Folge des Historikerstreits. Bei allen kritischen Bemerkungen, die der Historikerstreit von Heute aus evoziert, muss das doch als ein Vorteil gesehen werden“; Herbert: „Der Historikerstreit. Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte“, S. 109.
5
Vgl. die Einleitung von Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1967, S. 9-55.
6
Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Zur politischen Haftung Deutschlands, München/Zürich: Piper 1987; Alexander Mitscherlich/Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, München: Piper 1977.
7
Dirk A. Moses: „Stigma and Sacrifice in the Federal Republic of Germany“, in: History and Memory 19, no. 2 (2007). Vgl. auch Raplh Giordano: Die zweite Schuld oder von der Last Deutscher zu Sein, Hamburg/Zürich: Rasch und Röh-
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Worauf bezieht sich jedoch Fischer mit der Behauptung, dass Deutschland durch seine „historisch-moralische Verantwortung für Auschwitz tief geprägt“ sei? Wie wir sehen werden, bezieht er sich in Wirklichkeit auf einen Gesamtkomplex von Themen und Auseinandersetzungen, deren Kern die Schuldfrage bildet. Um diesen Aspekt juristischer sowie soziologischer Ordnung näher bestimmen zu können, muss die Gesamtanalyse der Memoralisierung der Shoa in Deutschland wiedergegeben werden. Mittlerweile kann sich in Deutschland jede Bildungsgeneration auf ihr biographisch prägendes publizistisches, künstlerisches oder anderweitig öffentliches Aufsehen erregende Ereignis beziehen, das den Holocaust bzw. die Erinnerung an die Massenvernichtung zum Gegenstand hat. Dabei kann es sich um historische Darstellungen, um künstlerische Darbietungen auf der Bühne oder im Film, um auf Zelluloid gebannte Zeugnisse oder um parlamentarische Debatten handeln.8
Die Existenz oder zumindest die Wahrnehmung einer „kollektiven Schuld“, die später innerhalb eines Prozesses der Stigmatisierung umrissen wurde – wenn auch nur auf einer zweiten Ebene – hat auf symbolischer Ebene und als kollektive Pflicht als Antrieb gedient sich mit der Vergangenheit zu konfrontieren, um die historische Wahrheit der Verbrechen der Nationalsozialisten wiederherzustellen.9 Dieser dramatische aber auch im gewissen
ring 1987; Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin: Siedler 1996. 8
„Dies gilt für die Betroffenheit, mit der das ‚Tagebuch der Anne Frank‘ in den 50er Jahren aufgenommen wurde […]; für die öffentlich demonstrierte Zerknirschtheit angesichts der Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“ Ende der 70er Jahre […]; wallfahrtsähnliche Züge annehmenden Reaktionen auf Goldhagens ,Hitlers willige Vollstrecker‘, ein Ereignis, das krass divergierende Reaktionen nach sich zog […]. Allem Anschein nach handelt es sich hierbei zentral um die Frage von Schuld – genauer: um die Wirkung eines ständigen Schuldgefühls.“ Dan Diner: „Über Schuldkrise und andere Narrative. Epistemologie zum Holocaust“, in: Gertrud Koch (Hg.): Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung, Köln/Weimar: Böhlau 1999.
9
„Strafverfahren zur Ahndung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen hatten von Anfang an auch zum Ziel, die deutsche – wie die internationale – Öffentlichkeit über den Charakter und die Verbrechen des NS-Regimes unmissver-
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Sinne positive Aspekt10 einer Konfrontation mit der Vergangenheit zeichnet die deutsche Geschichte auf eine gewisse Weise aus und führt zu jenen Politiken des Gedenkens der ersten Jahre des neuen Jahrhunderts. Diese anscheinend idyllische Beschreibung eines „erfolgreichen, moralischen Lernprozesses“,11 vom Schuldgefühl zur Gedenkstätte in Berlin, muss jedoch gleichzeitig kritisch betrachtet werden, von verschiedenen problematischen Ansätzen ausgehend, wie etwa von der Tatsache, dass diese „Anteilnahme“ an einem Schuldgefühl vorgetäuscht12 oder gar individuell (und in der Intimität der Familie) bereits seit Beginn der Nachkriegszeit
ständlich aufzuklären. Bereits der Lüneburger Bergen-Belsen-Prozess (September bis November 1945) war von der britischen Besatzungsmacht als ‚Schocktherapie‘ (John Cramer) gedacht. ‚Nürnberg […] sollte erklärtermaßen auch ein Lernprozess sein‘“; in der Einleitung von Jörg Osterloh/Clemens Vollnhals (Hg.): NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen: Vandenhoeck Ruprecht 2011, S. 11. 10 „Über die historische Bedeutung des Tribunals, das die Grundlage für ein neues Völkerrecht schaffte, war man sich von Anfang an einig: Erstmals in der Geschichte der Menschheit wurden die Schuldigen eines Krieges und millionenfachen Leides zur Verantwortung gezogen. Die Idee dazu war schon während des Zweiten Weltkrieges entstanden.“ Steffen Radlmaier: Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Starreportern, Eichborn/ Frankfurt a/M: Die Andere Bibliothek 2001, S. 9. 11 Im originalen Text: „succesfull moral learning process“; Moses: „Stigma and Sacrifice in the Federal Republic of Germany“, S. 2. 12 „Der Tod des Führers brachte für die Massen eine Entblößung vom Schutz. Vom Führer verlachte Mächte konnten ihn vernichten. Da seine Imago das IchIdeal seiner Anhänger ersetzt hatte, waren sie in seinen Untergang mit hineingezogen, der Schande preisgegeben. Mit diesem Zusammenbruch des Ich-Ideals hörte notwendigerweise die Möglichkeit der gegenseitigen Identifizierung im Führerglauben auf. […] Das Ich der Verlassenen fühlte sich betrogen; jedermann versuchte, dieses gescheiterte und gefährliche Ideal wieder zu externalisieren. Jetzt hieß es: die Nazis waren an allem Schuld. Diese Verdrehung der Wirklichkeit dienten, wie wir sahen, dem Schutz des eigenen Ichs, des eigenen Selbstgefühls, vor schroffen Entwertungen.“ Mitscherlich/Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 70.
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nicht akzeptiert wurde.13 Darüber hinaus kommt noch der Aspekt der Instrumentalisierung des Holocausts hinzu, in Anbetracht seines unvermeidbaren politischen, symbolischen und religiösen Gebrauchs:14 Wie ich zu verdeutlichen versuchen werde, ist die Idee selbst einer „Schuldfrage“ in Bezug auf verschiedene Aspekte nicht nur ethischer oder moralischer Ordnung zu verstehen. Die Literatur über diese Themen ist weitreichend, was fortbesteht, ist aber – abgesehen von allen kritischen Nuancen – die Einschreibung, die Präsenz einer ungelösten, ja unlösbaren Schuld, die in die Textur von Eisenmanns Gedenkstätte eingewoben wurde: Aus sozialpsychologischer Sicht spiegelt sich diese Schuld innerhalb eines traumatischen Gesamtbildes wieder, in dem die durch eine gemeinsame Geschichte möglich gemachte, kollektive Anteilnahme, die „Zugehörigkeit zu etwas“, ständig aufgespalten und einer Beurteilung unterzogen wird. Diese Radikalität der Geschichte als Bruch und Trauma in der historischen Linearität (sprich als Verlusterfahrung)15 ist Gegenstand der philosophischen Analyse und wird im vierten Teil dieses Buches behandelt.
13 „Research into the intergenerational transmission of German memory revealed a considerable gap between the pieties of official statements and the intimate sphere of the family, where stories of German suffering and survival endured half a century after the End of the Second World War.“ Dirk A. Moses: German Intellectuals and the Nazi Past, New York: Cambridge University Press 2007, S. 2. Das Thema vom politischen und privaten Umgang mit der Vergangenheit wurde u. A. von Olaf Jensen: Geschichte machen. Strukturmerkmale des intergenerationellen Sprechens über die NS-Vergangenheit in deutschen Familien, Tübingen: Diskord 2004; betrachtet, wo er von fünf verschiedenen Typen intergenerationellen Sprechens redet: Opferschaft, Rechtfertigung, Distanzierung, Faszination und Heldentum. 14 Vgl. Finkelstein: The Holocaust Industry. 15 „Denn wie anders können die negativen historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auf der fundamentalen Ebene des historischen Denkens verarbeitet werden, in der es um den Sinn der Geschichte geht? Es geht um eine Verlusterfahrung, die den Sinn der Geschichte selber betrifft.“ Liebsch/Rüsen: Trauer und Geschichte, S. 64.
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Schuld, Stigma, Einschnitt In seinem Artikel Stigma and Sacrifice in the Federal Republic of Germany, geht A. Dirk Moses die wesentlichen Stufen des Paradigmas der Schuldfrage durch, indem er eine Evolution historisch-psychologischer Ordnung feststellt: Er analysiert den generationellen Übergang vom Dualismus Schuld/Scham (an die erste Generation der Nachkriegszeit gebunden) zum Dualismus Stigma/Opfer (der seiner Meinung nach, die (Selbst)Wahrnehmung der zweiten Generation kennzeichnet). Der produktive Schwerpunkt seiner Abhandlung liegt in der Idee, dass die historischen Prozesse sich innerhalb von Diskursivitäten entwickeln, die in der Spannbreite zwischen der materiellen Last der Spuren und deren Spiegelung in den kulturellen Archetypen entstehen.16 Um die Rolle des Gedenkens an den Holocaust in der Politik der Bundesrepublik verstehen zu können, so die These seiner Arbeit, müsse man über zwei wesentliche Momente nachdenken: a) die Konstituierung einer Schuldfrage am Ende des Zweiten Weltkriegs; b) die daraus folgende Stigmatisierung jener epochalen und ausschließlich deutschen Schuld auf internationaler Ebene. Auf seiner Idee einer Wirksamkeit der historischen Prozesse und einer Materialisierung derselben innerhalb der Paradigmen einer kollektiven Selbst-Anerkennung basiert auch meine Arbeit. Ich will versuchen, sie im Laufe der nächsten Seite darzulegen. Die von Moses vorgelegte Beschreibung der Schuld/Stigma-Evolution wird hier als Leitfaden wieder aufgenommen und um den Begriff der „Einschreibung“ erweitert, der ein genaues Verständnis des gesamten mehrgenerationellen Verlaufs des deutschen Holocaustdiskurses möglich macht. Wesentlich für die Berliner Gedenkstätte ist, dass es sich hierbei um die Einschreibung jenes Paradigmas handelt, das zur Zeit der Stunde Null der
16 „This article argues that the guilt/shame couplet so common both in public German and academic discourses about post-war Germany cannot account for the intergenerational transmission of moral pollution signified by Holocaust memory. In order to understand the dynamics of German political emotions, we ought to employ the concepts that better capture the nexus of individual and collective identity in the regeneration of the German community: stigma and sacrifice.“ Moses: „Stigma and Sacrifice in the Federal Republic of Germany“, S. 142.
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deutschen Nachkriegszeit geprägt wurde. Aus diesem Grund werde ich nachfolgend drei bedeutende Momente der politischen und sozialen Geschichte Deutschlands analysieren, die sich auf diesem schmalen Grat bewegen: a) Die Schuldfrage: Der Begriff stammt nicht nur vom Titel eines universitären Vortrags des Philosophen Karl Jaspers sondern bildet eine Art epistemologischen Kern der politischen Situation im Deutschland der Zeit nach Hitler, dessen Komplexität durch verschiedene Disziplinen analysiert wurde, von den Rechtswissenschaften bis hin zur Theologie. Welche Prämissen das Auftreten dieser Fragen auch haben mag, sie grenzt unter anderem einen der wesentlichen philosophischen Kerne der Memoralisierung des Holocaustdiskurses ein: Hinter dem Paradigma der Schuldfrage verbergen sich Aspekte kollektiver und symbolischer Ordnung, die bis zur Errichtung der Berliner Gedenkstätte geführt haben. Dieses Grundthema birgt aber auch die tiefste Bedeutung der Beziehung zwischen Historizität, Identität und Gedenken. b) Stigma: Die Spur der Verbrechen der Nationalsozialisten wurde im Laufe der Jahrzehnte dargelegt, dokumentiert und mediatisiert. Dieser Prozess führte zu einer Stigmatisierung der deutschen Verantwortung: Der von Moses gelieferte Begriff des Stigmas betrifft eine „nicht-veränderliche Bezeichnung, die einer Gruppe zugeordnet wird.“17 Der Eichmann-Prozess, also die Zurschaustellung des SS-Offiziers und Kriegsverbrechers Adolf Eichmann und gleichzeitig des Menschen Adolf Eichmann, stellt die erste Stufe der Verdichtung einer Serie von Stigmata sozialer, politischer und vielleicht auch spiritueller Ordnung dar, die der deutschen Geschichte zugeordnet werden.18 Den zweiten Moment stellt die filmische Mediatisierung
17 Ebd., S. 141-43. 18 „Hinzu kam ein an den skandalösen Unterlassungen der fünfziger Jahre geschärfter Blick auf die Täter: Der Frankfurter Auschwitz-Prozess, den Fritz Bauer als hessischer Generalstaatsanwalt mit einer kleinen Gruppe engagierter Kollegen 1963 auf den Weg brachte, markierte die wohl entscheidende gesellschaftliche Wende: Von nun an existierte ein zwar noch minoritäres, aber höchst aktives Netzwerk von Politikern und Juristen, Künstlern und Intellektuellen, das sich den nach wie vor vernehmbaren Forderungen nach einem ‚Schlussstrich‘ wirkungsvoll entgegenstellte.“ Norbert Frei: 1945 und wir. Das dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München: DTV 2009, S. 51.
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in den siebziger Jahren dar, die im Wesentlichen mit der Erstausstrahlung der Fernsehserie Holocaust einsetzt: Trotz der Debatte über die problematische Beziehung zwischen Mediatisierung und historischen Fakten hält sich diese Produktion genau an die Abfolge der historischen Ereignisse und schafft einen neuen Kanon für die Beziehung zwischen Geschichte und Repräsentation.19 Die tragende Struktur und gleichzeitig das innovative Element des Fernsehfilms ist jedoch die Handlung, vor allem was die Beziehung zwischen Opfern und Tätern betrifft. Das Erscheinen von Daniel Goldhagens Text im Jahr 1995 setzt auf emblematische Weise diesen komplexen Stigmatisierungsprozess fest, bis hin zur Postulierung des Antisemitismus und des Hasses gegen das Andere als wesentlicher Kern nicht nur des Nationalsozialismus, sondern auch der „deutschen Seele“.20
19 „,Endlösung als Super-show‘, ‚Melodrama von Massenmord‘ – so oder ähnlich lauteten die Schlagzeilen, als mit dem amerikanischen Vierteiler Holocaust der Mord an den europäischen Juden 1979 die Wohnzimmer der West-Deutschen erreichte. Die Reaktionen waren widersprüchlich. Die Sicherheitsbehörden reagierten nervös, weil u.a. Neonazis Anschläge auf Sendemasten in Koblenz und in Münster verübt hatten. Die Cellesche Zeitung beklagte, dass aus den USA, dem Land der ‚Israel-Lobby‘, ein ‚Zankapfel‘ nach Deutschland geworfen worden sei, der die Nation spalte. Kritiker sprachen vom ‚Holocaust im DallasFormat‘ und von ‚Holotainment‘. Insgesamt jedoch waren die Reaktionen weithin positiv.“ Gerhard Paul: „Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung. Über Veränderungen im Umgang mit Holocaust und Nationalsozialismus in der Mediengesellschaft“, in: Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre, Göttingen: Wallstein 2010, S. 15. 20 „Während der NS-Zeit lebten in Deutschland Menschen, die von Vorstellungen beherrscht waren, die sehr viele von ihnen bereitwillig und bedenkenlos zu Massenmördern und Folterknechten werden ließen. […] Ein ganz gewöhnlicher Bürger jenes Deutschland zu sein, das sich dem Nationalsozialismus überantwortet hatte, bedeutete auch einer politischen Kultur des Todes anzugehören. [...] Die nationalsozialistische Revolution war in erster Linie eine Transformation des Bewusstsein: Den Deutschen wurde ein neues Ethos eingepflanzt. Und im Großen und Ganzen war es auch eine friedliche Revolution, die das deutsche Volk vor allem innenpolitisch zustimme, verfolgte und mittrug.“ Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker, S. 533-34.
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c) Einschreibung: Der unveränderte Kern einer historischen Schuld, von Generation zu Generation weitergegeben durch einen Prozess der Selbst-Anerkennung und, in einem gewissen Sinne, der Selbst-Behauptung, findet sich wieder innerhalb einer durch die internationale Wahrnehmung kristallisierten und stigmatisierten Form, die eine Wiederholung und Neuinterpretation von idealisierten und abträglichen Vorstellungen derselben deutschen Kultur nährt und stützt. Dieses komplexe, erfahrungsbezogene und symbolische Magma explodiert nach der deutschen Wiedervereinigung und will niedergeschrieben, aufgezeichnet und verwurzelt werden. Die Berliner Gedenkstätte ist das in Beton und Architektur gegossene Abbild dieser Spur und deutet in gewisser Weise auf den Ausbruch aus dem Schuld/ Stigma-Schema hin, das eine symbolische Einschreibung mit hohem (und gleichzeitig problematischen) politischen Anspruch ermöglicht.
D IE S CHULDFRAGE Stunde Null Wie in einem Lexikon der deutschen Vergangenheitsbewältigung hervorgehoben, wird der Begriff der „Stunde Null“ kritisch benutzt, um einen auf das Ende des Zweiten Weltkriegs unmittelbar folgenden Zeitraum als „Schwanken zwischen Bruch und Kontinuität, zwischen positiven und negativen Gefühlen, die mit dem Kriegsende verbunden waren“21 zu bezeichnen. Dies ist als Folge unterschiedlicher Aspekte materieller Natur zu deuten (die an die Wahrnehmung der Niederlage als Katastrophe gebunden sind)22 wie auch anderer Aspekte moralischer Ordnung und kollektiver Repräsentation. Als problematisch ist die unterschiedliche Wahrnehmung im geteilten Deutschland zu betrachten: In der BRD galt der 8. Mai als „Kapitulation“, in der DDR als „Tag der Befreiung vom Faschismus“.23
21 Fischer/Lorenz, Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland: S. 42. 22 Siehe den Film von Roberto Rossellini: Deutschland Stunde Null, 1948. 23 „In der Vergangenheit ist die Nachkriegszeitgeschichte beider deutscher Teilstaaten vielfach als ein Lernprozess beschrieben worden, der gleichermaßen durch ‚Abgrenzung‘ und ‚Verflechtung‘ gekennzeichnet war.“ Annette Weinke: „Strafrechtliche Abrechnung als Medium gesellschaftlichen Wandels? Bundes-
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Wie von verschiedenen Forschern hervorgehoben, war jener Definitionsmechanismus einer Grauzone, eines Vakuums jenseits von Zeit und Raum, in Wahrheit auch zweckdienlich für „Verleugnung und Beschweigen“, für eine Art hinterlistige Behauptung der Notwendigkeit, nach vorne zu schauen, ohne sich mit der Vergangenheit konfrontieren zu müssen. Rückblickend kann man beiden Lesarten eine gewisse Gültigkeit zusprechen. Die Idee einer „Stunde Null“ kam sicherlich einem Bedürfnis entgegen, alles noch einmal neu von vorn zu beginnen, ohne sich mit der jüngsten Vergangenheit zu konfrontieren; gleichzeitig muss man in dieser Begriffsbestimmung auch das Medium einer notwendigen Gedächtnisbildung sehen. Diese traumatische Spezifizität der noch nicht lange zurückliegenden Kriegserfahrung hat auch Hannah Arendt trotz ihrer schonungslosen Analyse der deutschen Nachkriegszeit vollkommen erfasst.24 In ihrem Buch aus dem Jahr 1950, Besuch in Deutschland, analysiert Hannah Arendt mit äußerster Klarheit die Verfassung der deutschen Gesellschaft, wobei sie eine apokalyptische Betrachtung anstellt, so bereits auf den ersten Seiten: In weniger als sechs Jahren zerstörte Deutschland das moralische Gefüge der westlichen Welt, und zwar durch Verbrechen, die niemand für möglich gehalten hätte, während die Sieger die sichtbaren Zeugnisse einer über tausendjährigen deutschen Geschichte in Schutt und Asche legten. Danach strömten in dieses verwüstete Land, das durch den Schnitt entlang der Oder-Neiße Linie verkleinert wurde und seine demoralisierte und erschöpfte Bevölkerung kaum versorgen konnte, Millionen von Menschen aus den Ostgebieten, dem Balkan und aus Osteuropa. Dieser Menschenstrom fügte dem üblichen Katastrophenbild noch spezifisch moderne Züge, nämlich Heimatverlust, soziale Entwurzelung und politische Rechtlosigkeit hinzu. 25
republik und DDR“, in: Kerstin Von Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945, Paderborn: Schöning 2009, S. 134-35. 24 „Aber die Wirklichkeit der Nazi-Verbrechen, des Krieges und die Niederlage beherrschen, ob wahrgenommen oder verdrängt, offensichtlich noch das gesamte Leben in Deutschland, und die Deutschen haben sich verschiedene Tricks einfallen lassen, um den schockierenden Auswirkungen aus dem Weg zu gehen.“ Hannah Arendt: Besuch in Deutschland, Nördingen: Rotbuch 1993, S. 29. 25 Ebd., S. 23.
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Das Buch enthält aber auch sehr eindrucksvolle Betrachtungen politischer Art, geprägt von einer mitleidigen Aufmerksamkeit für das Entstehen eines Klimas von Surrealität und „dramatischer atmosphärischer Unmöglichkeit“.26 Die politische und soziale Gesamtlage des Nachkriegsdeutschlands wurde auch vom Regisseur Roberto Rossellini aufgenommen und festgehalten. Mit großem Geschick verdeutlicht er in seinem Film Deutschland im Jahre Null (Germania anno zero) dieses zeitliche Vakuum einer bereits vergangenen aber immer noch konstitutiv präsenten Zerstörung. Selbst die Sprache der Politik definierte sich zuallererst durch diese unüberwindliche Leere, welche die Kapitulation vom 8. Mai 1945 mit sich gebracht hatte: Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.27
Die politische Bedeutung dieser kollektiven Wahrnehmung einer noch immer präsenten Katastrophe ergibt sich durch mehrere Faktoren, sie produziert jedoch ein radikales Gefühl der Entfremdung und des Vakuums. Dieses Vakuum schlug sich auf verschiedenen Ebenen der deutschen Gesellschaft nieder, sein Kern ist der sogenannte Schuldkomplex. Über diesen Kern nachzudenken, heißt, den Fokus auf einen Schlüsselaspekt der deutschen Memoralisierung zu legen. Die Schuldfrage Infolge des Befehls der nationalsozialistischen Regierung an deutsche Professoren, die vor die Wahl gestellt wurden, entweder sich von ihren jüdi-
26 „Furcht vor einer russischen Aggression führt nicht notwendigerweise zu einer unzweideutigen proamerikanischen Haltung, sondern oftmals zu einer entschiedenen Neutralität, als ob eine Parteinahme in dem Konflikt ebenso absurd wäre wie bei einem Erdbeben. Das Bewusstsein, dass eine neutrale Haltung das eigene Schicksal nicht zu ändern vermag, verhindert seinerseits die Verwandlung dieser Stimmung in rationale Politik, so dass sich diese an sich schon äußerst irrationale Atmosphäre noch verschlimmert.“ Ebd., S. 27. 27 Theodor Heuss: Die großen Reden. Der Staatsman, München: DTV 1965, S. 86.
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schen Frauen scheiden zu lassen oder die Universität zu verlassen, gab 1937 Karl Jaspers, Ehemann der deutschen Jüdin Gertrud Mayer, seine Professur auf und flüchtete in die Schweiz, nach Basel, wo ihm gleich ein Lehrstuhl angeboten wurde. Karl Jaspers kehrte acht Jahre später nach Deutschland zurück und hielt 1946 an der Universität in Heidelberg eine Reihe von Vorlesungen über die „Schuldfrage“, geprägt von einer einzigartigen epistemologischen und analytischen Radikalität und im Wesentlichen auf dem lapidaren Sinnspruch aufbauend: „Dass ich noch lebe, ist meine Schuld“.28 Jaspers’ Text erhielt zunächst keine große Resonanz, er führt uns aber hin zum Schwerpunkt des wesentlichen Komplexes des Kriegsendes und der Komplexität der Umgestaltung dessen Bedeutungen für die deutsche Gesellschaft. Hinter der Schuldfrage verbirgt sich nämlich nicht nur das Definitionsproblem einer Schuld, sondern viel mehr das seiner Verkörperung im Wechselspiel zwischen Individuen, Gesellschaft und historischen Prozessen. Von welcher Schuld spricht überhaupt Jaspers? In seiner Analyse, in der Kants Einfluss deutlich zu spüren ist, nennt er vier Hauptschuldbegriffe. Die „kriminelle Schuld“, die sich auf gesetzwidrige Handlungen bezieht, welche objektiv bewiesen werden können: Die Kompetenz liegt in diesem Falle beim Gericht, während die Anklage die einzelnen Individuen betrifft. Die „politische Schuld“: Sie betrifft Handlungen von Volksvertretern bezieht aber all jene mit ein, die Teil eines Staates sind, weil es „jedes Menschen Mitverantwortung [ist], wie er regiert wird“.29 Die „moralische Schuld“ stellt dagegen einen qualitativen Sprung von den Gerichten und der Zivilgesellschaft zum „Privaten“ dar, indem jede verübte Handlung zu sich selbst und zum „eigenen Gewissen“ rückführbar ist. Der letzte Schuldbegriff, die „metaphysische Schuld“, ist der problematischste, weil er an der grundlegenden Schwelle der Existenz des Anderen, also einer Gesellschaft liegt: Es gibt eine Solidarität zwischen Menschen als Menschen, welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt, insbesondere für Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen.
28 Jaspers: Die Schuldfrage. Zur politischen Haftung Deutschlands, S. 48. 29 Ebd., S. 16.
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Wenn ich nicht tue, was ich kann, um sie zu verhindern, so bin ich mitschuldig. Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabei gestanden bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig, die juristisch, politisch und moralisch nicht angemessen begreiflich ist. Dass ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich.30
Die Klarheit, mit der Jaspers diesen kritischen Zustand der deutschen Gesellschaft zu analysieren vermochte, ist sicherlich erstaunlich, vor allem wenn man sie mit den Inhalten der öffentlichen Äußerungen und Verkündungen der Zeit vergleicht.31 Die Unterscheidung zwischen einzelnen und öffentlichen Verbrechen und jenen moralischer und metaphysischer Art gewährt uns einen Überblick der tatsächlichen Situation des deutschen öffentlichen Lebens gleich nach Kriegsende: Wenn es aber möglich ist, die Konfrontation mit der Verantwortung bezüglich des ersten Schuldbegriffs historisch zu werten,32 so kam jenen Schuldbegriffen moralischer und vor allem metaphysischer Ordnung zumindest eine untergeordnete Rolle zu, da sie innerhalb immanenter und objektiver Diskurse verborgen und nicht materialisierbar blieben. Hier liegt die Kraft eines Traumas. Aufgrund seiner eigenen Natur transzendiert die metaphysische Schuld die historische Gegebenheit und verweist auf psychologische und intergenerationelle Verknüpfungen. Was mich an Jaspers Analyse jedoch beeindruckt, ist die theoretische Strenge, beziehungsweise die Idee einer unauflösbaren Schuldfrage, welche nicht ausschließlich vom „gewusst haben“ oder von den Taten selbst herrührt. Die wahre Schuld ist eben metaphysischer Natur, da sie auf das Problem einer kollektiven Verantwortung verweist, die deshalb das Ausmaß der individuellen Schuld übersteigt, da es eine „Schuld ist [...], nicht zu wissen, was ich wissen könnte, sofern für den Bereich meines Tuns dieses Wissen
30 Ebd., S. 17-18. 31 „Was Jaspers in den frühen Nachkriegsjahren ‚mit unvergleichlich einfacher Kühnheit‘ zur Schuld der Deutschen sagte, war damals alles andere als selbstverständlich, denn öffentliche Schuldeingeständnisse waren zunächst rar gesät“; Ralf Kadereit: Karl Jaspers und die Bundesrepublik Deutschland. Politische Gedanken eines Philosophen, Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöning 1999, S. 21. 32 Frei: Vergangenheitspolitik, S. 13-17.
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wesentlich ist. In allem Handeln ist eine Schuld des Nichtswissens dessen, was zu wissen möglich war“.33 Was Jaspers bereits damals verstanden hatte, ist, dass der einzig beschreibbare Weg, um das durch die Niederlage und seine Folgen entstandene historische Defizit nachzuholen, die volle Konfrontation mit diesem metaphysischen Kern war: In ihm lag in bestimmter Weise nicht nur die Frage der Schuld, sondern auch die einer für die deutsche Kultur unentbehrlichen Selbst-Erkenntnis.34 Die metaphysische Schuld Jaspers’ Betrachtung ist durch eine radikale Zäsur geprägt: Einerseits räumt er die Möglichkeit ein, individuelle und politische Schuld durch die Ausübung positiven Rechts bewerten zu können, andererseits weist er auf die Unermesslichkeit einer moralischen und metaphysischen Schuld hin. Hinter diesem Paradox verbirgt sich jedoch auch noch die Frage, wem die Bewertung der unermesslichen Schuld wohl zustehe. Gleich nach Ende des Krieges besaß noch keiner ein klares Bild der Anzahl und Art der Kategorien von Opfern, von denjenigen also, die direkt von einem Schuld/Strafe Mechanismus betroffen worden waren. In Wahrheit war das, was wir heute den Holocaust nennen, noch nicht in der derzeitigen Form auf der politischen und kulturellen Ebene erschienen ausgeprägt sein. Was die jüdische Frage betrifft, die sich rückblickend und in Hinblick auf eine Rekonstruktion der Verfolgungen als eine, die sich am schwerwiegendsten erweist, kann folgende Tatsache als bestätigt betrachtet werden: „Insgesamt zeigen die zeitgenössischen Quellen, dass die Er-
33 Karl Jaspers: Von der Wahrheit, München: Piper 1947, S. 532. 34 „Jaspers knew the national identity – The German's collective sense of themselves – had been shattered and that if they were to act purposively and effectively in the future, they would have to rebuild their collective identity on a redefined relationship to the past. It was thus crucial to initiate an honest critique of the German tradition.“ W. Mark Clark: „A Prophet without Honour. Karl Jaspers in Germany“, in: Journal of Contemporary History, no. 37 2002, S. 201.
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mordung der Juden zwar immer deutlicher abzusehen war, jedoch lange unvorstellbar blieb“.35 Diese Problematizität der Wahrnehmung des Ausmaßes der Verfolgungen war hauptsächlich durch die Tatsache gegeben, dass die überlebenden Opfer, wie letztendlich auch deren Peiniger, während der ersten Monate und Jahre der Nachkriegszeit sich in gewissem Sinne auf der Suche nach einer möglichen Existenz befanden, um mit der jüngsten Vergangenheit zu brechen.36 Jaspers’ „Schuldfrage“ legitimierte sich in gewisser Weise in einem Kontext relativer Apathie und Distanz: Wer hätte im Jahr 1946 nämlich darüber hinaus dazwischen treten und dessen Thesen gar bestreiten oder kritisieren können? Vor allem in Hinblick darauf, dass im 1946 die Alliierten die Kontrolle über fast alle öffentlichen Medien hatten und deshalb nur eine beschränkte Anzahl derer, die sich in Kriegszeiten in eine Position zwischen Opportunismus und Schweigen begeben hatten, sich äußern durfte).37 Diese Tatsache gibt uns zu denken, dass hinter Jaspers’ Betrachtung komplexere Aspekte erfasst werden können, die vor allem an die Struktur
35 „Dass vor dem Beginn des Genozids an den europäischen Juden nur wenige Menschen eine solche Eskalation der Gewalt für möglich hielten, steht außer Frage. Daran lassen die zeitgenössischen Quellen keinen Zweifel. Es gab allerdings Symptome, die auf die Möglichkeit eines Genozides hinwiesen. Doch sie wurden ausgeblendet, verdrängt oder übersehen.“ Dörner: Die Deutschen und der Holocaust, S. 24. 36 „Viele Überlebende waren zunächst vor allem damit beschäftigt, ihre materielle Versorgung zu sichern, sich eine neue Existenz aufzubauen, wieder zu Kräften zu kommen, Ausbildungen nachzuholen. Andere engagierten sich umgehend in Parteien, Behörden oder Gemeinden, sie waren politisch und gesellschaftlich höchst aktiv, äußerten sich aber nicht (oder nur zu bestimmten Anlässen) als Verfolgte.“ Fritz Bauer Institut (Hg.): Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt a/M/New York: Campus 2008, S. 9. 37 „Wer sich 1945/1946 in Deutschland politisch zu Wort meldete, gehörte zu demjenigen Teil der deutschen Eliten, der zwölf Jahre hindurch entweder nur sehr partiell akklamiert oder aber geschwiegen oder sich so vorsichtig geäußert hätte, dass er überleben konnte; nur ein geringer Teil kam aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern oder aus der Emigration.“ Ebd., S. 15.
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selbst eines „Schuldgefühls“ gebunden sind. Jaspers’ Text ist in dieser Hinsicht ziemlich problematisch, da er nicht so sehr die Gründe erforscht, die hinter der Schuld liegen, sondern eher über deren Folgen, wie etwa im Zusammenhang mit dem Imperativ der Konstruktion eines wiedergeborenen Gemeinschafts- oder Verantwortungssinnes, der „einzelne Bürger zu Diensten einer neuen Kollektivität“ stellt.38 Dieser so starke Bürgersinn wurde nicht aus Zufall auch von Freunden und Kollegen Jaspers kritisiert und scheint seiner Betrachtung eine Grenze aufzuzeigen:39 Jaspers war vielleicht nicht bereit, sich mit einem eher untergründigen Aspekt zu konfrontieren, sprich jenem des Ursprungs dieses Schuldigkeitsgefühls. Woher genau rührt das Schuldgefühl im Nachkriegsdeutschland, das er als „metaphysisch“ bezeichnet? Die Frage ist legitim, da sie, wie Jaspers selbst zu ahnen schien, in einer engen Beziehung zum Deutschsein – zur Geschichte des Volkes selbst – stand.40 Das Trauma, als Vorahnung des
38 „Die Selbstdurchhellung als Volk in geschichtlicher Besinnung und die persönliche Selbstdurchhellung des Einzelnen scheint zweierlei. Doch geschieht das erstere nur auf dem Wege über das zweite. Was einzelne miteinander in Kommunikation vollziehen, kann, wenn es wahr ist, zum verbreiteten Bewusstsein vieler werden und gilt dann als Selbstbewusstsein eines Volkes“; Jaspers: Die Schuldfrage, S. 70. 39 Das Missverständnis mit dem Kollegen Ernst Robert Curtius ist in diesem Sinn bemerkenswert: „Illustrating that he had not, in fact, read The Question of German Guilt, Curtius wrote that Jaspers 'had proven our collective guilt so clearly that we can now only live with a bad conscience. A Wilhelm von Humboldt of our time, he gave the correct lines for the German universities, until he turned his back on them.” Clark: „A Prophet without Honour. Karl Jaspers in Germany“, S. 217. 40 „So fühlt der Deutsche – d.h. der deutsch sprechende Mensch – sich mitbetroffen vor allem, was aus dem Deutschen erwächst. Nicht die Haftung des Staatsangehörigen, sondern die Mitbetroffenheit als zum deutschen geistigen und seelischen Leben gehörender Mensch, der ich mit den andern gleicher Sprache, gleicher Herkunft, gleichen Schicksals bin, wird hier Grunde nicht einer greifbaren Schuld, aber eines Analogons Mitschuld. Wir fühlen uns weiter beteiligt nicht nur an dem, was gegenwärtig getan wird, als mitschuldig am Tun der Zeitgenossen, sondern auch an dem Zusammenhang der Überlieferung. Wir müssen übernehmen die Schuld der Väter“; Jaspers: Die Schuldfrage, S. 53.
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Hervortretens einer Schuld, war nicht nur mit der Niederlage, den Kriegsfolgen, der Besetzung in Verbindung zu bringen, sondern auch und vor allem mit der Präsenz eines tief greifenden Traumas, das später in den sechziger Jahren durch einen in gewisser Weise grundlegenden Text von Alexander und Margarete Mitscherlich herausgearbeitet wurde. Schuld, Trauma, Geschichte In Alexander und Margarete Mitscherlichs Text, Die Unfähigkeit zu trauern, versuchen die Autoren innerhalb einer Betrachtung der kollektiven Psychologie das anzugehen, was ihrer Meinung nach das kollektive Paradigma der deutschen Geschichte der Nachkriegszeit darstellt. Ihre Analyse entwickelt sich entlang grundlegender Punkte und wird durch das enge Verhältnis zwischen psychologischer und historischer Betrachtung geprägt. a) Gemäß der freudschen Analyse des Ich-Ideals41 wird der Prozess der Durchsetzung und Implementierung des Herrschaftssystem der Nationalsozialisten als ein intensiver Akt der Verliebtheit gesehen, dank dem Hitler zu einem kollektiven Ideal erhoben wurde.42 Dieser Prozess, Hitler mit einem charismatischen Ideal gleichzusetzen, hat in Wirklichkeit die politische und soziale Funktion der Auseinandersetzung mit vorhergehenden, zentralen Aspekten der deutschen Geschichte – unter anderem mit dem Hass gegen die Generation der „versagenden“ Väter im Ersten Weltkrieg – durch den Hass gegenüber dem zu verfolgenden Anderen („dem Juden“, „dem Schwulen“, „dem Zigeuner“, „dem politischen Gegner“) sublimiert.43 Diese
41 Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, München: Fischer 1991. 42 „Die Wahl Hitler zum Liebesobjekt erfolgte also auf narzisstischer Grundlage, dass heißt auf der Grundlage der Selbstliebe.“ Mitscherlich/Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 75-76. 43 „Von Beginn der Nazibewegung an war es dem kritischen Beobachter klar, dass sich hier im allgemeinen ein Ausagieren eines ungewöhnlich ambivalenten Verhältnisses zur Vater-Autorität anbahnte. [...] Es gehörte zur politischen Taktik der Nazis, dem Hass gegen die älteren hergebrachten Autoritäten bis in die Kind-Eltern-Beziehung hinein nachzugeben. [...] In diesem seelischen Erregungszustand kam es dann auch zur hemmungslosen Verfolgung der Juden, die bisher als so starke Rivalen empfunden worden waren und sich deshalb zu einer
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kollektive Verliebtheit wird mit totaler Blindheit bis zu den extremen Konsequenzen gebracht, sprich bis zum Untergang, zum Tod und zum Verlust des geliebten Objekts.44 b) Hitlers Tod und das Ende des Nationalsozialismus hat also den Untergang eines Prinzips kollektiver, totemistischer Identifikation herbeigeführt, der aus psychologischer Sicht die Abwendung von der totemistischen Struktur und die totale Externalisierung des symbolischen Referenzmodells bewirkt. Allerdings ruft sie, aus individuellerer Sicht betrachtet, auch eine Krise der Libido, des Verlangens hervor – eine Identifikationskrise, die mit dem Untergang des kollektiven Ego zusammentrifft.45 c) Das Entfallen des Objekts der Identifikation und des Verlangens zieht einen melancholischen Prozess mit sich, der schließlich ins paradoxe, unvollendete Bedürfnis mündet, den Verlust des Objekts der Begierde zu verarbeiten. Die Unfähigkeit zu trauern würde also auf den Hauptkern der kollektiven deutschen Geschichte der Nachkriegszeit hindeuten.46 Dieser von den Mitscherlichs beschriebene Mechanismus ist deutlich durch das freudsche Modell beeinflusst und in einer gewissen Weise methodologisch eingegrenzt. Wenn es stimmt, dass er für die „nationale kollektive Generation der Hitleranhänger“ (Mitscherlich) gelten kann, muss
Verschiebung der dem Vater geltenden Rivalitätsaggression anboten.“ Ebd., S. 61-62. 44 „Die Redewendung ‚Liebe macht blind‘ hebt das charakteristische Moment der Realitätsvergessenheit narzisstischer Objektwahl hervor. Alles, was das vergotete Objekt, der Führer, befiehlt, wird ipso facto zur Wahrheit, zum Gesetz: Das Gewissen findet keine Anwendung auf alles, was zu Gunsten des Objektes geschieht; in der Liebesverblendung wird man reuelos zum Verbrecher. Die ganze Situation lässt sich restlos in eine Formel zusammenfassen: das Objekt hat sich an die Stelle eines Ich-Ideals gesetzt.“ Ebd., S. 76. 45 „Wir können jetzt also zusammenfassend formulieren: die Unfähigkeit zur Trauer um den erlittenen Verlust des Führers ist das Ergebnis einer intensiven Abwehr von Schuld, Scham und Angst; sie gelingt durch den Rückzug bisher starker libidinöser Besetzungen. Die Nazivergangenheit wird derealisiert, entwirklicht. Als Anlass zur Trauer wirkt übrigens nicht nur der Tod Adolf Hitlers als realer Person, sondern vor allem das Erlöschen seiner Repräsentanz als kollektives Ich-Ideal.“ Ebd., S. 34. 46 Ebd., S. 86-87.
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gleichzeitig gesagt werden, dass er nichts mit all denen zu tun hat, die dieser Kultur nicht angehörten oder die nach der Zeit des Nationalsozialismus geboren wurden.47 In dieser Hinsicht geht es mir hier nicht darum, die Spur einer irgendwie „nie gelösten ursprünglichen Schuld des deutschen Geistes“ zu verfolgen. Was mich hier interessiert, ist das Moment der Niederschrift, des Hervortretens und der Wiederholung des Traumas. Könnte etwa dieser psychoanalytische Prozess in eine bestimmte politische Sprache übertragen worden sein? Dürfte er sich in eine Art des Umgangs mit den Fragen historisch-politischer Ordnung der deutschen Kultur umgestaltet haben? Könnte es hier um die Unfähigkeit gehen, diesem Problem in seiner ganzen Radikalität zu begegnen? Und hat sich womöglich diese Unfähigkeit im ständigen Vervielfältigen und wiederholten Hervortreten des Traumas reproduzieren können (bis hin zu seiner Stigmatisierung)? Um diese rhetorischen Fragen herum kreist ein Großteil der philosophischen, historischen, zeitgenössischen Literatur, meistens mit dem Zweck, den Ort der Konstituierung eines historischen Gedenkens nach Auschwitz auszumachen, über ihre Beschränkung auf die deutsche Geschichte hinaus. Diese Frage muss ja nicht nur in Bezug auf den postmodernen, den postnationalistischen, den posthistoristischen und den posttheologischen Diskurs verstanden werden. Sie betrifft schließlich überwiegend die historische Gegenwart nach dem Holocaust – das heißt die Art, wie unsere Zeit kollektiv wahrgenommen wird. Dominick LaCapra hat den Kern dieser Frage auf sehr wirkungsvolle Weise dargelegt: My basic premise in this paper is that the fundamental concepts of psychoanalysis (such as transference, resistance, denial, repression, acting-out and working-through) undercat the binary opposition between the individual and society and that their application to individual or collective phenomena is a matter of informed argument
47 „Tatsächlich lässt sich die These von einem generationell übergreifend angelegten kollektiven Schuldempfinden der Deutschen rational nicht begründen. Zudem stellen sich weitere, nicht von der Hand zu weisende Einwände ein. So wird zu bedenken gegeben, bei einer Akzeptanz eines derartigen, kollektiv geltenden Phänomens werde die Vorstellung von der Autonomie des Individuums als Träger von Freiheit, Verantwortung sowie von Moral preisgegeben“; Diner: „Über Schuldkrise und andere Narrative“, S. 64.
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and research. […] Such concepts refer to process that always involve mode of interaction, mutual reinforcement, conflict, censorship, orientation toward others, and so forth, and their relative individual or collective status should not be prejudged.48
Für Dominick LaCapra geht es also um die Konfrontation mit den tragenden Grundsätzen oder Bestandteilen der Beziehung zwischen Individuen als Teil eines „sozialen Ganzen“ und deren Vergangenheit, die traumatisch wieder hervortritt.49 Im Mittelpunkt der wenngleich beschränkten Analyse Mitscherlichs steht genau die problematische Beziehung zwischen Individuen und Gesellschaft, die später durch die Politik und verschiedene Formen kollektiven Gedenkens in die Tat umgesetzt und geäußert wurde: Wie bildet sich der Bezug zwischen kollektiver Memoralisierung und dem Subjekt? Wo kann eine gemeinsame, geschichtliche Erfahrung von Subjekten verortet werden, die einer selben sozialen Gruppe angehören? Den Kern dieser Beziehung macht gerade der Sinn für die Gegenwärtigkeit aus: Die Überprüfung der Modalität dieser „Auslegung“, „Überarbeitung“ oder dieses „Hervortretens“ einer fortdauernden Vergangenheit wird zum Leitfaden dieser Arbeit.
48 LaCapra, „Revisiting the Historians’ Debate“, S. 80-81. 49 „In acting-out one has a mimetic relation to the past which is represented or relived as if it were fully present rather than represented in memory and inscription. In psychoanalytic terms, the acted-out past is incorporated rather than introjected, and it returns as the repressed. Mourning involves introjection through a relation to the past that recognizes its difference from the present and enacts a specific performative relation to it that simultaneously remembers and takes leave of it, thereby allowing for critical judgment and a reinvestment in life, notably social life with it demands, responsibilities, and norms requiring respectful recognition and consideration for others.“ Ebd., S. 81-82. Siehe auch Liebsch/ Rüsen: Trauer und Geschichte; Rüsen/Straub: Die dunkle Spur der Vergangenheit.
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S TIGMA Der Eichmann-Prozess Am 15. April 1961 wurde im Bezirksgericht von Jerusalem der Prozess gegen den Obersturmbannführer Adolf Eichmann eröffnet. Adolf Eichmann war ein Jahr zuvor in Buenos Aires von einem Mossad-Kommando festgenommen worden. Am 29. Mai 1962 endet der Prozess mit einer Bestätigung des Todesurteils in zweiter Instanz. „Das Gnadengesuch wurde am 31. Mai 1962 abgelehnt, Adolf Eichmann um Mitternacht durch den Strang hingerichtet und seine Asche über dem Mittelmeer verstreut. Eichmann erkannte den Schuldspruch nicht an. Bis zuletzt zeigte er keine Reue.50 Dieser Prozess stellt, wie es Annette Wieviorka formuliert, „einen Wendepunkt in der Historiographie des Völkermordes an den Juden“51 dar. Ich richte hier mein Augenmerk auf zwei konstituierende Aspekte des Verfahrens, die zur Definition eines schleichenden Stigmatisierungsprozesses der Verbrechen des Nationalsozialismus führen: a) Der erste Aspekt betrifft die Struktur des Prozesses: Im Falle Adolf Eichmanns handelte es sich nicht um einen normalen Prozess, der sich bloß innerhalb eines Mechanismus von Anklage und Verteidigung strukturierte. Selbst in den Worten des Staatsanwalts Gideon Hausner war er als Imperativ gedacht, damit „die Welt zu ihrem eigenen Besten und mit so vielen Einzelheiten wie irgend möglich an die gigantische menschliche Tragödie erinnert wurde, die unauslöschlicher Teil dieses Jahrhunderts der unbegrenzten Möglichkeiten für Gut und Böse ist […] Kurzum, es überstieg die Menschenkräfte, das Unheil auf eine solche Weise darzulegen, dass es den sechs Millionen persönlicher Einzeltragödien gerecht wurde“.52
50 Haus der Wannsee Konferenz (Hg.): „Der Prozess – Adolf Eichmann vor Gericht“, S. 211. 51 „Mit ihm begann eine neue Phase des Erinnerns. Dieser Prozess, das ‚Nürnberg des jüdischen Volkes‘ , wie David Ben Gurion ihn nannte, machte den Völkermord zum eigenständigen Geschehen innerhalb des Zweiten Weltkrieges und schrieb ihn so in die Geschichte ein. Zugleich markierte er den Beginn der Ära des Zeugen, die bis Heute andauert“; Annette Wieviorka: „Die Ära des Zeugen“, in: ebd., S. 23. 52 Hausner: Gerechtigkeit in Jerusalem, S. 445.
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Zu dieser Absicht kam die des israelischen Präsidenten Ben Gurion selbst hinzu, und zwar das Bedürfnis, den Prozess im Rahmen der internationalen Diplomatie geschickt zu führen.53 b) Der zweite Aspekt betrifft die Inhalte des Prozesses, seine interne Struktur, in gewisser Hinsicht den Sinn seiner Narration. Welche Inhalte wurden während des Eichmann-Prozesses tatsächlich hervorgebracht? Wenn man ihn recht betrachtet, stellte der Eichmann-Prozess nicht allein den Prozess gegen einen Nazi-Verbrecher dar, sondern vor allem, in erweitertem Sinne, den Prozess gegen den deutschen Täter als solchen. Der Eichmann-Prozess sollte das System der Deportation und Massenkonzentration, das zur Zerstörung der europäischen jüdischen Kultur geführt hatte, in seiner Komplexität verdeutlichen.54 Die Möglichkeit, diesen Prozess um Eichmann als Schlüsselfigur herum zu konstruieren – den wahrhaftigen Leiter des Berliner Amtes IV B 4 – ließ dieses Ziel erreichen. Aus der heutigen Perspektive muss jedoch erkannt werden, dass diese Operation der Absolutisierung einer individuellen Erfahrung (wenn auch in Verbindung mit Eigenverantwortung) einen einzigartigen hermeneutischen Bruch erzeugt hat, nämlich die Möglichkeit, dass ein einzelnes Subjekt für ein Ereignis erheblichen Ausmaßes verantwortlich sein kann, das, von einem logischen Gesichtspunkt aus betrachtet, dessen reale Fähigkeiten transzendiert. Hinter diesem Aspekt der Verantwortung Eichmanns verbirgt sich die Diskussion zwischen einem konstruktivistischen und einem intentionalisti-
53 „In der Gestaltung seiner Vision wurde Hausner von David Ben Gurion unterstützt, der die Gefährdung des jüdischen Volkes in der Zeit vor der Existenz eines jüdischen Staates herausstellen und den unermesslichen Wert der jüdischen Souveränität aufzeigen wollte.“ David Cesarani: „Der Prozess gegen Adolf Eichmann“, in: ebd., S. 11-12. Siehe auch Peter Krause: Der Eichmann Prozess in der deutschen Presse, Frankfurt/New York: Campus 2002, S. 74-89. 54 „Hausner hatte mit dem Prozess Größeres vor: Der Fall sollte jede Phase und jeden Aspekt der Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945 dokumentieren. Das Beweismaterial sollte jede Gräueltat, jedes Konzentrationslager, jede Stätte des Massenmordes umfassen.“ Cesarani: „Der Prozess gegen Adolf Eichmann“, S. 11.
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schen Standpunkt,55 vor allem jedoch ein Kernpunkt der Gegenwärtigkeit, der, mehr noch als mit der Mechanisierung und Entfremdung der Subjekte,56 mit der repräsentativen Kraft des als einzigen Verantwortlichen kollektiver Schuld zur Schau gestellten Menschen zu tun hat. Dieser Mechanismus hat auf mehreren Ebenen und auch international die Stigmatisierung der deutschen Kultur bewirkt und deren Kristallisierung als Idee einer Kultur, die an das destruktive Prinzip des Nationalsozialismus innigst gebunden ist.57 Diese Universalisierung der evokativen Kraft der nationalsozialis-
55 Die Debatte ist breit, aber notwendig ist das Buch von Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen: Wallstein 2003, S. 502-661. „Der intentionale Erklärungsansatz betonte ganz allgemein das Moment der Aktivität, der personalen Freiheit des menschlichen Handelns und die Möglichkeiten der individuellen Entscheidung. Der strukturalistische Ansatz argumentiert hingegen stärker deterministisch, indem er die vorgegebenen Strukturen und ihre nicht dem historischen Subjekt unterliegenden Zwänge hervorhob.“ Ebd., S. 512. Vgl. auch Jan P. Reemtsma: „Charisma und Terror. Gedanken zum Verhältnis intentionalistischer und funktionalistischer Deutungen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik“ in: Symposium über den Zusammenhang von KZ-System und Vernichtungspolitik als Problem von Historiographie und Erinnerung, Weimar: Fritz Bauer Institut 1994; Dan Diner: „Struktur ist Intention“, in: Norbert Frei (Hg.): Der Staat Hitler und die Historisierung des Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein 2007; Hans-Ulrich Wehler: „Intentionalisten, Strukturalisten und das Theorie Defizit der Zeitgeschichte“, in: Norbert Frei (Hg.): Martin Broszat, der ,Staat Hitlers‘ und die Historisierung des Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein 2007; Ian Kershaw: „Soziale Motivation und Führer Bindung im Staat Hitlers“, in: Norbert Frei (Hg.), Martin Broszat, der ,Staat Hitlers‘ und die Historisierung des Nationalsozialismus, Weimar: Wallstein 2007. 56 „Das bürokratische System von Autorität versucht also nicht, wie man vielfach meint, moralische Normen zu zerstören, weil diese irrationale, affektbelastete Störfaktoren für die nüchterne, kühl-rationale Effizienz wären – die Bürokratie vereinnahmt die Moral mit dem doppelten Ergebnis, Funktionalität zu moralisieren und alles, was nicht funktional ist, als moralisch irrelevant hinzustellen.“ Bauman: Dialektik der Ordnung, S. 175. 57 „Der Eichmann-Prozess“, so hat Norbert Elias einmal angemerkt, „habe ‚für einen Moment den Vorhang gelüftet der die dunklere Seite zivilisierter Menschen
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tischen Gewalt innerhalb einer Zurschaustellung und individualisierten Repräsentation des Kriegsverbrechers Eichmanns, wie auch des unter dessen Glasglocke gefangenen Menschen Adolf Eichmann, bringt ein Symbol hervor, das ich – den Worten Dirk a. Moses folgend – in diesem Kontext als Stigma bezeichnen werde.58 Der Eichmann-Prozess war ein medienwirksamer Vorgang, der sich in der westlichen Welt, vor allem aufgrund des historisch-politischen Dilemmas, das die Figur des Verurteilten verkörperte, eingebrannt hat. Die Zurschaustellung Adolf Eichmanns stellt einen sowohl hermeneutischen als auch ästhetischen Grenzbereich dar, insofern sie die Erfahrung und die Existenz eines Einzelnen mit der allgemeinen Dimension einer historischen Phase näher bringt und verknüpft. Dieses Zusammentreffen stellt den Kern der erklärenden Kraft des Holocausts dar, in dem sich einzelne Erfahrungen in epochalen Formen verabsolutieren und in dem Makro- und Mikrogeschichte zur Übereinstimmung neigen. Die Holocaust-Serie Die Fernsehserie Holocaust wird in der Fachliteratur hier mit mehr als einem Titel hin als erste große Fernsehproduktion zum Thema der antijüdischen Verfolgung und Vernichtung bezeichnet und „zu der Zeit wurde oft bemerkt, dass in diesen vier Nächten mehr Informationen über den Holo-
zu verdecken pflegt‘. Und er hatte angefügt: ‚Sehen wir hin‘“; Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, S. 500. Um sich mit der Verbreitung des Prozesses innerhalb und außerhalb Deutschland zu beschäftigen vgl. Krause: Der Eichmann Prozess in der deutschen Presse; Haim Gouri: Facing the Glass Booth: The Jerusalem Trial of Adolf Eichmann, Detroit: Wayne State University Press 2004. 58 „For this reason, it is useful to think of postwar German memory in terms of stigma. In its Greek origins, stigma meant a bodily sign of inferior social status, a brand on a criminal or outcast. It is logically and causally prior to pollution because the stigmatized group self pollutes its members' generations after the crime. As the sociologist Erving Goffmann observed, „tribal stigma of race, nation and religion... can be transmitted through lineage and equally contaminate all members of a family.“ Moses: „Stigma and Sacrifice in the Federal Republic of Germany“, S. 149.
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caust einer größeren Anzahl von Amerikanern übermittelt wurden als im Laufe der vorherigen dreißig Jahre“.59 Es wird die Geschichte der deutschjüdischen Familie Weiss erzählt, von den zwanziger Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Gleich nach der Erstausstrahlung wurde die Serie sehr stark kritisiert, vor allem im Hinblick auf das von Elie Wiesel hervorgehobene Problem, das er in einem Artikel beschrieb, der in der New York Times unter dem Titel Trivializing the Holocaust: Semi-Fact and SemiFiction (Die Trivialisierung des Holocaust: Halb Faktum und halb Fiktion) erschien.60 Für Elie Wiesel beging die Fernsehserie den grundsätzlichen Fehler, eine Art Classic Realism anzuwenden: nach der Meinung des amerikanischen Intellektuellen versuchte der Film erfolglos, ganz in der Tradition des Realismus, die Ereignisse genauso wiederzugeben, wie sie vorgefallen waren, aber, so Wiesel, „wer jetzt meint, er wisse nunmehr, wie die Opfer lebten und starben, täuscht sich“. Der Vorwurf war grundsätzlich an die Idee gebunden, dass, wie Wiesel fortfährt, „man mir entgegenhalten wird, dass ähnliche Techniken für Kriegsfilme und historische Darstellungen benutzt werden. Aber der Holocaust ist einzigartig, kein Ereignis unter vielen“. Ein Artikel von Andreas Huyssen enthielt dagegen ein artikuliertes Plädoyer für die Fernsehserie: Seiner Meinung nach ermöglichte Holocaust eine positive Beteiligung und ein Sich-Einfühlen des einzelnen Zuschauers in die Erfahrung der Hauptfiguren des Films, der Mitglieder der Familie Weiss und durch sie in die Perspektive der Opfer der Vernichtung durch die Nazis. Mit seiner Analyse erfasste Huyssen in gewisser Weise Rolle und Bedeutung der Fernsehserie, die genau darin lag, eine erste Darstellung der traumatischen Erfahrungen der Verfolgung darzubieten. Die Fernsehserie Holocaust bestand jedoch nicht nur aus einer romanhaften Version der Erfahrungen aus der Verfolgung, sondern auch aus einer detaillierten, narrativen Struktur, die auf einem historiografischen Kanon aufbaut, der
59 „Ohne Zweifel war die wichtigste Phase für das Eindringen des Holocaust in das allgemeine amerikanische Bewusstsein die Sendung im April 1978. Nahe zu 100 Millionen Amerikaner sahen die gesamten neuneinhalb Stunden der vierteiligen Sendereihe.“ Peter Novick: Nach dem Holocaust, München/Stuttgart: Verlags-Anstalt 2001, S. 270. 60 Elie Wiesel, „Trivializing the Holocaust: Semi-Fact and Semi-Fiction“, New York Times 16.04.1978.
