Die Blätter für deutsche und internationale Politik [2 / 2023, 2 ed.] 9783896910769


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Die Blätter für deutsche und internationale Politik [2 / 2023, 2 ed.]
 9783896910769

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2’23

Blätter

2’23

Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €

Blätter für deutsche und internationale Politik

Libertär und autoritär: Die Revolte der Querdenker Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey

Für neue Ein-, Durchund Lichtblicke.

2’23

Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €

Libertär und autoritär: Die Revolte der Querdenker Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey

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Ein Jahr Ukrainekrieg Hauswedell, Jikhareva, Naumann, Schäfer, Siegert, von Lucke Lützerath und die Letzte Generation Brand, Celikates, Rucht, Wissen

Reichsbürger global Thomas Greven Kosovo und Serbien: Vor der nächsten Eskalation? Vedran Dzihic Tunesien: Die kaltgestellte Revolution Sarah Mersch

Ein Jahr Ukrainekrieg Hauswedell, Jikhareva, Naumann, Schäfer, Siegert, von Lucke

Gesundheitssystem am Limit Ulrike Baureithel, Olga Staudacher Notbremsung im Artensterben Susanne Götze

Nur für kurze Zeit – auf blaetter.de

Lützerath und die Letzte Generation Brand, Celikates, Rucht, Wissen

Reichsbürger global Thomas Greven Kosovo und Serbien: Vor der nächsten Eskalation? Vedran Dzˇ ihic´ Tunesien: Die kaltgestellte Revolution Sarah Mersch Gesundheitssystem am Limit Ulrike Baureithel, Olga Staudacher Notbremsung im Artensterben Susanne Götze

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VERLAG WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT

Helmut Dahmer

Trotzki, die Psychoanalyse und die kannibalischen Regime 2022 – 277 Seiten – 30,00 € ISBN 978-3-89691-076-9

Autorinnen und Autoren 2/2023 Carolin Amlinger, geb. 1984 in Zell, Dr. phil., Literatursoziologin, wiss. Mitarbeiterin an der Universität Basel.

Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Ulrike Baureithel, geb. 1957 in Freiburg, Literaturwissenschaftlerin, freie Journalistin,„Freitag“-Mitbegründerin.

Sarah Mersch, geb. 1981 in Freiburg, Filmwissenschaftlerin, freie Korrespondentin in Tunis.

Ulrich Brand, geb. 1967 auf der Insel Mainau, Dr. phil., Professor für internationale Politik an der Universität Wien, Mitherausgeber der „Blätter“.

Oliver Nachtwey, geb. 1975 in Unna, Dr. phil., Wirtschaftswissenschaftler, Soziologe, Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel.

Achim Brunnengräber, geb. 1963 in Lorsch, Dr. phil. habil., Politikwissenschaftler an der FU Berlin.

Klaus Naumann, geb. 1949 in Bremen, Historiker und Politikwissenschaftler, Mitherausgeber der „Blätter“.

Robin Celikates, geb. 1977 in Konstanz, Dr. phil., Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie an der FU Berlin.

Dieter Rucht, geb. 1946 in Kempten, Dr. rer. pol., Professor für Soziologie an der FU Berlin, Senior Fellow am WZB.

Albert Denk, geb. 1983 in München, Dr. des., Sozialwissenschaftler an der FU Berlin.

WWW.DAMPFBOOT-VERLAG.DE

Vedran Džihic´, geb. 1976 in Prijedor/ Bosnien-Herzegowina, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter an der Universität Wien.

Kritik ist keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft

Susanne Götze, geb. 1980 in Berlin, Dr. phil., Historikerin, Buchautorin und Redakteurin im „Spiegel“-Hauptstadtbüro. Thomas Greven, geb. 1966 in Stolberg, Dr. phil., Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Corinna Hauswedell, geb. 1953 in Hamburg, Dr. phil., Mitherausgeberin des Friedensgutachtens, Leiterin von Conflict Analysis and Dialogue in Bonn (CoAD). Svenja Huck, geb. 1994 in Coburg, Historikerin, freie Journalistin.

Karl Marx

Jetzt abonnieren und weiter monatlich Wirtschaft anders denken oxiblog.de/oxi-abo

Anna Jikhareva, geb. 1986 in Moskau, Politikwissenschaftlerin, Reporterin bei der WoZ in Zürich. René Kreichauf, geb. 1987, PhD, Humangeograph und Stadtforscher, Postdoc an der Vrije Universiteit Brussel. Benet Lehmann, geb. 1997 in Hamburg, Historiker, Doktorand an der Universität Gießen.

Paul Schäfer, geb. 1949 in Mainz, Soziologe, bis 2013 Obmann der Linkspartei im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages, Publizist. Lucas Schwarz, geb. 1995 in Starnberg, Geograph an der FU Berlin. Jens Siegert, geb. 1960 in Salzgitter, Politikwissenschaftler, Publizist, lebt in Moskau. Olga Staudacher, geb. 1988 in Ravensburg, Dr. med., Assistenzärztin in der Pädiatrie, Gründungsmitglied der Initiative Berliner Kinderkliniken. Michael Strebel, geb. 1977 in Oberwil-Lieli/Schweiz, Dr. rer. soc., Lehrbeauftragter, Parlamentsmitarbeiter. Dörte Themann, geb. 1991 in Friesoythe, Politik- und Umweltwissenschaftlerin an der FU Berlin. Regina Viotto, geb. 1975 in Paderborn, Dr. jur., wiss. Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld. Markus Wissen, geb. 1965, Dr. phil., Politikwissenschaftler, Professor an der HWR Berlin, Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS. Fanny Zeise, geb. 1978 in Herdecke, Politikwissenschaftlerin, Referentin Arbeit, Produktion, Gewerkschaften der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS).

Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 68. Jahrgang Heft 2/2023 Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Peter Bofinger . Ulrich Brand Micha Brumlik . Dan Diner Jürgen Habermas . Detlef Hensche Rudolf Hickel . Claus Leggewie Ingeborg Maus . Klaus Naumann Jens Reich . Rainer Rilling Irene Runge . Saskia Sassen Karen Schönwälder . Friedrich Schorlemmer Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

INHALT 2’23

KOMMENTARE

5 Land ohne Führung: Das Schweigen des Kanzlers Albrecht von Lucke 9 Monumentale Verdrängung: Die neue Pro-Atom-Troika Achim Brunnengräber u.a. 13 Wie soll ein krankes System kranke Kinder heilen? Olga Staudacher 17 Krankenhäuser vor dem Aus: Lauterbachs Revolution Ulrike Baureithel 21 Montreal: Die Notbremse im großen Artensterben Susanne Götze 25 Kosovo und Serbien: Vor der nächsten Eskalation? Vedran Dzˇ ihic´

REDAKTION Anne Britt Arps Dr. Thomas Greven Albrecht von Lucke Annett Mängel Steffen Vogel ONLINE-REDAKTION Tessa Penzel BESTELLSERVICE Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] WEBSITE www.blaetter.de

Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023

29 Türkei: Gewerkschaften ohne Rechte Svenja Huck 33 Tunesien: Die kaltgestellte Revolution Sarah Mersch 37 Mindestlohn: Paradigmen wechsel in der EU? Regina Viotto 41 Schweiz: Volkssouveränität statt Verfassungsgericht Michael Strebel

ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

55 Ein Jahr russischer Angriffskrieg: Das Elend der linken Legenden Paul Schäfer 63 Ausgemustert, aber unverzichtbar: Pazifismus in Zeiten des Krieges Corinna Hauswedell 69 Realitätsschock Ukrainekrieg Wie die Neuaufstellung der Bundeswehr gelingen kann Klaus Naumann 77 Kindheit im Luftschutzbunker Das Leiden der ukrainischen Familien Anna Jikhareva 83 Putins Russland: Sieg der Apathie Jens Siegert 89 Lützerath als Fanal Ulrich Brand und Markus Wissen 94 Die Gratwanderung der Letzten Generation Dieter Rucht 99 Protest in der Klimakrise: Die Legitimität zivilen Ungehorsams Robin Celikates 107 Libertär und autoritär Wie das Ich auf Kosten der Gemeinschaft regiert Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey 119 Der Staat als Feind: Reichsbürger und Sovereign Citizens Thomas Greven

DEBATTE

45 Streiken fürs Gemein wohl: Lernen von den US-Gewerkschaften Fanny Zeise 49 Ukrainekrieg und Zeitenwende: Wider die Nationalisierung des Gedenkens Benet Lehmann BUCH DES MONATS

125 Die US-Linke und die Demokratische Partei Margit Mayer EXTRAS

53 124 128 128

Kurzgefasst Dokumente Zurückgeblättert Impressum und Autoren

Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023

Wolfgang Abendroth

Ernst Fraenkel

Paul Kennedy

Jan M. Piskorski

Elmar Altvater

Nancy Fraser

Navid Kermani

Samantha Power

Samir Amin

Norbert Frei

Ian Kershaw

Heribert Prantl

Katajun Amirpur

Thomas L. Friedman

Parag Khanna

Ulrich K. Preuß

Günther Anders

Erich Fromm

Michael T. Klare

Karin Priester

Franziska Augstein

Georg Fülberth

Naomi Klein

Avi Primor

Uri Avnery

James K. Galbraith

Alexander Kluge

Tariq Ramadan

Susanne Baer

Heinz Galinski

Jürgen Kocka

Uta Ranke-Heinemann

Patrick Bahners

Johan Galtung

Eugen Kogon

Jan Philipp Reemtsma

Egon Bahr

Timothy Garton Ash

Otto Köhler

Jens G. Reich

Etienne Balibar

Bettina Gaus

Walter Kreck

Helmut Ridder

Ekkehart Krippendorff

Rainer Rilling

Paul Krugman

Romani Rose

Adam Krzeminski

Rossana Rossandra

Erich Kuby

Werner Rügemer

Jürgen Kuczynski

Irene Runge

Charles A. Kupchan

Bertrand Russell

Ingrid Kurz-Scherf

Yoshikazu Sakamoto

In den »Blättern« schrieben bisher Wolf Graf Baudissin

Günter Gaus

Oskar Lafontaine

Saskia Sassen

Fritz Bauer

Heiner Geißler

Claus Leggewie

Albert Scharenberg

Yehuda Bauer

Susan George

Gideon Levy

Fritz W. Scharpf

Ulrich Beck

Sven Giegold

Hans Leyendecker

Hermann Scheer

Seyla Benhabib

Peter Glotz

Jutta Limbach

Robert Scholl

Homi K. Bhabha

Daniel J. Goldhagen

Birgit Mahnkopf

Karen Schönwälder

Norman Birnbaum

Helmut Gollwitzer

Peter Marcuse

Friedrich Schorlemmer

Ernst Bloch

André Gorz

Mohssen Massarrat

Harald Schumann

Norberto Bobbio

Glenn Greenwald

Ingeborg Maus

Gesine Schwan

E.-W. Böckenförde

Propst Heinrich Grüber

Bill McKibben

Dieter Senghaas

Thilo Bode

Jürgen Habermas

Ulrike Meinhof

Richard Sennett

Bärbel Bohley

Sebastian Haffner

Manfred Messerschmidt

Vandana Shiva

Heinrich Böll

Stuart Hall

Bascha Mika

Alfred Sohn-Rethel

Pierre Bourdieu

H. Hamm-Brücher

Pankaj Mishra

Kurt Sontheimer

Ulrich Brand

Heinrich Hannover

Robert Misik

Wole Soyinka

Karl D. Bredthauer

David Harvey

Hans Mommsen

Nicolas Stern

Micha Brumlik

Amira Hass

Wolfgang J. Mommsen

Joseph Stiglitz

Nicholas Carr

Christoph Hein

Albrecht Müller

Gerhard Stuby

Noam Chomsky

Friedhelm Hengsbach

Herfried Münkler

Emmanuel Todd

Daniela Dahn

Detlef Hensche

Adolf Muschg

Alain Touraine

Ralf Dahrendorf

Hartmut von Hentig

Gunnar Myrdal

Jürgen Trittin

György Dalos

Ulrich Herbert

Wolf-Dieter Narr

Hans-Jürgen Urban

Mike Davis

Seymour M. Hersh

Klaus Naumann

Gore Vidal

Alex Demirovic

Hermann Hesse

Antonio Negri

Immanuel Wallerstein

Frank Deppe

Rudolf Hickel

Oskar Negt

Franz Walter

Dan Diner

Eric Hobsbawm

Kurt Nelhiebel

Hans-Ulrich Wehler

Walter Dirks

Axel Honneth

Oswald v. Nell-Breuning

Ernst U. von Weizsäcker

Rudi Dutschke

Jörg Huffschmid

Rupert Neudeck

Harald Welzer

Daniel Ellsberg

Walter Jens

Martin Niemöller

Charlotte Wiedemann

Wolfgang Engler

Hans Joas

Bahman Nirumand

Rosemarie Will

Hans-M. Enzensberger

Tony Judt

Claus Offe

Naomi Wolf

Erhard Eppler

Lamya Kaddor

Reinhard Opitz

Jean Ziegler

Gøsta Esping-Andersen

Robert Kagan

Valentino Parlato

Moshe Zimmermann

Iring Fetscher

Petra Kelly

Volker Perthes

Moshe Zuckermann

Joschka Fischer

Robert M. W. Kempner

William Pfaff

Heiner Flassbeck

George F. Kennan

Thomas Piketty

Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023

...und viele andere.

KOMMENTARE

Albrecht von Lucke

Land ohne Führung: Das Schweigen des Kanzlers „Die bitterste Enttäuschung und der größte Rückschlag für die gesamte Politik war nach meiner Meinung der Rückschlag in der Frage der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft.“ So bilanzierte Konrad Adenauer 1966, ein Jahr vor seinem Tod, das in seinen Augen größte Scheitern seiner Karriere im Gespräch mit dem Journalisten und späteren „Blätter“-Mitherausgeber Günter Gaus.1 Und in der Tat: Wie recht der erste Kanzler der Republik damit hatte, erleben wir dieser Tage. Gäbe es heute tatsächlich eine funktionierende Europäische Verteidigungsgemeinschaft, gäbe es auch ein konzertiertes Vorgehen der Europäer – und damit kein stets verspätetes Agieren speziell der deutschen Bundesregierung, genauer: des Kanzlers, bei der Unterstützung der Ukraine. „Wie können wir als Europäerinnen und Europäer, als Europäische Union in einer zunehmend multipolaren Welt als unabhängige Akteure bestehen?“, stellt Olaf Scholz selbst in seinem jüngst im US-amerikanischen Strategiemagazin „Foreign Affairs“ erschienenen Artikel „Die globale Zeitenwende“ die weit über den Ukrainekrieg hinausgehende zentrale Frage.2 Und er gibt darin für sich und seine Regierung folgende Antwort: „Deshalb strebt Deutschland danach, ein Garant europäischer Sicherheit zu werden, so wie es unsere Verbündeten von uns erwarten, ein 1 Günter Gaus im Gespräch mit Konrad Adenauer, ZDF, 4.1.1966, www.rbb-online.de/zurperson (auch mit schriftlicher Fassung). 2 Olaf Scholz, Die globale Zeitenwende. Wie ein neuer Kalter Krieg in einer multipolaren Ära vermieden werden kann, www.foreignaffairs. com, 5.12.2022.

Brückenbauer innerhalb der Europäischen Union.“ Vergleicht man diesen Anspruch mit dem tatsächlichen Agieren des Kanzlers, kommt man zu einem fatalen Ergebnis: Von einem Brückenbauer innerhalb der EU kann keine Rede sein. Bald ein Jahr nach Beginn des Krieges ist das Verhältnis zu den Osteuropäern schwer beschädigt und auch um die so wichtige deutsch-französische Freundschaft ist es, 60 Jahre nach Abschluss des Élysée-Vertrages, denkbar schlecht bestellt. Und auch Scholz‘ Anspruch, ein Garant europäischer Sicherheit zu werden, wurde durch sein konkretes Verhalten wiederholt konterkariert. „Es ist an der Zeit, dass wir mehr Verantwortung übernehmen und Führung zeigen, um diese Ziele zu erreichen“, heißt es ebenfalls im neuesten SPD-Strategiepapier.3 Gemessen daran ist speziell der Kanzler bisher gescheitert. Im Kern geht es seit dem Beginn des russischen Eroberungskrieges am 24. Februar um die Überlebensfähigkeit der Ukraine. Die deutsche Politik leidet dabei unter einem eklatanten Kommunikations- und Erklärungsdefizit des Kanzlers. Seit seiner auch international beachteten Zeitenwenderede erweckte Scholz‘ anhaltendes Schweigen den Eindruck, dass er nicht bereit ist, die von ihm versprochene Führungsrolle zu übernehmen. Dabei leistet Deutschland durchaus eine massive Unterstützung der Ukraine, militärisch wie zivil. Doch bis heute ist weitgehend unklar, was die wirkliche 3 SPD stellt Außen- und Sicherheitspolitik neu auf, www.presse-augsburg.de, 21.1.2023.

Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023

6 Kommentare strategische Ausrichtung der Scholzschen Politik ist. Will der Kanzler nur dafür sorgen, dass die Ukraine sich verteidigen kann? Oder will er es ihr ermöglichen, auch von Russland okkupierte Gebiete zurückzuerobern? Um tatsächlich überzeugend zu sein, bedürfte es zunächst einer klaren Einschätzung der strategischen Lage, um davon ausgehend in einem zweiten Schritt zu bestimmen, welche Waffenlieferungen in welchem Umfang erforderlich sind – und auch geleistet werden können, ohne dass sich Deutschland selbst verwundbar macht. Vor Russlands Frühjahrsoffensive Tatsächlich ist die Lage am Boden dramatisch. Russland hat seine aktuelle Mobilmachung weitgehend abgeschlossen, Wladimir Putin stehen nun wieder enorme Mengen an neuen Soldaten zur Verfügung, die er ohne Rücksicht auf Verluste in den Kampf zu schicken bereit ist. Mit Beginn des Frühjahrs droht daher nach allgemeiner Einschätzung eine große russische Offensive, während der ukrainischen Armee zunehmend die Munition ausgeht. Die Zeit drängt also. Vor diesem Hintergrund ist es dringend erforderlich, die für die Ukraine bestmögliche Verteidigung zu organisieren. Doch seitens der Bundesregierung war ein entsprechendes Handeln lange nur bedingt zu erkennen. Zugespitzt formuliert musste man den Eindruck gewinnen, dass der Kanzler Dimension und Dramatik der von ihm selbst ausgerufenen Zeitenwende offenbar selbst nicht richtig begriffen hatte. Denn Olaf Scholz praktizierte stets viel zu lange das Gegenteil des Gebotenen, nämlich äußerste Zurückhaltung. Nichts hat dies deutlicher gezeigt als die verheerende Leopard-Debatte. Mit der langen Nicht-Lieferung dieser Kampfpanzer stand die Fähigkeit der Ukraine zur Verteidigung des verbliebenen eigenen Territoriums in Frage,

Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023

zumal da jetzt ja noch die Ausbildung der ukrainischen Soldaten erforderlich ist – und all das zu einem Zeitpunkt, da es ob einer möglichen massiven russischen Übermacht vielleicht auf wenige Tage ankommt. Insofern ist vor allem eines unerklärlich, warum nämlich seitens der gesamten EU, aber nicht zuletzt seitens der selbsterklärten Führungsmacht Deutschland nicht bereits viel früher ein möglicher Einsatz von Kampfpanzern geprüft wurde. Ja, mehr noch: Da der von Berlin bereits gelieferte Schützenpanzer Marder gerade in der Offensive nur im Verbund mit einem Kampfpanzer optimal agiert – während letzterer die gegnerischen Panzer bekämpft, bringt der leichtere Marder die Soldaten an die Frontlinie –, warf das Zurückhalten des Leopard die Frage auf, ob die Bundesregierung die Ukraine bei der Rückeroberung ihrer verlorenen Gebiete überhaupt unterstützen will. Das aber konterkarierte das Versprechen des Kanzlers, die Ukraine mit allem zu versorgen, was erforderlich ist. Oder, wie es im „Foreign Affairs“-Artikel heißt: „Die Welt darf nicht zulassen, dass Putin seinen Willen durchsetzt. Wir müssen Russlands revanchistischem Imperialismus Einhalt gebieten.“ Völlig zu Recht stellt der Kanzler bei seinem Agieren stets die Gefahr einer möglichen gar atomaren Eskalation in Rechnung. Allerdings zeigt der Fall von Cherson, dass selbst die Rückeroberung eines von Russland bereits annektierten Gebiets durch die Ukraine nicht dazu geführt hat – trotz der wiederholten Ankündigung Putins. Das gleiche gilt für die Lieferung von Mardern und anderen Panzern wie dem Gepard durch Deutschland. Insofern spricht sehr wenig dafür, dass es sich nach der Leopard-Lieferung anders verhält. Im Gegenteil: Laut einem Bericht des langjährigen Russland-Korrespondenten der „Newsweek“ gibt es schon seit Anfang März 2022 Gespräche zwischen den USA und China, um

eine Eskalation des Krieges zu vermeiden. Dabei soll Peking mehrfach – und entscheidend – mäßigend auf Russland eingewirkt haben.4 Dennoch ist auch Scholz‘ zweite Leitlinie grundsätzlich richtig, nämlich stets nur in Absprache mit den Alliierten, insbesondere den Amerikanern, zu operieren. Indem der Bundeskanzler die Lieferung des Leopard davon abhängig machte, dass die USA ihren Kampfpanzer Abrams liefern, ging er voll ins Risiko – am Ende mit Erfolg. Allerdings, und das ist die Schattenseite seines Agierens, hat Scholz durch sein anhaltendes Zögern die öffentliche Meinung speziell in Ost-Europa massiv gegen sich aufgebracht. Gerade durch das Verschleppen der Entscheidung entstand der Eindruck, dass letztlich alles von Deutschland, abhängt. Sprich: Der Kanzler hat kommunikativ das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte. Hätte Scholz am Ende nicht doch der Leopard-Lieferung zugestimmt, wäre Deutschland als der Hauptverantwortliche für eine mögliche Niederlage der Ukraine angesehen worden. Das dürfte am Ende den entscheidenden Ausschlag für die Leopard-Lieferung gegeben haben. Wofür steht Olaf Scholz? Denn nach wie vor ist ein langer Abnutzungskrieg wahrscheinlich, der zunehmend auch in den die Ukraine unterstützenden Staaten entschieden wird. Wie steht es um die Solidarität, lautet die Frage. Welches Regime nutzt sich schneller ab? Es geht also auch um die Resilienz der Systeme: Ist der demokratische Westen oder der autoritäre Osten durchhaltefähiger? Putin jedenfalls hat sein Maximalziel, die Eroberung der gesamten Ukraine, bis heute nicht aufgegeben. Im Gegenteil: Der Regimewechsel in 4 Owen Matthews, The red line: Biden and Xi’s secret Ukraine talks revealed, www.spectator. co.uk, 26.11.2022.

Kommentare

7

Kiew stehe immer noch auf der Agenda, erklärte er jüngst in einer Rede: „Das Land, die Regierung wird der Armee alles, aber auch alles geben, wonach sie fragt.“5 Damit stellt sich auch die Frage: Wieviel Kapital sind die westlichen Länder ihrerseits bereit, für die Unterstützung der Ukraine aufzuwenden? Und für wie lange? Fest steht: In der Sache steht und fällt der Ausgang des Ukrainekrieges weiter mit der Unterstützung der US-Amerikaner. Ohne die Intervention der Vereinigten Staaten würde es die Ukraine heute nicht mehr geben. Aber auch die Fähigkeit und Bereitschaft der USA zur Unterstützung der Ukraine ist endlich. Längst wird daher von einigen Militär-Experten gefordert, Europa und damit auch Deutschland darauf vorzubereiten, dass es einer viel weitergehenden Unterstützung für die Ukraine bedarf. Von der Notwendigkeit einer „Kriegswirtschaft“ und dem massiven Hochfahren der Rüstungsindustrie ist bereits die Rede, um der Ukraine die erforderliche Munition und Bewaffnung zur Verfügung zu stellen.6 Und das aus gutem Grund: Denn nur einer zur Verteidigung fähigen Ukraine kann das letztlich Entscheidende gelingen, nämlich Putin die Bereitschaft zu Verhandlungen abzutrotzen. All das wird auch für die deutsche Bevölkerung Wohlstandseinbußen bedeuten. Worauf es daher jetzt vor allem ankommt, ist die Führungskraft einer Regierung, die dies der Bevölkerung erklärt und offensiv für ihre Politik kämpft. Doch hier liegt das eigentliche Kardinalproblem dieses Kanzlers: nämlich die in weiten Bereichen offene Frage, wofür Olaf Scholz eigentlich wirklich inhaltlich steht. „Der gegenwärtige Bundeskanzler [...] denkt an nichts 5 Alfred Hackensberger, Moskaus Masterplan für den Sieg, in: „Die Welt, 20.1.2023. 6 So etwa der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehr-Verbandes, Oberst André Wüstner, in der ZDF-Sendung Maybrit Illner am 19.1.2023.

Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023

8 Kommentare anderes als an die nächste zu gewinnende Wahl“, urteilte vor 30 Jahren der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis vernichtend (und nicht nur gerecht) über Helmut Kohl.7 In Angela Merkel fand Kohl bekanntlich eine würdige Nachfolgerin, der es mehr noch als ihrem politischen Ziehvater stets in erster Linie um den Machterhalt ging. Heute hingegen muss man den Eindruck gewinnen, dass auch Olaf Scholz nicht primär für ein klares inhaltliches, sondern vor allem für ein zeitliches Ziel steht, nämlich eine möglichst lange SPD-Kanzlerschaft. Scholz will vor allem eines, nicht als ein Kanzler mit nur einer Legislaturperiode enden, so wie Ludwig Erhard oder Kurt Georg Kiesinger, sondern wie seine jeweils wiedergewählten sozialdemokratischen Vorgänger Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder. Von Beginn an hat er daher ein sozialdemokratisch regiertes Jahrzehnt als sein Ziel ausgegeben. „Diese Koalition bedeutet Zukunft für unser Land“, sagte Scholz denkbar inhaltsleer zur Einführung der Regierung im Dezember 2021. „Wir wollen die Zwanziger Jahre prägen“, so der frisch gekürte Kanzler weiter, ohne aber die konkreten Ziele seiner Politik seither genauer zu bestimmen. Für die Inhalte stehen bisher vor allem andere: die Grünen für die ökologische Transformation und die FDP fatalerweise dezidiert für deren Verhinderung, wie sich immer mehr zeigt. Der Kanzler hingegen steht auch hier allzu oft in der ominösen Mitte und schweigt, wenn er nicht wie unlängst auf den letzten Drücker ein inhaltlich wenig begründetes Machtwort spricht.8 Insofern ist Scholz‘ Schweigen in der Ukraine-Politik auch das Symptom eines noch größeren Problems. Denn 7 „Es fehlt an politischer Führung.“ Gespräch mit Wilhelm Hennis über Parteienentwicklung und -verdrossenheit, in: „Gewerkschaftliche Monatshefte“, 11/1992, S. 726-734. 8 Albrecht von Lucke, Weltpolitik auf Provinzniveau: Der Ampel-Ausfall nach Niedersachsen, in: „Blätter“, 11/2022, S. 5-8.

Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023

noch weniger als die Unterstützung der Ukraine kann eine Jahrhundertaufgabe wie die ökologische Transformation der Industriegesellschaft durch bloßes Schweigen des Kanzlers gelingen. „Die Perversion des Denkens über Politik in der Bundesrepublik liegt gegenwärtig darin, dass die politische Klasse im Grunde gar nicht führen will, sondern akzeptiert sein will. Sie will im Prinzip nur Wahlen gewinnen. [...] Sie meint so viele verschiedene Wählerinteressen, -meinungen und angebliche -bedürfnisse vertreten zu müssen, dass darüber die große Linie vollkommen verschwimmt“, so noch einmal der Großkritiker Wilhelm Hennis. Bisher hat auch Olaf Scholz noch nicht den Nachweis erbracht, dass er etwas anderes als das von Hennis Beschriebene im Schilde führt. Deshalb droht wie schon im letzten auch in diesem so entscheidenden Jahr die Politik der hoch zerstrittenen Ampelkoalition mehr von den jeweiligen Umfragewerten vor den kommenden vier Landtagswahlen bestimmt zu werden als von den tatsächlichen Erforderlichkeiten. Und genau das ist verheerend. Doch immerhin wissen wir nun, ein Jahr nach Beginn des Krieges, eines: Ob die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht oder jetzt Boris Pistorius heißt, der Ukrainekrieg hängt in Deutschland bis auf Weiteres an Olaf Scholz, der Krieg bleibt Chefsache – im Schlechten wie im Guten. Auf den Kanzler kommt es also wieder an, wie schon seit Konrad Adenauer. Bisher war aber speziell bei diesem Kanzler genau das das Problem. Dabei hat Olaf Scholz auch mit einem letzten Punkt in der „Foreign Affairs“ recht: „Die Zeitenwende geht über den Krieg in der Ukraine und das Thema der europäischen Sicherheit hinaus.“ Man kann nur hoffen, dass der Kanzler jetzt endlich damit anfängt, diese Zeitenwende in ihrer ganzen Dimension zu definieren und dann auch in die Tat umzusetzen. Andernfalls stünden dem Land – und der EU – drei verlorene Jahre bevor.



Kommentare

9

A. Brunnengräber, A. Denk, L. Schwarz und D. Themann

Monumentale Verdrängung: Die neue Pro-Atom-Troika Allen Warnungen vor möglichen Energie-Blackouts zum Trotz scheint die Bundesrepublik gut durch diesen bislang ausgesprochen milden Winter zu kommen. Doch damit ist die aktuelle Pro-Atom-Kampagne nicht beendet, im Gegenteil: Ganz offensichtlich soll die anhaltende Debatte um eine Verlängerung der AKW-Nutzung nur der Einstieg in eine neue Kernkraft-Ära sein. So fordert FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai – ganz im Einklang mit der CDU/CSU – ein „ideologiefreies, realitätsnahes und technologieoffenes Konzept“, das eine Laufzeit über 2023 hinaus avisiert; und die AfD vertritt in ihrer „Resolution zur Kernenergie“ sogar die Meinung, dass moderne Kraftwerke nicht nur die Natur- und Artenvielfalt schützen, sondern ressourcenschonend sind, unabhängig von Importen machen und nahezu CO2-neutral betrieben werden können. Dieser bemerkenswerte Schulterschluss zwischen Liberalen, Konservativen und Rechtsextremen findet nicht zum ersten Mal statt; erinnert sei etwa an die politische Debatte um das Tempolimit oder eine Vermögenssteuer. Auffällig diesmal: Jetzt werden von der neuen Pro-Atom-Troika dezidiert die Grünen – und zwar auch vom eigenen Koalitionspartner FDP – in die Zange genommen, weil „Atomkraft? Nein danke“ gleichermaßen zur grünen Gründungsgeschichte wie zu ihrer Grundüberzeugung gehört. Für den fortgesetzten AKW-Betrieb führen FDP, Union und AfD vor allem zwei Argumente ins Feld: erstens die Versorgungssicherheit, die durch den russischen Angriffskrieg und die Be-

endigung der Gasversorgung gefährdet wird, und zweitens die in Deutschland stagnierenden CO2-Emissionen, die den Klimazielen zuwiderlaufen. Wie nämlich der Think-Tank Agora Energiewende in seiner Energiemarktanalyse für das Jahr 2022 ausweist, hat der Ersatz von Erdgas durch die besonders emissionsintensiven Energieträger Kohle und Öl dem Erreichen der Klimaschutzziele einen Strich durch die Rechnung gemacht.1 Unterschlagen werden bei der parteiübergreifenden Atomeuphorie allerdings fünf entscheidende Argumente dagegen. Erstens wird von Atom-Propagandisten die dramatische Umweltschädlichkeit der Atomkraft bagatellisiert. Wenn etwa Lindner die Atomkraft gegenüber Kohlekraftwerken bevorzugt und damit auf Deutschlands CO2-Bilanz hinweist, unterschlägt er den nuklearen Produktionszyklus vom Uranabbau bis zur Endlagerung der hochradioaktiven Abfälle: Atomkraft ist nicht klimaneutral.2 Hinzu kommt der enorm energieintensive Transport entlang der gesamten Produktionskette. Deutschlands Bürger:innen sind vor allem die am Ende des Produktzyklus liegenden Castortransporte im Bewusstsein, die von zivilgesellschaftlichem Widerstand begleitet wurden. Dem vorausgegangen ist eine 1 Die Energiewende in Deutschland: Stand der Dinge 2022. Rückblick auf die wesentlichen Entwicklungen sowie Ausblick auf 2023, www.agora-energiewende.de, Analyse 1/2023. 2 Uwe Fritsche u.a., Treibhausgasemissionen und Vermeidungskosten der nuklearen, fossilen und erneuerbaren Strombereitstellung, Arbeitspapier Öko-Institut Freiburg, 2007.

Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023

10 Kommentare „Weltreise“ des Urans von den Abbaustätten über Fabriken für die Herstellung der Brennstäbe und Aufbereitungsanlagen bis zu den AKW und den Zwischenlagern. Über Umweltschäden beim Bau der Infrastruktur für das Endlager (Umverpackungsanlage, Eingangs- und Tiefenlager, Beton- und Stahlverbrauch) kann bereits spekuliert werden. Schwerwiegend kommen die massiven sozialen und ökologischen Schäden durch den Uranabbau in den Ländern des Globalen Südens (unter anderen Brasilien, Namibia, Kasachstan) und in Siedlungskolonien hinzu (unter anderen USA, Australien, Kanada). Dieser folgt einer „imperialen Lebensweise“3 und postkolonialen Logik der Ausbeutung, Naturzerstörung und des Umweltrassismus.4 Für in Deutschland erzeugten Atomstrom wurden zuvor indigene Völker vertrieben und CO2-speichernde Wälder brandgerodet.5 Biodiversität geht verloren und der Lebensraum von Menschen wie von Tieren wird durch stark kontaminierte Bergbaurückstände wie Abraum und Sickerwässer verseucht.6 Zweitens unterschlagen die drei Pro-AKW-Parteien, dass die Nutzung von Energie aus Kernspaltung massiv ausbeuterisch ist. Zum faktischen Ressourcenkolonialismus gehört neben der Vertreibung von Menschen auch, 3 Ulrich Brand und Markus Wissen, Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München 2017. 4 Traci Brynne Voyles, Wastelanding. Legacies of uranium mining in Navajo country, Minneapolis 2015; Ana María Isidoro Losada, Nuklearer Kolonialismus. Atommüll und die Persistenz quasi-kolonialer Logiken, in: Achim Brunnengräber (Hg.), Problemfalle Endlager. Gesellschaftliche Herausforderungen im Umgang mit Atommüll, Baden-Baden 2016, S. 313-336. 5 Tadavarthi Pushparaj Gandhi u.a., A critical review of uranium contamination in groundwater: Treatment and sludge disposal, in: „The Science of The Total Environment“, 15.6.2022. 6 Dale Dewar, Uranium Mining: Environmental and Human Health Effects, in: Jonathan Black-Branch und Dieter Fleck (Hg.), Nuclear Non-Proliferation in International Law – Volume IV, The Hague 2019, S. 229-235.

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dass indigene Völker ohne Aufklärung in den gesundheitsschädigenden und gefährlichen Uranabbau gezwungen wurden.7 Sozial- und Umweltstandards werden dabei zumeist nicht eingehalten: Das enorme Lohngefälle zwischen einem namibischen Minenarbeiter und einem RWE-Mitarbeiter im AKW Emsland ist nur ein Beispiel für die sozialen Ungerechtigkeiten innerhalb ein und derselben Wertschöpfungskette. Von Tschernobyl bis Fukushima Die gesundheitlichen Folgen sind massiv und langwierig. So wurde in einer Studie des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) das erhöhte Risiko einer Lungenkrebserkrankung durch Radon für Bergarbeiter nachgewiesen. Des Weiteren wird einer Vielzahl an nachfolgenden Generationen durch den angefallenen Atommüll ein Risiko übergeben, das laut Gesetzgeber für eine Million Jahre bestehen wird.8 Anzunehmen ist, dass eine ganze Reihe an Problemverkettungen auftreten wird; sie sind im Umgang mit hochradioaktiven Materialien nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Belastungen der Menschen in der Region wie der Arbeiter:innen im unmittelbaren Nahbereich der Entsorgungsarbeiten sind unvermeidbar. Dies belegen u.a. Untersuchungen9 aus dem Umfeld der Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague (Frankreich): Obwohl diese vom Betreiber als sicher dargestellt wird, stell7 Geordan Graetz, Uranium mining and First Peoples: the nuclear renaissance confronts historical legacies, in: „Journal of Cleaner Production“, 84/2014, S. 339-347. 8 Lucas Schwarz, Intergenerational Justice Starts Today. Recognizing Future Generations for Nuclear Waste Management, in: „TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis“, 3/2022, S. 37-43. 9 Jean-François Viel u.a., Incidence of leukaemia in young people around the La Hague nuclear waste reprocessing plant: a sensitivity analysis, in: „Statistics in Medicine“, 14 (21-22), 1995, S. 2459-2472.

ten Viel et al. eine Häufung von Leukämiefällen fest Drittens wird von den Parteispitzen ignoriert, dass die Technologie weiter hochriskant ist: Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (1986) wird damit begründet, dass es menschliches Versagen in einem AKW russischer Bauart war; in Fukushima (2011) kam es „nur“ infolge eines natürlichen Tsunami, mit dem nicht gerechnet wurde, zum Super-GAU. Das Ungewisse und Unvorhersehbare ist der Grund, weshalb die Menschen in unmittelbarer Umgebung eines AKW und weit darüber hinaus unter einem Damoklesschwert leben. Merz behauptet, die deutschen AKW gehörten zu den sichersten der Welt. Dabei suggeriert er eine Sicherheit, die immer im Verhältnis zu anderen AKW und deren Stand der Technik betrachtet werden muss – das ist jedoch keine Aussage über die absolute Sicherheit. In Deutschland beträgt das Durchschnittsalter der Kraftwerke, Stand 2022, 34 Jahre. Laut Atomgesetz müssen die AKW alle zehn Jahre eine sogenannte Periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) durchlaufen, die aber bei den drei verbliebenen Reaktoren (Laufzeit bis 15. April 2023) nun schon mehr als 13 Jahre zurückliegt. Insgesamt wurden bei den drei Reaktoren 407 meldepflichtige Ereignisse registriert, das heißt, sicherheitstechnisch relevante Ereignisse, die potenziell auch Strahlenaustritte umfassen. Im Übrigen gibt es weltweit keinen Versicherungsdienstleister für AKW.10 In Deutschland haften im Schadensfall die Kraftwerksbetreiber mit bis zu 2,5 Mrd. Euro. Alle darüber hinaus anfallenden Kosten übernimmt der Staat – und somit die Steuerzahler:innen. Viertens sind AKW, aber auch Zwischenlager oder Brennelementefabriken besonders exponiert und damit in hohem Maße geeignet, im Krieg als Gewaltmittel eingesetzt zu werden. Im 10 Ben Wealer u.a., Kernenergie und Klima, in: „Diskussionsbeiträge der Scientists for Future“, 2021, S. 9-98.

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Kriegsfall sind AKW von gleich doppelter strategischer Bedeutung, wie derzeit der Ukrainekrieg zeigt: Einerseits kann durch einen Angriff die Stromversorgung unterbrochen werden. Andererseits kann ein AKW auch direkt zum Angriffsziel werden. In beiden Fällen ist ein Super-GAU möglich. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat das in Europa vermeintlich Undenkbare zur möglichen Realität werden lassen, wenngleich das Völkerrecht – hier die Genfer Konvention, Zusatzprotokoll vom 12. August 1949, Art 56, Abs. 1 (1) –, vorsieht, dass solche Anlagen nicht angegriffen und schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung nicht riskiert werden dürfen. Derartige Angriffe auf AKW und die Infrastruktur können aber nicht nur von autokratischen Regimen ausgehen. Nicht minder gefährlich – und ungeachtet der derzeitigen Ruhe nicht zu vergessen – sind mögliche terroristische Anschläge, die alle Nuklearbauten zum Ziel haben können. Jahrhundertmüll ohne Endlager Und schließlich fünftens werden von den Befürworter:innen der Atomkraft die völlig ungelösten Probleme bei der Entsorgung unterschlagen. Bis heute ist auf der ganzen Welt noch kein Endlager für die hochradioaktiven Atomabfälle in Betrieb. In Deutschland wurde den Betreibern für die Betriebserlaubnis ihrer AKW sogar eine gesetzliche Nachweispflicht für ein Endlager auferlegt, wofür die Betreiber stets Gorleben instrumentalisierten. Doch nach über vier Jahrzehnten des zivilen Ungehorsams und der ehrenamtlichen Aufklärungsarbeit engagierter Bürger:innen wurde Gorleben schließlich aufgegeben, nachdem die Bundesgesellschaft für Endlagerung den Standort im Zwischenbericht Teilgebiete im September 2020 nach intensiven Überprüfungen als ungeeignet ausgewiesen hatte. Nach dem Standortauswahl-

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12 Kommentare gesetz (StandAG 2017) sollte eigentlich bis 2031 ein Standort für ein Endlager gefunden werden, doch nun soll sich die Suche bis ins Jahr 2068 ziehen. Folglich werden die Genehmigungen der obertägigen Zwischenlager auslaufen, lange bevor ein Endlager gebaut sein wird. Damit wird den Standortgemeinden der 16 Zwischenlager ein weit in die Zukunft reichendes Risiko überantwortet. Politisch wird dieses Problem mit Erzählungen über eine wissenschaftlich-technologische Revolution zu verharmlosen versucht: Neue Reaktortypen sollen die Atomabfälle angeblich recyceln können. Doch laut einer Studie des Öko-Instituts von 2022, die vom Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung in Auftrag gegeben wurde, ist weder deren Machbarkeit wissenschaftlich erwiesen noch könnte eine Recyclingtechnologie in den nächsten Jahrzehnten industrielle Reife erlangen. Auch würde dies ein Endlager nicht überflüssig machen. Insofern wird die Entsorgung letztlich mehr als ein Jahrhundert in Anspruch nehmen und sie ist genau wie die Nutzung mit erheblichen finanziellen, sozialen und ökologischen Ungewissheiten behaftet. Berücksichtigt man diese fünf entscheidenden Faktoren, erkennt man die wahren Gründe für den Rückgang der Atomkraft. Tatsächlich befindet sich der AKW-Bestand nicht nur in Deutschland, sondern weltweit längst auf dem absteigenden Ast. Mitte 2022 waren in 33 Ländern 411 AKW am Netz, vier weniger als 2021 und 27 weniger als 2002, dem Jahr mit dem Höchststand.11 Neubauvorhaben in Europa sind ein wirtschaftliches und politisches Desaster, vor allem für die Staaten, die bei AKW-Neubauten der Nuklearindustrie mit hohen Subventionen unter die Arme greifen: In Finnland (Olkiluoto 3), Frankreich (Flamanville)

oder Großbritannien (Hinkley Point C) hinkt die Fertigstellung dem Zeitplan um viele Jahre hinterher, die Kosten explodieren von niedrigen einstelligen auf zweistellige Milliardenbeträge. Folglich gehen – mit Ausnahme Chinas – mehr AKW vom Netz als neue in Betrieb. Allerdings muss dieser Trend, und hierin besteht die Gefahr für den Ausbau der erneuerbaren Energien, nicht anhalten. Sie besteht darin, dass Gelder in den alten AKW-Bestand und die Atomforschung fließen und nicht in die Erforschung und Entwicklung von nachhaltigen Energieformen. Vor allem Frankreich will seinen AKW-Bestand für die Zukunft nachrüsten, dafür sind erhebliche Finanzmittel erforderlich. Ohne staatliche Subventionen und billige Kredite sind AKW ein privatwirtschaftliches Risiko, weshalb insbesondere auch Paris daran interessiert war, dass im Rahmen der EU-Taxonomie die Atomkraft als nachhaltige Energiequelle eingestuft wurde.12 Doch Frankreich ist innerhalb der EU nicht das einzige Land, das weiterhin auf Atomkraft setzt. Auch Finnland, Schweden, die Niederlande und Belgien besitzen uralte Reaktoren, die bereits vierzig Jahre und länger am Netz sind – und zum Teil noch länger laufen sollen. Zu den desaströsen alten AKW-Nutzern will sich nun auch Polen mit dem Bau von mehreren neuen AKW gesellen. Dem Klimaschutz bringt das rein gar nichts; dafür werden stetig neue und globale Ungerechtigkeiten, Gefahren, Risiken und Ungewissheiten im Umgang mit den hochradioaktiven Abfällen erzeugt. Und dennoch ist auch in Deutschland der Ausstieg noch immer keine besiegelte Sache. „Atomkraft? Nein danke“ versus „Atomkraft? Ja bitte“ bleibt so bis auf weiteres ein hoch umkämpftes Terrain in der politischen Auseinandersetzung – dafür wird die neue Pro-Atom-Troika mit Sicherheit sorgen.

11 Mycle Schneider und Anthony Froggatt, The World Nuclear Industry Status Report 2022, www.eu.boell.org.

12 Anika Limbach, Strahlend „grüne“ Zukunft. Wie die EU die Energiewende sabotiert, in: „Blätter“, 3/2022, S. 93-98.

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Olga Staudacher

Wie soll ein krankes System kranke Kinder heilen? Wer gegenwärtig ärztliche Hilfe für seine Kinder sucht, trifft auf ein völlig überlastetes System. Nicht nur die Kinderarztpraxen sind oftmals überlaufen, auch die Kinderstationen in den Krankenhäusern arbeiten seit Jahren am Limit – das erlebe ich täglich bei meiner Arbeit in der Kinderstation der Berliner Charité. Warum sie nicht bei ihrer Kinderärztin waren, frage ich immer wieder die Eltern. Ihre Antwort: Sie haben keine, sind ganz frisch nach Berlin gezogen, und die Kinderarztpraxen nehmen keine neuen Patient:innen auf. Stattdessen haben die Eltern mit dem Kind sechs Stunden in der Notaufnahme gewartet, um dann von mir zu hören, dass es sich nur um eine einfache Erkältung handelt – keine Grippe, kein Corona, keine Lungenentzündung. Die Wartezeit wäre etwas kürzer gewesen, wenn die Eltern verstanden hätten, dass es in der Notaufnahme darauf ankommt, wie dringend die Versorgung ist und nicht, wer zuerst da war. Frustriert sprechen manche von unterlassener Hilfeleistung und drohen mit der Polizei. Ja, es ist schwer zu ertragen, wenn das eigene Kind krank ist und man das Gefühl hat, dass niemand hilft. Für mich als Ärztin ist es aber auch alles andere als einfach, meine Zeit mit Deeskalation zu verbringen, anstatt die schwer kranke Patientin im Nebenzimmer zu behandeln. Mich belastet es, niemandem gerecht werden zu können: nicht den Kindern, die sofort behandelt werden müssen, nicht den Eltern, die sich Sorgen machen und vor allem Rückversicherung brauchen, und nicht den eigenen Ansprüchen an die Behandlung der Patient:innen.

Übrigens auch nicht dem üblichen, sogenannten Manchester-Triage-System, das evidenzbasierte Zeiten festlegt, nach denen Patient:innen in der Rettungsstelle untersucht werden sollten. Es müsste viel passieren, damit sich all das ändert. Keine kleinen Erwachsenen Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sagt eine unserer Oberärztinnen gerne. Deshalb funktionieren die diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs) für Kinderkliniken noch schlechter als im Rest des Gesundheitssystems. Deswegen schreiben die Pädiatrien in Krankenhäusern überall in Deutschland rote Zahlen, stehen vor der Schließung. Als die DRGs etabliert wurden, waren die Zustände in den Krankenhäusern noch andere: Patient:innen wurden oft länger als nötig im Krankenhaus behalten, das sollte sich mit den DRGs ändern. Vergütet wurde fortan nicht mehr nach der Dauer des Aufenthalts, sondern nach der Ursache. Doch die besonderen Verhältnisse in der Kindermedizin fielen dabei unter den Tisch. Da wäre erstens die Saisonalität: Im Winter laufen Nasen, schmerzen Ohren und wüten Viren. Viel mehr Kinder als üblich benötigen eine stationäre Behandlung, es müssen Betten für sie bereitgehalten werden. Jahrelang standen in Kinderstationen in den Sommermonaten deshalb Betten leer. Doch da unbelegte Betten seit der DRG-Finanzierung nicht mehr vergütet werden, passten die Ökonomen in

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14 Kommentare den Geschäftsleitungen die Bettenkapazität an den Bedarf im Sommer an – viele der „Winterbetten“ wurden daher abgeschafft. Während im Jahr 2010 beispielsweise in Berlin noch fast 500 Klinikbetten für Kinder betrieben wurden, waren es 2020 nur noch 419, ein Rückgang von gut 15 Prozent. Zugleich aber nahm die Anzahl der Kinder und Jugendlichen in Berlin um 20 Prozent zu. Die Kliniken arbeiten nun bereits im Sommer an ihren Kapazitätsgrenzen, um sich zu finanzieren. Im Winter stehen sie regelmäßig vor dem Kollaps, müssen Kinder mitunter nach Mecklenburg-Vorpommern verlegt werden, weil keine näher gelegene Klinik noch über freie Betten verfügt. Zweitens: der „Casemix“. Das tägliche Brot der Kinderärzt:innen ist nicht lukrativ. Wir behandeln Kinder nicht deshalb mit intravenösen Antibiosen, weil ihre bakterielle Infektion besonders schwer ist, sondern weil eine orale Therapie nicht zuverlässig geschluckt wird – und dann aus einer relativ harmlosen Blasenentzündung eine schwere Nierenbeckenentzündung erwachsen kann. Während eine Bronchitis bei Erwachsenen meist unaufwändig behandelt werden kann, benötigen viele Kinder einige Tage lang zusätzlichen Sauerstoff, den sie nur in der Klinik bekommen können. Da vor allem Operationen mit kurzen Liegezeiten gut vergütet werden – wie Hüftprothesen oder Herzkatheteruntersuchungen, die nur bei einem ganz kleinen Teil unserer Patient:innen indiziert sind, können sich nur die wenigsten Pädiatrien über solche lukrativen Operationen querfinanzieren. Und tagesstationäre oder ambulante Behandlungen, die für die Kinderheilkunde relevant wären, lassen sich bislang nur schwer oder gar nicht abrechnen. Drittens: der Zeitaufwand. Selbst simple, alltägliche Tätigkeiten wie Blutabnahmen oder eine Untersuchung verlangen oft mehr Personal und sind im Zeitaufwand nicht mit der Erwachsenenmedizin zu vergleichen.

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Ich habe Zweijährige erlebt, die bei einer Blutabnahme von drei Menschen festgehalten werden mussten. Zudem ist auch die apparative Diagnostik bei Kindern oft teuer und aufwändig: Während Erwachsene mittels eines relativ kostengünstigen, sehr schnellen, aber strahlenintensiven CT untersucht werden, führen wir bei Kindern mit der gleichen Fragestellung ein langwieriges, teures MRT durch, um die Strahlenbelastung zu verringern. Hinzu kommt noch ein wesentlicher Aspekt: Die Behandlungen und Diagnosen müssen nicht nur den eigentlichen Patient:innen erklärt werden, sondern auch den beiden zugehörigen Sorgeberechtigten. Die wiederum machen mit ganz eigenen Bedenken, Bedürfnissen und Sorgen ihren Anspruch auf Information und Aufklärung geltend, denen wir viel zu oft nur unzureichend gerecht werden können. Nicht für Kinder gemacht Im Alltag meiner Kolleg:innen und mir spielt die eigentlich vorgesehene Mindest- oder Höchstliegezeit für eine Diagnose keine Rolle. Anders als fürs Pflegepersonal gibt es für Ärzt:innen keine Obergrenzen für die zu betreuenden Patient:innen, obwohl dies längst überfällig ist. Oft sind wir für 15 bis 20 Kinder am Tag verantwortlich. Morgens stehen wir vor dem Belegungsplan der jeweiligen Station und überlegen, welches dieser Kinder entlassen werden könnte, irgendwie. Noch bevor ein Kind die Klinik verlassen hat, haben wir das Bett schon an eines der Kinder vergeben, die in der Notaufnahme übernachten mussten. Und auch Kinder, die eigentlich auf die Intensivstation gehören, können dort aufgrund des Bettenmangels mitunter nicht behandelt werden. So fand ich mich im Zimmer einer frisch von der Intensivstation verlegten Patientin, der es offensichtlich nicht gutging. Ich hätte ihr gerne ein bestimmtes Medika-

ment verabreicht, unter Überwachung und in Intubationsbereitschaft, auf einer Intensivstation. Diese aber war voll, weshalb die Patientin ja auf meiner Station war. Ich stand also am Bett und vor der Wahl, den Eltern zu gestehen, dass ich ihr Kind gerade nur suboptimal behandeln kann, oder sie anzulügen und ihnen wenigstens das Gefühl von Sicherheit zu geben. Vor der Wahl also, ehrlich zu sein, oder den Eltern ihre Sorgen in einer Situation zu nehmen, die keiner von uns beeinflussen kann. Was hätten Sie sich von Ihrer Ärztin gewünscht? Am 2. Mai 2022 verkündete Gesundheitsminister Karl Lauterbach, dass eine Regierungskommission ein Konzept für eine verbesserte Finanzierung der Pädiatrie erarbeiten werde. Zwei Monate später stand ein erster Vorschlag, am 2. Dezember beschloss der Bundestag, zwischen 2023 und 2024 jeweils 300 Mio. Euro zusätzlich in die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen zu stecken. Ab 2025 soll dann ein zweisäuliges System in Kraft treten, eine Kombination aus Vorhaltekosten und – weiterhin – Fallpauschalen.1 Im gegenwärtigen politischen Kontext ist das eine rasante Geschwindigkeit für eine solche Veränderung. Und trotzdem kommt sie viel zu spät – und geht nicht weit genug: Bereits das dritte Jahr in Folge wurden in diesem Winter geplante Operationen für Kinder und Jugendliche abgesagt. Viele ambulante Kinderärzt:innen setzen zudem Vorsorgeuntersuchungen für Kinder über einem Jahr wieder aus. Die Rettungsstellen sind voll wie nie zuvor und die Betten nicht nur in Berlin und Brandenburg ausbelegt. Während das System offenkundig zusammenbricht, basieren beide neuen Finanzierungsmodelle auf einem alten Konzept, das sogar Karl Lauterbach bereits als ungeeignet befunden hat. Warum aber wird ein gescheiter1 Vgl. den Beitrag von Ulrike Baureithel in dieser Ausgabe.

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tes System weiterhin als Grundlage für die neue Finanzierung herangezogen? Gerade auch den neuen Herausforderungen, vor denen die ambulante und stationäre Gesundheitsversorgung angesichts des gesellschaftlichen Wandels stehen, wird diese nicht gerecht: Da wäre das sogenannte Overcrowding der Rettungsstellen und Kinderarztpraxen. Immer mehr Familien stellen sich mit leichten Erkrankungen vor, suchen nach Bestätigung und Rückversicherung. Vor einer Generation wäre deren Bedürfnis nach Aufklärung wahrscheinlich noch von Großeltern und Tanten geleistet worden. Zugleich versorgen wir immer mehr komplex erkrankte Kinder – eine Folge unseres eigenen medizinischen Fortschritts, aber auch der Immigration aus Gebieten ohne flächendeckende Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen oder Zugang zur Gesundheitsversorgung. Hinzu kommt, dass sich das Defizit bei den Betten durch den eklatanten Fachkräftemangel in der Pflege noch verschlimmert. Ein Blick über den Tellerrand ist nötig In der Pädiatrie macht sich verschärfend zudem bemerkbar, dass es bundesweit keine Ausbildung zur Kinderkrankenpflege mehr gibt. Wer pflegerisch explizit mit Kindern arbeiten möchte, muss in der Ausbildung zunächst drei Jahre lang Erwachsene waschen, betreuen und versorgen, um dann zu hoffen, in eine Kinderklinik wechseln zu können. Das schreckt viele eigentlich motivierte Auszubildende von vornherein ab – zulasten der kranken Kinder. Doch nicht nur das: Kinder sind wirklich keine kleinen Erwachsenen. Wer als Erwachsenenpfleger:in ausgebildet ist, hatte unter Umständen lediglich einen Praxiseinsatz in der Pädiatrie, kann Kinder also weder wickeln noch die spezifischen Medikamente bereit-

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16 Kommentare stellen oder die Geräte kindgerecht navigieren. Diese Entscheidung sollte also dringend wieder revidiert werden. Mit einem beneidenswerten Selbstvertrauen haben die aktuell Pflegenden in den Krankenhäusern in Berlin und NRW durchgesetzt, dass die Zahl der von ihnen betreuten Patient:innen klar begrenzt ist, und verhindern so Gefahrensituationen – verknappen damit aber auch Behandlungskapazitäten. Hinzu kommt im ambulanten Bereich ein in den kommenden Jahren massiv zunehmendes Problem: Viele Kinderarztpraxen finden nach der Berentung des Inhabers oder der Inhaberin keine Nachfolger. So gab es in Berlin Neu-Hohenschönhausen 2008 noch sechs niedergelassene Kinderärzt:innen, 2022 nur noch einen – der über den Jahreswechsel wegen Überlastung seines Teams seine Pforten schloss. Anstatt für 2200 Kinder ist er nun für die 8000 dort lebenden Kinder der einzig verfügbare Kinderarzt – mit allen damit verbundenen Problemen, wie einem viel zu früh ausgeschöpften Budget, weshalb seine Arbeit von den Krankenkassen nicht mehr ausreichend entlohnt wird.2 Dabei könnten wir diesen vielfältigen Herausforderungen mit einem Blick über den eigenen Tellerrand begegnen: So werden Vorsorgeuntersuchungen in vielen Ländern von gut ausgebildetem Pflegepersonal durchgeführt. In Skandinavien ist es schon seit Jahrzehnten üblich, Antibiotikatherapien ambulant zu verabreichen – kleine Kinder mit Blasenentzündungen dürfen dann zu Hause schlafen, statt wie bei uns sieben Tage im Krankenhaus verbringen zu müssen. Das entlastet nicht nur die Familien und schafft freie Betten, sondern reduziert auch den Anteil der Pflegenden, die im Schichtdienst arbeiten müssen. Auch aus der Pandemie hätten wir einige 2 Vgl. „Wir können nicht mehr!“ – Einzige Kinderarzt-Praxis in Neu-Hohenschönhausen ist völlig überlaufen, www.berliner-kurier.de, 2.12.2022.

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Neuerungen retten können. So schlagen etwa amerikanische Autor:innen eine Art telemedizinische Notaufnahme vor, in der Patient:innen zunächst digital von Fachpersonal eingeschätzt werden und sich im Idealfall nur mit wirklich akut behandlungsbedürftigen Erkrankungen in der „analogen“ Notaufnahme vorstellen. Alle anderen werden je nach Beschwerden zur Diagnostik in eine Tagesklinik oder zur Kontrolluntersuchung am nächsten freien Termin zum Hausarzt verwiesen. Nicht zuletzt könnte man auch viel von den Pflegenden lernen. So verbessern die vom Pflegepersonal durchgesetzten Pflegeobergrenzen nachweislich die Patient:innensicherheit. Doch dass auch Ärzt:innen keine unbegrenzte Anzahl an Kindern betreuen können, scheint zu sehr am Ego vieler Mediziner:innen zu kratzen. Dabei gäbe es – das lässt sich zumindest für die Kinderkliniken Berlins sagen – einen Überschuss an Bewerber:innen. Die Patient:innenversorgung wäre durch einen solchen Schlüssel keinesfalls gefährdet – man müsste lediglich mehr Personal einstellen. Die von Lauterbach angekündigte Reform der Krankenhausfinanzierung hätte einen Anlass geboten, ein wirklich neues System zu etablieren, einen anderen Weg möglich, vielleicht sogar attraktiv zu machen. Doch wie es derzeit aussieht, wird sich nicht viel ändern – jedenfalls solange sich kein grundsätzlicher Widerstand formiert. Als die Regierungskommission gebildet wurde, waren unsere Hoffnungen groß. Inzwischen aber sickert die Erkenntnis durch, dass, sollte es bei den bisherigen Vorschlägen bleiben, der späte Feierabend weiterhin damit beginnen wird, alle entlassenen und aufgenommenen Patient:innen des Tages Revue passieren zu lassen, und zum gleichen Resümee zu kommen: „Was wäre die Alternative gewesen? Es wird schon gut gehen.“ Und jedes Mal zu hoffen, dass man damit am Ende Recht behält.



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Ulrike Baureithel

Krankenhäuser vor dem Aus: Lauterbachs Revolution Dass das deutsche Gesundheitssystem schlechter ist als sein Ruf, dürfte inzwischen bis in den letzten Winkel der Republik vorgedrungen sein. Doch nur einem kleinen Kreis war bislang bekannt, dass es um die Kinderversorgung besonders schlecht steht. In den Fokus rückte diese erst, seit im November 2022 nicht nur Erwachsene, sondern vor allem der Nachwuchs von heftigen Atemwegsinfektionen betroffen war und sich Eltern die Augen rieben, weil plötzlich weder einfache Fiebersäfte noch Krankenhausbetten für ihre Jüngsten verfügbar waren. Dabei warnen Pädiater:innen schon jahrelang vor dem absehbaren Notstand. So noch vor einem Jahr Wolfgang Kölfen, Verbandssekretär der leitenden Kinderklinikärzte, der im „Deutschen Ärzteblatt“ beklagte, dass in den vergangenen zehn Jahren 30 Prozent der Betten in den deutschen Kinderkliniken verloren gegangen seien.1 Das Fiasko in den Kinderkliniken rückt ein Abrechnungssystem in den Blick, das schon längst hätte abgeschafft werden müssen: die Fallpauschalen (DRG). Für viele Häuser rechnen sich die Kinder- und Jugendabteilungen nicht mehr, weil die jungen Patient:innen – auch weil die Eltern darüber mitbestimmen – nicht so lange im Krankenhaus bleiben. „Liegt ein Patient kürzer im Krankenhaus, als die definierte Verweildauer im DRG vorsieht“, so Kölfen, „rutscht der Patient in die Grenzwertverweildauer.“ Das Krankenhaus erhalte dann statt bei-

spielsweise 2000 Euro nur 500 Euro. Einen weiteren Grund sieht Kölfen im Investitionsstau, weil die dafür verantwortlichen Länder ihrem Auftrag nicht nachkommen. Zudem führt die 2020 eingeführte generalistische Pflegeausbildung seiner Ansicht nach zu einem ausgeprägten Mangel an Kinderkrankenpfleger:innen. Wer mit Kindern arbeiten wolle, entscheide sich schon früh dafür und wolle nicht in die Erwachsenenpflege. Doch beim Gang durch die heutige Ausbildung, bei der die Pflegeschüler:innen durch alle Bereiche geschleust werden, bleiben viele hängen und brechen ab. Dabei sind Schätzungen zufolge zusätzlich 3000 Vollzeitkräfte in der Kinderkrankenpflege nötig. So stand Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) unter akutem Druck, als er auf die Idee verfiel, Pflegepersonal von den Normal- auf die Kinderstationen zu verlegen. Von „Inkompetenz im Ministerium“ sprach der Vorsitzende des Berufsverbands der Kinder und Jugendärzte, Jakob Maske, im „Deutschlandfunk“.2 Zumal auf den Stationen für Erwachsene ebenfalls Pflegepersonal fehlt. Zum großen Wurf holte Lauterbach Anfang Dezember aus, als er zusammen mit seiner nur aus Sachverständigen zusammengesetzten Expert:innenkommission sein Konzept zu einer großen Krankenhausreform vorstellte.3 Er wolle der „Überökonomisierung des Gesundheitssystems“ ein Ende setzen, versprach er, und die Kliniken wie-

1 Bei der Versorgung kranker Kinder darf es keine ökonomischen Zwänge geben, in: „Deutsches Ärzteblatt“, 8.12.2021.

2 „Bei Kinder- und Jugendärzten wurde extra stark gespart“, „Deutschlandfunk“, 5.12.2022. 3 Pressekonferenz am 6.12.2022.