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sich in jenen Jahren gerade festigte.61 Nach Huyssens Meinung beeinflusste die Serie Holocaust die deutsche Öffentlichkeit entscheidend und zwang sie dazu, zu „rethink certain aesthetic and political notions mostly concerned with Brechtian theater and its politics on the one hand and Frankfurt School avantgarde aesthetics on the other“.62 Der Kern dieser Filmproduktion bestand für Huyssen in der Fähigkeit, Geschichten einzelner Individuen in einem strukturierten Rahmen der Ereignisse zusammen zu bringen: In gewisser Weise stellte dies eine Befreiung aus dem brechtschen Paradigma dar, das „rather than mirroring historical reality by way of individualizations, attempts to represent reality as a network of relations and presents individuas in terms of their function only“ s.o.63 Huyssen Untersuchung erfasst auf eine bestimmte Weise den kulturellen Übergang zu einer Internationalisierung der historischen Vorstellungswelten, der sich in den siebziger Jahren vollzog. Diese Revolution war nicht nur Ergebnis einer progressiven Mediatisierung und Verbreitung der Informationsträger, sondern sie entstand sicherlich auch aus dem Bedürfnis heraus, eine neue Art von Sensibilität und Narration der Beziehung zwischen einzelnen Individuen und kollektiven Veränderungen zu gestalten.64 Das innovative Potenzial der großen amerikanischen Produktionen, die auf der medialen Bühne der Zeit erscheinen, liegt in der Möglichkeit, durch einzelne Geschichten allgemeine Aspekte zu erzählen, und zwar nicht innerhalb der klassischen Kanons der Literatur, sondern durch Mittel, die eine viel höhere Wirksamkeit mit viel größeren Produktionsmöglichkeiten entfalten. Durch die Serie Holocaust gelang es, den Mechanismus in Gang zu bringen, der im Kern bereits den Eichmann-Prozess bestimmte, und zwar durch die Kristallisierung und Universalisierung der Geschichte einer ein-
61 Andreas Huyssen: „The Politics of Identification: ‚Holocaust‘ And West German Drama“, in: New German Critique 19 (1980), S. 4-5. 62 Ebd., S. 122. 63 Ebd., S. 124. 64 „The model of the 18th- and 19th- century historical drama lost its viability after 1945. Its humanistic optimism and belief in historical progress as wall as its dramaturgy glorifying the great individual as the vehicle of history already had been proven obsolete in expressionist drama.“ Ebd., S. 21.
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zelnen jüdischen Familie, in der sich eine umfassende und allgemeingültige Geschichte spiegelt, nämlich die der Verfolgung der Juden Europas. Die Familie Weiss verkörpert die Idee des Opfers, sie erweckt durch einen natürlichen Mechanismus der Beteiligung das Mit-Gefühl der Zuschauer, das Bedürfnis, sich irgendwie am Geschehen zu beteiligen. Aus diesem Grund hat Peter Märthesheimer nicht nur die mediale Bedeutung der Produktion hervorgehoben, sondern vor allem die psychologische und kollektive Bedeutung, durch die Serie endlich die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verarbeiten, in einem Mechanismus der tiefen Einbeziehung und der Beteiligung an „der besonderen Situation unseres Landes, unserer besonderen Geschichte, unseres Bewusstsein – und unseres Unterbewusstsein.“65 Was in den erzählenden Rahmen des Holocausts eingefügt wurde, war aber nicht allein die Figur des Opfers, sondern auch die des Täters: Unter diesem Gesichtspunkt hat man beim Betrachten der Fernsehserie fast das Gefühl, in einen Strudel hineingerissen zu werden, der einen stetig von der Position des Opfers zu der des Täters hin und her schwanken lässt, was eine Kristallisierung bewirkt, die ich folgend Stigma nennen werde. Die amerikanische Fernsehproduktion legt eine bestimmte Stigmatisierung der deutschen Kultur und deren Bezug zum Nationalsozialismus fest und konstruiert dabei eine Art mediales Paradigma, in dem die Rolle des Täters nicht nur dem SS-Mann, sondern auch dem gesamten deutschen Kulturapparat bis hin zu den einfachen Mitläufern oder Zuschauern zugeteilt scheint: Diese Erzählstrategie, und das ist das eine Geheimnis der Wirkung von Holocaust auf uns, bringt uns auf die Seite der Opfer, lässt uns mit ihnen mitleiden und die Mörder fürchten und befreit uns so vor der unheimlichen, lähmenden jahrzehntelang unterdrückten Angst, wir seien in Wahrheit mit den Mördern im Bunde gewesen. Stattdessen erleben wir, wie in einem Psychodrama, in einem therapeutischen Experiment, jede Phase des Schreckens, der nicht nur den anderen angetan wird, sondern auch an uns selbst; wir spüren ihn, erleiden ihn – und können ihn so endlich im wahrsten Sinn des Wortes als unser eigenes Trauma auch bearbeiten. 66
65 Peter Märthesheimer/Ivo Frenzel: Im Kreuzfeuer: Der Fernsehfilm Holocaust. Eine Nation ist betroffen, Frankfurt a/M: Fischer 1979. In der Einleitung, S. 15. 66 Ebd., S. 17.
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Dem gleichen Zustand würde auch das Gefühl der Scham entspringen.67 Vom Gesichtspunkt der Geschichte der Populärkultur aus betrachtet, muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Fernsehserie Holocaust zu einer neuen Phase der kollektiven Kommunikation führt, in der die komplexen historischen Momente innerhalb leicht konsumierbarer Formen strukturiert und erzählt werden, die allerdings eine starke kommunikative Bedeutung innehaben. Der Prozess des Sicheinfühlens nimmt neue und tiefgründige Formen an, die dem historischen Diskurs Gestalt verleihen und ihn in seiner narrativen Kraft legitimieren.68 Wenn man überdies den Betrachtungen Märtesheimers folgt, begreift man wie die Zirkularität zwischen Identifikation und Wiedererkennung den Tragpfeiler der Projektion von Holocaust für die deutsche Kultur bildet: Er bewirkt einen starken mimetischen Prozess der Annäherung an das Opfer, der jedoch gleichzeitig eine Abwendung vom Täter bewirkt, also eine harte Konfrontation mit der eigenen Geschichte. Der „Fall Goldhagen“ stellt in dieser Hinsicht das Endergebnis dieses Stigmatisierungsprozesses dar.
67 „Emmanuel Lévinas hat 1935 eine exemplarische Analyse der Scham vorgelegt. Nach Auffassung des Philosophen entspringt die Scham nicht, wie nach der Lehre der Moralisten, dem Bewusstsein einer Unvollkommenheit oder eines Mangels unseres Seins, von denen wir uns distanzieren. Sie beruht im Gegenteil auf der Unfähigkeit unseres Seins, die Gemeinschaft mit sich aufzugeben, auf seinem absoluten Unvermögen, mit sich selbst zu brechen.“ Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 90. 68 „Es ist einfach phantastisch: da haben sich nun unsere Zeitgeschichtler, Journalisten und Filmemacher jahrelang bemüht, in Dokumentationen, Artikeln und Filmen den ganzen Horror des deutschen Jahrhundertverbrechens zu vermitteln – und doch muss erst ein Konsumfilm Hollywoods kommen, um die NachHitler-Deutschen aufzurütteln: kein anderer Film hat jemals den Leidensweg von Millionen Juden in die Gaskammern so anschaulich, so nachvollziehbar gemacht. Erst seit und dank ‚Holocaust‘ weiß eine größere Mehrheit der Nation, was sich hinter der schrecklichen und doch so nichtssagenden BürokratenFormel ‚Endlösung der Judenfrage‘ verbirgt. Sie weiß es, weil die USFilmemacher den Mut hatten, sich von dem lähmenden Lehrsatz freizumachen...: dass der Massenmord undarstellbar sei.“ Heinz Höhne: ‚Holocaust‘ in: Der Spiegel 29.01.1979, www.spiegel.de/spiegel/print/d-40350835.html.
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Die Goldhagen-Debatte Das Buch des amerikanischen Historikers Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers Willing Exexutioners (Hitlers willige Vollstrecker) wurde 1996 in deutscher Übersetzung herausgegeben. Zuvor hatte er aufgrund seines theoretischen Kerns, der in den fast 800 Seiten enthalten war, eine Debatte über die Idee ausgelöst, dass „nicht wirtschaftliche Not, nicht die Zwangsmittel eines totalitären Staates, nicht sozialpsychologisch wirksamer Druck, nicht unveränderliche psychische Neigungen, sondern die Vorstellungen, die in Deutschland seit Jahrzehnten über Juden vorherrschten, [...] ganz normale Deutsche dazu [brachten], unbewaffnete, hilflose jüdische Männer, Frauen und Kinder zu Tausenden systematisch und ohne Erbarmen zu töten“.69 Der „Fall Goldenhagen“ kann unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden; unter allen gilt es jedoch, zwei grundlegende Aspekte zu untersuchen: a) Der erste betrifft die Textstruktur und die narrative Kraft der allgemeinen Organisation der Kapitel: Goldhagen bietet eine intensive Analyse der Perspektive der nationalsozialistischen Täter. Von einer Untersuchung der psychologischen Motivationen des berüchtigten Reserve-Bataillons 101 ausgehend, der bereits von Christopher Browning untersucht worden war,70 versucht Goldhagen eine umfassende Perspektive zu konstruieren, indem er in individuelle Verhaltensformen, die zeitlich und örtlich präzise einordbar sind, ein allgemeingültiges Muster hineinliest, das er über die gesamte moderne deutsche Geschichte legt:71 „Wie unsere Untersuchung [...] ergeben hat, können, ja müssen die Schlussfolgerungen aus dem Handeln der Polizeibataillone und ihrer Angehörigen auf das deutsche Volk insgesamt über-
69 Goldhagen: Hitler willige Vollstrecker, S.22. 70 Vgl. Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung‘ in Polen, Hamburg: Rowohlt 1933, S. 11-22. 71 „Anders als Browning versuchte Goldhagen, seine Ergebnisse im Schritt von der Mikro- zur Makroebene zu verallgemeinern: da es sich bei den untersuchten Tätern um ein repräsentatives Sample von ‚ganz gewöhnlichen Deutschen‘ gehandelt habe, sei es in einem zweiten Schritt möglich, von ihnen auf die Einstellung und das potentielle Verhalten der anderen Deutschen zu schließen, die an ihrer Stelle stehend genau so gehandelt hätten.“ Fischer/Lorenz: Lexikon der ‚Vergangenheits-Bewältigung‘ in Deutschland, S. 295.
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tragen werden. Was diese ganz gewöhnlichen Deutschen taten, war auch von anderen ganz gewöhnlichen Deutschen zu erwarten.“72 Goldhagens Lesart stellt in gewisser Weise eine radikale – willentliche – Revision der Debatten der Holocaustforschung dar, im Hinblick auf eine intentionalistische Gesamtanalyse. Er behauptet darüber hinaus, es hätte eine präzise Intention hinter der Vernichtung der Juden Europas gegeben: Sie sei Gesamtergebnis einer Stimmung und eines kulturellen Zustands, der grundlegend für die deutsche Kultur der Modernität ist. Hinter dieser Idee Goldhagens verbirgt sich deutlich eine Form von Stigmatisierung der deutschen Kultur, die auch persönliche Begründung hat; ein Versuch, etwas zu verabsolutieren, das nicht verabsolutiert werden kann, nämlich eine Komplexität von Faktoren, welche die historische Tatsache des Holocausts selbst betreffen. Neben der Eröffnung einer größeren Debatte hat Goldhagens These jedoch offenkundig auch eine radikale Veränderung der Vorstellungswelt um den Holocaust herbeigeführt, die in gewisser Weise an einem Wendepunkt angelangt war. Diese Wende betrifft eine mediale und kulturelle Veränderung epochalen Ausmaßes, die sich seit dem Mauerfall entwickelt und sich später in den enormen Möglichkeiten des Zugangs zum Gedenken und dessen „Konsum“ spiegelt. b) Der zweite Aspekt ist methodologischer Ordnung und betrifft die kulturellen und sozialen Prämissen von Goldhagens Text. Wie Norbert Frei bereits bemerkt hat, muss Hitlers willige Vollstrecker in den Kontext eines „Zeitalters der Visualisierung“ gebracht werden. Goldhagens Buch erreichte „etwas, das in Deutschland noch kein historisches Werk erreicht hatte“,73 gerade weil in einer Zeit epochaler Veränderungen in der repräsentativen Funktion des Holocausts erschienen. Diese Kraft einer Geschichtsrepräsentation hatte sich seit der Erstausstrahlung von Holocaust bis zu Steven Spielbergs Film Schindler's List entwickelt. Was jedoch immer klarer aus Goldhagens Text hervorging, war die symbolische und hermeneutische Radikalität der historischen Erzählbarkeit des Holocausts, nicht nur aufgrund der evokativen Kraft der „Genozid-Mentalität“, sondern auch wegen der
72 Goldhagen: Hitler willige Vollstrecker, S. 471. 73 Norbert Frei: „Goldhagen, die Deutschen und die Historiker. Über die Räpresentation des Holocaust im Zeitalter der Visualisierung“, in: Martin Sabrow/ Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte, München: C.H. Beck 2003, S. 138.
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Idee, dass in der Spannung zwischen Opfer und Täter sich viel mehr als eine bloße Frage historiografischer Ordnung verberge.74 Goldhagens Text schlägt eine Bresche im Rahmen der Betrachtungen über den Holocaust und lässt die Kraft der visuellen und symbolischen Bezüge zwischen Opfer und Täter hervortreten. Die Sichtweise, von der aus er sich bewegt, ist die der Täter, wobei er vor allem das starke Prinzip der Individualisierung und des Sicheinfühlens hervorhebt, das in der historischen Narration unserer Zeit vorhanden ist. Das Sich-Wiederholen dieser Narration, dieses Hervortreten der Spuren des Holocausts wird im Laufe der Jahre immer stärker gekennzeichnet durch ein narratives, aber vor allem personalisiertes und konsumierbares Modell filmischer Art, das die nationale Erkennung der Herkunftskultur übersteigt und auf eine gewisse Internationalisierung und Globalisierung der Vorstellungswelten verweist.75 Die Narration des Holocausts verlässt ein Modell, das an kollektive und gruppenspezifische nationale Narrationen gebunden ist, und bietet sich einem individualisierten und personenbezogenen Konsum an, in dem jeder einzelne Zuschauer, unabhängig von seiner persönlichen Erfahrung der Ereignisse des Holocausts, dessen wesentliche Aspekte „wiedererleben“ kann, bis hin zur Einfühlung sowohl in die Rolle des Opfers als auch des Täters. Der Fall der Mauer, die Internationalisierung der Märkte, die politische Vereinigung Europas und vor allem das Bedürfnis nach einer ökonomischen (und deshalb sozialen?) europäischen Union werden zu einer neuen Phase in der Repräsentation führen, und zwar zu jener der territorialen Repräsentation und Einschreibung des Holocausts.
74 „Hitler’s Willing Executioners entsprach auf nahezu perfekte Weise der Rezeptionserwartung, ja dem Rezeptionsbedürfnis eines breiten Publikums. Man kann es fast kaum besser sagen als in der Sprache abgegriffener Waschzettel: Goldhagen traf den ‚Nerv der Zeit‘. In dieses Bild gehört, gewissermaßen als negative Entsprechung, die sich jedoch als Teil des Erfolgsgeheimnisses erweisen sollte, dass Goldhagens Darstellung in nahezu jeder Hinsicht quer zur empirischen Holocaust-Forschung lag.“ Ebd.: 140-141. 75 Siehe die umfangreiche Debatte um das Buch von Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten, Berlin: Berliner Verlag 2008.
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E INSCHREIBUNG Die deutsche Wiedervereinigung auf nationaler und europäischer Ebene: Die Rolle des Holocaustdiskurses Der Fall der Berliner Mauer stellt eine epochale Wende in der Geschichte Europas dar, die hier natürlich nicht in ihrer Gesamtheit erfasst werden kann. Wenn man heute noch einmal die prophetisch-apokalyptische Tonart der meisten internationalen Analysen und Kommentare der Zeit über Risiken und Bedeutung der Wiedervereinigung betrachtet, (welche Risiken und Bedeutung der Wiedervereinigung betreffen), könnte man meinen, dass sich der Wiedervereinigungsprozess des geteilten Deutschlands ziemlich homogen und harmonisch vollzogen hat. Die Wende wirkte sich deutlich auf europäischer und globaler Ebene aus, wo nicht nur das Thema des Nationalsozialismus, sondern auch das des Kommunismus oder des Kalten Krieges, wie auch die Rolle des vereinten Europas stark diskutiert worden ist. Das Gedenken an den Holocaust galt in dieser Hinsicht anfänglich wie einer der vielen Diskurse, welche die deutsche und europäische Topographie der Nachwendezeit durchquerten. Wenn man heute innerhalb dieses komplexen Rahmens noch einmal die Glossare und Wörterbücher der Vergangenheitsbewältigung bezüglich des Themas der Wiedervereinigung durchgeht, so kann man zwei Aspekte erkennen, die in der Konstruktion dieses epochalen Übergangs nach dem Ende des Kalten Krieges auf das hier behandelte Thema der Rolle des Gedenkens an die Vernichtung der Juden Europas verweisen. Beide Aspekte sind im Grunde genommen an den Kernsatz der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und an die Frage der Legitimität einer „Deutschen Nation“ nach dem Fall der Mauer gebunden: a) Der erste Aspekt ist politischer Ordnung und betrifft die Angst der internationalen Beobachter vor der Wiedervereinigung, die man in gewisser Weise sogleich als Gefahrenquelle für ein Wiedererwachen der nationalsozialistischen Vergangenheit deutete: Emblematische, zur Beschreibung der ersten Monate der Wiedervereinigung genutzte Begriffe wie „Blitzangriff“, „Anschluss“, „Viertes Reich“, „Ost-Gebiete-Frage“ sind Teil die-
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ser Phase der Kritik und Stigmatisierung durch die ausländische Presse.76 Besorgnisse ähnlicher Intensität wurden auch von Günter Grass geäußert:77 sie scheinen aber in den letzten Jahren überholt und veraltet gegenüber anderen Fragen politischer und ökonomischer Ordnung, die einen pragmatischeren Diskurs um die europäische Integration und die Rolle Deutschlands im Rahmen des internationalen Dialogs betreffen. b) Der zweite Aspekt ist dagegen eher durch einen sozialen und kulturellen Charakter geprägt, und verweist auf das Problem der Neonazibewegungen, die auf einen antisemitischen und rassistischen Nationalismus oder aber, in weniger aufdringlicher Tonart, auf das Problem der Idee eines nationalen Selbstbewusstseins zurückgreifen, das auf der Überwindung einer Geschichte aufbaut, „die nicht vergehen wollte“.78 Wenn es auch offensichtlich ist, dass sich beide erwähnten Bereiche auf sehr unterschiedlichen sozialen und kulturellen Ebenen befinden, werden sie doch international miteinander verbunden, in der inzwischen verbreiteten Angst, dass das Gedenken an den Holocaust und an die Verfolgungen der Nationalsozialisten in gewisser Weise vernachlässigt werden könne. Beide Aspekte haben mit der Rolle zu tun, die das Gedenken an den Holocaust in den nachfolgenden Jahren aus verschiedenen Gründen spielen wird: Das Bedürfnis, eine Art nationales Gedächtnis oder zumindest ein gemeinschaftliches Gedächtnis für das neue wiedervereinte Deutschland zurück zu erlangen, wird in den Jahren nach der Wende dazu führen, das Gedenken an den Holocaust und allgemein an die Verbrechen der Nationalsozialisten als grundlegendes und potenziell von fast allen politischen Lagern anerkanntes zentrales Gedächtnis hervortreten zu lassen. Obwohl es einleuchtend erscheint, warum in einer anfänglichen Phase das Problem eines Vergleichs oder zumindest einer Annäherung der Diktaturen des Zwanzigsten Jahrhunderts aufgeworfen wurde,79 wird später, wie in einem komparatistischen Spiel, das Gedenken an die Judenvernichtung gegenüber den
76 Siehe Ines Lehmann: Die Deutsche Vereinigung von außen gesehen. Angst, Bedenken und Erwartungen, Berlin: Peter Lang 2006. 77 Günter Grass: Deutscher Lastenausgleich, Frankfurt a/M: Luchterhand 1990. 78 Siehe Nolte: Das Vergehen der Vergangenheit. 79 Vgl. Detlef Schmiechen-Ackermann: Diktaturen im Vergleich, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002.
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nationalsozialistischen Verbrechen die zweckmäßigste und wirkungsvollste Perspektive bieten. Wie konnte dies passieren? Welchen Mehrwert bietet das Gedenken an den Holocaust im Vergleich zur Erinnerung an die Gräueltaten des Stalinismus im Allgemeinen, oder, um in Deutschland zu bleiben, zur Memoralisierung der Opfer der DDR-Diktatur? Obwohl die Antwort intuitiv auf die Art und die Anzahl der Verfolgungen zurückgeführt werden könnte, ist es an dieser Stelle vielleicht angebracht, aus einer Rede des späteren Bundespräsidenten Roman Herzog am 27. April 1995 zum Anlass des 50. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen zu zitieren. Um seinen Beitrag herum kristallisiert sich die evokative und historisch herausragende Kraft des Holocausts: Noch einmal zusammengefasst: Der Ablauf von 50 Jahren seit dem Ende des NSRegimes kann nicht Ende des Erinnerns heißen. Was wir jetzt brauchen, ist eine Form des Gedenkens, die zuverlässig in die Zukunft wirkt. Vor allem geht es darum, eine dauerhafte Form zu finden. Das ist wichtiger als schnelle Entscheidungen. Wir sollten uns die Zeit nehmen, die notwendig ist – allerdings auch nicht mehr –, um einen breiten gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Denn wir brauchen eine lebendige Form der Erinnerung. Sie muss Trauer über Leid und Verlust zum Ausdruck bringen aber sie muss auch zur steten Wachsamkeit, zum Kampf gegen Wiederholungen ermutigen, sie muss Gefahren für die Zukunft bannen.80
Danach wird also in den Jahren nach dem Fall der Mauer diskutiert nicht so sehr über eine Erinnerung an sich, sondern nach einer „lebendigen Form der Erinnerung, [die] Trauer über Leid und Verlust zum Ausdruck bringen [soll]“. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin wird somit nur zum Jüngsten der Übergänge, die zu dieser Zentralität der Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten als wahre Quelle von kollektiver Trauer und Leid führen. Diese hegemoniale Fähigkeit des Gedenkens an
80 Roman Herzog, „Statt eines Geleitwortes. Rede am 27. April 1995 in BergenBelsen anläßlich der Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag der Befreiung aus den Konzentrationslagern“, in: Ulrike Puvogel/Martin Stankowski/Ursula Graf (Hg.): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1995, S. 8.
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den Holocaust bringt viele Kehrseiten mit sich, die ich im vierten Kapitel versuchen werde zu vertiefen. Bereits jetzt erscheint es jedoch deutlich, dass sich in ihr ein heute bereits gefestigtes „Einschreibungspotenzial“ aus Bildern, Geschichten und Spuren verbirgt. Der Holocaustdiskurs zwischen Nation und Internationalismus Als Mitarbeiter im Besucherdienst an Denkmälern und Gedenkstätten hat man die Möglichkeit, die Konstruktion eines langen Prozesses wahrzunehmen und zu beschreiben, der, nach der deutschen Wiedervereinigung begonnen, zu einer außergewöhnlichen und für Europa einzigartigen Stufe der Schichtung, Überarbeitung und Organisation von Unterrichts- und Bildungsprogrammen großer und sichtbarer Wirksamkeit geführt hat. Millionen Menschen kommen nach Deutschland, um sich auf tiefgründige, sachliche und ausführliche Weise mit den Themen des Nationalsozialismus – und folglich des Zwanzigsten Jahrhunderts – auseinanderzusetzen. Wie ich bereits bemerkt habe, liegt der Ursprung dieses Erfolgs an verschiedenen Faktoren, von dem der anerkannten Professionalität von Generationen deutscher Historiker bis hin zum ebenso objektiven Faktor des Hervortretens von Geschehnissen, Orten, Kontexten und Spuren des Holocausts, beginnend mit der deutschen territorialen Wiedervereinigung. Im genaueren Licht betrachtet und im westdeutschen Kontext hatte der Prozess der Wiedergewinnung von Orten und Spuren der nationalsozialistischen Gewalt als Basis für die Errichtung von Gedenkstätten bereits in den ersten Jahren der Nachkriegszeit81 begonnen und er entfaltet sich organisch
81 „Diese Entwicklung in Westdeutschland ist vor dem Hintergrund eines seit Ende der siebziger Jahre, namentlich in der jüngeren Generation, wachsenden Interesses an lokaler und regionaler Geschichte und am Alltag des durchschnittlichen Menschen in der NS-Zeit zu sehen. In vielen Orten entstanden Geschichtsarbeitskreise (‚Werkstätten‘) und Initiativen, die nach verschütteten Spuren verdrängter Vergangenheit an ihrem Ort und in ihrer Region zu forschen begannen, ‚Geschichte von unten‘ betrieben und sich mit der lokalen NS-Vergangenheit auseinandersetzen.“ Ulrike Puvogel/Martin Stankowski (Hg.): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus: eine Dokumentation, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1995.
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nach der Wende durch diese ersten Ereignisse. Was Ostdeutschland und die Memoralisierung symbolträchtiger Orte der DDR betrifft, verhält es sich dagegen heute problematischer, nicht nur aufgrund der innewohnenden Rhetorik der Typologie der sozialistischen Memoralisierung vor 1989,82 sondern auch wegen der Frage um die vorzunehmende politische Neuorientierung der verschiedenen Gedenkstätten nach 1989, unter anderem von solchen Schlüsselschauplätzen wie Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen. Was als radikale und unlösbare Fragestellung aufzukommen schien, löst sich auch in diesem Fall innerhalb einer umfassenden Reorganisation der Memoralisierung auf, die nun klar vor Augen liegt. Aufgrund der nicht bloß geografischen, sondern auch topografischen und vor allem territorialen Wiedervereinigung befand sich die deutsche Politik ab 1989 vor der großen Aufgabe, sich als treibende Kraft Europas zu gestalten, sicherlich auf ökonomischer jedoch auch in gewisser Weise auf symbolischer und politischer Ebene. Da, wo manche „Größenwahn“ vermuteten, liegt in Wirklichkeit auch die Fähigkeit, als Wegweiser in der schwierigen Geschichte des geteilten Europas zu dienen. Diese Herausforderung mit ihrem ökonomischen aber auch kulturellen Antrieb, wird immer wieder infrage gestellt, obwohl sie sich im Laufe der letzten fünfundzwanzig Jahren immer fester strukturiert hat, vor allem dank der politischen Fähigkeit der Deutschen, sich auf einer öffentlichen Ebene mit der eigenen quälenden Geschichte zu konfrontieren. Unter Kristallisierung verstehe ich im Wesentlichen einen Prozess, in dem kulturelle Spannungen und Diskussionen innerhalb von Spuren, Objekten, Repräsentationen festgelegt und eingeschrieben werden, die kollektive De-
82 „Zentriert war die Erzählung um die vorbildlichen Handlungen des organisierten antifaschistischen Widerstandes. Die Erinnerungsleistungen wurden nach dem Motto ‚Wir wollen aus der Vergangenheit das Feuer übernehmen, nicht die Asche‘ initiiert. Das ‚Feuer‘ des antifaschistischen Kampfes galt als Ursprung und Tradition der DDR. Der Gedächtnisort übernahm damit eine wichtige Legitimationsfunktion für den Staat.“ Rikola-Gunnar Lüttgenau: „Eine schwebende Gedenkstätte? Die Gedenkstätte Buchenwald im Wandel“, in: Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich (Hg.): Reaktionäre Modernität und Volkermord. Probleme des Umgangs mit der NS-Zeit in Museen, Ausstellungen und Gedenkstätten, München: Klartext 1994, S. 116.
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batten hervorrufen und sie dem, was wir als internationale Zivilgesellschaft bezeichnen, erneut präsentieren können. Das von Peter Eisenman entworfene Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin ist genau das Ergebnis dieses Jahrzehnte andauernden Prozesses, der dem grundlegenden Trauma der verheerenden Auswirkungen des Krieges eine Form gegeben und es dadurch transformiert hat, bis hin zum Angebot einer neuen Dimension, welche Schuld und Stigmatisierung des Deutschseins hinter sich lässt und eine postnationale narrative und epistemologische Betrachtungsweise bietet.
Italien und der Holocaust
D ER S HOADISKURS
IN I TALIEN Das Museo della Shoa in Rom und der heutige politische Rahmen (von den neunziger Jahren bis 2011) Das Museum der Shoa wird bis März 2013 der Stadt übergeben. Mit der heutigen Abgabe des Vorprojekts wird eine sehr lange bürokratische Prozedur zum Abschluss gebracht, welche die Errichtung dieses Museums verzögert hat. Somit wird bald etwas nachgeholt, das schon lange auf ganz Italien lastet.
Mit diesen Worten hat der Bürgermeister von Rom, Gianni Alemanno, am 30. Juni 2010 die Abgabe des Projekts für das Museo Nazionale della Shoa (Nationales Museum der Shoa) von Architekten Luca Zevi und Giorgio Tamburini begrüßt. Diese Worte des Bürgermeisters liefern uns einige Elemente, um den gesamten Rahmen zu rekonstruieren, innerhalb dessen sich die Errichtung der Gedenkstätte abspielt. Der erste Aspekt betrifft die Verzögerungen in der Lösung der verschiedenen termingebundenen Verstrickungen: Den Startschuss hatte der Stadtrat nämlich bereits 2008, zwei Jahre zuvor, gegeben, zwei Jahre nach der tatsächlichen offiziellen Präsentation des Projekts im Jahre 2006. Abgesehen von dieser Tatsache (in Wirklichkeit nicht nur bürokratischer Ordnung),1 gibt es noch den Hinweis auf „etwas [...], was schon lange auf ganz Italien lastet“, wie es Alemanno aus-
1
Siehe Laura Iamurri: „L’arte italiana e la Shoa“, in: Marcello Flores et al. (Hg.): Storia della Shoa in Italia, 2. Bd.
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drückt. Das sich hinter diesem Hinweis ein „zentrales Element“ verbirgt, kannst du auch im folgenden Abschnitt ausdrücken. Abgesehen von der Rhetorik, die jeder politischen Rede innewohnt, muss dieses Bewusstsein von „etwas Fehlendem“ im Rahmen eines tatsächlichen Interesses und einer tiefen Erwartung seitens der Politik und sicherlich von Teilen der italienischen Gesellschaft gegenüber dem Gedenken an den Holocaust betrachtet werden. Auf den ersten Blick kann man die Entwicklung dieser Aufmerksamkeit zeitlich mit dem Fall der Mauer festlegen und also mit dem Ende des internationalen politischen Systems der Gegenüberstellung zweier Blöcke, das die frühere italienische Politik grundlegend geprägt hatte, von der Zeit des Marshallplans bis hin zum Kalten Krieg.2 Innerhalb dieses Rahmens internationaler Umwälzungen setzte allmählich zu Beginn der neunziger Jahre eine nachträgliche Anerkennung der Bedeutung des Holocausts innerhalb der italienischen Öffentlichkeit ein. Obwohl offensichtlich ist, dass das Thema des Holocausts bereits in den vorherigen Jahren zum Gegenstand historiografischer, filmischer3 und vor allem theologischer Betrachtungen geworden war, wird es erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre (zum ersten Mal) in die Tagesordnung der politischen Agenda aufgenommen, deren Interesse es ist, das Thema zum Gegenstand sozialer und historischer Betrachtung und Sensibilisierung zu erheben. Nach Auffassung von Saul Meghnagi liegt dieser Bezug zwischen der Shoa und der zeitlichen Phase nach dem Fall der Mauer auf europäischer Ebene in jener starken politischen, geografischen und kulturellen Übereinstimmung, die in diesen Jahren radikaler Veränderung im „Bedürfnis und in der Aufgabe sich mit jenen nationalen Staaten zu versöhnen, die zwei Weltkriege ausgelöst, Gewaltherrschaften hervorgebracht, Blutbäder angeordnet und in jüngster Vergangenheit ‚ethnische Säuberungen‘ vorgenommen haben“4 zu suchen ist. Die von Meghnagi hervorgehobene, offensichtliche Tatsache des Hervortretens seit 1989 einer neuen politischen Sensibilität im Dialog und Aus-
2
Siehe Carlo Pinzani: „L’Italia nel mondo bipolare“, in: Francesco Barbagallo (Hg.): Storia dell’età repubblicana, Torino: Einaudi 1944, S. 7-177.
3
Emiliano Perra: „La Shoa nella televisione italiana“, in: Marcello Flores et al. (Hg.): Storia della Shoa in Italia. 2. Bd.
4
Saul Meghnagi (Hg.): Memoria della Shoa. Dopo i ‚testimoni‘, Roma: Donzelli 2007, S. XXII-XXIII.
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tausch zwischen Staaten, Ideologien und einst verfeindeten Teilen Europas, prägt die jüngste europäische Geschichte und steht auf verschiedenen Ebenen auch im Verhältnis zum Gedenken an die Shoa – eine transnationale und universalisierende Erfahrung mit starker antiideologischer Wirkung. Diese hegemoniale und antiideologische Kraft der Erinnerung an die Shoa tritt auch im italienischen Kontext und gerade in Bezug auf jene schwere Phase der identitären und politischen Krise hervor, die sich zwischen den Jahren 1992 und 1993 abgespielt und den Übergang von der Prima Repubblica (Ersten Republik) zur Seconda Repubblica (Zweiten Republik) geprägt hat.5 Diese Übereinstimmung zwischen der allgemeinen ideologischpolitischen Systemkrise des italienischen Systems und dem Hervortreten der Erinnerung an die Shoa lässt in Wirklichkeit nicht auf einen Zufall schließen. Das, worüber wir uns in diesem Abschnitt provokativ Gedanken machen, ist eben die Frage, ob es nicht eine weitere Funktionalität des Shoadiskurses gibt, jenseits seiner universalisierenden Kraft und was für eine Rolle diese Funktionalität im italienischen politischen und ideologischen Rahmen jener Umbruchsjahre spielt. Die vom Fall des Eisernen Vorhangs ausgelöste Krise der großen Ideologien des Zwanzigsten Jahrhunderts prägt die italienische Geschichte zutiefst und zieht einen Prozess der Neudefinition des gesamten politischen und ideologischen Systems mit sich, der auch mit dem Anbruch Silvio Berlusconis spektakulisierender Ära übereinstimmt:6 Im Rahmen dieser Krise spiegeln sich nämlich das Fehlen einer progressiven politischen Vision und das allgemeine Verschwimmen einer Idee kollektiver Narration (sei es auch die des Respekts vor den Institutionen oder dem Staat) unvermeidbar in der konservativen, vereinheitlichenden und Konsens schaffenden Waschma-
5
Siehe Giovanni Sartori: Seconda Repubblica? Si: ma bene, Milano: Rizzoli 1992.
6
„Am 26. Januar 1994 stellte Berlusconi sich in einer rethorisch perfekten Ansprache auf seinen TV-Kanälen in den Dienst des Landes. Er tut dies allein aus Sorge, dass die Erben des Kommunismus die Macht übernehmen würden. Diesen politischen Eintritt bezeichnete Berlusconi mit einem aus der Sportsprache genommenen Begriff: ‚discesa in campo‘.“ Christian Jansen: Italien seit 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 211.
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schine der Berlusconiära wieder.7 Im Rahmen dieser epochalen Krise werden der Grundkern der Erinnerung an die Widerstandsbewegung (die Resistenza) und die Bedeutung der republikanischen Geschichte durch die tendenziell verfassungswidrige und gegen das Gemeinwohl gerichtete Politik der privaten Partei Berlusconis in eine tiefe und offensichtliche Krise gestürzt. Der Berlusconismus lebt gerade dank der Erschöpfung und ständigen Entwertung einer gemeinsamen Beteiligung und Narration, sei es die der Resistenza – das Widerstands gegen den Nazifaschismus – sei es die Verteidigung der Verfassung und des Gemeinwohls. Wenn ich von einer „kollektiven Narration“ spreche, beziehe ich mich auf die Tatsache, dass es für die Anerkennung eines nationalen Gedenkens zumindest einer von der Kollektivität getrennten Anerkennung bedarf. Die offiziellen nationalen Formen des Gedenkens der Nachkriegszeit entsprangen in dieser Hinsicht fast alle der Rhetorik und dem Gedenken an die historische Phase der Resistenza, ein wahrhaftiges Gründungsmoment der italienischen Geschichte, das seit 1943 bis zur gesamten Nachkriegszeit als Paradigma für die Interpretation des historischen Entstehungsprozesses der republikanischen Phase dient.8 Wesentlich ist darüber hinaus die Tatsache,
7
Eine eindrucksvolle Beschreibung des Berlusconismus als widersprüchliche Rückentwicklung ist noch mal in: ebd., S. 213. „So professionell wie Forza Italia aufgebaut wurde, kann es nicht überraschen, dass ihre Propaganda auf große Zustimmung stieß, da sie auf Umfragen über die Wünsche der Italiener basiert: FI ist wirtschaftsfreundlich und setzt sich besonders für die Förderung mittelständischer Unternehmer ein. FI spricht den Egoismus und Familiarismus an. FI ist betont antikommunistisch – auch nach dem Zerfall des PCI und des Ostblocksozialismus funktionierte dieses Stereotyp. FI ist katholisch, aber nicht klerikal, sie versteht sich als „Laienbewegung“, ist aber nicht laizistisch. FI ist nationalistisch, gegen Multikulturalismus, latent antisüdlich und rassistisch, aber nie annähernd so radikal wie die Lega. Mit ihrem Klientelismus und mit ihren mafiosen Verbindungen im Süden trat FI das Erbe der DC an.“
8
„Jahrzehntelang definierte sich Italien selber als aus dem Widerstand geborene Republik. Nirgendwo sonst in Westeuropa hatte der antifaschistische Legitimitätsglaube ein solideres Fundament.“ Aram Mattioli: Viva Mussolini! Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis, Paderborn: Schöning 2012, S. 26.
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dass „der Mythos der Resistenza der einzige Mythos war, der die Gründungsparteien der Republik einte“.9 Die Ereignisse im Jahr 1989, das Ende der Prima Repubblica und Berlusconis „ins Feld Ziehen“ werden zu einer Krise der Memoralisierung des Widerstandes und dann in erweitertem Sinne der demokratischen republikanischen Gesinnung, führen, bei allmählichem Verblassen der Logik der Wiedererlangung der Vergangenheit: Und genau in diesem Rahmen radikaler Revision und Transformation der historischen Vergangenheit tritt die Memoralisierung der Shoa hervor. Ihr scheint die versöhnende Aufgabe eines „gutmeinenden Gedenkens“ zuzukommen, das in gewisser Weise von allen akzeptiert und geteilt werden kann: Man denke bloß an die politische Laufbahn des derzeitigen Bürgermeisters von Rom (der oben erwähnte Herr Alemanno), mittlerweile überzeugter Befürworter der Gedenkstätte und der Studienreisen nach Auschwitz, ehemaliger Militanter der extremen Rechten und überzeugter Antiamerikanist und Anti-Internationalist.10 Sein Lebenslauf ist emblematisch für die teilweise verwirrte und verfälschte politische Funktion der Memoralisierung des Holocausts in der heutigen Zeit, die zur Bemerkung geführt hat, dass es „im Italien des Zwanzigsten Jahrhunderts so scheint, als sei von allen Schandtaten des Faschismus nur die Rassenverfolgung zu verurteilen; es ist nur das italienische Echo der Shoa, das den einstimmigen Tadel aller politischen und kulturellen Kräfte auf sich zieht“.11
9
Emilio Gentile: La grande Italia: ascesa e declino del mito della nazione nel ventesimo secolo, Milano: Mondadori 1997, S. 313.
10 Aber „es blieb nicht unkommentiert, als Gianni Alemanno, der neue Bürgermeister von Rom, auf einer Israel-Reise im Herbst 2008 zu verstehen gab, nicht der Faschismus als solcher, sondern nur die Rassengesetze seien das absolute Böse gewesen.“ Mattioli: Viva Mussolini!, S. 9. 11 Guri Schwarz: Ritrovare se stessi. Gli ebrei nell’Italia post-fascista Roma/Bari: Laterza 2004, S. VI. Vgl. auch Guri Schwarz: „Identità ebraica e identità italiana nel ricordo dell’ antisemitismo fascista“, in: Istituto romano per la storia d’Italia dal Fascismo alla Resistenza (Hg.): La memoria della legislazione e della persecuzione antiebraica nella storia dell’ Italia repubblicana, Milano: Franco Angeli 1999), S. 28: „L’elaborazione dell’esperienza fascista avvenne nell’Italia liberata con la sostanziale espunzione della vicenda dalla storia nazionale. I fascisti erano descritti come barbari invasori, il regime come una parentesi.“ Siehe auch
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In Anbetracht der Nutzung der Memoralisierung der Shoa seitens der historischen Linken könnte man dieselbe Instrumentalisierung feststellen, oder zumindest den Verdacht einer Instrumentalisierung aufkommen lassen. Die Definition eines gut meinenden und teilbaren Gedenkens (wie das an den Holocaust) hat es dem ehemaligen Block der kommunistischen Linken, der im Gewand des jetzigen PD weiterlebt, ermöglicht, die Konfrontation mit der unerschütterlichen und unvergänglichen Idee des Kommunismus als einer gute Diktatur zu umgehen.12 Wie wir sehen werden, stellt dieser Verdacht nicht die Authentizität der Beteiligung der Politik sowie die Legitimität der Nutzung des Gedenkens an den Holocaust infrage. Der einzige fragliche Aspekt kann vielleicht in der Unmöglichkeit ausgemacht werden, die italienische Nutzung der Shoa unabhängig von einem Mechanismus instrumental-politischer Ordnung zu lesen. Akteure und Hauptfiguren des italienischen Shoadiskurses (von 1945 bis zu den neunziger Jahren) Die Feststellung einer gewissen Instrumentalisierung des Gedenkens an den Holocaust innerhalb der heutigen politischen Situation Italiens sollte jedoch nicht jene zehnjährigen, radikalen Prozesse in den Schatten stellen, die im Laufe der letzten Jahre zur Einrichtung von Gedenkstätten und Museen der Shoa geführt haben.13 Wenn man nämlich im Sinne der Diskursanalyse weiterverfährt, kann man zwei Hauptprozesse erkennen, welche die Entstehung dieser Räume und den Willen sie zu errichten prägen: a) Der Erste betrifft Rolle und Entwicklung der jüdischen Gemeinden innerhalb der italienischen Gesellschaft der Nachkriegszeit: bei der Planung aller drei Gedenkstätten (Rom, Ferrara, Mailand – nicht zufällig die drei größten Gemeinden der Halbinsel) spielen die lokalen jüdischen Gemeinschaften eine Hauptrolle. Dieser Aspekt stellt einen sehr klaren Unterschied gegenüber dem deutschen Fall dar, wo dagegen ein allgemeiner, po-
Renzo De Felice: Le interpretazioni del fascismo, Bari/Roma: Laterza 1991, S. 227-40; Emilio Collotti: „Razzismo negato“, in: Italia Contemporanea, no. 212 (1998), S. 580-81. 12 Siehe Giampaolo Pansa: I cari estinti. Faccia a faccia con quarant’anni di politica italiana, Milano: Rizzoli 2006. 13 Laura Iamurri: „L’arte italiana e la Shoa“, S. 472.
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litischer Wille (oder zumindest der eines Großteils der Gesellschaft) zur Errichtung der Gedenkstätte geführt hat. In Italien sind die Orte des Gedenkens an den Holocaust durch eine starke Bindung an die jeweiligen jüdischen Gemeinden charakterisiert, auch wenn sie in zweiter Instanz mit der Unterstützung des Staats und der verschiedenen Gemeindeverwaltungen entstehen. Diese Zentralität der jüdischen Gemeinden ist kein Zufall, sondern das Ergebnis der kulturellen Entwicklung und der Selbstbehauptung, die innerhalb der italienischen jüdischen Welt von der Nachkriegszeit an bis heute stattgefunden hat. b) Den zweiten Aspekt stellt die Rolle der Überarbeitung der antijüdischen Verfolgung durch den Katholizismus dar. Den italienischen Shoadiskurs und jene Überarbeitung durch die katholische Kultur gegenüberzustellen, bedeutet gleichzeitig, eine Beschreibung seiner Wahrnehmung und Akzeptanz innerhalb der italienischen Gesellschaft zu liefern. Vor allem das Zweite Vatikanische Konzil und die Enzyklika Nostra Aetate stellen einen revolutionären Moment dar in der Konfrontation mit dem „Schmerz des jüdischen Volkes“.14 Dieser zweite Aspekt ist von wesentlicher Bedeutung, will man den Sensibilisierungsprozess verstehen, der sich im Laufe der letzten Jahrzehnte in der italienischen Gesellschaft in Bezug auf die Themen der jüdischen Kultur (und ihrer Tradition) vollzogen hat, ausgehend von der Darstellung der Geschichte antijüdischer Verfolgungen. Die starke, universalistische Besinnung der katholischen Kirche seit 1962 stellt einen der entscheidenden Aspekte für das Gewichts der Erinnerung dar, welches das Gedenken an die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung innerhalb der italienischen Gesellschaft erlangen wird. Der erste Aspekt, der mit dem Reifungsprozess und der Selbstbewusstseinserlangung der jüdischen Gemeinde verbunden ist, kann hingegen erklären, warum die Gedenkstätten neuerer Konzeption gerade innerhalb der jüdischen Gemeinden wesentliche Unterstützung finden. Dialog und Autonomie, innerreligiöse Verbrüderung und Distanz: Das sind letztendlich die Grundlagen der jüdisch-christlichen Beziehungen, wie sie sich auch im politischen Leben des republikanischen Italiens spiegeln:
14 Paolo VI: Nostra Etate (1965), http://www. vatican.va/archive/hist_councils/ii_ vatican_council/documents/vatii_19651028_nostraaetate_ge.html, (Juni 2016).
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Die Entwicklung des Gedenkens an die antijüdische Verfolgung in den Jahren der Republik könnte wie ein langsamer Prozess gelesen werden, durch den sich das jüdische Gedenken allmählich emanzipiert hat, bis hin zur Forderung einer eigenen Autonomie und der Anerkennung des Wertes seiner eigenen Spezifität. Ein Gedenken als Basis einer speziellen Identität. Mit der Bewältigung ihrer vergangenen Verfolgungsgeschichte allein gelassen, haben die italienischen Juden ihr Gedenken überarbeitet, bis es zur Grundlage ihrer Identität wurde.15
Um diese Einsamkeit der jüdischen Kultur darzustellen, könnten politische Kategorien, wie die der jüdischen Minderheit gegenüber einer christlichen Mehrheit angeführt oder der Aspekt einer legitimen Autonomie der jüdischen Kultur selbst in Betracht gezogen werden, die einer Selbstbehauptung innerhalb eines Projekts fortwährender Emanzipation entgegenstrebt. Die Frage um die „jüdische Identität“ bleibt jedoch unbeantwortet und bestätigt ständig von Neuem seine Spiegelung sowohl im Diskurs über die Nation als auch in dem über das Christentum.
R ESISTENZA
UND S HOA Paradox der Resistenza: Die Befreiung und das Vergessen der antijüdischen Verfolgung Wenn man sich mit der Resistenza befasst, konfrontiert man sich notgedrungen auch mit dem symbolischen und politischen Kern der ersten Phase der Italienischen Republik. Die von den Partisanen und den Gegenbewegungen zum Nazifaschismus geleistete Rolle hatte großen Einfluss auf die nachfolgende Entwicklung des republikanischen Staates und selbst auf die Niederschrift der italienischen Verfassung.16 Innerhalb des ruhmreichen
15 Schwarz: „Identità ebraica e identità italiana nel ricordo dell'antisemitismo fascista“, S. 40. 16 „Die Spitzenvertreter des Nationalen Befreiungskomitees hatten nicht nur die breit abgestützten Koalitionsregierungen von Juni 1944 bis Mai 1947 getragen, sondern drückten auch der neuen Verfassung ihren Stempel auf.“ Mattioli: Viva Mussolini!, S. 25.
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Rahmens der Resistenza17 – der einer nationalen Wiedergeburt18 – muss auch die ungenaue Wahrnehmung durch die italienischen Bürger gelesen werden hinsichtlich der realen Bedingungen der jüdischen Gemeinden, welche aufgrund der Leggi Razziali (Rassengesetzte) von 1938 de facto juristisch nicht mehr als Teil der italienischen Nation zu betrachten waren.19 Die unterschiedlichen Geschichtsschreibungen der italienischen Resistenza scheinen nie eine spezifische Betrachtungsweise der Rolle und Bedeutung der antijüdischen Verfolgung entwickelt zu haben.20 Bis in die neunziger Jahre hinein neigte die öffentliche Meinung dazu, die jüdische Bevölkerung Italiens als „eine der vielen verfolgten Gruppen“21 während der blutigen Phase des Nazifaschismus zu betrachten.
17 Bruno Maida: „La resistenza di fronte alla persecuzione degli ebrei“, in: Marcello Flores et al. (Hg.): Storia della Shoa in Italia. 18 Vgl. Kerstin von Lingen: „‚Giorni di Gloria‘. Wiedergeburt der italienischen Nation in der Resistenza“, in: Kerstin von Lingen (Hg.): Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945, Paderborn/München/Wien/Zurich: Schöning 2009. 19 Valeria Galimi: „‚Sotto gli occhi di tutti‘. La società italiana di fronte alla Shoa“, in: Marcello Flores, et al. (Hg.) Storia della Shoa in Italia. 20 Mit der Ausnahme von den folgenden ganz wichtigen Aufsätzen: Liliana Picciotto Fargion: „Sul contributo degli ebrei alla Resistenza italiana“, in: Rivista mensile di Israel 46, no. 3/4 (1980); Piero Treves, „Antifascisti ebrei o antifascismo ebraico?“, in: Rivista mensile di Israel 47, no. 1-6 (1981); Alberto Cavaglion: La Resistenza spiegata a mia figlia, Napoli: L’ancora del Mediterraneo 2005. 21 „E non è solamente la Shoa ha essere stata confinata sullo sfondo; anche i deportati politici, i lavoratori coatti, gli oltre seicentomila internati militari in Germania hanno occupato un posto piuttosto marginale, prima nei vertici politicomilitari della Resistenza, e poi nella storiografia e nella memoria collettiva.“ Santo Peli: „Resistenza e Shoa: elementi per un’ analisi“, in: Saul Meghnagi (Hg.): Memoria della Shoa, S. 45. „Nei primi anni del dopoguerra, le diverse correnti politiche dell'antifascismo non furono capaci di cogliere la specificità della persecuzione fascista degli ebrei, che venne inserita nel quadro generale delle persecuzioni subite da tutte le vittime del fascismo.“ Mario Toscano: Ebraismo e antisemitismo in Italia. Dal 1848 alla guerra dei sei giorni, Milano: Franco Angeli 2003, S. 210-11.
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Wie bereits erwähnt, wurde dieselbe Einführung der Leggi Razziali (die vom Jahr 1938 bis zum Kriegsende galten) von der Mehrzahl der italienischen „Faschisten und Antifaschisten“ tatsächlich als einfache, „an die Umstände der Zeit gebundene“,22 politische Entscheidung und nicht in deren Spezifizität betrachtet, die später, nach der Razzia im römischen Ghetto vom Oktober 1943 hervortreten wird.23 Die Frage ist die des realen Gewichts des italienischen Antisemitismus, auf den sich die Historiografie noch so sehr konzentriert: Einer der Effekte der Resistenza war gerade die radikale Zerstreuung von zwanzig Jahren Faschismus durch ihre mythische evokative Kraft und ihr unabsichtliches Einfrieren der Bedeutung und des Gewichts der Rassenpolitiken, des Antisemitismus und des faschistischen Totalitarismus in Italien. Mit diesem Aspekt sind nicht wenige Fragen verknüpft, die einerseits die verzerrte Wahrnehmung der italienischen Gesellschaft bezüglich der jüdischen Umstände zur Zeit der Resistenza betreffen24 und andererseits die Schwierigkeit selbst seitens der verschiedenen jüdischen Gemeinden, das
22 „Se per gli italiani (fascisti ed antifascisti) l'introduzione delle leggi razziali si spiega in base a considerazioni di natura squisitamente politica – legate alle circostanze storiche del momento, una parentesi chiusa con la fine della Guerra e la fine del nazifascismo –, per gli ebrei si tratta invece di un evento che mette in moto un processo di radicale sconvolgimento esistenziale, individuale e collettivo, tutt'altro che conclusosi nel 1945, attraverso il quale concetti essenziali della condizione ebraica nelle società democratiche contemporanee – come cittadinanza, assimilazione, tradizione, memoria – assumono un significato nuovo e tragicamente inaspettato.“ Paola Di Cori: „Le leggi razziali“, in: Mario Isnenghi (Hg.): Simboli e miti dell'Italia Unita, S. 467. 23 Carlo Spartaco Capogreco: „I luoghi e i giorni della deportazione e della prigionia“, in: Marcello Flores et al. (Hg.): Storia della Shoa in Italia. 24 „Come è ampiamente noto, almeno fino alla fine degli anni cinquanta, si ebbe una percezione diffusamente distorta dei modi e dei risultati della deportazione degli ebrei; più in generale, e per quanto qui più direttamente ci interessa, anche durante la Resistenza, I rischi connessi alla condizione di partigiano erano percepiti come I più gravi, I più immediati e irrimediabili.“ Peli: „Resistenza e Shoa: elementi per un'analisi“, S. 45.
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tatsächliche Gewicht der Verfolgungen und Deportationen zu erkennen,25 ein Gewicht, das dagegen das italienische Judentum der Nachkriegszeit später radikal umwandeln wird. Nach der Ansicht der letzten Generation von Historikern wie Guri Schwarz oder Mario Toscano wird sich die Aufarbeitung der Verfolgungen im Laufe der nächsten Jahre entlang „zweier potenziell gegensätzlicher Leitlinien festlegen: einerseits die erneute Aufstellung der zur Zeit der Integration und vor der Verfolgung erarbeiteten kulturellen Paradigmen, andererseits das mühsame Hervortreten verschiedener Impulse (Zionismus, wachsender Zusammenhalt und Festigung der gemeinschaftlichen Bindungen)“.26 Diese zwei Schicksalsrichtungen markierten bereits 1938, also fünf Jahre vor Beginn der Resistenza, eine grundlegende Wendung für das italienische Judentum; dieser Moment wird in den Worten Emanuele Artoms festgehalten, der in seinen Tagebüchern daran erinnert, dass „die Kluft, welche die Väter von den Söhnen teilt, mittlerweile unüberwindlich ist. Der Abgrund, der sich durch die Voreingenommenheit der Eltern und durch die Zurückhaltung geöffnet hat, welche die Kinder daran hindert, ihre durchlebten Transformationen zu offenbaren, ein Abgrund, der sich jetzt so tief wie nie zuvor auftut, jetzt wo zwischen einer Generation und der nächsten Jahrhunderte zu liegen scheinen“.27 Die Worte Emanuele Artoms sagen sehr viel aus über jene grundlegende Zäsur zwischen der Generation der Eltern, die mit Mühe und großen Opfern die „volle Anerkennung ihrer Identi-
25 Ganz deutlich in diesem Sinn ist ein Bericht vom Comitato Ricerche Deportati Europei (Komitee für die Suche nach deportierten europäischen Juden), der im Juli 1944 (neun Monate nach den ersten Deportationen vom 16. Oktober 1943) geschrieben wurde: „...vecchi, donne e bambini, partiti privi dei necessari indumenti, […] che si trovano nei campi di concentramento tedeschi da quasi un anno, fra cui tutto il periodo invernale, e si suppone quindi siano in pessime condizioni fisiche e morali.“ Liliana Picciotto Fargion: „La liberazione dai campi di concentramento“, in: Michele Sarfatti (Hg.): Il ritorno alla vita: vicende e diritti degli ebrei in Italia dopo la Seconda guerra mondiale, Firenze: La Giuntina 1998, S. 19. 26 Schwarz: Ritrovare se stessi. Gli ebrei nell'Italia post-fascista, S. 187. 27 Emanuele Artom: Diari di un partigiano ebreo Torino: Bollati Boringhieri 2008, S. 149.