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18 Kommentare der zu einem Teil der Daseinsvorsorge machen. Er verstieg sich sogar dazu, eine „Revolution“ anzukündigen, die das DRG-System überwinde, den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Medizin rücke und das Gesundheitssystem aus dem „Hamsterrad“ befreie, in dem es die vergangenen 20 Jahre gestrampelt habe. Der Gesundheitsminister stellte außerdem heraus, dass die Kommission ausschließlich aus Expert:innen zusammengesetzt sei und die üblichen Lobbyist:innen keinen Einfluss auf das Konzept gehabt hätten. Das allerdings steht infrage. Von einer »Revolution« weit entfernt Doch worin besteht nun diese „Revolution“? Sollte Lauterbach die lange von vielen Akteur:innen im Gesundheitssystem geforderte Abwicklung der Fallpauschalen tatsächlich auf den Weg gebracht haben? Sollte er damit den Krankenhäusern eine auskömmliche Finanzierung bereitstellen, die es erlaubt, dass sich Ärzteschaft und Pflegende wieder um die Hilfesuchenden kümmern, statt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie ihren Häusern möglichst viel Geld eintreiben? Fest steht: Von einer Überwindung oder gar von einem Ende der Fallpauschalen kann keine Rede sein. Bisher ist es gängige Praxis, dass die Kliniken pro Behandlungsfall nur eine bestimmte Summe abrechnen können – unabhängig davon, ob die Patient:innen länger als geplant in der Klinik bleiben müssen. Der Anreiz für die Klinikleitungen besteht somit darin, möglichst viele, möglichst lukrative, mit möglichst wenig Aufwand verbundene Behandlungen durchzuführen – etwa der insbesondere von privaten Kliniken angebotene Ersatz von Knie- oder Hüftgelenken –, unabhängig davon, ob diese medizinisch indiziert sind. Schwierigere Prozeduren

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oder Komplikationen, die lange Liegezeiten nach sich ziehen, drücken dagegen aufs Budget.4 Die Expert:innen schlagen nun vor, das System zu modifizieren, indem Kliniken nur noch 60 Prozent ihrer Haushaltsmittel über Fallpauschalen realisieren, während sie die restlichen 40 Prozent unabhängig von ihrer Leistung als Vorhaltepauschale erhalten. Schon jetzt werden jedoch die Mittel für die Pflege – immerhin 20 Prozent des Gesamtbudgets – nicht mehr über Fallpauschalen abgerechnet. Daher werden viele Krankenhäuser auch weiterhin darauf achten müssen, durch lukrative Behandlungen Gewinne einzufahren. Perspektivisch ausgenommen von dieser Regelung sind die Notfall-, Intensiv- und Kindermedizin sowie die Geburtshilfe. Sie sollen im umgekehrten Verhältnis von 40 zu 60 Prozent finanziert werden, weil sie ihre „Patientenströme“ weniger stark regulieren können. Ziel der Reform ist es explizit, „überflüssige“ Operationen unnötig zu machen – wobei die Kommission eine einschlägige Definition von „überflüssig“ schuldig bleibt. Zudem will sie mehr Patient:innen in die kostengünstigere tagesstationäre Versorgung lenken, was mit dem Begriff „Ambulantisierung“ umschrieben wird. Welche Folgen das haben könnte, skizziert Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz: Pflegekräfte würden dadurch zwar entlastet, indem die Behandlung von Patient:innen über Nacht unterbrochen werde. Das aber sei ein „lebensfremdes Hop-on-Hop-off-System“.5 Der ländliche Raum wird abgehängt Die Revolution findet sich dagegen auf einer anderen Ebene: Die deutsche, 4 Vgl. u.a. Kai Mosebach und Nadja Rakowitz, Fabrik Krankenhaus, in: „Blätter“, 9/2012, S. 19-22. 5 Warnung vor Hop-on-Hop-off-System, „Tagesschau“, 12.11.2022.

bisher in drei Versorgungsstufen gegliederte Kliniklandschaft – bestehend aus Grund-, Regel- und Maximalversorgung (beispielsweise in Unikliniken) – soll neu geordnet werden. Unterschieden werden sollen drei Level, die jeweils genau definierte Leistungen vorhalten. Level 1 umfasst kleinere Krankenhäuser vor Ort, die noch einmal aufgeteilt werden in Level 1n und 1i. Zu dieser Gruppe zählen immerhin 1600 der 1900 deutschen Krankenhäuser. Die 950 Kliniken der Gruppe 1n sollen weiterhin die Notfallversorgung übernehmen und Intensivbetten betreiben können. In den integriert ambulant-stationären Zentren, Level 1i genannt, werden nur zeitweise Ärzt:innen Dienst verrichten. Diese können, so die Vorstellung der Expert:innen, auch von besonders ausgebildetem Pflegepersonal geführt werden. Ein zu operierender Notfall oder die Versorgung eines akuten Schlaganfalls würde dort jedoch nicht mehr möglich sein – der Krankenwagen müsste also weitere Wege fahren. Diese Zentren werden auch nicht mehr über Fallpauschalen, sondern kostengünstigere Tagespauschalen finanziert. In Level 2 finden sich sogenannte regionale Versorgungszentren wieder, die untereinander ihre Leistungsschwerpunkte aushandeln. Das kann dazu führen, dass ein Krankenhaus sich auf Kardiologie spezialisiert, ein anderes auf orthopädische Eingriffe – was wiederum bedeuten wird, das Patient:innen längere Wege zurücklegen müssen. In den Ballungsgebieten schließlich konzentrieren sich mit umfassender Leistungspalette die Maximalversorger (Level 3). Stärker noch als bisher wird der ländliche Raum auf diese Weise von der qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung abgehängt. Absehbar ist, dass die angekündigten „zielgenauen Vorgaben“ zu erheblich mehr Verwaltungsaufwand führen werden. So müssen die Häuser alljähr-

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lich Leistungsstufen beantragen, die vom Medizinischen Dienst überprüft werden. Zudem werden viele Krankenhäuser auf der Strecke bleiben, entweder weil sie zu besseren Pflegeheimen degradiert werden oder, weil ihr Leistungsportfolio so schmal ist, dass die eigenständige Finanzierung unmöglich wird. Das ist allerdings auch das erklärte Ziel der Reform: Neben der Zentralisierung der Krankenhauslandschaft geht es auch um den Abbau von Krankenhausbetten. Davon gebe es, so die Klage der in der Kommission ohnehin überrepräsentierten Gesundheitsökonom:innen, in Deutschland zu viele: „Es wird nicht ohne Wandel gehen“, warnt etwa Boris Augurzky, mitverantwortlich für das jährliche Krankenhaus-Rating, das defizitäre Kliniken regelmäßig auf die Abschussliste setzt – ungeachtet der Versorgungssituation für die Bewohner:innen der jeweiligen Umgebung.6 Und Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat vorauseilend deutlich gemacht, dass kein Euro zusätzlich ins System fließen soll. Geburtshilfe und Kinderkliniken sind besonders bedroht Wohin die Reise geht, lässt sich anhand einer Liste des „Bündnisses Klinikrettung“ besichtigen.7 Seit dem Pandemiejahr 2020 haben bereits 40 Krankenhäuser ihre Tore geschlossen, allein 2022 sind elf Kliniken verschwunden oder haben Abteilungen geschlossen, wobei die Geburtshilfe und die Kinderkliniken besonders betroffen sind. Für 2023 stehen sogar 68 Krankenhausschließungen bzw. ihre Überführung in Zentralkliniken an. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen sind dabei Spitzen6 Auf der Pressekonferenz zur Vorstellung der Reform am 6.12.2022. 7 Klinikschließungen 2022: Krankenhausschließungen und Versorgungsengpässe, vgl. www.gemeingut.org.

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20 Kommentare reiter, gefolgt von Niedersachsen und Bayern. Es sind fast immer öffentliche, kirchliche oder von gemeinnützigen Trägern finanzierte Häuser, die in die roten Zahlen rutschen. 58 Prozent aller Kliniken, meldete das Krankenhausbarometer im Dezember 2022, beschreiben ihre wirtschaftliche Situation als unbefriedigend, lediglich sechs Prozent schätzen sie als gut ein gegenüber noch elf Prozent im Jahr zuvor.8 Eine unendliche Abwärtsspirale Nicht nur das Fallpauschalensystem und steigende Energiekosten, sondern vor allem die fehlenden oder unzureichenden Investitionszuschüsse bringen sie ins Straucheln. Hier rächt sich das föderale System, denn für Krankenhausbau und ihren Erhalt sind die Länder zuständig, die sich dem vielfach entziehen. Bis 2027 beträgt der durchschnittliche Investitionsbedarf jährlich rund zehn Mrd. Euro, doch 72 Prozent aller Häuser erklären sich als wenig oder überhaupt nicht investitionsfähig. Viele müssen immer höhere Anteile ihrer Betriebsmittel für Investitionsmaßnahmen einsetzen.9 Es ist eine unendliche Abwärtsspirale: Die Häuser haben kein Geld, um ihr Pflegepersonal vernünftig zu bezahlen und ausreichend einzustellen, das wiederum führt zu Bettenschließungen und dadurch zu sinkenden Einnahmen. Die vier großen Krankenhauskonzerne dagegen – Asklepios, Rhön, Helios und Sana – konnten 2021 fast über eine Milliarde Euro Gewinn abschöpfen. Es ist kaum zu vermuten, dass sie sich, wie Lauterbach prophezeit, von dieser Goldgrube zurückziehen werden, selbst wenn die Fallpauschalen reduziert werden. Doch so entsteht auch eine unheilvolle Allianz zwischen Ländern und Bund, wofür Baden-Württemberg und 8 Deutsches Krankenhausinstitut, hausbarometer 2022, S. 18. 9 Ebd. S. 29.

Kranken-

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Nordrhein-Westfalen Beispiele sind. Ausdrücklich lobte der Sozialdemokrat Lauterbach seinen Düsseldorfer Kollegen Karl-Josef Laumann (CDU) für dessen Engagement in Sachen Klinikschließungen. In ihm findet er ebenso einen Mitstreiter wie in Manfred Luch (Bündnis 90/Die Grünen), der in Stuttgart das Stilllegen von Kliniken betreibt. Kritischere Töne sind hingegen aus Brandenburg zu hören, wo Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher ein „großes Kliniksterben“ befürchtet. Derzeit verhandelt das Bundesgesundheitsministerium mit den Ländern: Bis zum Sommer soll der Entwurf für die Krankenhausreform stehen und noch in diesem Jahr verabschiedet werden.10 Widerstand in den Ländern dürfte insbesondere von den Landrät:innen kommen, für die ihre Krankenhäuser auch ein Infrastrukturmerkmal und Standortvorteil bedeuten. Es wäre zu wünschen, dass sich auf lokaler Ebene ganz neue Bündnisse entwickeln, um das drohende Kliniksterben aufzuhalten: zwischen den Beschäftigten, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, wie neuerdings in Gießen und Marburg an den privaten (!) Unikliniken, und den Menschen vor Ort, die „ihr“ Krankenhaus verteidigen. Neun Krankenhausinitiativen haben sich inzwischen gegen Lauterbachs vermeintliche Revolution positioniert und fordern11 unter anderem eine bedarfsgerechte Finanzierung der Kliniken und ein Gewinnverbot – und damit letztlich das konsequente Ende des Fallpauschalensystems, das Krankenhäuser, Gesundheitsbeschäftigte und Patient:innen überhaupt erst in diese fatale Situation gebracht hat. 10 Bund und Länder wollen Gesetzentwurf im Sommer vorlegen, www.aerzteblatt.de, 5.1.2023. 11 Analyse der Vorschläge der „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“, www.gemeingut. org; Neun Initiativen aus Krankenhäusern zu den Reformvorschlägen des Gesundheitsministeriums, Pressmitteilung, www.vdaeae.de, 5.1.2023.



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Susanne Götze

Montreal: Die Notbremse im großen Artensterben Ambitionierter könnte ein Ziel kaum sein: In nur acht Jahren soll der dramatische Verlust der planetaren Biodiversität gestoppt werden. Darauf haben sich Abgesandte von rund 200 Staaten am 19. Dezember vergangenen Jahres geeinigt, als sie auf der UN-Artenschutzkonferenz das Montrealer Abkommen beschlossen. Dessen Herzstück ist die Übereinkunft, 30 Prozent der globalen Landfläche und 30 Prozent der Meere bis 2030 unter Schutz zu stellen. Es ist die Notbremse mitten im großen Sterben: Etwa eine Million der geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten der Welt sind vom Aussterben bedroht. Schon das Wort Artensterben ist aber irreführend. Denn die Arten sterben nicht einfach aus, sondern werden weltweit systematisch ausgerottet – durch die industrielle Landwirtschaft, Abholzung, Bebauung, Fischerei oder Wilderer. Wer das „Sterben“ stoppen will, legt sich also mit mächtigen Interessengruppen an. Und ohne eine ökologische Transformation der Wirtschaft und unseres Konsumverhaltens wird es auch nicht gehen. Es braucht den Rückzug des Menschen und die Demut davor, was die Natur uns jeden Tag an „Systemleistungen“ schenkt: vom Bauholz über sauberes Wasser bis hin zu bestäubten Bäumen und fruchtbaren Böden. Der Mensch ist von der Natur abhängig – nicht umgekehrt. Die Umsetzung der großen Ziele aus dem neuen Artenschutzabkommen ist dabei ähnlich schwierig wie die Weltwirtschaft auf grüne Energie umzustellen und fossile Brennstoffe im Boden zu lassen. Es geht um eine ähnlich

große Transformation unserer Gesellschaften. Und trotzdem bekommt der Artenschutz nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit. Dabei ist das sechste Massensterben der Arten in der Geschichte des Lebens auf der Erde mindestens genauso dramatisch wie der Klimawandel. Für den Klimaschutz kleben sich Aktivisten auf die Straßen und demonstrieren weltweit Millionen Menschen. Allein zu den jährlichen UN-Klimakonferenzen reisen mittlerweile bis zu 40 000 Teilnehmende. Die Klimakrise ist endlich im Bewusstsein vieler Menschen angekommen, sie steht sogar für viele Politiker zumindest pro forma ganz oben auf der Agenda. Doch die andere, mindestens genauso bedrohliche Katastrophe planetaren Ausmaßes steht im Schatten all der Krisen, mit denen unsere Gesellschaften in den vergangenen Jahren fertig werden mussten. Auch auf der Konferenz in Montreal wurde das sichtbar: Dort waren nur rund 15 000 Teilnehmende und weitaus weniger Journalisten als zur jüngsten UN-Klimakonferenz angereist, und die Nachricht von einem neuen Abkommen ging schnell im Getöse der Fußball-WM unter. Alles schien wichtiger als die Rettung der Biodiversität. „In Deutschland bekommen wir das nicht wirklich mit, weil bei uns die größten Veränderungen in landwirtschaftlich bewirtschafteten Gebieten auftreten, also auf unseren Wiesen, Äckern und Weiden. Aber wer ist schon da draußen, wandert dort, macht Spaziergänge und sieht diesen massiven Verlust?“, kommentierte treffend die Biologin Katrin Böhning-Gaese.

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22 Kommentare Dass ein Großteil der Deutschen die Krise nicht wahrnimmt, macht sie aber nicht weniger dringlich. Zumindest in Montreal war eindrücklich zu spüren, wie dramatisch die Lage ist. Im dortigen Konferenzzentrum wussten die Diplomaten sehr genau, dass sie nicht nur über ein paar neue Nationalparks, sondern über ein fundamentales Umsteuern verhandeln. Auch deshalb gab es zum Abschluss, in der Nacht auf den 19. Dezember, einen echten Verhandlungsthriller, bei dem es, ähnlich wie bei UN-Klimaverhandlungen, vor allem ums Geld ging. Zwei Lager standen sich in einem zähen Kampf gegenüber: Während die EU hohe Standards beim Naturschutz einforderte, wollten Brasilien und afrikanische Länder sich ohne größere finanzielle Zusagen nicht bewegen. Eine Art Henne-Ei-Problem: Ohne Geld ist der Schutz von Gebieten nicht umsetzbar, viele Länder fürchten Verluste, etwa in der Landwirtschaft. Für mehr Artenschutz müssen sich aber Menschen und Unternehmen aus der Natur zurückziehen, sonst sind die Ziele nicht erreichbar. Die Europäer lehnten lange zusätzliche Hilfen ab – zumal die betroffenen Länder für den Artenschutz 100 Mrd. US-Dollar pro Jahr forderten. Daraufhin stellten sich Länder wie Brasilien quer, verwässerten zunehmend die Entwürfe oder blockierten die Gespräche. „Keine Ambition ohne Geld“, erklärten ihre Delegierten. Schließlich einigte man sich auf mindestens 20 Mrd. Dollar pro Jahr bis 2025 und bis 2030 auf mindestens 30 Mrd. Die Lücke zur eigentlich benötigten Summe ist immer noch groß. Manche europäischen Verhandler halten den Betrag dennoch für nicht einhaltbar. Trotz des Widerstandes einiger afrikanischer Staaten, die noch mehr Hilfen für den Naturschutz haben wollten, hob der chinesische Umweltminister Huang Runqiu schließlich den Hammer, rasselte die Dokumentennummern runter, rief eilig ins Plenum, dass er keinen Widerspruch sehe – und er-

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klärte das Abkommen über die biologische Vielfalt für angenommen. „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass wir konkrete Zahlen in dieses Abkommen bekommen. Das ist ein riesiger Erfolg“, sagte kurz nach dem Beschluss Bundesumweltministerin Steffi Lemke. Sie sei froh, dass es „angesichts schwerster geopolitischer Verwerfungen überhaupt zu einem Abkommen gekommen ist“. Ein »neues Paris«? Doch wie gut oder schlecht ist das Montrealer Übereinkommen wirklich? Geht es um Bewertungen für UN-Konferenzen, werden keine Noten vergeben, sondern man spricht in Fachkreisen gern von einem „neuen Paris“ oder einem „neuen Kopenhagen“. Denn diese beiden Klimakonferenzen – in Kopenhagen 2009 und in Paris 2015 – haben sich tief ins kollektive Gedächtnis der Vereinten Nationen eingeschrieben: Kopenhagen ist das große Trauma, dort scheiterte der Versuch eines Weltklimaabkommens, die Länder gingen ohne Einigung auseinander. Sechs kostbare Jahre verstrichen, bis man sich in Paris auf ein Abkommen einigte, das konkrete Temperaturziele benennt. Müsste man diese Messlatte an die UN-Artenschutzkonferenz anlegen, würde man wohl deutlich näher an Paris landen als an Kopenhagen. Trotz aller Unkenrufe schloss die Konferenz in Montreal mit einem Übereinkommen, schon damit hatten viele nicht gerechnet. Zudem waren viele Delegierte und Beobachter überrascht, dass es tatsächlich einige ehrgeizige Ziele ins Dokument schafften. So ist der Schutz von 30 Prozent der Land- und Meeresfläche unabdingbar, um das weltweite Artensterben aufzuhalten – das ist wissenschaftlich längst belegt. Ebenso wie beim Klimaschutz hat es aber Jahre gedauert, bis die Erkenntnis nun endlich von rund 200 Staaten anerkannt wurde. Auch andere Ziele sind

aus Naturschutzsicht evident, etwa das Zurückfahren von Subventionen, die direkt zum Artensterben beitragen. Überdies ist die beschlossene Halbierung der Risiken durch Pestizide erstaunlich ambitioniert – und die Offenlegung von Lieferketten von Unternehmen ein wichtiges Signal. Das frisch beschlossene Übereinkommen könnte eine „echte Kehrtwende anstoßen“, mit der wir die nächsten Generationen nicht enttäuschen, wie es Huang Runqiu in Montreal formulierte. Wie diese Nachkommen auf uns blicken werden, entscheidet sich aber nun daran, was die Regierungen mit den 22 im Abkommen beschlossenen Zielen machen. Davon wird der Wohlstand künftiger Generationen abhängen und sehr wahrscheinlich auch, was sie von der Natur, wie wir sie kennen, noch erleben dürfen. Denn erfahrungsgemäß gehen die Probleme erst nach einer gefeierten Einigung richtig los. Auch sieben Jahre nach dem Weltklimaabkommen von Paris verbrennen die Länder fossile Kraftstoffe, als gäbe es kein morgen, der weltweite CO2-Ausstoß ist weiterhin unverändert hoch, und nur wenige Länder haben ihre Ziele nachgeschärft oder stellen schnell genug auf erneuerbare Energien um. Dennoch fand ein Umdenken statt, mittlerweile gibt es etwa nationale Klimagesetze oder den European Green Deal mit hunderten neuen Regelungen für den ökologischen Umbau. Beim Artenschutz sind die Hürden mindestens genauso hoch: Agrarkonzerne, Fischereiverbände oder Pestizidhersteller werden ihre Pfründe verteidigen. Ihr Geschäftsmodell und ihre Profite sind in Gefahr, wenn weniger Pestizide auf die Felder dürfen, weniger Fische und Krabben gefangen werden oder es weniger Tierhaltung geben soll. Und bei jedem Hektar geschütztem Land muss ausgehandelt werden, wer unter welchen Bedingungen dort noch wirtschaften darf – oder auch nicht. Wie streng etwa Wälder, Moore, Auen oder Gewässer geschützt wer-

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den, muss sich also noch zeigen. So ist im Montrealer Abkommen recht unklar, wie genau die Schutzgebiete aussehen sollen. Einige Länder verhandelten die Formulierung „nachhaltige Nutzung“ in den Text. Es bleibt jedoch zu klären, welche Aktivitäten wie stark erlaubt sind, etwa Fischfang, Landwirtschaft oder Forstwirtschaft. Verhindert werden müssen in jeden Fall sogenannte paper parks, also Schutzgebiete, die nur auf dem Papier existieren. Deutschland: Natur unter Kontrolle Für die EU sind einige Punkte des Abkommens nicht neu. Sie hat bereits 30 Prozent ihrer Fläche als Schutzgebiete definiert – davon sollen zehn Prozent streng geschützt werden. Für Deutschland bedeutet das Montrealer Abkommen vor allem Rückenwind für Naturschützer und das Bundesumweltministerium. Sie versuchen seit Jahren, Naturschutzflächen auszuweiten, Wildnisgebiete zu schaffen und etwa Moore wieder zu vernässen. Doch auch hierzulande gibt es bei über 80 Millionen Einwohnern, einem dichten Verkehrsnetz, einer intensiven Tierhaltung und einem hohen Industrialisierungsgrad viel Widerstand. Nur sechs Prozent der Landfläche sind in Deutschland streng geschützt, nur 0,6 Prozent als Wildnisgebiete ausgewiesen, und 90 Prozent der Auenwälder und Moore sind trockengelegt, zudem sind die meisten Flüsse begradigt. Über Jahrhunderte haben Könige, Fürsten und Landbesitzer die deutschen Landschaften verändert, sie der menschlichen Kontrolle unterworfen. Tiere starben aus, Pflanzen wurden verdrängt, aus Mischwäldern wurden Monokulturen. Diese Entwicklung zumindest teilweise zurückzudrehen, birgt politischen Sprengstoff. Denn der Rückzug des Menschen aus der Natur wird auch in Deutschland keinesfalls von allen begrüßt. Das zeigen drei aktuelle Beispiele: So tobt

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24 Kommentare seit Anfang des Jahres in der Ampelkoalition der Streit, ob nicht nur Bahnstrecken, sondern auch Autobahnen beschleunigt gebaut werden dürfen. Dazu sollen Umweltprüfungen vereinfacht oder gar ausgesetzt werden. Da wäre etwa die Küstenautobahn A20, die auf 200 Kilometern Länge in Niedersachsen und Schleswig-Holstein gebaut werden soll, obwohl sie durch unverbaute Kulturlandschaft führen und Moore zerschneiden würde. In mehreren Gesprächen mit Verkehrsminister Volker Wissing und Bundeskanzler Olaf Scholz versuchte die Umweltministerin den beschleunigten Autobahnbau zu verhindern. „Wünschenswert wäre es, für den Straßenbau keine Moore mehr in Anspruch zu nehmen“, sagte die Ministerin bereits vor rund einem Jahr. Ein weiteres Konfliktgebiet findet sich wenige Kilometer nördlich der geplanten Küstenautobahn: das Wattenmeer, seit 2009 Teil des Weltnaturerbes wegen seines „außergewöhnlichen universellen Wertes“ und zudem Natura-2000-Schutzgebiet. Es ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie dehnbar der Begriff des Schutzgebietes ist: Auch dort wird gefischt, gefördert und gearbeitet. Krabbenfischer ziehen ihre Netze über den Meeresboden, wirbeln die Sedimente auf. Die LNG-Terminals an der Nordsee sorgen für noch mehr Schiffsverkehr. Außerdem braucht das Umwandeln des flüssigen Erdgases aus Übersee Chemikalien, die in die Gewässer eingeleitet werden. Und am Rand des Nationalparks Wattenmeer wird seit Jahrzehnten Öl gefördert: im Ölfeld Mittelplate vor der Dithmarschener Küste. Hinzu kommen die ebenfalls umstrittenen Pläne zur Gasförderung vor der Insel Borkum. Gänzlich unangetastet sind in Deutschland bislang noch die schädlichen Subventionen. Rund 60 Mrd. Euro Steuergelder fließen laut Umweltbundesamt jedes Jahr in klimaschädliche Aktivitäten, viele davon zerstören auch die Artenvielfalt. Gefördert wer-

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den etwa maisbetriebene Biogasanlagen, Dieseldienstwagen, neue Straßen oder LNG-Terminals. Geht es nach dem Montrealer Übereinkommen, sollen solche staatlichen Förderungen, die die Artenvielfalt gefährden, „heruntergefahren“ oder „reformiert“ werden. Insgesamt nennt das Übereinkommen jährlich 500 Mrd. Dollar Subventionen weltweit, die abgebaut werden sollen. Der größte Brocken in allen Ländern ist jedoch die Landwirtschaft: Eine verminderte Nutzung der globalen Landoberfläche ist nur möglich, wenn es auch weniger Tierhaltung gibt. Über zwei Drittel des angebauten Getreides wandern direkt als Futter in den Trog. Doch allein in Deutschland wurden 2021 über 50 Millionen (!) Schweine geschlachtet. Vorrang für kurzfristige Krisen Ähnlich wie beim Klimaschutz werden derzeit aber alle weitreichenden Veränderungen mit dem Argument der Energiekrise abgebürstet. Keine der Vergünstigungen für fossile Infrastruktur dürfte in absehbarer Zeit fallen, und auch bei der Tierhaltung trauen sich selbst grüne Agrarminister keine radikale Wende zu. Es ist sogar damit zu rechnen, dass der Artenschutz noch mehr Federn lässt. So sollten laut einer neuen EU-Regel europaweit eigentlich vier Prozent der Agrarflächen zugunsten der Artenvielfalt aufgegeben werden. Aufgrund des Ukrainekrieges wird das Vorhaben in diesem Jahr aber ersteinmal ausgesetzt. Bei der Klima- und Artenkrise gilt gleichermaßen: Sie sind die planetaren Katastrophen, die über unser aller Überleben entscheiden, doch die meisten Regierungen räumen noch immer den kurzfristigen Krisen Vorrang ein. Erst wenn diese durchgestanden sind, sei eine echte ökologische Transformation möglich. Spätestens am Ende dieses Jahrzehnts dürfte sich zeigen, was für ein tragischer Irrtum das ist.