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tät als Italiener“ erreicht hatten und die der Kinder, die „im Schatten des Genozids aufgewachsen waren“.28 Hinter jenem Bruch verbarg sich in Wirklichkeit das Zeichen einer tieferen generationellen Veränderung, die nicht nur an die Verfolgung gebunden war, sondern auch an die Kraft und begeisternde Stärke der zionistischen Bewegung und später der langwierigen Definition des israelischen Staates, die neue Horizonte für die italienischen jüdischen Gemeinden eröffnen werden. Jene Spannungen waren bereits während des Kriegs spürbar, auf der Gotischen Linie der Resistenza,29 im langsamen Vorrücken der Jüdischen Brigade von Süd- nach Norditalien:30 Beide waren wir demselben Krieg unversehrt entkommen, in dem er sein Vaterland verloren und ich ein neues gefunden hatte, Israel. Ich war als Sieger in fremder Uniform nach Hause zurückgekehrt; er, als Überlebender sechs Jahre ziviler Schande und zweier Jahre Flucht in die Berge, hatte der Niederlage seines Landes beigewohnt. Vom selben König gedemütigt, dem er persönlich gedient hatte, verfolgt vom Regime, an dessen Schaffung er beteiligt gewesen war, hatte er keinen anderen Grund Stolz zu sein als auf meine Beteiligung am Zionismus, dem er sich als italienischer Zionist hartnäckig widersetzt hatte.31
Die zionistische Verlockung, die Unmöglichkeit, sich mit der italienischen Nation zu identifizieren, die von der Generation der Eltern aufgebaut worden war, und gleichzeitig das Gefühl einer zivilen Wiedergeburt – diese Elemente prägen die Erfahrung vieler Juden während der Phase der Resistenza: In dieser Zeit wuchs vor allem die Beziehung zu einer gewissen Zivilgesellschaft, die Widerstand leistete und die jüdischen Bevölkerungen
28 „I cambiamenti sopraggiunti a partire dal terribile anno 1938 avrebbero separato coloro che avevano potuto coltivare serenamente il sogno dell'integrazione dalle generazioni successive, tutte – in qualche misura – cresciute all'ombra del genocidio.“ Schwarz: Ritrovare se stessi. Gli ebrei nell'Italia post-fascista, S. 77. 29 Alberto Cavaglion: „Ebrei e Antifascismo“, in: Marcello Flores et al. (Hg.): Storia della Shoa in Italia. Le premesse, le persecuzioni, lo sterminio, Torino: UTET 2010, S. 170-91. 30 Siehe Howard Blum: Ihr Leben in unserer Hand. Die Geschichte der Jüdischen Brigade im Zweiten Weltkrieg, München: Econ Ullstein 2002. 31 Schwarz: Ritrovare se stessi, S. 73.
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vor der Deportation rettete. Die Erfahrungen jener Monate sind voller Widersprüche und lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Sie haben jedoch zur Konstituierung einer zivilen Verbindung zwischen den jüdischen Gemeinden und der italienischen Bevölkerung verholfen, sowie für eine positive Erinnerung gesorgt. Und gerade diese positive Erinnerung ist heute in den verschiedenen Gedenkstätten sichtbar, die der Geschichte des italienischen Judentums und der Shoa gewidmet sind. Das italienische Judentum und die „Gerechten unter den Völkern“ Die Besucher sollen das Museum der Shoa in Rom, das im Jahr 2016 eröffnet werden soll, über den Viale dei Giusti (die Allee der Gerechten) erreichen, eine Allee, die den 387 Italiener/innen gewidmet ist, die während der Kriegszeit jüdischen Bürgern aktiv geholfen haben. Sie stellen offensichtlich einen sehr kleinen Teil einer viel größeren Bürgerbewegung dar, „deren Teilnehmer wir in Zukunft mithilfe einer speziellen wissenschaftlichen Forschung identifizieren werden“.32 Mit diesen Worten schließt Liliana Picciotto Fargion, Verantwortliche für die CDEC Stiftung in Mailand, die erste Sammlung von Zeugnissen über die „italienischen Gerechten“ ab, die 2004 erschienen ist. Die den „Gerechte unter den Völkern“ erteilte Anerkennung wurde von Yad Vashem in Jerusalem 1962 vorgeschlagen, mit dem Ziel, alle Erfahrungen von Hilfeleistung und Unterstützung der jüdischen Gemeinden während der Verfolgung hervorzubringen. Das Thema der italienischen Gerechten ist sehr kontrovers, bleibt aber ein wichtiges Dokument über das Italien zur Zeit der Verfolgungen zwischen 1943 und 1945, ein Land, in dem „sich nicht wenige Menschen jüdischen Ursprungs unter den lokalen Bevölkerungen verstecken konnten, die sich somit in gewisser Weise als eine der zivilsten Europas erwies“.33
32 Liliana Picciotto Fargion: „I Giusti D'italia. Il soccorso agli ebrei durante la Repubblica Sociale Italiana e l'occupazione tedesca 1943-1945“, in: Israel Gutman/Bracha Rivlin (Hg.): I Giusti d'italia. I non Ebrei che salvarono gli ebrei 1943-1945, Milano: Mondadori 2004, S. 268. 33 Nathan Ben Horin: „Alla ricerca dei giusti“, in: ebd., S. XVII.
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Diese positive Spur bleibt in den Nachkriegsjahren unverändert erhalten bis zur Errichtung der römischen Gedenkstätte, in welcher der Architekt Luca Zevi gerade durch seinen Gestaltungsvorschlag für den Eingangsbereich des Museums versucht hat, den komplexesten Aspekt zu verbildlichen, „als Antwort auf das Klischee des guten Italieners, das im Inneren des Museums kritisch thematisiert wird, nach dem es das diktatorische Regime jedem unmöglich machte sich den Rassengesetzten von 1938 und den Pogrome gegen Juden durch die Nazis und die Faschisten während der deutschen Okkupation zu widersetzten: Doch der Widerstand war möglich und ist immer möglich, wie das Beispiel jener tapferen Menschen beweist, deren Vorbild und Namen – alle Namen – wir nicht vergessen dürfen“.34 Das Thema der Gerechten wird in Italien in letzter Zeit sehr tief empfunden, da es in das universalistische Verständnis katholischer Prägung eingebettet wird, das die Begriffe der Rettung, der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe in den Mittelpunkt setzt. Die Vielfalt der Hilfeleistungen zugunsten der jüdischen Bevölkerungen war zu der Zeit tatsächlich beachtlich und bedeutend, mit „unterschiedlichsten Formen der Übereinstimmung, die auf familiären, beruflichen, freundschaftlichen und gemeinschaftlichen Beziehungen basieren“.35
D IE
KATHOLISCHE
A USEINANDERSETZUNG
MIT DER S HOA Die Katholische Kirche von 1943 bis 1961. Kontinuität und Vorurteil in der Betrachtung der jüdischen Gesellschaft Die Beziehung zwischen der katholischen Kirche und der italienischen Gesellschaft zu erforschen, bedarf einer Auseinandersetzung mit äußerst komplexen aber zentralen Aspekten des sozialen und politischen Lebens Italiens. Auch in Bezug auf eine Untersuchung der Sensibilisierung über das Thema des Holocausts ist es offenkundig, wie die Rolle der katholischen Kirche und deren theologische Vorgaben diesbezüglich eine nicht immer
34 Luca Zevi: Conservazione dell'avvenire, Macerata: Quodlibet 2011, S. 144. 35 Picciotto Fargion: „I Giusti D'italia“, S. 257.
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auffällige, jedoch wesentliche Rolle gespielt haben. In diesem Kontext ist nicht nur die Tatsache wichtig, dass „wenn man einen selbst oberflächlichen Blick auf die heute in Italien verfügbare Literatur über die Shoa, den Antisemitismus, den Rassismus, die Beziehungen zwischen Juden und Christen wirft, die beträchtliche Präsenz katholischer Autoren entscheidend ist, nicht so sehr was die Getauften oder Gläubigen, sondern was jene Autoren betrifft, die sich ausdrücklich auf eine konfessionelle Zugehörigkeit berufen.“36 Zu diesen wesentlichen, persönlichen Angaben über die Identität derer, die sich heute mit dem Thema der Shoa in Italien befassen, kommt der kulturelle Aspekt der Art hinzu, wie im Laufe der Jahre die katholische Deutung der nationalsozialistischen Verbrechen formuliert worden ist: gleich nach Kriegsende wurden diese vom universalistischen Standpunkt aus betrachtet und innerhalb einer allgemeinen Kritik des historischen Materialismus und des staatlichen Absolutismus negativ beurteilt. Der von der katholischen Kirche angewandte Mechanismus war damals der einer radikalen Kritik einerseits des kommunistischen Absolutismus und andererseits des Nationalsozialismus als „Machtmissbrauch der Freiheit des Menschen“ und „Anmaßung einer natürlichen Überlegenheit eines Volkes gegenüber einem anderen“.37 Aus vielen einflussreichen Beiträgen aus den ersten Jahren der Nachkriegszeit tritt dieser strategisch-politische Versuch seitens der katholischen Kirche hervor, gleichermaßen jene Illusion des „Nationalismus als Evolution und Streben des Menschen zum Göttlichen hin“38 wie
36 „Che si tratti di ricostruzioni storiche, che si tratti di analisi teologiche o filosofiche, abbiamo assistito negli ultimi anni ad una e vera propria esplosione del contributo dei cattolici. […] Essa sta a dimostrare che nella identità del cattolicesimo italiano contemporaneo, comunque nella sua auto-percezione, la Shoa sia diventata un fatto rilevante, se non addirittura decisivo.“ Renato Moro: „L'elaborazione cattolica della Shoa in Italia“, in: Saul Meghnagi (Hg.): Memoria della Shoa. Dopo i testimoni, Roma: Donzelli 2007, S. 15. 37 Gruppo di studiosi amici di camaldoli: Per la comunità cristiana. Principi dell'ordinamento sociale, Roma: Studium 1945), S. 8-9. 38 Don Carlo Gnocchi: Restaurazione della persona umana, Brescia: La Scuola 1947, S. 6-7.
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auch den „Traum des marxistischen Menschen“39 zu kritisieren und zu rügen: beide stellten in gewisser Weise die „Übel des Zwanzigsten Jahrhunderts“ dar, die von Liebe und Barmherzigkeit im katholischen Sinne überwältigt und besiegt worden waren. Hinter dieser vereinheitlichenden Lesart der zwei Diktaturen verbarg sich die universalistische Absicht der katholischen Kirche, die an eine (durchaus auch authentische und nicht bloß instrumentelle) Idee „der Zentralität und des Wertes des Menschen“40 gebunden war. Innerhalb dieses theologisch-politischen Rahmens kann auch die von der katholischen Kirche der antijüdischen Vernichtung und Verfolgung zugeordnete Rolle neu gelesen werden, im Allgemeinen auf die Verfolgung von „Menschen durch Menschen“ reduziert. Bekannt ist, dass Papst Pius XII. in seiner Rundfunkbotschaft vom 9. Mai 1945 über das Ende des Krieges in Europa jeglichen expliziten Verweis auf die jüdische Tragödie ausließ, mit einer nebulösen Beschreibung des Krieges als „Uneinigkeit und blutiger Kampf zwischen Völkern und Stämmen“.41 Wenn wir einmal die große Debatte über die „Verantwortlichkeiten der katholischen Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus“42 ausklammern, wird trotzdem klar, wie hinter den Deutungswahlen der katholischen Kirche in Wirklichkeit die Notwendigkeit stand, weiterhin gute Beziehungen zum italienischen Staat während der schwierigen Übergangspha-
39 Mons. Adriano Bernareggi: „Verità e Libertà“, in: Movimento laureati di Azione Cattolica (Hg.): „Professione, cultura, società“, Roma: Studium 1954, S. 195. 40 Moro, L'elaborazione cattolica della Shoa in Italia, S. 19. 41 Pio XII: Discorsi per la comunità internazionale (1939-1956), Roma: Studium 1957, S. 6. 42 Giovanni Miccoli: „La Santa Sede nella II Guerra Mondiale: Il problema dei silenzi di Pio XII“, in: Giovanni Miccoli (Hg.): Fra mito della cristianità e cristianizzazione. Studi sul rapporto Chiesa-Società nell'età contemporanea, Casale Monferrato: Marietti 1985, S. 329-30. Die Rolle von Pio XII in der Verfolgung italienischer Juden wird heutzutage bekanntlich noch debattiert. Vgl. auch Moro: „L'elaborazione cattolica della Shoa in Italia“, S. 34-35; MatteoLuigi Napoletano/Andrea Tornelli: Il Papa che salvò gli ebrei. Dagli archivi del Vaticano tutta la verità su Pio XII, Casale Monferrato: Piemme 2004; John Cornwell: Hitler's Pope. The Secret History of Pio XII, New York: Wiking 1999.
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se zwischen monarchistisch-faschistischem und republikanischem Staat zu unterhalten. In diesem Licht erschienen eine Verringerung der italienischen Verantwortlichkeit und eine Wiederbelebung der Rhetorik „des traditionellen katholischen Geistes der Italiener“43 politisch unerlässlich: Die enge Parallelität zwischen nationalsozialistischem und kommunistischem Totalitarismus strebt somit an, den italienischen Faschismus aus dem Schatten der Tragödie herauszulösen und seine rassistischen Auswüchse als die alleinige Folge eines unheilvollen deutschen Einflusses darzustellen, der dessen Wesenszüge verfälscht hat.44
Von dieser politischen Strategie einmal abgesehen, ist es jedoch unumgänglich zu bemerken, dass bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil die Art, die die Christen das Judentum betrachten, unverändert auf einer im Grunde genommen traditionellen Idee beruht, und zwar auf jenem klassischen Antisemitismus, der die Juden außerhalb der universalistischen Deutung des Katholizismus hielt. Deshalb kann man sagen, dass es nicht nur politische Notwendigkeiten waren, sondern auch theologische Gründe, welche die katholische Kirche von der Verarbeitung des Holocausts fernhielten: Die Position der katholischen Kirche in der Zeit vor dem Konzil war darauf bedacht, die Eckpfeiler jener mit Vorurteilen behafteten Betrachtungsweise des israelitisches Volkes zu stärken. Die üblichen Beschuldigungen des „Materialismus“, des „Isolationismus“, der „Praxis der Lüge“, der „Kälte“, des „Rassenstolzes“, des „Formalismus“ blieben unverändert und zentral in den Äußerungen der Vertreter der katholischen Kirche zur jüdischen Kultur bestehen.45 Die Theorien über den Antisemitismus, wie die Poliakovs, haben die politische, theologische und rassistische Komplexität der Wahrnehmung der jüdischen Minderheit in Europa wie in Italien umschrieben. Besonders die Betrachtungen Renato Moros lassen jedoch seit Ende der fünfziger Jahre die allmähliche Entwicklung einer neuen Lesart des Schick-
43 Alcide Degasperi (1881-1954) gilt als einer der Gründerväter der italienischen Democrazia Cristiana als auch der Europäischen Union; Vgl. Andrea Damilano: Atti e documenti della democrazia cristiana 1943-1967, Roma: Cinque Lune 1968, S. 52. 44 Moro: „L'elaborazione cattolica della Shoa in Italia“, S. 17. 45 Ebd., 22.
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sals des jüdischen Volkes hervortreten, die gerade dem spezifischen Gewicht der Vernichtung zukommt. Das Hervortreten direkter Zeugnisse, das Erscheinen wichtiger Bücher, wie das Tagebuch der Anne Frank, die Bücher Giorgio Bassanis oder Edith Steins Texte und dazu noch eine relative Offenheit der christlichen Theologie gegenüber neuen Richtungen der Philosophie, wie dem Personalismus Mouniers und der Ethik von Emmanuel Lévinas oder Jean Baptiste Metz, werden den Katholizismus-Diskurs zu Beginn der sechziger Jahre in die Richtung einer neuen ökumenischen und theologischen Notwendigkeit leiten, die später mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zwingend wird. Das Gewicht dieses kulturellen Umbruchs innerhalb der italienischen Gesellschaft prägt die nachfolgende Generation zutiefst, vor allem was den interreligiösen christlich-jüdischen Dialog angeht. Das Zweite vatikanische Konzil. Universalistischer Umbruch und Thematisierung des Shoadiskurses Die Dynamiken eines vatikanischen Konzils können hier nicht gründlich erläutert werden: Ich werde dennoch versuchen, einige Elemente zu liefern, um das Gewicht der Shoa in der Formulierung der feierlichen und grundlegenden, mit Nostra Aetate betitelten Erklärung vom 28. Oktober 1965 verständlicher zu machen. In jenem Text, „wahrhaftiger Ausgangspunkt eines neu eingeschlagenen Weges im allgemeinen Umgang der katholischen Kirche mit dem Geschlecht Abrahams“,46 fand das spirituelle Band mit dem Judentum, sowie die gegenseitige Vertrautheit und Achtung von Judentum und Christentum neue Bestätigung. Vor allem aber wurde bekundet, dass „weder alle zu der Zeit noch lebenden Juden, noch die Juden der heutigen Zeit für die Passion Christi beschuldigt werden konnten“.47 Hinter dieser grundlegenden doktri-
46 Piero Stefani: Chiesa, Ebraismo e altre religioni. Commento alla Nostra Aetate Padova: Messaggero 1998. Piero Stefani gilt als einer der wichtigsten und bekanntesten Bibelwissenschaftler italienischer Kultur und der christlich-jüdischen Auseinandersetzung. 47 Giovanni Cereti/Lea Sestieri: Le chiese cristiane e l'ebraismo (1947-1982). Raccolta di documenti, Casale Monferrato: Marietti 1983, S. 75.
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nären Behauptung verbergen sich zwei Aspekte, die ich herauszuarbeiten versuchen werde: a) Die Enzyklika Nostra Aetate ist das Ergebnis einer internen theologischen Debatte der katholischen Kirche und betrifft die jahrtausendealte Frage vom „jüdischen Volk als gottesmörderisches und von Gott verdammtes Volk“.48 Diese Frage kann natürlich nicht auf historischer, sondern vor allem auf doktrinärer Ebene im Verhältnis zur intimen Beziehung zwischen Christentum und Judentum verhandelt werden. Das Studium der wichtigsten, zwischen 1947 und 196349 vom Vatikan beigebrachten Dokumente lässt erkennen, wie radikal der Übergang erfolgte von einer theologischen, „an die Rolle des jüdischen Volkes in Gottes Plan“ gebundenen Rhetorik hin zu einer „Missbilligung des Hasses in all seinen Formen, der Verfolgungen und aller Erscheinungs-formen des Antisemitismus, die sich im Laufe der Geschichte und von jedermanns Hand gegen die Juden gerichtet haben“.50 Heute ist man vielleicht nicht bereit, das Gewicht anzuerkennen, das jene doktrinären Veränderungen mit sich gebracht haben, für die Logik theologischer und kirchlicher Ordnung glich jener Übergang jedoch einer Revolution. Warum glich er einer Revolution, die wir heute nicht mehr nachvollziehen können? Für die christliche Doktrin, die sich bis zur Zeit des Konzils „nicht eingestehen konnte, eine theologische Behauptung an eine historische Kontingenz zu binden“,51 brachte die ausdrückliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und der Judenverfolgungen zu einer Konfrontation des religiösen Diskurses auf der Ebene und mit der Bedeutung der historischen Ereignisse. „Die Hervorhebung des im Titel der Erklärung zu den nicht-christlichen Religionen enthaltenen Hinweises auf die Gegenwart erscheint alles andere als zufällig: Der explizite Bezug auf die damalige Zeit erweist sich somit als der wichtigste, von der Erklärung selbst aufgestellte hermeneutische Schlüsselpunkt“.52
48 Dieses Thema geht durch die ganze christliche Tradition vom Neunen Testament, über Luther, bis zur heutigen Kirche. 49 1963 ist das Jahr in dem das Konzil begann. Vgl. Cereti/Sestieri: Le chiese cristiane e l'ebraismo (1947-1982). Raccolta di documenti. 50 Paolo VI: Nostra Aetate, 1965. 51 Moro: „L'elaborazione cattolica della Shoa in Italia“, S. 30. 52 Stefani: Chiesa, Ebraismo e altre religioni. Commento alla ‚Nostra Aetate‘, S.12.
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b) Das Zweite Vatikanische Konzil leitet also eine neue historische Phase ein, in der sich die christliche Theologie anschickt, sich mit der Welt da draußen zu konfrontieren. Offensichtlich ist dieser Umbruch nicht als Folge bloßer theologischen Fragestellungen zu verstehen, er ist vielmehr mit jenen Notwendigkeiten der internationalen Diplomatie und des Nachweises der politischen Fähigkeiten der katholischen Kirche verbunden, den historischen Werdegang richtig einzuschätzen. Die sechziger Jahre sind eine Phase der schwerwiegenden Verwicklung der religiösen Theologie in die neuen philosophischen Kategorien und dies spiegelt sich in der Deutung der Rolle und Darstellung der „jüdischen Freunde“ im Sozialleben der Katholischen Kirche wieder, angefangen von den Schulen bis hin zur Religionslehre und zum Gottesdienst, zumindest was Italien betrifft. In dieser Phase tritt auf disziplinarischer Ebene die Nouvelle Théologie hervor, die bereits einen neuen Weg weist „in dem die furchtbare Tragödie des Krieges zum Nachdenken zwingt über das, was es innerhalb des sozialen Organismus der Kirche an Vergänglichem gab“.53 Eine zentrale Rolle werden Philosophen wie etwa Metz, Ricoeur oder Lévinas für die neue christliche katholische Lehre spielen, auf der Suche nach einem hermeneutischen Schlüssel für das Leid des jüdischen Volkes. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil beginnt sich somit ein neuer theologisch-philosophischer Kanon zu bilden, der eine weitverbreitete Sensibilisierung innerhalb der italienischen katholischen Gesellschaft bewirken wird, die sich wie in einer Art erweiterter kultureller Wahrnehmung auf die Akademien und öffentlichen Debatten auswirkt. Der neue Rahmen, in dem die Anwesenheit der jüdischen Gemeinden gelesen wird, ist von der Idee geprägt, die deren historische Position bis zur Phase der Vernichtung zu erklären sucht und zwar nicht im Hinblick auf theologische Notwendigkeiten, sondern auf die universalistische Forderung nach Gerechtigkeit, nach Recht, nach der Beziehung zwischen Mehrheiten und Minderheiten. Es ist vor allem der Philosoph Jean Baptiste Metz, der sich am stärksten vornimmt, an eine Zeit nach Auschwitz zu denken, „ausgehend von den Kategorien der Erlösung als apokalyptischer Einbruch des Ewigen in die Zeit,
53 Moro: „L’elaborazione cattolica della Shoa in Italia“, S. 21. Siehe auch Bernareggi: „Verità e Libertà“, S. 21.
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des eher von der Erinnerung als durch den Geist beseelten Subjekts, des aktiven Mitgefühls, der Teilnahme an einer solidarischen Gemeinschaft.“54 Das Werk Jean Baptiste Metz ist im allgemeinen Kontext des jüdischchristlichen Dialogs zu verstehen, an dem sich auch viele jüdische Philosophen und Theologen beteiligten;55 ich werde im letzten Kapitel dieses Buches auf dieses Thema zurückkommen, wobei bereits jetzt zu bemerken ist, dass die grundsätzliche Behauptung, dass „die christliche Theologie nach Auschwitz endlich von der Überzeugung geleitet werden [muss], dass die Christen ihre eigene Identität auf angemessene Weise nur durch die Gegenwart der Juden konstituieren und begreifen können“56 eine neue und revolutionäre Einstellung für die katholischen Kirsche darstellt. Natürlich werden einige konservative Betrachtungen und tendenziell antisemitische Behauptungen seitens einiger Bereiche der katholischen Kirche nicht ausbleiben: Jene Jahre des Konzils führen jedoch trotz allemzu einer erneuerten Lesart der interreligiösen Beziehungen. Der Beginn des Pontifikats Johannes Paul II. stellt in diesem Kontext einen weiteren Schritt in der politisch-universalistischen Behauptung der katholischen Kirche dar, bereits geprägt durch eine Art „universellen Universalismus“ der religiösen Praxis. In vielen seiner Beiträge verweist Johannes Paul II. auf die „notwendige Gemeinschaft mit dem israelischen Volk“.57 Die Wahrnehmung seiner Beiträge bis 1989 seitens der Katholiken muss auch in Bezug auf diesen Papst als historische Persönlichkeit und wichtiger Zeuge des Zwanzigsten Jahrhunderts58 betrachtet werden, sowie im Kontext eines durchaus auch politischen Bedürfnisses, sich mit den historischen und politischen Verantwortlichkeiten des Holocausts zu konfron-
54 Irene Kajon: „Il dibattito teologico di fronte ad Auschwitz“, in: Omer Bartov et al., Torino: UTET 2006, S. 205. 55 Ebd. 56 Jean Baptiste Metz: „Al cospetto degli ebrei. La teologia cristiana dopo Auschwitz“, in: Concilium. Rivista internazionale di teologia XX, no. 5 (1984), S. 51. 57 Cereti und Sestieri: Le chiese cristiane e l'ebraismo (1947-1982), S. 335-36. 58 „Prima dell’esperienza della ‚chiesa del silenzio‘, oppressa dal regime comunista, questo papa aveva fatto l'esperienza, altrettanto e forse più drammatica, della persecuzione nazista della chiesa polacca, dell'occupazione, della deportazione e della Shoa.“ Moro: „L'elaborazione cattolica della Shoa in Italia“, S. 33.
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tieren, ein Thema, das zum Ende der achtziger Jahre auf europäischer und außerreligiöser Ebene immer stärker hervortritt. Dieser erneuerte Bezug zum Entsetzlichen, zu den Diktaturen und dem „Sinn für das Böse“ ist fester Bestandteil des heutigen religiösen Diskurses und Ergebnis jener grundlegenden Jahre der Öffnung der katholischen Kirche gegenüber Fragen weltlicher und historischer Ordnung. Diese Öffnung ist fester Anspruch der heutigen katholischen Kultur in Italien und bildet die Basis für die Anerkennung der Shoa.
Architektur und Erinnerung
Architektur und Niederschrift
D IE S HOA BESCHREIBEN R OM , B ERLIN , E UROPA
UND IHRER GEDENKEN :
Der 16. Oktober 1943 wird endlich offiziell als Gedenkfeier in den Kalender der Italienischen Republik eingetragen: Dieser Tag – Dienstag, der 16. Oktober 1943 – ist der Tag der Judenrazzia in Rom, bei der 1.053 römische Juden deportiert wurden. Er markiert für die italienischen Juden den Beginn der Shoa. Dieses neue Lemma soll durch die Architektur des Museo della Shoa verewigt werden, die vom römischen Architekten Luca Zevi konzipiert und am 21. Januar 2011 in Berlin, im Ort der Information des Denkmals für die ermordeten Juden Europas vorgestellt wurde. Ein 5.000 Quadratmeter großes Areal wird das Museum der Geschichte der jüdischen Verfolgungen in Europa und Italien, verschiedene Räumlichkeiten für die Forschung und die didaktische Vertiefung und eine Gedenkstätte, auf der alle Namen der deportierten italienischen Juden aufgeführt werden sollen, beherbergen: Darüber hinaus wird eine Allee angelegt, die den Giusti tra le Nazioni (Gerechten unter den Völkern) gewidmet ist – sprich denjenigen, die zur Zeit des Nazifaschismus ihr eigenes Leben riskiert haben, um auch nur einem einzelnen Juden zu helfen. Die Gedenkstätte – die bis Ende 2013 fertiggestellt werden soll – wird inmitten der Gartenanlagen der Villa Torlonia entstehen, dem jetzigen Park des Museums, der als ehemalige Sommerresidenz Mussolinis genutzt wurde und in dem sich zugleich der älteste jüdische Friedhof Europas befand. Das Zusammentreffen dieser Elemente erzeugt mehrere Bedeutungsebenen und legitimiert dieses Umfeld als Standort für die Memoriale nazionale centrale italiano (zentrale, nationale italienische Gedenkstätte) der Shoa.
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Die zukünftige Realisierung der Gedenkstätte ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen (andauernden) politischen und institutionellen Debatte, die sich 2008 mit dem Ankauf des Grundstücks durch die Fondazione per il Museo della Shoa (Stiftung für das Museum der Shoa) konkretisierte. Die Gemeinde Rom und die Landesverwaltung der Region Latium sind mehrheitlich Förderer der Initiative, in die auch das Soprintendenza (Landesdenkmalamt) und verschiedene Vertreter des Ministeriums miteinbezogen sind. Im Grunde genommen wurde die Idee eines historischen Museums der Shoa bereits seit Mitte der neunziger Jahre vorangetrieben. Die beiden ehemaligen Kultusminister Vittorio Sgarbi und Sandro Bondi hatten zu Beginn die Stadt Ferrara für dessen Errichtung vorgeschlagen. Später befasste sich mit dem Vorhaben der damalige Parteichef der Partito Democratico (Demokratischen Partei) Walter Veltroni: Von ihm stammt 2001 der Vorschlag der Errichtung eines wahrhaftigen Museo nazionale dell'ebraismo e della Shoa (Nationales Museum des Judentums und der Shoa) in Rom. Nach einem Jahrzehnt wird die italienische Gesellschaft nun endlich die Verantwortung für die Errichtung eines offiziellen Denkmals für das Gedenken an die deportierten italienischen Juden wahrnehmen. Wie ich bereits im zweiten Kapitel dieser Arbeit dargelegt habe, konkretisiert sich die Durchführung dieser Gedenkstätte zuerst innerhalb eines politischen und sozialen Rahmens nationalen Umfangs und dann in einem europäischen Rahmen. Letztendlich ist diese Entscheidung tatsächlich in Bezug auf eine europäische und gemeinschaftliche Ausrichtung zu verstehen, die im Grunde genommen nach dem Fall der Berliner Mauer das Gedenken an die Opfer des Holocausts in den Mittelpunkt seiner Bildungspolitiken gerückt hat. Rom, Berlin, Warschau, Paris – man könnte auch Washington nennen: Hauptstädte, in deren Mitte sich eine nationale Gedenkstätte befindet, welche die Verbrechen des Nazifaschismus thematisiert. Das Gedenken an die Shoa sickert bereits immer mehr in das politische Vokabular vieler führender Schichten Europas ein und das deutsche Beispiel – so eklatant in den zahlreichen Einbuchtungen der Berliner Gedenkstätten – bildet die Spitze eines Eisbergs, der sich von Italien bis nach Polen erstreckt und Frankreich wie Österreich einschließt. „Gedenken“, „Gedenken, um nicht zu vergessen“, „Gedenken, damit sich die Geschichte nicht wiederholt“: Dies sind nur einige mit hohem Symbolwert behaftete Ausdrucksformen eines verbreiteten öffentlichen
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Wunsches, sich mit der Verfolgung der europäischen Juden als exemplarischem Ereignis auseinanderzusetzen, aus dem sich Lehren und Leitlinien für die Konstruktion eines zukünftigen Europas ziehen lassen. Die Geschichte der Rolle der Shoa und deren progressiv erlangten Zentralität innerhalb der europäischen Debatte ist komplex: Tatsache ist jedoch, dass sie heute das Gedenken an viele weitere Ereignisse und Wunden des Zwanzigsten Jahrhunderts überdauert hat und in halb Europa Teil des Prüfungsprogramms in Schulen und zum Leitsatz für Führungen und Bildungsveranstaltungen geworden ist. Der Shoa zu gedenken bedeutet, sich mit einem intimen Empfinden von Geschichte – von jeder Geschichte – auseinanderzusetzen, das heißt mit der Beziehung von Menschen zu Menschen, mit dem Leben und dem Tod, mit der eigenen Vergangenheit: Auf den ersten Blick scheint dies das Erbe jener dramatischen Erfahrung zu sein. Nicht zu vernachlässigen ist auch ein weiterer Aspekt, und zwar jener der kommunikativen Wirkung der Memoralisierung der Shoa anhand von Vorstellungswelten, welche von den Bürgern heute in Form von gemeinsamen Bildungserfahrungen konsumiert und erkundet werden. Wie bereits beschrieben, ist dieses Potenzial auch in den unzähligen Objekten und Spuren enthalten, die der Geschichte Sprache verleihen, Narrativitäten und Vorstellungswelten freisetzen. Mit dem nach 1989 entstandenen geografisch-politischen Europa ist eine sehr komplexe Topografie zum Vorschein getreten, die teilweise von der vorherigen Geschichte der Unterteilung in Blöcke überschattet wurde. Es ist, als ob sich Realität und Physizität der Geschichte erneut ihrer eigenen Rolle innerhalb der historischen Kartierungen bemächtigt hätten und erneut hervortreten würden aus einer Verbannung, in die sie die politische Logik der Unterscheidung zwischen Kommunismus und Kapitalismus getrieben hatte. Das Jahr 1989 hat eine andere, verborgene Geschichte ans Licht befördert, die in der Nachkriegszeit vielleicht willentlich in den Hintergrund gedrängt worden war: Die Historiografie, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt, wird nicht zufällig gerade nach 1989 stark implementiert und sie beginnt als gemeinschaftlicher und öffentlicher Gegenstand wieder ans Licht zu gelangen, scheinbar unabhängig von politischen Logiken und interpretativen Instrumentalisierungen. Obwohl es sich jeglicher Kontrolle und Einrichtung entzieht, ist dieses Hervortreten der Spuren jedoch immerhin auch das – unbeabsichtigte –
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Spiegelbild eines politischen Willens. Die Memoralisierung der Verbrechen des Nationalsozialismus entwickeln sich nämlich aus der Sprache der Politik und aus dem politischen Alltag heraus, wobei dieser Alltag und diese Logiken sich sehr stark von Land zu Land, von Kultur zu Kultur unterscheiden. Wer die Repräsentation des Holocaustdiskurses in den zwei Ländern, auf die ich mich in dieser Arbeit konzentriere, aufmerksam verfolgt, kann daraus den klaren Eindruck gewinnen, dass die Shoa für eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Anliegen, Ansichten und Interessen steht. Wie ich aufgezeigt habe ist das Denkmal im deutschen Fall das Ergebnis eines Bedürfnisses Buße zu tun und einem epochalen Schuldgefühl eine Gestalt zu verleihen. Im Laufe der Jahrzehnte hat dieser Wunsch viele unterschiedliche Reaktionen ausgelöst: Wenngleich um das Ende der achtziger Jahren eine – zumindest mehrheitliche – „kollektive Notwendigkeit“1 zum Vorschein tritt, wird diese von Beginn an auch erbittert zurückgewiesen und bestritten, ausgehend von einem gewissen Mangel an Möglichkeiten der Teilnahme und Anerkennung oder gar von der schlichten Unmöglichkeit einer Auseinandersetzung. Dieser unaufhaltbare Prozess des Hervortretens erscheint jedoch als der einzig Mögliche. Trotz der Kritik und des Widerstandes gegen die gesamte Memoralisierung des Holocausts und letztendlich gegen dessen architektonische Repräsentation in der Berliner Republik – denken wir bloß an an den Schriftsteller Martin Walser2 – ist es
1
„Im Namen der Toten und der Überlebenden fordere ich nun diese beiden Denkmäler. Es gibt viele Bürger in diesem Land, die das unterstützen werden, dass weiß ich, alle, die mit Phantasie und Erbarmen und Anstand. Kriegerdenkmäler haben wir in Hülle und Fülle. Vom ersten und vom zweiten Weltkrieg. Ein Holocaust-Denkmal haben wir immer noch nicht. Mal sehen wie viele Gedenktage, Sonntagsreden und Beteuerungen von Vergangenheitsbewältigung wir noch über uns ergehen lassen müssen, bis wir endlich auch ein solches Denkmal haben.“ Lea Rosh: „Kriegsdenkmäler - ja, Holocaust-Denkmal - nein?“, in: Vorwärts vom 05.11.1988.
2
„In der Diskussion um das Holocaustdenkmal in Berlin kann die Nachwelt einmal nachlesen, was Leute anrichteten, die sich für das Gewissen von anderen verantwortlich fühlten. Die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fussballfeldgrossen Albtraum. Die Monumentalisierung der Schande. Der Historiker Heinrich August Winkler nennt das ‚negativen Nationalismus‘. Dass der, auch wenn er sich tausendmal besser vorkommt, kein bisschen besser ist als sein
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offenkundig, dass die deutsche Geschichte und die Entwicklung einer gewissen deutschen Nationalkultur nach 1989 die Phase der Memoralisierung des Holocausts zwingend durchlaufen musste. Was aber verbirgt sich hinter dieser symbolischen Macht? Was ist der politische und anthropologische Kern, der im Hervortreten des Holocausts als erfolgreiche Form des Gedenkens mitimpliziert ist? Hinter dieser in Form unterschiedlicher Debatten in die Geschichte eingegangenen Querelle verbergen sich in Wirklichkeit zwei grundlegende Aspekte, die mit der Modalität der Inanspruchnahme der Memoralisierung des Holocausts, aber auch mit deren symbolischer Natur verbunden sind. Der erste Aspekt ist politischer, der Zweite philosophischer Natur: a) Im Mittelpunkt der Repräsentation des Holocausts, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten herauskristallisiert hat, steht immer das Individuum. Trotz der spezifischen Qualität der Opfer des nationalsozialistischen Wahns – jüdische Bevölkerung Europas, Sinti und Roma und andere – steht im Mittelpunkt der mit dem Gedenken in Verbindung stehenden Erfahrungen immer eine post-identitäre und individualisierte Erfahrung, die von den Subjekten abverlangt, dass sie ihre eigene kulturelle, nationale und ethnische Identität ablegen, während sie ihnen eine Verwurzelung und Anerkennung universeller Natur bietet. Dieses Prinzip ist die universalisierende Macht des Holocausts aber auch das Ergebnis unterschiedlicher Prozesse historischer sowie politisch-philosophischer Natur,3 die in dieser Arbeit bereits erwähnt wurden. Einige Kritiker haben die Risiken deutlich aufgezeigt, welche diese morphologische Transformation der Bedeutung eines spezifischen historischen Ereignisses mit sich bringt. Dan Diner, der anlässlich der Präsentation der römischen Gedenkstätte im Februar 2011 in Berlin anwesend war, hat die Frage zur Gefahr einer Banalisierung aufgeworfen, die sich hinter solch einer Monumentalisierung verbirgt: Als unbeabsichtigte Symbole einer Identität und eines nationalen Willens sind sie gleichzeitig
Gegenteil, wage ich zu vermuten. Wahrscheinlich gibt es auch eine Banalität des Guten.“ Martin Walser: „Die Banalität des Guten. Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels“. in: FAZ vom 12.10.1998. 3
Der habermasianische Begriff einer „post-konnventionellen Gesellschaft“ beschreibt ausführlich diese neue Tendenz; Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1987, S. 161-79.
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Orte des Gedenkens an Genozide, die selbst Folge eines Willens nationalistischer Natur sind. In Berlin haben wir die Entstehung des Denkmals von Peter Eisenmann mitverfolgt, einer zu Genüge in den Kreisen der Politik, der Historiker und der Presse durchdiskutierten Architektur, nicht nur weil das bloße An-sprechen des Themas Holocaust in diesem Land die Debatte auf den Kern einer nationalpolitischen Räson zurückverweist, sondern vor allem aufgrund der architektonischen, skulpturalen und physischen Radikalität jenes so imposanten und aufdringlichen Denkmals. Wie auch immer man es betrachten möchte, Peter Eisenmans Denkmal ist vor allem der Ort einer identitären nationalpolitischen Würdigung, die jedoch zur gleichen Zeit dazu einlädt, die Gedanken auf eine post-identitäre Erfahrung zu richten. Nun wird auch Rom seine nationale Gedenkstätte erhalten; einen Ort des zentralen, endgültigen und koordinierten Gedenkens an die italienische Shoa. b) Wenn Dan Diners Beschreibung stimmt, das heißt, wenn Projekte wie jene von Peter Eisenman in Berlin oder von Luca Zevi in Rom von Anbeginn als nationale Gedenkstätten und demnach von einem starken identitären Drang heraus konzipiert werden, muss andererseits auch bemerkt werden, wie sich die vielschichtige und epochale Bedeutung der Vernichtung der Juden Europas im Laufe der Jahre durch ein Netzwerk unterschiedlicher Architekturen, Räume, Orte, Zentren und Museen strukturiert und konstituiert hat, die nicht nur die Funktion erfüllen, den Kern des Gedenkens an die Ereignisse am Leben zu halten, sondern auch deren Nuancen, Besonderheiten, Komplexitäten wahrnehmbar wiederzugeben. Was ist die Bedeutung dieser Räume? Welche Erfahrung bieten sie? Und was ist deren politischer und ökonomischer Wert? In der Tat gibt es zahlreiche Orte des Gedenkens, die sehr unterschiedlichen Typologien entsprechen: Unter ihnen findet man Konzentrationslager, Verschiebungslager, symbolische Orte wie der Raum – eine einfache Wiese – in der Ukraine, wo vermutlich die ersten Massenmorde in Gaswagen begangen wurden4 und darüber hinaus Architekturen, Installationen. Ein jeder dieser Orte erzählt eine eigene Geschichte, liefert eine unterschiedliche Deutung des Phänomens, wobei dessen kryptische und tragische Tiefe intakt bleibt. Im unterirdischen Learning Center des Denkmals für die ermordeten Juden Europas sind 536 dieser Orte archi-
4
Siehe Wolfgang Benz: Die 101 wichtigsten Fragen. Das Dritte Reich, München: C.H. Beck 2013, § 66.
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viert, von Babi Yar bis Portbou, wo der Philosoph Walter Benjamin Selbstmord begang. Es handelt sich somit um Gedenkstätten, die, obwohl national geprägt, über den Bezug zur nationalen Kultur hinausweisen und eine europäische Geschichte erzählen. Die Memoralisierung der Shoa scheint die Logiken einer Zugehörigkeit und einer parteilichen Anerkennung aufzubrechen, wobei sie die Frage nach dem einzelnen Subjekt und nach der Verantwortung jedes Einzelnen gegenüber dem Wert der Erinnerung und der Gewalt vom Menschen am Menschen stets in den Mittelpunkt rückt. Diese Topografie des Terrors und des Genozids gestaltet sich als symbolische Textur,5 welche die Konstitution der politischen Subjekte des heutigen Europas begleitet und lenkt.
A RCHITEKTUR
ALS HISTORISCHER
E INSCHNITT
Der Vergleich zwischen den zwei Gedenkstätten in Rom und in Berlin erfordert zuerst eine Überprüfung der architektonischen Qualität und der Besonderheiten dieser Orte. Der von den zwei räumlichen Komplexen erzeugte architektonische Diskurs ist eindeutig das Ergebnis mehrfacher Ebenen, von einer solchen der puren Ingenieursleistung bis hin zu einer Symbolischen. Der Begriff „Orte des Gedenkens“ selbst verweist zudem auf die doppelte Bedeutung des Erinnerns, einerseits als Schutz und Erhaltung6
5
Deshalb wird die Textur von Holocaust-Denkmälern so ausgeweitet, dass auch die Zeit und der Ort ihres Entstehungsprozesses, ihre tatsächliche Errichtung unter bestimmten zeitgeschichtlichen und politischen Umständen, ihre fertige Form in einem öffentlichen Raum, ihre Position in der Konstellation der nationalen Erinnerung und ihre sich im Laufe sich im Laufen der Zeit ständig erneuernden Existenzformen im Bewusstsein einer Gesellschaft und des jüdischen Volkes beinhaltet sind.“ James E. Young: Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust, Wien: Passagen 1997, S. 45.
6
Das Thema des Verhältnisses zwischen Orten und Gedächtnis ist ein altes philosophisches Thema, das schon bei dem großen Theoretiker der römischen Mnemotechnik Cicero zu finden ist. Diese und andere klassische Betrachtungen wurden von Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck 1999 zusammengefasst: „Selbst
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verstanden, andererseits als positive Determination der heutigen Zeit. Die Worte James E. Youngs – wahrscheinlich einer der Ersten unter denen, die das Potenzial der neuen Topografien der Erinnerung in der heutigen Welt erahnt haben – enthalten gerade diesen Kernpunkt: „In ihrer ikonografischen, architektonischen und textlichen Organisation dieser Gedenkstätten spiegeln sich stets bestimmte politische und kulturelle Erkenntnisse und Haltungen wider; gleichzeitig haben diese Einrichtungen einen Entscheidenden Einfluss darauf, was künftige Generationen von dieser Zeit erfahren, wie sie sie verstehen werden“.7 Diese rein politische Bedeutung bestimmter Orte (vor allem in Bezug auf die Geburt der Nationen) ist auch in den Schriften vieler weiterer Interpreten der Repräsentation historischer Prozesse wie Eric Hobsbawm und Benedict Anderson ein immer wiederkehrendes Thema:8 In meiner Arbeit steht es jedoch für den grundlegenden Begriff, ohne den es nicht möglich ist, sich mit den Gedenkpraxen auseinanderzusetzen. Der Raum der Erinnerung ist ein politischer und kultureller Raum, der in seiner Komplexität erfasst werden muss: Aufgabe der philosophischen Diskursanalyse ist es, Licht auf die einzelnen Ebenen zu werfen, auf denen sich jener Raum etabliert. Architektonische Strukturen, wie die der Gedenkstätten, stehen niemals nur für sich, sie sind vielmehr auf mindestens vier Aspekte zurückzuführen, auf die es sich lohnt, näher einzugehen: a) Autorenschaft: Der Name und die Identität des Autors sind ein wesentliches Element, da es die architektonische, künstlerische und skulpturale Absicht betrifft, welche die Definition der zwei Projekte prägt. Stil, kulturelle Bezugnahmen und Herkunft des Architekten sind oft ausschlaggebend für das Hervortreten der Eloquenz und der Kraft des Gedenkens. Im
wenn Orten kein immanentes Gedächtnis innewohnt, so sind sie doch für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräume von hervorragender Bedeutung. Nicht nur, dass sie die Erinnerung festigen und beglaubigen, indem sie sie lokal im Boden verankern, sie verkörpern auch eine Kontinuität der Dauer, die die vergleichsweise kurzphasige Erinnerung von Individuen, Epochen und auch Kulturen, die in Artefakten konkretisiert ist, übersteigt.“ S. 299. 7
Young: Beschreiben des Holocaust, S. 267.
8
Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780, Berlin/New York: Campus 2005; Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin/New York: Campus 2005.
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Fall der zwei von mir gewählten Gedenkstätten sind zum Beispiel die Bezugnahmen der zwei Architekten auf zwei unterschiedliche Traditionen von zentraler Wichtigkeit. Peter Eisenmans Hintergrund ist eindeutig die dekonstruktivistische Erfahrung, welche das Hervortreten einer bestimmten architektonischen Sprache in vielen anderen dem Holocaust und der deutsch-jüdischen Geschichte gewidmeten zeitgenössischen Gedenkstätten und Museen stark geprägt hat. Luca Zevi, Entwerfer der Gedenkstätte in Rom, orientiert sich dagegen an einer deutlich weniger eloquenten und möglicherweise erfolgreichen Tradition, die jedoch durchaus von Bedeutung ist, um die Absicht hinter dem römischen Vorhaben verstehen zu können. Die ausführliche Darstellung dieser zwei unterschiedlichen architektonischen Sprachen bildet die Basis meiner Untersuchung und bereichert den Diskurs um eine notwendige ästhetische Überlegung in Bezug auf Kultur und Funktion der Erinnerung im politischen und sozialen Sinn und in dessen verschiedenen Nuancen, sowohl in Rom als auch in Berlin. Darüber hinaus wird am Rande auch die Beschäftigung mit der jüdischen Identität und mit der Charakterisierung des Gedenkens an den Holocaust in Bezug auf jene Identität zum Gegenstand genommen,9 der in den zwei unterschiedlichen Erfahrungen auf jeden Fall eine zentrale Rolle zukommt. b) Sozialgeschichte: Die Entscheidung für beide Gedenkstätten ist das Ergebnis jahrzehntelanger Debatten um Fragen historischer und politischer Identität in Bezug auf die Aufarbeitung des Zwanzigsten Jahrhunderts. Beide Orte nehmen im Wesentlichen die Gestalt eines Spiegels einer Art kollektiven Anerkennung an, die zahllose Elemente verbindet, von denen sich die intergenerationelle Debatte um die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Frage um die Erzeugung einer kollektiven Identität abheben. Unabhängig von der eigenen Position, stellt jedoch der politische Konsens und folglich die demokratische Teilhabe letztlich die grundlegenden Momente dar, welche diese zwei Orte von anderen Gedenkstätten unterscheiden, die dagegen oft dem Willen der Politik oder bestimmter Auftraggeber entsprechen. Der Gründungsmoment der Gedenkstätten markiert somit in einem gewissen Sinne das Abschließen mit einer bestimmten Vergangenheit und das Eröffnen neuer Perspektiven: Er fügt eine neue Narration und neue Lehren in den Text der politischen Identität ein. Rom und Berlin bil-
9
Vgl. Gavriel D. Rosenfeld: Building after Auschwitz. Jewish Architecture and the Memory of the Holocaust, New Haven/London: Yale University Press 2011.
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den hierin keinesfalls Ausnahmen, da für beide Gedenkstätten zwei sehr spezielle Standorte ausgewählt wurden, deren historische und topografische Bedeutung eng mit den Geschichten und den Themen des Zweiten Weltkriegs verbunden ist.10 Die Ermittlung der Eigenartigkeit und der politischen Bedeutung dieser Orte ist zum Verständnis deren symbolischer Wirkung unbedingt erforderlich. c) Topografisch-architektonische Geschichte: Die Erbauung der Gedenkstätten ist das Ergebnis eines kontingentierten architektonischen und technischen Prozesses, der oft zu einer Neugestaltung der früheren Projekte bis zu deren drastischer Veränderung führt. Dieser Aspekt ist eng verknüpft mit den Topografien und den Standorten, an denen die Gedenkstätten erbaut werden, jedoch vor allem auch mit der Immanenz der Maßnahmen – sprich der durch sie bedingten Sanierungen, Planungen und Baustellen. Diese drei Momente charakterisieren die technische, skulpturale und ästhetische Identität der Gedenkstätten: Die architektonischen Sprachen sind naturgemäß in eine veränderliche Narration eingeschrieben, die aus Räumen, Spuren und Schriften besteht. Insbesondere im Fall von Peter Eisenmans Gedenkstätte wird der architektonische Diskurs immer in den Rahmen einer toposemantischen Überlegung eingebettet, innerhalb deren die architektonische Praxis obsessiv und ständig in einem Bezug zu einer Konzeption von Schrift und Inschrift steht.11
10 In Berlin „hat sich der Förderkreis um das Gelände am Tiergarten bemüht, denn für das größte Verbrechen in der deutschen Geschichte musste ein zentraler Gedenkplatz im Herzen der Hauptstadt gefunden werden. Das Denkmal liegt in unmittelbarer Nähe zu Hitlers Reichskanzlei, zum Luftschutzbunker von Joseph Goebbels und zu vielen zentralen Gebäuden des Naziregimes. Der Standort ist also in mehrfacher Hinsicht ein symbolisches Areal.“ In Rom hat man sich für das Areale der Villa Torlonia, die nicht nur die damalige Residenz des Duces während des Faschismus war, sondern auch die über einem der ältesten jüdischen Friedhöfen Europas liegt. 11 „The importance of presentness as a term for architecture is that it distinguishes a writing from an instrumentality of aesthetics and meaning. Presentness as a writing is the possibility of a subversion of the thought-to-be convention of type in architecture. This insideness as a writing is both a trace of this already given and the possibility to experience this trace in space.“ Peter Eisenman: Written
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d) Mnestische Erfahrung und symbolischer Verweis: Dieses Element verweist auf die symbolische Macht, die eine Gedenk-Architektur auf die abertausenden Besucher ausübt, welche sich treiben, sie zu durchqueren und stellt unterschiedliche Aspekte als Voraussetzung. Zunächst geht es hier um das Rätsel des Bewusstseins, sprich des Vorverständnisses, das Besucher und Passanten bereits von der Funktion und der Bedeutung der Gedenkorte haben. Die Tatsache, dass diese Räume im Gegensatz zur eigentlichen Intention oft skurrile oder dissonante Bezüge evozieren, soll eben nicht von deren ursprünglicher Funktion und Semantik ablenken. Diese Spannung zwischen Text, dem architektonischen Diskurs und dem immanenten Hypertext betrifft nicht nur die Unwissenheit des Besuchers, der ohnehin legitimiert und frei ist, die Orte nach eigenem Gutdünken zu interpretieren, sondern hat mit der Wirkung einer beliebigen architektonischen Stätte zu tun, denn „in der Bildhauerei zwingt einen allein schon das Material fort von der reinen Darstellung und hin zur Abstraktion“.12 In jedem Abschnitt, der dem Berliner Denkmal gewidmet ist, werde ich eine Art phänomenologische Beschreibung der Landschaft anhand von Peter Eisenmans Entwurf präsentieren, mit dem Ziel, genau den zentralen Aspekt der Gedenkprozesse zu problematisieren, nämlich den der Beziehung zwischen Niederschrift und evokativer Kraft der historischen Repräsentation. Diese Spannung überschattet jenes allgemeinere Spannungsfeld zwischen individueller und historischer Subjektivität. Die historische Erfahrung steht genau auf dieser Schwelle und stellt das pulsierende Herz der anamnestischen Erfahrung dar, die an den Orten des Gedenkens entsteht und dort geteilt wird.
Into the Woid. 1990-2004, Selected Writings, New Haven/London: Yale University Press 2007, S. 47. 12 „Doch damit nicht genug, denn wie das Material den Schöpfer eines Denkmals fortzwingt von der reinen Darstellung, so zwingt es auch seine Vision in bestimmte Formen und Dimensionen, und dies alles prägt die Texture der Erinnerung. Schauplätze, die dem Künstler im Gedächtnis geblieben sind, die Geldgeber, die Größe seines Ateliers, die Arten des Steins oder, die Arbeiten in Metall, die Fertigung der Grußformen und der Abguss, all das sind die Elemente, aus denen sich die endgültige Version der zum Monument gewordenen Erinnerung zusammensetzt.” Young: Beschreiben des Holocaust, S. 268.
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R OM
UND B ERLIN : DIE ARCHITEKTONISCHE S PRACHE ZWISCHEN MYTHOLOGISCHEN L ANDSCHAFTEN UND MATERIELLER
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Die Historiker könnten das Binom Rom-Berlin wohl unmittelbar mit der verhängnisvollen und grauenvollen Erinnerung an den Stahlpakt zwischen Hitler und Mussolini verbinden; für eine breitere Zielgruppe steht es jedoch für eine Vielschichtigkeit von Ebenen sowie von literarischen und künstlerischen Verweisen, die weitreichend sind. Goethes Verblüffung, gar seine Erschütterung gegenüber Roms unmöglicher, städtebaulich-architektonischer Geschichte in der es „dem Betrachter vom Anfang schwer zu entwickeln [wird], wie Rom auf Rom folgt, und nicht allein das neue auf das alte, sondern die verschiedenen Epochen des alten und neuen Selbst aufeinander“,13 stellt im Rahmen der deutschsprachigen Literatur vielleicht eine der wichtigsten Quellen dar, welche die Sichtweise der nordisch-germanischen Kultur gegenüber der italischen und lateinischen Welt wirkungsvoll charakterisiert. In gewisser Weise prägt jene Distanz, jenes Aufeinandertreffen unterschiedlicher Epochen, jener Prozess radikalen Zusammensto-
13 „Nun bin ich sieben Tage hier, und nach und nach tritt in meiner Seele der allgemeine Begriff dieser Stadt hervor. Wir gehen fleißig hin und wider, ich mache mir die Plane des alten und neuen Roms bekannt, betrachte die Ruinen, die Gebäude, […] ich tue nur die Augen auf und she’ und geh’ und komme wieder, denn man kann sich nur in Rom auf Rom vorbereiten. Gestehen wir jedoch, es ist ein saures und trauriges Geschäft, das alte Rom aus dem neuen herauszuklauben, aber man muss es denn doch tun und zuletzt eine unschätzbare Befriedigung hoffen. […] Wenn man so eine Existenza ansieht, die zwei tausend Jahre und darüber alt ist, durch den Wechsel der Zeiten so mannigfaltig ist und vom Grund aus verändert, und doch noch derselbe Boden, derselbe Berg, ja oft die selbe Säule und Mauer, und im Volke noch die Spuren des alten Charakters, so wird man ein Mitgenosse der großen Ratschlüsse des Schicksals; […] Andere Orten muss man das bedeutende aufsuchen, hier werden wir davon überdrängt und überfüllt. […] Man müsste mit tausend Griffeln schreiben, was soll hier eine Feder.“ Johann W. Goethe: Italienische Reise, Sämtliche Werke, Bd. 15/2 Hg. von C. Michel und H. –G. Dewitz, Frankfurt a/M: 1993, S. 139-40.