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Vedran Dzˇihic´

Kosovo und Serbien: Vor der nächsten Eskalation? Der serbische Präsident Aleksandar Vucˇic´ ist bekannt für seine ständige mediale Präsenz. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht vor den Fernsehkameras steht, wohlgemerkt in der Regel vor jenen der ihm politisch nahestehenden Privatsender. Direkte Debatten mit Oppositionspolitikern und Kritikern vermeidet er seit Jahren, dafür rechnet er mit ihnen über „seine“ Medien ab. Wenn Vucˇic´ nicht vor Kameras steht, lässt er seine Botschaften über sein Lieblingsmedium verbreiten – über Instagram. Anfang Januar ließ er dort mit einem Post aufhorchen, bebildert mit einem Wolf und versehen mit dem Spruch „Wolves don’t lose sleep over the sheep’s opinion“. Gegen welchen Gegner der einsame Wolf, als der sich Vucˇic´ offensichtlich sieht, kämpft, ist unschwer auszumachen. Seit dem vergangenen Sommer eskaliert die Situation zwischen Serbien und dem Kosovo zunehmend, zugleich wächst der Druck des Westens auf Belgrad wegen dessen Russlandpolitik. Daher sind der Westen und vor allem Deutschland nun zur Zielscheibe der Vucˇic´-Rhetorik geworden. Bösewicht Nummer  1 in den serbischen Boulevardmedien ist hingegen Vucˇic´s Gegenspieler, der kosovarische Premierminister Albin Kurti. Auf den Titelseiten der Boulevardblätter wird er tagtäglich dämonisiert und wüst beschimpft. Vucˇic´ selbst bezeichnete ihn unlängst als „terroristischen Abschaum“. Das Verhältnis zwischen den beiden Spitzenpolitikern ist von tiefstem Misstrauen geprägt. Für Albin Kurti, der zwischen April 1999 und Dezember 2001 in serbischen Gefängnis-

sen interniert war, ist Vucˇic´ ein aggressiver Nationalist und Autokrat, der Serbien in eine russische Provinz verwandelt hat, die weiterhin großserbische Ansprüche in der gesamten Region des Westbalkans stellt. An diesem durchaus persönlichen Konflikt zwischen den Hauptprotagonisten der jüngsten Krisen im Kosovo, Aleksandar Vucˇic´ und Albin Kurti, lässt sich bereits erahnen, wie komplex, emotional und konfliktgeladen das Verhältnis zwischen dem Kosovo und Serbien ist. Lange Zeit plätscherten die Beziehungen beider Länder dahin. Nach dem erzielten Durchbruch in Brüssel im Jahr 2013, der zu einem Abkommen zwischen Pristina und Belgrad führte, machten beide Seiten anfänglich in einigen technischen Bereichen Fortschritte, um dann lange Zeit keine sonderliche Lust am Verhandeln an den Tag zu legen. Der Beginn der russischen Aggression in der Ukraine läutete dann global eine neue Zeitrechnung ein, die recht bald auch auf dem Westbalkan zu spüren war. Als im Sommer 2022 die Regierung in Pristina neue Maßnahmen zur Regelung der Autokennzeichen und des Personenverkehrs zwischen Serbien und dem Kosovo umsetzen wollte, eskalierte die Situation schnell. Nach der Verhaftung eines serbischen Polizisten durch die kosovarische Polizei Anfang Dezember errichteten Serben im Norden des Kosovo Straßenblockaden. Immer wieder gab es Schüsse und gefährliche Szenen, die die Angst vor einem neuen Krieg verstärkten. Die Situation beruhigte sich erst kurz vor dem Jahreswechsel, als die Blockaden wieder

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26 Kommentare zurückgebaut wurden. Doch bleibt die Lage extrem angespannt, das Kriegsgeschrei in den serbischen Boulevardmedien setzt sich unvermindert fort, auch die Kosovo-Albaner halten am Narrativ des prorussischen, kriegstreibenden Serbien fest. So wie die lokalen Karten klar verteilt zu sein scheinen, sind es auch die geopolitischen. Serbien zwischen Russland und der EU Russland hat sich seit Beginn der neuen Spannungen im Kosovo unmissverständlich auf die Seite Serbiens gestellt. Russische Medien bedienten in den Wochen und Monaten seit der jüngsten Eskalation unisono das Narrativ des „bedrohten Brudervolkes der Serben“ und des bösen Westens, der nun auch auf dem Balkan Russland provoziere und russische Interessen bedrohe. Putins Bluthund Ramzan Kadyrow ließ mit der Botschaft aufhorchen, dass er die Entwicklungen im Kosovo aufmerksam verfolge. Der russische Botschafter in Serbien, Aleksandar Bocan-Harcenko, beteiligte sich Mitte August 2022 an Spekulationen über die Eröffnung russischer Militärbasen in Serbien, die von einigen russischen Medien lanciert worden waren. Passend dazu verkündete die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, dass man Serbien unterstütze und über einen eigenen Plan für den Kosovo verfüge. Angesichts dessen fragen sich viele westliche Politiker seit Beginn des Ukrainekrieges, ob Aleksandar Vucˇic´ tatsächlich ein pragmatischer Politiker ist, der bereit wäre, sich stärker von Russland abzukoppeln und sich der EU und dem Westen zuzuwenden. Vucˇic´ soll im direkten Gespräch mit westlichen Diplomaten stets beteuern, dass er sich sehr gerne von Russland unabhängiger machen würde, dass ihm das aber wegen der stark prorussischen Öffentlichkeit und dem Druck von

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rechten Gruppierungen im Land nicht so schnell möglich sei. Vucˇic´ soll immer nach mehr Zeit fragen. Zugleich aber sind die starken prorussischen Haltungen und auch das Erstarken der extremen Rechten in Serbien nicht vom heiteren Himmel gefallen. Sie sind das Ergebnis der Politik von Vucˇic´ und seines Schaukelkurses zwischen Russland, China und dem Westen – seines ständigen Navigierens zwischen dem europäischen Weg und den alten, tief verwurzelten nationalistischen Narrativen. Die antiwestlichen, prorussischen und extrem rechten Geister, die er gerufen hat, wird Vucˇic´ nicht los, auch wenn er dies wollen würde. Schon vor der jüngsten Eskalation sprachen Meinungsumfragen eine deutliche Sprache und verwiesen auf das Grunddilemma der serbischen Politik und Gesellschaft, das nun auch zum zentralen Dilemma für Vucˇic´ geworden ist: Die serbische Öffentlichkeit ist stark prorussisch gestimmt und zeigt eine zunehmende Skepsis in Bezug auf den Westen und die EU. Auf die Frage nach den wichtigsten außenpolitischen Partnern nennen 40 Prozent Russland an erster Stelle, gefolgt von der EU mit 30 Prozent und China mit 24 Prozent. 80 Prozent der Serben sind gegen Sanktionen für Russland – die Belgrad auch nicht mitträgt. Noch ernüchternder ist, dass 43 Prozent der Serben ihrer Regierung raten würden, den Beitritt zur EU abzulehnen, nur 30 Prozent wünschen sich den Beitritt.1 Das zeigt das grundsätzliche Dilemma, vor dem Belgrad steht: Die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft ist zu schwach und hat daher an Bedeutung verloren, zugleich bleibt die Unterstützung für Russland in der Bevölkerung dominant. Jedoch sind die EU und der Westen die zentralen Wirtschaftspartner, Russland fällt seit Beginn des Ukrainekrieges massiv ab. Zugleich ist klar, dass Russland im Falle einer wei1 Vgl. Spoljno-politicˇ ke orijentacije građana Srbije, www.demostat.rs, 26.7.2022.

teren Eskalation rund um den Kosovo Serbien nicht zu Hilfe eilen kann und dass eine direkte Konfrontation Serbiens mit der Nato, deren Soldaten im Kosovo stationiert sind, für Vucˇ ic´ einem politischen Selbstmord gleichkäme. Gerade diese verfahrene Lage könnte Vucˇic´ aber nun veranlassen, einen Kompromiss in der Kosovo-Frage zu suchen. Mitte Januar tauchte ein Video der Wagner-Gruppe auf, in dem zwei serbische Freiwillige zu sehen sind, die sich der Söldnergruppe angeschlossen haben und nun für den Kampf in der Ukraine ausgebildet werden. Mit dem Video sollten wohl weitere Freiwillige in Serbien rekrutiert werden. Das ist in Serbien jedoch verboten. In einer ersten Reaktion auf das Video zeigte sich Vucˇic´ dementsprechend verärgert und fragte sinngemäß, warum die Wagner-Gruppe und Russland dies Serbien antäten. Kürzlich merkte er in einem Interview für „Bloomberg“ an, dass er seit Monaten nicht mehr mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gesprochen habe und hielt fest: „Für uns ist die Krim Ukraine, Donbass ist Ukraine und das wird so bleiben.“2 Deutet er damit eine mögliche Wende in der serbischen Politik gegenüber Russland an?

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Wie fällt angesichts dessen die Antwort aus Pristina aus? Albin Kurti weicht von seinem Narrativ der engen Allianz zwischen Moskau und Belgrad nicht ab und bezeichnet Serbien als russische „Gubernjia“, also eine russische Provinz. Kurti spricht von einer „vorgetäuschten Neutralität“ Serbiens, die der Westen nicht durchschaue und sich blenden lasse. Denn Serbien spiele „die Rolle Russlands auf dem Balkan“ und der Norden des Kosovo gleiche dabei aus der russischen und serbischen

Perspektive der von der Republik Moldau abgespaltenen Region Transnistrien, die man sich einverleiben möchte. Und Kurti setzt noch eins drauf: „Ich sage nicht, dass Serbien jetzt bereits wie Russland ist, aber es gibt die Absicht. Und diese Absicht ist kriminell.“3 Der kosovarische Premierminister verweist auch sehr gerne darauf, dass Serbien keine demokratische Gesellschaft sei, sondern in den letzten Jahren zunehmend autokratischer geworden ist. Der Kosovo und seine Demokratie sollen demgegenüber als Kontrast dienen. In der Tat, der Kosovo ist im Jahr 2023 ein pluraleres und demokratischeres Land als Serbien, mit freien Medien und einer lebendigen politischen und zivilgesellschaftlichen Szene. Bei einer direkten Bedrohung durch den „alten Feind“ Serbien schließen sich die Reihen der albanischen Kosovaren und man steht grundsätzlich hinter der Regierung und Albin Kurti. Die Kosovo-Albaner sind in der Frage der kosovarischen Souveränität und der territorialen Integrität, für die sie sehr hart gekämpft haben, zu keinen Kompromissen bereit. Kurti weiß das und schafft es sehr gut, die Mehrheit der Kosovo-Albaner mit einer durchaus auch populistischen Rhetorik – basierend auf der binären Entgegensetzung „Albaner sind gut und Serbien bzw. Vucˇic´ böse“ – hinter sich zu scharen. Weniger geschlossen zeigen sich die Kosovo-Albaner in der Frage, zu welcher konkreten Taktik und Strategie Kurti greifen sollte, um die verfahrene Situation mit dem großen Nachbarland zu lösen. Denn Kurti hat mit seiner Weigerung, einen Gemeindeverband für die serbische Minderheit im Kosovo zu bilden, der im EU-vermittelten Abkommen zwischen Serbien und dem Kosovo im Jahr 2013 vorgesehen war, den Zorn des wichtigsten westlichen Verbündeten seines Land einge-

2 Misha Savic und Andrea Dudik, War in Ukraine Strains Ties Between Putin and His Old Serb Ally, www.bloomberg.com, 18.1.2023.

3 Adelheid Wölfl, Regierungschef Kurti: „Putin ist besessen vom Kosovo“, www.derstandard.at, 12.1.2023.

Antwort aus Pristina

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28 Kommentare handelt: den USA. Einen klaren Gegenvorschlag für eine Form der zumindest kulturellen Autonomie für die Serben im Kosovo hat Kurti bislang nicht vorgelegt. Generell steht der Vorwurf im Raum, Kurti gehe zu wenig proaktiv auf die serbische Community im Kosovo ein, um bei ihnen Vertrauen zu bilden. Die realpolitische Quadratur des Kreises Angesichts der extrem verhärteten Fronten zwischen Pristina und Belgrad stellt sich die Frage, wie ein Ausweg aus der Konfliktspirale aussehen könnte. Seit dem Sommer 2022 liegt dazu der sogenannte deutsch-französische Vorschlag auf dem Tisch. Dieser geht auf eine schon ältere Idee von Wolfgang Ischinger aus dem Jahr 2007 zurück. Der ehemalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz schlug damals nach dem Vorbild des deutsch-deutschen Grundlagenvertrags von 1972 eine Neugestaltung der Beziehungen zwischen dem Kosovo und Serbien vor. Beiden Staaten müssen sich laut diesem Vorschlag zwar nicht anerkennen, sollen sich aber auch nicht in ihrer Entwicklung behindern. Auf dieser Grundlage, so die Hoffnung, könnte man viele praktische Probleme zwischen Serbien und dem Kosovo regeln – und zugleich dem Kosovo den Weg in die internationalen Organisationen freimachen. Denn noch ist der junge Staat international nicht durchweg anerkannt. Vucˇic´ schien anfänglich alles daran setzen zu wollen, diese Idee zu torpedieren, Kurti hingegen begrüßte sie zwar, reduziert aber mit seiner Taktik, Serbien als prorussischen und weniger kompromissbereiten Akteur zu brandmarken, den Verhandlungsspielraum. Das ist die Kulisse, vor deren Hintergrund seit Anfang Januar ein recht hektisches diplomatisches Treiben des Westens in der Region zu beobachten

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ist. Die hohen Vertreter des US-State Departments besuchten Belgrad und Pristina, gefolgt von einem neuen Fünfergespann aus Sonderbeauftragten der EU (Miroslav Lajcak) und der USA (Gabriel Escobar) sowie Vertretern Frankreichs, Deutschlands und Italiens. Das soll den Weg für eine neue, entscheidende Phase der Verhandlungen zwischen Pristina und Belgrad einläuten. Sehr viel steht dabei auf dem Spiel: Der Westen will dem russischen Einfluss in der Region einen Riegel vorschieben und seine Interessen schützen, durchaus auch im Sicherheitsbereich. Er will den Krisenherd Kosovo und Serbien langfristig befrieden, um nicht alle paar Monate am Rande des Konflikts zu stehen. Eine neue kriegerische Flanke mitten in Europa will und darf man sich jetzt nicht leisten, wo alle Ressourcen für den Krieg in der Ukraine notwendig sind. Die westlichen Regierungen sind sich bewusst, dass die globalen autoritären Widersacher der liberalen Demokratie wie Russland und China den Westbalkan als eine Region sehen, in der sie einen Kampf gegen EU und USA wagen können. In Brüssel und Washington weiß man daher sehr genau, dass es nun gilt, an einem Strang zu ziehen und die liberale Demokratie – aber auch eigene Interessen – in einer genuin europäischen Region zu verteidigen, wo man in den letzten drei Jahrzehnten so viel investiert hat und auch eine direkte Verantwortung für die Sicherheit von Staaten wie BosnienHerzegowina und Kosovo übernommen hat. Ein Scheitern des Westens auf dem Balkan hätte globale Konsequenzen. Daher darf es dort aus der geopolitischen Perspektive des Westens keinen Platz mehr für Zweideutigkeiten geben: Auf dem Weg zu einer klaren europäischen und demokratischen Perspektive für die Region muss die Konfliktspirale zwischen dem Kosovo und Serbien 2023 endlich beendet werden.



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Svenja Huck

Türkei: Gewerkschaften ohne Rechte Wenige Monate vor den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai hat die schon lange nicht mehr unabhängige Justiz bereits begonnen, Recep Tayyip Erdog˘ans potentielle Konkurrent:innen im Wettbewerb um das Präsidialamt aus dem Weg zu räumen. So wurde der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamog˘lu in einem politischen Verfahren zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt. Das ist eine weitere massive Verletzung demokratischer Rechte; doch sollte dabei nicht vergessen werden, dass die Absetzung demokratisch gewählter Bürgermeister:innen in den mehrheitlich kurdisch bewohnten Teilen des Landes seit Jahren alltägliche Praxis ist. Während im Wahlkampf über die Rückkehr zum Rechtsstaat, Migration und die galoppierende Inflation diskutiert wird, bleibt ein Thema bislang außen vor, das ein enormes Potential für soziale Unruhen birgt: die fehlenden Arbeitnehmerrechte. Zu Beginn des Jahres 2022 kam es in der Türkei zu spontanen Streiks und Protesten gegen niedrige Löhne und massive Preissteigerungen in so gut wie allen Bereichen des alltäglichen Bedarfs. Zwischen dem 1. Januar und dem 14. Februar traten rund 14 000 Arbeiter:innen aus 65 unterschiedlichen Betrieben in den Ausstand.1 Die meisten von ihnen waren jedoch nicht gewerkschaftlich organisiert. Denn die Türkei hat eines der repressivsten Gewerkschaftsgesetze weltweit, die strukturelle Missachtung demokratischer und sozialer Rechte ist dort gang und gäbe. Seit 1 Alpkan Birelma, Is Labor Making a Comeback? The 2022 Strike Wave in Turkey, www. cambridge.org, 2.3.2022.

2016 benennt der internationale Gewerkschaftsdachverband ITUC die Türkei regelmäßig als eines der zehn Länder mit den schlechtesten Bedingungen für Arbeiter:innen.2 Zwischen 2015 und 2022 wurden 227 rechtmäßige Streiks verboten bzw. auf unbestimmte Zeit verschoben. Davon betroffen waren rund 170 000 Arbeiter:innen.3 Doch keines der beiden führenden Parteienbündnisse – die „Volksallianz“ um die regierende AKP und das oppositionelle „Bündnis der Nation“ –, zwischen denen sich die Präsidentschaftswahl entscheiden wird und das eine gesetzgebende Mehrheit im Parlament bilden könnte, fordert in seinem Programm eine Verbesserung dieser Zustände. Lediglich das linke „Bündnis für Arbeit und Freiheit“4 setzt sich für die Ausweitung gewerkschaftlicher Rechte und die stärkere Einbeziehung der Werktätigen in wirtschaftliche Entscheidungen ein. Dabei haben die „wilden Streiks“ im vergangenen Jahr gezeigt, dass sich der Unmut der Arbeiter:innen über ihre stetige Verarmung jederzeit spontan Bahnen brechen kann. Doch nur eine strukturelle Stärkung gewerkschaftlicher Organisierung kann längerfristig für sichere Arbeitsbedingungen, faire Löhne und letztendlich auch demokratische Veränderungen in der Türkei sorgen. Der Grad der gewerkschaftlichen Organisierung lag 2021 bei rund 13 2 ITUC Global Rights Index 2016, www.ituc-csi. org. 3 Alpkan Birelma, Trade Unions in Turkey 2022, https://turkey.fes.de, Mai 2022. 4 Svenja Huck, Türkei: Linkes „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ gegründet, www.rosalux.de, 15.12.2022.

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30 Kommentare Prozent, im Privatsektor sogar nur bei sechs Prozent.5 Hauptgrund für diese extrem niedrigen Zahlen sind die noch von der Militärjunta erlassenen und im Prinzip bis heute gültigen Gewerkschaftsgesetze. Bis zum Militärputsch vom 12. September 1980 waren Gewerkschaften eine treibende soziale Kraft in der Türkei, die nicht nur in den Betrieben die unmittelbaren Interessen ihrer Mitglieder vertraten, sondern auch Einfluss auf grundlegende politische Entscheidungen ausübten und in Verbindung mit progressiven Parteien standen. Bei der Einführung eines neoliberalen Wirtschaftssystems bildeten sie deshalb ein Hindernis für das türkische, aber auch das internationale Kapital, weshalb die Zerschlagung gewerkschaftlicher Strukturen eines der obersten Ziele der Putschisten war. Gegen das Strukturanpassungsprogramm vom 24. Januar 1980, das als „Chilenische Lösung“6 bezeichnet wurde, kam es landesweit zu Protesten, Streiks und Betriebsbesetzungen, angeführt von der Konföderation Revolutionärer Arbeitergewerkschaften der Türkei (DISK). Nach dem Putsch wenige Monate später wurden die DISK und alle anderen Gewerkschaften bis auf den Dachverband Türk-Is¸ verboten und ein neues Gewerkschaftsgesetz erlassen. Unter dem Druck von Gewerkschaften, EU und ILO seit den 1990er Jahren nahm die Regierung zwar 2012 und 2014 einige Anpassungen an diesem Gesetz vor, zu grundlegenden Veränderungen führte dies jedoch nicht.7 Eine Gewerkschaft muss beispielsweise nach wie vor hohe Hürden überwinden, um überhaupt Tarifverhandlungen führen zu dürfen: Sie benötigt 5 Alpkan Birelma, Trade Unions in Turkey 2022, a.a.O. 6 Erik Jan Zürcher, Turkey: A Modern History, Fourth Edition, London und New York 2017, S. 271. 7 Aziz Çelik, A General Evaluation of Turkey’s New Act on Trade Unions and Collective Agreements, https://library.fes.de, Januar 2013.

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im Betrieb einen Organisierungsgrad von 50 Prozent plus eins (bzw. 40 Prozent in Firmen mit mehreren Standorten) in der Belegschaft sowie von einem Prozent der gesamten Arbeiter:innen im jeweiligen Sektor. Anschließend erhält sie vom Arbeitsministerium die offizielle Genehmigung, ihre Mitglieder zu vertreten. Doch in den meisten Fällen nutzen die Arbeitgeber:innen zunächst ihr Recht auf Widerspruch gegen diese Genehmigung. Begründet wird dies vor Gericht entweder mit einer angeblich höheren Anzahl von Beschäftigten, weshalb die Gewerkschaft nicht die notwendige Quote erreicht hätte, oder auch mit der Behauptung, die Kolleg:innen würden einem anderen Sektor angehören als dem, für den die Gewerkschaft zuständig sei. Kündigung unter Vorwand Die anschließenden Gerichtsverfahren dienen den Arbeitgeber:innen in erster Linie dazu, Zeit zu gewinnen. Laut den Gewerkschaften Birles¸ik-Metal-Is¸ und Petrol-Is¸ liegt die durchschnittliche Dauer solcher Verfahren aktuell bei 550 bzw. 730 Tagen.8 Bis im Prozess ein Urteil gefällt wird, besteht für die Gewerkschaften und ihre Mitglieder keinerlei Recht auf Verhandlungen. Stattdessen nutzen die Arbeitgeber:innen verschiedene Wege, um in dieser Zeit gewerkschaftliche Strukturen zu zerschlagen, etwa indem Kolleg:innen entlassen oder bis zur Kündigung gemobbt werden. Im jährlich veröffentlichten „Bericht über Arbeiterproteste in der Türkei“9 wird regelmäßig die Zahl der wegen gewerkschaftlicher Organisierung entlassenen Angestellten veröffentlicht, allein 817 im Jahr 2020. Jedoch beinhalten die Zahlen nur die Fälle, in denen gegen die Entlassungen protestiert wurde – in der 8 Örgütlenmenin önündeki engellere kars¸ ı kanun teklifi, www.ilerihaber.org, 8.4.2022. 9 Is¸çi Sınıfı Eylemleri Raporu 2021, www.emekcalisma.org. 3.8.2022.

Realität sind es weitaus mehr. Da eine Kündigung wegen Gewerkschaftsmitgliedschaft in der Türkei verfassungswidrig ist, nutzen die Arbeitgeber:innen andere Wege: Auf den Kündigungen finden sich häufig bestimmte Codes, die es den Entlassenen erschweren, eine neue Anstellung zu finden, und die die Arbeitgeber:innen von Abfindungszahlungen befreien. Darunter fällt beispielsweise Code 46, der „Vertrauensmissbrauch gegenüber dem Arbeitgeber, Diebstahl und Veröffentlichung von Betriebsgeheimnissen“ umfasst. Im Dezember 2022 wurden mit dieser Begründung Mitarbeiter:innen des Privatkrankenhauses der Koç Universität gekündigt, die dort über einen Subunternehmer als Pflegepersonal angestellt waren. Obwohl sie die gleiche Arbeit verrichteten wie das festangestellte Personal, erhielten sie weniger Lohn und waren Schikanen ausgesetzt, darunter Taschenkontrollen und Belästigung von Seiten des Krankenhausmanagers. Um sich direkt im Krankenhaus anstellen zu lassen und für bessere Arbeitsbedingungen einzutreten, begannen sie, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Bevor sie jedoch die notwendige 50-Prozent-Hürde erreichen konnten, flog die Organisierung auf, und sie wurden entlassen. In der Begründung hieß es, sie hätten Teebeutel aus der Gemeinschaftsküche gestohlen und damit gegen Code 46 verstoßen. Demonstrativ hängten die Entlassenen eine Reihe von Teebeuteln vor dem Krankenhaus auf, wo sie in den folgenden Tagen einen Streikposten errichteten. Nach drei Wochen wurde der Streik erfolgreich beendet. Die Entlassenen erhielten Abfindungen, der Kündigungsgrund Code 46 wurde geändert und der Krankenhausmanager gefeuert. Eine erneute Anstellung konnten die Streikenden mit ihrem Protest allerdings nicht durchsetzen. Angesichts dessen betont Kaan Gündes¸, hauptamtlicher Organizer bei

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der Transportgewerkschaft TÜMTIS im Gespräch mit der Autorin: „Für die Kolleg:innen hat es oberste Priorität, ihren Arbeitsplatz nicht zu gefährden. Und die Angst davor ist gleichzeitig die größte Hürde für gewerkschaftliche Organisierung.“ Um sie zu überwinden, müsse man sowohl psychologisch als auch politisch arbeiten: „Nur wenn ein Vertrauensverhältnis zur Gewerkschaft aufgebaut wird, kann die Angst überwunden werden und das funktioniert nur in langen, persönlichen Gesprächen. Politisch hingegen muss die Gewerkschaft beweisen, dass sie das Vertrauen der Kolleg:innen wertschätzt.“ TÜMTIS hatte zu Beginn des vergangenen Jahres die Genehmigung vom Arbeitsministerium erhalten, die Fahrer:innen des Lieferdienstes Yemeksepeti zu organisieren.10 Yemeksepeti gehört zu dem in Deutschland registrierten Unternehmen Delivery Hero und ist Marktführer in der Türkei. Durch die steigende Nachfrage während der Pandemie erzielte das Unternehmen Rekordgewinne, die Angestellten jedoch arbeiten unter massivem Leistungsdruck und Lebensgefahr – 2022 starben 58 Kurierfahrer während ihrer Arbeit.11 Auch hier reichten die Chefs Klage gegen die Genehmigung der Gewerkschaft durch das Ministerium ein, das Gerichtsverfahren dauert bis heute an. Organisierung im Keim erstickt Dass jeder Versuch gewerkschaftlicher Organisierung im Keim erstickt wird, ist laut Eyüp Özer, Gewerkschaftssekretär für internationale Angelegenheiten bei Birles¸ik-Metal-Is¸, ein systematisches Problem in der Türkei: „Manche benutzen den Begriff ‚Fa10 12 Gewerkschaften und Verbraucherorganisationen rufen zum Boykott des gewerkschaftsfeindlichen türkischen Lieferdienstes Yemeksepeti auf, www.labournet.de, 7.6.2022. 11 Moto Kurye Ölümleri Raporu 2022, www. kuryehaklari.org, 10.1.2023.

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32 Kommentare schismus‘, wenn sie über die Türkei sprechen“, sagt Özer. „Während das meiner Ansicht nach auf das politische Feld nicht ganz zutrifft – immerhin können noch linke Parteien gegründet werden –, sieht es im gewerkschaftlichen Bereich anders aus. Die Freiheit zur gewerkschaftlichen Organisierung ist ausnahmslos in jedem Bereich massiv eingeschränkt.“ Das beginne schon bei dem Prozess der Registrierung als Gewerkschaftsmitglied. Diese erfolgt über das Online-Portal e-devlet, in dem türkische Staatsangehörige alle offiziellen Angelegenheiten verwalten. „Der Gewerkschaftsbeitritt wird also sofort dem Arbeitsministerium gemeldet. Solch eine Methodik gibt es wohl in keinem anderen Land.“ Das Beispiel Yemeksepeti, aber auch der Metallsektor und die Automobilindustrie zeigen noch etwas anderes: Die Verantwortung für Arbeitnehmer:innenrechte in der Türkei endet nicht an den Landesgrenzen. Denn zahlreiche

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türkische Firmen sind Zulieferer, Tochtergesellschaften oder Subunternehmer von europäischen Unternehmen, darunter auch viele deutsche. Diese können in der Türkei günstig produzieren lassen, solange die Löhne gering und die Kontrolle über die Arbeitsbedingungen schwach sind. Könnte da das neue Lieferkettengesetz eine Verbesserung bringen? „Hoffentlich“, sagt Özer. „Aber automatisch wird es keine Probleme lösen. Wenn man etwas verdecken will, ist das immer möglich. Dennoch werden wir es anwenden, wo immer möglich.“ Die Regierung unter Druck In die Hände spielt den Gewerkschaften aktuell die Schwäche der Regierung. Bisher setzte die AKP auf eine Strategie der Isolierung von Arbeitskämpfen in einzelnen Betrieben, während sie sich gleichzeitig populäre Forderungen des „Volkes“ auf die eigene Fahne schrieb. Doch derzeit fällt es Präsident Erdog˘an nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch zunehmend schwer, seine Unterstützer:innen zufriedenzustellen – und die meisten von ihnen kommen aus der untersten Schicht der Bevölkerung. Deshalb muss die Regierung nun Zugeständnisse machen, beispielsweise durch die jüngste Erhöhung des Mindestlohns oder die überraschende Anerkennung des Rechts auf Frührente für rund zwei Millionen Menschen. Die Schwäche der Regierung bietet somit eine Chance für Gewerkschaften und Berufsverbände, sich neue Spielräume zu erkämpfen. Wenn Arbeitskämpfe ihre Ziele erreichen, so klein sie auch sein mögen, wirkt dies bestärkend für die folgenden Auseinandersetzungen. Denn auch in der Türkei gilt: Die erfolgreiche Organisierung an der Basis führt zu Selbstermächtigung und stärkt die Möglichkeiten demokratischer Kontrolle der Lohnabhängigen – egal, wer gerade regiert.