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ßens und -treffens zwischen Kulturen auch die Geschichte und das Gewebe der Orte, die im Zuge dieser Arbeit untersucht werden sollen. Der Monumentalismus von Eisenmans Entwurf steht in diametralem Gegensatz zum Gebäude von Luca Zevi, dass sich trotz der eigenen monumentalen Präsenz im Vergleich zum Berliner Areal über ein völlig anderes Gebiet erstreckt, und zwar über eine Gartenanlage einzigartiger Schönheit – und eine neoklassizistische Villa –, unter der die jüdischen Katakomben des 3. und 4. Jahrhunderts n.Chr. liegen. Der grundlegende Unterschied zwischen den zwei Gedenkstätten ist nicht nur innerhalb deren Struktur selbst zu suchen, sondern auch in den Geschichten und Spuren, die beide bündeln und zusammenlaufen lassen. Die Repräsentation des Holocausts erscheint nicht von den Ästhetiken und den kollektiven Geschichten getrennt, innerhalb deren sie sich konstituiert. Eine Auseinandersetzung mit den zwei Orten des Gedenkens bedingt auch, dass man diese mit deren Gesamtdimension als Orte wahrnimmt, die in eine städtische Topografie eingebunden und Ergebnis sehr unterschiedlicher textueller und symbolischer Narrationen sind. Somit geht es nicht alleine darum, die eindeutigen, fast apodiktischen Unterschiede zwischen Rom und Berlin in Betracht zu ziehen, sondern auch darum, sich vor Augen zu führen, wie die laufende Memoralisierung einem komplexen Diskurs entstammt, der innerhalb der Architektur Geschichte, kollektive Narrationen und Absicht des Architekten miteinander verschmilzt. Die Macht dieser historischen Gestaltnahme ist polyedrisch und bestimmt vor allem die Differenzierungstendenzen, die von Prozessen kollektiver und nationaler Memoralisierung ausgehen. In meiner Interpretation wird Architektur als natürliche, wenn auch komplexe, Transmutation und Umwandlung der historischen Daten und der epochalen Spuren in Räume, Perspektiven – und folglich in Monumente – konzipiert und analysiert. In diesem Sinne beabsichtige ich, mich mit meiner Position von jener gewissen Topolinguistik zu distanzieren, die zwischen Dokumenten und Monumenten, zwischen Spuren und Botschaften unterscheidet.14 Die Macht des architektonischen Zeichens kann ja nicht auf
14 Wie Aleida Assman in Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, München: Fischer 1991. „In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung zwischen Dokument und das Monument erhellend. Dokument nennen wir ein Zeichen, das von einem außen-
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einen intentionalen Prozess der Distinktion zwischen Zeichen und Bedeutung reduziert werden: Die Architektur wird von einer Gemeinschaft gestaltet und mitmodifiziert, deren Spiegel und Spiegelbild sie gleichwohl ist. Dennoch ist es ebenfalls von entscheidender Bedeutung, sich in Bezug auf die in meiner Arbeit untersuchten Gedenkstätten dessen bewusst zu sein, dass diese auch Ergebnis zweier sehr unterschiedlicher topografischer und architektonischer Ordnungen sind, die auch und vor allem in ihrer ästhetischen und morphologischen Qualität verstanden werden sollten. An diesen zwei Orten des Gedenkens wird nicht nur das Gedenken an den Holocaust, sondern in erster Linie auch ein gesamtes ästhetisches und künstlerisches Verständnis, das als Palimpsest für den kommemorativen Diskurs fungiert, in einen politischen nationalen Rahmen gestellt: Die Handschrift eines Autors ist unverzichtbar, weil sie die architektonische Form erahnt und hervorbringt. Gleichzeitig müsste man sich jedoch fragen, inwieweit der Autor ein purer Autor ist15 und ob er nicht eher einen Vermittler darstellt, der im Versuch, Daten, Spuren und Topografien zu interpretieren, nichts anderes tut, als deren laufenden Prozessen der Mit-Modifizierung zu folgen, die seiner eigenen Handschrift vorausgehen. Die Debatte um die Holocaust-Gedenkstätten konstituiert sich auch durch diese zwei Formen des architektonischen Schaffens: Der Dualismus Dokumentalität/Entwurf, sprich das Spannungsfeld zwischen der augenfälligen Präsenz von Spuren und Daten und der Aufgabe, diesen Daten eine Form zu verleihen, indem man sie in einen architektonischen Rahmen hineinzwängt – der auch ein sprachlicher und symbolischer ist, mit einer dominanten ästhetischen Funktionalität – stellt offensichtlich den wahren unterscheidenden Aspekt der zwei Autoren dar oder zumindest jenen, der uns ermöglicht, deren unterschiedliche architektonische Entwicklungen nachzuverfolgen. Durch meine Paralleluntersuchung versuche ich, die Entwicklung der kollektiven Gedächtnisse als organische Prozesse aufzufassen, die mit einer Konstellation von Ereignissen, Praxen und Standpunkten verbunden sind. Diese Vielfalt und Komplexität der architektonischen Diskurse
stehenden Beobachter als solches konstituiert wird, Monument dagegen ein Zeichen, das direkt auf einen Adressaten bezogen ist.“ S. 13. 15 Zu Vergleichen sind die ganz berühmten Texte von Roland Barthes: Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a/M: Suhrkamp 2006, S. 57-63; Michael Foucault: Schriften zur Literatur, Frankfurter a/M: Suhrkamp 2003, S. 7-31.
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um den Holocaust ist ein grundlegender Bestandteil von dessen Repräsentation und als solcher den aufmerksamsten Beobachtern nicht entgangen: Je nach Standort und dem jeweiligen Denkmalschöpfer erinnern diese Denkmäler an die Vergangenheit gemäß unterschiedlicher nationaler Mythen, Ideale und politscher Bedürfnisse. Einige gedenken der Gefallenen, andere des Widerstands und wiederum andere der Massenmorde. Alle spiegeln jedoch vergangene Erfahrungen wider, das gegenwärtige Leben der einzelnen Gesellschaften sowie des Selbstbildnisses eines Staates, das durch den Vorgang des Erinnerns erzeugt wird. Genauer betrachtet reflektieren diese Denkmäler auch den Zeitgeist der einzelnen Erinnerung, deren Position im jeweiligen ästhetischen Diskurs, deren eingesetzte Medien und Materialien. Erinnerung entsteht niemals in einem Vakuum, die Beweggründe für das Erinnern sind immer vielfältiger Natur.16
Der von J. E. Young in diesem Ton formulierte Begriff der Zeitgeistlichkeit kann sicherlich als Provokation aufgefasst werden: Die These, dass die Repräsentation des Holocausts innerhalb historischer Rahmen und politischer Interessen definiert werden kann, ist einerseits mehr als berechtigt, andererseits wirft sie letztlich die Frage der Qualität dieser Kontextualität und der Natur der Interessen auf, denen eine Definition jenes Prozesses unterliegt. Eine Untersuchung der Idee einer Kontextualität der Repräsentation des Holocausts bietet uns die Möglichkeit, dessen politische Funktion und jene soziale Radikalität zu verstehen, durch die sie ausgelöst zu werden scheint. Das Ereignis des Holocausts findet eine architektonische Handschrift, die sich bereit erklärt, innerhalb eines politischen, sozialen und kulturellen Kontexts dessen Intensität zu repräsentieren. In der Tat fungiert die Architektur als Gewebe, das über die Absichten der Architekten hinaus etwas über die Verknüpfungen und Vernetzungen aussagt, die sie zusammenschmelzen scheint. Die gegenseitige Abhängigkeit des architektonischen Gefüges und der politischen Kontextualität ist zentrales Thema der zeitgenössischen architektonischen Theorien und gleichzeitig Leitfaden dieser Arbeit. Sowohl Peter Eisenmann als auch Luca Zevi sind exemplarische Vertreter zweier großer architektonischer Schulen des Zwanzigsten Jahrhunderts, die ich als „dekonstruktivistisch“ und „organizistisch“ bezeichnen
16 Young: Formen des Erinnerns, S. 27-28.
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würde. Diese beiden Narrationen zu beleuchten, ermöglicht uns in der Tat, die Bedeutung ihrer architektonischen Sprache in historischer und symbolischer Hinsicht zu erklären und zu kontextualisieren. Die Architektur als lebende Form In einem von ihm verfassten Text aus dem Jahre 2011 beginnt Luca Zevi mit einer emblematischen Bemerkung, die sich hervorzuheben lohnt, da sie sich als Gegensang zu den bereits zitierten Worten Goethes eignet und den steinigen Weg zur Interpretation des architektonischen Diskurses weist. Die Gegenüberstellung von Erhaltung und Entwurf geht auf das achtzehnte Jahrhundert zurück, als die aus dem kalten Norden stammenden Reisenden auf ihrem Weg zu den Ufern des Mittelmeers auf italienischem Boden auf die Zeugnisse der klassischen Antike stießen, die sie verständlicherweise verzauberten und denen sie den Status von Kultobjekten verliehen. Diese Objekte wurden mit der ihnen eigenen präskriptiven Haltung einem zu der Zeit neuartigen Verfahren unterzogen, welches wir in der heutigen Zeit Erhaltung nennen.17
In diesem Abschnitt stellt Luca Zevi eine besonders artikulierte Behauptung auf: Der Architekt lädt zum Nachdenken ein über das Gewicht einer komplexen wie auch wirkungsvollen Betrachtung der architektonischen Sprache in deren semantischer Spannung zwischen den gegensätzlichen Polen Norden/Süden, Erhaltung/Transformation, westlich-nördliche Mentalität/Mentalität der Länder des Mittelmeerraums. Die Architektur ist die Erzählung von Welten und wandelnden Gespenstern, die sich in Stein gemeißelt wiederfinden und nicht nur gelesen und interpretiert, sondern vor allem gelebt und begriffen werden müssen. In diesem Rahmen fordert der Architekt dazu auf, an eine Alternative zur nördlichen produktiven und archivistischen Welt zu denken: Die jüdische Tradition ist so sehr anti-archeologisch, dass sie das bloße Innehalten in der Nähe einer wie auch immer gearteten Ruine verbietet, sicherlich auch in der Angst, dass sich der Mensch der Depression hingebe, jedoch vor allem, dass sich in der passiven Kontemplation – oder gar in der Verehrung – einer nicht mehr lebendi-
17 Zevi: Conservazione dell'avvenire, S. 15-16.
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gen Wirklichkeit ein gewisser Hang zur Götzenverehrung den Weg bahnen könnte (Babylonischer Talmud, Traktat Berachot, 3a und b; Traktat Avodah Zarah).18
Somit soll die jüdische Tradition in ihrer anti-archeologischen Wirkung sogar die Vorbedingungen für die Alterität der mediterranen, gegenüber der nordisch-norditalienischen Architektur geschaffen haben, fast so als ginge es darum, in der Architektur eine viel tiefere Spur gegenüber dem einfachen Entwurf oder der einfachen Grundidee zu finden. Die Architektur ist das Palimpsest, innerhalb dessen die Kulturen sich behaupten und die Gegenwart ständig die Vergangenheit umwandelt, ohne sie festhalten, erhalten oder gestalten zu können. Hinter Luca Zevis Worten verbirgt sich mehr als eine übertriebene und generationsbezogene Forderung: Seine Überlegungen offenbaren das unablässige Bedürfnis, über die Sakralität der Architektur nachzudenken. In seiner Lesart wird das architektonische Denken zu seinem angeblich projektlosen und vorevokativen Ursprung zurückgeführt, der seines Erachtens nach vorwiegend in der jüdischen Sensibilität zum Ausdruck kommt. Für Zevi stellen die jüdischen Wurzeln sowohl die falsche Alternative zwischen Fortschritt/Rückschritt als auch die verwirrenden Krisen der architektonischen Sprache infrage und ebnen den Weg für eine „Ökologie des Habitats“ im Sinne eines Bewohnens als Praxis und nicht als Maßnahme; eines Bewohnens als Umwandlung und nicht als Gründung. Jenes Bewohnen ist durch die Unterbrechung der „schöpferischen und dominierenden Aktivität des Menschen, sprich durch den siebten Tag, den Ruhetag“19 geprägt. Aufgrund der zahlreichen Verweise auf den Talmud und auf die jüdische soziale Kultur des Mittelmeerraums ist das Lesen Luca Zevis Texte nicht nur versöhnlich und angenehm: Es ermöglicht uns nicht nur seiner Vorstellung von Architektur Farbe zu verleihen, sondern auch Zevis diametrale Gegensätzlichkeit zur Architektur Peter Eisenmans zu erfassen, in der gerade das Fehlen von Farben und Nuancierungen sowie das Primat der Linie, des Einschnitts und der Spur vorwiegen. Luca Zevis Architektur scheint immer die Hinterfragung der Formen anzustreben: Seine Vorstellung von Architektur basiert auf einer offenbarenden Macht der architektonischen Niederschrift, die in den Nuancen
18 Ebd., S. 16. 19 Ebd., S. 21.
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und in der positiven Umwandlung der Räume ihre Raison d'Être sucht. In seinem Buch Conservazione dell’avvenire (Erhaltung der Zukunft) befasst sich Luca Zevi mit der Frage um die Bedeutung der Vergangenheit in der Architektur und um die Art und Weise, wie diese darzustellen ist: Sein Standpunkt steht eindeutig im Kontrast zu der gesamten Tradition des Postmodernismus, „der eine viel ambitioniertere und sträfliche Abrechnung mit den wichtigen Erfahrungen der Planung und Verwaltung des Territoriums vollzieht, welche den Kriterien der sozialen Gerechtigkeit folgen, im Namen des Klein ist gut, der ausgehandelten Städteplanung, letzten Endes des freien Spiels des Marktes, ganz zum Vorteil der dominanten Finanzgruppen“.20 Luca Zevi spricht hier gerade von jenem architektonischen Postmodernismus, der zutiefst vom philosophischen Postmodernismus zu unterscheiden ist:21 Die Entwicklung dieser Kritik ist extrem vielgliedrig, ihr Kern liegt jedoch in der Idee der vitalen Kreativität und der Sakralität der architektonischen Zeit im Gegensatz zu jener einer „fragmentarischen Dekonstruktion“ des architektonischen Raums. Nach Zevis Meinung ist die Rückgewinnung einer Sakralität der Zeit im Begriff des siebten Tages – im Sabbath – wiederzufinden: „Das Fest der Freiheit, der Unabhängigkeit aller Wesen und als solches eine Antizipation der messianischen Zeit, in der Freiheit und Unabhängigkeit unangefochten über die Welt herrschen werden“.22 Hinter Luca Zevis Worten verbergen sich zahlreiche Verweise auf die jüdische Literatur von Abraham Joschua Heschel bis Gershom Scholem und sie fordern uns dazu auf, eher in der Transformation der Vergangenheit als in deren bloßer Erhaltung nach den Möglichkeiten zu suchen, Architektur als historischen Raum und historische Zeitlichkeit zu denken. Architektur ist ja nicht zum Gründen, Konstruieren oder Dekonstruieren allein da: Architektur ist eine offenbarende Kraft, die sich in die Welt integrieren und einen aktiven und organischen Dialog mit ihrer Umgebung aufbauen muss. In diesem Zusammenhang wäre es undenkbar, Lucas Vater Bruno Zevi nicht zu zitieren, eine unbezweifelte Bezugsfigur für die heutige internationale architektonische Kultur. Mit seinen Beiträgen hat er eine Lesart
20 Ebd., S. 20. 21 „Il Post-modernismo, un pasticcio linguistico, immeritatamente identificato con l’omonimo percorso conosciuto dalla ricerca filosofica.“ Ebd., S. 20. 22 Ebd., S. 21.
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für die grundlegenden Prozesse der zeitgenössischen Architektur geliefert, vor allem durch seine Vorstellung der Organico (Organizität), sprich von einer gelehrten Architektur als Metapher der menschlichen Existenz schlechthin. Der architektonische Raum ist nicht nur der Raum eines Maßes, das gefüllt werden muss, sondern zunächst existenzieller und schöpferischer Drang: Das Eingehülltsein ist der Anfangszustand des menschlichen Wesens. Das verlorene Paradies, die stete Berührung um den Fötus. Das Heranreifen wird Öffnungen und Entfernungen mit sich bringen, auch wenn Hegel und Freud uns davon überzeugt haben, dass diese das ursprüngliche Band nicht zu zertrennen vermögen. Diese einhüllende Qualität des Raums hat eine spezielle Funktion: Architektur soll nicht nur ein vergrößertes Gewand schaffen, sondern eine Umgebung, in der sich das Individuum bewegen kann. Von der mütterlichen Brust übergehend zur Wiege, zum Zimmer, zum Haus, zum Stadtteil, zur Stadt, zur Region, existiert das Lebewesen weiterhin innerhalb einer Hülle. Dies ist die Idee, welche die organische Architektur beseelt, von den Plazenta-Formen Wrights zu den Uterus-Formen von Eero Saarinen.23
Die Idee des „Organischen“ bei Bruno Zevi muss im humanistischen und naturalistischen Sinne betrachtet werden. Einerseits baut er auf der großen freiheitlichen und philosophischen Tradition des Naturalismus auf – eines Naturalismus, der jedoch verträumt, traumhaft, teilweise prophetisch ist. Andererseits bezieht er sich auf die große humanistische Philosophie, mit deren endloser Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den Formen des Geistes und deren physischer und technischer Ausführung durch die architektonischen Räume: Man könnte diese Suche als eine Art Hingabe zur Vision „der Stadt als Kunstwerk in stetem Wandel, als Non-finito nach Michelangelos Art“ bezeichnen, die aus der Zeit der Renaissance zu stammen scheint.24
23 Bruno Zevi: Profilo della critica architettonica, Roma: Newton Compton Editori 2003, S. 30. 24 „Continuità tra edificio, città, paesaggio, territorio. La visione è deregolata, varia, conflittuale, ma globale. L’edificio non è più autosufficiente, avulso dal contesto. È concepito nel suo specifico posizionamento urbano, e la sua immagine è inverata dall’intorno. La città dialoga con il paesaggio e il territorio. Pianificazione e libertà sembrano termini inconciliabili; non è così!“ Bruno Zevi: Archi-
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Bruno Zevi, wichtiger Zeuge des italienischen Novecento, hat die internationale architektonische Tradition zutiefst geprägt, vor allem durch die Vorstellung einer Architektur, die positive und evokative Formen zu bauen und zu schaffen weiß, jedoch stets in engem Bezug zur Materie, innerhalb der sie sich konstruiert. Luca Zevi bewegt sich inmitten dieser kulturellen Sensibilität, die zutiefst mit der jüdischen Tradition verbunden ist, welche die Familie Zevi prägt. Wenn man beim Betonen der Bedeutung des „Jüdisch-Seins“ auf Bruno und Luca Zevi25 einerseits etwas Vorsicht walten lassen sollte – wie es im Falle vieler anderer Architekten einschließlich Peter Eisenman geboten ist – erscheint andererseits offenkundig, dass ein Großteil der zeitgenössischen Architektur erheblich von der jüdischen Kultur geprägt ist. Dieser Gegenstand ist von brennender Aktualität, er überschneidet sich mit unterschiedlichen Elementen politischer, sozialer und philosophischer Ordnung und wurde vor Kurzem von Gavriel D. Rosenfeld in seinem monumentalen wie detailreichen Werk untersucht.26 In meiner Arbeit werde ich versuchen, die architektonischen Handschriften nicht in Kategorien von Stilen, Traditionen und Schulen zu zwängen: Hier soll der Prozess beleuchtet werden, durch den die Architektur der letzten Jahrzehnte anhand architektonischer Filigranen, Strukturen und Spuren die Katastrophe der antijüdischen Verfolgung und zugleich die Modalität der Auswirkung jenes Ereignisses auf die architektonischen Sprachen
tettura. concetti di una controstoria, Roma: Newton Compton Editori 1994, S. 90-91. 25 „Zevi’s remark show that by the late 1970s, issues of Jewishness, the Holocaust, and postmodern identitypolitics had coalesced in his architectural philosophy. Zevi’s idea of Hebraism in architecture was significant for several reasons. It expressed a Jewish sensibility and represented a new method of articulating Jewishness in architectural terms. It reflected a growing awareness of the Holocaust’s place in the history of western civilization and, as such, confirmed the growing influence of memory in architecture. Finally, and most significantly, it anticipated and may have helped to stimulate many of the ideas that constituted the deconstructivist movement. In short, like Louis Kahn before him, Zevi helped to usher in a new and more overtly Jewish phase in the postwar history of Jewish architecture.“ Rosenfeld: Building after Auschwitz. Jewish Architecture and the Memory of the Holocaust, S. 155. 26 Ebd.
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repräsentiert und erzählt hat. Im ersten Kapitel habe ich versucht, meine Lesart mit dem Verweis auf die Postmodernität zu ergänzen, bei der es sich nicht um eine pure philosophische Bewegung handelt. Die Postmodernität und im Allgemeinen die kulturelle Krise, die ihren Ursprung in der Repräsentation der Katastrophe des Genozids hat, haben die architektonischen Muster aufs Schwerste beeinflusst. Architektur war nie eine harmlose Tätigkeit, nicht nur wegen ihrer reinen „Einnahme von Raum“,27 sondern vorwiegend wegen ihrer Forderung nach einem Kompromiss – einem radikalen Kompromiss mit der Umwelt, mit den öffentlichen Diskursen und vor allem mit dem zu modifizierenden Raum. Architektur entsteht aus dieser ständigen Frage nach ihrer eigenen Raison d'Être und vor allem aus ihrer eigenen Zweckbestimmtheit. Große Architektur stellt immer den Außenraum infrage, wobei diese Infragestellung vom Inneren einer Sprache, einer Tradition, eines gewissen Blickes ausgeht. In dieser Hinsicht ist es offenkundig, dass eine gewisse jüdische Sichtweise, die auch persönlich direkt von der Verfolgung betroffen ist, eine intensivere Reaktion und Reflektion hervorgebracht hat. Vor allem die Tradition des Deconstructivism weist das unauslöschliche Merkmal der jüdischen Sensibilität und dessen Sichspiegeln innerhalb architektonischer Formen auf, die sehr unterschiedlich und individuell sind. Die Figur Peter Eisenmans ist vielleicht diejenige, die es am intensivsten vermocht hat, die ästhetischen und philosophischen Erfordernisse dieser Sprache widerzuspiegeln und ihnen Form zu verleihen. Der Dekonstruktivismus Im Jahre 1988 fanden sich anlässlich einer internationalen Ausstellung mit dem Titel Deconstructivist Architecture im New Yorker Museum of Modern Art (MoMa) sieben weltweit bedeutende Architekten zusammen. Initiator dieses Ereignisses war der Architekt Philip Johnson. Er selbst beschreibt das Ziel der Ausstellung als die Zusammenführung jener Architekten, die in den vorhergehenden Jahren am stärksten versucht hatten, eine Art „dritten Weg“ zwischen Modernismus und Postmodernismus zu beschreiten:
27 Vgl. John Dewey: Kunst als Erfahrung, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1980, S. 9-71.
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Peter Eisenman, Daniel Libeskind, Frank O. Gehry, Bernard Tschumi, Zaha Hadid, Rem Koolhaas und das österreichische Architekturbüro Coop Himmelb(l)au: Sie alle hatten radikale Entwürfe geliefert, die sich einer einfachen Einordnung widersetzten. Indem sie zugleich modernistische Abstraktion und postmodernistische Wiederbelebung ablehnten, schien die Praxis dieser Architekten einer nihilistischen Neigung zur Zerrüttung der fundamentalsten Traditionen der westlichen Architektur nachzugehen.28
Philip Johnsons Intuition basierte in Wirklichkeit auf einem stark verbindenden Element zwischen den Entwürfen dieser Autoren: Eine irgendwie radikale und in ihrer destabilisierenden Wucht absolut offenkundige, künstlerische Sensibilität. Die in der Ausstellung im MoMa präsentierten architektonischen Modelle selbst, so tief gezeichnet von einer nahenden Einstürzbarkeit,29 zeigten aufs Intensivste die Grenzen eines Diskurses über die Architektur und die Kraft dieser neuen künstlerischen Vision auf. Ziel der Ausstellung war es, den Fokus auf bestimmte, neu auftretende, architektonische Erfahrungen zu richten, die von einer unglaublich starken Idee eines Bruchs mit der Tradition geprägt waren und folglich auf der Idee basierten, eine Krise derselben Zeichen der traditionellen Architektur herbeizuführen. Das Ergebnis war jedoch die Kanalisierung der revolutionären Energien, die in der Kreativität der verschiedenen zur Ausstellung eingeladenen Architekten enthalten waren: Vielen Beobachtern war von Anfang an klar, dass das, was hier als einfache, auf dem Markt der Wettbewerbe und Biennalen einsetzbare Marke präsentiert wurde – das Konzept selbst des Dekonstruktivismus – in Wirklichkeit absolut revolutionäre Erfahrungen und Sichtweisen vereinte, die in einem epochalen Geist wurzelten. In den Monaten vor der Eröffnung der Ausstellung und in den darauf folgenden entwickelte sich das internationale Interesse für diese neue Richtung exponentiell. Nach fünfundzwanzig Jahren kann man heute beo-
28 Rosenfeld: Building after Auschwitz, S. 157. 29 „The models on display in the MoMa exhibition were composed of bent, warped, and fragmented shapes, punctured by flying beams, pierced by sharply angled planes, and ingenuously held up by reed-thin supports. Slanted and skewed, tilted and twisted, the designs left a disturbing impression of disruption and destabilization.“ Ebd., S. 157-58.
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bachten, wie radikal diese Revolution tatsächlich gewesen ist: Architekten wie Daniel Libeskind, Frank O. Gehry, Peter Eisenmann oder Zaha Hadid werden heute dazu berufen, die wichtigsten öffentlichen Gebäude und die urbanen Räume aller Hauptstädte der Welt zu gestalten. Im Grunde genommen war bereits im Begriff Dekonstruktivismus die Intuition einer Komplexität künstlerischer Verweise enthalten, welche den persönlichen Stil jener Architekten prägten30 und sowohl die Philosophie Jacques Derridas als auch den russischen Konstruktivismus des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts aufgriffen, einschließlich deren Hauptfiguren wie Kazimir Malevich und Yakov Chernikov. Kern des architektonischen Dekonstruktivismus ist die Vorstellung einer „weiteren Destabilisierung der harmonischen Form und der formalen Reinheit des architektonischen Zeichens“.31 An der Basis dieser Kritik der traditionellen Formalität (und „des traditionellen Formalismus“) steht sicherlich die strebende Idee der Postmodernität,32 wie auch jene allgemeinere Idee der „Auflösung des
30 Der Begriff erschien zum ersten Mal im Jahr 1988 in einem Artikel von Joseph Giovannini in der New York Times: „Last year, in discussing with editors and architectural colleagues a book I was proposing on the work of these avantgarde architects, I devised the word ‚deconstructivism‘, a conflation of the words ‚deconstruction‘ and ‚constructivism‘. The word has become the accepted name for the movement.“, in: „Breaking all the rules“, New York Times Magazine, Juni 12, 1988. http://www.nytimes.com/1988/06/12/magazine/breaking-allthe rules.html?pagewanted=all&src=pm, (Juni 2016). 31 „The rational frame and the traditional architectural box, with four walls and four corners, are no longer taken for granted. Disparate pieces of a building may be juxtaposed side by side, giving the structure a splintered or warped appearance. Walls sometimes cant; columns incline. ‚Le Corbusier wrote a poem about the divinity of the right angle‘, says Libeskind, ,I think there are many other angles that are equally divine‘.“ Ebd. 32 „Den Ausverkauf des Modern Movement in der Architektur haben wir im Städtebau der neuen Metropolen erlebt. Der Reichtum des Westens führt zu Arbeitslosigkeit im Norden und zu Elend im Süden. Der Medienmarkt schafft eine Tyrannei von Meinungen, und das Kriterium des ‚Erfolgs‘ lässt jegliche Achtung schwinden: die Achtung vor dem Leben, dem Tod und der Natur, den Gefühlen und dem Wissen – die Achtung vor dem Menschen. Und dennoch wächst die Macht des Menschen – angefangen bei seinem Körper bis zu den Galaxien – of-
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Zeichens“33 – vor allem jedoch eine epochale, in der Nachkriegszeit aufkommende Revolution in der Wahrnehmung des architektonischen Raums. Postmodernität, Dekonstruktionismus und Dekonstruktivismus voneinander zu unterscheiden, ist ein ziemlich schwieriges Unterfangen: Es ist jedoch möglich, die Radikalität der dekonstruktivistischen Bewegung zu erfassen, indem man sich mit deren Infragestellung der Metaphysik des architektonischen Raums beschäftigt. Von Metaphysik zu sprechen, ist alles andere als müßig, da in keiner anderen architektonischen Tradition der Modernität das Entwerfen an sich einer solch radikalen und tiefgründigen Hinterfragung der Grundlagen des räumlichen, gestalterischen und „architektonischen Blickes“34 selbst unterzogen worden ist, welche ein Nachdenken über radikale und zentrale Aspekte des philosophischen Diskurses wie die Begriffe „objektive Wirklichkeit“, „Repräsentation“, „Form und Ereignis“ nach sich gezogen hat. Der architektonische Dekonstruktivismus ist zutiefst geprägt von den Krisen der Postmodernität und versucht, dieses auf das architektonische Empfinden und folglich auf die Komposition und den Entwurf zu übertragen. Die Projekte von Frank O. Gehry, Daniel Libeskind oder Zaha Hadid
fenbar unaufhörlich. Doch wozu? Das Projekt der Moderne besteht weiterhin, allerdings in Unruhe und Sorge. Die Ungewissheit erzeugt als Reaktion den Wunsch nach Sicherheit, Stabilität und Identität. Dieser Wunsch nimmt tausend Formen an, zuweilen sogar den Namen Postmoderne.“ Jean-Francois Lyotard: Immaterialität und Postmoderne, Berlin: Merve 1985, S. 9. 33 „Dass das Signifikat ursprünglich und wesensmäßig (und nicht nur für einen endlichen und erschaffenen Geist) Spur ist, dass es sich immer schon in der Position der Signifikanten befindet – das ist der scheinbar unschuldige Satz, in dem die Metaphysik des Logos, der Präsenz und des Bewusstseins die Schrift als ihren Tod und ihre Quelle reflektieren muss.“ Jacques Derrida: Die Grammatologie, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1974, S. 129. 34 „Until deconstructivism, every major architectural movement of the nineteenth and twentieth centuries – from the Arts and Crafts movement to the International Style – had embraced the utopian idea that architecture could help solve the problems of the modern world. By contrast, deconstructivism endorsed Berbard Tschumi’s observation from 1988 that ,our time and age are not about being confortable, but about disturbance, unieasiness and stress‘.“ Rosenfeld: Building after Auschwitz, S. 158.
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haben das architektonische Alphabet der Moderne erneut infrage gestellt, indem sie die Architektur und deren Grundelemente überprüfen. Was ist ein Gebäude, ein Museum, ein Haus? Welchen Stellenwert hat heute die „Bewohnbarkeit“, das „Gedenken“, die „räumliche Erfahrung“? Ist es möglich, der Erinnerung an die Kriege, an die Konflikte, an die Geschichten der Völker wie jene der Kontemporanität durch eine Architektur eine Form zu verleihen und einen Kontext für sie zu schaffen? Und wo steht in alldem das Andere, das Abwesende, das Nicht-Ich? Vermag Architektur das Andere, den Nicht-Ort zu erdenken? Können Beton und Eisen eine Form annehmen, die einen „alternativen Raum“, eine „alternative Geschichte“ erzeugt und wiedergibt? Welche Funktion haben die „Leere“, die „Negativität“, die „Abwesenheit“ in der Architektur? Diese Fragen liegen den Überlegungen der oben genannten Archistars? zugrunde und prägen den Geist der dekonstruktivistischen Bewegung. Sie werden eigentlich weder in den Entwürfen noch in den fertiggestellten Gebäuden vollständig beantwortet: Es handelt sich dabei um Fragen, die konstant bestehen bleiben, lebendig und präsent in der Sprache der Dekonstruktivisten, sie spiegeln sich in einer Art „plastischen Unlösbarkeit“. Peter Eisenman und das Ende der Architektur Unter all den genannten Architekten ist es vor allem Peter Eisenman, der diese radikale architektonische Neuorientierung verkörpert, jene einer epochalen Hinterfragung der räumlichen Formen. Verfolgt man Eisenmans komplexe und vielfältige, berufliche Laufbahn, so kann man erahnen, wie exemplarisch seine Entwicklung vom humanistischen Modernismus – der noch immer an „Le Corbusiers Kanon“35 gebunden war – zu den Sprachen einer Postmodernität als offener Kritik an jeglicher Form von Humanismus
35 In seiner Lektüre von Maison Domino (1914) von Le Corbusier wird Eisenman erklären: „In diesem Zusammenhang ist aber der Umstand noch wichtiger, dass sich in der Maison Domino eine moderne oder selbstreferentielle Zeichenhaftigkeit reflektiert und somit ein wirklicher und zukunftsweisender Bruch mit der vierhundert Jahre alten Tradition westlicher, humanistischer Architektur herstellt.“ Peter Eisenman: „Aspekte der Moderne: Die Maison Domino und das selbstreferentielle Zeichen“, in: Ulrich Schwarz (Hg.): Aura und Exzess. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur, Wien: Passagen 1982, S. 63.
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ist, bis hin zu einem eigenen persönlichen Stil – oder sollte man diesen vielleicht besser Sprache oder Zeichen beschreiben. Im New York der sechziger Jahre war Peter Eisenman Mitglied der Architektengruppe der sogenannten New York Five, die sich alle auf der Suche nach einer Komposition und Kontinuität mit Le Corbusiers Vorstellung einer Zentralität des rationalen und ganz dem Gleichgewicht verschriebenen Raumes befanden. Die fünf Architekten – die wegen deren Beharren auf den regelmäßigen und linearen Formen eines sich bereits in der Krise befindlichen Modernismus auch The Whites genannt wurden – haben einen wichtigen, letzten, radikalen Schub des Modernismus in der Architektur generiert. Jene Architektengruppe stellte vielleicht den letzten Versuch an, sich innerhalb der Einigkeit stiftenden und formellen Formen einer Modernität zu bewegen, die bereits in Scherben lag. Mit seinem Institute for Architecture and Urban Studies (IAUS) lieferte außerdem Peter Eisenman zu jener Zeit einen wichtigen Beitrag zum architektonischen Diskurs. Die Suche nach einer immer radikaleren Auseinandersetzung mit den Formen – ja fast nach einer Abstraktion des Formalen und des architektonischen Zeichens – wird Peter Eisenman bald dazu verleiten, über einen modernistischen Revival hinauszudenken: Seine Gebäude aus den siebziger Jahren – größtenteils Privathäuser – werden sogar nach Nummern benannt und somit fast auf deren pure Präsenz, auf deren pure Serialität reduziert. In der Tat beginnt sich Eisenman gerade in den siebziger Jahren, intensiv mit den Themen des philosophischen Dekonstruktivismus eines gewissen Postmodernismus auseinanderzusetzen und vor allem mit der Figur Jacques Derridas. Die architektonische Praxis muss sich mit einer formalen, materiellen und materischen Unlösbarkeit auseinandersetzen, die so radikal wie irreduzibel ist: Irreduzibel sind die Form gegenüber dem Inhalt, die architektonischen Standorte gegenüber den Ereignissen, die sie einblenden und beinhalten sollen, die Maßbestimmung gegenüber der Räumlichkeit. Das ist die Zeit, in der sich Peter Eisenman mit dem problematischen Gemisch der Postmodernität auseinandersetzen muss: Die Beschäftigung mit Adorno, Benjamin, Blanchot und später Derrida ermöglichen ihm im Laufe der Jahre, sich als Vermittler eines neuen architektonischen jedoch vor allem existenziell-künstlerischen Bewusstseins zu etablieren. Selbst seine Angehörigkeit zur jüdischen Tradition, obschon stets in Verbindung mit einer intensiven Kritizität, ermöglicht ihm ein höchst individuelles und starkes Verhältnis zu bestimmten Ereignissen unserer historischen Gegen-
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wart zu entwickeln und diesem in der künstlerischen Praxis Form zu geben. Auschwitz, wie im Übrigen andere Katastrophen wie der Atombombenabwurf über Hiroshima, sind in seinem Verständnis Momente, die den Anspruch selbst auf eine wie auch immer geartete Ästhetik skulpturaler wie architektonischer Natur unweigerlich infrage stellen. Es droht nicht nur der Diskurs um den architektonischen Raum sowie jener über die Zeit der Architektur zusammenzubrechen: Sie müssen im Rahmen der alles überragenden ethischen und ästhetischen Krise infolge der Zurschaustellung der Katastrophen des Zwanzigsten Jahrhunderts schlichtweg überdacht und neu formuliert werden. Die im Kielwasser einer gewissen Postmodernität gediehenen „Krise des Zeichens“ war in diesem Sinne für jegliche Sprache grundlegend und hat nicht nur die Kritik der Selbstreferentialität der dominanten Diskurse, der Macht und der politischen Sprache mit sich gezogen (siehe Foucault), sondern auch die jeglicher möglichen Diskursivität (siehe Saussure und Derrida). Die Folgen sind auch in Bezug auf die architektonische Sprache offenkundig: Die Architektur blieb etwas vom Menschen Erdachtes, was ihn und seine Bedingungen verkörpert. Ihre physische Struktur und ihre Schutzwirkung wurden als absolute Voraussetzungen angenommen. Bedeutung wurde als etwas der Architektur von außen Zukommendes angesehen, als Vorstellung, welche die Architektur auf den Menschen bezieht, und weniger als der Architektur selbstinnewohnende Idee, die sich aus der Architektur selbst erklärt. Es wurde weiterhin auf die herkömmlichen Darstellungsmethoden von Grundriss, Schnitt und Ansicht zurückgegriffen, um einen Entwurf festzulegen. Wenn Worte aber, wie Saussure es für die Sprache beschrieben hat, ein begriffliches Spektrum in willkürlicher und bestimmter Weise unterteilen, so kann man sagen, dass die fortdauernde Darstellung und Planung von Architektur mittels Grundriss, Schnitt und Ansicht in ähnlicher Weise viele Aspekte der Architektur vorherbestimmt und vermutlich auch viele verdeckt hat.36
Von dieser Problematik in Bezug auf die anti-traditionelle, anti-essentialistische und anti-konformistische Intuition ausgehend, hat Peter Eisenman seine eigene Vorstellung von Architektur entwickelt bis hin zur Entstehung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas: Zwischen dem
36 Ebd., S. 49-50.
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Ende der siebziger und dem Anfang der achtziger Jahre beginnt er somit, die Grammatik der Architektur zu zersetzen, mit dem Ziel einerseits die für die Architektur grundlegende Beziehung „zwischen Form und Funktion“37 zu durchbrechen – mit der Negierung der Existenz eines in sich geschlossenen, absoluten, eindeutigen, architektonischen Raums – und andererseits mit dem Einsatz einer erneuerten Terminologie, wie der deleuzesche Begriff der „Faltung“,38 die Formulierungen „Spur des Abwesenden“,39 „Architektur als Text“,40 „Atopie des Jetzt“41 (in gewisser Weise von Derrida übernommen) oder die Idee des Zeichens als „Fragmentation, Verschleierung, Ereignis“ (allgemeiner aus der Linguistik übernommen):
37 Vgl. Peter Eisenman: „Die Entfaltung des Ereignisses“, in: Ulrich Schwarz (Hg.): Aura und Exzess, S. 193-202. 38 „Anders als der Raum der klassischen Sehordnung überwindet der Gedanke des gefalteten Raums die Wahrnehmungsfixierung zugunsten einer zeitlichen Modulation. Durch die Faltung wird nicht länger die planimetrische Projektion bervorzugt; stattdessen gibt es eine veränderliche Krümmung.“ Peter Eisenman: „Visions’ Unfolding: Architektur im Zeitalter der elektronischen Medien“, in: Ulrich Schwarz (Hg.): Aura und Exzess, S. 211. 39 „Ein Beispiel für dieses Phänomen des Anderen in der Architektur ist eine Spur. Wenn die Architektur primär Präsenz ist – Matrialität, Backstein, Mörtel -, dann wäre das Andere oder das Sekundäre die Spur des Abwesenden.“ Eisenman: „En Terror Firma: Auf den Spuren des Grotextes (Grotesken)“, in: Ulrich Schwarz (Hg.): Aura und Exzess, S. 141. 40 „Die Formgebung wird in dem Verona-Projekt mit dem Diskurs vereint, um eine Architektur als Text zu erzeugen. Unter solchen Voraussetzungen wird die Repräsentation eines Objektes in Form einer Präsentation zurückgewiesen. Repräsentation verweist auf einen außerhalb liegenden Ursprung. Beim Text ist dieses nicht der Fall. Der Text bezieht sich auf seine eigene innere Struktur.“ Eisenman: „Moving Arrows, Eros, and other Errors. Eine Architektur der Abwesenheit“, in: Ulrich Schwarz (Hg.): Aura und Exzess, S. 96. 41 „Die Lektion der Moderne lautet, dass es ebenso keinen Topos der Zukunft gibt. Der neue Topos von Heute muss dadurch gefunden werden, dass man unsere unausweichliche Atopie des Jetzt erforscht. Dies geschieht nicht in ästhetisierter Nostalgie des Banalen, sondern im dazwischen von Topos und Atopie.“ Eisenman: „Die Blaue Linie“, in: Ulrich Schwarz (Hg.): Aura und Exzess, S. 149.
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Somit ergibt sich die Vorstellung einer Architektur als Schrift, die im Gegensatz zu einer Architektur als Bild steht. Was geschrieben wird, ist nicht das Objekt selber – seine Masse und seine Volumen – sondern der Akt der Massenbildung. Dieser Gedanke gibt dem Akt der Architektur einen metaphorischen Körper. Ihre Lektüre vollzieht sich durch ein anderes Zeichensystem, durch Spuren. Diese Spuren sollen nicht wörtlich gelesen werden, denn sie haben keinen anderen Wert, als zu verstehen zu geben, dass es ein Leseereignis gibt, und dass das Lesen geschehen soll; die Spur signalisiert den Anstoß zu lesen. [...] In diesem Sinn ist eine Spur keine Simulation von Wirklichkeit; sie ist eine Dissimulation, weil sie sich selbst als von ihrer vorherigen Wirklichkeit unterschieden offenbart.42
Wenn Architektur in der gegenwärtigen Zeit als „Schrift“ gedacht werden soll, unterliegt sie wie jeder Kodex, wie jedes skripturale Dispositiv der Kritik der post-holocaustischen Postmodernität. Die klassische Gliederung der Zeichen in Kodexe, Alphabete und Semantiken ist auf ewig kompromittiert, scheint uns Peter Eisenman mitteilen zu wollen: Was heute, in unserer gegenwärtigen Zeit übrig bleibt, sind Spuren, die jedoch – wenn sie auch auf Bezüge verweisen – niemals als vollendet und endgültig betrachtet werden können. Die Architektur der Moderne galt als Vertreterin einer „Sprache der Präsenz“, als „Hebamme einer geschichtlich bedeutungsvollen Form“.43 Die Herausforderung an die – in gewisser Weise postmoderne – architektonische Sprache der Gegenwart ist die eines Bruchs mit dem „klassischen Zeichen“ und der Bestimmung einer neuen architektonischen Modalität, die den Raum der Denkmäler nicht als „Präsenz“ und „Festsetzung des Zeichens“, sondern als „Verlegung“ denkt: „Die Architektur in der Gegenwart wird als ein Prozess der Erfindung einer künstlichen Vergangenheit und einer zukunftslosen Gegenwart gesehen. Sie erinnert an eine nicht mehr bestehende Zukunft“.44
42 Eisenman: „Das Ende des Klassischen. Das Ende des Anfangs, das Ende des Ziels“, in: Ulrich Schwarz (Hg.): Aura und Exzess, S. 85. 43 „In dieser Hinsicht stellt die moderne Architektur keinen Bruch mit der Geschichte dar, sondern nur eine Fortsetzung der Kontinuität, eine neue Episode in der Entfaltung des Zeitgeistes. Und die Darstellung ihres spezifischen Zeitgeistes in dieser Architektur stellte sich als weniger modern heraus, als ursprünglich angenommen worden war.“ Ebd., S. 75. 44 Ebd., 87.
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Wie Rosenfeld bemerkt hat, verbirgt sich hinter dieser fragmentarischen – und grundsätzlich dekonstruktivistischen – Natur eine Komplexität der Bezüge, die von der zwanzig Jahre lang andauernden psychoanalytischen Behandlung Peter Eisenmans bis zu all den religiösen und spirituellen Metamorphosen des Architekten reichen. Im Mittelpunkt dieses steten Häutungsprozesses – von einer christlichen Prägung zum Übertritt bzw. zur Rückkehr zum Judentum, von einer klassisch amerikanischen Bildung zur Wiederentdeckung familiärer Erinnerungen an ein deutschsprachiges zentraleuropäisches Judentum – steht jedoch vorwiegend die Erfahrung des vergangenen Jahrhunderts, das Bedürfnis, den Bruch, die Abtrennung, die Unmöglichkeit, der durch den Holocaust erzeugten Wunde anhand architektonischer Formen zu bezeugen.45 Das Berliner Denkmal ist vielleicht das exemplarische Ausdruck seiner persönlichen Entwicklung: Es bildet und verschmelzt eine persönliche Sensibilität mit dem kollektiven und epochalen Bedürfnis, den Begriffen nach dem Holocaust eine Form zu geben. Dieser Gedanke ist jedoch eindeutig radikal revolutioniert; der „architektonische Raum“, der „topografische Sinn“ und die „symbolische Bedeutung“ sind revolutioniert und weisen einen neuen Weg – den der Gegenwart – auf dem die Fragmentierung des Zeichens, das Misstrauen gegenüber „kollektiven Narrationen“ und die Unmöglichkeit, symbolische Entitäten zu denken, welche stabil, stark und verwurzelt sind, ziemlich unerträglich geworden sind. Was ist uns somit heute noch übrig geblieben? Was bleibt vom utopischen Traum? Und von der Vorstellung einer Kollektivität, die Welten, Räume, Projekte teilt? Was bleibt – Peter Eisenman wird es mit dem Berliner Denkmal vollkommen vorführen – ist unsere Erfahrung, unser Durchschreiten. Es sind somit nicht die kollektiven Narrationen, die ein Garant für irgendetwas zu sein vermögen, sondern es ist nur der Einzelne, das einzelne Subjekt, der einzelne Zuschauer, Konsument, Bürger:
45 „Eisenman’s interest in the Holocaust was visible not just in his architectural writings but in his building designs as well. After the early 1980s his buildings showed no single identifiable style. Nonetheless, they ewoked themes – insecurity, instability, anxiety, fragmentation, absence, loss and memory – that reflected the legacy of genocide.“ Rosenfeld: Building after Auschwitz, S. 167.
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Die Zeit des Monuments, seine Dauer zwischen seiner Oberfläche und seinem Grund ist getrennt von der Zeit seiner Erfahrung. In diesem Zusammenhang gibt es keine Nostalgie, keine Erinnerung/kein Gedenken der Vergangenheit, es gibt lediglich eine lebendige Erinnerung, die der individuellen Erfahrung des Erlebens des Denkmals/Monuments.46
46 Peter Eisenman: „Erfahrung am eigenen Leib“, in: ZEIT vom 10.12.1998.
Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas Historische Gründe und politische Funktion
A RCHITEKTUR ALS E INSCHREIBUNG ZWISCHEN G ESCHICHTE UND P OLITIK Die Geschichte zwischen Erhaltung und Fortschritt: Spiel und Fundament der Politik Das Berliner Denkmal von Peter Eisenman ist das Ergebnis einer Pluralität lokaler, symbolischer und politischer Antriebsfaktoren, die, wie ich versuchen werde zu belegen, über das Gedenken an die Opfer des Holocausts hinausgehen, den Diskurs einer politischen Gründung zusammenfassend. Peter Eisenmans 2.711 Betonstelen finden ihre Legitimierung und grundsätzliche Einschreibung nicht zufällig in der Zeit, die mit der politischen Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1989 beginnt. In der Tat wird es die sowohl politische als auch topografische Wiedervereinigung sein, die innerhalb Deutschlands das Aufkommen neuer Bedürfnisse symbolischer Natur und nach emotionaler Teilhabe im öffentlichen Raum generieren wird, verbunden mit den Themen der kollektiven Identität und der Definition einer gemeinsamen Geschichte für die gesamte wiedervereinigte deutsche Nation. Gerade dieser antreibende Rahmen hat das ehrgeizige und anspruchsvolle Projekt Peter Eisenmans ermöglicht. Der emblematische Ort, der zur Errichtung des Denkmals ausgesucht wurde, und die erschütternde Präsenz von Eisenmans Skulptur inmitten der wiedergeborenen europäi-
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schen Metropole wurden durch die deutsche Wiedervereinigung 1989 gezeichnet und legitimiert. Im Grunde genommen entfacht sich jedoch bereits seit Ende der siebziger Jahre eine neue und radikale Debatte, die für den Diskurs um das Denkmal von substanzieller Bedeutung ist und das politische und topografische Gewicht der Thematisierung der Vergangenheit betrifft: Im Nachhinein begreift man erst, wie damals nicht nur die großen Werte oder symbolischen Bedeutungen auf dem Spiel standen, die der heutigen Memoralisierung zugrunde liegen, sondern vielmehr auch dieselbe Topografie der deutschen Hauptstadt, Kern und Gewebe einer möglichen identitären Anerkennung nationaler Bedeutung.1 In der Tat hatten bereits seit Beginn der achtziger Jahre verschiedene Initiativen privater Bürger begonnen, den ehemaligen Standort des Prinz-Albrecht-Palais in Erwägung zu ziehen, 2 der an die Betonwand in der Nähe des Martin-Gropius-Baus angrenzt und absolut zentral in dem erst vor Kurzem wiedervereinigten Berlin gelegen ist, und hatten somit eine Debatte ausgelöst, die sich auf die konkreten Orte und Spuren der Vergangenheit konzentrierte. Das erneute Hervortreten der nazifaschistischen Vergangenheit in ihrer Physizität und Greifbarkeit sollte eine erste Welle von Debatten und Forderungen erzeugen, die von der Zeit der Wiedervereinigung bis zur Erbauung von Eisenmans Denkmal andauern werden. Es war die Stellungnahme jener mit purem bürgerlichen Geist bewaffneten Gruppen von Bürgern, die den Grundstein legten – oder besser gesagt, den ersten Spatenstich vornahmen – für die Debatte um die Topografien der nationalsozialistischen Vergangenheit. Was ist das Prinz-Albrecht-
1
Für einen ersten Eindruck: Senatsverwaltung für Bau und Wohnungswesen, (Hg.): Künstlerischer Wettbewerb. Denkmal für die ermordeten Juden Europas Berlin: 1994; Günter Schlusche/Horst Seferens (Hg.): Das Denkmal? Die Debatte um das ,Denkmal für die ermordeten Juden Europas‘, Berlin: Philo 1999; Deutscher Bundestag (Hg.): Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Gesellschaftliche Diskussion und parlamentarischer Verfahren, Bonn: Bundestag 1999.
2
Siehe Thomas Lutz: „Von der Bürgerinitiative zur Stiftung. Der Bildungsgehalt der öffentlichen Debatte um den Umgang mit dem Prinz-Albrecht-Gelände in Berlin“, in: Heidi Behrens-Conet (Hg.): Bilden und Gedenken. Erwachsenenbildung in Gedenkstätten und an Gedächtnisorten, Essen: Klartext, 1998.
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Palais gewesen? Welche Rolle hatte das Gebäude in der Nazi-Zeit? Diese Frage würde ich auf jeden Fall noch beantworten. Die achtziger Jahre waren in gewisser Weise gleichzeitig eine Phase des Rückflusses sowie der radikalen Veränderungen: Einerseits stellte die Ära Kohls die historischen und politischen Besonderheiten der Achtundsechziger-Generation und vor allem Willy Brandts Ostpolitik3 ernsthaft infrage. Auf einer anderen Ebene kristallisierte sich jedoch ein progressiv wachsendes Bedürfnis nach Anerkennung einer deutschen nationalen Identität heraus, die – wenn auch von Kohl selbst innerhalb eines konservativen und strikt völkischen Rahmens aufgeworfen – jedoch einen revolutionären und selbst dem deutschen Traditionalismus trotzenden Schub auslösen wird. Der Historikerstreik selbst könnte unter dem doppelten Licht der erneuten Vorlage der klassischsten Formen eines tendenziell reaktionären Konservatismus einerseits und zum anderen als die unvermeidliche Erkundung eines neuen Bedürfnisses nach politischen Perspektiven und Möglichkeiten der Anerkennung betrachtet werden.4 In seiner Gesamtheit muss Kohls Idee des „Gedächtnisses der Nation“ letztendlich unter diesem doppelten Licht gleichzeitig als konservativ und irgendwie auch als progressiv betrachtet werden, unabhängig von deren of-
3
Siehe Ku Yangmo: „The Politics of Historical Memory in Germany: Brandt's Ostpolitik, the German-Polish History Textbook Commission, and Conservative Reaction“, in: Journal of Educational Media, Memory and Society, no. 2 (2010).
4
Der Historikerstreit ist als geschichtswissenschaftlich chiffrierte hochpolitische und dramatische Auseinandersetzung um den zukünftigen historischen Ort der Bundesrepublik – oder richtiger: Deutschland – ohne Zweifel auf den ersten Blick gut gewählt. Es bilden sich, nur geringfügig verzerrt, die klassischen Haupttendenzen bundesrepublikanischer politischen Frontenbildung ab: ganz traditionell standen sich erwartungsgemäß Linke und Rechte, Progressive und Konservative gegenüber. Doch eine derartige Wahrnehmung erweist sich bei näherem Zusehen als ungenau, ja als unzutreffend. [...] Denn hinter dem öffentlich mit großem Aufwand ausgetragenen Historikerstreit und mit ihm auf das engste verbunden, türmt sich ein methodisches, ethisches und gleichzeitig nicht desto weniger hochpolitisches Problem auf: das Problem der Historisierung des Nationalsozialismus.“ In der Einleitung von Diner: Ist der Nationalsozialismus Geschichte?, S. 8.
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fenkundig gefälliger, versöhnlicher, faktisch traditionalistischer Absicht.5 Die Macht der historischen Prozesse liegt gerade in deren symbolischer und unbeherrschbarer Dringlichkeit: „Vermutlich war es bei Kohl selbst ein allmählicher Lernprozess, dass die staatliche Erinnerung an die NS-Zeit das Ansehen der Bundesrepublik nicht schwäche, sondern stärke.“6 Verfolgt man die Entwicklung der Politiken des Gedenkens von Adenauer bis Brandt und dann von Kohl bis Schröder, lässt sich die Umwandlung des Paradigmas des Mahnmals bis hin zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas genau verfolgen. In vielen Studien politischer Soziologie ist man dieser Art von interpolitischem Dialog im Nachkriegsdeutschland nachgegangen:7Auf dem Spiel stehen die klassischen intergenerationalen Spannungen zwischen Formen des negationistischen und revisionistischen Konservatismus, die den Regierungen Adenauers und Kohls, und der Progressivismus der „Krise“ und der „sozialen Kritik“, die der Regierung Brandts und vielleicht Schröders zugeschrieben werden können.8 Im Kontext dieses Hin- und Herschwankens politischer Standpunkte und Perspektiven ist im Laufe der Jahrzehnte auch der Rollenwechsel des Gedenkens und dessen Sichwiderspiegeln in öffentlichen und dem Gedenken gewidmeten Gesten9 ans Licht getreten.
5
„Zehn Tage vor der (für ihn verlorenen) Bundestagswahl im September 1988 ließ Kohl keinen Zweifel daran, dass die Bundesrepublik das ‚Denkmal für die ermordeten Juden Europas‘ zwingend benötige. Es gehe dabei ‚um den Kern unseres Selbstverständnisses als Nation‘ – eine Aussage, die von den Grünen bis hin zur Union nun weitgehend konsensfähig war. Freilich wird hier zugleich erkennbar, dass Kohls Bekenntnis zur NS-Erinnerung durchaus in einer konservativen Tradition stand, denn der Kanzler argumentierte vehement mit Kategorien der nationalen Ehre und des internationalen Ansehens der Deutschen.“ JanHolger Kirsch: „‚Hier geht es um den Kern unseres Selbstverständnisses als Nation‘. Helmut Kohl und die Genese des Holocaust-Gedenkens als bundesdeutscher Staatsräson“, Potsdamer Bullettin für zeithistorische Studien, no. 43-44 (2008), S. 43.
6
Ebd.
7
Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen.
8
Ebd., S. 38-55.
9
Der Berühmteste war der Kniefall von Willy Brandt am 7. Dezember 1970 in Warschau: „In dem Moment, als wir ausstiegen und vor das Mahnmal traten,
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Bereits die in der Ära Adenauers eingesetzten Verdrängungspraxen waren zum Beispiel von der so unverfrorenen wie instinktiven Politik der Offenheit von Willy Brandt infrage gesetzt worden,10 die dagegen eine progressive Idee der Erinnerung und des Gedenkens förderte. Bereits in jenem Bruch wurde offenkundig, wie die Vergangenheit nunmehr weder im öffentlichen Amt verschleiert noch im Privatleben beanstandet werden konnte:11 Die Vergangenheit trat hervor und brach in das historische Präsens der zweiten Generation ein und wurde zur Spur für die Konstruktion der politischen Debatte. Nicht nur die Vergangenheit ist das Mittel selbst, durch das der Horizont konstruiert wird, dem die Gegenwart folgen muss: Sie konstituiert immer mehr den einzig zulässigen und unverschleierbaren Legitimationsprozess. Im Fall des Übergangs von Adenauer zu Brandt nahm diese Notwendigkeit die Form eines Prozesses der Ablagerung und des Erscheinens von Daten an – von sprechenden Spuren, von sichtbaren und unvermeidbaren Spuren. Brandts Kniefall am Mahnmal für die Opfer des jüdischen Getto-Aufstands in Warschau war, seinen eigenen Worten nach, „nicht geplant. Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“.12 Geht man Willy Brandts Memoiren durch, so erkennt man jedoch, wenige Zeilen vor dem zitierten epochalen Abschnitt, wo der wahre Beweggrund für diese Geste in der schmerzhaften Konfrontation mit den Daten zu suchen ist, im Hervortreten der Geschichten, der Millionen Menschen, die
war die Stimmungslage sehr überwältigend. Plötzlich sank Willy Brandt auf die Knie und jeder Mensch, der anwesend war, hätte es ihm gleichtun wollen und jeder hat diese Geste, diese vollkommen ungeplante und spontane Geste, für einzigartig und beeindruckend empfunden. [...] Es war eine dieser Fähigkeiten Willy Brandts, die ich bei ihm so sehr geschätzt habe, die Menschen emotional anzusprechen und für alle erkennbare Zeichen zu setzen. Ich habe keinen Politiker erlebt, der vergleichbar gewesen wäre.“ Walter Scheel: „Brandts Kniefall“, in: Solinger Tageblatt vom 8.12.2010. 10 Willy Brandt: Erinnerungen, Berlin: Propyläen 1998. 11 Mitscherlich/Mitscherlich (Hg.): Die Unfähigkeit zu trauern, S. 13-85; Jörg Osterloh/Clemens Vollnhals (Hg.): NS Prozesse und deutsche Öffentlichkeit Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 12 Brandt: Erinnerungen, S. 214.
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mit technischer Effizienz in jene Durchgangs- und Vernichtungslager deportiert worden waren, die er als erster Präsident der Bundesrepublik in jenen Tagen besichtigt hatte.13 Die Physizität dieses Hervortretens, die drängende Präsenz quälender Spuren ist so wichtig wie die politische Fähigkeit, sich dieser anzunehmen. Es ist dieses Hervortreten, dieses heftige Hervorbrechen der Wunden und Spuren einer historischen Erinnerung, das den Übergang von der ersten zur zweiten Generation nach der Naziherrschaft markiert und gleichzeitig zur Ablagerung der Sensibilität und Vernunft des Gedenkens führt. Befasst man sich heute wiederum mit diesen historischen Wechselwirkungen,14 so gewinnt man daraus fast den Eindruck, als könne man einen Prozess der Explosion der Spuren ausmachen: Die Geschichte, bestehend aus Archiven, Akten und offenen Wunden bahnt sich ihren eigenen Weg, fast autonom vom politischen Willen, der jeweils versucht, die Aufgabe auf sich zu nehmen. Diese Form der Einschreibbarkeit und Ergebnisbezogenheit des historischen Geschehnisses ist ein Faktor, der die Authentizität und Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den historischen Fakten garantiert, und dieselbe immer wiederkehrende Frage einer Angemessenheit des Gedenkens überwindet.15
13 „Es war eine ungewöhnliche Last, die ich auf meinen Weg nach Warschau mitnahm. Nirgends hatte das Volk, hatten die Menschen so gelitten wie in Polen. Die maschinelle Vernichtung der polnischen Judenheit stellte eine Steigerung der Mordlust dar, die niemand für möglich gehalten hatte. Wer nennt die Juden, auch aus anderen Teilen Europas, die allein in Auschwitz vernichtet worden sind? Auf dem Weg nach Warschau lag die Erinnerung an sechs Millionen Todesopfer. Lag die Erinnerung an den Todeskampf des Warschauer Ghettos.“ Ebd., S. 214 14 Vgl. Frei: 1945 und wir, S. 56-77; Aleida Assmann: „Wendepunkte der deutschen Erinnerungsgeschichte“, in: Aleida Assmann/Ute Frevert (Hg.): Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart: DVA 1999, S. 145. 15 An dieser Stelle beziehe ich mich auf die von Martin Walser am 11.10.1998 in der Paulskirche zu Frankfurt gehaltene Sonntagsrede und auf die folgende Walser-Bubis Debatte. Es ging dabei um die Opportunität des Mahnmales in der Mitte der Stadt: siehe Frank Schirrmacher (Hg.): Die Walser-Bubis-Debatte: eine Dokumentation, Frankfut a/M: Suhrkamp 1999.
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Nach Brandts liturgischer Erfahrung haben die Historiker der achtziger Jahre unter Anführung von Ernst Nolte und als Vertreter des Geistes Kohls das Problem des Fehlens einer Form von politischer Selbst-Anerkennung der deutschen Identität sehr deutlich hervorgehoben: Der von diesen Autoren vorgeschlagene Umgang mit einer „Vergangenheit, die nicht vergeht“,16 beinhaltete gar den Versuch einer Normalisierung des Gedenkens an den Holocaust – durch den Vergleich mit anderen, in gewisser Weise gleichwertigen Genoziden – und sie legen dabei den Akzent auf die Notwendigkeit des Hervortretens einer konservativen und im Wesentlichen rechten Position. Die Unvergleichlichkeit der durch den Nationalsozialismus verursachten Schuld – durch Willy Brandts Kniefall so bedeutungsvoll sichtbar gemacht – musste geprüft, neu gedacht, zumindest umgestaltet werden. Man könnte unterschiedliche Aspekte dieser Auseinandersetzung analysieren, wie jenen, der die Frage der Einzigartigkeit oder Vergleichbarkeit des Holocausts als Genozid betrifft, mit der sich später verschiedene historische Beiträge auseinandergesetzt haben. Vor allem muss jedoch der diskursive politische und monumentale Kern dieser Forderungen geklärt werden. Liest man heute einige zu jener Zeit von Historikern und Kulturschaffenden verfasste Passagen, so gewinnt man den deutlichen Eindruck, dass es sich trotz ihrer Aggressivität bei diesen Forderungen nicht um Einzelfälle handelte: Identitäre Forderungen von Autoren wie Botho Strauss, Eric Nolte oder Tilman Krause, wie auch jene extrem Doppeldeutigen von Brigitte Seebacher Brandt,17 lassen Anzeichen eines sehr starken, zum Vorschein tretenden kollektiven Bedürfnisses erkennen, das jedoch nicht vollkommen auf die Erwähnung einer „konservativen Position“ zurückzuleiten ist.18
16 Nolte: Das Vergehen der Vergangenheit, S. 7-59. 17 Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hg.): Die Selbstbewusste Nation. ‚Anschwellender Bockgesang‘ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Berlin: Ullstein 1994, S. 11-40. 18 „Denn nähert man sich dem ‚Historikerstreit‘ als einem eigenen historischen Ereignis und nicht als mehr oder weniger missglückte Forschungsdebatte, rücken also erinnerungstheoretische Fragen ins Zentrum des Interesses, so bleibt er als Grundauseinandersetzung und Beispiel für möglich Verirrungen des Kollektivgedächtnisses Bedeutsam.“ Berg: Der Holocaust und die west-deutschen Historiker, S. 33.
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Wie ich in meiner Arbeit versuche aufzuzeigen, behauptet sich das Prinzip einer Identität und einer politischen Anerkennung immer innerhalb eines identitären Prinzips, unabhängig davon, ob es eindeutig einer völkischen oder einer post-nationalen Prägung zugeschrieben werden kann. Meinen Beobachtungen zufolge definiert sich dieselbe Repräsentation des Holocausts als Position eines Elements politisch-identitärer Anerkennung. Um das Jahr 1989 konstituierte sich eine Vielzahl von Positionen, welche die Konstitution eines identitären Prinzips für das wiedervereinigte Deutschland befürworteten und forderten. Was sich in diesen besonderen Jahren der Einheit vollzieht, ist eine Umwandlung des klassischen identitären Modells nationalistischen Typus in eine postnationale oder zumindest nicht mehr im Rahmen der traditionellen Repräsentationen kodifizierbare Form des Gedenkens. Die Debatte um die Einweihung der Neuen Wache in Berlin markiert zum Beispiel deutlich den Beginn der endgültigen Krise des Modells eines nationalistischen Gedenkens und die Öffnung gegenüber einer Memoralisierung, die sich mit einem veränderten extra-nationalen und universalistischen Horizont auseinandersetzt. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas ist das Ergebnis dieser kurz vor der Wende stattgefundenen Umwandlung von einem nationalistischen, noch dem Zwanzigsten Jahrhundert zugehörigen zu einem zeitgenössischen, die politische Sensibilität des heutigen Deutschlands bestimmenden Paradigma. Die Neue Wache: Wiedergeburt und Umwandlung eines (post-)nationalen Gedenkens Die von unterschiedlichen sozio-politischen Gesichtspunkten aus geführte Analyse der „Ära Kohl“ im Verhältnis zur „Ära Schröder“ ermöglicht den Zugang zu einer Gesamtperspektive über den für die deutsche Geschichte wesentlichen Zeitraum, der sich vom Ende des Kalten Krieges durch die Einheit bis hin zum vereinigten Europa erstreckt. Gerade die Errichtung von Gedenkstätten bietet uns ein Spiegelbild der kulturellen und politischen Spannungen, welches für das Verständnis der historischen Rolle des Gedenkens emblematisch ist. Von der heutigen Perspektive aus betrachtet, kann das politische und symbolische Gewicht dieses Zeitraums rekonstruiert werden, der 1995 mit der Einweihung der Neuen Wache als nationale Gedenkstätte, die „allen Opfern des Krieges“ gewidmet war, beginnt und
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2005 mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas von Peter Eisenman endet. Das Jahrzehnt, welches die zwei Gedenkstätten zeitlich trennt, produziert eine Art Paradigma der Memoralisierung, das ich hier kurz untersuchen will. Zunächst zum Projekt der Neuen Wache: Das von Karl Friedrich Schinkel geplante und 1818 errichtete Bauwerk sollte als sinnbildlicher Ort sowohl für die Architekturgeschichte als auch für die politische Geschichte Deutschlands wiederhergestellt werden, um als Denkmal für „alle Opfer der Kriege und der durch sie verursachten Leiden“ umgedeutet zu werden. Der Denkanstoß für diesen Wunsch wurde von vielen Beobachtern in einer ganzen Reihe von Debatten geliefert, die ab Mitte der neunzehnhundertachtziger Jahre geführt wurden und die mit dem 40. Jahrestag des Kriegsendes und mit bedeutsamen Beiträgen, wie der des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985, in Zusammenhang standen. Den Kern dieser Debatten bildeten noch einmal die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit und die Suche nach einem Übergang und nach einer historischen Zäsur, welche die richtigen Worte zu finden vermochte, um eine Distanzierung von der verhängnisvollen Zeit des Nationalsozialismus zu ermöglichen und gleichzeitig das Gedenken an jene Jahre zu würdigen. Gerade im Rahmen dieser Suche nach einem neuen Paradigma der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts gewinnt der Einsatz Helmut Kohls für die Errichtung eines „Denkmals für die Opfer aller Kriege“ an Bedeutung. Der von Kohl vorgeschlagene Umgang war der einer Verallgemeinerung durch eine höchst symbolträchtige und evokative Gedenkstätte zu allen den Opfern „der beiden Weltkriege, den Opfer der Gewaltherrschaft und des Rassenwahns, den Opfern des Widerstands, der Vertreibung und der Spaltung unseres Vaterlandes, und auch den Opfern des Terrorismus ein gemeinsames würdiges Denkmal zu schaffen, dies ist ein wichtiges Vorhaben, das jetzt endlich Gestalt annehmen muss.“19 Der Vorschlag für diese Gedenkstätte wurde natürlich von vielen stark kritisiert, nicht nur aufgrund eines gewissen verbreiteten Widerstrebens ge-
19 Helmut Kohl: Regieungserklärung des Bundeskanzlers am 13. Oktober 1982 vor dem Deutschen Bundestag in Bonn: „Koalition der Mitte: für eine Politik der Erneuerung“, Bullettin vom 14.10.1982.
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genüber der von Kohl gewollten Ästhetik,20 sondern auch aufgrund der offenkundigen Instrumentalisierung, die angestrengt wurde in dem Versuch, der Katastrophen des Zwanzigsten Jahrhunderts auf verallgemeinernde und versöhnliche Weise zu gedenken. Dieselbe zentrale Repräsentation und der Kern des Denkmals, die Pietà der Berliner Künstlerin Käthe Kollwitz, verweist eindeutig auf die Grundthemen der christlichen Theologie, sodass eine Ahnung der dem Denkmal anhaftenden ideologischen Widersprüche vermittelt wird, die der Historiker Reinhart Koselleck hervorgehoben hat: Die Skulptur versinnlicht zwei Aussagen und Sichtweisen. Die eine ist symbolisch und steht in der Tradition der Maria mit dem toten Christus auf ihrem Schoß. Diese Tradition verheißt, aller Trauer zum Trotz, Trost, Erlösung, wie sie ikonografisch über zwei Jahrtausende hinweg immer wieder formuliert wurde. Die zweite Sichtweise ist realistisch zu nennen, wobei Käthe Kollwitz persönlich den Realgehalt einer trauernden Mutter mit ihrem Sohn auf dem Schoß eher beim Wort genommen hat als die Tradition einer daraus ableitbaren Heilverheißung: Denn es handelt sich für sie primär um die Trauer der Mutter über ihren im Kriege gebliebenen Sohn. […] Nimmt man die beiden Aussagen beim Wort, so ist diese Plastik heute nicht mehr aussagekräftig genug, um den seitherigen Geschehnissen gerecht zu werden, sofern dies überhaupt möglich ist.
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20 „Die Geschichtspolitischen Aktivitäten des Bundeskanzlers Helmut Kohl riefen während seiner Amtszeit vielfach Spott und bei späteren Rückblicken ebenfalls deutliche Kritik hervor. Der Spiegel bezeichnete Kohl im April 1985, anlässlich der Affäre um den Besuch des Soldatenfriedhofs, in Bitburg als ‚Tolpatsch in höchst sensitivem Gelände‘ und beklagte seine ‚Sucht nach immer neuen Versöhnungsritualen‘.“ Kirsch: „,Hier geht es um den Kern unseres Selbstverständnisses als Nation‘“, S. 40. 21 „Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist nicht mehr der dominante Fall der Trauer, wie er es nach dem ersten Weltkrieg mit seinen rund zwei Millionen (deutschen) gefallenen Soldaten noch war. Wird dagegen die symbolische Aussage ernst genommen, so werden die Juden ausgeschlossen, die zu Millionen umgebracht wurden. Sie können sich von der christlichen Symbolsprache der Pietà so wenig angesprochen fühlen wie von der realistischen Aussage, als handele sich bei der Erinnerung an das Massenmorden nur um eine Beziehung von Mutter und Sohn.“ Koselleck: „Bilderverbot“, FAZ vom 08.04.1993.
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Die Modalität, nach der die Regierung Kohl ihr Ziel der Vergangenheitsbewältigung verfolgte, ist somit nicht nur rückführbar auf das, was Sabine Moller als „Entkonkretisierung der NS-Herrschaft“22 bezeichnet hat: Die Repräsentation des Opfers als ein Universelles – so deutlich zum Ausdruck gebracht in der a-historischen Beziehung einer Mutter zu ihrem Sohn, wie in Käthe Kollowitzes Plastik verbildlicht – und die Aufforderung zu einer unterschiedslosen Beteiligung am Leid anderer ist Teil eines perversen Mechanismus der Aneignung des Opfers selbst und in diesem spezifischen Fall, ohne diesem Opfer jemals einen Namen geben zu müssen. Die Gefahr einer totalen Mystifikation der historischen Last aller Kriege und folglich auch des Zweiten Weltkriegs durch Nutzung einer christo-zentrischen, immerhin von vielen Bereichen der Politik angenommenen Ikonografie wurde durch den epochalen Wandel der Zeiten abgewehrt, sprich durch das Aufkommen eines Bedürfnisses nach einer „neuen Normativität“23 des Gedenkens, welche nicht so sehr an politisch-kollektive Kniefälle oder an die klassischen Praxen eines mystifizierenden Pietismus gebunden ist, sondern an eine Subjektivierung und Individualisierung des Gedenkprozesses. Die Neue Wache repräsentierte und repräsentiert heute noch eine alte Form des Gedenkens, die so stark in der Geschichte Preußens und in der eines gewissen historischen Monumentalismus verwurzelt ist, dass sie den damaligen Bürgermeister der Stadt Berlin zu einer sibyllinischen Aufforderung verleitete: „Die nationale Gedenkstätte verkörpert ein Stück deutscher Geschichte mit allen Aspekten. Ich fordere eindringlich alle dazu auf, sich an diesem Ort gemeinsam vor dem Leid und der Trauer zu verbeugen.“24 Die Neue Wache entstand aus einer Auffassung des Gedenkens, die einem nationalen Modell aus dem Zwanzigsten Jahrhundert folgt und das historische Gedenken auf die Ebene kollektiven, gemeinschaftlichen, christozentrischen Mitleids transportierte war bereits 1983 der vom Roten Kreuz und anderen Veteranenverbänden initiierte Versuch unternommen worden, ein Aide-Mémoire zu Ehren aller deutschen Kriegsopfer zu errichten. Das
22 Sabine Moller: Die Entkonkretisierung der NS-Herrschaft in der Ära Kohl, Hannover: Offizin 1998. 23 Ebd., S. 10-12. 24 Eberhard Diepgen zitiert nach Stefanie von Plato: „Neue Wache: Der lange, peinliche Streit“, in: BZ vom 11.11.1993.
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Projekt erfuhr anfänglich äußerst starken Widerspruch vonseiten der SPD und später von der Presse. Während der Durchsicht der Pressebeiträge aus der Zeit wird offenkundig, wie die schärfsten Gegner des Vorhabens nicht so sehr über die verallgemeinernde Botschaft des „allen Kriegsopfern“25 gewidmeten Monuments verärgert waren: Zentraler Grund zur Kritik war tatsächlich das Bedürfnis Unterscheidungen einzuführen, die zu einer eigentümlichen Art der Charakterisierung der Unterschiede zwischen den Opfern und den Bedeutungsebenen der Botschaft führte, die das Bauwerk vermitteln sollte.26 Die Neue Wache wurde in diesem kontradiktorischen Rahmen eingeweiht, der sich im Auge des aufmerksamen Betrachters auf die gesamte Gestaltung und Umwandlung des schinkelschen Bauwerks niederschlägt. An den Wänden des dorischen Säulengangs des Monuments wurden beispielsweise zwei Granittafeln angebracht: Die eine auf der linken Seite erläutert die Geschichte des Monuments, die andere rechts erinnert durch eine Aufzählung an die Opfer der Nazi- und an die der Sowjet-Diktatur. Bei Betrachtung des begrifflichen und vielleicht auch symbolischen Durcheinanders jener zweier Widmungen verspürt man wie veraltet diese Gedenkstätte ist, die zwar aus einem politisch-epochalen Erfordernis heraus entstand, der jedoch die Möglichkeit versagt wurde, eine angemessene Form anzunehmen. Wer heute an der Neuen Wache vorbeiläuft, nimmt sie als antikes Monument wahr, das Menschen aus einem vergangenen Jahrhundert anspricht. Eine solche Reaktion wird nicht bloß durch einen gewissen klassizistischen Monumentalismus hervorgerufen, sondern vor allem durch die evokative
25 Vgl. Moller: Die Entkonkretisierung, S. 40-80. 26 Es gab auch direkte Kritik an der gesamten Gestaltung des Mahnmals: „ [D]er Neubau eines Mahnmals, das der deutschen Wehrmachtsoldaten ebenso gedenkt wie der Helden des Widerstandes, das die Opfer der alliierten Luftangriffe ebenso einbezieht wie die in Konzentrationslagern totgeschlagenen politischen Häftlinge, das Mitgliedern der SS ebenso die Ehre erweist wie den vergasten Juden und Sinti, steht nun und ist am Volkstrauertag 1933 unter aktiver Teilnahme des Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, Wirklichkeit geworden.“ Micha Brumlik: „Gedenken in Deutschland“, in: Kristin Platt/ Mihran Dabag (Hg.): Generation und Gedächtnis: Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen: Leske+Budrich 1995, S. 123-24.
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Formel, die hier aufgestellt wird: Die Aufforderung zur Bemitleidung und zu einer kollektiven Umarmung erinnert stark an die Denkmäler der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die ebenso den Gefallenen „aller Kriege“ gewidmet waren.27 Die patriarchalische und herrschaftliche Rhetorik der Ära Kohl nährt sich von diesem Versuch, die Kraft eines kollektiven Empfindens hervorzurufen, basierend auf Voraussetzungen, die zum Verschwinden verurteilt sind, nicht nur aufgrund des Generationenwechsels, sondern auch aus medialen und kulturellen Gründen. Die kollektive Anteilnahme gründet heute auf den Zugangsbedingungen und auf der aktiven Beteiligung der Subjekte/Bürger, nicht so sehr und nicht nur, was deren physische Präsenz angeht, sondern vor allem als anwesende Subjekte, Akteure, als Zeugen/ZeugenSubjekte. Wie ich versuchen werde zu verdeutlichen, entspricht Peter Eisenmans Denkmal genau diesem generationsbedingten Bedürfnis nach Räumen, die zeugnisfähig sind und aus Zuschauer-Nutznießer-Subjekten in gewisser Weise aktive Akteure machen. Nichtsdestotrotz ist es wichtig zu verstehen, inwiefern sich die Memoralisierung des Holocausts doch in eine Abfolge anderer traditioneller Formen einreiht. Trotz Einsatz ihres aus dem Zwanzigsten Jahrhundert stammenden Opferparadigmas28 lässt die Neue Wache in dieser Hinsicht den problematischen Kern des deutschen kollektiven Gedächtnisses zum Vorschein treten, der wieder einmal vom Historiker Reinhart Koselleck anhand des Begriffs des negativen Gedächtnisses aufgeworfen und in Peter Eisenmans Stelen eine Form finden wird: Von einem negativen Gedächtnis zu sprechen, wie es im Folgenden versucht wird, ist doppeldeutig, denn entweder meint das Negative im Gedächtnis, dass der Inhalt, der darin gespeichert wird, abstößt, unwillkommen ist, verächtlich und verachtenswert, oder das Negative bedeutet uns, dass das Gedächtnis sich der Erinnerung sperrt, sich weigert, das Negative überhaupt zur Kenntnis zu nehmen: also verdrängt und so der Vergangenheit überantwortet und der Vergessenheit ausliefert.29
27 Moller: Die Entkonkretisierung, S. 58-71. 28 Ebd., S. 61-68. 29 Reinhart Koselleck: „Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses“, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hg.): Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München: C.H. Beck 2002, S. 21.
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Die Liminalität des Gedenkens an den Holocaust für das deutsche kollektive Bewusstsein liegt gerade im Kern dieser Polarität des Erinnerungsprozesses. Der positive und kollektive Akt des Gedenkens kann nur durch Weglassen ausgeführt werden, da das Erinnerte, sprich der Inhalt des Aktes des Gedenkens, sich immer in negativer Form darstellt: Dieser Inhalt ist das Opfer, dieser Inhalt ist die jüdische Kultur Europas, die vom Nationalsozialismus ausgelöscht wurde. In diesem Sinne verlangt die Darstellung des Erinnerten nach einer absoluten Sorgfalt, die in der schlichten Ausstellung einer Pietà keine Antwort findet. Der wahre problematische Kern von Kohls Vorschlag ist in dessen Bedürfnis enthalten, eine Wunde zum Vorschein treten zu lassen, eine nicht vollständig darstellbare Trauer aufgrund der Abwesenheit und der Undarstellbarkeit des Adressaten, sprich des Opfers, wenn nicht in negativer Form, als etwas Unaussprechliches. Das Projekt des Holocaust-Denkmals ist die Brücke, die dem deutschen kollektiven und politischen Bewusstsein die Möglichkeit eines Gedenkens bietet, das aktiv und positiv zu sein vermag, in dem das von Reinhart Koselleck beschriebene „negative Gedenken“ innerhalb einer erfahrungs- und zeugenbezogenen Bewegung hervorgebracht, gelebt und verarbeitet werden kann.
D AS D ENKMAL FÜR DIE ERMORDETEN J UDEN E UROPAS Der Ort, der Raum, die grundsätzlichen Fragen der zwei Wettbewerbe (1994-95, 1997-98) 24. August 1988: In einer Diskussionsveranstaltung zur Zukunft des Prinz-AlbrechtGeländes (Gestapo-Gelände), dem früheren Sitz zentraler NS-Institutionen wie Gestapo, SS, SD, SA und Reichssicherheitshauptamt, formuliert die Podiumsteilnehmerin Lea Rosh erstmals öffentlich die Idee, ein Mahnmal für die ermordeten Juden auf dem Prinz-Albrecht-Gelände zu errichten. In den folgenden Monaten veröffentlich die ‚Perspektive Berlin e.V.‘ Aufrufe mit der Forderung an den Berliner Senat, die Regierungen der Bundesländer und die Bundesregierung, ein unübersehbares Mahnmal für die Millionen ermordeten Juden auf dem ehemaligen Gestapo-Gelände in Berlin zu errichten und beginnt mit einer Unterschriftensammlung, der sich in der
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Folgezeit bekannte Personen wie Willy Brandt, Inge und Walter Jens, Beate Klarsfeld, Hanns Joachim Friedrichs, Günter Grass und viele andere anschließen.30
Dieses Zitat wurde dem ersten Abschnitt der Archivierungsmaßnahmen der verschiedenen Dokumente entnommen, welche das Denkmal an die ermordeten Juden Europas betreffen. Mit heutigem Blick kann man erkennen, wie wichtig die Arbeit der Archivierung und Einordnung all jener Debatten war. Aus den zahlreichen, das Denkmal betreffenden Publikationen der letzten achtzehn Jahren, beginnend im Jahr 1995, gewinnt man eine Ahnung der Wichtigkeit und Radikalität der historischen Diskurse und der Stellungnahmen der verschiedenen beteiligten Subjekte. Bei der Sichtung dieser Archive fällt nicht bloß die wohlbekannte, peinliche Genauigkeit auf, die Korrektheit und die technische Exaktheit der deutschen Historiker, sondern auch das Hervortreten eines öffentlichen Diskurses, der in einer Topografie epochaler, historischer und vorwiegend auf Erfahrungen beruhender Verweise wurzelt. Lea Roshs 1988 formulierter Vorschlag wird das Denkmal bis zu dessen Einweihung im Jahr 2005 begleiten. Jene Vorstellung eines „unübersehbaren Mahnmals“, das im Zentrum der deutschen Hauptstadt errichtet werden sollte, stellt einen qualitativen Sprung gegenüber Kohls zur selben Zeit erarbeiteter Formalisierung der Gedenkstätte Neue Wache dar. Der qualitative Sprung ist durch zwei grundsätzliche Motive gegeben: a) Die Gedenkstätte geht auf eine Privatinitiative zurück, sprich auf eine Gruppe von Personen der Zivilgesellschaft, die Perspektive Berlin, die mit einem offiziellen Aufruf in der Frankfurter Rundschau vom 30. Januar 1989 die Errichtung einer nationalen Gedenkstätte für die jüdischen Opfer des Naziwahns fordert.31 Die Heterogenität dieser Gruppe und dessen antipolitischer sowie durch einen – wenn auch kontroversen – sehr starken Bürger- und Gemeinschaftssinn inspirierter Geist sind einzigartig und vermitteln einen Eindruck vom Generationenwechsel innerhalb einer gewissen deutschen Kultur.
30 Baumann Leonie (Hg.): Der Wettbewerb für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas: eine Streitschrift, Berlin: Verlag der Kunst 1995, S. 13-15. 31 Perspektive Berlin Aufruf in: Schlusche/Seferens (Hg.): Das Denkmal? Die Debatte um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, S. 54.
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b) Die Gedenkstätte definiert sich um einen in dieser Arbeit mehrmals genannten Chiasmus – einen Oxymoron – sie führt eine Form von nichtidentitärer Identität ein. Das negative Gedächtnis, von dem Reinhart Koselleck später spricht, wird mit dieser gewaltigen Anstrengung, die in der Idee einer nationalen Gedenkstätte nicht-identitären Typus enthalten ist, bereits eingeführt. An was kann nämlich eine Nation denken wenn nicht an sich selbst und an ihre eigenen Toten? Wie kann der Andere, der von mir Verfolgte, das Individuum, das ich vernichtet habe, Motiv und Zeichen meiner Identität sein? Das zweite Element ist vielleicht das Problematischste, da es eine gewisse hermeneutische Unmöglichkeit der Gedenkstätte verrät: Das, was man von einem psychologischen Standpunkt aus die Problematik eines „schlechten Gewissens“ bezeichnen könnte. Die gesamte Entstehungsgeschichte der Gedenkstätte – vom ersten Wettbewerb bis zu dessen Fertigstellung und heutigem Erscheinungsbild – ist von einer Chiffre des Unmöglichen gezeichnet, welche, wie Peter Eisenman und Richard Serra selbst zugeben,32 über das mutmaßliche Fehlen einer Bedeutung, die nicht erfahrungsbedingt ist, hinausgeht; vor allem jedoch von einer irgendwie unüberwindbaren wenn auch tatsächlich repräsentierten, historischen Zäsur. Indem er sie missbraucht, legt das architektonische Zeichen die absolute Unmöglichkeit fest, dem Opfer – dem ermordeten Juden Europas – eine Stimme zu verleihen. Wenngleich die durch den Vorschlag der ‚Perspektive Berlin‘ ausgelösten Debatten zunächst, in den Jahren 1988 bis 1994, weit über den problematischen Aspekt der Bedeutung einer „nationalen Gedenkstätte für die Opfer des Holocausts“ hinausgehen (die verschiedensten Aspekte historischer, sozialer und politischer Ordnung ansprechend, von der Frage der Hierarchien der Opfer33 zur Rolle der Täter34 bis hin zur Frage der Bezie-
32 „In unserem Monument gibt es kein Ziel, kein Ende, keinen Weg hinein- oder hinauszubahnen. Die Zeit der Erfahrung durch das Individuum, den Besucher gewährt kein völliges Verstehen – denn ein [...] allumfassendes Verstehen ist nicht möglich.“ Eisenman: „Erfahrung am eigenen Leib“. 33 U. A. siehe: Romani Rose: „Brief des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma an Dr. Joachim Braun“, in: Ute Heimrod/Günter Schlusche/Horst Seferens (Hg.): Der Denkmalstreit - Das Denkmal?, Berlin: Philo 08.03.1991, S. 73; Heinz Galinski: „Brief des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland an den
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hung zwischen Gedenken und Geschichte, sprich zwischen Gedenkstätte und Museum,35 und vor allem die Frage nach dem „geeignetsten Ort für die Gedenkstätte“36), bleibt das Element der Legitimität einer „Monumentalisierung des Gedenkens des Täters an das Opfer“ auffällig und ungelöst. Da sie auf den Ruinen der Reichskanzleibunker entstand, ist die Position der Gedenkstätte letzten Endes zwangsläufig kritisch, weil sie auf die symbolische Bedeutung der Radikalität und der Macht des Nationalsozialismus zurückverweist, so sehr, dass sie in deren Fundamente eine „mythologische, virale Viruszelle“ integriert.37 Aus heutiger Sicht vermitteln die
Vorsitzenden des Zentralrates deutscher Sinti und Roma“, in: ebd., S. 93; Daniel J. Goldhagen: „Es gibt keine Hierarchie der Opfer“, in: ZEIT vom 07.02.1997. 34 U. A. siehe: Peter Jochen Winters: „Wo der Terror geplant wurde“, in: FAZ vom 28.01.1992; Severin Weiland: „Hitler-Bunker unter Denkmalschutz“, in: Tageszeitung vom 02.07.1992; Ekkehard Schwerk: „Fatales Bunker-Denkmal“, in: Tagesspiegel vom 03.07.1992. 35 U. A. siehe: Hans-Werner Oertel: „Skulptur über Dokumentationsräumen“, in: Neues Deutschland vom 13.03.1992; Anita Kugler: „Holocaust: Denkmal oder Gedenkstätte“, in: Tageszeitung vom 30.09.1992; Jürgen Habermas: „Der Zeigefinger. Die Deutschen und ihr Denkmal“, in: ZEIT vom 31.03.1999. 36 Die Entscheidung wurde endlich im April 1992 getroffen: „6. Als Ort der Gedenkstätte wird ein Platz auf dem Gelände der ehemaligen Reichskanzler vorgesehen, und zwar etwas abgesetzt von dem Bunker der früheren SS-Leibstandarte“; Vermerk zum Termin am 24. April 1992 zur Holocaust Gedenkstätte, Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten (StS); in: Schlusche/ Seferens (Hg.): Das Denkmal?, S. 91. 37 „Unweit von dem Gelände, auf dem im nächsten Jahr ein Denkmal für die ermordeten europäischen Juden errichtet werden soll, befand sich der sogenannte ‚Führerbunker‘. Die Initiatoren des Wettbewerbes sind nicht müde geworden, diese Nähe hervorzuheben und ihre Bedeutung für das geplante Mahnmal wie für das öffentliche Bewusstsein in Deutschland zu unterstreichen. Jeder weiß, dass kaum eine relevante politische Handlung oder Entscheidung, kein Ereignis von Bedeutung in diesem Ort stattgefunden hat. Lediglich die ominösen ‚letzten Tages des Führers’ haben ihm zu zweifelhafter Berühmtheit verholfen. Das Ende des Dämons hat schließlich groteske Züge. [...] Wenn diese Ort im öffentlichen Bewusstsein heute überhaupt irgendeine ‚Qualität‘ besitzen mag, dann eine mythologische. Seine Bedeutung ist die einer symbolischen Zuschreibung von
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Entwürfe aus dem ersten Wettbewerb der Jahre 1994-1995, an dem sich 528 Architekturbüros beteiligten,38 die Präsenz einer Art ästhetischer Zentripetalkraft auf der Suche nach einem architektonischen Zeichen, welches in dem Denkmal die doppelte Bedeutung des Gendenkens an die Opfer sowie der Erinnerung an die unlösbare Scham festzulegen vermag, die jener Opfergang ausgelöst hat. Aufbauend auf Peter Eisenmans Poetik, die ich bereits im ersten Teil dieses Kapitels thematisiert habe, könnte man meinen, dass der erste Wettbewerb von einer überragenden Vorstellung der Architektur als „Präsenz“ und als „entschiedenes Zeichen“ charakterisiert war. Jener erster Wettbewerb zog große Kritik auf sich, von Micha Brumlik bis James E. Young, von Heinz Dieter Kittsteiner bis Salomon Korn und Eduard Beaucamp.39 Der wesentliche Kern der Kritiken, die sich später auch gegen die Entwürfe aus dem zweiten Wettbewerb wenden würden, wurzelte gerade in der Unmöglichkeit, diese eindeutige Andersheit der Opfer, der Abwesenheit, der evokativen/destruktiven Kraft des Holocausts physisch zu materialisieren. Der erste Wettbewerb – an dem sich Peter Eisenman nicht beteiligte – bestimmte in gewisser Weise die Formalisierung der grundlegenden Tatsache einer damals noch bemerkenswerten Unfähigkeit der beteiligten Architekturbüros, eine schlichte Monumentalisierung des Gedenkens zu denken. Das Gedenken an den Holocaust verlangte auf seine Weise nach einer Zergliederung und Verlegung der anamnestischen Aktivität über die leichte rituelle Übung hinaus. Die Repräsentation des Holocausts ist mit einer radikalen Durchquerung der historischen Zeit verbunden, mit deren Erprobbarkeit.
magischen Wirkungen.“ Hanno Loewy: „Wo keiner einsteigt und keiner aussteigt... zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, in: Leonie Baumann (Hg.): Der Wettbewerb für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas: eine Streitschrift, Berlin: Verlag der Kunst 1995, S. 106. 38 Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, (Hg.), Künstlerische Wettbewerb. Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Kurzdokumentation Berlin: 1995. 39 Siehe Exkurs Ikonographie in Schlusche/Seferens, Das Denkmal?, S. 510-41.
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Das Denkmal von Peter Eisenman (und Richard Serra) Die Geschichte des zweiten Wettbewerbs, der im Juli 1997 startete, war ziemlich komplex und vielschichtig, sie markierte jedoch den Vorrang von Peter Eisenmans und Richard Serras Vorschlag als Siegerentwurf. Zu dieser zweiten Ausschreibung wurden neben den neun Architekten, die bereits im Zuge des ersten Wettbewerbs einen Preis erhalten hatten, weitere 16 Architekten eingeladen, die sich 1995 nicht am ersten Wettbewerb beteiligt hatten. Zwischen Dezember 1997 und Februar 1998 wurden alle Entwürfe präsentiert und die vier Favoriten auserkoren: Peter Eisenman und Richard Serra, Jochen Getz, Daniel Libeskind und Gesine Weinmiller. Schon zu Beginn richtete sich die Aufmerksamkeit auf Peter Eisenmans und Richard Serras Entwurf, der trotz scharfer Kritik gleich die Unterstützung und die persönliche Sympathie des Bundeskanzlers genoss. Jan Holger-Kirsch40 verfolgt und schildert detailreich, Schritt für Schritt, jene Monate der Unentschlossenheit, in denen zumindest zwei Aspekte aus der Vielzahl der politischen, sozialen und philosophischen Debatten zum Vorschein traten, die sich hervorzuheben lohnt: a) Der erste Aspekt ist politischer Natur. Was aus dem Willen einer Gruppe von Privatpersonen heraus entstanden war, wurde nun zu einer öffentlichen Debatte auf nationaler Ebene, an der sich alle Vertreter der Institutionen beteiligten, vom Berliner Regierenden Bürgermeister bis zum Kanzler. Darüber hinaus trat immer deutlicher das Element des nationalen Kollektivs hervor, verbunden mit der Überzeugung, dass die Entscheidung über das Denkmal in gewisser Weise der deutschen nichtjüdischen Komponente zustand.41 Dieses Element unterscheidet das Berliner Denkmal radikal von der römischen Gedenkstätte, zeigt es doch die Distanz auf zwischen einem von den Opfern selbst gewollten Gedenkort (siehe Rom) und einem Denkmal, das hingegen von den Nachkommen der Täter gewollt ist, der
40 Jan-Holger Kirsch: Nationaler Mythos oder historische Trauer. Der Streit um ein zentrales ,Holocaust-Mahnmal‘ für die Berliner Republik, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2003. 41 „Auch Ignatz Bubis, der die Entscheidung eigentlich den nichtjüdischen Deutschen überlassen wollte, appellierte wiederholt: ‚Wenn dieses Mahnmal in den nächsten drei Jahren nicht gebaut wird, dann kommt es nicht mehr‘.“ Ebd., S. 100.
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sich auf der Suche nach seinem Opfer – nach seinem Anderen – befindet, jedoch in Verbindung mit seiner eigenen Identität. Der entscheidende Moment für diese „Verantwortungsübernahme“ ist der 27. September 1998, der Tag der Ernennung Gerhard Schröders zum neuen Bundeskanzler und Helmut Kohls Abgang nach 16 Regierungsjahren. Mit der Regierung Schröder beginnt die in den vorherigen Kapiteln behandelte „Institutionalisierung des Gedenkens an den Holocaust“, die im Oktober desselben Jahres durch den Koalitionsvertrag zwischen den Grünen und der SPD formalisiert wurde.42 Der Übergang zur Ära Schröder markiert den Wendepunkt der Gedenkpolitiken und leitet in gewisser Weise eine Phase der Harmonisierung und Versöhnung zwischen Gedenkbedürfnissen und politischem Diskurs ein. b) Der zweite Aspekt betrifft die physische und architektonische Präsenz des Denkmals, das anfangs aus mehr als 4.000 Stelen bestand und vor allem nicht den heutigen Ort der Information vorsah, der in seiner Endausführung einen vollendeten Zugang zu Peter Eisenmans Konzept bietet. Der Entwurf Eisenman I (drei sind es insgesamt) war der eines Denkmals, das sich absichtlich jeglicher Bedeutung entzog, keine Bezüge schaffte und dessen einziges, bedeutungsstiftendes Element jenes der obsessiven Durchquerung des Stelenfeldes war. Nicht zufällig richtete sich die Kritik am Denkmal von Anfang an gerade gegen diese allgemeine Des-Orientierung des Raumes, der in eine Art fortwährendes Vakuum gesetzt wurde, ohne Ursprung oder Schicksal, ohne Nostalgie oder Erinnerung. Diese zwei mit der Errichtung des Denkmals verbundenen Aspekte politischer und ästhetischer Ordnung würden bis 1999 weiter bestehen: Das Endergebnis dieser Überlegungen, in vielen wissenschaftlichen Studien, wie die von Jan Holger Kirsch und von Claus Leggewie und Erik Meyer umfassend dokumentiert,43 gab den Anstoß für die heutige Form des
42 Aus dem Vorlaut des Koalitionsvertrags am 22.10.1998: „Die neue Bundesregierung wird sich an der breiten und offenen Diskussion in der Gesellschaft über das Denkmal für die ermordeten Juden Europas beteiligen. Die Entscheidung über das Denkmal auf dem vorgesehenen Ort in Berlin wird der Deutsche Bundestag treffen. Im Zusammenwirken mit den Ländern wird ein Konzept für die Gedenkstättenarbeit in Deutschland entsprechend der ‚Gedenkstättenkonzeption des Bundes‘ erarbeitet.“ Ebd., S. 105. 43 Leggewie/Meyer: „Ein Ort, an den man gerne geht“.
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Denkmals. Der Ort, den heute Millionen Touristen durchqueren, ist eigentlich nicht nur das Ergebnis eines Kompromisses, sondern vor allem ein gelungenes Zusammenspiel von politischen Beweggründen und ästhetischen Prärogativen. Das Durchqueren des Denkmals zwingt heute zu einer Konfrontation mit diesen politischen Erfordernissen der Memoralisierung, zwischen belehrendem Eifer, Erziehungsvision und ethischem Anreiz. Das Denkmal durchqueren: Politische Funktion In Anbetracht der bisher erarbeiteten Lesart verleiht das Berliner Denkmal einer sichtbar gemachten Subjektivität Gewicht, die sich selbst sucht und spiegelt in der Abwesenheit eines Gegenübers, das gleichwohl durch Spuren, Bilder und Geschichten evoziert wird. Die gesamte verewigte Inschrift des Denkmals ist das Zeichen einer Erfahrung, die nicht erlaubt, dass man sie auf eine einzelne Idee reduziert und die sich stattdessen als ethischer Aufruf versteht.44 Die ethisch- moralische Interpellation des Besuchers findet im unteren Teil der Anlage statt und ist in drei Stufen unterteilt – das kognitive, das ästhetische und das symbolische Moment. Das kognitive Moment findet im Raum der Dimensionen statt. In diesem Raum wird dem Besucher eine äußerst detailreiche Zeitschiene präsentiert, welche den Zeitablauf, die Orte und die Methoden der Prozesse der Verfolgung, Gettoisierung, Internierung und Vernichtung erläutert. Die Einbeziehung audiovisuellen Materials unterstützt das Verständnis der gewaltigen Masse an historischer Forschungsarbeit, macht den Betrachter mit originalen Dokumenten vertraut und strukturiert den weiteren Verlauf des Besuchs. Die Wiederkehr bestimmter Fotografien – die auch im Washington Holocaust Museum und in Yad Vashem in Jerusalem ausgestellt sind – konstituiert ein sogenanntes vereinbartes Gedächtnis, die Andeutung einer Reihe von Bezügen, die auf transnationaler Ebene anerkannt sind.45
44 Ebd. 45 „Fotos, die jeder erkennt, sind heute ein wesentlicher Bestandteil dessen, worüber sich Gesellschaften Gedanken machen oder worüber sie nachzudenken sich vornehmen. Solche Gedanken nennt man gern ‚Erinnerungen‘, aber auf längere Sicht ist das eine Fiktion. Strenggenommen gibt es kein kollektives Gedächtnis – das Kollevitivgedächtnis gehört in die gleiche Familie von Pseudobegriffen wie die Kollektivschuld. Aber es gibt die kollektive Unterrichtung. Das
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Das ästhetische Moment tritt zunehmend im Raum der Familien und später im Raum der Namen hervor, wo der Besucher mit den wahren Opfern, mit deren Gesichtern, zerstörten Leben, familiären Beziehungen und schließlich mit deren Namen konfrontiert wird. Der Raum der Familien mit seinen großformatigen Abbildungen kompletter Haushalte und der ausführlichen Schilderung der Lebensgeschichten aller Angehörigen und der Aufführung deren Namen erzeugt in den Betrachtern eine wichtige emotive? Reaktion. Anders als die historischen Bilder der Zerstörung im Raum der Dimensionen zeigen diese Familienfotos keine offensichtliche Gewalt. Der Beobachter wird durch die Darstellung familiärer und freundschaftlicher Beziehungen beruhigt, durch das Lebensgefühl, das auf das Todesgefühl folgt, wobei das Pathos der Identifikation durch das Bewusstsein der kommenden Zerstörung unterminiert wird. Die nächste Stufe, der Raum der Namen, ist ein kathartisches Moment, das sich auf die Namen der Holocaustopfer konzentriert. Alle sechzig Sekunden wird der Name eines der dreieinhalb Millionen Opfer, die im Yad Vashem Archiv eingetragen sind, auf die Wand projiziert, begleitet von einer Tonaufnahme, welche die wesentlichen Daten zum Schicksal jener Person wiedergibt. Die Namen werden auf den vier Wänden eingeblendet und umgeben den Betrachter. Das Ausblenden jedes Namens verweist auf die Vergänglichkeit, die das Gedächtnis bedroht und auf die Flüchtigkeit des Lebens eines jeden. Trotzdem projiziert die Regelmäßigkeit und Präzision der Liste die Namen und die Lebensgeschichten in die Zukunft und widersetzt sich somit der Unsichtbarkeit der individuellen Todesfälle. Das symbolische Moment spielt sich an der Oberfläche des Denkmals ab, wenn der Besucher nach dem Rundgang im unterirdischen Archiv zurück an das Tageslicht gelangt. Desorientiert durch das Fehlen von Bezügen, durch die Großflächigkeit des Rasters und durch die leichten Unregelmäßigkeiten des Geländes, wird der Betrachter rasch aus einem Zustand der Erkennung und der Katharsis in jenen der Unmöglichkeit der Erkennt-
Gedächtnis ist immer individuell und nicht reproduzierbar – es stirbt mit dem einzelnen. Was man als kollektives Gedächtnis bezeichnet, ist kein Erinnern, sondern ein Sicheinigen – darauf, dass dieses wichtig sei, dass sich eine Geschichte so und nicht anders zugetragen habe, samt den Bildern, mit deren Hilfe die Geschichte in unseren Köpfen befestigt wird.“ Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 99-100.
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nis versetzt. Ist der Besucher jedoch körperlich in das Raster an der Oberfläche eingetaucht, welches dafür erdacht und erbaut wurde, um die Körper aufzunehmen, die es durchqueren, so bleibt eine Frage offen: Wer steht im Zentrum des Holocaust-Denkmals? In unserer Rekonstruktion ist das ausgesetzte Subjekt – Besucher, Konsument, Tourist – das zeitgenössische Subjekt, welches aufgefordert wird, die Definition und Konstruktion einer Geschichte zu verkörpern – eine aus Individuen konstituierte Geschichte, die es gleichzeitig mit einschließt. Der tote Jude ist die irreduzible Grenze jener Erfahrung, das Paradoxon einer Ethik, die nichts anderes zu tun vermag, als aufmerksam zuzuhören und das Ich dem Anderen auszusetzen.46 Das Eintauchen in die zerfurchte Oberfläche des Denkmals hüllt den Besucher in Beklommenheit und Einsamkeit, eine herbeigeleitete Desorientierung, die das Subjekt dazu einlädt, sich die Biografien, die Lebensgeschichten und die zum Schweigen gebrachten Stimmen, auf die es unter der Erdoberfläche gestoßen ist, auf unheimliche Weise vor Augen zu führen. Alles vom Holocaust Übriggebliebene – Spuren jener Zeit sowie zeitgenössische Resonanzen – erlangt kollektive Bedeutung anhand individueller Subjekte, welche symbolisch gezwungen werden, einen verkörperten Verlust des gesamten erhaltenen Bedeutungsgehalts zu verkraften. Das Gedenken an den Holocaust nimmt heute vor der Stigmatisierung eines Landes, einer Nation oder eines sozialen Körpers Distanz: Es leitet vielmehr eine neue ethische Praxis ein, die mit dem Gedenken an den toten Juden als verinnerlichten ewigen Anderen beginnt und auf die Schaffung eines neuen, integrierten Ichs hinwirkt, dass die Schrecken der Vergangenheit eher durch Mitgefühl als durch defensive Schuld wahrnimmt. Bewusstsein entsteht somit nicht in dem Moment, in dem das Sein mit Repräsentation gleichgesetzt wird oder im Hinstreben zum Licht, in dem diese Adäquanz zu suchen ist, sondern besteht eher darin, dieses Spiel der Lichter – diese Phänomenologie – zu überfluten und Ereignisse zu erschaffen, deren äußerste Signifikation nicht im Aufdecken liegt. Die Philosophie entdeckt in der Tat die Signifikation dieser Ereignisse, diese werden jedoch
46 „Das Selbe und das Andere können nicht in einer Erkenntnis, die sie umfasst, zusammentreten. Die Beziehungen, die das getrennte Seiende mit ihm unterhält, das über es hinausgeht, ereignen sich nicht vor dem Hintergrund der Totalität, sie schießen zu keinem System zusammen.“ Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/München: Karl Alber 1987, S. 111.
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produziert, ohne dass deren Schicksal aus Entdeckung (oder Wahrheit) bestehen soll. Die Beziehung zwischen dem Ich selbst und dem Anderen kann nicht immer auf die Kenntnis des Anderen durch den Selben reduziert werden. Was zählt, ist die Idee des Überströmens von objektivierendem Denken durch eine vergessene Erfahrung, von der es lebt.47
47 Ebd., S. 28.
Villa Torlonia: Zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
D AS G EDENKEN AN DIE S HOA IM HEUTIGEN I TALIEN , ZWISCHEN N OTWENDIGKEIT UND K OMPROMISS Jedem, der anstrebt, sich mit der Rolle der Memoralisierung der Shoa im heutigen Italien auseinanderzusetzen, sollten gewisse paradoxe Formen der Instrumentalisierung und der Ausnutzung des Holocaust-Paradigmas für politische, private oder ökonomische Interessen bekannt sein. Betrachtet man diesen Prozess der Instrumentalisierung im Kontext jenes allgemeineren Prozesses der „Banalisierung der Shoa“,1 so erscheint dieser in Wirklichkeit als verständlich, wobei hier einige Aspekte grundsätzlicher politischer/sozialer Ordnung hinzuzufügen sind. Wenngleich zu Beginn der neunziger Jahre, das heißt in der Phase, in welcher der Diskurs um die Shoa auf europäische Ebene deutlich hervortritt und gerade durch Anregung der Architekten Luca Zevi und Giorgio Maria Tamburini (die später mit der Planung des Museums der Shoa beauftragt
1
„Ma c’è da chiedersi se un principio di banalizzazione non sia già contenuto proprio in ciò che sembra essere il suo opposto speculare, e cioè la sacralizzazione della Shoa da parte di chi, partendo dall’innegabile enormità di questo evento storico, attribuisce ad esso un’oscura grandezza mistica che lo renderebbe ‚unicamente unico‘ rispetto al flusso della storia umana.“ Valentina Pisanty: „La banalizzazione della Shoa. Prime riflessioni sul caso italiano“, in: Marcello Flores et al. (Hg.): Storia della Shoa in Italia. Memorie, rappresentazioni, eredità 2. Bd., S. 493-94.
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werden sollten) der Versuch gestartet wurde, das Thema eines ersten „Museums der Intoleranzen und der Vernichtungen“ mit Gründung des Vereins AMIS (Associazione per il museo delle intolleranze e degli stermini)2 anzusprechen – aus einem bestimmten universalistischen und pazifistischen Drang heraus, der jedoch gleichzeitig kritisch war und Einzelheiten und Dimensionen historischer und menschlicher Ordnung in gewisser Weise Respekt erwies – so stellt das, was heute anscheinend geschieht, die missbräuchliche und konstante Aneignung des Holocaust-Paradigmas dar, losgelöst von dessen realer historischer und problematischer Dimension. In diesem Zusammenhang ist es nicht nur der tragische (und zugleich komische) Fall des ex-Bürgermeisters der Stadt Rom Giovanni Alemanno, ein Ex- oder Post-Faschist,3 der Zweifel über die Legitimität des Umgangs mit dem Gedenken an den Holocaust aufkommen lässt, sondern auch eine gewisse konservativ-katholische sowie eine ex-kommunistische politische Klasse, die beide ab Mitte der neunziger Jahre damit begonnen haben, den Begriff der Shoa und dessen symbolische Macht zu nutzen, um eine ethische Position für sich zu gewinnen, die eine sichere politische Attraktivität besitzt. Wie bereits erwähnt, ist der kulturelle Mechanismus, der die Grundlage dieser mehr oder weniger impliziten Instrumentalisierung des Gedenkens an die antijüdische Verfolgung bildet, mit der umfassenderen Krise der altbewährten politischen Leitlinien verbunden, die ab Ende der Prima Repubblica (Erste Republik) im Jahre 1992 einsetzt. Bei einer erneuten Lektüre des oben erwähnten Vorschlags des AMIS, welcher sich dem „Gedenken an die Intoleranzen und Vernichtungen“ widmet, kann man die extrem starke, substanzielle und politisch problematische Wirkung der Mission erfassen, welche die Organisatoren damals erreichen wollten:
2
http://www.istoreto.it/amis/english/pres_en.html, (Juni 2016).
3
„Gianni Alemanno was a member of Silvio Berlusconi rightist Popolo delle Libertà (PdL); but his past was rooted deeply in one oft he constituent parties that merged into the PdL, that is Alleanza Nazionale, previously the Movimento Sociale Italiano, the principal post-war extreme-right, neo-Fascist party in Italy. Alemanno was a former Fascist.“ Robert S. C. Gordon: The Holocaust in Italian Culture. 1944-2010, Stanford: Stanford University Press 2011, S. 71.
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Kann man der Vergangenheit Bedeutung verleihen, die Geschichte aktualisieren und sie umwandeln in eine noch offene Erfahrung? Von dieser Frage ausgehend, entstand die Idee eines Museums der Intoleranzen und der Vernichtungen, um das Gedenken an die vergangenen Intoleranzen und Genozide zu bewahren. Verbrechen, die nicht alte Rückstände darstellen sondern ständige Gefahren: Gewaltfaktoren, ethnische Konflikte, terroristische Aktivitäten, Verletzungen und Verweigerungen von Menschenrechten bestehen nämlich weiter, schaffen Unsicherheit und fordern eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zwanzigsten Jahrhundert. Es handelt sich um eine dramatische Bilanz, die erkennen lässt, wie die Praxis der Intoleranz in gewisser Weise als normal eingestuft wird und sie zeigt zudem auf, dass Werte wie der Respekt für den Anderen und die Akzeptanz der Diversität keine Selbstverständlichkeit sind, sondern eher das Ergebnis eines langen kulturellen Prozesses und einer erziehungsbedingten Errungenschaft, die nie als irreversibel betrachtet werden darf.4
Eine heutige Gegenüberstellung dieser Absichtserklärung mit der politischen Praxis, die vom Römer ehemaligen Bürgermeister Gianni Alemanno verfolgt wurde, kann nur Erstaunen erwecken: Alemanno galt als enthusiastischer Befürworter des Projekts eines Museums der Shoa, fuhr jedes Jahr mit Schulgruppen nach Auschwitz, gleichzeitig aber wurde er in den Jahren seines Mandates als „Symbol des Kampfes gegen die ,Zigeuner‘“ bekannt, als eine Art „lokaler Sheriff für die Befreiung des Territoriums von der Präsenz der ,Zigeuner‘“. Hiermit soll natürlich weder die Authentizität der unterschiedlichen politischen Positionen noch die Qualität des römischen Museumsprojektes infrage gestellt werden, welches glücklicherweise auf eine ausgezeichnete und historiografisch wie didaktisch akkurate Leitung zurückgreifen kann, wie ich in den folgenden Absätzen versuchen werde aufzuzeigen: Das Problem ist hier die Instrumentalität, die dem Shoadiskurs zugeteilt wurde. Wenn in den neunziger Jahren die Vorstellung einer Beurteilung von Genoziden und Gewaltakten gegen Minderheiten im Rahmen eines Verständnisses der Tatsache aufgestellt worden war, dass „Werte wie der Respekt für den Anderen und die Akzeptanz der Diversität keine Selbstverständlichkeit sind, sondern eher das Ergebnis eines langen kulturellen Prozesses und einer erziehungsbedingten Errungenschaft“, so erleben wir heute mittlerweile eine allgemeine Entleerung der Vielfältigkeit und der wahren aktuellen
4
http://www.istoreto.it/amis/museo.html, (Juni 2016).
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Relevanz der Bedeutung jener Worte. Der Umstand selbst, dass sich der ehemals faschistische, römische Bürgermeister gestatten kann, die Shoa auf seine Fahne zu schreiben und sich gleichzeitig zum nationalen Verfechter der „Zigeunerfrage“ hochzustilisieren,5 ist nicht bloß eine unharmonische Note, sondern das Signal einer anhaltenden Verkümmerung des politischen Diskurses und vor allem einer gewissen Instrumentalisierung und Kommerzialisierung der Shoa selbst, die sich im italienischen politischen Kontext vollzogen hat. Genau betrachtet sind die Bedingungen für die Entwicklung dieses Zustands im politischen Gesamtdiskurs zu suchen, der seit Ende des Kalten Krieges und durch die Krise der Ersten Republik hindurch Italien geprägt hat: Das Wegfallen der historischen Orientierungen und Ideologien des Zwanzigsten Jahrhunderts löste zu der Zeit eine scheinbar vollständige Neuregelung der kulturellen und symbolischen Bezüge der klassischen Parteien. Der Kommunismus, die Nostalgie für den Faschismus, die Widerstandsbewegung der Resistenza sowie die Verteidigung des italienischen Katholizismus vor dem Kommunismus, mit all deren ideologischen und kognitiven Apparaten sind allmählich verfallen und haben eine kaleidoskopische Leere hinterlassen. Die italienische Politik der Nachkriegszeit gründete auf einem gewissen Diskurs über den Menschen und eine gewisse Anthropologie, stark bedingt von der Dialektik zwischen der Erinnerung an den Faschismus und dem Mythos der Resistenza, zwischen Realkatholizismus und dem kommunistischen Traum: All dies ist in Krise geraten, versunken nach dem Fall der Ersten Republik, und wenn es dennoch überlebt hat, dann nur dank einer propagandistischen Verkalkung, als Fassade. Die nach dem Jahr 1992 entstandene politische Desorientierung ist offensichtlich von achtzehn Jahren Regierung Berlusconi geprägt: Die Kultur des sogenannten Berlusconismus hat sich das Entkräften jegliches politischen, historischen und traditionell kulturellen Begriffs zum Ziel gesetzt und lediglich einen generalisierten Sinn für „Privatinteressen“ und „privates Vergnügen“ beibehalten, die es gegen jegliche „öffentliche oder kollektive Usurpation“6 zu verteidigen gilt,
5
Siehe auch: http://www.ilfattoquotidiano.it/2011/05/11/campi-rom-alemannocome-dio/110390/, (Juni 2016).
6
Carlo Chiurco (Hg.): Filosofia di Berlusconi. L'essere e il nulla nell'Italia del Cavaliere, Verona: Ombre Corte 2011.