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Sarah Mersch

Tunesien: Die kaltgestellte Revolution Ein Video von Präsident Kais Saied sorgte im vergangenen Monat in Tunesien für Gesprächsstoff: Das Staatsoberhaupt besucht abends ein Café in einem einfachen Wohnviertel am Rande der Altstadt von Tunis. „Wir werden Euch mit allem versorgen, was Ihr benötigt“, sagt Saied zu den anwesenden jungen Männern, „Ihr müsst nur Hoffnung haben.“ „Wir haben keine Hoffnung“, schallt es aus dem Off zurück. Sein Diskurs an diesem kalten Januarabend 2023 klingt ähnlich wie im Wahlkampf, als der parteilose Outsider im Herbst 2019 mit seinen Anhängern durchs Land gezogen war und den zumeist jungen Leuten in den Cafés erklärt hatte, wie er das politische System reformieren wolle, auf politische Parteien und die Korruption schimpfte. Mehr Teilhabe für die Marginalisierten, mehr politisches Gewicht für das verarmte Landesinnere versprach er damals. Er werde dafür sorgen, dass die echten Ziele der Revolution von 2010/11, deren Funken später auch auf andere arabische Länder übersprangen, endlich umgesetzt würden. Doch inzwischen ist der pensionierte Juradozent nicht mehr der Außenseiter, der der politischen Klasse den Spiegel vorhält, sondern seit mehr als drei Jahren Präsident. Rund anderthalb davon regiert er seit seiner Machtnahme am 25. Juli 2021 quasi alleine. Als Saied im Sommer vor anderthalb Jahren Regierungschef und Parlament kaltstellte und ankündigte, angesichts der verfahrenen wirtschaftlichen und politischen Situation die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, war die Hoffnung bei vielen Menschen in Tunesien zunächst groß. Dass seine Auslegung des Notstandsartikels rechtlich höchst

umstritten war, störte damals die meisten in ihrer Verzweiflung über den Status quo nicht. Sie interessierten sich dabei weniger für Kais Saieds politisches Projekt als für schnelle und konkrete Lösungen für ihre Probleme im Alltag. Doch der Präsident blieb ihnen Antworten schuldig. Die Situation vieler junger Leute, die Saied 2019 mit überwältigender Mehrheit ins Amt gewählt hatten, unterscheidet sich heute kaum von damals. Sie hat sich für viele sogar noch verschärft: Die Inflation und die Staatsverschuldung sind gestiegen, immer wieder kommt es zu Versorgungsengpässen bei Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Benzin. Internationale Firmen verlassen das Land. Die Zahl der Tunesierinnen und Tunesier, die versuchen, irregulär nach Europa zu migrieren, ist so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Und auch konkrete Maßnahmen zum Beispiel gegen Korruption sind bis jetzt ausgeblieben. Die Entscheidung über einen Kredit des Internationalen Währungsfonds, der das Land zwar in weitere Abhängigkeiten bringen, aber zumindest kurzfristig die größten Haushaltslöcher stopfen würde, hat das IWF-Präsidium vertagt. Unterdessen baut der Präsident schrittweise das politische System des Landes um: Eine Reihe staatlicher Institutionen, die der Revolution von 2010/11 und der 2014 verabschiedeten Verfassung entstammten und Garantien gegen den Rückfall in autoritäre Strukturen bilden sollten, sind Saieds Agenda zum Opfer gefallen. Was ist seit 2011 passiert, dass Kais Saied mit Parteienschelte, einem abstrakten Programm von Dezentrali-

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34 Kommentare sierung und direkter Demokratie, und einer allenfalls populistischen wirtschaftlichen Vision so leicht das mühsam erkämpfte und neu aufgebaute demokratische System auseinandernehmen konnte, ohne auf breiten Widerstand zu treffen? Die Demontage der Demokratie In den ersten Jahren nach dem Umbruch kämpften die politischen Akteure darum, wie das „neue“ Tunesien aussehen sollte. Identitätspolitische Debatten dominierten die Diskussionen in der Verfassungsversammlung. Auch über das beste System, um einen Rückfall in die Diktatur zu verhindern, wurde lange gestritten. Damals konzentrierten sich die politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure in Tunesien, aber auch ausländische Geber, auf die politischen Fragen und vergaßen darüber oft die Wirtschaft. Als dann 2014 die Verfassung, die eine Art Minimalkonsens der politischen Akteure darstellte, verabschiedet und die ersten regulären Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ohne größere Unregelmäßigkeiten abgehalten wurden, setzten viele hinter das Thema Demokratie in Tunesien einen Haken. Ausländische Geber und Beobachter konzentrierten sich jetzt auf die Wirtschaftsförderung, denn das Land kam nicht auf die Beine. Die warnenden Stimmen nichtstaatlicher Akteure aus dem sogenannten „Leuchtturm-Land des arabischen Frühlings“ ignorierten sie allzu oft geflissentlich. Sie sollten zufrieden sein, dass es ihnen besser ginge als zum Beispiel den Menschen in Syrien oder im Nachbarland Libyen, statt Verhältnisse wie etwa in Skandinavien anzustreben, wurde tunesischen Aktivistinnen und Aktivisten mehr oder weniger subtil kommuniziert, wenn diese auf Probleme in der Umsetzung der Verfassung oder auf Menschenrechtsverstöße hinwiesen. Gleichzeitig konnte keine

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der oft nur wenige Monate im Amt verbleibenden Regierungen eine klare wirtschaftliche Vision vorstellen, geschweige denn umsetzen. Die unmittelbar nach dem Umbruch aufgenommenen Kredite mussten allerdings zurückgezahlt, der Einbruch des Tourismus nach den Terroranschlägen 2015 und zuletzt die Folgen der Coronapandemie aufgefangen werden. Gleichzeitig war der politische Reformprozess längst nicht abgeschlossen. Bekanntestes Beispiel: Das Verfassungsgericht, das die Verfassung von 2014 vorsah, wurde aufgrund parteipolitischen Kalküls und Querelen zwischen den verschiedenen Parteien nie geschaffen. Eine Gemengelage, in der Kais Saied im Wahlkampf 2019 leichtes Spiel hatte. „Das Volk will…“ hieß sein Slogan damals, angelehnt an die Sprechchöre der Demonstrierenden während der Revolution 2011. Die Verfassung von 2014 sei die Wurzel allen Übels; die Parteien und das semi-parlamentarische System der Grund, dass Tunesien in den vergangenen zehn Jahren nicht auf die Beine gekommen sei. Eine Lesart, die Kais Saied bewusst forciert habe, um sein Projekt einer neuen Verfassung durchzudrücken, so Mehdi Elleuch vom Recherchezentrum Legal Agenda. Doch diese Lesart sei nicht haltbar, sagt der 31jährige Jurist im Gespräch mit der Autorin. „Natürlich gab es immer mal wieder Blockaden, aber der Geist des politischen Systems wurde von den Politikern nicht pervertiert. Es gab verschiedene Konstellationen: einen Präsidenten mit einer Mehrheit im Parlament und einen ohne. Und der hatte sich damals auf seinen Zuständigkeitsbereich beschränkt, nämlich die Außen- und Verteidigungspolitik. Das hat funktioniert. Es gab damals keine institutionelle Krise.“ Problematisch sei es erst 2019 geworden, als mehrere Akteure gleichzeitig die demokratischen Spielregeln missachtet hätten. „Aus den Wahlen

ist ein Präsident hervorgegangen, der keine Partei hinter sich hatte, und ein Parlament, das in der großen Mehrheit gegen ihn war. Auf der einen Seite stand der Parlamentspräsident Rached Ghannouchi, der Kais Saied in seinem Zuständigkeitsbereich Konkurrenz machen wollte. Auf der anderen Seite Kais Saied, der ohne Parlamentsmehrheit regieren wollte. Die Akteure haben die Spielregeln nicht mehr anerkannt und das hat zu einer Blockadesituation geführt. Alle waren daran beteiligt, allen voran der Präsident der Republik, der diese Krise forciert hat – bis zum 25. Juli [2021].“ Eine Bevölkerung, die von den demokratischen Errungenschaften der vergangenen zehn Jahre kaum profitiert und wenig Vertrauen in die staatlichen Institutionen hatte, ein Parlament, das in der letzten Legislatur oft von peinlichen persönlichen Grabenkämpfen und einfach zu durchschauenden politischen Manövern geprägt war: Kais Saied hatte leichtes Spiel, im Sommer 2022 seine neue Verfassung absegnen zu lassen, mit fast 95 Prozent Zustimmung, wenn auch weniger als einem Drittel Wahlbeteiligung. Die neue Verfassung räumt dem Präsidenten weitreichende Befugnisse ein. Kritiker sprechen von einem autoritären, hyper-präsidentiellen System. Effektive Kontrollmechanismen gegen den Präsidenten sind in dem neuen Text nicht vorgesehen. Eine wirkliche Gewaltenteilung gibt es in der Verfassung nicht mehr. Legislative und Judikative werden im neuen Text nur noch als „Funktionen“, nicht mehr als Gewalten gesehen. Parlamentswahl ohne Beteiligung Mit den Parlamentswahlen von Dezember 2022 wird Tunesien nun nach mehr als anderthalb Jahren zwar wieder ein Abgeordnetenhaus haben. Eine Rückkehr zu demokratischeren Strukturen ist das aber vor allem auf dem

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Papier, sind sich Beobachtende einig. Das neue Parlament habe „keinerlei Legitimität“, meint der politische Analyst Selim Kharrat im Gespräch mit der Autorin. Das Abgeordnetenhaus habe keinerlei Kontrolle mehr über den Präsidenten oder die Exekutive und sei daher undemokratisch. Es werde zu einer „Institution zweiten Ranges“ degradiert, „die nur dazu da ist, die politische Ausrichtung der Exekutive zu bestätigen.“ Beim ersten Wahlgang Mitte Dezember gaben nur elf Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab; der für 131 Wahlkreise angesetzte zweite Wahlgang Ende Januar wird daran nichts Entscheidendes ändern. Dies bringt Präsident Kais Saied in eine doppelt schwierige Lage. Denn die Parlamentswahlen sollten eigentlich ein wichtiger Schritt sein hin zu einem neuen politischen System, das einerseits die Regionen, andererseits die jungen Leute stärker repräsentiert. Doch weder im marginalisierten Landesinneren noch unter jungen Leuten war das Interesse an den Wahlen hoch. Zwei Drittel der Wählenden waren, wie auch viele Kandidaten, älter als 45 Jahre. Ob es die Boykottaufrufe der Opposition waren, die dem ganzen Prozess seit der Machtnahme Kais Saieds im Juli 2021 die Legitimität abspricht, Desinteresse an Saieds politischem Projekt und Politikverdrossenheit der Mehrheit der Tunesierinnen und Tunesier, oder schlicht das Gefühl, dass man vom Staat und seinen Institutionen nichts mehr erwarten kann: Die Wahlbeteiligung spricht eine deutliche Sprache. Hat Kais Saied sich verkalkuliert? Nachdem es kaum verlässliche Umfragen gab und der schwindende Rückhalt der Bevölkerung für den einst so populären Präsidenten lange nur ein mehr oder weniger solide mit Fakten unterfüttertes Gefühl war, ist die Wahlbeteiligung nun ein sehr deutlicher Hinweis darauf, dass er politisch angeschlagen ist. Ob sie auch ein Zei-

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36 Kommentare chen für ein nahes Ende seiner Macht ist, bleibt abzuwarten. Ein angeschlagener Präsident Die größte Bedrohung für Kais Saied ist allerdings nicht die Politik, sondern die Wirtschaft. Immer wieder beschuldigt er Spekulanten, Lobbies und ausländische Mächte, an der Misere Tunesiens Schuld zu sein. Austeritätsmaßnahmen, wie sie der IWF-Kredit auferlegen würde, lehnt er lautstark ab. Doch seine Regierung, die den Kredit verhandelt und deren Chefin er selbst ernannt hat, fährt ein liberales Programm von Steuerreformen und Subventionsabbau. Ein Widerspruch, der der Öffentlichkeit zunehmend schwer zu vermitteln ist. Fragt man im politischen Tunis danach, wie es weitergehen könnte, legen sich bei vielen Gesprächspartnern Sorgenfalten auf die Stirn. Ein klares Szenario für einen friedlichen Machtübergang und die Rückkehr zu demokratischeren Strukturen fehlt derzeit (noch). Das liegt zum einen daran, dass Kais Saied – seit Amtsantritt im Palast isoliert und wenig dialogbereit – es nicht in Betracht zu ziehen scheint, sich vor Ende seiner Amtszeit zurückzuziehen. Auch wenn ihm dies inzwischen selbst von denjenigen nahegelegt wurde, die seine politischen Vorhaben bis jetzt unterstützt haben. Auf Seiten der Opposition tut sich gleichzeitig niemand hervor, der in der Lage wäre, die politischen Gegner Saieds zu einen. Zu tief sind die Gräben zwischen denjenigen, die im Sinne der Sache bereit sind, mit der ehemals stärksten politischen Partei Ennahdha zusammenzuarbeiten, und denjenigen, die sie nach wie vor als Hauptverantwortliche für die Krisen der vergangenen zehn Jahre ansehen. Gleichzeitig haben die bekannten Parteien mit ihren verkrusteten Strukturen, ideologischen und personellen Grabenkämpfen in den Jahren seit dem Um-

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bruch ihren Rückhalt in der Bevölkerung verspielt. Für weite Teile der Tunesierinnen und Tunesier sind sie in ihrer heutigen Form Teil des Problems, nicht der Lösung. Bleibt die, wegen fehlender Regierungsbeteiligung noch vergleichsweise unbelastete, Liberale Destour-Partei (PDL) unter Führung von Abir Moussi. Die konservative 47jährige, die sich auf das Erbe von Staatsgründer Habib Bourguiba beruft und in der Partei von Ex-Machthaber Ben Ali groß geworden ist, schreibt sich zwar nicht wie Kais Saied die echte Revolution auf die Fahnen, steht ihm allerdings in Sachen Populismus nur in wenig nach. Vielleicht müsse man diese konterrevolutionäre Variante ja auch noch durchspielen, frotzeln einige Kommentatoren in Tunesien, bevor die Leute begreifen würden, dass sie keine Option ist. Wie so oft in Krisenzeiten richten sich die Blicke in Tunesien jetzt wieder auf den Gewerkschaftsbund UGTT. Dieser hatte vor zehn Jahren, als das Land nach den Morden an zwei linken Politikern schon einmal am Rande des politischen Kollapses stand, in monatelangen zähen Verhandlungen einen Weg aus der politischen Sackgasse aufgezeigt. Mit am Tisch saßen damals die Menschenrechtsliga, der Anwaltsverband und die Arbeitgebervereinigung. Letztere hat, um ihre Privilegien bedacht, seit der Machtübernahme Saieds die Füße stillgehalten. Doch die drei anderen versuchen nun erneut, die verschiedenen Konfliktparteien an einem Tisch zu versammeln. Noch sind ihre Versuche von wenig Erfolg gekrönt, da Kais Saied als ein entscheidender Akteur bis jetzt nicht auf ihre Gesprächsanfragen reagiert hat. Doch sie könnten in Zukunft noch eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht zu beweisen, dass Revolutionen eben selten geradlinig verlaufen, zuweilen mit Rückschritten verbunden sind und Zeit brauchen – aber schließlich trotzdem voranschreiten.



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Regina Viotto

Mindestlohn: Paradigmenwechsel in der EU? Der Gegenwind aus dem Arbeitgeberlager war massiv, doch im November 2022 trat die EU-Mindestlohnrichtlinie aller Lobbyarbeit zum Trotz in Kraft. Innerhalb der nächsten zwei Jahre muss sie nun in nationales Recht umgesetzt werden.1 Auch wenn damit weder ein einheitlicher europäischer Mindestlohn einhergeht noch in den Mitgliedsländern zwingend ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden muss, ist dieser Beschluss bemerkenswert. Denn erstmals in der Geschichte der Europäischen Union werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, die herrschende Lohnungleichheit wirksam zu verringern.2 Gemäß der Richtlinie müssen diejenigen Mitgliedstaaten, die bereits über gesetzliche Mindestlöhne verfügen, Verfahren für deren Festlegung und Anpassung an die Preisentwicklung schaffen. Bislang gilt in 22 von 27 EU-Staaten ein gesetzlicher Mindestlohn. In Dänemark, Finnland, Schweden, Italien und Österreich hingegen wird die Lohnhöhe durch Tarifverhandlungen festgelegt. Insbesondere Dänemark und Schweden bestanden darauf, ihr hohes tarifliches Lohnniveau zu sichern, das sie durch einen Systemwechsel hin zu europaweit vorgegebenen gesetzlichen Mindestlöhnen bedroht sahen. Deshalb werden in der Neuregelung auch tarifliche 1 Richtlinie (EU) 2022/2041 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.10.2022 über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union. 2 Ein einheitlicher europäischer Mindestlohn wäre angesichts des Lohngefälles in der EU nicht sinnvoll. Zudem hat die EU hierfür keine Kompetenz.

Lohnuntergrenzen anerkannt. Zudem schließt die in der Richtlinie festgeschriebene verpflichtende Aufwärtskonvergenz bei den Mindestlöhnen die Gefahr von sinkenden Sozialstandards definitiv aus. Für mehr Tarifbindung Nur wenige Bestimmungen der Richtlinie sind zwingender Natur. Insgesamt besteht ein weiter Gestaltungsspielraum für die Nationalstaaten. Für die Verfahren zur Festlegung und Aktualisierung von gesetzlichen Mindestlöhnen gibt es Kriterien, um einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen und zu verhindern, dass es trotz Erwerbstätigkeit zu Armut kommt („working poor“). Die Mitgliedstaaten werden dazu verpflichtet, bei der Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne „Referenzwerte“ zugrunde zu legen. Sie können dafür international übliche Richtwerte wie den sogenannten Kaitz-Index – 60 Prozent des Bruttomedianlohns – anwenden; sie können aber auch auf andere Referenzwerte zurückgreifen.3 Bemerkenswert ist die neue EURichtlinie auch wegen der Regelun3 Der Bruttomedianlohn ist der mittlere Lohn, der sich exakt in der Mitte der nach Größe angeordneten Löhne befindet. Der Durchschnittslohn, das arithmetische Mittel aller betrachteten Löhne, liegt höher, da er auch die Ausreißer nach oben und unten einbezieht. Der Kaitz-Index ist der international übliche Indikator zur Bewertung der Angemessenheit von Mindestlöhnen. Vgl.: Thorsten Schulten, Living wages oder Armutslöhne? Ziele einer europäischen Mindestlohnpolitik, in: „WSI-Mitteilungen“, 1/2016, S. 70 f.

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38 Kommentare gen zur Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung. Bislang dominierte in der EU-Rechtsetzung die Annahme, dass die Tarifbindung ein ökonomisches Hemmnis darstelle. Nach Artikel 4 der Richtlinie muss nun aber jeder Mitgliedstaat, in dem weniger als 80 Prozent der Arbeitnehmer über Tarifverträge verfügen, zwingend unter Beteiligung der Sozialpartner einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen erstellen. Diese Aktionspläne müssen einen klaren Zeitplan und konkrete Maßnahmen zur schrittweisen Erhöhung der Tarifbindung enthalten; sie müssen regelmäßig, mindestens alle fünf Jahre, überprüft und gegebenenfalls aktualisiert werden. Der europäische Gesetzgeber ist entschlossen, hier Verbindlichkeit zu schaffen und bloßen Absichtserklärungen vorzubeugen. Eine solche Tarifbindung von 80 Prozent erreichen in der EU nur Schweden, Finnland, Belgien, Österreich und Frankreich.4 Dass dennoch dieser hohe Schwellenwert gewählt wurde, spricht für das Bestreben der Union, den Prozess der rückläufigen Tarifbindung in vielen Mitgliedstaaten umzukehren. Auch Deutschland liegt mit der aktuellen Tarifbindung von nur noch ungefähr 50 Prozent – Tendenz weiter fallend – deutlich unter dieser Grenze. Somit ist es nun ebenfalls verpflichtet, Maßnahmen zur Erhöhung der Tarifbindung zu ergreifen. Noch im Jahr 1998 waren 76 Prozent der Beschäftigten in West- und 63 Prozent in Ostdeutschland tarifgebunden, bis 2019 sank die Quote auf 53 Prozent im Westen bzw. 45 Prozent im Osten der Republik.5 Mögliche politische Maßnahmen, um die Tarifbindung zu erhöhen, sind beispielsweise der Erlass eines Bundestariftreuegesetzes und entsprechender Ländergesetze sowie Erleich4 So Felix Syrovatka, Europäischer Mindestlohn: Ein Schritt in die richtige Richtung, www.jacobin.de, 16.6.2022. 5 Statistisches Bundesamt, Tarifbindung von Arbeitnehmern, www.destatis.de.

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terungen beim Verfahren, geltende Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären.6 Ein soziales Europa für alle? Eine Grundlage der neuen Richtlinie ist die europäische Säule sozialer Rechte, die 2017 proklamiert wurde und ein soziales Europa für alle verwirklichen soll. Arbeitnehmer sollen das Recht auf eine gerechte Entlohnung haben, die ihnen einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht (Kap. II, Grundsatz 6). Allerdings werden Löhne und Gehälter gemäß nationaler Verfahren festgelegt (Grundsatz 6, Absatz 3) und ein über nationales Recht hinausgehender Anspruch besteht nicht. Das wird sich zwar auch jetzt nicht ändern, aber die Mitgliedsländer stehen nun unter Zugzwang, für auskömmliche Löhne zu sorgen. Verkündet wurde diese Weichenstellung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im September 2020 in ihrer Rede zur Lage der Union, in der sie die neue Richtlinie ankündigte, die jetzt Verbindlichkeit schafft: „Doch zur Wahrheit gehört auch, dass sich Arbeit für viele Menschen nicht mehr lohnt. Dumpinglöhne nehmen der Arbeit ihre Würde, strafen auch Unternehmer, die ordentliche Löhne zahlen. Weil Dumping den Wettbewerb im Binnenmarkt verzerrt. Die Kommission wird deshalb einen Gesetzesvorschlag vorlegen, um die Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, einen Rechtsrahmen für Mindestlöhne einzuführen. Alle in Europa sollen einen Anspruch auf Mindestlohn haben, sei es im Rahmen einer Tarifvereinbarung oder dank eines gesetzlichen Mindestlohns.“7 6 In fast allen Bundesländern gibt es inzwischen Tariftreuegesetze, und die Ampel plant, ein entsprechendes Bundesgesetz zu verwirklichen. 7 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, COM 2020, 682 final, Begründung, S. 1.



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Offenbar hat die Kommission die empirische Wirklichkeit endlich, wenn auch reichlich spät, zur Kenntnis genommen: Während sie früher hohe Sozialstandards als Verzerrung des Wettbewerbs ansah, werden heute Dumpinglöhne kritisiert. So moniert sie in ihrer Begründung der Richtlinie, dass die nationalen gesetzlichen Mindestlöhne trotz der Erhöhungen der letzten Jahre in den meisten Mitgliedstaaten weiterhin zu niedrig sind und kein menschenwürdiges Leben gewährleisten. Zudem spricht sie nicht nur von positiven Effekten für die betroffenen Arbeitnehmer, sondern betont zugleich, dass auch die Unternehmen von Mindestlöhnen profitieren: „Bessere Arbeitsund Lebensbedingungen, auch durch angemessene Mindestlöhne, kommen sowohl Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als auch Unternehmen in der Union zugute und sind eine Grundvoraussetzung für inklusives und nachhaltiges Wachstum. […] Der Wettbewerb im Binnenmarkt sollte auf hohen Sozialstandards, Innovationen und Produktivitätssteigerungen beruhen und unter gleichen Bedingungen stattfinden.“8 Nach Jahren neoliberaler Politik, die vorrangig auf die Regelung des Marktes zugunsten der Wirtschaft und der Arbeitgeber setzte, scheint nun eine neue Sichtweise durch: So bedauert die Kommission in der Richtlinie, dass Tarifverhandlungsstrukturen in den letzten Jahrzehnten untergraben wurden, und zwar im Zuge der Zunahme atypischer und neuer Beschäftigungsformen und des damit verbundenen Rückgangs der Mitgliedstärke von Gewerkschaften.9 Jetzt konzipiert sie Europa als einen Lebensraum, in dem hohe soziale Standards für alle abhängig Beschäftigten gelten sollen – nicht zuletzt, weil dies auch für die Unternehmen von Vorteil sei.

Trotz des großen Spielraums der Richtlinie ist zu erwarten, dass sie eine starke Wirkung entfalten wird.

Denn die normierten Verfahrensvorschriften und insbesondere die verpflichtende Anwendung von international oder national üblichen Referenzwerten für die Berechnung der Mindestlöhne werden die Lohnuntergrenzen in den EU-Mitgliedstaaten tendenziell anheben. All jene politischen Kräfte, die Arbeitsarmut effektiv bekämpfen wollen, könnten künftig auf die Richtlinie verweisen, wenn die Höhe des Mindestlohns in den zuständigen Gremien ausgehandelt wird und werden dadurch gestärkt. Zudem werden die Kontroll- und Sanktionsbestimmungen der Richtlinie dafür sorgen, dass sie auch wirklich durchgesetzt wird. Deutschland erfüllt durch die Erhöhung des Mindestlohns im Oktober 2022 die diesbezüglichen Vorgaben der Richtlinie: Durch den Sprung von 10,45 auf 12 Euro kommt die Bundesrepublik in die Nähe des Richtwerts von 60 Prozent des Medianlohns und wird damit vom Nachzügler zu einem der Vorreiter in der EU.10 Die EU setzt mit der Richtlinie starke Impulse zur Erhöhung der Lohnuntergrenzen, auch wenn sie letztlich auf den Goodwill der Nationalstaaten angewiesen bleibt. Doch dies hätte man nur mit einem verbindlichen Referenzwert wie dem international üblichen Kaitz-Index umgehen können, der zu definitiven Lohnuntergrenzen geführt und sichergestellt hätte, dass das Problem der „working poor“ in den Mitgliedstaaten effektiv angegangen wird. Die verbindliche Festlegung des Kaitz-Indexes wäre aber politisch wohl

8 Ebd., S. 19. 9 Ebd., S. 20.

10 Malte Lübker und Thorsten Schulten, WSI-Mindestlohnbericht 2022, www.wsi.de, S. 16.

Auswirkungen auf die Sozialpolitik in den EU-Mitgliedstaaten

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40 Kommentare nicht durchsetzbar gewesen. Außerdem bestand die Sorge, dass die EU ihre Kompetenzen überschreitet und damit den rechtlichen Bestand der Richtlinie gefährdet.11 Es ist aber zu hoffen, dass die Richtlinie auch in der nun verabschiedeten Form dazu beiträgt, Arbeitsarmut in der EU signifikant zu bekämpfen.12 Insbesondere die zwingende Vorgabe, die Tarifbindung auf 80 Prozent zu erhöhen, verbunden mit der Verpflichtung, einen nationalen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen vorzulegen, wenn dieser Wert nicht erreicht wird, nährt diese Hoffnung. Denn eine hohe Tarifbindung geht üblicherweise mit einem hohen Lohnniveau und entsprechend hohen Mindestlöhnen einher. Kehrtwende im Modell der EU Das Ziel einer hohen Tarifbindung zeigt, dass die Union nicht mehr vorrangig als Markt betrachtet wird, sondern als Lebensraum, in dem soziale Rechte zentral sind. Wettbewerb soll nicht über niedrige Löhne stattfinden, und Lebens- und Arbeitsbedingungen in der EU sollen sich im Sinne einer sozialen Aufwärtskonvergenz verbessern. Diese Sichtweise steht in Kontrast zur bisherigen europäischen Politik und Rechtsprechung. Soziale Rechte wurden lange Zeit als Hemmnisse für den Binnenmarkt angesehen. Insbesondere die Austeritätspolitik der EU nach der Finanzkrise von 2008 hat zu Armut in den südlichen Ländern geführt. Dadurch sank das Lohnniveau 11 Deren verbindliche Festsetzung war eine zentrale politische Forderung von Gewerkschaften, vgl. Felix Syrovatka, a.a.O. 12 Die irische Regierung ist bereits mit gutem Beispiel vorangegangen und hat im November 2022 angekündigt, den nationalen Mindestlohn bis 2026 auf 60 Prozent des irischen Medianeinkommens zu erhöhen und ihn damit als „living wage“ auszugestalten, www.irishtimes.com, 16.11.2022.

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drastisch und die Arbeitslosigkeit stieg teilweise stark an.13 Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) war lange davon geprägt, dass kollektive soziale Rechte wie Streikrecht und Tariftreue den europarechtlichen wirtschaftlichen Grundfreiheiten (freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital) untergeordnet wurden.14 Nun aber richtet sich der europäische Gesetzgeber mit der Mindestlohnrichtlinie sozial neu aus. Hohe Arbeitnehmerstandards wie ein angemessener Mindestlohn sowie die Sozialpartnerschaft werden mit bisher nicht gekannter Deutlichkeit als positiv beschrieben. Um nachhaltig ein sozialeres Europa zu gestalten, müssen aber weitere Vorschriften folgen, beispielsweise eine Harmonisierung der Mindestkriterien in den Bereichen Mitbestimmung, Rente oder Ausbildung. Schritt für Schritt könnte so eine soziale Transformation der EU stattfinden. Zunächst aber geht es darum, die Richtlinie möglichst schnell in nationales Recht umzusetzen. Die Frist läuft bis November 2024. Angesichts der Inflation und horrender Preise, insbesondere für Energie und Lebensmittel, rief die Europaabgeordnete Gaby Bischoff (SPD) zu einem Wettbewerb unter den europäischen Mitgliedstaaten auf, wer die Richtlinie am schnellsten umsetze.15 Eine solche Art von Wettbewerb zwischen den Mitgliedern der EU wäre voll und ganz zu begrüßen. 13 Vgl. dazu Daniel Seikel, Was bringt die Europäische Säule sozialer Rechte, WSI-Policy Brief, Nr. 17/2017, S. 10. 14 Exemplarisch für viele Entscheidungen soll hier das „Rüffert“-Urteil des EuGH vom 3. April 2008, C-346/06, angeführt werden, in dem der EuGH eine Tariftreueregelung im damaligen niedersächsischen Vergabegesetz für europarechtswidrig erklärte. Vgl. dazu: Felix Stumpf und Markus Büchting, Arbeitnehmerrechte im Sinkflug. Wie der Europäische Gerichtshof die Gewerkschaftsmacht aushebelt, in: „Blätter“, 6/2008, S. 83-91. 15 Interview mit Gaby Bischoff, Mindestlohn in Europa: So funktioniert die neue EU-Richtlinie, www.vorwaerts.de, 26.9.2022.



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Michael Strebel

Schweiz: Volkssouveränität statt Verfassungsgericht Das politische System der Schweiz ist reich an besonderen Merkmalen. Recht bekannt sind Volksentscheide per Referendum und Initiative1; die siebenköpfige, Bundesrat genannte Landesregierung, in der die vier wählerstärksten Parteien vertreten sind; und eine Bundespräsidentin oder ein Bundespräsident als Prima/Primus inter Pares, die oder der vom Parlament aus dem Kreis der Bundesratsmitglieder für die Dauer eines Jahres gewählt wird. Doch es gibt ein weiteres, weit weniger bekanntes und gleichwohl bemerkenswertes Charakteristikum: das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit. In der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) heißt es im Artikel 190: „Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden maßgebend.“2 Diese Bestimmung geht bereits auf die Revision der Bundesverfassung im Jahr 1874 zurück und hat erhebliche Konsequenzen: Bundesge1 Abänderungen der Bundesverfassung (BV) oder der Beitritt zu einer internationalen Organisation sind dem Volk obligatorisch zur Abstimmung vorzulegen, Bundesgesetze dann, wenn 50  000 Stimmberechtigte oder acht Kantone dies innerhalb von 100 Tagen nach der amtlichen Veröffentlichung verlangen. 100 000 Stimmberechtigte können innerhalb von 18 Monaten nach der amtlichen Veröffentlichung ihrer Initiative eine Änderung der BV per Volksentscheid vorschlagen. 2 Das Bundesgericht beurteilt Streitigkeiten wegen Verletzungen von Bundesrecht, Völkerrecht, interkantonalem Recht, kantonalen verfassungsmäßigen Rechten, eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen über die politischen Rechte sowie der Gemeindeautonomie und anderer Garantien der Kantone zugunsten von öffentlich-rechtlichen Körperschaften.

setze müssen auch dann angewendet werden, wenn sie verfassungswidrig sind.3 Verschiedene Akteure haben immer wieder versucht, die Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesgesetze auszudehnen: Parlamentsmitglieder, aber auch Regierungsvertreter von Kantonen, die eine Kontrolle derjenigen Bundesgesetze forderten, die mutmaßlich die verfassungsmäßigen Kompetenzen der Kantone verletzen.4 Der jüngste Versuch datiert vom Herbst 2022: Im Ständerat, einer der beiden Parlamentskammern, wurden zwei „parlamentarische Vorstöße“ mit dem Titel „Grundrechte und Föderalismus stärken und die Rechtsstaatlichkeit festigen“ eingereicht.5 Die identischen Vorstöße von Parlamentariern der Grünen und der Partei Die Mitte6 bezweckten die Streichung von Artikel 190, mit dem Argument, dass das Bundesgericht in der Verfassung garantierte Grundrechte – etwa Eigentumsrechte, Wirtschaftsfreiheit, Rechtsgleichheit, Willkürverbot, Verhältnis3 Vgl. Giovanni Biaggini, Kommentar Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2017, S. 1451. 4 Vgl. ders., Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: „Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen“, 1/2022, S. 2 f. 5 Der Nationalrat besteht aus 200 Abgeordneten des Volkes, der Ständerat aus 46 Abgeordneten der Kantone. Parlamentarische Vorstöße richten sich in der Regel an den Bundesrat, beispielsweise, um die Änderung eines Gesetzes zu verlangen oder Auskünfte über ein politisches Thema zu erhalten. 6 Im Jahr 2021 schlossen sich die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) und die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP) zur Partei „Die Mitte“ zusammen.

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42 Kommentare mäßigkeit oder Wahrung von Treu und Glauben – gegenüber dem Bundesgesetzgeber nicht durchsetzen könne. Des Weiteren zielte die Begründung auch auf die Kantone: „Die Aufhebung von Artikel 190 BV stärkt auch den Föderalismus, wenn die Kantone die Einhaltung der Zuständigkeitsordnung durch den Bundesgesetzgeber gerichtlich überprüfen lassen können.“7 Diese beiden Motive ziehen sich durch alle bisherigen Versuche zur Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Aber auch der Bundesrat bleibt bei seiner skeptischen Position: „Im Kern steht die Stärkung von Rechtsstaat und Föderalismus dem Risiko eines Eingriffs in ein austariertes und funktionierendes System der Gewaltenteilung gegenüber, in welchem das direktdemokratische Element traditionell stark gewichtet wird.“8 Wenig überraschend beantragte die Exekutive im Parlament die Ablehnung des Vorstoßes. Wer hat das letzte Wort? Anschließend prüfte die Staatspolitische Kommission des Ständerates das Anliegen. Mit sechs zu sechs Stimmen bei einer Enthaltung und nach Stichentscheid des Kommissionspräsidenten beantragte die Kommission, den parlamentarischen Vorstoß anzunehmen.9 Die „Kommissionsmehrheit [kommt] zum Schluss, dass die fehlende Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen durch die Schweizer Rechtsbehörden eine Lücke im Schweizer Rechtssystem darstellt. Das geltende Verfassungsrecht biete den Bürgerinnen und Bürgern kein Rechtsmittel für den Fall, dass ein Bundesgesetz die in der Bundesverfassung garantierten Grundrechte verletzt. 7 Ständerat, Motion 21.3689 Engeler und Motion 21.3690 Zopfi. 8 Stellungnahme des Bundesrats, 8.9.2021. 9 Medienmitteilung Staatspolitische Kommission, Knapper Entscheid für Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen, 8.4.2022.