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worunter auch die bloße Teilung von Interessen und gemeinschaftlichen Standpunkten7 zu verstehen ist. Es handelt sich hier leider um eine Tatsache: Die Narration um die Shoa ist im italienischen Fall auch im Zusammenhang mit der Verbreitung des Berlusconismus hervorgetreten. Der vielleicht kritischste Aspekt, den es zu untersuchen gilt, ist gerade jener der a-politischen Kraft einer bestimmten, von den Nationalsozialisten eingesetzten visuellen und medialen Macht der Repräsentation der Verfolgung von Minderheiten, die es vermocht hat, Verbindungen zu der umfassenderen Krise der Werte und der historischen, politischen Bezüge der Zeit nach dem Kalten Krieg herzustellen. Nicht zufällig ist die politische und wahrhaftig historische Dimension der gesamten Geschichte der antijüdischen Verfolgung vollkommen verloren gegangen, allein jene ethische/universalistische Dimension hat überdauert: Kein Politiker hat Interesse bekundet, sich mit den aktualisierbaren ökonomischen, politischen und historischen Aspekten der Shoa auseinanderzusetzen. Man denke nur an fragwürdige Gestalten wie den Vollblut-Christdemokraten Clemente Mastella, der sich auf positive Weise für die Einführung von Gedenktagen8 oder den Vorschlag einer Verordnung für die Strafverfolgung von Negationisten eingesetzt hatte, wobei man ihn jedoch auch fragen könnte, warum die Kirche nichts gegen die Deportation der römischen Juden im Jahr 1943 getan habe. Trotz der im zweiten Kapitel dargelegten Betrachtungen offenbart in diesem Zusammenhang auch das mehr oder weniger offizielle Verhalten der Kirche und der katholischen Parteien, die mit ihr verbunden sind, eine gewisse Instrumentalität im Umgang mit den Shoadiskursen. Die zahlreichen Gruppenausflüge aus Italien nach Auschwitz haben selbst oft eine verheerende Wirkung, da sie keinesfalls die politischhistorische Spur hervorheben, sondern nur die eines allgemeinen Mitleids und einer unkoordinierten Einfühlung, oftmals herausgerissen aus sämtlichen analytischen Bezügen und Perspektiven, die für eine Aktualisierung der Bedeutung des Gedenkens an die Shoa notwendig sind. Auch diese Phänomene berichten uns letztendlich von der Einmaligkeit der Shoa, die
7 8
Ebd. Legge 20 luglio 2000, n° 211: „Istituzione del ‚Giorno della Memoria‘ in ricordo dello sterminio e delle persecuzioni del popolo ebraico e dei deportati militari e politici italiani nei campi nazisti“.
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sich dadurch in gewisser Weise in ein a-historisches Ereignis umgewandelt hat, ohne politische Vorbedingungen oder Auswirkungen, sondern als Grenzdiskurs und Sinnbild, das für die unterschiedlichsten politischen Interessen Verwendung finden kann. Der epistemologische Kern der Repräsentation der Shoa liegt in deren A-Historizität, die – zumindest was Italien betrifft – sehr gut zum Bedürfnis einer nationalen Politik passt, nicht in politischen Begriffen zu denken, sondern dagegen die ethische Rätselhaftigkeit der „Verfolgung des europäischen Juden“ als grundlegende Tatsache aufzustellen. Der problematische Aspekt des Gedenkens an die Shoa – anders als bei den üblichen Formen des Gedenkens bis zum Ersten Weltkrieg und später bei jenen, die den Faschismus oder den Mythos der Resistenza betreffen – ist das vollkommene Fehlen eines politischen Urteils und einer Erklärung der Umstände an sich. Im heutigen ungeordneten politischen Umfeld Italiens ist es fast unmöglich geworden, Geschehnisse mit vollkommen widersprüchlichen Bedeutungen und unterschiedlichen Gewichten voneinander zu unterscheiden: Der jüngste Fall betrifft die Einweihung eines Denkmals im Jahre 2012 zu Ehren des Generals Rodolfo Graziani, Vizekönig von Äthiopien während des Krieges, verantwortlich für Blutbäder in Afrika und Libyen und seit 1947 als Kriegsverbrecher bekannt.9 Rückblickend auf einige Erfahrungen aus den Bereichen der Kunst, des Visuellen und des Gedenkens, beginnend mit den Nachkriegsjahren, ist zu erkennen, wie uns die symbolische Radikalität der ersten, den Opfern der Deportationen gewidmeten Gedenkstätten im negativen Vergleich ermöglicht, die symbolische, politische und revolutionäre Kraft wahrzunehmen, welche die Repräsentation der Verfolgung und der Shoa in den Jahrzehnten vor dem expressiven und universalisierenden Boom zu vermitteln gewusst hatte. Die zeitliche Nähe zu den tragischen Kriegsereignissen und zum Teil auch die politische Intensität der Auseinandersetzung bestimmter Künstler verdeutlichen die ursprüngliche Kraft der Parabel des Gedenkens, die später zur Errichtung des Museums der Shoa führen wird.
9
Siehe Einleitung von Angelo Del Boca: La storia negata. Il revisionismo e il suo uso politico, Vicenza: Neri Pozza 2009, S. 9-35.
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D EPORTATION , V ERGESSEN
UND S AKRALITÄT IN DEN FRÜHEN KÜNSTLERISCHEN D ARSTELLUNGEN
DER NATIONALSOZIALISTISCHEN V ERFOLGUNGEN Die Gedenkstätte für die Deportierten der Ardeatinischen Höhlen (Fosse Ardeatine) Die dargelegten Überlegungen über die Zentripetalkraft, die sich zwischen Erhaltung und Transformation auf eine bestimmte italienischen Kultur entwickelt, werden konstant durch die Auseinandersetzung mit dem kollektiven zivilen Raum bestätigt, insbesondere mit jenem der italienischen Gedenkstätten und Mahnmäler. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg fügte sich die antijüdische Verfolgung auf natürliche Weise in einen breiteren Bezugsrahmen ein, in Verbindung mit dem Gedenken an all der verschiedenen Gruppen von Deportierten und Verfolgten zur Zeit des Faschismus und des Nationalsozialismus.10 Nicht zufällig bot sich bei der Einweihung der allerersten Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus, die Gedenkstätte für die Opfer der Ardeatinischen Höhlen, die Möglichkeit, eine Auseinandersetzung mit der historischen Last der Deportationen, aber auch mit der politischen und religiösen Spezifizität der einzelnen Gruppen zu beginnen. Trotz der schrecklichen Situation, in der sie entstanden war – nur zwei Jahre nach dem Blutbad, im Beisein der Angehörigen der Opfer und mit einer Pluralität von widersprechenden architektonischen Subjekten und Standpunkten – bleibt die Gedenkstätte noch heute „eines der bedeutsamsten Denkmäler der Zeit auf internationaler Ebene“.11 Der von der Gedenkstätte geprägte architektonische Diskurs ist möglicherweise von einer emotionalen und physischen Nähe zum Blutbad an 335 italienischen Zivilisten und Soldaten gezeichnet: Die Präsenz der in der Tuffsteingalerie aneinandergereihten Särge der Opfer, in einer der faszinie-
10 Die Associazione Nazionale Ex-Deportati (Nationaler Verein der Exdeportierten) ist heutzutage noch ziemlich bekannt in Italien. Siehe: http://www.deportati.it/, (Juni 2016). 11 Francesco Gatti in: http://architettura.it/sopralluoghi/20040127/index.html, (Juni 2016).
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rendsten Gegenden Roms, innerhalb eines einzelnen großen Grabsteins, jedoch in einem durch modernistische und rationalistische Strenge geprägten Rahmen mit vielen Verweisen auf klassische, geometrische Querschnitte, erzeugen ein vielleicht unwiederholbares Gefühl von Epochalität und ethischer Würde. Es ist die organische und diskursive Authentizität dieser Gedenkstätte, die beeindruckt. Diese Untersuchung einer ursprünglichen politischen und architektonischen Einheitlichkeit der Gedenkarchitekturen ermöglicht es zu begreifen, wie der direkte und auf Nähe beruhende Bezug auf die Verfolgungen in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Italien eine instinktive wie auch beeinflussende Repräsentationskraft generieren konnte. Adachiara Zevi, die Schwester von Luca und Tochter von Bruno Zevi, hat kürzlich über die Vielzahl der Stimmen, die in der römischen Gedenkstätte präsent sind, gesagt, dass diese in der Lage sind „auf städtischer Ebene eine Pluralität dissonanter Stimmen zu bilden“.12 Das Projekt selbst war in Wirklichkeit das Ergebnis einer „gemeinschaftlichen Vision“ der zwei Architekturbüros von Mario Fiorentino und Giuseppe Perugini und aufgrund der Vielfältigkeit, der Stilmischung und der zahlreichen Verweise, die aus der Zusammenarbeit resultierten, zählt das Denkmal noch heute zu den „bedeutendsten und interessantesten des ärmlichen modernen Roms.“13 Das Architekturbüro BBPR In den fünfziger Jahren war es das Architekturbüro BBPR (gegründet 1932 von Gian Luigi Banfi, Lodovico Barbiano di Belgiojoso, Enrico Peressutti und Ernesto Nathan Rogers), das die Memoralisierung der nationalsozialistischen Verfolgungen im italienischen Kontext und auch anderswo unauslöschlich prägte. Es war nicht nur die direkte Erfahrung der Internierung, welche die vier Architekten beeinflusste, sondern deren auf internationaler Ebene anerkannte Fähigkeit, die architektonische Modernität zu interpretieren und sie von der Architektur auf eher philosophische Konzepte um das ästhetische Bewohnen zu projizieren. Innerhalb eines Zeitraums von 30
12 Adachiara Zevi: Fosse Ardeatine, Roma: Testo & Immagine 2010. 13 Francesco Gatti in: http://architettura.it/sopralluoghi/20040127/index.html, (Juni 2016).
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Jahren haben die vier Architekten zahlreiche Projekte realisiert, die mit dem Gedenken verbunden sind. Das erste dieser Projekte – wahrlich ein Denkwürdiges – ist der Kubus auf dem Monumentalfriedhof in Mailand (1944-45), der in Wirklichkeit nur von Enrico Peressutti ausgearbeitet wurde, da man auf die Rückkehr von Gian Luigi Banfi (nach Gusen deportiert, wo er am 10. April 1945 starb), Lodovico Barbiano di Belgiojoso (nach Mauthausen deportiert, von wo er nach dem Krieg zurückkehren wird) und Ernesto Nathan Rogers (bereits 1939 in die Schweiz geflohen, nach dem Erlass der Rassengesetze) wartete. Es handelt sich um einen abstrakten, auf den Goldenen Schnitt verweisenden Kubus, der versucht „Monumentalität und Modernität miteinander zu verschmelzen“.14 Im Laufe der Jahrzehnte hat sich der Kontext des Denkmals durch die Hinzufügung der Namen der Deportierten und die Eröffnung eines Gedenkraumes für die Angehörigen der Opfer verändert. Der heutige Eindruck ist der eines tief empfundenen Raums, das Ergebnis einer Anwendung des architektonischen Konzepts auf die direkte Erfahrung des Leides in den Konzentrationslagern. Das Architekturbüro BBPR ist weltweit nicht nur für die Impulse bekannt, die es dem Modernismus gegeben hat, sondern auch als Bezugspunkt in den dreißiger Jahren für die antifaschistische Bewegung der Mailänder Resistenza. In den darauf folgenden Jahren war das Architekturbüro BBPR verantwortlich für mindestens vier weitere, auf europäischer Ebene relevante Gedenkprojekte. Das Memorial Gusen (1960-65), die Italienische Gedenkstätte in Auschwitz (1970), die Deportationsgedenkstätte in Carpi (1973) und die Italienische Gedenkstätte in Ravensbrück (1982). Die Konzeption einer jeden dieser Gedenkstätten war das Ergebnis eines komplexen und vielgliedrigen Prozesses der Übereinstimmung zwischen den unterschiedlichen Beteiligten, den ehemaligen Deportierten, den Angehörigen der Opfer, den diversen Vereinigungen und den Künstlern selbst, unter denen viele international bekannt waren. Die Italienische Gedenkstätte in Auschwitz, Ergebnis der Zusammenarbeit wichtiger Zeugen der italienischen Nachkriegszeit sowie ehemaliger Deportierter, unter denen vor allem Primo Levi und Luigi Nono zu nennen sind, ist im Jahr 2008 von der Verwaltung in Auschwitz aufgrund einer Serie von Idiosynkrasien und kritischen Aspekten hinterfragt worden, die im
14 Laura Iamurri: „L’arte italiana e la Shoa“, S. 469.
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Rahmen der Gedenkpolitiken der letzten Jahrzehnte hervorgetreten sind. Der Kern der Kritiken am Denkmal aus den siebziger Jahren in Auschwitz ist substanzieller Natur und betrifft dessen absolute Abstraktheit: Seine Architektur ist an eine äußerst hermetische und ästhetisierende Modalität des Ausdrucks gebunden und basiert auf einer Spiralform, deren chromatische Intensität vom Schwarzen (der Faschismus) in helleres Licht (die Befreiung) übergeht. Der Rundgang endet mit Luigi Nonos Komposition Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz (Erinnere Dich dessen, was Dir in Auschwitz angetan wurde). Die Beiträge von Primo Levi und Luigi Nono markieren unauslöschlich die Einzigartigkeit der Gedenkstätte – so sehr, dass gegenüber jeglicher möglichen Überarbeitung ernsthafte Zweifel bestehen, wenngleich ein Studentenkollektiv der Mailänder Accademia di Brera bereits daran arbeitet. Die Deportationsgedenkstätte in Carpi, in welcher „der strenge Modernismus der Mailänder Architekten jede rhetorische Verlockung ausschließt“15 vermochte dagegen, verschiedene Beiträge dokumentarischer sowie künstlerischer Natur zusammenzubringen: In dieser Gedenkstätte wurden die Arbeiten vieler Künstler untergebracht (unter ihnen Corrado Cagli, Renato Guttuso, Pablo Picasso, Fernand Léger, Emilio Longoni), zu denen später die Lettere dei condannati a Morte (Briefe der zum Tode Verurteilten) hinzugefügt wurden, die Namen 14.000 italienischer Deportierter und im Außenbereich die europäischen Orte der Vernichtung. Die Risiera di San Sabba Das Städtische Museum Risiera di San Sabba wird ebenfalls in den siebziger Jahren eingeweiht. Dieser Ort war bereits 1965 zum nationalen Denkmal erklärt, jedoch in den nachfolgenden Jahren unter der Leitung des Architekten Romano Boico überdacht und umgebaut worden. Im Kern scheint Romano Boicos Projekt (1966-1975) bereits einen modernistischeren Standpunkt einzunehmen und gegenüber den bereits erwähnten Gedenkstätten für die Deportierten durch eine größere Distanz zu den tragischen Ereignissen des Krieges geprägt zu sein. Obwohl das Museum genau auf dem Areal des ehemaligen nationalsozialistischen Verschiebungslagers – über der Topografie des Zellentraktes, des Eingangsberei-
15 Ebd., S. 469.
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ches, des Appellplatzes und der Krematorien – errichtet wurde, hat Romano Boico durch die trockene Stilisierung aller Bereiche mit Einsatz von viel Beton und Stahl versucht, einen Ortsbezug herzustellen, der viel stärker von einer ästhetischen und post-experientiellen Wirkung geprägt ist als von jener, welche direkt von den Opfern erzeugt wird. Wir befinden uns zeitlich am Anfang der siebziger Jahre, in genau jener Phase, in der Italien sich daran macht, einen neuen Umgang mit dem Gedenken – jenem einer zweiten Generation – zu erarbeiten, der nicht mehr mit der direkten wesentlichen Beziehung zwischen Opfern und deren Angehörigen oder mit den unmittelbaren Schmerzen des Verlusts geliebter Menschen und der vom Krieg hinterlassenen Wunden verbunden ist. Das neue, interpretative Modell ist das eines Raumes, der eine (in-)direkte Erfahrung des Gräuels, des Leids zu bieten vermag. Dieses Modell entspringt nicht bloß der tatsächlichen Präsenz bereits verschollener Spuren – das Konzentrationslager war immerhin von den fliehenden Nationalsozialisten fast vollständig zerstört worden – sondern dem ausdrücklichen Wunsch, eine Reise und eine Erfahrung höherer, psychologischer und sinnlicher Ordnung zu bieten. Romano Boicos gesamtes Projekt lebt von dieser Spannung des Versuchs, das Lager in stilisierter Form und in gewisser Weise durch indirekte Kraft zu neuem Leben zu erwecken: „Der Eingriff Boicos ist in all seinen Teilen von einem Subtraktionsverfahren charakterisiert, das die Form auf den Monolith reduziert, die Figur auf den Rhythmus, die Farbe auf die Neutralität des Graus. Auf den Oberflächen der undurchdringlichen Wände, die nichts zu stützen haben außer der Bedeutung der Geschichte, die sie umschreiben, erscheint kein zelebratives Zeichen und keine Schrift, da herrscht nur die Stille.“16 Romano Boico, Schüler eines der größten Meister der italienischen Architektur des Zwanzigsten Jahrhunderts – des bereits erwähnten Ernesto Nathan Rogers – hatte sich von Beginn an das Ziel gesetzt, eine symbolische Erfahrung zu generieren, mit dem Ziel, einen allzu deutlichen musealen Bezug zu vermeiden, wenngleich die Risiera später in ein Museum umbenannt wurde. Dieser Wille war dennoch nicht eindeutig und frei von Widersprüchen: Das Stichwort, welches Boico für das erste, bereits 1966 bei Eröffnung der Ausschreibung abgegebene Projekt gewählt hatte, lautete tat-
16 Massimo Mucci: La risiera di San Sabba. Un’ architettura per la memoria, Gorizia: Libreria Editrice Goriziana 2006, S. 56.
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sächlich „Absurd“. Seine große Intuition war die, ein Projekt zu präsentieren, indem er gleichzeitig dessen kritischstes Element hervorhob, nämlich jenes der Zubetonierung, der Monumentalisierung eines Gedenkens, dem nach Verlust seines direkten Bezugs zu den Ereignissen – mit zwanzig Jahren Abstand – die Gefahr drohte, seine wahre symbolische Essenz zu verlieren: Was ist heute, nach zwanzig Jahren, übrig geblieben von der damaligen Hoffnung, vom Bewusstsein des Rechts zur Existenz, vom Wunsch nach Reinigung? Enttäuschung, Skepsis und, was fürchterlicher ist, totale nachgiebige Resignation allen gegenwärtigen Bedingungen des Menschen gegenüber. [...] Heute beschaffen sich große demokratische und totalitäre Nationen riesige Mengen an Vernichtungsinstrumenten unvorstellbarer Zerstörungskraft. [...] Welches Denkmal kann es somit geben? Welche Symbole können noch eingesetzt werden?17
Derartige Spekulationen seitens des Architekten leiten ein wesentliches Element meiner Abhandlung ein, und zwar jenes der progressiven Distanz zwischen historischen Ereignissen und deren physischer und monumentaler Formalisierung: Diese Distanz ist problematisch, weil sie jenen Raum erzeugt, der später vom politischen Diskurs gefüllt wird. An der Basis des politischen Diskurses steht dieses Bedürfnis, die eigene Legitimität auf den Trümmern tatsächlich stattgefundener Ereignisse, auf den Spuren des Leids und der Verfolgung neu zu gründen, obwohl diese inzwischen in der Zeit weit zurückliegen und somit die Gefahr besteht, dass sie auf die Einmaligkeit und Authentizität eines jeden historischen Ereignisses nicht ganz achten. Massimo Mucci hat angemerkt, dass sich „heute, nach dreißig Jahren, Boicos Mahnung immer noch nicht zu einem Mahnmal sedimentiert hat und sein Stichwort klingt nach wie vor wie eine Verwünschung: ‚Absurd‘.“18
17 Dalla Collezione privata di Romano Boico, in: ebd., S. 73. 18 Ebd., S. 56.
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D AS M USEUM DER S HOA IN DER V ILLA T ORLONIA , ZWISCHEN H ERAUSFORDERUNG UND K RISE DER M EMORALISIERUNG IN I TALIEN Vom MEIS zum Museum der Shoa in der Villa Torlonia Das erste Konzept für ein Museo della Shoa wurde 1994-95 vom damaligen Superintendenten der staatlichen Kultureinrichtungen der ersten Regierung Berlusconi, dem wohlbekannten Vittorio Sgarbi vorgeschlagen. Ursprünglich war für das Museum die Stadt Ferrara in Betracht gezogen worden – eine wichtige Stadt für viele Phasen der italienischen Geschichte, jedoch vor allem wegen einer langen und bedeutsamen Tradition des lokalen Judentums.19 Das Museum sollte Teil eines übergeordneten Projekts werden, das sich nicht nur auf die Shoa beschränkte: Aus diesem Grund sollte im ersten Konzeptentwurf die „Geschichte der Shoa“ nur den letzten Teil der „allgemeinen Geschichte des italienischen Judentums“ darstellen. Das Vorhaben, das italienische Museum der Shoa in einer Stadt wie Ferrara zu errichten, die sicherlich faszinierend aber dennoch provinziell ist, führte bald zu ersten Reaktionen, vor allem vonseiten des damaligen Kultusministers Walter Veltroni, der dem politischen Dunstkreis des PD (Demokratische Partei) angehörte und ursprünglich im historischen PCI (Italienische Kommunistische Partei - Partito Comunista Italiano) aktiv gewesen war. In den Jahren nach seiner Ernennung zum Bürgermeister der Stadt Rom (2001-2007) setzte sich dieser später dafür ein, das Museumsprojekt in der Hauptstadt zu verwirklichen, was zu dessen Umbenennung in „Nationales Museum der Shoa“ führte. Über Veltronis Position und seine Unterstützung des Projekts der Gedenkstätte wurde zu seiner Zeit viel diskutiert, da sie es einerseits jener traditionellen Linie des Partito Comunista entsprach, sich hinter jeden Akt des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und Faschismus zu stellen und andererseits, da Veltronis Einsatz erneut einige Kernfragen zum Verhältnis der historischen Linken zur jüdischen Kultur aufwarf – vor allem, was die Politik Israels nach dem
19 In Ferrara ist noch einer der ältesten sephardischen Gemeinden Europas.
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Sechstagekrieg betraf.20 Nach einem Jahrzehnt der Debatten wurde 2004 die Errichtung des Museums der Shoa in der Hauptstadt Rom endlich gesetzlich festgelegt. Im selben Jahr wurde auch ein erster Förderverein gegründet. In Ferrara blieb das Projekt eines Museums der Geschichte des italienischen Judentums bestehen, an dessen Definition heute noch gearbeitet wird, obwohl es bereits unter dem ambivalenten Namen Museo nazionale dell’ ebraismo italiano e della shoa im Internet erscheint.21 Das Problem, das aus dieser eindeutigen Überlagerung von Museumsprojekten hervortritt, ist komplex, zeugt immerhin von einer Vielfalt und einer gewissen Lebhaftigkeit der jüdischen Gemeinden, welche – anders als im Berliner Fall – die wahren Förderer des Museums und der damit verbundenen aufwendigen Projektarbeit sind.22 Auf die Vorhaben in Rom und Ferrara folgte außerdem jenes historische Projekt des CDEC in Mailand, ein bereits 1955 in organisierter Form gegründeter Verband, der später im Jahre 1990 durch Einrichtung einer Stiftung formalisiert wurde. Zum zehnten Jahrestag des Kriegsendes rief die Federazione Giovani Ebrei d'Italia FGEI (Verband Junger Juden Italiens) dieses Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea CDEC (Zeitgenössische Jüdische Dokumentationszentrum) ins Leben, dessen 1957 in deren erster Satzung formalisiertes Ziel in „der Forschung und Archivierung von Zeugnissen jeglicher Art, welche die antisemitischen Verfolgun-
20 Siehe Luca Riccardi: ‚Il problema Israele‘. Diplomazia italiana e PCI di fronte allo Stato ebraico (1948-1973), Milano: Guerini e Associati 2006. 21 http://www.meisweb.it/, (Juni 2016). „Il Museo Nazionale dell’ebraismo italiano e della Shoa è istituito con la Legge n. 91 del 17 aprile 2003 con lo scopo di testimoniare la costante e diffusa presenza della comunità ebraica sul territorio italiano“. 22 „This regional variety of Italian and Italian-Jewish history, culture and politics, and the tensions amongst national, regional and local sets of responses to the Shoa and within that already complicated spectrum, the further complication of Rome’s status as a local case and also a symbolic ,national‘ centre-are all layers of geopolitical complication that we will need to be alert to as we look for an Italian shape to historical responses to the Holocaust.“ Gordon: The Holocaust in Italian Culture. 1944-2010, S. 23-24.
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gen in Italien und den jüdischen Beitrag zur Resistenza betreffen“ und deren Verbreitung bestand.23 Nach der Gründung des „Ausschusses für das Museum der Shoa in Rom“ im Jahr 2004 musste man auf die tatsächliche Gründung der „Stiftung Museum der Shoa“, mit der Unterstützung der Gemeinde- und Provinzverwaltung Roms, der Region Latium, der italienischen sowie römischen jüdischen Gemeinden und schließlich des Verbands Figli della Shoa (Kinder der Shoa), bis 2008 warten.Wie bereits erwähnt, war in den letzten Jahren ab 2008 der Einsatz des Bürgermeisters Alemanno, enthusiastischer Befürworter des Projekts, der sogar die Bausumme ab 2009 der Gemeinde aufgebürdet hat, von zentraler Bedeutung. Zurzeit werden zahlreiche laufende Projekte der Stiftung durch Zuständigkeitsbereiche und Betriebe der Gemeinde Rom gefördert. Villa Torlonia zwischen Vergangenheit und Gegenwart Villa Torlonia, offizieller Standort des neu zu errichtenden Museums der Shoa, wurde ab 2004 zum „aufwertbaren baulichen Umfeld“ deklariert. Eine Serie spekulativer Missgeschicke bot gerade während des Mandats des Bürgermeisters Walter Veltroni (2001-2007) die Möglichkeit, an diesem prestigeträchtigen Ort das neue Museum der Shoa zu errichten. Mit der Bezeichnung „aufwertbares Umfeld“ wurde beabsichtigt, einen der bekanntesten Aspekte der städtischen Topografie hervorzuheben: Die offensichtliche Schwierigkeit, im Stadtzentrum neue Baugründe zu finden, ist fester Bestandteil der Geschichte des modernen Roms. Die durch Restaurierungsmaßnahmen und archäologische Ausgrabungsstätten verursachte chaotische Aufregung stieß auf die offenkundige passive Kraft der Ewigkeitsspuren, die jede Möglichkeit eines neuen Eingriffs verhindert. Im Fall der Villa Torlonia ging es dagegen um eine Serie von Übereinstimmungen, die im Jahr 2008 ermöglichten, den Park der Villa als Baugrund für ein neues und auf jedem Fall imposantes Gebäude wie das Museum der Shoa in Betracht zu ziehen. Ähnlich zum Berliner Fall war die Lage jedoch von Anfang an unvermeidbar repräsentativ, auch für einen bestimmten politischen Diskurs. Dies betrifft vorwiegend den Park der Villa: Abgesehen von dem imposanten Villengebäude und den weiteren, ab dem 18.
23 http://www.cdec.it/home2_2.asp?idtesto=578&level=1, (Juni 2016).
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Jahrhundert errichteten Bauten wie die „künstlichen Ruinen“. Theater, Gewächshäuser, Häuschen und Tempelchen, wurde dieser auf einer der ältesten jüdischen Katakomben Europas angelegt, die auf das 2. Jahrhundert n.Chr. zurückgeht und bis zum 5. Jahrhundert genutzt wurde.24 Diese archäologische Zone ist am Ende des Jahres 2012, aus unterschiedlichen Gründen geschlossen, angefangen von der Baustellensicherheit aufgrund der Instabilität des Bodens bis zu gesundheitlichen Bedenken wegen der Freisetzung von verschiedenen, für den menschlichen Organismus gesundheitsschädlichen Gasen vor Ort. Der archäologische Wert dieser Katakombe ist in der Tat noch vollständig zu klären, obwohl dessen allgemeine Bedeutung im Zusammenhang mit den Grabkatakomben des antiken Roms bereits feststeht.25 Die Präsenz eines der ältesten jüdischen Friedhöfe Europas ist für das gesamte Areal offensichtlich ein wichtiges symbolisches Element, das noch einmal das Potenzial einer Gedenkarchitektur belebt, die auch für die Erhaltung von Vergangenheit steht. Luca Zevi verweist in seinem Projekt zwar nicht explizit auf die antiken Katakomben, es leuchtet jedoch ein, wie diese in das Gesamtkonzept einer Umnutzung des Areals für das Museum der Shoa integriert sein werden. Bereits bei einem raschen Blick auf die Position des Areals der Villa innerhalb der Gesamttopographie der Stadt treten jedoch weitere Elemente zum Vorschein, welche uns helfen zu verstehen, wie stark die symbolische Anziehungskraft dieses Ortes sein kann, der auf der Achse der berühmten via Nomentana liegt. Erst einmal zur Nomentana selbst: Als eine der Hauptstraßen des antiken Roms führte sie von der Porta Pia bis zum Städtchen Mentana. Für die italienische Kultur stellt das Stadttor, von dem sie ausgeht, die Porta Pia,
24 http://www.romasotterranea.it/catacombadivillatorlonia.html, (Juni 2016). 25 „Purtroppo a tutt'oggi, non sono molte le informazioni delle fonti letterarie che ci vengono in aiuto, relativamente alle sepolture della comunità ebraica dell'antica Roma. Tuttavia i rinvenimenti e le scoperte archeologiche, possono essere annoverate sicuramente tra quelle più cospicue e di sicuro interesse.“ Michela Vitale in: http://www.romasotterranea.it/catacombadivillatorlonia.html, (Juni 2016).
V ILLA T ORLONIA : ZWISCHEN V ERGANGENHEIT , G EGENWART UND Z UKUNFT | 259
den wahren symbolischen Anziehungspunkt dar.26 Die Porta Pia ersetzte die alte Porta Nomentana, die zu Zeiten des Römischen Reiches errichtet worden war. Ihr Entwurf stammt vom großen Michelangelo Buonarroti, dem zwischen 1561 und 1565 die Überarbeitung des Stadttors (zwischen 1561 und 1565) von Papst Pius IV verliehen worden war. Porta Pia verhält sich zur italienischen Geschichte wie das Brandenburger Tor zur Deutschen Einheit: Am 20. September 1870 wurde sie von der Artillerie des gerade erst gegründeten italienischen Staates (1860) gesprengt. Jener Moment markiert das Ende des tausendjährigen Kirchenstaates und bestätigt die Erklärung Roms zur Hauptstadt Italiens (durch das Gesetz vom 3. Februar 1871, Nr. 33 wurde wenige Tage später die Hauptstadt des Reiches von Florenz nach Rom verlegt). Die Villa Torlonia liegt weniger als einen Kilometer von der Porta Pia entfernt und ruft noch heute viele italienische Erinnerungen hervor, nicht nur aufgrund der erwähnten, im Park verstreuten Häuser und Villen, des großen Theaterbaus und des imposanten Casino Nobile und auch nicht nur aufgrund der jahrhundertelangen Geschichte sondern vor allem wegen der Rolle, welche diesem Ort während der zwanzig Jahren des faschistischen Ventennio zukam: Villa Torlonia war bis zum Jahre 1943 die Privatresidenz des Benito Mussolini und dessen Familie.27 Die Zentralität der Villa Torlonia innerhalb der Topografie der Stadt, die Geschichte ihrer Nutzung wie auch die Präsenz der Katakomben ermöglicht eine Serie symbolischer Assoziationen, die vielleicht nicht allein auf dem eigenen und bewussten Wunsch gründen, den Park als geeigneten Ort für das Museum der Shoa zu betrachten. Aus heutiger Perspektive scheint es in der Tat verständlich, dass vielfältige Gründe, nicht zuletzt rein baulicher Natur, zur Wahl dieses Areals als Sitz des Museums geführt haben. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass diese Wahl eine Einfügung des
26 Guido Verucci: „Il XX Settembre“, in: Mario Isnenghi (Hg.): I luoghi della Memoria. Personaggi e date dell'Italia unità, Roma/Bari: Laterza 1997, S. 87100. 27 „If Palazzo Venezia, beside the Capitoline Hill in central Rome, was the site of Mussolini’s official power, containing his grandiose office in Sala del Mappamondo and his most famous public stage (the small balcony overlooking Piazza Venezia below), then Villa Torlonia was Mussolini’s image of home, family, and his role as ‚father‘ oft he nation for nearly 20 years.“ Gordon: The Holocaust in Italian Culture. 1944-2010, S. 14.
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Museums der Shoa in die Mitte der Stadt – und folglich in das Zentrum all deren historischer Bezüge – mit sich bringen wird. Der endgültige Termin für den Baubeginn des Museums war zuerst für Anfang 2012 vorgesehen; allerdings wurden die ersten Bautätigkeiten auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, wahrscheinlich anfangs 2016. Trotz alledem ist das Museum bereits von seinem vorläufigen Sitz an der Piazza Argentina aus aktiv. Vorstand der Stiftung und Zuständiger für alle Aspekte der Didaktik und der Forschung ist zurzeit Marcello Pezzetti, einer der größten Holocaust-Experten Italiens. Mit ihm zusammen arbeitet eine Gruppe internationaler Historiker und Lehrer.
Erfahrung und Ethik
Philosophischer Diskurs und Holocaust im Spiegel
D OKUMENTALITÄT , P RAXIS
UND
P HILOSOPHIE
In den vorhergehenden Kapiteln habe ich versucht, unterschiedliche Aspekte der Repräsentation des Holocausts innerhalb zweier europäischer Nationen – Deutschland und Italien – verschiedenartig zu rekonstruieren. Meine Absicht dabei war, den Definitionsprozess eines „nationalen HolocaustDenkmals“ in den zwei Hauptstädten, (auf die ich mich beziehe – Berlin und Rom –) mit Berücksichtigung verschiedener verfügbarer Stand- und Gesichtspunkte zu analysieren. Meine gesamte Untersuchung findet im Rahmen einer Diskursanalyse statt, die eine Rekonstruktion des Prozesses der Memoralisierung des Holocausts anstrebt, ausgehend von deren historischem Hervortreten bis zu deren Repräsentation im Rahmen der unterschiedlichen lokalen und nationalen politischen Interessen. Die hermeneutische Relevanz dieser Entscheidung entspringt vielerlei Aspekten, welche der in dieser Arbeit angewendeten, philosophischen Betrachtungsweise pragmatisch/diskursiver Art gewissermaßen Gestalt geben: a) Der erste Aspekt betrifft das, was ich in den vorhergehenden Kapiteln als „ontologischen Standpunkt“ bezeichnet habe: Die Untersuchung der zwei Denkmäler stellt nicht bloß eine Rekonstruktion der politischen und historischen Erfordernisse zweier Gedenkorte dar, sondern vielmehr den Versuch, durch diese zwei Strukturen die wechselseitige und konstitutive Beziehung des Prozesses der Einschreibung der Geschichte hervortreten zu lassen. Die zwei Gedenkstätten stellen in der Tat zwei wahrhaftige komplexe historische Einschreibungen dar, die vielfältige Verweise topografischer
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und skulpturaler, symbolischer und folglich schriftlicher Form bieten. Diese Elemente der Niederschrift, der Topologie und der Einschreibbarkeit sind in gewisser Weise von zentraler Bedeutung in der Analyse dieser Arbeit, da sie auf einen bestimmten Endpunkt der zeitgenössischen philosophischen Reflexion verweisen, welcher dem geschriebenen Wort – sei es Spur, Textualität oder Zeichen – insbesondere seit dem französischen Strukturalismus, von Ferdinand de Saussure ausgehend bis hin zur derridaschen Dekonstruktion ein (auch in widerspruchsvoller Form) enthüllendes und bedeutungsschweres Potenzial zuordnet, jenseits der allgemeinen semantischen Strukturen und somit der klassischen und im Grunde genommen idealistischen Probleme der Philosophie. Der französische Strukturalismus hat uns gelehrt, die unvermeidbare und problematische Zirkularität zu lesen, die in der Konstruktion der historischen Narration1 zwischen historischen Ereignissen und sprachlichen – und deshalb belegbaren – Strukturen besteht. Auf einer anderen Ebene steht aber auch die phänomenologischkritische Analyse, die von Edmund Husserl bis hin zu Hans Blumenberg versucht, die Rolle der Erkenntnis und somit des Gewichts der Welt da draußen – der Objekte, der Dinge – hervorzuheben. Typologie und Qualität der Objekte bestimmen wiederum die Qualität des Erkenntnisprozesses. Wie ich versuchen werde zu belegen, stellt dieser Vorrang der Welt da draußen, der Dinge und der Objekte ein Element dar, das auch die subjektiven Erfahrungen um den Holocaust prägt und das mit der Materialisierung und Zerfallenheit der Ereignisse im Zusammenhang steht, die sich in der Modernen ereignet haben. In noch extremerer Form geschieht dies in der heutigen Zeit, durch die Möglichkeiten der Digitalisierung historischer Spuren.
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„Der französische Beitrag zur Debatte stammt aus dem goldenen Zeitalter des Strukturalismus. Die methodologische Revolution, auf die sich die Französische Revolution beruft, will diejenigen Aspekte der narrativen Codes aufdecken, die eine enge Verwandtschaft mit den genetischen Struktureigenschaften der – im Gefolge Ferdinand de Saussure von der ‚Parole‘ unterschiedenen – ‚Langue‘ zeigen. Das Grundpostulat ist, dass die Strukturen der Erzählung homolog zu denen der elementaren Einheiten der Sprache sind. Daraus ergibt sich eine Ausweitung der Linguistik auf die narrative Semiotik.“ Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München: Fink 2004, S. 383-84.
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Die Hinterfragung der Mahnmäler und der Gesamtheit und Typologie der Erfahrungen, die sie vom struktural-sprachlichen und kritischphänomeno-logischen Standpunkt ausgehend bieten, ermöglicht uns durch eine neue und unterschiedliche Betrachtungsweise, traditionelle philosophische Fra-gen zu vertiefen, wie die nach der Bedeutung der Subjektivität oder der Beziehung zwischen dem einzelnen Individuum und den historischen Prozessen. Der philosophische Prozess, den ich hervortreten lassen möchte, ist gegenüber einer traditionellen Modalität der Fragestellung ein zum Teil umgekehrter Prozess: Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist nicht allein die nach den philosophischen Problemen, die der Holocaust widerspiegelt, sondern vor allem die, nach welchen philosophischen Modalitäten, Praxen und Standpunkten von den durch die Memorialisierung des Holocausts erzeugten Praxen, Erfahrungen und Narrationen produziert und generiert werden. Das Element der Niederschrift und der Unschreibbarkeit fungiert in dieser Hinsicht als epistemologisches Bindemittel: Die Niederschrift jener historischen Tatsachen ist das Bindemittel, das die Spezifität der Beziehung zwischen Holocaust und Gegenwärtigkeit definiert. Diese Relevanz des geschriebenen Zeichens ist in meiner gesamten Betrachtung aus zweierlei Gründen von zentraler Bedeutung: erstens weil sie das unabwendbare Element des Hervortretens des Holocausts als beweisbares und greifbares, historisches Ereignis charakterisiert, zweitens, weil sie uns zeigt, wie die historische Narration in der heutigen Zeit auf radikale und problematische Weise mit dem Faktor der Materialität und Einschreibbarkeit verbunden ist. Aus diesem Grund wird sich der erste Teil dieses letzten Kapitels auf eine Wiederaufnahme der Themen einer bestimmten Geschichtsphilosophie nach Hervortreten des Holocausts konzentrieren. Die lyotardsche PostModernität, wie auch Adornos negative Dialektik – welche noch immer die heutige Beschäftigung mit den Kritizitäten der philosophischen Betrachtung beeinflussen, mit dem Ziel, zumindest das Sich-Wiederholen der historischen Ereignisse (wenn nicht deren Sinn) zu verstehen – fußen auf dieser historisch-epistemologischen Zirkularität von Holocaust und Gegenwärtigkeit. Auf dem Spiel steht jedoch nicht allein die Frage, ob es nach Auschwitz noch möglich sei, an eine teleologische Perspektive zu denken: Es soll vor allem ermittelt werden welche philosophische Relevanz die Explosion der Zeichen besitzt, die das destruktive und negative Phänomen des Holocausts
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umgeben und zugleich durch dieses erzeugt werden. Diese Art der Untersuchung stützt sich auf einige Grundthemen der modernen Geschichtsphilosophie, von Hegel bis hin zu Hans Blumenberg. In diesem ersten Teil werde ich einer Reihe von Fragen nachgehen: was für eine Beziehung besteht zwischen Holocaust und Gegenwärtigkeit im Hinblick auf die Produktion von Spuren, Dokumenten, Akten? Was genau entsteht in der wiederholten Erfahrung des Gedenkens an den Holocaust? Welche Art von hermeneutischem Prozess wird in den Durchquerungen erzeugt, die dem Holocaust gewidmet sind? Welche Beziehung besteht zwischen erkennendem Subjekt und repräsentiertem und erkanntem historischen Objekt? Welche Relevanz besitzt die negative Materialität der vom Holocaust hinterlassenen Spuren? Die Spuren, die Archive und, (allgemeiner betrachtet), die Dokumentalität, die jenes historische Ereignis umgibt, erfordern einen Diskurs über die Gegenwärtigkeit der Beziehung zwischen Geschichte und philosophischer Analyse. b) Der zweite Aspekt, der unseren Standpunkt untermauert, liegt in der auf Erfahrung aufbauenden Besonderheit der Denkmäler. Die philosophisch-architektonische Sprache, welche diese durchdringt, wie auch die Spezifität der relationalen und erfahrungsbasierten Aktivitäten, die an diesen beiden Orten geboten werden, ermöglichen die ätiologische Beobachtung des materiellen und pragmatischen Werdens bestimmter radikaler Erfahrungen, wie jene der Memoralisierung und der Erinnerung und deren Folgen sowie deren Bedeutung auf politischer und sozialer Ebene. An diesen Orten entsteht ein gewisser Bezug zu den historischen Ereignissen, der im Wesentlichen selbst schon historische Erfahrung ist. Das Eintreten und das Durchqueren der Gedenkräume erzeugt eine Erfahrungsform, die rituellen Praxen ähnelt, welche in verschiedenen historischen Phasen zum Ausdruck kommen, in deren Mittelpunkt aber immer die Konstruktion einer subjektiven Identität durch den Zugang zu kollektiv festgelegten und anerkannten Räumen steht. Diese Ritualität stellt einen pragmatischen und materiellen Entstehungsprozess von Erfahrungen und Sichtweisen dar, die es ermöglichen, eine Analyse der Gegenwärtigkeit zu unternehmen, ausgehend von einem allgemeineren und mit den „Übergangsriten“2 verbundenen Verweis. Diese phänomenologische Betrachtung des Eintretens – also einer
2
Ich beziehe mich hier auf den Begriff von Arnold von Gennep: Übergangsriten, Frankfurt a/M: Campus 1986.
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historischen Erfahrung – wirft wesentliche Fragen auf zur Deutung von Geschichte und zum Verhältnis zwischen Vernunft, Geschichte und Katastrophe: Welche Bedeutung hat die Ritualität um den Holocaust? Was genau sollen die holocaustischen Durchquerungen erzeugen? Welche paradigmatische Funktion kommt dieser Art von Ritualismus zu? Der Holocaust hat nicht durch Zufall die philosophische Erfahrung und Befragung erheblich beeinflusst: Als Adorno die Idee einer negativen Dialektik aufstellte – die nichts anderes darstellte als das Zeichen eines endgültigen Bruchs in der hegelschen Dialektik, gespaltet durch die systematische Undarstellbarkeit und Uneinordbarkeit der Barbarei innerhalb eines teleologischen Rahmens – war er sich wohl dessen bewusst, dass die Darstellung des Holocausts und dessen Relevanz eine schwer zu beantwortende Frage aufwarfen, die in der Philosophie noch heute unbeantwortet bleibt. Die negative Dialektik dürfte in dieser Hinsicht nichts anderes sein als die Konsequenz der Unmöglichkeit, das Element der Synthese als teleologische und finalistische Überwindung zu denken. Der Ursprung dieser Krise der Teleologie liegt jedoch in der Krise des Zeichens selbst, die mit dem französischen Strukturalismus zu keimen begann, und ist unzertrennbar mit ihr verwoben: Dieser Art unvereinbarer Erfahrung – die Erfahrung der in der Gegenwärtigkeit bestehenden Krise – gibt die holocaustische Architektur eine Form. Um diesen scheinbar nicht wieder gutzumachenden Bruch zwischen Teleologie und Dokumentalität, zwischen der Möglichkeit eines positiven Diskurses über die Geschichte und der Gewalt des holocaustischen, materiellen Gewebes, haben sich philosophische Erfahrungen beträchtlichen Ausmaßes entwickelt: Ich werde hier auf die Idee des „Messianischen“ zurückgreifen, welche eng verbunden ist mit jener anthropologischen Idee der Ritualität, auf der Grundlage unterschiedlicher philosophischer Beiträge, wie jene von Giorgio Agamben, Jacob Taubes und Emmanuel Lévinas, um zu verstehen, welches das bedeutsamste Erbe des Gedenkens an den Holocaust und der damit verbundenen Erfahrungen sei. c) Der dritte Aspekt betrifft schließlich die Subjektivität: Welche Eigenschaften der zeitgenössischen Subjektivität lässt der Holocaust hervortreten? Heute können wir zweifelsohne behaupten, dass die Krise von Adornos Dialektik einem Standpunkt entsprang, der trotz Adornos aktivem Kritizismus von einer noch traditionell-nihilistischen Auffassung der Aufgabe von Philosophie geprägt war: Die zeitgenössische Philosophie denkt nicht mehr an Schicksale, weder an die des philosophischen Diskurses noch
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an die der historischen Prozesse. Die zeitgenössische Philosophie hat vielleicht für immer auf die Diskurse über die Essenz oder das Schicksal – wie auch auf die über die hierarchischen Systeme von Substanz und Form – des historischen Diskurses verzichtet. Sich heute mit der Philosophie zu beschäftigen, bedeutet, die Frage danach aufzuwerfen, wie sich die Subjekte an einer gemeinsamen Geschichte beteiligen; wie das Subjekt die Historizität, von der es Teil ist, praktiziert, indem es ihr eine Form verleiht. Die zeitgenössische Philosophie kann nur eine deskriptive Philosophie sein, sie kann sich somit mit den Phänomenen nicht auf synthetisch- deduktive, sondern vorwiegend auf analytisch- induktive und demnach pragmatische Weise auseinandersetzten. Die Fragen, um die es in dieser Arbeit geht, definieren sich innerhalb dieses Rahmens: Was wird durch die holocaustische Experienzialität bewirkt? Welche Art von Bezug zur Welt da draußen wird den nutznießenden Subjekten geboten? Welche Form des historischen Wissens wird durch die holocaustischen Durchquerungen erzeugt? Wenn die Memoralisierung des Holocausts als Erzeugungsprozess von Geschichte anerkannt ist, kann dann von einer holocaustischen Morphologie oder von einer Paradigmatizität des Holocausts die Rede sein? Welches formale und morphologische Element findet sich in diesem amnestischen Prozess wieder? Kern dieses Aspekts ist die Infragestellung des Begriffs des „Erfahrens“. Die holocaustischen Durchquerungen konfrontieren uns mit der Radikalität und Unermesslichkeit des Gegenstands der Erfahrung: Was bedeutet es, als historische Subjekte zu erfahren? Was bedeutet die Auseinandersetzung mit einem radikalen, anderen, weit entfernten Äußeren, welches in den Gedenkstätten vor einem Hintergrund der Zerstörung und des Todes ausgestellt wird? Wenn sich, wie in den vorhergehenden Kapiteln beschrieben, der Bezug zum historischen Präsens aus den Momenten des Erfahrens und des Durchquerens ergibt, dann muss jene Grenze, jene Erfahrung hinterfragt werden: Eine Theorie der Erfahrung, die wirklich das Problem der eigenen ursprünglichen Gegebenheit radikal zur Diskussion stellen möchte, müsste unvermeidbar – diesseits dieser ‚ersten Aussprache‘ – von jener sozusagen ,noch stummen‘ Erfahrung ausge-
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hen und sich notwendigerweise die Frage stellen: Gibt es eine stumme Erfahrung? Und wenn es sie gibt, welches ist ihr Verhältnis zur Sprache.3
K OLLEKTIVITÄT , S UBJEKT
UND ETHISCHER
D ISKURS
Die drei umrissenen Aspekte stellen den Kern meiner Analyse dar, welche die philosophischen Probleme einerseits in deren materiellem und physischem Werden betrachtet, das in seiner Einschreibbarkeit und Rückverfolgbarkeit definiert wird und deshalb zu nachweisbarer Präsenz gerinnt; andererseits konzentriere ich mich auf die Verkörperung derselben philosophischen Probleme innerhalb gelebter Erfahrungen. Die Frage nach der Präsenz glaubwürdiger und bedeutungsvoller Zeichen stellt das philosophische Dilemma schlechthin dar. Sie hat mit der Legitimität der geteilten Semantiken zu tun, mit der Partizipation einer an sich gespaltenen Welt und ist Teil der gesamten Auseinandersetzung mit dem Holocaust: Dieses historische Ereignis setzt sich der hyperbolischen Kraft der historischen Tatsachen aus und wenngleich diese, wie bereits erläutert, erzählt, dokumentiert und rückverfolgt wurden, verweisen sie dennoch auf eine enigmatische Radikalität. Viele philosophische Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts haben sich gerade auf diese unerklärliche Funktion der Erkenntnis bezogen, also auf folgende Fragen: Welche Beziehung besteht zwischen der individuellen Wahrnehmung der Ereignisse, der Narrationen, der Bedeutungen und deren kollektiver Teilung? Wie entsteht, von einzelnen Erfahrungen ausgehend, eine gemeinsame Welt? Inwiefern können Einschreibungen, Zeichen, Vorstellungswelten von ganzen Gemeinschaften geteilt, registriert und anerkannt werden? Welche Rolle kommt in der Definition einer historischen Vorstellungswelt dem Enigmatischen und dem Unsagbaren zu? Das gemeinsame Teilen eines historischen Ereignisses wie jenes des Holocausts muss im Wesentlichen immer hinterfragt werden. Aus diesem Grund kann sich dessen Analyse für das Nachdenken über den Zustand der Philosophie als ergiebig erweisen. Das gemeinsame Teilen des historisch Erlebten stellt die Bedingung dar, ohne die alle philosophischen Fragen bezüglich des Subjekts, der
3
Giorgio Agamben: Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, Frankfurt a/M: Suhrkamp 2004, S. 56.
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Wahrheit und der Krise hinfällig sind. Das Teilen setzt jedoch die Existenz geschriebener Spuren voraus. Das Paradigma des Holocausts – hier im Hinblick auf seine hierarchischen Aspekte Fakt, Spur, Repräsentation betrachtet – hat vielleicht mehr als andere das Element der unvermeidbaren Krise herbeigeführt bezüglich der Möglichkeit eine Welt zu teilen, gerade von dessen Rückverfolgbarkeit ausgehend. Die Krise „der Werte“, „des Wortes“, „Gottes“, wie auch „des Zeichens“, die dieses Paradigma bewirkt hat und deren Ergebnis es gleichermaßen ist, entfaltet einen Großteil der Radikalität der Frage von Präsenz und Identität. Im Grunde genommen, ist es gerade die Präsenz eines Etwas, das sich immer wieder seiner Analyse entzieht. Die holocaustischen Zeichen haben eine Unrepräsentierbarkeit des Realen bewirkt. Das Reale ist gewiss rational, da es ja existiert, aber es ist gleichzeitig unannehmbar; das Reale ist skandalös. Dieser Skandal, der als Exzess im geschichtlichen Werden präsent ist, stellt das wahre problematische Element der holocaustischen Repräsentation dar. Die Semantiken der Krise der Post-Modernität haben im Holocaust gerade in Bezug auf dieses Element ihren Konvergenzpunkt gefunden. Insbesondere der Hegelismus hat unter dieser Kritizität gelitten: War nämlich darin der Versuch geglückt, Realität und Vernunft vollkommen zu verschmelzen, so erinnert uns die skandalöse Präsenz des Holocausts daran, dass im Realen die Vernunft für immer verloren gegangen ist. Um diese Krise zu akzeptieren, darf man sich nicht dem Nihilismus hingeben, sondern man muss die Möglichkeit und die Rolle des philosophischen Diskurses wiederfinden und womöglich den wirkenden Kern der holocaustischen Erfahrungen selbst erahnen. Der enigmatische Inhalt der holocaustischen Durchquerungen – der sowohl in Rom als auch in Berlin in Form von rituellen und dahinschwindenden Durchgängen präsent ist – vermittelt uns vieles mehr als die bloße Unrepräsentierbarkeit des Genozids: Er lädt uns zum Erproben ein, zur radikalen Auseinandersetzung mit unserem Sein auf der Welt. Dieses erfahrungsbedingte Dahinschwinden stellt das konkret Universelle des Holocausts dar, dessen Ausmaß in der Gegenwärtigkeit: Er stellt eine Herausforderung an das traditionelle Wissen dar. Welchen Namen trägt aber diese flüchtige Präsenz? Heißt sie vielleicht Gerechtigkeit, oder etwa Wahrheit, Sinn, Geist? Aus welchem Grund wird diese fehlende Präsenz als Endpunkt gesetzt, innerhalb dessen die Gedenk-
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Erfahrungen zu deren Definition kommen? Welches Gewicht hat diese enigmatische Unbeugsamkeit? Im Vorfeld dieser Fragen steht in Wirklichkeit ein wesentliches Element des politischen und philosophischen Diskurses der Moderne. Die Ausstellung des Holocausts ist als letzter Angriff auf die Struktur der Identität zu betrachten, so wie sie im Rahmen der modernen Philosophie und insbesondere der Deutschen aufgefasst wird. Der Identitätsbegriff und dessen Ableitungen wie das „Subjekt“, das „nationale Subjekt“ und im allgemeineren Sinne der „historische Geist“ geraten in eine radikale Krise. Die Philosophie des Franzosen Emmanuel Lévinas liefert womöglich die präziseste Deutung der ethisch-praktischen Folgen dieser auffordernden und skandalösen Kraft des Holocausts. Sie hat aufgezeigt, wie die Frage der historischen Wahrheit nicht in das Reich der Wahrheitsfunktionalität der Axiome oder in jenes des logischen Determinismus verbannt werden kann. Die Auseinandersetzung mit der Realität erfordert den Glauben an die Möglichkeit, ausgehend von einer unlösbaren und enigmatischen Kritizität, Bedeutungen konstruieren zu können. Die Erkenntnis ist ein Durchquerungsprozess gemeinsamer Ereignisse, welche zugänglich, geteilt und (im Falle des Holocausts) skandalös sind. Zu historischen Subjekten zu werden, bedeutet, die immerwährende Krise in der gemeinschaftlichen Teilung von Welten zu begreifen. Die lévinassche Ethik stellt den Endpunkt in der Deutung der Memoralisierung des Holocausts und zugleich den Endpunkt dieser Arbeit dar: Mit seiner Deutung ist es Lévinas gelungen durch eine grundlegende Interpretation der Rolle des Holocausts in unserer Gegenwärtigkeit „jenseits“ der Folgen des Bruchs in der adornschen Dialektik vorzudringen. Lévinas’ phänomenologische Betrachtung ist in jener teleologischen Tradition verwurzelt, die von Hegel bis Husserl führt, und versucht an das historische Subjekt der Moderne in Bezug auf die Radikalität der Krise anzuknüpfen. Es geht in der Tat nicht darum, an der Möglichkeit der Anekennung, der historischen Identität zu zweifeln: Die wahre Herausforderung besteht doch darin, sich zu fragen, wie eine historische Subjektivität zu definieren sei, ausgehend von der Präsenz von Spuren und Bedeutungen, die radikal mit der zeitlichen Kontinuität brechen. Identität ist ein lebendiger Prozess, eine Dringlichkeit. Zu Recht weist Paul Ricoeur darauf hin, dass Lévinas an den wesentlichen Übergang zwischen dem „Ich“ und dem „Wir“ im sechsten Kapitel der hegelschen Enzyklopädie anknüpft, bei dem
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das hegelsche Subjekt seine Legitimation im Geist findet.4 Der Holocaust bringt uns wieder zu diesem Moment der Gründung zurück, der nur ursprünglich sein kann: Muss man, um zum Begriff der gemeinschaftlichen Erfahrung zu gelangen, mit der Idee des Eigenen beginnen, dann die Erfahrung des Anderen durchlaufen, um schließlich eine dritte Operation vorzunehmen, die als Vergemeinschaftlichung der subjektiven Erfahrung bezeichnet wird? Ist diese Reihenfolge wirklich unumkehrbar? Ist es nicht eher die spekulative Voraussetzung des transzendentalen Idealismus, die diese Irreversibilität auferlegt, und weniger der der phänomenologischen Beschreibung eigene Zwang? Ist aber eine reine, das heisst eine voraussetzungslose Phänomenologie denkbar und machbar? Ich bleibe unschlüssig. Ich habe die Unterscheidung und – wie man zugeben muss – den Sprung nicht vergessen, zu dem Hegel sich in dem Moment gezwungen fühlt, da er in der Enzyklopädie und auch schon im Zentrum der Phänomenologie des Geistes – am Beginn des ‚Geist‘-Kapitels (6. Kap) – von der Theorie des subjektiven Geistes zu der des objektiven Geistes übergeht. Es gibt einen Moment, an dem man von ich zum wir übergehen muss. Ist dieser Moment aber nicht ursprünglich, und zwar im Sinne eines neuen Ausgangspunkts?5
Emmanuel Lévinas’ Betrachtung konzentriert sich ganz auf diesen Übergang, auf diese Spur und dieses Aufeinandertreffen des „Ich“ mit dem „Wir“. Die Präsenz des Anderen – ein Grundthema bei Lévinas – ist der Auslöser einer Herausforderung für die Vernunft: eine Herausforderung,
4
„Der Geist ist also Bewusstsein überhaupt, was sinnliche Gewissheit, Wahrnehmen und den Verstand in sich begreift, insofern er in der Analyse seiner selbst, das Moment festhält, dass er sich gegenständliche, seiende Wirklichkeit ist, und davon abstrahiert, dass die Wirklichkeit sein eigenes Fürsichsein ist, so ist er Selbstbewusstsein. [...] Diese Vernunft, die er hat, endlich als eine solche von ihm ausgeschaut, die Vernunft ist, oder die Vernunft, die in ihm wirklich und die seine Welt ist, so ist er in seiner Wahrheit; er ist der Geist, er ist das wirkliche sittliche Wesen. Der Geist ist das sittliche Leben eines Volks, insofern er die unmittelbare Wahrheit ist; das Individuum, das eine Welt ist.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Meiner 1988, S. 239-40.