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Auch die Kantone könnten sich nicht verteidigen, wenn ein Bundesgesetz gegen die verfassungsmäßige Kompetenzverteilung verstößt.“10 Die Kommissionsminderheit beurteilte die Frage gänzlich anders: Die Volksrechte, insbesondere das Referendum gegen ein Bundesgesetz, stellten „ein ausreichendes Korrektiv für die gesetzgeberische Tätigkeit des Parlaments dar. Sie weist darauf hin, dass zu Bundesgesetzen das Referendum ergriffen werden kann und diese dadurch von der Stimmbevölkerung ausdrücklich oder stillschweigend gutgeheißen werden. Der ausdrücklichen Zustimmung des Parlaments bedürften sie so oder so. Es sei deshalb nicht vertretbar, dass die Meinung einer kleinen Zahl von Richterinnen und Richtern, die ein Gesetz für verfassungswidrig befinden, Vorrang erhalte vor dem Volkswillen oder zumindest vor dem Willen der parlamentarischen Vertreterinnen und Vertreter von Volk und Ständen [also Kantonen].“11 In der parlamentarischen Beratung im Ständerat verliefen die Pro- und Kontrapositionen quer durch die Fraktionen, wie die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) konstatierte.12 Ein Ständerat der Sozialdemokratischen Partei und Juraprofessor plädierte mit Verve für eine Verfassungsgerichtsbarkeit und stellte die rhetorische Frage: „Warum um Himmels willen sollte an einem einzigen Punkt im Aufbau unseres Rechtsstaates keine Kontrolle stattfinden?“13 Ein Parteikollege und Rechtsanwalt plädierte – mit ebenso großer Leidenschaft – dafür, dass die bewährte „institutionelle Ordnung“ beibehalten werden müsse.14 In der Fraktion Die Mitte zeichnete sich das gleiche Bild ab: Während ein Ständerat 10 Bericht der Staatspolitischen Kommission, 8.4.2022, S. 5. 11 Ebd., S. 6. 12 Vgl. Braucht die Schweiz ein Verfassungsgericht?, in: „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ), 11.6.2022, S. 13. 13 Amtliches Bulletin (AB) 2022, S. 657. 14 Ebd., S. 660.

– ein ehemaliges Mitglied einer Kantonsregierung –, eindringlich davor warnte, eine Verfassungsgerichtsbarkeit einzuführen, appellierte sein Parteikollege – ebenfalls ein ehemaliges Mitglied einer Kantonsregierung –, an den „Mut“ der Ständerätinnen und Ständeräte, endlich zu diskutieren, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit am besten konkret ausgestaltet werden könne.15 Ein parteiloser Ständerat brachte seine Ambivalenz zum Ausdruck: „Es gibt für beide Positionen gute Gründe. Vielleicht ist hier die Stimmenthaltung für einmal das Richtige.“16 Für alle Kontrahenten stand das staatspolitische Spannungsverhältnis zwischen Volksentscheiden, Parlament und Gerichtsbarkeit im Fokus – mit widersprüchlichen Schlussfolgerungen. In der direkten Demokratie habe der Souverän das letzte Wort, und die Verfassungsgerichtsbarkeit sei ein unnötiges Element, ja „geradezu ein Fremdkörper im Gesetzgebungsprozess“. In den Worten eines Ständerates: „Die Vorstellung, dass ein Richtergremium von fünf oder sieben Personen einen Volksentscheid umstoßen könnte, wenn möglich durch ein Zufallsmehr mit einer Stimme Unterschied, ist für mich als Demokrat unerträglich.“17 Andererseits wurde argumentiert, dass es wichtig sei, dass es eine verfassungsmäßige Kontrolle darüber gebe, ob das Parlament eine Volksinitiative verfassungskonform umgesetzt habe.18 Kein »Richterstaat« Die Diskussion zeigte ferner Vorbehalte gegenüber einem neuen Richtergremium. Die Justiz entscheide per se nicht „apolitisch“, denn Richterinnen und Richter hätten politische Werte und seien daher nicht unabhängig. 15 Vgl. ebd., S. 653 ff. 16 Ebd., S. 656. 17 Ebd., S. 656 und S. 654. 18 Ebd., S. 653.

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„Würden wir das Bundesgericht zum Verfassungsgericht ausbauen, würden wir die Politisierung der Justiz noch befördern.“19 In diesem Zusammenhang richtete sich der Blick auf den stark politisierten US-amerikanischen Supreme Court, aber auch in europäische Nachbarländer: „Wir sehen in Deutschland und Frankreich“, so ein Ständerat, „wohin eine exzessive Gerichtsbarkeit führen kann. Dort werden fundamentale gesellschaftspolitische Fragen von einem kleinen Richtergremium mit [knappen Mehrheitsentscheiden] geklärt. Das möchte ich nicht, das passt nicht zum schweizerischen Polit- und Rechtssystem.“20 Dieser Einschätzung widersprach kurz darauf ein Altbundesrichter in einem Gastbeitrag in der NZZ: Eine Verfassungsgerichtsbarkeit könne durchaus „demokratisch ausgestaltet werden“ und würde die „Schweiz nicht zu einem Richterstaat machen“.21 Aber auch in den Reihen der Altbundesrichter gibt es differenzierte Pro- und Kontraabwägungen.22 „Der Ständerat will keinen Richterstaat“,23 brachte die NZZ die Debatte auf den Punkt. Am Ende war das Verdikt des Ständerats eindeutig: 29 Neinstimmen bei 15 Jastimmen und einer Enthaltung.24 Mit diesem Entscheid war das Anliegen erneut beerdigt. Der Ständerat habe dafür gesorgt, so die NZZ weiter, „dass die Bundespolitik vor unliebsamen Auseinandersetzungen über Demokratie und Richterstaat verschont bleibt“. Ironischerweise gab es nur wenige Tage nach der Abstimmung eine kontroverse Debatte, ob ein Artikel der Vorlage für die Änderung des Energie19 Ebd., S. 664. 20 Ebd., S. 656. 21 Ulrich Meyer, Verfassungsgericht und „Richterstaat“, in: NZZ, 28.10.2022, S. 18. 22 Vgl. Hansjörg Seiler, in: „Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen“, 1/2022, S. 10-17. 23 Der Ständerat will keinen Richterstaat, in: NZZ, 13.9.2022, S. 8. 24 AB 2022, S. 663.

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44 Kommentare gesetzes verfassungswidrig sei. Nach eingehender Diskussion sah der Ständerat von der entsprechenden Änderung ab. Aber nun wird es kompliziert: Wiederum nur einige Tage später wurde das Energiegesetz um eine Passage ergänzt, deren Verfassungskonformität ebenfalls bezweifelt wurde.25 In der Diskussion ging es kontrovers um die Frage, ob eine drohende Strommangellage die Grundrechte eher gefährde als die gerade verabschiedete neue Gesetzespassage, die das Risiko einer Mangellage verringern soll.26 Hinzu kam, dass der betroffene Teil des Gesetzes vom Gesamtgesetz losgelöst wurde und wegen der aktuellen energiepolitischen Notlage als eigenständige Vorlage behandelt und vom Parlament als „dringlich“ erklärt wurde. Dadurch trat die Passage nach der Abstimmung unverzüglich in Kraft, so dass eine mögliche Referendumsab25 Vgl. Alain Griffel, „Bei dieser Hauruck-Gesetzgebung bleibt zu viel unklar“, in: „Tages-Anzeiger“, 30.9.2022, S. 5; Kurt Fluri, Leichtfertiger Umgang mit der Verfassung, in: „Neue Zürcher Zeitung“, 20.10.2022, S. 18; Wie Solaranlagen durchgeboxt werden, in: „Tages-Anzeiger“, 31.10.2022, S. 3. 26 Vgl. Ruedi Noser, Strom sichern heißt Verantwortung übernehmen, in: „Neue Zürcher Zeitung“, 2.11.2022, S. 18.

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stimmung ein Gesetz betreffen würde, das bereits angewendet wird – die Umkehrung des üblichen Ablaufs.27 Diese Episode zeigt zweierlei: Erstens kann die Frage nach einem Verfassungsgericht nicht als theoretische Debatte ohne reale Bezüge abgetan werden. Diese mögen zwar selten sein, aber es gibt sie. Zweitens wirft die geschilderte Diskussion um das Energiegesetz die Frage auf, ob grundlegende Gesetzesvorhaben, deren Verfassungsmäßigkeit sehr unterschiedlich eingeschätzt wird, nicht besser grundsätzlich geklärt werden sollten. Eines scheint gewiss: Die Frage nach der Möglichkeit der Überprüfung von Bundesgesetzen auf ihre verfassungsmäßige Beschaffenheit durch ein Bundesgericht wird umso häufiger neu aufgeworfen werden, je öfter per Notrecht Maßnahmen beschlossen oder (Teil-) Gesetze erlassen werden, deren Verfassungsmäßigkeit angezweifelt wird. Institutionelle Reformen des Staates haben es in der Schweiz schwer. Das Beharrungsvermögen ist sehr stark und die Hürden für Veränderungen sind hoch. Daher spricht einiges für die Beibehaltung des Status quo, da die überwiegende Mehrheit der Gesetze der Verfassung entspricht. Doch wird dies vermutlich mit einem typisch schweizerischen Vorgehen verbunden: dem Appell an die Abgeordneten, ihrer Verantwortung als Gesetzgeber gerecht zu werden. Sollte irgendwann doch noch eine Mehrheit im Parlament für ein Verfassungsgericht votieren, so müssen anschließend zwingend sowohl eine Mehrheit der Kantone als auch der Souverän zustimmen. Dies hat aber auch sein Gutes, denn die Erfahrung zeigt: Dergestalt getroffene Entscheidungen erzeugen eine starke Legitimität und eine hohe Akzeptanz, was gerade bei derart wichtigen staatspolitischen Weichenstellungen ein hohes demokratisches Gut darstellt. 27 Dringliche Gesetze sind allerdings zeitlich zu befristen.

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Streiken fürs Gemeinwohl: Lernen von den US-Gewerkschaften Unterrichtsausfall wegen fehlender Lehrkräfte, übervolle Notaufnahmen in Krankenhäusern und lange Schlangen vor Bürgerämtern: Der desolate Zustand der öffentlichen Daseinsvorsorge offenbarte sich in den vergangenen Monaten eindrücklich – grundlegende Verbesserungen sind allerdings nicht in Sicht. Um diese gesellschaftlich zu erkämpfen, könnten sich die hiesigen Gewerkschaften ein Beispiel an den USA nehmen, fordert die Politikwissenschaftlerin Fanny Zeise. Die Probleme der staatlichen Daseinsvorsorge sind seit Jahren bekannt und wurden spätestens mit der Coronapandemie für alle sichtbar – ob beim unzureichenden Nah- und Fernverkehr, fehlenden Kitas oder unterfinanzierten Kinderkliniken. Doch es gibt massive politische Hürden, die grundlegenden Veränderungen entgegenstehen: Regelungen wie das europäische Abkommen zur Haushaltsstabilität und die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse sichern die vorherrschende neoliberale Austeritätspolitik institutionell ab. Um in Auseinandersetzungen für einen bedarfsgerechten Ausbau öffentlicher Dienstleistungen wirksam Boden zu gewinnen, sind daher neue Strategien gefragt. Innovative Perspektiven dafür bieten die jüngsten erfolgreichen Auseinandersetzungen der Lehrkräfte in den USA. Eine Streikwelle von Lehrkräften in sechs US-Bundesstaaten, darunter West Virginia, Oklahoma und Kentucky, die spontan im April 2018 begann, konnte wider Erwarten weitreichende Erfolge erzielen. An einem weiteren fulminanten Streik der United

Teachers Los Angeles (UTLA), der Gewerkschaft der Lehrkräfte, beteiligte sich 2019 mit 30 000 von 34 000 Lehrer:innen eine überwältigende Mehrheit der dortigen Beschäftigten. Neben höheren Löhnen und kleineren Klassen setzten die Streikenden auch Grünflächen an jeder Schule und einen Rechtshilfefonds für von Abschiebung bedrohte Schüler:innen durch. Zudem konnten sie mit dem ersten Streik seit 1989 die angekündigte Ausweitung von Privatschulen verhindern. Auf dem Weg zu diesem historischen Erfolg trafen die Gewerkschafter:innen auf enorme Schwierigkeiten: das restriktive US-Streikrecht, die neoliberal geprägten politischen Rahmenbedingungen in Kalifornien sowie eine seit Jahrzehnten kaputtgesparte öffentliche Schullandschaft, gegen die schon seit 2015 eine professionelle Kampagne zugunsten von mehr Privatschulen geführt wurde. Zunächst mit Erfolg: Die Leitung der Schulbehörde wurde mit Privatisierungsbefürwortern besetzt. Wie gelang es der Gewerkschaft, trotz dieser Hürden erfolgreich zu sein,

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46 Fanny Zeise und was können deutsche Gewerkschaften daraus lernen? » Die Lehrergewerkschaft stellte das Gemeinwohl in den Mittelpunkt: ein besseres und ausfinanziertes Bildungssystem.« Die hohe Streikbeteiligung verdankte sich dem jahrelangen Aufbau von Gewerkschaftsmacht mittels sogenannter Organizing-Methoden1 zur Mobilisierung der Basis vor Ort. Schon seit 2015 zielten diese in Los Angeles auch darauf ab, Elternbündnisse einzubinden. Mit dem Ansatz des „Bargaining for the Common Good“ („Verhandeln für das Gemeinwohl“) stellte die Lehrergewerkschaft nicht Gehaltsforderungen, sondern das Gemeinwohl in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung: ein besseres und ausfinanziertes Bildungssystem.2 Im Bündnis mit Schüler:innen, Eltern und der lokalen Community stellten die UTLA und andere Lehrergewerkschaften zu Beginn der Tarifrunde gemeinsame Forderungen auf, die über Gehaltserhöhungen und kleinere Klassen hinausgingen und damit rechtlich nicht als tariffähig galten. Angesichts der massiven Unterfinanzierung der Schulen drohten bloße Lohnforderungen in der Bevölkerung, aber auch unter den Lehrkräften selbst, als zynisch wahrgenommen zu werden. Mit dem Fokus auf das Gemeinwohl hingegen konnte breit getragener politischer Druck gegen die Austeritätspolitik aufgebaut werden. Das Gemeinwohl in den Fokus zu nehmen und mit gewerkschaft1 Unter „Organizing“ versteht man die direkte Vor-Ort-Ansprache der Beschäftigten zum Aufbau gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht. 2 Vgl. Joseph McCartin, Marylin Sneidermann und Maurice BP-Weeks, Combustible Convergence: Bargaining for the Common Good and the #RedForEd Uprisings of 2018, in: „Labor Studies Journal“, 1/2020, S. 97-113.

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lichen Forderungen zu verknüpfen, ist kein völlig neuer Ansatz. Beschäftigte vieler Berufe wünschen sich neben ausreichender Bezahlung ein Arbeitsumfeld, das ihre Tätigkeit nicht konterkariert. So setzen sich Pflegekräfte für mehr Personal ein, weil sie die mangelhafte Versorgung der Patient:innen mit ihrem Pflegeethos nicht vereinbaren können. In Deutschland unterstreicht ihr Slogan „Mehr von uns ist besser für alle“, wie unmittelbar hier die Anliegen von Beschäftigten und das Gemeinwohl in eins fallen. Die Streiks der Lehrkräfte in den USA intensivierten, systematisierten und popularisierten die gemeinwohlorientierte Herangehensweise: So wurden erstens die Forderungen zusammen mit Bündnispartnern und Betroffenen aufgestellt und eine gemeinsame Strategie für die Tarifrunde entwickelt. Dadurch entstanden enge und langfristige Beziehungen. Die Forderungen nahmen zweitens die jeweils speziellen Anliegen aller Betroffenen auf. Und drittens setzten die Beschäftigten ihre Macht in den Tarifverhandlungen gezielt für diese Gemeinwohlforderungen ein – in Form von Arbeitsniederlegungen. Weil die Behörde kein verhandlungsfähiges Angebot vorlegte, rief die UTLA schließlich zu einem sechstägigen Streik auf. Dadurch verschoben sich die Kräfteverhältnisse deutlich. Neben dem fast vollständigen Ausstand an den Schulen zeigten die täglichen Demonstrationen mit etwa 60 000 Lehrkräften, Schüler:innen und Eltern, dass die gesellschaftliche Stimmung auf Seiten der Streikenden war. Neben den gemeinsamen Demonstrationen mit Elternbündnissen und anderen waren Besuche bei Politiker:innen und bildungspolitische Diskussionsveranstaltungen sowie die Notbetreuung und Verpflegung junger Schüler:innen berufstätiger Eltern integrale Bestandteile des Streiks der Lehrkräfte. Angesichts der Tatsache, dass Streiks schon seit Jahren nicht mehr als

Streiken fürs Gemeinwohl: Lernen von den US-Gewerkschaften Druckmittel genutzt – oder regelmäßig für illegal erklärt – worden waren, war diese Solidarität sehr wichtig. » Die Verknüpfung von Bündnisarbeit und Massenstreiks entfaltete ausreichend politischen Druck für die gewerkschaftlichen Forderungen.« Sie ermutigte die Beschäftigten und erschwerte Repressionen gegen die Streiks. Diese Verknüpfung von Bündnisarbeit und Massenstreiks entfaltete ausreichend politischen Druck für die gewerkschaftlichen Forderungen. Zwar reagierte die Schulbehörde in Los Angeles zunächst mit einer Klage gegen den Streik. Angesichts der drohenden Illegalisierung des Arbeitskampfes strich die UTLA die nicht tariffähigen Forderungen formal aus ihrem Verhandlungskatalog, sicherte ihren Bündnispartnern jedoch zu, die Themen der Community weiterhin stark zu machen, wenn es zu Verhandlungen käme. Auf diese Weise ließ die gewachsene Zusammenarbeit des Bündnisses die Klagen der Schulbehörde gegen den Streik ins Leere laufen. Unter hohem politischem Druck intervenierten schließlich der Bürgermeister von Los Angeles und der Gouverneur des Bundesstaates Kalifornien und zwangen die Schulbehörde, auf die Lehrkräfte zuzugehen. Die Strategie der UTLA – die Annahme der Forderungen der Community zur politischen Vorbedingung von Tarifverhandlungen zu machen – ging auf. Auf diese Weise konnte die Gewerkschaft nicht nur die unmittelbaren Arbeitsplatzinteressen, sondern auch die gesellschaftspolitischen Forderungen ihrer Mitglieder und Bündnispartner durchsetzen.3 3 Jane McAlevey, Macht. Gemeinsame Sache. Hamburg 2020, S. 160-182; dies., Restoring Working-Class Power: Super Majority Strikes, www.transform-network.net, 18.4.2019.

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Viele Anregungen zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit kommen aus den USA, weil die dortigen Gewerkschaften sich innovativ unter sehr viel härteren Bedingungen als hierzulande durchsetzen müssen. Auch in der Bundesrepublik verschlechtern verschärfte Austeritätsregeln und Privatisierungen seit Anfang der 1990er Jahre die Arbeitsbedingungen im Nahverkehr, in Kliniken oder bei der Post massiv. Der permanente Sparzwang blutet den öffentlichen Dienst aus, immer weniger Personal muss die gleiche oder meist sogar mehr Leistung erbringen, und die Qualität der Daseinsvorsorge leidet. Die Gewerkschaften, die sich lange auf ein sozialpartnerschaftliches Verhältnis zu den öffentlichen Arbeitgebern verlassen haben, werden durch diese Politik – die zudem mit der Zersplitterung des Flächentarifvertrags einherging – deutlich geschwächt. Gleichzeitig belastet die sinkende Qualität öffentlicher Dienstleistungen Bürger:innen wie öffentlich Bedienstete immer stärker.

» Deutsche Gewerkschaften argumentieren zwar häufig mit dem Allgemeininteresse, verzichten aber darauf, gemeinsam mit potenziellen Bündnispartnern Forderungen zu erarbeiten.« Vor allem Pflegekräfte stellen sich seit einigen Jahren dieser Entwicklung entgegen und konnten erste Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und der Gesundheitsversorgung durchsetzen. So streikten die Beschäftigten in den Kliniken in Berlin und Nordrhein-Westfalen nicht nur über 30 bzw. 77 Tage lang, sondern entwickelten auch eine flankierende politische Kampagne. Ver.di legte den Beginn der Auseinandersetzung bewusst in die jeweils anstehenden Landtagswahlkämpfe, um die Politik

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48 Fanny Zeise unter Druck zu setzen, und erreichte damit, dass die Klinikleitungen auf Weisung der Landesregierungen auf die Beschäftigten zugingen. Die Lage in den hiesigen Krankenhäusern ist allerdings noch immer prekär – mit der katastrophalen Versorgungssituation rund um den Jahreswechsel und den angekündigten Änderungen der Krankenhausfinanzierung durch Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist nun wieder Bewegung in die Debatte gekommen.4 Damit sich grundlegend etwas zugunsten der Kranken und der im Gesundheitssektor Beschäftigten ändert, müssen neben Klinikleitungen und Landespolitik insbesondere diejenigen in den Blick genommen werden, die auf Bundesebene die Austeritätsregeln verändern können. Hierbei sollten sich die deutschen Gewerkschaften an den Strategien ihrer amerikanischen Kolleg:innen orientieren. Denn der Ansatz „Bargaining for the Common Good“ geht in grundlegenden Aspekten über die hiesige Bündnispolitik hinaus. Auch wenn deutsche Gewerkschaften häufig mit dem Allgemeininteresse argumentieren, verzichten sie darauf, gemeinsam mit potenziellen Bündnispartnern Positionen zu erarbeiten und schrecken davor zurück, gesellschaftspolitische Forderungen in den Tarifverhandlungen aufzugreifen und für diese Anliegen zu streiken. Das sollte sich dringend ändern. Denkbar wäre, gemeinsam mit Patient:inneninitiativen, Fachgesellschaften sowie Medizin- und Pflegewissenschaft Forderungen zu notwendigen Personalstandards und Veränderungen in den Kliniken zu entwickeln. Diese könnten zusammen mit lokalen Bündnissen sowohl Öffentlichkeit schaffen und die Bundespolitik ins Visier nehmen als auch die Streiks vor Ort unterstützen. So 4 Vgl. Ulrike Baureithel, Mutig erkämpft: Bessere Pflege in NRW, in: „Blätter“, 9/2022, S. 33-36 sowie dies. und Olga Staudacher in dieser Ausgabe.

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entstünde ein Bündnis auf Augenhöhe mit jenen, die auf das Gesundheitssystem angewiesen sind. Eine bundesweite Auseinandersetzung um die Krankenhausversorgung, bei der eine breite politische Bündniskampagne und die Streikmacht der Beschäftigten ins Feld geführt werden, könnte einen Aufbruch zur Überwindung der jahrelangen Unterfinanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge einläuten. » Verbände und Initiativen sollten gewerkschaftliche Macht nutzen.« Weitere Ansatzpunkte für strategisch angelegte Konflikte, bei denen Gemeinwohl und Beschäftigteninteressen unmittelbar zusammenfallen, sind Personalquoten in Schulen und Kitas. Entlastungsforderungen waren ein wichtiger Baustein in den Konflikten im Sozial- und Erziehungsdienst Anfang 2022, immer wieder finden beispielsweise in Berlin Streiks der Lehrkräfte für kleinere Klassen statt. In der kommenden Tarifrunde 2024 im öffentlichen Nahverkehr kann ver.di sogar auf Bündniserfahrungen mit Fridays for Future vier Jahre zuvor aufbauen, die zeigen, wie gut sich Beschäftigteninteressen und Klimaschutz mit der Forderung nach dem Ausbau und der Ausfinanzierung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs verbinden lassen. Gerade weil sie im Vergleich zu den USA noch über deutlich höhere Machtressourcen verfügen, sind die deutschen Gewerkschaften gut beraten, Schritte in Richtung offensiver und bündnisorientierter Strategien zu gehen, um einer weiteren Erosion der Gewerkschaftsmacht entgegenzuwirken. Umgekehrt gilt es für Verbände, soziale Bewegungen und Initiativen, die gewerkschaftliche Macht zu nutzen und Tarifrunden als Gelegenheiten zu begreifen, um für eine auskömmliche Finanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge zu streiten.

DEBATTE

Ukrainekrieg und Zeitenwende: Wider die Nationalisierung des Gedenkens Putins Angriffskrieg markiert auch eine Herausforderung für die deutsche Erinnerungskultur: Einst hatte die Rote Armee Auschwitz befreit, heute sterben ukrainische Holocaust-Überlebende durch russische Raketen. Gegen eine Vereinnahmung der deutschen Erinnerungskultur hilft nur eine Abkehr von nationalen Gedenkweisen, so der Historiker Benet Lehmann. Wladimir Putin rechtfertigt seinen Krieg in der Ukraine mit diversen geschichtlichen Bezügen. Neben dem Phantasieren über das großrussische Imperium ist es der vermeintliche Kampf gegen einen neu erstarkenden Faschismus, der Bevölkerung und Soldaten mobilisieren soll: Angeblich kämpften die Streitkräfte Russlands als Nachfolger der Roten Armee gegen ein neues nazistisches Regime, das sich in der Ukraine und auch in Europa ausbreite. Geschichte dient hier als willkommenes Mittel, um individuelle und kollektive Identitäten herzustellen. Putin setzt sich, teils aus historisch-faktischen, teils aus erdachten Bausteinen, ein verqueres Geschichtsbild zusammen und stellt dafür die Koordinaten der Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg auf den Kopf.1 Aus „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ wird bei ihm in kruder Logik „Nie wieder Faschismus, deshalb führen wir Krieg.“ Diese historische Aufladung sorgt auch für Spannungen in der deutschen Erinnerungskultur. Ein Jahr nach dem 1 Andrej Kolesnikov,: Erinnerung als Waffe. Die Geschichtspolitik des Putin-Regimes, in: „Osteuropa“, 6/2020, S. 3-28, hier S. 4.

Einmarsch Russlands in die Ukraine ist klar: Viele erinnerungspolitische Akteur:innen in Deutschland tun sich schwer mit der historischen Komplexität der aktuellen Situation. Denn trotz der Vernichtungsideologie Putins bleibt die Rote Armee die Befreierin von Auschwitz und damit ein wichtiger Teil deutschen Gedenkens. Doch das lässt die Erinnerungskultur in Deutschland an ihre Grenzen kommen – und das in einer Zeit, in der sie sowieso schon in der Krise steckt. Dabei gibt es Erinnerungskultur selbstverständlich nie im Singular, vielmehr sind es verschiedene Praktiken des Erinnerns, die auch widersprüchlich nebeneinanderstehen können. Doch egal ob staatliche, zivilgesellschaftliche, politische oder hybride Institution, keine kann sich dem Diskurswandel in der Memoralisierung seit dem russischen Angriffskrieg entziehen. Insbesondere die Linke hat dabei ihre Schwierigkeiten; das haben im vergangenen Jahr bereits der 8. und 9. Mai verdeutlicht. Kritik an westlichen Interessen, mit einem Rekurs in die Geschichte der Nato-Osterweiterung, lässt sich nicht leicht formulieren,

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50 Benet Lehmann wenn der Aggressor diese schamlos ausnutzt. Auch die Verurteilung des heutigen Russlands bei gleichzeitigem Hochhalten der Flaggen der Befreier funktioniert nur bedingt, sondern erzeugt vielmehr einen Erbstreit um die russische Geschichte. So wurde im vergangenen April das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park in Berlin mit Schriftzügen wie „Death to all Russians“ oder „Fascists“ beschmiert. Die VVN-BdA, eine der größten erinnerungskulturellen nichtstaatlichen Organisationen Deutschlands, verurteilte dies und wies zu Recht darauf hin, dass auf dem Friedhof des Ehrenmals neben russischen auch ukrainische Soldat:innen begraben liegen.2 Vor ähnlichen Schwierigkeiten stand das Gedenken rund um den 77. Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau, dem Urtypus deutscher Konzentrationslager. Die russischen und belarussischen staatlichen Vertreter:innen wurden ausgeladen, nachdem anderthalb Monate zuvor bei einem Bombenangriff der russischen Streitkräfte der ukrainische Überlebende des Konzentrationslagers Buchenwald Boris Romantschenko umgekommen war. Seitdem ist das Gedenken in Dachau stiller geworden und die Sorge vor Konflikten verschiedener Interessengruppen in der Gedenkstätte gestiegen. » Die Indienstnahme von Erinnerung verweist auf das Problem der staatlichen deutschen Erinnerungskultur: ihre Verengung auf eingeübte Muster.« Vor einem Jahr rief Olaf Scholz die „Zeitenwende“ aus. Bei diesem Großbegriff kann man den Mantel der Geschichte förmlich im Wind flattern hören. Ähnlich wie bei der Covid-19-Pan2 „Death to all russians“: Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park geschändet, www.vvnbda.de, 7.4.2022.

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demie ist hier das in den letzten zehn Jahren vermehrt auftretende Phänomen der mitlaufenden Historisierung zu beobachten: Es wird nicht nur mit Geschichte Politik gemacht, sondern Erinnerungskultur noch vor dem Abschluss des eigentlichen Ereignisses geschaffen und politisch genutzt.3 So verstand Scholz in seiner Ansprache zum 8. Mai das „Nie wieder“ als Aufforderung zum engen Schulterschluss der Bündnispartner gegenüber Russland.4 Am 24. Februar lädt Bundespräsident Steinmeier nun zum ersten Gedenktag an den Angriffskrieg Russlands, ein Zeichen der Solidarität aus einer zukünftigen Erinnerungskultur. Diese Indienstnahme von Erinnern verweist auf das eigentliche Problem der staatlichen deutschen Erinnerungskultur: ihre Verengung auf eingeübte Muster. Ziel ist dabei immer auch die Untermauerung des gewandelten Selbstverständnisses Deutschlands: vom einstigen Täterland zur europäischen „Führungsmacht“ (Scholz).

» Auschwitz wird zum Instrument der Forderung nach mehr Unterstützung aus dem Westen.« In einer postmigrantischen Gesellschaft begreifen sich jedoch keineswegs alle als Nachfahren von Täter:innen, sondern haben ganz andere Familiengeschichten, erzählen vielleicht sogar von ihren Großeltern als Befreier:innen. Trotz jüngster Erfolge der Anerkennung und Restitution ist festzustellen, dass sich die deutsche 3 Benet Lehmann und Paul Schacher, Geschichtskultur in der Corona-Pandemie – Beobachtungen zur Historisierung einer aktuellen Krise, in: Jan Beuerbach u.a. (Hg.), Sinn in der Krise. Kulturwissenschaftliche Beobachtungen zur Covid-19-Pandemie, Berlin 2021, S. 337-356. 4 Vgl. Fernsehansprache des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland Olaf Scholz am Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa, www.bundesregierung. de, 8.5.2022.