5
Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 184.
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die unüberwindlich und unlösbar ist, und sich nur in eine ethische Praxis umwandeln kann, welche hauptsächlich das philosophische Denken betrifft. Gerade auf dieser Ebene können sich Vernunft und Erfahrung erneut und unvermeidlich wieder begegnen: In der Erfahrung der historischen Zeit, des historischen Präsens, kommt es zur Schaffung eines Raums für eine vertikale Erfahrung des Bezugs zu den Ereignissen. Die Horizontalität der Gedenkstätten und deren Begehbarkeit auf einer topografischen Ebene bieten einen Befreiungs- und Integrationsmoment, der zugleich Erkenntnis fördernde Experienzialität, historische Praxis und Zeitlichkeit darstellt: Die Geschichte ist nämlich nicht, wie es die herrschende Ideologie gern sieht, die Hingabe des Menschen an die lineare, kontinuierliche Zeit, sondern die Befreiung des Menschen von ihr: Die Zeit der Geschichte ist der Kairos, in dem der Mensch die günstige Gelegenheit im Moment freier Entscheidung ergreift. So wie man der leeren, kontinuierlichen und unendliche Zeit des vulgären Historismus die erfüllte, diskontinuierliche, endliche und vollendete Zeit des Genusses entgegenstellen muss, so muss man die kariologische Zeit der authentischen Geschichte entgegensetzen.6
Ich möchte demnach, insbesondere den Lehren Emmanuel Lévinas’, Paul Ricoeurs und Giorgio Agambens folgend, zu verstehen versuchen, ob eine historische Subjektivität als Authentizität denkbar ist, welche in der Lage ist, jene Horizontalität zu bewegen und zu erfahren.
6
Agamben: Kindheit und Geschichte, S.151.
Ethisch-politische Funktion des Holocausts Subjekt, Nation und Identität nach Hegel
Die über ganz Europa verstreuten holocaustischen Durchquerungen bewirken eine grundsätzliche Krise, deren Auswirkungen sich im Gewebe der philosophischen Betrachtung wiederfinden. Die bewirkte Krise der Subjektivität bildet den wahren Kern der holocaustischen Morphologie: Die sich bereits in der gegenwärtigen philosophischen Literatur gewaltig durchgesetzte Grammatik der Subjektivität – im Sinne ihrer philosophischen paradigmatischen Formen von individueller Erfahrung, Selbstbewusstsein, historischem Bewusstsein, historischem Subjekt und Geist – erreicht einen weiteren toten Punkt in der traumatischen und zutiefst verwirrenden Erfahrung der Memoralisierung des Zwanzigsten Jahrhunderts. Die Subjektivität in ihrer hegelianischen, dem neunzehnten Jahrhundert entstammenden und später phänomenologisch-genealogischen Evolution als Ort der Krise auszumachen, bedeutet, den Begriff auf seine epistemologische Wurzel zurückzubringen. Der dem Hegelismus eigene und in den Evolutionen des Geistes von der Phänomenologie des Geistes bis zur Enzyklopädie präsente Mechanismus symbiotischer Affirmation und semiologischer Konstitution1 der Subjektivität – zuerst als Individualität und dann als historische Subjektivität verstanden – ist offensichtlich enthüllt worden. Jener Prozess, der durch Teilaspekte der adornschen negativen Dialektik
1
Vgl. Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1972, S. 380-421.
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durch eine gewisse psychoanalytische Betrachtung und ein Denken im Zeichen der Dekonstruktion in die Krise gestürzt wurde, hat bis zur Krise des Zwanzigsten Jahrhunderts das Vertrauen der philosophischen Narration in die Existenz eines vollkommenen und sich behauptenden Subjektes unauslöschlich geprägt: Michael Foucault hatte damals einen Skandal provoziert, als er sagte, dass der als Subjekt verstandene Mensch ein historischer und konstruierter Begriff sei, der einem bestimmten Regime der Rede angehört, und keine zeitlose Evidenz, die fähig wäre, Rechte oder eine universale Ethik zu gründen. Er kündigte das Ende der Triftigkeit dieses Begriffs an, da der Redetypus, der allein ihm einen Sinn verleiht, historisch seine Gültigkeit verloren hat. Ebenso hat Luis Althusser gesagt, dass die Geschichte nicht, wie Hegel meinte, das absolute Werden des Geistes oder das Auftreten eines Substanz-Subjekts ist, sondern ein geregelter, rationaler Prozess, den er ‚Prozess ohne Subjekt‘ nannte; [...] Gleichzeitig unternahm es Jacques Lacan, die Psychoanalyse von jeder psychologischen und normativen Tendenz zu befreien. Er zeigte, dass man unbedingt das Ich [le Moi] als Figur imaginärer Einheit vom Subjekt unterscheiden müsse; dass das Subjekt keinerlei Substanz, keinerlei ‚Natur‘ habe; dass es sowohl von den kontingenten Gesetzen der Sprache als auch von der immer singulären Geschichte der Gegenstände des Begehrens abhänge.2
Die dem Holocaust gewidmeten Gedenkstätten funktionieren als evokative Ritualien und anthropologische Durchquerungen, dazu bestimmt, das Wesen der Krise des historischen Präsens wie auch jene einer für immer verlorenen Identität in den Erfahrungen der einzelnen Besucher fest-zusetzen und sie darin einzuschreiben. Welches ist aber das Wesen unseres historischen Präsens? Welches das paradigmatische Element, das dem historischen Präsens in der Krise zugrunde liegt? Und wie agiert und konstituiert sich das historische Präsens in jener Krise? Die Entscheidung, die Subjektivität und die Aufbauprozesse der Subjektivität in der Gegenwärtigkeit – zwangsläufig einer post-hegelianischen Zeit – als Betrachtungsweise zu wählen, ermöglicht es, den kritischen Kern zu ermitteln, der in den holocaustischen Gedenkstätten enthalten ist. Diese (post-)nationalen Orte führen zum Bruch des traditionellen Subjekts, dessen Basis in den Begriffen des Selbstbewusstseins, der starken
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Alain Badiou: Ethik, Wien: Turia+Kant 2003, S. 16-17.
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Subjektivität und somit des Subjekts Nation gründet: Das zeitgenössische Subjekt ist ein Subjekt, das nicht mehr den Anspruch erheben kann, mit sich selbst identisch zu sein. Das lebendige Paradoxon dieses Bruchs spiegelt sich in den ungeordneten Formen der politischen Anerkennung der heutigen Nationen wieder, die in ihrem Kern die Erinnerung an die Verfolgten und Unterdrückten tragen – das Gedenken also an jenen Anderen in Bezug auf das System selbst. Der Versuch, hier philosophische Betrachtung mit historischer Erfahrung zu vereinen, wird mit der Absicht unternommen, die Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, dass ein Element der Homogenität zwischen Philosophie und Geschichte besteht. Die Darstellung des Holocausts ist aus einer organischen Verschmelzung ursprünglicher, historischer Tatsachen einerseits und dem aktuellen Zustand der zeitgenössischen Kultur andererseits entstanden. Das historische Subjekt und dessen Beziehung zu den Formen der Memoralisierung sind das lebende Barometer dieser Osmose: Der Tod des Menschen,3 von dem Badiou spricht, ist in Wirklichkeit der Ort einer neuen Herausforderung, das Subjekt auf neue und offene Weise zu denken, in Richtung des Anderen, in Richtung einer Äußerlichkeit. Diese Aussetzung ist offensichtlich nicht nur in den philosophischen Paradigmen präsent, sondern auch in der Verbreitung des heutigen historischen Wissens: Ich denke an Poljakov, Hilberg, Saul Friedländer, aber auch an Broszat oder Hillgruber. Sie haben es gewagt, Hypothesen zu bilden, um mögliche Begründungen zu bieten für Vorgänge, die gemeinhin als unbegreifbar gelten. Alle Fremderfahrungen der Verfolgten, der Gemarterten, der ins Nichts Verschwundenen, der Vernichteten – Schuldlose aus allen europäischen Nationen und ihren sozialen Klassen, Schuldlose aller Konfessionen und Religionen, allen voran die rassisch undefinierten Juden – fordern unsere, der Deutschen, Erinnerung heraus. Sie bieten die Voraussetzungen, unter denen sich unser Gedächtnis konstituiert und zu bewähren hat.4
Die Analyse more philosophico der Memorialisierung des Holocausts muss von dieser problematischen, von einer radikalen Spannung zwischen einem „Wir“ und einem „Sie“ geprägten Schwelle ausgehend, vorgenommen wer-
3
Ebd., S. 16.
4
Koselleck: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, S. 245.
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den, die von Kosellecks Hommage an fünf herausragende zeitgenössische Historiker geschaffen wurde. Die historische Identität der heutigen Nationen konstituiert sich auch ausgehend von diesem unüberbrückbaren Unterschied des Gedenkens an einen Anderen, der abwesendes Opfer eines immer präsenten „Wir“ der Nationen ist. Hiermit soll nicht geleugnet werden, dass innerhalb der heutigen nationalen Kulturen unterschiedliche und widersprüchliche Formen der Memoralisierung und der Beziehung zur Vergangenheit koexistieren: Bei der Konzentration auf jene, die in den Gedenkstätten präsent ist und ausgestellt wird, tritt eine bestimmte Form unlösbarer Kritizität deutlich hervor. Die präzisesten und bedeutungsvollsten Seiten, die zu diesem Thema je verfasst worden sind, sind sicherlich die von Adriaan Peperzaks, Schüler von Paul Ricoeur und aufmerksamster Forscher der philosophischen Verfassung einer post-hegelianischen Zeit. In vielen seiner Arbeiten setzt er auf eine präzise Dekonstruktion der Parabel der Subjektivität in der hegelianischen Tradition: Denn, wenn es so ist, dass „das menschliche Subjekt [...] von vielen Seiten attackiert – von einigen sogar für tot erklärt [wurde]“, so sind eben auch „die Strukturen und die Geschichte des Zwischenmenschlichen [...] noch immer höchst aktuell“.5 Dieses Zwischenmenschliche stellt die immerfort hervortretende Tatsache in den Gedenkprozessen dar: Die Grenze dieses Dazwischen-Seins ist wahrlich das zu hinterfragende Element. Wenn es denn so ist, dass der hegelianische Gesamtprozess – das wahre legitimierende Prinzip, auf welches das historische Subjekt aufbaut – in die Krise geraten ist, wie gestaltet sich dann heute das Neuverständnis und die Legitimität einer historischen Subjektivität? Die Beschäftigung mit dem Erbe Hegels zwingt zu einer Auseinandersetzung mit der Entstehung eines Geschichtsdiskurses, der der gedenkende Subjektivität – eine Subjektivität also, die ein Gedächtnis in gemeinschaftlicher und geteilter Weise konstruiert – als sein gründendes Element ausmacht. In dieser Arbeit strebe ich freilich nicht eine Konfrontation mit dem hegelianischen System in seiner Gesamtheit an, sondern versuche vielmehr, ein Element des Vergleichs in dessen Theorie des historischen Subjekts zu ermitteln, das mir ermögliche, die Erfahrung und Bedeutung der holocaus-
5
Adriaan Peperzak: „Subjektivität bei Hegel und Lévinas“, in: Brigitta Keintzel/Burkhard Liebsch (Hg.), Hegel und Lévinas. Kreuzungen, Brüche, Überschreitungen, Freiburg/München: Karl Abel 2010, S. 76.
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tischen Memoralisierung als Wendepunkt und Moment des Austretens zu begreifen. Hinter Kosellecks Worten – und der Anerkennung des Gedenkens an die Opfer als grundlegendes Element der deutschen kollektiven Identität – verbirgt sich das philosophische Paradigma der heutigen Zeit. Dieses kennt nicht nur das Argument des deutschen „Wir“ und das den Juden oder anderen Verfolgten zuschreibbare „Sie“, sondern die Idee des Aufbaus einer historischen Identität, die stets in einem Spannungsverhältnis zu einer Alterität steht, mit einem Anderen, der sich selbst am Leben erhält und Fragen stellt. Unter Berücksichtigung der Widersprüche, Versehen und häufig vorkommenden Fehlinterpretationen Hegels Schriften zur philosophischen Legitimation der Idee von Nation,6 beabsichtige ich hier jener Analyse des hegelianischen Denkens zu folgen, die insbesondere in der französischen Philosophie als „Eckstein des Diskurses über das moderne Subjekt in dessen Genealogie, bis hin zum Subjekt Nation“7 ausgearbeitet worden ist. Die gesamte postmoderne Philosophie stützt ihre Analyse der holocaustischen Genealogie auf die Auseinandersetzung mit dem Kontrast zu dem hegelianischen System: von Lévinas bis Ricoeur, von Adorno bis Lyotard und von Derrida bis Badiou sucht die Philosophie nach dem Holocaust in Hegels Subjekt und in den hegelianischen Geweben – und allgemeiner gesehen im deutschen Idealismus – kontrastierende wie auch zum Nachdenken bewegende Elemente.
6
„How did it happen that a thinker who expressed himself in such unequivocal terms against the German national movement over a long period of years came to be regarded, as he still is today, as the intellectual and spiritual father German nationalism? How did it come about that the man who so harshly criticizied the first signs of the Aryan racial doctrine should be regarded as the founder of German nationalism and racialism by a scholar like Karl Popper; or that a thinker who opposed every attempt at political unity in Germany should be considered by Hermann Heller to be the first exponent of the modern nationalist state. It is easy to cite a long list of scholars who hold the same view as to close connection between Hegel and German nationalism and racialist Nazism.“ Shlomo Avineri: „Hegel and Nationalism“, in: The Review of Politics 24, no. 4 (1962), S. 463-64.
7
Siehe „Die Epoche des Sinns. Herrschaft und Souveranität“, in: Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 385-96.
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Warum? Aus welchem Grund werden Holocaust und Hegelianismus von einigen Philosophen als unlösbare und konstitutive Dichotomie der Krise der Moderne betrachtet? Aus welchem Grund kann darüber hinaus die hegelianische Genealogie für unser Verständnis der holocaustischen Durchquerungen als Kontrast genutzt werden? Adriaan Peperzak hat diese Art von Fragen in zahlreichen Schriften über Hegel aufgeworfen. In Selbsterkenntnis des Absoluten macht er den Hauptprozess des hegelianischen Systems im Prozess der Selbst-Erkennung des Geistes selbst aus: Als Hegel im Paragrafen 377 der Enzyklopädie behauptet, dass „die Erkenntnis des Geistes [...] die concreteste [...], darum höchste und schwerste [sei]“,8 verschmelzt er das historische und das theoretische Element, die Praxis der Vernunft mit deren natürlicher Tendenz: Das Wesen des Geistes ist also zugleich eine Aufgabe und eine Notwendigkeit. Für den Menschen als endlichen und nicht notwendigerweise guten Geist erscheint die Aufgabe des Geistes als ein Sollen, das man als ein ‚Werde, was du bist (nämlich Geist)!‘ formulieren könnte. Mit dem absoluten Gebot der Selbsterkenntnis kündigt er am Anfang seiner Geistesphilosophie schon ihre Vollendung im absoluten Wissen an. Das Erkennen des Erkennens ist der letzte Horizont, innerhalb dessen sich die Selbstwerdung der endlichen Geister und des absoluten Geistes bewegt.9
Dieser den Evolutionen des hegelianischen Geistes innewohnende Formalismus wird von Peperzak als Spannung zwischen Theorie und Praxis bezeichnet. In der hegelianischen Dialektik – als konkrete Vernunft verstanden – „ist der Geist die alles Subjektive und Objektive in sich schließende Totalität“:10 Dieser pragmatische Aspekt markiert das Werden des Geistes und wird von der Vorstellung geprägt, nach der das historische Subjekt in der Objektivität der historischen Fakten praktiziert wird und sich darin wiederfindet. Dieser formale Kern ist das Element, das angesichts der Evidenz des Holocausts zerbricht. Die Objektivität der historischen Tatsache unterbricht in diesem Fall den Perpetuum Motum der Subjektivität des
8
G. W. Friedrich Hegel: „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im
9
Adriaan Th. Peperzak: Selbsterkenntnis des Absoluten. Grundlinien der Hegel-
Grundrisse“, (1830): hier § 377. schen Philosophie des Geistes, Cannstatt: Frommann 1987, S. 36-37. 10 Ebd., S. 42.
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Geistes und setzt den Geist der Geschichte einer negativen Dialektik aus, die – zumindest dem Anschein nach – keinen Ausweg offen lässt. Eine Wiederaufnahme im Sinne Emmanuel Lévinas’ jener Schriften Hegels, die sich in der husserlschen Phänomenologie und unweigerlich in Martin Heideggers Ontologie11 spiegeln, ermöglicht ein Verständnis der Überwindung der negativen Dialektik. Die Materialisierung des Holocausts innerhalb des angeblichen Universalismus des Geistes setzt den philosophischen Diskurs einer Äußerlichkeit und einer Hinterfragung aus, die höchst nutzbringend sind. Das Äußere, das Andere, haben in der philosophischen Spekulation die Rolle eines neuen Motors und Erzeugers einer möglichen Vernunft übernommen, einer Vernunft, die es vermöge, das ethische Element als grundlegenden Beweggrund wiederzuerlangen. Jene Äußerlichkeit ist das Ende des Selben und stellt womöglich den Tod der Nationen dar – den Tod einer endgültigen Anerkennung des hegelianischen Geistes innerhalb der Geschichtlichkeit. Die Geschichte ist und bleibt eine offene Wunde, die aber dauernd resignifiziert werden muss. Wahrscheinlich hat Paul Ricoeur auch aus diesem Grund gerade im Hervortreten eines Reichs der Toten12 die Herausforderung der neuen Diskursivitäten um die Geschichte herum erkannt. Jener fehlende Raum des Todes ist jedoch nicht das heideggersche Sein für den Tod – ist somit kein Selbstzweck, sondern eine Herausforderung, vielleicht ein zu konstruierender, ein im gesellschaftlichen Gemeinschaftssinn geformter und praktizierter Ort: Das Leben? Ein im Horizont einer ‚reinen Drohung‘, die mir von einer absoluten Anderseits kommt’ befristeter Entwurf. Furcht, nicht vor dem Nichts, sondern vor der Gewalt und in diesem Sinne ‚Furcht vor dem Anderen‘. Dem heideggerschen
11 Vgl. „Die weiße Mythologie: Die Metapher im philosophischen Text“, in: Derrida: Randgänge der Philosophie, S. 205-58. 12 „Der Tod signiert gewissermaßen das von der Geschichte Abwesende. Das vom historiographischen Diskurs Abwesende. Auf den ersten Blick scheint die Darstellung der Vergangenheit als Reich der Toten die Geschichte dazu zu verurteilen, der Lektüre nur ein Schattentheater darzubieten, betrieben von den Überlebenden, denen bis zu ihrem Zutodekommen ein Aufschub gewährt wurde. Es bleibt ein Ausweg: die historiographische Operation für das Schriftäquivalent des sozialen Beerdigungsritus, der Grabstätte zu halten.“ Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 561.
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Sein zum Tode setzt Lévinas ein Trotz-des-Todes, ein Gegen-den-Tod entgegen, das ein zerbrechlichen Raum eröffnet, in dem die ‚Gute‘ die von der Gravitation um das Ich befreit ist’ sich bekunden kann.13
Auf dieser Ebene der ursprünglichen Erfahrung einer „absoluten Anderseits“ – eines skandalösen Anderen – versuche ich die philosophische Auseinandersetzung zu verstehen, die aus dem Holocaust hervortritt. Auf dieser Ebene verschmelzen Memoralisierung, Erfahrung und Nichtung und bieten somit die Möglichkeit eines Neuen im geschichtlichen Werden. Die Philosophie Emmanuel Lévinas beginnt hier, mit der Annahme der Herausforderung „trotz des Todes“ – und folglich trotz des Holocausts – zu denken. Wie ich versuchen werde aufzuzeigen, tritt diese Spannung in Form einer Praxis hervor, die Lévinas als Ethik bezeichnet.
13 Ebd., S. 554.
Im Innersten der Erinnerung Die Erfahrung des Anderen bei Lévinas
Die Überprüfung der Philosophie auf der Ebene ihrer Beziehung zum historischen Gedächtnis zieht die Frage zur Bedeutung der „Gegenwärtigkeit“ nach sich. Die Gegenwärtigkeit ist genau der Ort, an dem Geschichte erzeugt wird: Geschichte besteht nicht lediglich aus einem Vorher und einem Nachher, sie ist die Konstitution der Gegenwärtigkeit1. Die Philosophie Emmanuel Lévinas hat es vermocht, wirklich zum Kern dieses radikalen Elements vorzudringen, in dem die Vergangenheit nur im Geschehen der Gegenwart und nur in der Art und Weise, mit der die Gegenwart konstituiert wird, Bedeutung erlangen kann. Die Erinnerungen, die Erkenntnisse, wie auch die Orte der traditionellen Philosophie – in erster Linie die hegelianischen Orte – verweisen nach Lévinas’ Meinung auf einen nicht ungefährlichen Kern von hierarchischen oder nach Herrschaft strebenden Vorurteilen und inklusiven Pra-
1
„Nicht also ist das Vergangene vergangen, noch das künftige künftig. Beide existieren nur, sofern eine Subjektivität die Fülle des An-sich-seins durchbricht, eine Perspektive darin aufreißt und das Nichtsein hineinträgt. Eine Vergangenheit und eine Zukunft entspringen, indem ich nach ihnen aushole. Für mich selbst aber bin ich nicht zu dieser Stunde, bin ich ebenso sehr am Morgen dieses Tages und in der kommenden Nacht, und meine Gegenwart ist zwar, wenn man so will, dieser Augenblick, aber ebenso sehr dieser Tag, dieses Jahr, mein ganzes Leben.“ Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1965, S. 478.
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xen, die provoziert, ausgestellt und verändert werden müssen. Die Erfahrung des litauischen Philosophen ist radikal von der Tatsache des Holocausts geprägt und gezeichnet. Jenes epochale Ereignis spiegelt sich in Lévinas’ philosophischen Schriften wider, in seiner theoretisch wie auch religiös motivierten Hinterfragung. Das Andere führt mich aus mir selbst heraus, jenseits meiner Repräsentationen, jenseits meines Ortes und zu einem Gedächtnis hin, das Alterität ist. Das Bewusstsein besteht also nicht darin, dem Sein durch die Vorstellung gleichzukommen, nach dem vollen Licht zu sterben, in dem diese Angleichung gesucht wird; vielmehr besteht das Bewusstsein darin, dieses Spiel der Lichter – diese Phänomenologie – zu überschreiten und Geschehnisse zu vollziehen, deren letzter Sinn – im Gegensatz zur heideggerschen Auffassung – nicht darin liegt, erschließend zu sein.2
Erkennen steht in diesem Sinne also für ein erneutes Erinnern, das sich in Richtung einer vergessenen Erfahrung bewegt; für das Wiedererlangen einer verlorenen Erinnerung, die aus abrupt einfallenden Ereignissen besteht, indem man diesen ermöglicht sich „auszudrücken“. Philosophie zu praktizieren bedeutet, sich zu erinnern – jenseits von Objekten, Aufgaben, Rollen und jenseits von Geschichte. Und diese Praxis bedarf einer Infragestellung des erfahrungsbasierten Elements, nach einer Durchquerung. Die Lévinassche Ethik ist nicht bloße Metaphysik der Erinnerung oder ist, besser gesagt, gar keine Metaphysik im eigentlichen Sinne, sondern eine Religion der Erinnerung: In Lévinas’ Art zu denken ist das Primat der Ethik des Anderen im Verhältnis zur theoretischen Ontologie des Selben völlig mit einem religiösen Axiom verbunden, und es wäre eine Verletzung der inneren Bewegung dieses Denkens und ihrer subjektiven Strenge, wenn man glauben wollte, dass man das trennen könne, was dies Denken vereint. Letztlich gibt es keine Lévinassche Philosophie. Es handelt sich nicht einmal mehr um die Philosophie als „Magd“ der Theologie: Es ist Philosophie (im griechischen Sinn des Wortes), die durch die Theologie annulliert worden ist, welch letztere übrigens keine Theologie ist, was eine noch allzu griechische Be-
2
Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/München: Karl Alber 1987, S. 30.
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zeichnung wäre, die die Annäherung ans Göttliche durch die Identität und durch die Prädikate Gottes voraussetzt, sondern eben eine Ethik.3
Man würde Verrat an seinen Schriften begehen, würde man nicht an das zutiefst religiöse Gewicht der Geschichte denken und an die enorme philosophische Aufgabe, deren Erinnerung zu wahren.4 Die Wahrung jener Geschichte – die Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts und im weitesten Sinne der Moderne – bedarf jedoch einer Betrachtung, die differenziert ist, die Erfahrung über eine bestimmte Grenze hat und die sich vor allem nicht in Bildern, Ikonen, Wieder-Vorlagen konserviert, sondern Praxis ist: Im Ausgang von der metaphysischen Transzendenz wird der traditionelle Gegensatz zwischen Theorie und Praxis verschwinden; hier entsteht eine Beziehung mit dem Absolut Anderen oder die Wahrheit; der Königsweg der metaphysischen Transzendenz ist die Ethik. Bislang wurde die Beziehung zwischen Theorie und Praxis allein als ein solidarisches oder hierarchisches Verhältnis betrachtet: Die Aktivität setzt die Erkenntnisse voraus, die sie erhellen; die Erkenntnis fordert von den Handlungen die Herrschaft über die Materie, die Seelen und die Gesellschaften – Herrschaft als Technik, Moral, Politik -, die den für die reine Ausübung des Denkens notwendigen Frieden sichert. Wir gehen weiter; auf die Gefahr hin, Theorie und Praxis dem Anschein nach miteinander zu vermischen, behandeln wir die eine wie die andere als Modus der metaphysischen Transzendenz.5
Die Verschiebung, im Sinne der Überwindung der traditionellen Metaphysik – wahrer, kritischer Kern der Philosophie Emmanuel Lévinas’ – erfolgt angesichts einer Praxis, die Religion ist. Im Zwanzigsten Jahrhundert ver-
3
Badiou: Ethik, S. 37-38.
4
Die Widmung von Autrement qu’être stellt viel mehr dar als einen einfachen Verweis auf das Gedenken der Shoa: Sie verweist auf das Fundament der Gegenwärtigkeit als „versunkene und unvollständige Erinnerung“: „Dem Gedenken der nächsten Angehörigen unter den sechs Millionen der von den Nationalsozialisten Ermordeten, neben den Millionen und Abermillionen von Menschen aller Konfessionen und aller Nationen, Opfer desselben Hasses auf den anderen Menschen, desselben Antisemitismus.“ Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München: Karl Alber 1992.
5
Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 32-33.
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weisen die Aktivitäten des Erinnerns wie des Erkennens oder der philosophischen Praxis zwangsläufig auf eine Erfahrung vollkommen anderer Natur, sei es einer eschatologischen oder einer ethischen Natur. Und der Forderung nach jener anderen Erfahrung kommt die Funktion zu, die Philosophie anzuregen, sich selbst innerhalb dieser Alterität neu zu denken. In dieser Modalität der Überlegung über die Tradition kondensiert sich Lévinas’ wahre Intuition der Möglichkeit eines „anderen Diskurses“, sprich des kategorischen Imperativs, eine „andere Geschichte“ hervortreten zu lassen. Die Eschatologie setzt uns in Beziehung mit dem Sein jenseits der Totalität oder der Geschichte, und nicht mit dem Sein jenseits der Vergangenen und Gegenwärtigen. Sie setzt uns nicht in ein Verhältnis zu der Leere, die die Totalität vielleicht umgibt, Leere, in der man beliebig glauben könnte, was immer man möchte, um so die Rechte einer Subjektivität zu fördern, die frei wäre wie der Wind. Sie ist Beziehung zu einem Mehr, das immer außerhalb der Totalität ist, als ob die objektive Totalität nicht das wahre Maß des Seins erfüllte, als ob ein anderer Begriff – der Begriff des Unendlichen – diese Transzendenz im Verhältnis zur Totalität ausdrücken müsste, eine Transzendenz, die in der Totalität nicht aufgehen kann und ebenso ursprünglich ist wie die Totalität.6
Die Totalität des Selben wird von der transzendenten Unendlichkeit des Anderen infrage gestellt und in die Krise gestürzt. Der Philosophie wird heute die Aufgabe zuteil, diese Äußerlichkeit „zu denken“, sie „aufzuzeigen“, ihr „Form zu erteilen“. Wie aber entsteht eine solche Beziehung? Wie kann man außerhalb der eigenen Verortung, ja der eigenen Geschichte denken? Können die hermeneutischen Ansprüche eines Anderen, der sich ausdrückt oder sich mir hingibt, genügen? Wie ergiebig kann es aus philosophischer Sicht sein, das Hervortreten eines Anderen zu fordern, der klare Gesichtszüge trägt? Diese Art von Forderung – dieses Zeugnis oder gar diese Anerkennung des Anderen – zieht außerdem auf all seinen Ebenen das Problem der Objektivität nach sich. Wenn Lévinas an eine Kritik und an eine Überwindung der westlichen philosophischen Tradition denkt, wirft dies die Frage auf, wie ein Weg aus der Geschichte der Probleme (– der Geschichte der Universität, der Praxen und der Sprachen –) gefunden werden kann: Nicht zufällig wird man beim Studieren seiner Schriften ständig
6
Ebd., S. 22.
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in einen Rhythmus versetzt, der von der Bewegung weg von den Orten der Philosophie in Richtung dieses Anderen bestimmt wird. Die lévinassche Philosophie ist genau das: eine Art langwieriger und schwieriger Versuch, die Instrumente der Philosophie in neue Welten herüber zu führen. Dieser Übergang bezieht aber die Grundelemente des philosophischen Wortschatzes mit ein, vom Subjekt bis hin zur Erfahrung. Die mimetische Erfahrung des Holocausts findet ihre Entsprechung in jenem Zustand des philosophischen Denkens, der sich gezwungenermaßen anderswohin denken muss. Die Gedenkarchitekturen, die ich in den vorherigen Kapiteln untersucht habe, schaffen den Ort, an dem die Erfahrung des Anderen Form annimmt, als Bildung, Praxis und Ausübung. Diese Art von Erfahrung wirft Fragen über die traditionellen Paradigmen der Phänomenologien und Ätiologien des Zwanzigsten Jahrhunderts auf. Gleichzeitig ist Lévinas sich aber bewusst, wie unerlässlich es ist, von jenen traditionellen Spuren auszugehen: Der in die Gegenwärtigkeit eingeleitete Wandel erfolgt immer ausgehend von den Geweben des traditionellen Diskurses. Im Abschnitt Objektivität und Sprache in Totalität und Unendlichkeit hat man das Gefühl – bezugnehmend auf Heidegger und Husserl – mit einer klassischen ontophänomenologischen Beschreibung konfrontiert, gleichzeitig aber in einen breiteren Diskurs einbezogen zu werden, in eine Betrachtung, die sich von ihren eigenen Ketten zu befreien versucht: Demnach wäre die schweigende Welt anarchisch. In ihr könnte das Wissen nicht anfangen. Aber schon die Gegenwart der schweigenden Welt für das Bewusstsein – als an-archische, als Welt an der Grenze des Unsinns – verharrt in der Erwartung des Wortes, das nicht kommt. Ihre Gegenwart erscheint daher auf dem Hintergrund einer Beziehung zum Anderen; sie erscheint als Zeichen, das der Andere gibt, auch wenn der Andere sein Antlitz verbirgt, wenn er sich also dem Beistand entzieht, den er den gegebenen Zeichen zu leisten hätte, wenn er folglich die Zeichen in der Zweideutigkeit gibt. Wäre die Welt absolut schweigend, indifferent gegen das schweigende Wort, ließe das Schweigen nicht hinter den Erscheinungen eine Person erraten, die diese Welt und zugleich mit dieser Welt sich selbst mitteilt – sei es auch in der Absicht, durch den Schein zu lügen, wie ein böser Geist – , so würde die solcherart schweigende Welt sich nicht einmal als Schauspiel darbieten.7
7
Ebd., S. 131-32. Der Verweis auf Heidegger liegt in der Spannung hin zu einem Wort, das nicht ausgesprochen wird, aber erwartet wird. Man denke nur an den
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Hinter dieser Art von Forderung scheint sich jedoch noch ein klassischer Anspruch der Philosophie zu verbergen, nämlich jener, die Dinge an sich zu begreifen, die organischste Bewegung der historischen Prozesse und der Prozesse der Wahrheitsfindung – von Lévinas vor allem als das Andere verstanden. Die Erfahrung des Holocausts, die Wahrnehmung einer Alterität, welche leidet und Opfer ist, wäre somit wiederum verwertet und vom denkenden, deren Totalität beherrschenden Subjekt wieder deduziert. Somit würde man (wieder einmal) auch beim Durchqueren der Gedenkstätten nichts anderes als die Re-Inszenierung des Paradigmas einer logischen Reduktion jenes Anderen vollziehen, der dagegen Außen bleiben muss. Nicht zufällig nimmt Lévinas hier das Thema des Wortes im Sinne der Sprache wieder auf, so als wolle er uns vermitteln, dass nur durch eine Diskursivität, eine Kontinuität des Sinnes – wenn auch eines diachronischen – eine Beziehung zum Anderen und folglich die Möglichkeit selbst eines historischen Gedächtnisses entstehen kann: Das Wort bringt in diese Anarchie ein Prinzip. Das Wort entzaubert; denn in ihm leistet das sprechende Seiende für seine Erscheinung Gewähr und kommt sich zu Hilfe, es hilft seiner eigenen Erscheinung. [...] Durch den Bezug auf das Wort erhält die Welt eine Orientierung, d.h. eine Bedeutung. So ist das Wort der Ursprung jeder Bedeutung.8
Das gesamte Kapitel aus Totalität und Unendlichkeit das den Titel „Wahrheit und Gerechtigkeit“ trägt, dreht sich um diese wesentliche hermeneutische Anstrengung, den klassischen Bruch zwischen Subjekt und Welt innerhalb der Sprache, die vom Anderen stammt, zu resignifizieren. Der „Diskurs über die Wahrheit“, wie auch der „Diskurs über die Freiheit“ verweist auf den „Diskurs der Gerechtigkeit“: Alle drei entstehen angesichts ihres Sich-Gebens, Sich-Darstellens, von einem Anderen ausgehend, so sehr, dass es scheint, als ereigne sich die Verschiebung des gesamten Erkenntnis-Systems auf dieser Ebene. Erkennen und Sich-Erinnern haben nichts mehr mit einer sich erinnernden In-
Brief über den Humanismus, in: Martin Heidegger: Wegmarken, Frankfurt a/M: Klostermann 1967, S. 172-73. „Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins. […] Der Mensch ist Nachbar des Seins“. 8
Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 139.
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teriorität oder mit einer „finalistischen Zuordnung“ der Welt da draußen zu tun; sowohl das Erkennen als auch das Sich-Erinnern stehen dagegen in einem Zusammenhang mit dem „Bruch des Systems des Selben“ und der Aufnahme von Anderen. Das Sein manifestiert sich nicht in der Innerlichkeit der Erinnerung, sondern in der Übergängigkeit der Unterweisung, in ihrer Transitivität. Die Gesellschaft ist der Ort der Wahrheit. Die Freiheit meiner Zustimmung zum Wahren wird unterfangen von dem moralischen Bezug zum Meister, der über mich urteilt. So beginnt die Sprache.9
Jener als „Wahrheit und Gerechtigkeit“ verstandene Bezug zum Sein setzt sich somit, die Welt da draußen voraussetzend, zusammen. Die Behauptung, der Sinn gründe in der Welt da draußen – in der Gesellschaft selbst – führt Lévinas’ Philosophie jedoch in eine gefährliche Sackgasse: Auf welche Art von Gesellschaft bezieht er sich? Wer sind die Meister und wer die Schüler? Das Soziale drückt sich nicht allein durch Sprache aus und besteht vor allem nicht allein aus der Meister-Schüler-Beziehung: Wie kann man Lévinas’ Aufforderung zum Heraustreten aus dem Ort der Reminiszenz interpretieren, in dem man sich dem Anderen öffnet? Berücksichtigt man, dass in seiner Philosophie keine Theorie des Sozialen enthalten ist, bleibt uns nichts anderes übrig als zu erkennen, wie seine Prosa auf eine Heraufbeschwörung (Evokation) verweist, auf eine Praxis, die mit dem Religiösen zusammenhängt und die unterschwellig in den Erfahrungen des Gedenkens an den Holocaust auffindbar ist. Das Andere ist etwas absolut Unerschütterliches; eine Erfahrung, die sich behauptet, ohne vollkommen reduzierbar zu sein. Das Andere ist die permanente Krise des Subjekts der Gegenwärtigkeit, verstanden als Erfahrung eines Skandals, als enigmatische Beziehung zum historischen Präsens. Die Durchquerung der holocaustischen Gedenkstätten bewirkt im Wesentlichen diese Möglichkeit, sich mit dem Anderen als Bewegung, als Durchquerung einer „Fremdheit“ zu konfrontieren. Die architektonischen Paradigmen, die ich in den vorherigen Kapiteln beschrieben habe, erinnern uns daran, wie die „Erfahrung des Anderen“, die „Erfahrung und Wahrnehmung“ einer Alterität in der heutigen Zeit konstitutives Element der historischen Erfahrung sind.
9
Ebd., S. 144.
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Nicht im Subjektiv-Werden offenbart sich das Werden der Geschichtlichkeit, sondern in der Öffnung des Subjekts zum Anderen. Die in den Holocaust-Gedenkstätten vorhandenen Mechanismen der Verfremdung und Überblendung erfüllen dieses tiefe Bedürfnis, die Subjektivität infrage zu stellen, ermöglichen dieser aber gleichzeitig auch, sich zu definieren und sich zu erkennen. Die historische Zeit erscheint hier nicht mehr als Linearität und Konsequenzialität, sondern als radikale Herausforderung an die gegenwärtige Zeit. Hinter dieser Eigenschaft scheint sich jedoch wieder einmal eines der großen Themen der philosophischen Gegenwärtigkeit zu verbergen, der Nihilismus: Die Forderung nach einer Beziehung zu einer absoluten Fremdheit stellt nämlich die Beziehung zwischen erkennendem Subjekt und Objektivität infrage, die Möglichkeit also einer vollendeten und allgemeinen Erkenntnis der Welt. Die Gefahr eines nihilistischen Ansatzes steigert sich noch, wenn man in Betracht zieht, dass es gerade die extreme Materialisierung der Objektivität da draußen ist – in unserem konkreten Fall die Materialität des Holocausts, der Gewalt, des Todes –, welche die Möglichkeit einer vollkommenen Lesbarkeit der Welt infrage stellt. Von einer Betrachtung über die in Lévinas’ Schriften vorhandene und in denselben „holocaustischen Durchquerungen“ verwurzelte, nihilistische Gefahr ausgehend, werde ich auf den nächsten Seiten versuchen, das in Emmanuel Lévinas’ Betrachtungen beschriebene Verhältnis zwischen skandalöser Objektivität – mit dem Holocaust verbundene Zeugnisse, Szenarien, Bilder –, Nihilismus und ethischem Diskurs näher zu verstehen, als mögliches Element der Rekonfiguration der Rolle und der Funktion unserer Gedenkstätten.
Religion, Sprachphilosophie und Nihilismus um den Holocaust
Die Metaphysik des Emmanuel Lévinas ist Religion. Es genügt vielleicht nicht einmal, es mit den Worten eines seiner sorgfältigsten Biografen Salomon Malka zu fassen: „Es werden sich jene täuschen, die nicht begreifen, dass die Religion so sehr präsent ist und dessen Instanzen so sehr fehlen, weil Lévinas die ältesten Begriffe im Wörterbuch für neue Ideen gehalten hat“.1 Lévinas bewegt sich auf jenem schmalen Grat, auf dem die philosophische Praxis „auf etwas anderes verweist“, auf dem das Wissen – als Herausforderung und Suche – zu Aufforderung und „Liturgie“ wird, dabei jene reichhaltige symbolische Welt der Erfahrung vollkommen mit einbezieht. Diese Art der Charakterisierung des Lévinassche Denkens wird von vielen Seiten vertreten und bestimmt dessen zentralen Aspekt, in der essenziellen Idee einer Philosophie, die nur noch auf ein unvergängliches, pragmatisches und reales Anderes von Sich blicken lässt. An dieser Stelle muss jedoch auch hervorgehoben werden, wie sehr diese Forderung mit einer ganzen Reihe von Betrachtungen aus Lévinas’ Zeit zusammenläuft. Das in den Verflechtungen eines sprachlichen Rahmens formulierte „Denken des Anderen“ ist letztlich nicht so weit entfernt von den Betrachtungen der heideggerschen Wende und könnte auch etwas mit jener „Grenze einer Sagbarkeit“ aus Wittgensteins Tractatus Logico-
1
Salomon Malka: Leggere Lévinas, Roma: Editori Riuniti 1986, S. 103. „In quest’opera vedranno una colorazione religiosa soltanto coloro che non vi hanno letto l’essenziale rottura con lo slancio, l’estasi, l’oblio, l’adesione, l’unione; tutti quei sentimenti che costituiscono e conservano la fede“.
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Philosopicus zu tun haben. Es bestände somit eine gemeinsame Zugehörigkeit jener Betrachtungen zu dem, was sicherlich als eines der zentralen Themen der zeitgenössischen Metaphysik bezeichnet werden kann: die Beziehung Subjekt-Objekt und somit jene zwischen bewusster Subjektivität und der Welt da draußen, nämlich dem Anderen. Zwischen erkennendem Subjekt und erkannter Welt öffnet sich eine unendliche Weite, die eine Quelle für vielerlei mögliche Metaphorologien darstellt.2 Die Erfahrung und die Sprache sind nichts Anderes als Überbrückungsmöglichkeiten, die eine Überwindung dieser Dichotomie ermöglichen. Die von Nietzsche eingeführte Radikalität der Beziehung Subjektivität/Erkenntnis findet sich hier in Form eines Bedürfnisses wieder, trotz allem zu denken, auch nach all der Gewalt und dem Tod und trotz des Verlusts an Zeugnissen und Anhaltspunkten. Auf dieser Ebene weist der Holocaust auf etwas hin, das größer ist als das historische Ereignis; er stellt die Lesbarkeit der Welt infrage, von der Hans Blumenberg spricht, und versetzt uns in die heutige Zeit: Wenn, wie in diesem ausgehenden Jahrtausend, so viel von Sinnverlust und Sinnverlangen, von Verführung durch Sinnangebote und Verdruss an deren Versagen geredet wird, ohne doch je Schlüsse vom Verlorenen aufs Verlangte einzuleiten und wenigstens im Umriss den Entzug zu beschreiben, muss es eine der unverächtlichen Orientierungen für solche Hilflosigkeit sein, sich die Typologie von Sinnbesitz zu vergegenwärtigen, dessen Formen je realisiert oder entworfen oder schon vormals entbehrt worden sind. Nicht darum kann es gehen, die Welt als Lesbarkeit freundlicher oder unwilliger, drohender oder günstiger Mitteilungen an den Menschen zu restituieren. Aber doch darum, die Auszeichnung einer bestimmten, unter dem Aspekt vom Zwecken nicht der Weltvertrautheit, sondern der Weltverfügung einzigen Art der Erfahrung, wenn nicht zu vermeiden, so doch als das nicht Selbstverständliche, als das geschichtlich Kontingente erkennbar zu machen.3
Wenn es eine Krise der Erkenntnis und somit der Wahrheit gibt, hat sie mit dieser „Art der Erfahrung“ zu tun, nicht bloß als einziges Instrument, um jene Befragungen aufzuzeigen, sondern auch weil sie die Radikalität der Probleme und eine wesentliche Möglichkeit mit sich führt, deren Gewebe
2
Siehe Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie.
3
Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a/M: Suhrkamp 1986, S. 11.
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zurückzuverfolgen. Ob sich diese Erfahrung nun in Form einer Praxis des „Horchens nach dem Sein“4 oder in einer brutalen – sowie auf problematische Weise – mystischen Zäsur zwischen „Jenem, von dem gesprochen werden kann und jenem, das verschwiegen bleiben sollte“ kristallisiert:5 Das „Erfahren“ erweist sich als ultimativer und ursprünglicher Ort, an dem das Schicksal der Wahrheit auf dem Spiel steht. Sicherlich geht es hier darum, eine Auffassung von Erfahrung aufzuzeigen, die nicht rein verbal oder gesprochen sei, sondern die Idee einer totalen Erfahrung zu liefern wisse, in welche die Interpretation der Welt getaucht ist. Diese Art von Konstrukten, die mit dem Verhältnis von Erfahrung und Erkenntnis, Subjekt und Objekt verbunden ist, birgt eine Reihe von Elementen in sich, welche die Struktur der Beziehung zwischen Sprache und Welt selbst betreffen. Hierbei handelt es sich um eine ebenso alte wie auch klassische Frage, die in der gesamten modernen Philosophie von Descartes bis Searle unbeantwortet geblieben und wieder relevant geworden ist: Wenn es eine Welt gibt – und so etwas wie eine Beziehung zwischen dieser Welt und einem Ich als Subjekt – dann aus dem Grund, dass zwischen diesen zwei Entitäten die Erfahrung der Sprache steht. Unabhängig davon, ob man die Stadien der husserlschen Vorsätzlichkeit oder das System der sozialen Objekte bei Gadamer und Searle6 betrachtet, kann man nicht umhin zu erkennen, wie sehr es – immer und in jedem Fall – die Sprache ist, welche diese Welt da draußen „reduziert“, „einschreibt“ oder „repräsentiert“. Die Sprache ist aber überwiegend Zeichen
4
„Und so ist der Mensch, als existierende Transzendenz überschwingend in Möglichkeiten, ein Wesen der Ferne. Nur durch ursprünglichen Fernen, die er sich in seiner Transzendenz zu allem Seienden bildet, kommt in ihm die wahre Nähe zu den Dingen ins Steigen. Und nur das Hörenkönnen in die Ferne zeitigt dem Dasein als Selbst das Erwachen der Antwort des Mitdaseins, im Mitsein mit dem es die Ichheit darangeben kann, um sich als eigentliches Selbst zu gewinnen.“ „Vom Wesen des Grundes“, in Heidegger: Wegmarken, S. 71.
5
Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt: Suhrkamp 1999, § 7.
6
„Nach dieser Ansicht ist Sprache die grundlegende gesellschaftliche Institution in dem Sinn, dass alle anderen Institutionen Sprache voraussetzen, Sprache aber die anderen nicht voraussetzt.“ Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 70.
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und trägt deshalb eine Art ontologischen Kern mit sich, der dessen Zustand betrifft, nie ein Zeichen für Etwas darstellen zu können, wenn nicht innerhalb eines unendlichen Prozesses und stets auf etwas Anderes verweisend: Das Zeichen dürfte somit nichts anderes sein, als eine Verkündigung (angelos) und es dürfte innerhalb der philosophischen Modernität einen Prozess der „unendlichen Semiose“ geben, der immerzu nur auf diese vertikale Produktion einer Sprache Einfluss nimmt, welche auf die Welt da draußen verweist – von den einfachen Objekten bis hin zu den komplexesten –, ohne jedoch die einzige Sache benennen zu können, die nennenswert wäre, und zwar dessen „bloße Essenz“7. Betrachtet man die Erfahrung des Holocausts aus dieser Perspektive, dann könnte man vermuten, dass es über das Ereignis selbst hinaus im Spiel seiner Repräsentationen viel mehr gibt, nämlich eine Art epochale Dimension, welche mit der Gegenwart verbunden ist und die es unmöglich macht den Interpretationskreis zu schließen. Die Alterität der Welt da draußen, die im Bewusstsein des Todes, der Zerstörung und der holocaustischen Katastrophe in ihrer Extremform erscheint, spiegelt sich in jenem immer präsenten und nie reduziblen Merkmal der philosophischen Betrachtung wider. Dieser immerwährende Zustand der Ungreifbarkeit des Realen spiegelt sich im Grunde genommen auch im Werden der holocaustischen Repräsentation wider und findet seine Legitimation in vielen Erfahrungen der gegenwärtigen Gegenwärtigkeit. Um die von Lévinas und von der Rolle der Beziehung mit dem unendlich Anderen – dem Äußeren – gestellte Herausforderung einzuordnen, ist aber vielleicht auch diese Lesart nicht die richtige. Womöglich muss man den Versuch aufgeben, ihn in die Verflechtungen einer „Philosophie“ zu zwängen. Lévinas verweist uns gerade auf das Religiöse, mit der Forderung, uns von einem Anderen befragen zu lassen, uns „dem Anderen zu öffnen“. Die Philosophie ist nicht mehr Philosophie; sie entzieht sich der „Herrschaft“, indem sie zur Liturgie wird, zur Ausübung, Praxis und Beteiligung an der gegenwärtigen Zeit. Wenn in der holocaustischen Erfahrung
7
„L’oggetto si dà; ciò significa: esso sta nella presenza (o guadagna la presenza). Ora, la presenza, a sua volta, può essere totale o parziale. Nella presenza totale l’Oggetto si identifica con la presenza stessa: è tutto nella presenza, è la presenza. Ma questo è solo un altro modo per dire che nella presenza totale l’Oggetto non c’è. La presenza totale è ciò di cui non vi è nulla da dire o da esperire.“ Carlo Sini: Eracle al bivio, Torino: Bollati Boringhieri 2007, S. 237-38.
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ein eschatologisches Element, ein „Durchgangselement“ enthalten ist, dann ist es vielleicht in diesem wesentlichen Element „des Anderen zu gedenken“ zu suchen, indem man es anwendet und praktiziert. Die holocaustischen Promenaden sind nichts anderes als eine Durchquerung, die von meiner eigenen Welt – bestehend aus Anerkennung, Verständnis und Logizität – hin zur Welt eines Anderen führt, die mich entfremdet, mich in eine Krise stürzt und meine konsequentielle Beziehung zur Erkenntnis spaltet. Die Philosophie Emmanuel Lévinas’ praktiziert die Gegenwart, indem sie von einer extremen Dringlichkeit ausgeht, den Anderen zu begegnen und sich des Schmerzes des Anderen bewusst zu werden. Lévinas zu lesen bedeutet, sich von jenem theoretischen Aufeinanderprallen von Begriffen und Paradigmen der Onto-Teleologie zu entfernen, unabhängig davon, ob es sich um jene der „Stimme des Gewissens“, des „Diskurses“ oder der „Berufenen des Rufs“ handelt. Hinter dem schwierigen Eintreten in eine Beziehung zu dem Anderen als historische Alterität, als Vergangenheit, als verlorene Erinnerung oder als „toter Jude Europas“ verbirgt sich kein semiotischer Knoten und keine selbstreflektive, hermeneutische Zirku-larität, sondern eine wesentliche ethisch- religiöse Dringlichkeit. Die Welt und alle darin vorhandenen Beziehungen werden von der Geschichte ausgehend infrage gestellt: Die semiotische Untersuchung – wie letztendlich jede theoretische Anstrengung – die entscheidet, sich auf die Frage der Relationalität zwischen Dingen, Worten und Sinn zu beziehen, darf keineswegs außer Acht lassen, dass jene Infragestellungen von einem historischen Präsens ausgehend gegründet werden müssen, das seine eigene Radikalität einfordert. Lévinas versucht somit auf dieser Ebene einen Sprung zu vollziehen – einen Sprung weiter, nach draußen – um aus dem Zwanzigsten Jahrhundert als Jahrhundert der „nihilistischen Erfahrung“8 auszutreten, mit der Absicht
8
„Das Zwanzigste Jahrhundert begann 1900 in Weimar, mit dem Tod Nietzsches. Dieser war der Denker des Nihilismus und dieses Jahrhundert hat ununterbrochen die Erfahrung des Nihilismus gemacht. Am Ende dieser hundertjährigen Erfahrung, Prüfung und Beraubung jeglicher Gewissheit, ist es Zeit erneut das, was geschieht, zu denken. ‚Das Fehlen von Sinn und Zweck‘, darin liegt die Eigenschaft des Nihilismus (in einem gewissen Sinn, ist es das, was die „PostModerne“ bedeutet hat). Dieses Fehlen kennen wir mittlerweile als die vertrauteste Atmosphäre der Welt in der wir leben, indem wir uns tagtäglich fragen, ob
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die philosophische Kernbefragung, die der Mensch der gegenwärtigen Zeit lebt, von der Geschichte auftauchen zu lassen. Die Erfahrung des Holocausts hat vielleicht am ehesten vermocht, den Geist unserer Zeit zu verkörpern, der vom Zuhören bestimmt ist, vom Warten darauf, dass jemand da draußen ein Lebenszeichen von sich gibt. Die gegenwärtigen Verfremdungsprozesse in den Gedenkstätten Europas beschreiben auf deutliche Weise den Zustand des Bürgers der heutigen Zeit, dem es nicht möglich ist, eine identitätsstiftende Erfahrung zu teilen und der trotzdem dazu gezwungen ist, sich organisch mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Die Darstellung innerhalb der holocaustischen Landschaften vermittelt bestens diesen Zustand enigmatischer Ekstase. Sicherlich könnte man sich fragen, ob jene Ritualien nicht bloße Versuche darstellen, die schuldige Ernüchterung des Nihilismus zu überwinden, allerdings im Sinne irgendeiner finalistischen oder teleologischen Formel. Jan-Luc Nancy hat jene Dimension einer bestimmten zeitgenössischen Philosophie sorgfältig ausgearbeitet, die sich anhand der Formulierungen einer „erneuerten Ethik“ oder eines „Sprungs über den Nihilismus hinweg“ für eine Befreiung der Philosophie von einer historischen und hermeneutischen Last einsetzt, die sie zu überwältigen scheint. Die sich an Nietzsches Nichts jenseits des Nihilismus9 orientierende Formulierung, mit der Nancy das bedeutendste Kapitel seiner Arbeit eröffnet, deutet im Wesentlichen darauf hin, dass die philosophische Gegenwärtigkeit den rationalen und epistemologischen Kern des historischen Nihilismus bisher noch nicht zu überwinden vermocht hat. Welche Bedeutung käme aber dem Versuch der Überwindung des Nihilismus zu, dem offensichtlich ein Großteil der philosophischen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts zugeschrieben werden kann? Nancys Betrachtung bewegt sich auf einer höheren Ebene und versucht, den Leser genau vor die bezeichnendste Zirkularität der nihilistischen philosophischen Erfahrung zu stellen. Die Rolle des Nihilismus – dessen „Exzess“ – besteht nach Ansicht Nancys
wir ‚wohnen‘ und ob es überhaupt eine Welt gibt.“ Jean-Luc Nancy: La pensée dérobée, Torino: Bollati Boringhieri 2003, S. 173. 9
„Nichts jenseits des Nihilismus: zunächst müssen wir das genau auf deutsch schreiben; die ist die Sprache die uns am besten erlaubt, gleichzeitig zu verstehen, dass es „nichts jenseits des Nihilismus gibt“ oder „jenseits des Nihilismus (gibt es nur) das Nicht.“ Ebd.
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darin, die Rückkehr des vor sich Stehenden bis zum Ende gedacht zu haben: Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ‚Die ewige Wiederkehr‘. Dies ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das „Fehlen von Sinn“) in der Ewigkeit.10
Die Rückkehr entspricht somit einem gewissen „Fehlen eines Finales“, die Wahrnehmung der Tatsache, dass, um sich nicht zu entziehen, um nicht „dem Existieren selbst zu entfliehen“, dieses letztendlich uneingeschränkt, sprich ohne Ende, akzeptiert werden muss. Eine Gegenwart muss also in ihrer Unvollkommenheit angenommen werden, in ihrer Nicht-Vollendung; sie muss als konstantes historisches Nicht-Kommen verstanden werden, in dem das Nennen einer Wahrheit bedeutet, dass man dessen konstante Entwendung akzeptiert: Die ewige Wiederkehr ist keine öde oder mechanische Bewegung der unbestimmten Zeit. Die ewige Wiederkehr ist eine Struktur der Gegenwart: Der Augenblick, das kurzweilige Vorbeiziehen des Existierenden und dessen Rückkehr in unserer Bekenntnis seines Vorbeiziehens. […] Die Aufgabe des aktiven Denkens des Nihilismus ist die, das Existierende der endgültigen Vernichtung zu entreißen um es dem ewigen Nichts auszusetzen oder, genauer formuliert, dem Nichts als Ewigkeit.11
Hier liegt der historisch bedeutsamste Aspekt der nihilistischen Erfahrung, der in dieser Art von Emanzipation von jeglichem Finalismus, von jeglichem positivistischen, planerischen und historischen Zauber besteht. Wenn ein Sinn hergestellt wird – als Wahrheit und Authentizität – so geschieht dies allein wegen der puren Möglichkeit der Existenz selbst: Existenz, die
10 „Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ‚die ewige Wiederkehr‘. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das Sinnlose) ewig!.“ Friederich Nietzsche Werke, G. Colli und M. Montanari (Hg.), vol. 8/1, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, Berlin: De Gruyter 1974; S. 201. 11 Nancy, La pensée dérobée, S. 176-77.