Wider die Nationalisierung des Gedenkens staatliche Erinnerungskultur gegenüber dieser Pluralität sperrt und die Singularität der Shoah als moralisches Gebot hochhält, um dieses immer wieder einzusetzen. Denn Auschwitz, das ist der letzte Höllenkreis. Die Shoah erscheint als Gipfel von Gewalt und Leid in der Menschheitsgeschichte und ist damit fast unabänderlich Maßstab für jedes nachfolgende Verbrechen. So ist der Straftatbestand des Genozids das Ergebnis der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Nun will die ukrainische Regierung den russischen Angriffskrieg als Völkermord strafrechtlich verfolgt wissen. Wadym Bojtschenko, der Bürgermeister von Mariupol, schrieb: „Das ist ein neues Auschwitz und Majdanek.“5 Ähnliche Worte fand der Kiewer Großerzbischof der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche zur Vertuschung von russischen Kriegsverbrechen in der Hafenstadt Mariupol. Auf die Bezugnahme zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern folgt die Aufforderung, den „Völkermord“ an den Ukrainer:innen zu beenden. Das erinnerungskulturelle Narrativ Auschwitz wird so zum Instrument der Forderung nach mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung aus dem Westen. » Zurück zum Modell Vaterland, das sich seiner Vergangenheit sicher ist: Das ist die Devise, die letztlich im länderübergreifenden Unisono in Europa erklingt.« Tatsächlich ist die ukrainische Seite mit dieser Analogie in gewissem Maße erfolgreich, auch wenn eine strafrechtliche Verfolgung als Völkermord bislang nicht angeordnet wurde.6 5 Russische Armee soll mobile Krematorien einsetzen, www.zeit.de, 7.4.2022. 6 Zur Frage, ob in der Ukraine ein Völkermord verübt wird: Sachstand WD 2 – 3000 – 072/22, www.bundestag.de, 3.11.2022.

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Schaut man sich die Bilder aus Butscha an, drängen sich automatisch visuelle Vergleiche auf. Die heutigen Fotografien der in den Straßenzügen liegenden Erschossenen korrespondieren mit den im deutschen Bildgedächtnis tief verankerten Aufnahmen aus den befreiten Konzentrationslagern. Erfolgreich war die ukrainische Geschichtspolitik auch, als Ende November 2022 der Bundestag den Antrag „Holodomor in der Ukraine: Erinnern – Gedenken – Mahnen“ verabschiedete, der die unter Stalin willentlich ausgelöste Hungerkatastrophe 1932/33 als Völkermord einstuft. Dies ist auch ein Produkt der Ethnisierung des Holodomors. Vergessen werden dabei die nichtukrainischen Opfer der Hungerkatastrophe sowie der historische Kontext, der keineswegs zu gesicherten Forschungsergebnissen zur Bewertung als Genozid geführt hat.7 So erleben wir eine schrittweise Nationalisierung der Erinnerungskulturen. Dieser Trend lässt sich auch in anderen osteuropäischen Ländern beobachten. Zurück zu den imaginierten Zeiten, in denen die Welt noch nicht so komplex war, zurück zum Modell Vaterland, das sich seiner Vergangenheit sicher ist: Das ist die Devise, die letztlich im länderübergreifenden Unisono in Europa erklingt. Tritt Deutschland daher weiterhin als nationaler „Erinnerungsweltmeister“ auf, das sich die anderen Länder zum Vorbild nehmen sollten, wird vor allem Gegenteiliges erreicht: der Rückfall der osteuropäischen Erinnerungskulturen in den nationalen Mythos, wie etwa am Beispiel Polens zu erkennen ist. Wegzukommen von der Nationalisierung des Gedenkens heißt dagegen auch, einen Anfang zu wagen und sich den Verflechtungen von Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart zu stellen. 7 Georgiy Kasianov, Memory Crash. Politics of History in and around Ukraine, 1980s-2010s, Budapest 2022, S. 87-135.

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52 Benet Lehmann Die Frage ist also, welchen Bezug Europa, allen voran Deutschland, zur Vergangenheit hat. Für Deutschland ist es einerseits essenziell, die Verantwortung des nationalsozialistischen Erbes als Staat wahrzunehmen, und andererseits durch seine reflexive Verankerung in der Geschichte des Nationalismus gegen diesen vorzugehen. Von daher stellt sich die Frage, was eine zukunftsfähige Erinnerungskultur ausmachen soll? Auch wenn es in krisengeschüttelten Zeiten nicht gerade nach der erhofften Antwort klingt: Erinnerungskultur sollte nicht zur Beruhigung da sein. Sie tritt für das Nichtvergessen ein und Teil dessen ist es, irritierend zu wirken, sich stetig zu erneuern, damit wir wachsam bleiben. Dabei hilft es, den Rahmen staatlicher und instrumentalisierter Erinnerungskultur zu sprengen und Allianzen über sie hinaus zu bilden.

» Der Vereinnahmung durch autoritäre Staaten und Parteien muss mit der lebensrealen Pluralität von Erinnerung entgegengetreten werden.« Sicherlich mag das plurale Erinnern an unterschiedliche Opfergruppen – auch über den zeitlichen Rahmen des Zweiten Weltkriegs hinaus, denn die europäische Gewaltgeschichte ist lang – schwerfallen. Doch die Grundzüge einer empathischen Erinnerungskultur8 lassen sich nur verteidigen, wenn sie sich der Komplexität unserer Welt anpasst. Erst die offene, solidarisch unterstützende und kosmopolitisch denkende Erinnerungskultur kann gegen die Vereinnahmungen der Shoah nachhaltig vorgehen. Auch die deutsche staatliche Erinnerungskultur muss sich dafür aus ihrer oftmals starren Haltung lösen. Dazu gilt es das Verhältnis von Universalismus und historisch infor8 Charlotte Wiedemann, Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis, Berlin 2022.

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miertem Urteilen neu zu bestimmen. Nicht alles muss als Genozid gelten, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen, und nicht jede Bezugnahme auf die Shoah ist akzeptabel. Der Vereinnahmung durch autoritäre Staaten und Parteien muss mit der lebensrealen Pluralität von Erinnerung entgegengetreten werden. Geschichten gibt es dafür genug, denn die deutsche Erinnerungskultur war schon immer von transnationalen Einflüssen geprägt. Das ist in den letzten Jahren unter dem Eindruck der weltmeisterlichen Erinnerungsleistung in den Hintergrund getreten. Es waren Exilant:innen und nichtdeutsche Überlebende, die dem Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen literarischen Ausdruck gaben, es waren die im Nachkriegsdeutschland so oft geschmähten ausländischen Historiker:innen, die die Holocaustforschung begründeten, und es sind migrantische Stimmen, die nun die Erinnerungskultur erneut herausfordern. An diese Verflechtungen ließe sich anschließen. Auch russische Kulturschaffende leiden unter der Stille, die mit der Flucht in ein neues Land einhergeht. Eine von ihnen, Maria Stepanowa, schreibt in ihrem Buch „Nach dem Gedächtnis“ (in der englischen Übersetzung treffender „In Memory of Memory“): „Erinnerung beruht nicht auf Wissen, sondern auf Erfahrung: des Mit-Leidens, Mit-Fühlens, des markerschütternden Schmerzes, der sofortige Anteilnahme verlangt. Auf der anderen Seite ist das Gebiet der Erinnerung von Projektionen, Phantasien, Entstellungen besiedelt – von den retrograden Gespenstern unseres Heute.“9 An beiden Linien – der Aufforderung zum empathischen Gedenken sowie dem Entgegentreten gegen revisionistische Aneignungen von Geschichte – wird sich entscheiden, ob die deutsche Erinnerungskultur politisch wieder zukunftsfähig sein wird. 9 Maria Stepanowa, Nach dem Gedächtnis, Berlin 2020.

KURZGEFASST

Paul Schäfer: Ein Jahr russischer Angriffskrieg: Das Elend der linken Legenden, S. 55-62 Viele Linke hierzulande vertreten die These, man müsse den russischen Überfall auf die Ukraine als Reaktion auf westliche Aggressionen verstehen. Der langjährige Verteidigungspolitiker Paul Schäfer entlarvt diese und andere linke Erzählungen als Legenden. Die Linke müsse sich von überkommenen Gewissheiten über Freund-Feind-Beziehungen lösen.

Corinna Hauswedell: Ausgemustert, aber unverzichtbar: Pazifismus in Zeiten des Krieges, S. 63-68 Im Lichte des Ukrainekriegs wird der Pazifismus oft als naive Illusion diskreditiert. Die Friedens- und Konfliktforscherin Corinna Hauswedell erinnert angesichts dessen an die ihm zugrundeliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Eigendynamik militärischer Gewalt und zeigt, warum wir den Pazifismus trotz allem brauchen.

Klaus Naumann: Realitätsschock Ukrainekrieg. Wie die Neuaufstellung der Bundeswehr gelingen kann, S. 69-76 Mit einem Sondervermögen von 100 Mrd. Euro soll die Bundeswehr die Zeitenwende meistern. Doch Geld allein wird die Probleme nicht lösen, so „Blätter“-Mitherausgeber Klaus Naumann. Vielmehr gelte es, die Strukturen der Bundeswehr an die neue sicherheitspolitische Lage anzupassen.

Anna Jikhareva: Kindheit im Luftschutzbunker. Das Leiden der ukrainischen Familien, S. 77-82 Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine fordert dieser weiterhin täglich Tote und Verletzte. Zu den größten Leidtragenden aber gehören die ukrainischen Kinder und Frauen, so die Journalistin Anna Jikhareva. Der Krieg raube nicht nur einer ganzen Generation die Zukunft, sondern verstärke auch patriarchale Strukturen.

Jens Siegert: Sieg der Apathie. Die russische Gesellschaft nach einem Jahr Krieg, S. 83-88 Während in der Ukraine Bomben fallen, ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht werden und Zivilistinnen wie Soldaten sterben, leben die meisten Menschen in Russland ihr Leben so weiter wie zuvor. Der Politikwissenschaftler Jens Siegert beschreibt, wie große Teile der russischen Gesellschaft zunehmend der Apathie anheim fallen. Ein nennenswerter Beitrag zum Ende des Krieges sei von ihr jedenfalls nicht zu erwarten.

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Ulrich Brand und Markus Wissen: Lützerath als Fanal. Warum wir transformative Strategien im Kampf gegen die Klimakrise brauchen, S. 89-93 Lützerath ist geräumt, und dennoch wird es bleiben – als Symbol für eine Politik, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt, so die Politikwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen. Nur wenn die Grünen ihren Realitätssinn überwinden und wieder stärker auf die Klimabewegung zugehen, kann eine Transformation unserer zerstörerischen Lebensweise gelingen.

Dieter Rucht: Die Gratwanderung der Letzten Generation, S. 94-98 Mit Straßenblockaden und Attacken auf Kunstwerke sorgen Klimaaktivisten der Letzten Generation bundesweit für Aufmerksamkeit. Doch ohne gesellschaftlichen Resonanzboden für solche Aktionen können sie auch keine klimapolitischen Erfolge bewirken, argumentiert der Soziologe Dieter Rucht. Zudem bestehe die Gefahr der Radikalisierung.

Robin Celikates: Protest in der Klimakrise: Die Legitimität zivilen Ungehorsams, S. 99-106 Die Straßenblockaden der Letzen Generation werden oft als undemokratisch kritisiert. Doch Demokratien müssen diese aushalten, so der Philosoph Robin Celikates – schließlich wurden viele demokratische Errungenschaften überhaupt erst durch zivilen Ungehorsam erkämpft. Nur weil die gezielten Rechtsbrüche legitim sind, seien sie aber nicht zwingend politisch klug.

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey: Libertär und autoritär. Wie das Ich auf Kosten der Gemeinschaft regiert, S. 107-118 Mit den Querdenkern hat der „libertäre Autoritäre“ Einzug in den politischen Diskurs gefunden. Die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey beschreiben einen Protesttypus, der mit seinem Kampf gegen Solidarität und Regeln letztlich unsere Gesellschaft der Freien und Gleichen bedroht.

Thomas Greven: Der Staat als Feind: Reichsbürger und Sovereign Citizens, S. 119-124 Nicht zuletzt der vereitelte Putschplan Ende vergangenen Jahres hat gezeigt, dass die „Reichsbürger“ bei aller Absurdität ernsthaft gefährlich sind. Der Politikwissenschaftler und „Blätter“-Redakteur Thomas Greven zeigt, dass die hiesige Bewegung über ideologische Verwandte im Ausland verfügt. Weltweit stellen sie die Legitimität staatlicher Institutionen in Frage, in dem sie Erzählungen alternativer Souveränität verbreiten.

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ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

Ein Jahr russischer Angriffskrieg: Das Elend der linken Legenden Von Paul Schäfer

B

ald ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion ist ein geschärfter Blick auf die Brutalität des Krieges gegen die Ukraine unabdingbar. Wladimir Putin ist zu Hause unter Druck geraten und muss nun Erfolge vorweisen. Mit einer geplanten Frühjahrsoffensive will der Kreml die gesamte Donbass-Region und Gebiete darüber hinaus unter Kontrolle bekommen. Zugleich gehen in Wellen die Terrorattacken auf die Lebensadern der ukrainischen Gesellschaft weiter, die nur eins im Sinn haben: Die Ukraine soll zur Aufgabe des Widerstands und zur Unterwerfung gezwungen werden. Die Eskalation wird garniert durch die russische Bereitschaft zu Gesprächen, wenn die ukrainische Seite „die neuen territorialen Realitäten“ anerkenne. Dass die Ukraine nicht die Ergebnisse des Angriffskrieges akzeptieren kann, weiß man in Moskau genau. Was ist angesichts dessen zu tun? Reden wir Tacheles: Man muss die Ukraine weiter in die Lage versetzen, den Invasoren effektiven Widerstand zu leisten. Nur wenn Putin seine Felle wegschwimmen sieht, wird er einlenken. Erst dann wird es zu echten Friedensverhandlungen kommen. Friedensappelle, losgelöst von dieser harten Realität, beruhigen das Gewissen, bewirken aber nichts. Welche Waffen geliefert werden sollen, folgt aus der Bewertung der Gefechtslage und der Dynamik des Krieges. Auch wenn es schwerfällt: Wir reden über militärische Logik. Daneben sind natürlich das internationale Recht in bewaffneten Konflikten sowie die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten und elementare politische Risiken abzuwägen. So ist es richtig, dass die Ukraine im Einklang mit ihren Verbündeten grundsätzlich darauf verzichtet, die Stellungen der russischen Armee in Russland anzugreifen – was völkerrechtlich durchaus legitim wäre. Doch Russland ist eine Atommacht und hat noch erhebliche Reserven, was sein Zerstörungspotenzial betrifft. Daher ist der stupide Ruf nach immer schärferen Waffen durch einschlägig bekannte Wichtigtuer in Medien und Politik hierzulande verantwortungslos. Umgekehrt ergibt es wenig Sinn, strikt nach defensiven oder offensiven, leichten oder schweren Waffen unterscheiden zu wollen. Drohnen etwa wird man nicht eindeutig diesen Kategorien zuordnen können. Wer sich gegen die Lieferung schwerer Waffen ausspricht, sollte bedenken, dass der Vorwurf dann schnell – und mit Recht – lauten könnte, die Ukrainer würden damit zu

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56 Paul Schäfer Kanonenfutter degradiert. Was die Ukraine eindeutig braucht, sind Mittel, um sich gegen Artilleriefeuer, gegen Flugzeuge, taktische ballistische Raketen und Marschflugkörper verteidigen zu können, sprich: Mars II-Abwehrraketen, die Panzerhaubitze 2000 mit Reichweiten zwischen 40 und 60 Kilometern, Iris-T oder Patriot-Abwehrraketen. Raketen mit noch längerer Reichweite, die für Angriffe auf russisches Territorium genutzt werden könnten, gehören hingegen nicht dazu. Um den russischen Vormarsch am Boden aufzuhalten, brauchen die ukrainischen Streitkräfte gepanzerte Verbände. Dabei geht es aber auch darum, wie viele Kampfpanzer für eine raumgreifende Offensive benötigt werden – und ob man eine solche wollen kann. Denn es bleiben Zweifel, was dieser Schritt in der russischen Wahrnehmung bedeuten würde. Auch die Ukraine wird die Folgen eines solchermaßen weiter eskalierten Krieges mitbedenken müssen. Angesichts der zu erwartenden Opfer des sich verschärfenden Krieges ist der Ruf nach Friedensverhandlungen allzu verständlich. Allerdings reicht das nicht. Dennoch sprechen sich viele Linke gegen Waffenlieferungen aus, so auch jüngst die Linkspartei-Vorsitzende Janine Wissler. In einem früheren Statement hatte sie eingeräumt, wenig Hoffnung zu haben, dass ihr Ruf in Moskau gehört wird. Was dann? Die Antwort darauf bleibt sie schuldig. Denn ohne weitere Waffen blieben für die Ukraine nur Rückzug und Unterwerfung. Doch das Schießen, Morden, Vertreiben würde damit nicht aufhören. Und Putin hätte seine wichtigsten Kriegsziele erreicht. „Solidarität mit der Ukraine“ zu rufen, wie es die Linkspartei tut, und sich zugleich dem zu verweigern, was dafür getan werden muss, ist inkonsequent, moralisch fragwürdig und letztlich Ausdruck von Politikunfähigkeit. Das verweist auf ein größeres Problem der linken Positionierung zu diesem Krieg: Nach wie vor vertreten viele Linke hierzulande – keineswegs nur in der Linkspartei – gerne die These, Russland gehe es allein um defensive Belange und man müsse den Überfall auf die Ukraine als Reaktion auf ein Bedrängnis von außen verstehen. Mit der Realität hat das rein gar nichts zu tun. Für das Verständnis des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist die Metamorphose der russischen Macht entscheidend: Moskaus Politik leitet sich aus inneren Widersprüchen und der signifikanten Kluft zwischen Weltmachtanspruch und semi-peripherem Status in der Welt ab. Das immer wieder zur Begründung des Krieges herangezogene Sicherheitsinteresse Russlands spielt in der russischen Perzeption zwar eine Rolle, wird jedoch im Rahmen imperialer Regimeinteressen instrumentalisiert. Es gab zu keinem Zeitpunkt eine existenzielle – sprich: militärische – Bedrohung Russlands. Ein Angriff der Nato auf das Land lag nie auch nur im Denkhorizont der „westlichen Eliten“. Anderslautende Behauptungen von Präsident Putin oder Außenminister Sergej Lawrow dienen vor allem der Verschleierung eigener Expansionsziele. Ein Blick auf die Landkarte macht zudem klar, dass die behauptete „Einkreisung“ Russlands eine fixe Idee ist. Man kann das flächenmäßig größte Land der Erde, mit langen Grenzen zu verbündeten oder neutralen Staaten – darunter China und Kasachstan – nicht „einkreisen“.

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Ein Jahr Krieg: Das Elend der linken Legenden 57 Im linken Spektrum ist als Antwort auf die Frage nach der Verantwortung für den Krieg der Verweis auf die „Geopolitik“ gegenwärtig äußerst populär. Dass man dabei gerne Anleihen bei Vertretern der neorealistischen Schule wie John Mearsheimer macht, mag auf den ersten Blick erstaunen, sind doch diese Theoretiker ausschließlich auf Macht, Imperien und Militär fokussiert. Aber sich auf dieser gedanklichen Abstraktionsebene zu bewegen, bietet ungemeine Vorzüge: Betrachtungen zu den unmittelbaren Akteuren dieses Krieges – die Ukraine und Russland – geraten in den Hintergrund und müssen uns nicht weiter beschäftigen. Gesellschaftliche Verhältnisse, Prozesse und Widersprüche, die zwischen Menschen ausgetragen werden, bleiben notorisch unterbelichtet, kommen in dieser Denkrichtung bestenfalls als „soft power“ vor. Die linken Autoren Horst Kahrs und Klaus Lederer haben dazu festgestellt: „Die Welt und die Menschen spielen in dieser Lesart bestenfalls als Insassen imperialer Interessensphären und als Verschiebemasse großer Mächte eine Rolle; kaum einer offensiven kritischen Befassung wert zu sein scheinen dagegen der fortschreitende Umbau der russischen Gesellschaft zur repressiven Autokratie, die nachhaltige Kollaboration Putins mit dem globalen Rechtsradikalismus, das russische Streben nach Destabilisierung liberal-demokratischer Verhältnisse oder die demokratische Entscheidung der ukrainischen Bevölkerung gegen die Unterwerfung unter russische Vormundschaft.“1

Rückzug auf die vertrauten Kategoriesysteme Dass der Krieg Putins in bestehende internationale Konfliktkonstellationen eingebettet ist, kann in einer globalisierten Welt nicht verwundern. Aber sich auf diese Metaebene zu verengen, erleichtert die Einordnung des Geschehens ungemein: Man kann sich auf vertrautem Terrain bewegen und sich auf die alten Kategoriensysteme verlassen. Da darf nicht unerwähnt bleiben, dass die USA an der Spitze des kapitalistischen Weltsystems stehen und sich als einzige Weltmacht auch mittels militärischer Bündnisse wie der Nato zu behaupten versuchen. Und dabei wird stets darauf verwiesen, USA und Nato hätten Russland mit ihrer Osterweiterungspolitik so weit an den Rand gedrängt, dass man mit einer harten Reaktion rechnen musste. Folgerichtig enden solche Erwägungen wider alle Evidenz an dem Punkt, dass eigentlich „der Westen“ diesen Krieg angezettelt habe. Dass man damit die Legitimationsversuche Putins exakt übernimmt, scheint manche nicht zu schrecken. Aber, so könnte man durchaus fragen, hat der Kriegsherr im Kreml vielleicht doch recht? Ja, es stimmt, auch andere Mächte, nicht zuletzt die USA, haben ein massives Sündenregister vorzuweisen: Militärinterventionen, bei denen Völkerrecht verletzt wurde, bei denen viele Menschen geopfert und Zerstörungen angerichtet, Grenzen gewaltsam verschoben wurden; Eingriffe, in denen es 1 Horst Kahrs und Klaus Lederer, Überzeugung statt Empörung. Perspektiven für eine progressive Linke, in: „Blätter“, 6/2022, S. 103-112, hier: S. 110.

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58 Paul Schäfer um imperiale Machtinteressen und Ressourcenausbeutung ging. Sieht man vom begrenzten Erkenntniswert dieser Durchsagen über allzu Bekanntes ab, so ist doch auf zwei Dinge hinzuweisen: Erstens darf der Verweis auf westlich-imperiale Politiken nicht als Relativierung oder gar Rechtfertigung der russischen Aggression missdeutet werden. Étienne Balibar schreibt völlig zu Recht: „Selbst wenn die Nato den euroasiatischen Raum, der traditionell von Russland dominiert wird, hätte ‚einkreisen‘ wollen, was unbestreitbar scheint, hat sie Russland nicht angegriffen. Wir dürfen niemals vergessen, wessen Armeen in die Ukraine eingefallen sind und sie derzeit zerstören.“2 Nota bene: Unrecht wird nicht durch andere unrechtmäßige Handlungen entschuldbar. Zweitens aber käme es darauf an, den ursächlichen Zusammenhang dieser Völkerrechtsverstöße mit dem gegenwärtigen Krieg exakt zu benennen und nachzuweisen. Indirekte Bezüge gibt es durchaus. „Westliche“ Politik hat in Libyen, im Irak oder anderswo zur Erosion regelbasierter Ordnung beigetragen und Vorwände für Putin geliefert. Eine kausale Verbindung ergibt sich daraus aber in keiner Weise, sie ist ein Konstrukt. Könnte die verzweifelte Suche nach „den eigentlich Schuldigen“ auch damit zu tun haben, dass man der Ungeheuerlichkeit des Putin-Krieges und daraus folgenden Konsequenzen ausweichen möchte? Aber was ist mit dem Hauptargument, dass die besonders von den USA vorangetriebene Nato-Osterweiterung für Russland eine solche Bedrohung darstellte, auf die Putin irgendwann reagieren musste? Und ist diese Expansion nicht gezielt verfolgt worden, um Russland in die Enge zu treiben? Tatsächlich hat sich gezeigt, dass die Entscheidung zur Osterweiterung grundsätzlich und mehr noch die Art ihrer Durchführung fragwürdig waren. Auch die Warnungen kluger Sicherheitsexperten, dass dieser Prozess den Aufstieg rechter, militaristischer Kreise in Moskau begünstigen würde, haben sich als zutreffend erwiesen. Der Hauptvorwurf liegt darin, dass die Verantwortlichen in den Nato-Mitgliedsstaaten es versäumt haben, nach 1995 mit der OSZE eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu entwickeln. Aber zur Wahrheit gehört auch dies: „Anders als behauptet war die Ausdehnung nicht das Ergebnis einer orchestrierten Einverleibung, sondern entsprach der Absicht der meisten Staaten Mittel- und Osteuropas, die eigene Sicherheit durch die Mitgliedschaft in der Allianz zu erhöhen.“3 Schon im Februar 1991 schlossen sich Polen, die damalige Tschechoslowakei und Ungarn zum Viségrad-Bündnis zusammen und begehrten heftig die Aufnahme in die Nato. Dies sollte die Eintrittskarte in den westlichen Club werden, dem man unbedingt angehören wollte. Den Dränglern folgten weitere Staaten, der Westen hingegen war eher zögerlich. Bei der Bewertung dieser Vorgänge gilt es nicht nur die Sicherheitsbelange Russlands und dessen Perzeptionen der Lage zu bedenken, sondern ebenso die Positionen der mittel- und osteuropäischen Staaten. Denn allzu oft wer2 Étienne Balibar, Das ukrainische Paradox. Die Entstehung der Nation aus dem Geist des Krieges, in: „Blätter“, 8/2022, S. 49-59, hier: S. 57. 3 H.J. Gießmann, Was bleibt von der „Ostpolitik“?, in: „Neues Deutschland“, 21.4.2022.

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Ein Jahr Krieg: Das Elend der linken Legenden 59 den beispielsweise die traumatischen Folgen des Hitler-Stalin-Pakts gerade für Polen und das Baltikum notorisch übersehen. Hinzu kommt, dass die harten und jahrzehntelangen Erfahrungen der Mittel-Osteuropäer mit sowjetischer Dominanz und Unterdrückung von Westlinken tendenziell ignoriert werden. Dies gilt leider insbesondere für Menschen, mich eingeschlossen, die die Rote Armee lange nur als Befreiungsarmee gesehen und die imperiale sowjetische Landnahme nach 1945 sozialistisch verklärt haben. Tatsache ist auch, dass der Kreml die erste Runde der Nato-Osterweiterung billigend zur Kenntnis nahm, war dieser Schritt doch mit der Etablierung des Nato-Russland-Rates 1997, der Erweiterung der G7-Staaten durch die Aufnahme Russlands zur G8 und der Fortführung der Verhandlungen über die künftigen Bestände konventioneller Waffen und Streitkräfte verbunden, die 1999 in Istanbul abgeschlossen wurden. Leider verweigerte die Nato mit dem Hinweis auf russische Truppen in Transnistrien die Ratifizierung des adapierten KSE-Vertrages. Erfolgte diese Runde der Nato-Erweiterung also noch relativ konsensual, so wurden die nächsten Runden nicht von vergleichbaren „Kompensationen“ begleitet. Im Gegenteil: Es waren vor allem die USA, die bestehende Rüstungskontrollregime aufkündigten und die Aufrüstung in den neuen Nato-Mitgliedsstaaten vorantrieben. Dass dabei in der Regel russische Vorschläge4 missachtet oder schnell abgetan wurden („die Russen wollen nur das Atlantische Bündnis spalten“), darf nicht unerwähnt bleiben. Allerdings fällt in diese Zeit auch der Abschluss des New START-Abkommens im Jahr 2010, mit dem über die ausbalancierte Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen Stabilität gesichert wurde.

Putins Geschichtsfälschungen Schlicht falsch ist aber die Behauptung, dass die Ukraine seit den 1990er Jahren zielgerichtet in die euro-atlantischen Strukturen gedrängt wurde. Zur Erinnerung: Der damalige US-Präsident George H.W. Bush reiste 1991 noch vor der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine nach Kiew, um der dortigen Führung diesen Schritt auszureden. Es gehörte damals offenkundig zum Selbstverständnis westlicher Eliten, dass die Ukraine wesentlicher Bestandteil Russlands sei. Ihre Lostrennung wurde demzufolge als destabilisierend und gefährlich empfunden. Allerdings hat sich das Bemühen, die Ukraine in westliche Strukturen einzubeziehen, während und nach der Orangenen Revolution von 2004 in dem Maße verstärkt, wie sich Putins Russland um die Aufrechterhaltung eines Satellitenstatus der Ukraine bemühte. Und es stimmt auch, dass US-Präsident George W. Bush, der mit seinen Neokonservativen von der unipolaren Weltordnung phantasierte, die Nato-Integration der Ukraine und Georgiens 2008 offensiv vorantreiben wollte. Allerdings traf er auf eindeutigen Widerspruch durch Frankreich, Deutschland und andere 4 Siehe den Umgang mit dem sogenannten Medwedjew-Plan im Jahre 2008. Dazu: Pál Dunay und Graeme P. Herd, Europa neu gestalten? Fallstricke und Verheißungen der Initiative für einen europäischen Sicherheitsvertrag, in: IFSH (Hg.), OSZE-Jahrbuch 2009, Baden-Baden 2009.

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60 Paul Schäfer EU-Staaten, die dazu beitrugen, dass die Aufnahme zwar grundlegend gebilligt, de facto aber auf Eis gelegt wurde. Ins Auge sticht auch die Zurückhaltung der EU gegenüber der Ukraine. Karl Schlögel hat völlig Recht: „Wenn man ‚dem Westen‘ oder der EU etwas vorwerfen kann, dann nicht, dass sie sich übermäßig für die östlichen Nachbarn engagiert hätten, sondern dass diese eher als eine Zumutung empfunden wurden, die den Zusammenhalt Europas und der Europäischen Union […] gefährdeten.“5 Die EU hat die Ukraine lange Zeit vor allem als Bollwerk gegen die östliche Migration gesehen und Kiew mit dessen weitergehenden Avancen eher brüskiert, statt diese zu fördern. Es war die sich ausbreitende Frustration über Oligarchenkapitalismus, Korruption und autoritäre Tendenzen, die die Menschen dort in die Opposition trieb und den Wunsch nach einer engen Anbindung an die EU immer mehr bestärkte. Das wurde untermauert durch die Verschiebung der ökonomischen Verhältnisse. Während die Im- und Exporte zwischen der EU und der Ukraine wuchsen, gingen sie zwischen Russland und der Ukraine erheblich zurück. Es war Präsident Wiktor Janukowitsch, ein Vertreter des russlandfreundlichen Donezk-Clans, der die verbindliche Annäherung an die EU via Assoziierungsabkommen einleitete und durchbringen wollte – sich aber schließlich dem Druck Moskaus beugte und von seinem Ansinnen abließ. Erst dieser Bruch hat dem Streben nach einer Integration des Landes in die Europäische Union den entscheidenden Anstoß gegeben. Folgt man den Erzählungen Putins zur Rechtfertigung des Krieges, so trägt der Westen die Schuld an der Entstehung neuer Trennlinien, während Russland nichts als die Einheit Europas im Sinne gehabt habe: „viele Länder wurden vor eine künstliche Wahl gestellt – entweder mit dem kollektiven Westen oder mit Russland zusammenzugehen. De facto war dies ein Ultimatum. Die Konsequenzen dieser aggressiven Politik führt uns das Beispiel der ukrainischen Tragödie von 2014 anschaulich vor Augen. Europa unterstützte aktiv den bewaffneten verfassungswidrigen Staatsstreich in der Ukraine. Damit hat alles begonnen.“6 Ein solches Ultimatum gab es jedoch nicht. Zutreffend ist, dass sowohl die EU als auch Russland die Ukraine zu einer Pro- oder Kontra-Entscheidung gedrängt und zu wenig Möglichkeiten einer Vermittlung zwischen EU und Eurasischer Wirtschaftsunion ausgelotet haben. Und was den vermeintlichen Staatsstreich von 2014 betrifft, so ist zumindest auf diplomatische Bemühungen Frankreichs und Deutschlands hinzuweisen, die eine Koalitionsregierung in Kiew anregten, um die Gewalt zu beenden. Auch mit den Minsker Verhandlungen haben sich Paris und Berlin für eine diplomatische Lösung des Konflikts eingesetzt. Kriegerische Gewalt hingegen ging mit der Krim-Annexion und der militärischen Unterstützung der moskautreuen Milizen im Donbas ausschließlich von Russland aus. Das Minsk-IIAbkommen, das beträchtliche Zugeständnisse an die russische Seite beinhaltete, erwies sich leider wegen ungelöster Fragen als nicht tragfähig und 5 Karl Schlögel, Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen, Frankfurt a. M. 42022, S. 39. 6 Putin hat diese Argumentationslinie bereits im Vorfeld des Krieges entwickelt, so in dem hier zitierten Gastbeitrag in der „Zeit“ vom 22.6.2021: Offen sein, trotz der Vergangenheit.