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zugunsten des Wahren vom Unauthentischen und vom Mythischen befreit werden muss. Nietzsches Lehre – in seine sowohl biografische als auch philosophische Erfahrung eingeschrieben – erscheint als der Kern, der die philosophische Gegenwärtigkeit charakterisiert, der jedoch auch überdacht werden muss. Ich bin diesbezüglich der Auffassung, dass sich die Philosophie E. Lévinas’ genau auf dem Grat einer endgültigen Forderung nach dieser Konfrontation mit dem historischen Präsens bewegt. Wenn wir mit Nietzsche denken, dass denken „einen Sinn zu verleihen ist, diese Aufgabe muss unbedingt noch vollendet werden“,12 müssen wir akzeptieren, dass durch die Philosophie Lévinas’ dieser Sinn hergestellt werden kann: In den Worten des Anderen, in dessen Äußerung, der meine Gegenwart erschüttert. Die bindende Äußerung des Anderen stellt die einzige Möglichkeit dar, auch auf Nietzsches ewige Rückkehr zurückzugreifen: Jene „Sinnlosigkeit“, die einen „Selbstverlust“ darstellt, resignifiziert sich nur von einem „anderen Menschen“ ausgehend, von einer Alterität, die mich vollkommen überwältigt, und mich dazu zwingt, alles zu überdenken. In den Gedenkstätten wird dieser epochale Prozess der post-nihilistischen Rettung umgesetzt. Sowohl die Betrachtung Lévinas’ als auch jene mit ihr übereinstimmende von Jan-Luc Nancy erinnern uns daran, dass die Aufgabe der Philosophie mit einer „Grenze“ zu tun hat: Die Grenze des Denkens muss jedoch ausgehend von der heutigen Geschichte betrachtet werden; die Grenze verläuft innerhalb der Geschichte. Geschichte zu durchschreiten bedeutet, sich mit einer Grenze zu konfrontieren: Die Erfahrung des Holocausts markiert in der Gegenwärtigkeit den Endpunkt dieser Aussetzung. Er ermöglicht uns jenseits einer Ethik des Nihilismus zu denken, hin zu einem positiven Gedanken und einer erneuerten Sichtweise: Jede Epoche – und keine ist schließlich mehr wert als jede andere – besitzt ihre eigene nihilistische Figur. Die Namen ändern sich, aber man findet immer unter diesen Namen (wie dem der ‚Ethik‘ zum Beispiel) die Artikulation einer konservativen Propaganda und eines dunklen Wunsches nach einer Katastrophe. Nur dadurch, dass man das zu wollen erklärt, was der Konservativismus für unmöglich dekretiert, und die Wahrheiten gegen den Wunsch nach dem Nichts bejaht, reißt man sich vom Ni-
12 Nietzsche: Nachgelassene Fragmente (1885-1887), S. 20.
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hilismus los. Die Möglichkeit des Unmöglichen, die jede liebevolle Begegnung, jede wissenschaftliche Neugründung, jede künstlerische Erfindung und jede Ereignisfolge politischer Emanzipation uns vor Augen führen, ist das einzige Prinzip – gegenüber der Ethik des Gut(en)- Lebens, dessen wirklicher Inhalt die Entscheidung zum Tode ist – einer Ethik der Wahrheiten.13
Über diese Ethik der Wahrheit nachzudenken bedeutet, über die Rolle wesentlicher Erfahrungen zu reflektieren, die es vermag, die Bildung historischer Subjekte auf positive und organische Weise zu fördern. Die Memoralisierung des Holocausts bietet diese Art von Erfahrung. Die holocaustischen Durchquerungen zeigen – in der Gegenwärtigkeit – eine Modalität auf, nach der man Geschichte erneut radikal erfahren kann, von Innen heraus: Das Reich der Erfahrung ist der Ort, an dem das historische Präsens zu seiner Definition kommt. Sicherlich stellt diese Erfahrung ein Risiko dar, eine Destabilisierung, einen dunklen Durchgang.
13 Badiou: Ethik, S. 56-57.
Rituelle Praxis und Dunkelheit Wiedererlangung des Nihilismus der Zerstörung
Es ist ein schwüler Nachmittag im Juli 2013: Ich sitze auf einer der 2711 Stelen von Peter Eisenmans Denkmal. Es ist nicht das erste Mal. In den letzten Jahren habe ich versucht, zwischen den Betonstelen Blicke, Äußerungen, Reaktionen der einzelnen Besucher zu erhaschen. Heute habe ich zum ersten Mal das Gefühl, irgendwie vor einem Massenphänomen zu stehen.1 Es geht nicht nur um die beeindruckenden Besucherzahlen, die in die Millionen gehen, sondern vielmehr um die Tatsache, dass das, was an diesem Ort den Menschen geboten wird, eine targetisierte und organisierte Erfahrung ist, mit einem offensichtlichen Business-Plan. Alles muss sich auf eine bestimmte Weise abspielen, mit einer bestimmten Gleichmäßigkeit und hauptsächlich innerhalb eines bestimmten Parcours, der – wie bereits im dritten Kapitel erwähnt – vom Dokumentationszentrum ausgeht und auf der architektonischen Oberfläche seinen Abschluss findet. Die Anziehungskraft, welche von diesem Massenphänomen, zu dem sich das Denkmal von Anfang an etabliert hat, ausgeht, ist wahrscheinlich der Beweis dafür, dass dieser Ort zu etwas mehr geworden ist als ein bloßes Holocaust-Denkmal. Die in diesem Raum einer „Alterität“, einer puren „Äußerlichkeit“ gebotene Erfahrung verweist in Wirklichkeit auf etwas Anzestrales, in der Modernität immer stets Vorhandenes, auch wenn viel-
1
Vgl. Michael Stausberg: Religion im modernen Tourismus, Frankfurt a/M: Suhrkamp 2010, S. 13-27.
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leicht auf verborgene und nicht wirklich eindeutige Art: Eine Erfahrung, die an „Übergangsrituale“ erinnert.2 Die Tatsache, dass bestimmte soziale und ästhetische Phänomene wie die holocaustischen Promenaden, welche oft Massen von Besuchern anziehen – die sich der mehr oder weniger tiefen Bedeutung solcher Pilgerfahrten nicht immer bewusst sind – von einer radikalen Ritualität geprägt sind, ermöglicht es, deren wichtigste Aspekte zu analysieren, um die bedeutendsten Parallelen zu erkennen, die einem Verständnis dieser Erfahrungen in ihrer Gesamtheit dienen. Die alles andere als erloschene oder überholte Dimension des Mythos und insbesondere die der damit verbundenen „Übergangsrituale“ tritt in der heutigen Zeit in der Tat nicht als kultureller Hintergrund, sondern als radikale und grundlegende Erfahrung wieder zum Vorschein. In ihrer ursprünglichen Form dienen die Übergangsrituale dazu, einen Statuswechsel3 innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft festzulegen. Sie greifen nicht nur in Momenten der Gefahr, Spannung oder sozialer Krise regelnd ein, sie verleihen auch dem gemeinschaftlichen Leben eine positive und organische Form. Im Falle der atavistischsten Mythen wurde dem Neuling als Zeugnis der gelebten Erfahrung ein Siegel eingebrannt: Natürlich geschieht dies heute nicht mehr in Form eines direkten Eingriffs am Körper der einzelnen Individuen, sondern definiert sich womöglich als bedeotungsvolle Erfahrung, die in das Gedächtnis der Besucher auf jeden Fall für immer eingeschrieben bleibt. Viele künstlerische und architektonische Erfahrungen der Gegenwärtigkeit – einschließlich der holocaustischen Gedenkstätten – erinnern an die
2
Vgl. von Gennep: Übergangsriten. S.37
3
„Wenn man die Stufenleiter der Zivilisationen (der Begriff ‚Zivilisation‘ ist hier sehr weit gefasst), lässt sich eine immer größere Vorherrschaft der sakralen über die profane Welt feststellen. In den am wenigsten entwickelten Gesellschaften, die wir kennen, durchdringt das Heilige beinahe alle Bereiche des menschlichen Lebens. Geborenwerden, Gebären, Jagen usw. sind Handlungen, deren verschiedene Aspekte größtenteils der sakralen Sphäre angehören. Auch die sozialen Gruppen innerhalb solcher Gesellschaften sind auf magisch-religiöser Basis organisiert, und der Wechsel von der einen in die andere Gruppe nimmt den Charakter des speziellen Übergangs an, der bei uns durch bestimmte Riten wie Taufe, Ordination usw. gekennzeichnet ist.“ Ebd., S. 14.
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Modalität dieser alten Ritualien. Die Gedenkstätte scheint somit für die Massen eine ähnliche Funktion auszuüben wie jene, die in der Antike den Wallfahrtsorten zukam: Die heutige ästhetische Erfahrung, die teilweise jene religiöse der damaligen Zeit ersetzt, eröffnet den eschatologischen Rahmen, welcher der antiken mysterischen Ritualität angehört. Sicherlich boten die Wallfahrtsorte eine Erfahrung der religiösen Frömmigkeit, in der die Last der Geschichte oder die Rolle der öffentlichen Meinung, wie es zur heutigen Zeit der Fall ist, keine Rolle spielten: Das zentrale Element jener Erfahrungen war jedoch das Angebot einer „sakralen Teilnahme“ an einer zu teilenden Welt, an kollektiven Erfahrungen. Peter Eisenmans Denkmal lässt mythologische, literarische und philosophische Themen zusammenfließen, die auf das Sinnbild des dunklen Durchgangs verweisen, das in den meisten epischen Narrationen der Antike vorkommt. Insbesondere eines dieser Epen, jenes des Auswanderers Aeneas in seinem Abstieg in den Hades ist wohl bezeichnend für die Bedeutsamkeit seines Durchquerens: Das zentrale Element im „Abstieg in die Unterwelt“ ist jenes der Dunkelheit, des Fehlens an Bezügen, einer Blindheit, die wohl dem Horror Vacui entspricht, die jedoch die einzige Möglichkeit darstellt, vorwärtszuschreiten. „O Sohn des Trojaners Anchises, Göttlichem Blut entsprosst, leicht steigst du hinab zum Avernus; Tag und Nacht steht offen das Tor zum finsteren Pluto. Aber den Schritt zurück zu den himmlischen Lüften zu wenden, Das ist die schwierigste Kunst“:4 Der „Durchgang“, die „Durchquerung“ besteht aus zwei Momenten, die eine radikale Veränderung mit sich bringen. Sieht man vom Schicksal des guten Auswanderers Aeneas ab, so kann man beobachten, dass das gesamte Leben in gewisser Weise ein „Durchgang“5 ist, vom horizontalen Vergehen der Zeit und von deren Endlichkeit
4
Vergil: Aeneas, Cap VI § 126-129.
5
„In jeder Gesellschaft besteht das Leben eines Individuums darin, nacheinander von einer Altersstufe zur nächsten und von einer Tätigkeit zur anderen überwechseln. Wo immer zwischen Alters- und Tätigskeitsgruppen unterschieden wird, ist der Übergang von einer Gruppe zur anderen von speziellen Handlungen begleitet, wie sie etwa der Lehre bei unseren Handwerksberufen entsprechen. Bei den halbzivilisierten Völkern sind solche Handlungen in Zeremonien eingebettet, da in der Vorstellung des Halbzivilisierten keine einzige Handlung ganz frei von Sakralem ist. Jede Veränderung im Leben eines Individuums erfordert
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gezeichnet, wenngleich gerade darin die Rolle des Rituals besteht: Es markiert den Moment des vertikalen Durchgangs, in dem der Zusammenhalt einer Kollektivität und womöglich die gemeinsame Teilung deren sozialer und politischer Paradigmen in der Erfahrung des Einzelnen stattfindet. Wie uns die Anthropologie lehrt, sind die rituellen Typologien der Antike unterschiedlich und vielfältig. Oft wurden Rituale an Orten wie natürlichen Höhlen, unterirdischen Räumen oder von der Gemeinschaft für heilig erklärten Stätten zelebriert. Der italienische Anthropologe Massimo Valentinotti hat, unter Anderen, in einer umfassenden Studie diese unveränderliche Tatsache analysiert: In jenen Orten erlebte man intensive Nähe zu einer intimen Dimension des Seins und das Eintauchen in die Dunkelheit konnte auf dem Gipfel einer eigenen radikalen Veränderung den Weg für die ‚strahlendste Offenbarung‘ ebnen. Die Dunkelheit, universeller Archetyp, ist nicht bloß Todessymbol, da in der Vorstellungswelt, wie in einer Schwankung der Gegensätze, unaufhörlich eine Umkehrung von Bildern und Werten stattfindet.6
Betrachtet man dieses Phänomen der „Durchquerung der Dunkelheit“ als eine Veränderung, dann kann beobachtet werden, wie auch unsere Gedenkstätten einen Moment der Verfremdung voraussetzen, eine Unmöglichkeit zu sehen, die jedoch immer mit der Möglichkeit verbunden ist, zu begreifen, zu erfassen und Gedächtnis zu tragen. Die Dunkelheit zu durchqueren (in unserem Fall jene der Geschichte) ermöglicht die Unterbrechung der Vita activa, „die dem täglichen Leben angehört, das notwendigerweise von Praxen, Notbehelfen, der Suche nach dem Lebensunterhalt, dem Streben nach Macht, Ansehen im sozialen Umfeld, den Bestrebungen und Wünschen eingenommen ist, und in dem sich über den Individuen und der Kollektivität Ängste, Spannungen und Konflikte verdichten“,7 mit der Aus-
teils profane, teils sakrale Aktionen und Reaktionen, die reglementiert und überwacht werden müssen, damit die Gesellschaft als Ganzes weder in Konflikt gerät, noch Schaden nimmt.“ von Gennep: Übergangsriten, S. 15. 6
Massimo Valentinotti/Armando De Zambotti/Walter Bonaventura (Hg.), Passaggi. Dialoghi nel buio, Milano: Mimesis 2003, S. 12-13.
7
Ebd., S. 14.
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sicht nach einer Regenerierung des Bürgersinns und des sozialen Bewusstseins. Die unterschiedlichen antiken, rituellen Initiationspraxen waren für eine Vielfalt von Adressaten bestimmt und konnten begrenzte esoterische Kreise oder sogar nur das einzelne Individuum betreffen. Auch dann, wenn sie sich jeweils an Einzelne oder an begrenzte Gruppen richteten, waren sie für all jene offen, die es wünschten, zugelassen zu werden und daher für eine große Anzahl von Menschen, bis sie sich zu Massenerfahrungen ausweiteten. Ein gemeinsames Element all jener Riten war jedenfalls die Darstellung des Todes, wie in Eleusis, wo man den Novizen durch ein Lichtund Schattenspiel die beschwerliche Reise der Verstorbenen präsentierte, obwohl diese gleichzeitig durch die Möglichkeit der „Seligkeit für die Auserwählten“ getröstet wurden. Sophokles berichtet von diesen Mysterien in einem Fragment: „Dreimal selig jene Sterblichen, die diese Weihen geschaut haben, wenn sie zum Hades hinabsteigen. Für sie allein gibt es ein Weiterleben. Für die anderen Drangsal und Not.“8 Weitere Mysterien, wie jenes aus dem 4. Jahrhundert v.Chr. zu Ehren des thrakischen Gottes Sabatius oder jene, die dem Sonnengott Mithras gewidmet waren, stellten die „Vorstellung einer Überwindung der Krise dank Erfahrbarmachung der ‚nächtlichen‘ Dimension der Existenz dar“.9 Diese Gegenüberstellung Tod-Wiedergeburt, durch das Hervortreten aus der Dunkelheit erzeugt, weist eine gewisse Nähe zu den zeitgenössischeren Erfahrungen der Besucher auf, die dem Genozid und der Gewalt ausgesetzt, jedoch gleichzeitig zu einem erneuten Verständnis aufgerufen werden. In gewisser Weise zeigen diese Mythen auf, wie die Teilnahme des Göttlichen an den Leiden, den Ängsten und dem Schicksal der tödlichen Nichtung der Menschheit ursprüngliche und grundlegende Bestrebungen nach kollektiver Teilung und sozialer Erfahrungen darstellen. In der Dunkelheit, Quelle der Reminiszenz, fließen die Gewässer von Lethe und Mnemosyne, die uns zurückführen zur intimen und ursprünglichen Dimension des Mythos.10
8
Sofocle: Fragment 308n.
9
Valentinotti/De Zambotti/Bonaventura (Hg.): Passaggi. Dialoghi nel buio, S. 15.
10 Ebd., S.16.
Wege der Ethik
Wenngleich die Hinterfragung der Philosophie oft durch Gegensätze und Unterschiede verständlich wird, stellt die Arbeit Paul Ricoeurs über die Erinnerung, so tief, wie sie von Tradition und Europäismus durchdrungen ist, wieder einmal einen Prüfstein dar, der uns ermöglicht, für den Sinn von Lévinas’ Betrachtungen und die Idee der paradigmatischen Funktion des Gedenkrituals eine Zuordnung zu finden. Für die klassische Philosophie – von Ricoeur in diesem Aufsatz neu angegangen und neu gelesen – definiert sich das Problem der Erinnerung um die Rolle zweier grundlegender Aspekte: einerseits das Thema der kritischen Existenz von Objekten/Trägern/ Einschreibungen/Spuren,1 durch die „eine Erinnerung wieder erscheint“; andererseits die absolute Flüchtigkeit und Unzuverlässigkeit dieser Wiedererscheinung. Die Geschichtsschreibung dürfte demnach aufgrund dieses tragischen, epistemologischen Bruchs weiterbestehen. Was bezüglich der
1
„Das Rätsel dieser Zweiheit von Nicht-mehr-sein und Gewesenheit wird uns von jetzt an begleiten. Es tritt bereits im Horizont eines weiteren, noch wesentlich älteren Rätsels hervor, den es erscheint ja in Platons Theaitetos und im Sophistes, setzt sich in der kleinen Abhandlung des Aristoteles fort und erlangt bei Augustinus wieder Bedeutung. Es handelt sich um das Rätsel des ειχϖν, des Bildes, wenn man so will – aber in einem Sinne des Wortes ειχϖν, der beide Weisen der Abwesenheit abdeckt: die des Abwesenden als Unwirklichem und die des Vorherigen als Vergangenem. Die ‚reine Erinnerung‘ wird als Bild ins Werk gesetzt und sozusagen in den Blick gebracht.“ Paul Ricoeur: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern, Vergessen, Verzeihen, Göttingen: Wallstein 1998, S. 28.
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Ereignisse der Erinnerung immer in Betracht gezogen werden sollte, ist somit ihre Stabilität und „Zuverlässigkeit“: „Man muss aufhören, sich zu fragen, ob eine Erzählung einem Ereignis ähnelt; man muss sich vielmehr fragen, ob die Gesamtheit der miteinander konfrontierten Zeugnisse verlässlich ist. Wenn dass der Fall ist, so können wir sagen, dass der Zeuge uns an dem erzählten Ereignis hat teilnehmen lassen.“2 Diese Art von Formulierung blendet zunächst die Voraussetzung aus, dass die Ereignisse der Erinnerung in gewisser Weise anhand einer ursprünglichen Einprägung, einer Spur aufbewahrt, geborgen und bestimmt sein dürften und dass Zeugen einer bestimmten Art jene Spur verwahren und nutzen können. Es handelt sich dabei um privilegierte Zeugen, die es vermögen, „diesen Zug“ zu verwahren, „den man auf der Ebene des historischen Bewusstseins wiederfindet in jener gebildeten Form, die ihm Gadamer zuschreibt, wenn er vom ‚Wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein‘ spricht – einen Begriff, den wir mit der Wendung „affiziert sein durch...“3 verdeutlichen können. Sich erinnern, steht hier also für das Verwahren, für das Sich-Erinnern als konstante Um-Schreibung einer historischen Wahrheit, die somit stets „unentschieden, plausibel, wahrscheinlich, anfechtbar, kurz [bleibt]: immer im Prozess des Um-Schreibens begriffen“,4 die jedoch Erinnerung an etwas ist, visuelles Gedächtnis, lineares Gedächtnis, das in der philosophischen Sprache verhandelt und repräsentiert werden kann. Wie Ricoeur jedoch treffend bemerkt, hat die Erinnerung weder mit der ontologischen Frage eines Trägers, einer Ikone zu tun, innerhalb der sie gedacht und reaktiviert werden kann, noch mit ihrer Einprägung in den Worten und in der Erfahrung eines privilegierten Zeugen. Sich zu erinnern hat vor allem mit dem hermeneutischen Aspekt des Ortes und des Telos zu tun, innerhalb dessen sich die Erinnerungen Gestalt annehmen; „Sich zu erinnern“ bedeutet, die Zeit in einer privilegierten Beziehung zu deren drei Hauptmomenten zu re-produzieren: Demgegenüber kommt uns als ein Verdacht der Gedanke, dass der Anspruch, den Vergangenheitscharakter der Vergangenheit unter Absehung von seinem dialekti-
2
Ebd., S. 33.
3
Ebd., S. 28.
4
Ebd., S. 40.
W EGE DER E THIK | 309
schen Band zu den beiden anderen Dimensionen der Zeit zu erfassen, selbst in die Sackgasse führt. Eine neue Vorgehensweise bietet sich von daher an: das Gedächtnis wieder in die Wechselbewegung mit der Erwartung des Zukünftigen und der Gegenwart des Gegenwärtigen zu stellen, um sich dann zu fragen, was wir mit unserem Gedächtnis heute und morgen anfangen.5
Sich an diese Art von Betrachtung konsequent haltend, verweist Ricoeur auf zwei wesentliche Beiträge der klassischen europäischen Philosophie: Die Bücher 10 und 11 der Bekenntnisse von Augustinus6 und das dritte Kapitel des zweiten Abschnitts von Martin Heideggers Sein und Zeit.7 Von jenen Betrachtungen ausgehend, wäre eine Zuordnung der Ereignisse der Erinnerung innerhalb ihres wesentlichen Bezugs zu einer Art allgemeiner Zeitlichkeit denkbar, welche letztendlich nichts anderes ist als die Gesamtheit der drei Dimensionen der historischen Zeit, also der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Innerhalb dieser Distanz zwischen Abschnitten, zwischen zeitlichen Dimensionen erinnert man sich und produziert man Gedenken. Augustinus und Heidegger stehen somit für privilegierte und einflussreiche Zeugen des Fundaments des Ortes der Erinnerung und von dessen Sinn: Die Erinnerung ist überwiegend zeitlich – irgendwo eingeschrieben und geschichtlich – aber gleichzeitig zerrieben zwischen einer Gegenwart, die sie erzeugt, einer Vergangenheit, die „Vergangenheit ist“ und einer Zukunft, die „dazu neigt, nicht zu existieren“.8
5
Ebd., S. 41.
6
Augustinus: Bekenntnisse, Frankfurt a/M: Insel 2007, S. 214-93.
7
Das eigentlich Ganzseinkönnen des Daseins und die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge, in: Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2001, S. 301–403.
8
„Diese beiden Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, wie sollten sie seiend sein, da das Vergangene doch nicht mehr ‚ist‘, das Zukünftige noch nicht ‚ist‘? Die Gegenwart hinwieder, wenn sie stetsfort Gegenwart wäre und nicht in Vergangenheit überginge, wäre? nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wenn also die Gegenwart nur dadurch zu Zeit wird, dass sie in Vergangenheit übergeht, wie können wir dann auch nur von der Gegenwartszeit sagen, dass sie ist, da doch ihr Seinsgrund eben der ist, dass sie nicht sein wird? Rechtens also nennen wir sie Zeit nur deshalb, weil sie dem Nichtsein zuflieht.“ Augustinus: Bekenntnisse, S. 275-76.
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Wir haben es mit einer Erinnerung zu tun, die gleichzeitig ist und nicht ist – wie die Zeit übrigens: Erinnerung auf der Suche nach einer Zeit, innerhalb der sie sich zu verfestigen vermöge. Obschon die Zeit Heideggers oder Augustinus eine Jetztzeit ist, so entrinnt sie auch.9 Auf der Basis dieser klassischen Übung derselben Denkbarkeit des Ortes und der Zeit der Erinnerung, die letztendlich das metaphysische Spiel des Gedankens eines Gedankens oder zumindest von dessen Authentizität darstellt,10 haben sowohl Augustinus als auch Heidegger ihr mechanisches und epochales System des Erinnerns aufgebaut. Sich zu erinnern ist gleich wie denken, es ist das Denken selbst: Man erinnert sich, um die Wirksamkeit der eigenen Betrachtungen – als Erkenntnis, als legitime und authentische Struktur – zu ermitteln. Die Authentizität ist jedoch flüchtig, sie bedarf einer Ergänzung, die vergessen ist,11 nach einem Du, das in keinem Fall zu Mir spricht.12 Auch Lévinas arbeitet oft auf der Basis dieser Formalisierung eines Ansprechpartners, der gleichzeitig eine Grenze darstellt, einer Präsenz, die nie vollständig gelöst ist und der man sich als permanentes In-Frage-Stellen annähern soll; Dennoch stellt dies den – zumindest erklärten – Versuch dar, diesem Ansprechpartner zu ermöglichen, außerhalb meines Systems zu
9
„Denn was ist ‚Zeit‘? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“ Ebd., S. 275
10 „Wie die Erwartung erst auf dem Grunde des Gewärtigens möglich ist, so die Erinnerung auf dem Grunde des Vergessens und nicht umgekehrt“; Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 339. 11 „Das vergessendgegenwärtigende Gewärtigen ist eine eigene ekstatische Einheit, gemäß der sich das uneigentliche Verstehen hinsichtlich seiner Zeitlichkeit zeitigt.“ Ebd. 12 „Groß ist die Macht des Gedächtnisses, Welch schauerlich Geheimnis, mein Gott, welch Tiefe, uferlose Fülle! Und das ist die Seele, und das bin ich selbst? Was bin ich also, mein Gott? Was bin ich für ein Wesen? Ein Leben, so mannigfach und vielgestaltig und völlig unermesslich! [...] Auch über mein Gedächtnis will ich hinaus, um dich – wo? – zu finden, Du wahrhaft Guter, Du wahrhaft verlässige Wonne, ja – wo Dich zu finden? Denn finde ich dich draußen und nicht bei mir im Gedächtnis, so bin ich ja Deiner nicht gedenk. Und wie sollte ich Dich finden können, bin ich Deiner nicht gedenk?“ Augustinus: Bekenntnisse, S. 233.
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bleiben, außerhalb meines Reduzierens: Die Gegenwart bedarf dieser Distanz, die „Vergebung“, „Fruchtbarkeit“ und „Unendlichkeit“ ist, um es mit Lévinas Worten auszudrücken: Die Erinnerungen auf der Suche nach der verlorenen Zeit verschaffen Träume, aber bringen die verlorenen Gelegenheiten nicht zurück. Die wahre Zeitlichkeit, diejenige, in der das Definitive nicht definitiv ist, verlangt daher die Möglichkeit, zwar nicht alles, was man hätte sein können, zu wiederholen, aber doch angesichts der unbegrenzten Unendlichkeit der Zukunft die verlorenen Gelegenheiten nicht mehr zu bedauern. Es geht nicht darum, sich in weiß nicht welcher Romantik des Möglichen zu gefallen, sondern der erdrückenden Verantwortung der Existenz, die in Schicksal umschlägt, zu entkommen; es geht darum, sich in dem Abenteuer der Existenz wiederaufzunehmen, um ins unendliche zu sein. Das ich ist gleichzeitig diese Bindung und diese Lösung – in diesem Sinne ist es Zeit, Drama in mehreren Akten.13
Die Unendlichkeit ist anderswo. Und wenn die Unendlichkeit mit dem Authentischen und dem Wahren zusammenhängt, dann sind auch die Wahrheit und das Wahre „anderswo“. Ein Anderswo, dass sich zeigt, ohne mich an ein geschriebenes Schicksal auszuliefern, sei es das „Sein für den Tod“ oder die „ewige Wiederkehr des Gleichen.“ Jenes Anderswo ist meine einzige Möglichkeit – die Unendlichkeit, die ich im Anderen finde: Aber die unendliche Zeit ist auch die erneute Infragestellung der Wahrheit, die sie verspricht. Der Traum einer glücklichen Ewigkeit, der sich im Menschen neben dem Traum vom Glück findet, ist nicht eine bloße Verirrung. Die Wahrheit fordert zugleich eine Unendliche Zeit und eine Zeit, auf die sie das Siegel setzen kann – eine vollendete Zeit. Die Vollendung der Zeit ist nicht der Tod, sondern die messianische Zeit, in der das Fortwährende sich in ewiges verwandelt. Der messianische Triumph ist der reine Triumph. Er ist geschützt gegen die Rache des Bösen, dessen Rückkehr die unendliche Zeit nicht untersagt. Ist diese Ewigkeit eine neue Struktur der Zeit oder eine äußerste Wachsamkeit des messianischen Bewusstseins? – Das Problem geht über den Rahmen dieses Buches hinaus.14
13 Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 411. 14 Ebd., S. 416.
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Nun geht es um den Versuch, Lévinas’ Prosa zu verlassen und in seinen Worten das Paradigma einer mit der Gegenwärtigkeit verbundenen Erfahrung zu erkennen. Die Beziehung zwischen Zeitlichkeit und Erinnerung verwirklicht sich im Akt, einem Anderen zuzuhören: Indem man den Anderen in die eigene Erfahrung, in die Linearität der eigenen Erfahrung eintreten lässt, öffnet man sich der messianischen Zeit, das heißt, man ermöglicht die Verwirklichung von etwas in der eigenen Gegenwart. Nicht allein das! Die Authentizität dieser Erfahrung liegt in ihrer Verwirklichung des Schicksals unseres historischen Präsens. Was der Holocaust vor uns stellt, ist die Unvermeidlichkeit der Erfahrung des Gedenkens als Öffnung des Anderen in Form eines „ethischen Imperativs“. Dieses Paradigma des „Sich-Erinnern-Müssens“ ist – noch einmal im Sinne Ricoeurs – verständlich, wenn man begreift, dass der Akt des Gedenkens eng mit jenem des Gerecht-Seins verbunden ist. In der Gegenwärtigkeit haben die Praxen des Sich- Erinnerns gerade mit dieser Zirkularität zu tun, die zwischen moralischer „Unvermeidlichkeit“ des Erinnerungsprozesses, dessen praktischer „Verwirklichbarkeit“ in den Formen der Erfahrung und den ethischen Folgen im Bereich des „Gerechtigkeit-Schaffens “ steht: Es gilt zunächst einmal, daran zu erinnern, dass die Tugend der Gerechtigkeit unter allen Tugenden diejenige ist, die sich in besonderer Weise und ihrem Wesen nach dem Anderen zuwendet. Man kann sogar sagen, dass die Gerechtigkeit die Alteritäts-Komponente aller Tugenden darstellt, die sie dem Kurzschluss des Selbst mit sich selbst entreißt. Die Pflicht zur Erinnerung ist die Pflicht, einem anderem als man selbst durch Erinnerung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“15
Dies scheint die Zirkularität zu sein, die in den Erfahrungen des Gedenkens präsent ist: Die auf dem Spiel stehenden Elemente sind genau jene der Begleitung durch festgelegte Parcours, die zu einer unvermeidbaren Auseinandersetzung mit der Befragung des eigenen historischen Präsens führen und auf der Idee einer Verwirklichung von Gerechtigkeit beruhen.
15 Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 12.
Messianische Dringlichkeiten
Die gesamte, auf diesen Seiten kurz gefasste Betrachtung strebt dem wesentlichen Ziel entgegen, die folgende Frage zu beantworten: Ist es möglich, vom Gesichtspunkt der Geschichtsphilosophie aus betrachtet, die Bedeutung der Erfahrung des holocaustischen Gedenkens zu verstehen? Wie ich versucht habe aufzuzeigen, bietet das Gedenken an den Holocaust zwei Perspektiven: einerseits eine pragmatische, historische Sichtweise, die, gestützt durch die historische Dokumentalität, den Holocaust als eine der grundlegenden Erfahrungen der gegenwärtigen Zeit betrachtet; andererseits jene Sichtweise, die thematisch und philosophisch mit einer ganzen Reihe zeitgenössischer Erfahrungen konvergiert, die von der Krise gezeichnet sind, auch wenn in Erwartung einer neuen, revolutionären und gar messianischen Zeit. Diese Problematizität wurde an anderer Stelle von Jacob Taubes klar hervorgehoben, als er 1947 mit vierundzwanzig Jahren seine Abendländische Eschatologie mit folgender Frage beginnt: Nach dem Wesen der Geschichte ist gefragt. Die Frage nach dem Wesen der Geschichte kümmert sich nicht um einzelne Ereignisse in der Geschichte, um Schlachten, Siege, Niederlagen, Verträge, um Geschehnisse in der Politik, um Verflechtungen in der Wirtschaft, um Gestaltungen in Kunst und Religion, um Ergebnisse wissenschaftlicher Erkenntnis. Von all dem sieht die Frage nach dem Wesen ab und blickt nur auf das Eine hinaus: wie ist überhaupt Geschichte möglich, welches ist der zureichende Grund, darauf Geschichte als Möglichkeit ruht? In der Verwirrung um den Sinn der Geschichte kann nicht in den einzelnen Ereignissen das Maß gefunden werden, vielmehr muss von allen Geschehnissen abgesehen und gefragt werden: was macht ein Geschehen zur Geschichte? Was ist die Geschichte selbst? Maß und Stand lässt sich in der Frage nach dem Wesen der Geschichte nur gewinnen, wenn vom
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Eschaton her gefragt wird. Denn im Eschaton übersteigt die Geschichte ihre Grenze und wird sich selbst sichtbar.1
In der programmatischen Absicht der Eschatologie können zwei grundlegende Elemente zur Definition einer möglichen Auffassung der „Philosophie der Geschichte“ wieder gefunden werden, welche den hier enthaltenen Analysen ihre Gestalt verleihen: Das Erste betrifft die Möglichkeit einer allgemeinen und „positiven“ Theorie der Geschichte und läuft im Grunde genommen auf dessen Negation hinaus. Das zweite Element bezieht sich auf den möglichen „Ort“ für eine Geschichte: Wenn man davon ausgeht, dass eine „allgemeine Theorie der Geschichte“ nicht umrissen werden kann, was bleibt dann von den einzelnen „Ereignissen der Geschichte“ übrig? Was könnte letztlich die erzeugende Bewegung der historischen Erfahrung sein? Die Abendländische Eschatologie ist ein nuancenreiches Werk. Aus der Explosion jener „zweiten Apokalypse“ des Zweiten Weltkrieges entstanden, trägt es eindeutig ein „Gefühl des Überlebens“2 in sich, das häufig auf eine hyperbolische und visionäre Schreibweise hinausläuft, die eine gewisse Nähe zu Emmanuel Lévinas aufweist. Die in diesem Werk formulierte „Philosophie der Geschichte“ definiert sich wie ein komplexes Gewebe, das aus einer zweckdienlichen Rekonstruktion bestimmter Momente der Geschichte der westlichen Philosophie3 und der Hervorhebung einer Art „messianischen Indexes“ besteht, der – obwohl teilweise erkennbar – den eigentlichen, sozusagen „metahistorischen“ Sinn jener Geschichte selbst darstellen dürfte. Die Eschatologie soll also aus dieser Gesamtheit an Voraussetzungen bestehen, die im Grunde genommen – abgesehen von dem beträchtlichen, Heidegger zu verdankenden Anteil – durch eine Gesamtheit
1
Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie, Bern: Francken Verlag 1947, S. 3.
2
Ich verweise hier auf die wichtige italienische Einleitung von M. Ranchetti, insbesondere auf sein Hervorheben der Zentralität des heideggerschen Bezugs in Taubes Schriften.
3
„Die Abendländische Eschatologie sieht ab von Fakten, Geschehnissen, Ereignissen, Singularitäten. Sie befindet sich vollkommen außerhalb jeglicher soziologischen Konnotation; Die von Taubes in Betracht gezogenen und isolierten Autoren werden hinsichtlich ihres „Moments“ ausgewählt, in der Prespektive einer Beleuchtung des Sinnes, der sie erfüllt.“ Ebd., S. 10.
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von Perspektiven charakterisiert wird, welche beispielsweise die Auffassung der historischen Zeit als „Textgewebe“ betreffen, dessen Sinn nicht aus den Ereignissen hervortreten kann, die in ihr enthalten sind, sondern aus ihrem neuen Verständnis „darüber hinaus“: Dieser Aspekt der textlichen Charakterisierung der historischen Zeit ist ein Element, das zahlreichen Strömungen des rabbinischen Judentums4 eigen ist und in der Lévinassche Philosophie häufig wiederkehrt. Lévinas’ und Taubes’ Betrachtungen konvergieren zu lassen, ist ein zumindest riskantes Unterfangen: Eine wirksame Hermeneutik muss aber die Inhalte, angesichts ihres Beitrags für die philosophische Tradition, auch über deren einfaches Bedeuten hinaus für sich sprechen lassen. Obwohl er eine – partielle wie allgemeine – Rekonstruktion einer „Philosophie der Geschichte“ vollkommen ablehnt, ist Lévinas in diesem Sinne jener Idee von Eschaton, die in Taubes’ Aufsatz präsent ist, auf jeden Fall nahe oder er betrachtet sie zumindest aufmerksam. In der von Taubes Konzeption einer „historischen Bewegung“ – bei der es sich nicht um eine horizontale, progressive oder dialektische Zeit handelt – findet man eine extrem starke Charakterisierung der Idee von Geschichte als „Simultaneität“, als „Vertikalität“. Für Taubes befindet sich Geschichte nicht im Werden, „sie geschieht“: In dieser Form des „Sich-Gebens“ der Geschichte und folglich der „Wahrheit als Zeugnis“, kann ein extrem starkes Element der Konvergenz mit Lévinas’ Hermeneutik aufgefunden werden. Wer ist schließlich Lévinas’ „Anderer“? Von wo aus spricht er zu uns? Was bezeugt er? Verfolgte man Lévinas’ Schriften und versuchte man diese „darüber hinaus“ sprechen zu lassen, könnte man dann den Schluss ziehen, dass er den Ort der Begegnung mit dem Anderen als einen „Ort der Geschichte, gar einer neuen Geschichte“ denkt? Das Lesen des Kapitels Sensibilität und Nähe im Hauptteil aus Jenseits des Seins würde ausreichen, um diese Art von Fragestellung nachzuvollziehen: Jene hartnäckige Behauptung, dass „der Ort der Nähe im absoluten und eigentlichen Sinne die Menschheit annimmt“5 widerspricht der Vorstellung, nach der diese Nähe
4
Vgl. Günter Stemberger: Das klassische Judentum. Kultur und Geschichte der rabbinischen Zeit, München: C.H. Beck 2009.
5
Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S. 182. „Ist die Nähe vielleicht ein bestimmtes Maß eines Intervalls, das sich zwischen zwei Punkten oder zwei Abschnitten eines Raumes verkürzt und dessen Grenze durch das An-
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„nicht ein Zustand [ist], nicht eine Ruhe, sondern gerade Unruhe, NichtOrt, außerhalb des Ruheortes und damit Störung für die Stille der NichtAllgegenwart des Seienden, die zur Ruhe an einem Ort wird; immer also ungenügende Nähe, wie eine Umarmung“.6 Der Ort der Begegnung mit dem Anderen ist überwiegend ein historischer Ort, der Ort des historischen Präsens. Es ist hier nicht meine Absicht, die holocaustischen Durchquerungen mit dem Anbruch der messianischen Zeit gleichzustellen: Was ich versuche zu beleuchten, ist die Art und Weise, wie sich bestimmte, innerhalb der Topografien der heutigen Städte angebotenen Erfahrungen eine bestimmte Praxis angeeignet haben, eine bestimmte Art, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen, die auf diese philosophischen Konvergenzen verweist, welche in der „Alterität“ ein antreibendes und legitimierendes Element suchen. Sowohl Lévinas als auch Taubes fordern uns dazu auf, eine Position zur gegenwärtigen Zeit einzunehmen, sie fordern uns auf, die Geschichte über deren Thematisierung hinaus „zu denken“. Das Gewebe und der Umfang eines Buches wie Jenseits des Seins verweisen gerade auf diese „dringliche“ Spannung, „den Anderen sprechen zu lassen.“ Dies kann aber nur in der Gegenwart geschehen, in einer Gegenwart, die Zeugnis ist, Öffnung, Wahrheit. Die Prosa Emmanuel Lévinas’ kann allein von dieser „semantischen Zirkularität“ ausgehend verstanden werden, von einer philosophischen Handschrift, die an ein „erneuertes Sagen“ denkt, nicht unbedingt im Sinne einer Sprache, sondern vielmehr angesichts einer Bewegung, die der untergründigen Revolution und Veränderung der philosophischen Kultur – des „philosophischen Denkens“ – angehört. Letztendlich ist dies das eigentliche Element, das uns legitimiert, über unseren Gedenkstätten so zu den-
einanderstoßen oder sogar die Koinzidenz der beiden Punkte oder Abschnitte markiert wäre? Doch dann hätte der Begriff der Nähe einen relativen Sinn und damit, im unbewohnten Raum der euklidischen Geometrie, einen entlehnten Sinn. Sein absoluter und eigentlicher Sinn setzt die ‚Menschlichkeit‘ voraus. Man kann sich sogar fragen, ob die Kontinuität ohne Nähe – ohne Annäherung, Nachbarschaft, Kontakt – überhaupt verständlich wäre und ob die Homogenität dieses Raumes denkbar wäre ohne die menschliche Bedeutung der Gerechtigkeit gegenüber aller Verschiedenheit und folglich ohne all die Motivationen für die Nähe, deren Ziel die Gerechtigkeit ist.“ Ebd., S. 182. 6
Ebd., S. 184.
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ken, als wären sie von einer großen Spannung gezeichnet, welche die ihnen zugrunde liegenden politischen, touristischen wie auch erzieherischen Intentionen übersteigt. Der horizontalen historischen Spannung kommt die messianische und zeitliche Vertikalität einer neuen, erneuerten Zeit hinzu: Jeder Begriff der Geschichte ist stets mit einer bestimmten Erfahrung der Zeit verbunden, die er impliziert, die ihn prägt und die es hier zu erklären gilt. Jede Kultur ist gleichermaßen allererst eine bestimmte Erfahrung der Zeit, und eine neue Kultur ist nicht möglich ohne eine Veränderung dieser Erfahrung. Die eigentliche Aufgabe einer authentischen Revolution besteht deshalb nie einfach darin, die ‚Welt zu verändern‘ sondern auch, ‚die Zeit zu verändern‘. Das politische Denken der Moderne hat seine Aufmerksamkeit auf die Geschichte gerichtet, ohne einen entsprechenden Begriff der Zeit zu erarbeiten.7
Dieser Arbeit liegt die Beobachtung zugrunde, das Lévinas’ Werk stark von einer – wenn nicht revolutionären, dann jedoch äußerst bedeutungsvollen – Idee von „Transformation“ der philosophischen Sprache beeinflusst ist. Diese Transformation ist darüber hinaus durch einen höchst emotionalen und semantischen Eifer charakterisiert, der die Zeit und das Werden des philosophischen Gewebes selbst prägt. In gewisser Hinsicht sollte man es sich angewöhnen, aus Lévinas’ Werk eine Art substanzielles Verbergen gemischt mit dem Willen zur Verfremdung herauszulesen: Einerseits setzt er ständig die Idee eines Messianismus voraus – der „philosophischen Produktion als Zeugnis“ – der es vermöge, rational und nicht emotional zu sein; andererseits hat er in seinem Werk selbst Zeugnis dafür abgelegt, wie weit die philosophische Sprache in Wirklichkeit zu gehen vermag. Die von Lévinas bewirkte Erfahrung des philosophischen Denkens stellt im philosophischen Werdegang des Verfassers dieser Arbeit einen Endpunkt dar, entstammt jedoch hauptsächlich dem Bedürfnis, die Gegenwärtigkeit zu denken, das heißt, in die heutige Zeit einzutauchen. Der Beitrag der Hermeneutik Lévinas’ ist aus zweierlei Gründen bedeutsam, da er einerseits die Tradition der Phänomen-Ontologie, andererseits aber die rabbinische Idee des „Anwendens“ der Vernunft und die des Praktizierens der Begegnung mit dem Anderen aufgreift.
7
Agamben: Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, S. 131.
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Der lévinassche Messianismus kann jedoch nicht auf den „rationalistischen Ansatz der rabbinischen Tradition“ reduziert werden, „in dem die Thematiken der messianischen Erwartung mit den Erfordernissen der Gerechtigkeit und Befreiung, die jeder Mensch in jeder historischen Epoche als eigen stellt, verbunden sind“8: Der Messianismus Lévinas’ definiert sich in Form einer Philosophie, die Zeugnis ablegen will über die Schwierigkeit – durch den Anderen – der Geschichte und deren Möglichkeit, tatsächlich Raum zu geben, um „Bezeugen“ zu können. Allein im historischen Ort kann die „Beziehung zum Anderen“ Raum und Sinn gewinnen. Wir sollten an Lévinas’ Philosophie wie an ein Vermächtnis denken, das uns dazu auffordert, diese „Dringlichkeit“ des Denkens und des Mit-Sich-Tragens – durch das Denken – des eigenen Zeugnisses als Geschichte verkörpernder Mensch gegenüber (vis a vis) der Gegenwart zu erkennen. Jene Dringlichkeit ist die Erfahrung, der jeden Tag Millionen von Menschen – vielleicht unbewusst – in den holocaustischen Durchquerungen ausgesetzt werden. Ich möchte nun diese kurze Betrachtung abschließen, indem ich Lévinas selbst durch sein Werk AE (sechstes Kapitel Außerhalb) zu Wort kommen lasse: Dieses Buch interpretiert das Subjekt als Geisel und die Subjektivität des Subjektes als Stellvertretung, die mit dem Sein des Seins – und des Seienden – bricht. Die These setzt sich unvorsichtigerweise dem Vorwurf des Utopismus aus, einer Meinung zufolge, in der der moderne Mensch sich für ein Seiendes unter Seienden hält, während seine Modernität gleichwohl sich zeigt als eine Unfähigkeit, bei sich zu bleiben. Dem Utopismus als Vorwurf – sofern Utopismus ein Vorwurf und überhaupt ein Gedanke von Utopismus frei ist – entgeht unser Buch, indem es daran erinnert, dass das was menschlich statt-fand, seinen Ort hatte, niemals an seinem Ort hat eingeschlossen bleiben können.9
8
Ich beziehe mich hier auf die Einleitung von Francesco Camera aus dem Buch Emmanuel Lévinas: Il messianismo, Verona: Morcelliana 2002.
9
Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S. 393.
Schlussfolgerungen
In dieser Abhandlung wurde die Entstehung, Entwicklung und Festigung der Repräsentation des Holocausts in Deutschland und Italien von einem analytischen diskursiven Gesichtspunkt aus betrachten. Die hier vorgelegte Fallstudie bot die Gelegenheit, spezielle Aspekte politischer und sozialer Ordnung zu analysieren, die andernfalls in der Wucht der Vorstellungswelt um den Genozid untergegangen wären. Die Möglichkeit, über die generationelle Entwicklung der politischen Diskurse nachzudenken, führte zu Offenbarung der genealogischen Komplexität der Beziehung zwischen historischem Ereignis (1939-1945) und dessen Hervortreten, Repräsentation und Teilung (1946-heute), die in den Gedenkstätten jüngster Generation gefestigt werden. Aus der Analyse der beiden unterschiedlichen kulturellen Kreise tritt deutlich hervor, wie verschieden die politischen und die sozial-religiösen Beweggründe der Konstruktion von Gedenken sind und welches Gewicht sie besitzen: das Gewicht der Mechanismen der politischen Selbst-Anerkennung, die in der deutschen Kultur präsent sind, so wie andererseits die der kollektiv-religiösen Teilung und der ökumenischen Öffnung im italienischen Kontext. Bei der Betrachtung der beiden nationalen Erfahrungen fiel auf, wie das Ereignis an sich im Laufe der Zeit in den erweiterten Formen politischer und kultureller Perspektiven neu gedacht, überarbeitet und erzählt worden ist. Dabei wurde eine Reihe von moralischen Paradigmen generiert, wie die der deutschen „Schuldfrage“ oder die/das eines „Universalismus“, der in der „Auseinandersetzung mit dem Anderen“ im Sinne einer postkonziliären Tradition präsent ist. Hinter diesem Aspekt verbirgt sich nicht nur die problematische Beziehung zwischen den „historischen Gegebenheiten“ und den „nationalen Narrationen“, sondern auch die Frage einer
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politischen Instrumentalität – vor allem jedoch die Idee der Kraft und des Ereignisses, die hinter den historischen Prozessen steht. Historische Ereignisse tragen ein revolutionäres und epochales Potenzial in sich, das die Transformation der gefestigten Kategorien und Paradigmen auslöst und in der Lage ist, neue Paradigmen zu generieren oder zumindest neu zu formulieren. Der Holocaust als historisches Ereignis offenbart sich in dieser ihm eigenen morphozentrischen Natur, wobei er verschiedene Aspekte in sich vereint, die alle in der Kontemporaneität fußen. Hinter der Betonung der Gegenwärtigkeit verbirgt sich das Bedürfnis einer Konfrontation mit der Radikalität des in der heutigen Zeit Erlebten: Aus diesem Grund wird hier auch der Analyse und der Auseinandersetzung mit den architektonischen Sprachen viel Platz eingeräumt. Die heutigen Gedenkarchitekturen, die zu den einprägsamsten Erlebnissen für die Generationen heutiger Schüler und Studenten zählen, künden von einer fragmentierten, von starken Momenten der Zäsur und der Zerstörung durchquerten Gegenwärtigkeit: In dieser Zergliederung kann man dennoch trotz der tatsächlichen Existenz eines kollektiven Horror Vacui die Möglichkeit einer eschatologischen Erfahrung erahnen – eine Erfahrung, die uns mehr bietet als die Evidenz der historischen Ereignisse und deren Vermittelbarkeit. Dieses Bedürfnis stellt eine „messianische Dringlichkeit“ dar und diese Dringlichkeit steht für das Bedürfnis, den steten Verfall der Welt da draußen anzuhalten. Diese Dringlichkeit ist eine Herausforderung. Sie fordert auf zu einer tief gehenden Betrachtung des Schicksals der westlichen Welt, ausgehend von deren Wurzeln, die im wesentlichen eine christlich-jüdische ist.
M ESSIANISCHE D RINGLICHKEITEN Die philosophische Analyse wir in dieser Arbeit grundsätzlich als Antrieb zur ethischen Praxis verstanden. Der Kern des philosophischen Denkens kann nur eine Frage der Schaffung und der Teilnahme an einem gemeinschaftlichen Raum sein. Diese Beschäftigung ist faktisch in vielen Positionen der traditionellen Philosophie präsent: Dieselbe wahrheitsfunktionale Logik, die nach den sprachlichen Strukturen sucht, auf denen unsere Diskurse basieren, ist keineswegs von der Frage der Ermittlung jener gemein-
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schaftlichen Formen befreit, innerhalb derer die Welt da draußen auf gerechte Weise geteilt werden kann. Die Memoralisierung des Holocausts hat dieses Bedürfnis nach Gerechtigkeit, Begegnung und Wahrheit faktisch an die Durchquerung der Geschichte gebunden: Ohne diesen radikalen Bezug zur Gegenwart, ohne diese Zirkularität, die in der Gegenwärtigkeit agiert, ist die wahre Erfahrung der Geschichte und folglich die Möglichkeit für Gerechtigkeit nicht gegeben. Einige Abschnitte beschäftigen sich mit der Frage, wie die Erfahrung des Anderen – eben als Alterität und Differenz verstanden – eine Möglichkeit für das zeitgenössische philosophische Denken darstellt. Die Philosophien von Jacob Taubes, Emmanuel Lévinas und Paul Ricoeur, gestützt durch eine umfassende Beschäftigung mit dem liminalen Diskurs um die Beziehung zwischen christlichem Universalismus und jüdischtalmudischer Praxis, stehen im Zentrum, die ethische Frage neu zu stellen. Mithilfe des Begriffs der messianischen Dringlichkeiten wurden die Erfahrungen des Gedenkens mit jenem Ausgangspunkt der zeitgenössischen Philosophie verbunden. Das Messianische stellt die Gefahr der Erneuerung der historischen Zeit dar: Im Messianismus liegt die Möglichkeit, die fragmentarische Versprengung der Spuren aufzuhalten und ein Auf-der-WeltSein im Sinne einer Erfahrung und einer Erkenntnis wieder zusammenzufügen. Dass die Gedenkstätten diese Art von Erfahrung zu bieten vermögen, ist keine Selbstverständlichkeit. Diese Arbeit deutet jedoch auf die ethische Möglichkeit hin, die jenen Erfahrungen innewohnt. Diese transversale Ethizität ist das Zeichen der heutigen Zeit: Hier kann ein mögliches Werden generiert werden, verstanden als Transformation, Veränderung, Eschatologie und folglich als jüdisch-christliche Geschichte. Es ist jedoch vor allem die Figur der Subjektivität, die sich im Zentrum dieses Prozesses befindet, nicht nur weil diejenigen, welche die Gedenkstätten durchqueren, Subjekte sind, sondern weil der Holocaust die Prämisse für eine endgültige Auflösung der Rolle der Person geschaffen hat, gerade als lebende Subjektivität, die im Zentrum der historischen Prozesse steht. Der Ort der Subjektivität stellt faktisch auch die Garantie dafür dar, dass sich der Dialog um die Geschichte mit den Ideen von Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung verbindet. Nur da, wo es ein Subjekt gibt, kann es auch die Gefahr der Freiheit und der Verantwortung geben. Wo es kein Subjekt gibt, das denkt, agiert und entscheidet – und dabei ein Risiko eingeht – da ist der Ort der Ideologie.
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D IE S UBJEKTIVITÄT Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich die zeitgenössische Philosophie – vor allem die Französische – in wachsendem Maße mit dem wesentlichen Element des Unpersönlichen, des Äußeren, der Alterität auseinandergesetzt. Von den foucaultschen Betrachtungen über das Äußere aus bis hin zum Begriff des „Animalischen“ bei Kojeve, des „Neutralen“ bei Benveniste, zum levinasschen „Il y a“ oder dem deleuzeschen Begriff eines „organlosen Körpers“, hat die zeitgenössische Philosophie – sicherlich die erstarrten dialogischen Mechanismen der Sozialwissenschaften sprengend – versucht, einem neuen Ort, in dem das Subjekt der Kontemporaneität gedacht werden kann, Form zu verleihen, sei dieses nun als postmodernes oder schlicht als post-post-modernes Subjekt erkennbar. Das Subjekt der Kontemporaneität ist ein Subjekt, das nur von diesem „Draußen-Sein“, von diesem „dem-Anderen-Gehör-zu-schenken ausgehend“, existieren kann. Foucault selbst weist uns darauf hin: „Es ist ein Es ohne Gesicht und ohne Blick, es kann nicht sehen, wenn nicht durch die Sprache eines Anderen, den es selbst in die Ordnung der eigenen Nacht einfügt“.1 Dies ist also die substanzielle Dislokation des Subjekts der Kontemporaneität: Es sucht sich in den geäußerten Formulierungen und Worten, die, von einem Anderen ausgehend, gesprochen werden. Zurück in diese Konstellation ungelöster Identitäten scheint uns auch das Gedenken an den Holocaust und dessen grundlegende Erfahrung zu führen. Die einem Initiationsritualismus folgenden, zum Durchqueren der Gedenkräume gerufenen Subjekte werden unablässig in diese Differenzierung der Präsenz einer Identität hineingerissen, die den Raum physisch durchquert und vollkommen in die Anerkennung eines Anderen vertieft ist, der zwar präsent ist, jedoch in Form einer Abwesenheit. Das Paradoxon eines solchen Konstrukts ist gerade Foucault selbst nicht entgangen: Und vielleicht ist es wieder einmal er, der – im Versuch, die Frage über die „Äußerlichkeit einer Sphäre“ zu beantworten, „die auch aus sich selbst heraustreten kann, um sich auf jene der Anderen zu beziehen“ – auf Nietzsches Begriff der „Kraft“ zurückgreift und uns damit einen der ermutigendsten und perspektivreichsten Aspekte seiner Analysen der Macht schenkt.
1
„Das Denken des Außen“, in: Foucault, Schriften zur Literatur, S. 208-11.
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Man muss die Äußerlichkeit und das Außen unterscheiden. Die Äußerlichkeit ist noch eine Form, wie in der Archäologie des Wissens, sie besteht sogar aus zwei aneinander wechselseitig äußerlichen Formen, da das Wissen aus diesen beiden Milieus gebildet ist, dem Licht und der Sprache, Sehen und Sprechen. Aber das Außen betrifft die Kraft: Wenn die Kraft stets in Beziehung zu anderen Kräften steht, verweisen die Kräfte notwendig auf ein irreduzibles Außen, das nicht einmal mehr eine Form besitzt, das aus unzerlegbaren Abständen besteht, über die eine Kraft eine andere beeinflusst oder von ihr beeinflusst wird. Eine Kraft überträgt sich stets von Außen auf andere Kräfte oder erfährt von diesen eine variable Einwirkung, die nur auf diese Entfernung oder innerhalb jenes Verhältnisses existiert. 2
Dieser Ort, dieses Kraftfeld stellt die Herausforderung der Kontemporaneität dar, die Kraft der Welt da draußen zu akzeptieren. Es geht darum, über den Doppelbegriff der Bio-Ethik-Politik der Trennung zwischen zoe und bios hinauszudenken: Es ist die lebende Person, die Verantwortung trägt für jenen Ort der Kräfte. Die lebende Person, die Subjektivität stellt die Möglichkeit der Verwirklichung von Gerechtigkeit und Ethizität im historischen Präsens dar. Das zeitgenössische Subjekt – als lebende Person und Bürger – muss in der Lage sein, für dieses Feld aus Kräften, Differenzen und Alteritäten Sorge zu tragen. Unsere holocaustischen Durchquerungen tragen zur Definition dieses neuen Paradigmas einer Subjektivität im Zentrum der Welt da draußen bei, als Alterität und Differenzialität. Hinter diesem prekären Spazieren, über den von mir stets fernen Anderen Rechenschaft ablegend, verbirgt sich der Sinn der Memorialisierung des Holocausts in der heutigen Welt. Es handelt sich um die Rekomposition des Subjekts, nicht als Identität, sondern als Verantwortung und Dialog mit dem Anderen.
2
Gilles Deleuze, Foucault Frankfurt a/M: Suhrkamp 1987, S. 120.
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