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Ein Jahr Krieg: Das Elend der linken Legenden 61 wurde von beiden Seiten nicht umgesetzt. Ein Grund zum Krieg? Mitnichten. Neu zu verhandeln wäre richtig gewesen, wie es Präsident Selenskyj am Vorabend des Krieges angeboten hatte. Schließlich: Gegen die Geschichtsfälschungen Putins, die hierzulande nacherzählt werden, würde die Lektüre der verschiedenen Putin-Reden helfen, in denen der Kremlchef seine Idee der zum Imperium gehörenden Ukraine darlegt.7 Bei der Frage nach den Kriegsursachen sollte auch strikt zwischen der Verfolgung kapitalistischer Geschäftsinteressen und militärischer Eroberungsund Unterwerfungspolitik unterschieden werden. Natürlich wollen die USA und die EU in der Ukraine Geschäfte machen und auch ihren (hegemonialen) Einfluss in Mittel- und Osteuropa ausbauen. Besonders die USA sehen zudem die Gelegenheit, den Krieg für die weitere und dauerhafte Schwächung des potenziellen weltpolitischen Rivalen in Moskau zu nutzen, vor allem in militärischer Hinsicht. Ein Land mit dem Bruttoinlandsprodukt Italiens und einer nicht zukunftsträchtig ausgerichteten Volkswirtschaft dürfte von ihnen indes nicht ernsthaft als bedrohlicher Weltmarktkonkurrent angesehen werden. Mit dem von Barack Obama eingeleiteten Schwenk nach Asien („Pivot to Asia“) wurde zudem eine Neuausrichtung der US-Außenpolitik eingeleitet, die China als den möglichen Hauptwidersacher für die globale Vormachtstellung der USA ins Visier nimmt. Es ist kein Zufall, dass es gerade „Falken“ in Washington sind, die den Ukrainekrieg als unwillkommene Ablenkung von dieser Hauptaufgabe sehen und die die immensen Kosten vermeiden möchten, die ihnen die Unterstützung der Ukraine abverlangt.

Nur ein Stellvertreterkrieg? Offenkundig ist allerdings auch, dass der ukrainisch-russische Konflikt nicht von der geopolitischen Konfrontation zwischen dem westlichen Staatenbündnis und Russland getrennt werden kann. Diese Konstellation hat die Entstehung des gegenwärtigen Krieges sowie seinen Verlauf mitbestimmt und wird auch für seine mögliche Beendigung mitentscheidend sein. Étienne Balibar weist dabei auf einen Umstand hin, der in sich links verstehender Politik gerne verdrängt oder geleugnet wird: Wenn kleinere Nationen ihre Unabhängigkeit erreichen oder verteidigen wollen, waren und sind sie immer auch von Bündnissen mit Großen abhängig. Seine Aussage, dass „die Ukraine ihre demokratischen Werte (in einem liberalen Sinn) nur behaupten“ kann, „wenn sie ein Mitglied der ‚quasi-föderalen‘ Struktur der EU wird“, kann ich nachvollziehen.8 Dass sie sich aber nur als Mitglied der Nato retten könne, ist kritisch zu hinterfragen. Die Nato ist ein auf Abschreckung und Aufrüstung festgelegtes, exklusives Bündnis, das einer zukünftigen, umfassenden Sicherheitsarchitektur in Europa weichen müssen wird. Und 7 Ein Beispiel: Wladimir Putin, Rede an die Nation vom 21.2.2022, dokumentiert auf www.zeitschriftosteuropa. 8 Étienne Balibar, Das ukrainische Paradox, a.a.O., S. 57.

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62 Paul Schäfer doch trifft Balibar einen Punkt: Ohne die Bildung substanzieller Allianzen wäre die Ukraine chancenlos. Es ist leider wahr, horribile dictu für Linke: Der einzige Staat, der nach dem 24. Februar die Souveränität der Ukraine verteidigt hat und effektiv verteidigen konnte, waren die USA! Auch mit Blick auf diesen Umstand wird in linken Kreisen und darüber hinaus – beispielsweise von Vertretern der neorealistischen Denkschule in den USA und Deutschland – gerne das Stichwort vom „Stellvertreterkrieg“ in die Debatte gebracht. Konsequent durchdekliniert hieße das, dass der eine Akteur – hier die Ukraine – von einem anderen Land oder einem Bündnis dazu benutzt wird, dessen Interessen durchzusetzen. Der Interessenkonflikt zwischen Russland und USA/Nato wäre also das bestimmende Element, das den ursprünglichen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine überlagert. Das aber ist aus mindestens zwei Gründen falsch: Erstens ist die Ukraine nie von den USA, der Nato oder dem Westen gedrängt worden, einen Krieg anzufangen, weder nach 2014 – als der Westen sich mit der Krim-Annexion recht schnell arrangierte – noch unmittelbar vor oder nach dem russischen Angriff am 24. Februar 2022. Zweitens war es der russische Überfall, der das Bestreben der ukrainischen Bevölkerung, sich endgültig unabhängig von Russland zu machen, immens bestärkt hat. Dies alles hat mit US- bzw. EUInterventionen wenig zu tun. Die ukrainische Verteidigungsbereitschaft ist eine Folge des russischen Angriffs und russischer Kriegsverbrechen. Richtig ist, dass die wachsende Abhängigkeit der Ukraine vor allem von den USA nicht zu bestreiten ist. Die USA liefern das Gros der Waffen und stellen die Aufklärungsmittel zur Verfügung, ohne die man heutzutage im Krieg nicht bestehen kann. Auch bei der Kriegsführung dürften sich Kiew und Washington abstimmen. Ich sage: Zum Glück ist das so! Denn jenseits aller Rhetorik nehme ich die Biden-Administration als eher rational abwägend wahr. Die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine wurde abgelehnt, strategische Kampfflugzeuge oder Abstandswaffen mit großer Reichweite werden nicht geliefert. Es geht ganz überwiegend um auf Defensive ausgerichtete Abwehrsysteme, die das Land auch tatsächlich braucht. Wenn manche Linke von Geopolitik und Stellvertreterkrieg sprechen, so beschwören sie nicht nur alte Freund-Feind-Koordinaten sondern sie verwischen zugleich das Verhältnis von Tätern und Opfern in diesem Krieg. Das aber ist moralisch inakzeptabel. Auch Linke müssen sich der Frage stellen, wie man autoritären Regimen, die eine expansive Außenpolitik verfolgen, wirkungsvoll, also auch möglichst präventiv, widerstehen kann. Und sie sollten prüfen, wie sie in den breiten demokratischen Bündnissen, die angesichts globaler Bedrohungen gebraucht werden, eine eigenständige und weiterführende Rolle bewahren können. Was nicht mehr geht, ist das Sich-Eingraben in alten Gewissheiten gegenüber einer unverstandenen Welt und neuen friedenspolitischen Herausforderungen, ganz zu schweigen von der beschämenden Parteinahme für das autokratische Putin-Regime in Nachbarschaft zu rechtspopulistischen Demagogen.9 9 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Krieg findet sich unter: Paul Schäfer, Reflexionen über den Krieg gegen die Ukraine und Möglichkeiten seiner Beendigung, www.paulschaefer.info.

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Ausgemustert, aber unverzichtbar: Pazifismus in Zeiten des Krieges Von Corinna Hauswedell

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eit Wladimir Putin vor fast einem Jahr mit dem Angriff auf die Ukraine ein neues Kapitel der Kriegsführung in Europa eröffnet hat, erleben wir gleichzeitig mit der Welle der Hilfe und Solidarität für die kämpfenden und fliehenden Ukrainerinnen und Ukrainer eine medial gestützte Diskreditierung des Pazifismus, dem von Naivität gegenüber der Kriegsrealität bis zur Unterwerfung gegenüber Putin ziemlich viel vorgeworfen wird. Im Zuge dessen wird auch die Ost-West-Entspannungspolitik der 1970er Jahre, also die auf Deeskalation und Friedenssicherung gerichtete deutsche Außenpolitik, in Zweifel gezogen. Das aber nährt die Sorge, dass im Sog des Krieges wichtige Lehren aus Konfliktgeschichte und -analyse über Bord geworfen, dass unter Berufung auf eine „Zeitenwende“ neue, vor allem auf militärisches Handeln ausgerichtete Weichen ohne ausreichenden strategischen Kompass für eine friedlichere Zukunft gestellt werden.1 Allzu umstandslos wurden umgehend kooperative außenpolitische Paradigmen der vergangenen Jahrzehnte – zumindest im Hinblick auf die Russlandpolitik – als „illusionär“ oder gar „verlogen“ verabschiedet. Das aber ist nicht nur geschichtsvergessen, sondern diskreditiert wissenschaftlich begründete Friedens- und Sicherheitspolitik, wie sie aus den bitteren Lehren der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde. Und zugleich erkennt man negative Konnotationen für den Pazifismus wieder, die unter anderen Vorzeichen auch schon in anderen Epochen, etwa in den 1930er, aber auch in den 1980er Jahren eine toxische Rolle im öffentlichen Diskurs gespielt haben. Es steht außer Frage: Auch viele Pazifistinnen und Pazifisten tun sich schwer mit diesem vielleicht sogar neuen Typus von Krieg, in dem Putin national-revisionistische Ziele mit geopolitischen Ambitionen vermischt und sogar vor der atomaren Drohung nicht zurückschreckt. Wie wäre unter diesen Vorzeichen das (staatliche) Recht auf Selbstverteidigung zu vereinen mit pazifistischen Grundsätzen? Auch in der Geschichtswissenschaft findet zurzeit eine Renovierung der deutschen Erinnerungskultur gegenüber Ostmitteleuropa statt. Was bedeutete der „Sieg des Westens“ nach dem Kalten Krieg * Es handelt sich um die verschriftliche und erweiterte Fassung eines Beitrages der Autorin im Rahmen einer Podiumsdiskussion am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München am 10.11.2022: www. youtube.com/watch?v=wEGpA7AvpUQ. 1 Vgl. auch Corinna Hauswedell, Zeitenwende!?, www.wissenschaft-und-frieden.de, 8.3.2022.

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64 Corinna Hauswedell für einen Interessenausgleich zwischen „alten“ und „neuen“ Europäern? Und sollte dieser ein- oder ausschließlich Russlands gedacht werden? In den gegenwärtigen akademischen und politischen Diskursen stellen sich viele Fragen neu, nicht erst seit Beginn von Putins Krieg. Aber dieser historisch-geografische Hintergrund – deutsche Kriegsschuld und „Kampfplatz Europa“ – erklärt nur zum Teil, warum angesichts des Ukrainekrieges, mehr als bei anderen Kriegen, der Pazifismus ins Visier geraten ist. Woher rührt die besondere – moralische und politische – Schärfe in der Auseinandersetzung im Vergleich zu anderen aktuellen Gewaltkonflikten? Zum Beispiel gegenüber dem Krieg in Syrien, aus dem fast ebenso viele Menschen in die EU flohen wie bisher aus der Ukraine, oder dem fast zwanzigjährigen Kampfeinsatz in Afghanistan, der bei uns offiziell lange Zeit nicht „Krieg“ heißen durfte und der jetzt von einer Enquetekommission im Bundestag aufgearbeitet wird. In diesen Fällen waren Klagen über einen „falschen Pazifismus“2 in Deutschland kaum zu hören. Die Friedens- und Konfliktforschung etwa, die sich in ihrer Mehrheit gar nicht explizit pazifistisch versteht, begleitete diese Kriege im Mittleren Osten, etwa in den jährlichen Friedensgutachten, mit einer kritischen Analyse, die meist auch die deutsche Militärbeteiligung in diesen Konflikten einschloss. Die Frage nach der Bedeutung des deutschen Pazifismus und seiner Kernanliegen für die (kriegerische) Gegenwart scheint grundsätzlicher aufgeworfen zu sein. Da kann ein Blick auf das historisch gewachsene Selbstverständnis des Pazifismus in Deutschland nicht schaden. Der Pazifismus spielt(e) in der deutschen Geschichte zweifellos eine erheblich größere Rolle als in der so manches anderen Landes, was maßgeblich mit Deutschlands Verantwortung für beide Weltkriege zusammenhängt. Niedergeschlagen hat sich dies seit 1945 allerdings vor allem in einem wachsenden zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Engagement und weniger in Gestalt einer neuen staatlichen Identität. Der deutsche Pazifismus speiste sich, seit er vor rund 120 Jahren als Gegenentwurf zum nationalistisch geprägten Militarismus in Europa Gestalt gewann, vor allem aus zwei Quellen: Erstens aus der moralischen Empörung und ethischen Überzeugung, dass staatliche Kriegführung das Schlimmste sei, was Menschen Menschen antun können. Und zweitens aus den wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über die zwischenstaatlichen und innergesellschaftlichen Ursachen von Gewaltkonflikten einerseits und über die verheerenden Wirkungen und Dynamiken fast aller Waffen(technologien), insbesondere der Atomwaffen, andererseits. Diese „Doppelveranlagung“ des Pazifismus aus Ethos und Wissenschaftlichkeit war mit unterschiedlichen Akzenten schon in den bürgerlichen Diskursen des frühen 20. Jahrhunderts präsent – und von Beginn an nicht ohne Dilemmata und Kontroversen. Man denke an Bertha von Suttner, Alfred Hermann Fried oder Ludwig Quidde, die bürgerlichen Mütter und Väter des Pazifismus. Interessant im deutschen Kontext ist darüber hinaus das Hinein2 Serhij Zhadan, „Freiheit ist Freiheit. Niedertracht ist Niedertracht“, in: „Blätter“, 12/2022, S. 55-62, hier: S. 58.

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Pazifismus in Zeiten des Krieges 65 wachsen des Pazifismus in die Arbeiterbewegung, also die Tatsache, dass die Sozialdemokratie bis kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges mehrheitlich antimilitaristische, also im Kern pazifistische Antikriegspositionen vertrat. Das Einschwören auf einen nationalistisch-imperialen „Burgfrieden“ durch den Kaiser führte dann zu der bekannten fast einhelligen Kehrtwende und Unterstützung der SPD für die Bewilligung der Kriegskredite. Konnte sich der Pazifismus also ironischerweise immer erst ex post vor der Geschichte beweisen? Was wäre – kontrafaktisch gefragt – gewesen, wenn der Erste Weltkrieg nicht mit der Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten begonnen hätte? Für einige Historiker bedeutete 1914 den „Zusammenbruch der pazifistischen Utopie“ (Karl Holl), andere sahen im Weltkrieg geradezu einen Geburtshelfer für den Pazifismus: „Die Geschichtsauffassung des Pazifismus ist im Kriege zur öffentlichen Meinung der Welt geworden und in der deutschen Revolution auch zum offenen Bekenntnis breiter Schichten des deutschen Volkes.“ (Paul Herre) In den 1920er Jahren radikalisierte sich der Pazifismus, zerfiel in „gesinnungsethische“ bzw. „revolutionäre“ Strömungen: An der Kriegsschulddebatte oder der Frage, ob Sozialismus die letztliche Voraussetzung für eine internationale Friedensordnung wäre, vor allem aber schließlich daran, wie dem aufkommenden Nationalsozialismus von innen und außen zu begegnen sei, schieden sich die Geister auch der deutschen Pazifist:innen wie Kurt Hiller, Kurt Tucholsky oder Carl von Ossietzky.

Pazifismus in der Bundesrepublik: Impulsgeber, aber keine Staatsräson Nach 1945 wurde der Nuklearpazifismus, verbunden mit Namen wie Albert Einstein, Carl Friedrich von Weizsäcker und Werner Heisenberg, als radikale, aber zugleich wissenschaftlich rationale Begründung für den deutschen Pazifismus prägend. Ohne die fundierten Warnungen in der Erklärung der „Göttinger Achtzehn“ von 1957 und die scharfen Proteste auf der Straße wäre die Bundeswehr vermutlich heute mit Atomraketen ausgestattet. Zu Beginn der 1980er Jahre war es wieder das Zusammenspiel von wissenschaftlicher „Gegenexpertise“ über Atomkriegsfolgen und einer bis dato ungekannten öffentlichen Mobilisierung, das der bis dato größten außerparlamentarischen Bewegung der Bundesrepublik – gegen die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Europa – auf die Beine half und zu einer messbaren Politikrelevanz des Pazifismus führte. In der Folge kam der sozialdemokratische Kanzler Helmut Schmidt, der den Nato-Doppelbeschluss maßgeblich mitverantwortet hatte, zu Fall, und sein Vorgänger Willy Brandt avancierte zum Hauptredner auf der Großdemonstration der Friedensbewegung im Bonner Hofgarten 1983. Mit den Grünen zog eine Partei in den Bundestag ein, die dies wesentlich ihren pazifistischen Wurzeln verdankte. So erlangte dieser „rationale Pazifismus“ zeitweise in Deutschland eine gewisse Deutungshoheit und beförderte zwischen den internationalen Hauptkontrahenten des Ost-West-Konfliktes ein Klima,

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66 Corinna Hauswedell in dem 1987 Ronald Reagan und Michail Gorbatschow mit dem INF-Vertrag das erste Abkommen über atomare Abrüstung unterzeichneten. Pazifistische Kernanliegen wie die Beilegung von Gewaltkonflikten durch Vermittlung, Verhandlungen und Vereinbarungen sowie die Absage an militärische Drohung und Waffeneinsatz kamen am Ende des Kalten Krieges in einem bestimmten Zeitfenster der Geschichte paradigmatisch zum Vorschein – sie blieben jedoch ein uneingelöster Gutschein auf die Schaffung einer europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung. Gegenüber diesen bemerkenswerten zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Impulsen – das mag paradox klingen – blieb der Pazifismus als Teil staatlicher Identität der Bundesrepublik eher blass und unbestimmt und nach 1989/90 zunehmend ambivalent. „Friedensmacht“ zu sein, war zwar Anspruch und staatliche Selbstdeutung Bonner Außenpolitik im Rahmen der wachsenden Europäischen Union. Und „militärische Zurückhaltung“ war aus Weltkriegsschuld und neuer Westbindung jahrzehntelang gültiges Mantra westdeutscher Friedens- und Sicherheitspolitik. Das war aber eine Außenpolitik, die sich selbst explizit nicht als pazifistisch verstand. Konrad Adenauer war sicher kein Pazifist, aber auch Willy Brandt hätte sich selbst nicht als solchen bezeichnet – und auch keine:r seiner Nachfolger:innen von Helmut Schmidt bis Angela Merkel. Die Gründung der Friedens- und Konfliktforschung unter Bundespräsident Gustav Heinemann war schon 1969/70 als wissenschaftliche Begleitung der Politik, insbesondere der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition, gedacht. Und eben auch kein Akt des Pazifismus. Kurz gesagt: Staatsräson ist der Pazifismus in Deutschland nie geworden.3 Es hat zwar immer wieder Wellen verstärkten pazifistischen Einflusses auf Parteien- und Regierungspolitik gegeben und pazifistische Kernanliegen haben auch Eingang gefunden in staatliche Politik, in Deutschland im Rahmen der Wiedervereinigung und danach. International wurde das vielleicht am sichtbarsten in den Formulierungen der Charta von Paris 1990 für friedliche Streitbeilegung und Rüstungskontrolle und der Transformation der KSZE in die OSZE. Aber die neuen, auch pazifistischen Hoffnungen auf eine Friedensdividende und kooperative Sicherheit in Europa erwiesen sich aus vielen Gründen als trügerisch.4 Zu ungleich oder „ungerecht“ erschien das Ergebnis des Kalten Krieges in der Wahrnehmung der ehemaligen Hauptkontrahenten. Der wachsende Einfluss des Westens, auch der Nato, nährte Misstrauen auf Seiten Russlands, das sich gerade erst auf einen holperigen Pfad in die Marktwirtschaft begeben hatte. Die Rückkehr der Krieges in Europa beim Zerfall Jugoslawiens forderte auch Deutschland zur Parteinahme, politisch wie militärisch. 3 Diese Differenz zwischen einem traditionell pazifistisch geprägten Grundkonsens in der Gesellschaft und einem oft ambivalenten Umgang mit pazifistischen Impulsen in der staatlichen Politik muss nicht negativ sein; sie verweist auf die Spielräume einer diskursiven demokratischen Realität. Besorgniserregend wird es aber, wenn wie seit Beginn des Ukrainekrieges die Dominanz militärischen Handelns friedensstrategische Alternativen minimiert, ausblendet oder sogar diskreditiert. Der DeutschlandTrend vom 19.1.2023 ergab trotz Panzerdebatte keine Eindeutigkeit für weitere Waffenlieferungen (52 Prozent der Unter-35-jährigen dagegen); Berlin sollte das berücksichtigen. 4 Nicole Deitelhoff, Zurück auf Null. Putins Krieg und die Europäische Sicherheitsordnung, in: „Blätter“, 6/2022, S. 69-76.

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Pazifismus in Zeiten des Krieges 67 Die Zäsur kam 1998/99, als mit rot-grüner Parlamentsmehrheit eine deutsche Beteiligung auf Seiten der Nato am völkerrechtlich höchst umstrittenen Kosovokrieg beschlossen wurde. Bereits 1994 hatte das Bundesverfassungsgerichtsurteil über mögliche Auslandseinsätze der Bundeswehr („out of area“) hierfür die Voraussetzung geschaffen – vielen Pazifist:innen galten dieses Urteil und der Bundeswehreinsatz im Kosovo als schwerster Tabubruch der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Verpasste Chancen Nach dem Angriff auf die Twin Towers am 11. September 2001 und mit Beginn des folgenden War on Terror entstanden neue Legitimationsfiguren für militärische Interventionen, in deren Zuge die Vereinten Nationen als Friedensstifterin noch mehr marginalisiert wurde, die Nato sich dagegen als Interventionskraft zunehmend selbst autorisierte. Die auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 angestoßene Debatte über „mehr Verantwortung in der deutschen Außenpolitik“ offenbarte das, auch aus der pazifistischen Tradition begründete, deutsche Dilemma, diese Verantwortung künftig vor allem militärisch definieren zu sollen (und zu wollen). Die dann einsetzende Erhöhung des Verteidigungshaushaltes und der Nato-Beiträge stellten entsprechende Weichen. Rückblickend waren dagegen die Initiativen des Auswärtigen Amtes wie das PeaceLab-Projekt von 2016 ein eher bescheidener Reflex auf die zivilgesellschaftlichen, auch pazifistischen Impulse der vergangenen Jahre: Die in der Zivilen Krisenprävention und im Zivilen Friedensdienst tätigen deutschen NGOs wollten „mehr deutsche Verantwortung“ vor allem auf den Gebieten von verbesserter Konfliktdiplomatie und -mediation verstanden wissen. Ließ sich Deutschland gleichzeitig als größerer Truppensteller und als Vermittler in Gewaltkonflikten profilieren? Friedenswissenschaft und Kirchen kritisierten den unvermindert hohen Rang, den Deutschland im internationalen Rüstungsexport einnahm (und bis heute einnimmt). Denn zu den wissenschaftlichen Erträgen der pazifistisch inspirierten Konfliktforschung gehört: Militärisches Eingreifen, sei es durch Truppenentsendung oder durch Waffenlieferungen, auch wenn dies in „stabilisierender“ oder „abschreckender“ Absicht geschah, hat in fast allen Fällen eher eskalierend und eben nicht sicherheitsbildend gewirkt (siehe Afghanistan oder Mali). Häufig wurden dagegen die parallel und mit dem Ziel einer politischen, ökonomischen oder humanitären Stabilisierung laufenden zivilen Missionen durch militärisches Handeln konterkariert. Zivil-militärische Einsätze der vielgepriesenen „vernetzten Sicherheit“ können heute vielerorts als gescheitert gelten; Helfer:innen wurden unversehens Kriegspartei. Denn militärische Gewaltanwendung entwickelt fast immer eine gefährliche Eigendynamik, der Drang zur Eskalation hängt auch mit der martialischen Natur der Waffen und den Irrationalismen derer zusammen, die sie einsetzen. Die Angst vor einer drohenden Eskalation des Ukrainekrieges, bis hin zum Einsatz atomarer Waffen, ist also durchaus berechtigt und aus friedenspoli-

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68 Corinna Hauswedell tischer, aber auch wissenschaftlicher Erfahrung begründet. Festzuhalten ist an diesem einflussreichen pazifistischen Grundgedanken also, dass die militärische Anwendung von Waffen aller Art nicht nur moralisch verwerflich oder zumindest problematisch ist, sondern eben auch in ihrer Natur eskalatorische und eben nicht friedensfördernde Mechanismen in Gang setzen kann – und zwar auch und gerade mit Blick auf die Ukraine und eine nach wie vor mögliche atomare Eskalation. Das ist eine Kernerkenntnis aus über 50 Jahren Friedens- und Konfliktforschung, die man auch haben kann, wenn man nicht gesinnungsethischer Pazifist ist. Eine neue Realpolitik, wie sie in Berlin jetzt erkennbar wird, wäre daher in jedem Fall gut beraten, die langen Linien im Blick zu haben – das hieße, friedensstrategisch zu denken und nicht mit zweierlei Maß zu messen, wenn es um die friedliche Bearbeitung der Zukunftsaufgaben geht, vor denen wir alle stehen. Gerade wenn wir an die Klimapolitik denken, ist die Frage der „Schuld“ keineswegs so eindeutig wie im aktuellen Ukrainekonflikt. Die Aufteilung der Welt in Gut und Böse, die der Putin-Krieg erneut nahezulegen scheint, ist daher ausgesprochen kontraproduktiv. Das haben wir zuletzt in den 1980er Jahren, der Schlussphase des Kalten Krieges, und dann wieder mit dem War on Terror erlebt: mit den bekannten Folgen internationaler Verfeindung, die den Gedanken zu vernebeln drohte, dass Sicherheit auf unserem Planeten nur gemeinsam und nicht gegeneinander zu haben sein wird. Eine solche umfassende Verfeindung, wie sie sich gegenwärtig angesichts neuer Geopolitik wieder anbahnt, die auch China mehr als Gegner denn als wichtigen Akteur für Kooperation ansieht, ist eine fatale Entwicklung. Sie ist destruktiv und leugnet die Existenz objektiver Interdependenzen und gleichlaufender Interessen zwischen vielen Staaten und Gesellschaften. Ohne schließlich auch Russland eines Tages wieder als konstruktiven Akteur auf der Weltbühne zurückzugewinnen, wird es am Ende nicht gehen – sowohl mit Blick auf die Folgen des Ukrainekrieges als auch auf die weiterreichenden Probleme. Denn den allerwenigsten Bedrohungen, allen voran Klimawandel und Ressourcenknappheit, Pandemien, selbst Cyberkonflikten oder Terrorismus, lässt sich mit militärischen Mitteln wirksam beikommen. Wie wichtig zukünftig wieder eine Zusammenarbeit mit Russland in ökologischer Hinsicht sein wird, zeigt schon ein Blick nach Sibirien, wo eine ungehemmte Erderwärmung das Auftauen der Permafrostböden und die Freisetzung ungeahnter Mengen an Treibhausgasen begünstigen und damit den ganzen Planeten noch mehr bedrohen wird. Gleichzeitig mit der Verteidigung der Ukraine wird es daher, so schwierig das gegenwärtig auch erscheint, darum gehen müssen, auf eine Deeskalation der akuten Kriegssituation hinzuwirken, Gesprächskanäle offenzuhalten, um neue Voraussetzungen für eine langfristig zu denkende europäische Friedensordnung ins Auge fassen zu können. Diese wird nur als Teil einer (klima)gerechten internationalen Ordnung vorstellbar werden. Das sind Aspekte einer „Zeitenwende“, die sich jenseits der Aufrüstung der Bundeswehr bewegen, weil sie Sicherheit in einem umfassenden zivilen Sinne des Zusammenlebens von Staaten und Gesellschaften betreffen.

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Realitätsschock Ukrainekrieg Wie die Neuaufstellung der Bundeswehr gelingen kann Von Klaus Naumann

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it Blick auf die vor bald einem Jahr verkündete „Zeitenwende“ drängt sich eine tragische Ironie auf: Mit dem Beginn des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine wurde die Koalition, die sich dem Fortschritt verschrieben hat, gleichsam über Nacht zum Offenbarungseid gezwungen. Der erfolgt nun auf Raten. Die letzte Rate lieferte der Rücktritt der Verteidigungsministerin. Die Koalition ist nicht zu beneiden; vor allem der neue Verteidigungsminister darf nun die Suppe auslöffeln, die seine Vorgänger der verschiedenen Parteien – zum Teil identisch mit den derzeit Regierenden – in den letzten dreißig Jahren angerührt, aufgetischt und dann haben erkalten lassen. Das am 27. Februar 2022 verkündete 100 Mrd. schwere „Sondervermögen für die Bundeswehr“ glich insofern einem Griff nach der Notbremse. Die knappe Äußerung des Vorsitzenden des Deutschen Bundeswehr-Verbandes, Oberst André Wüstner, fasst die immer noch aktuelle Lage zusammen – die Bundeswehr befindet sich „im freien Fall“.1 Das gilt für so ziemlich alles: die veralteten und reparaturanfälligen Waffensysteme, die nicht einsatzbereiten Neuanschaffungen, die langwierigen und fehlerbehafteten Beschaffungsprozesse, dysfunktionale Strukturen und Prozesse, den disproportionalen Personalkörper, unbesetzte Stellen, drängende Nachwuchsprobleme und nicht zuletzt das Fehlen einer leistungsfähigen, europäisch vernetzten Rüstungsindustrie.2 Die Bundeswehr wurde nicht einfach „kaputtgespart“, sondern unter kurzsichtigen strategischen Prämissen kalkuliert runtergefahren, als Sparschwein missbraucht, neoliberal ausgeweidet, unter Missachtung jeglicher Vorausschau ihrer materiellen und personellen Reserven beraubt, kurzum, sie wurde „zerstört“.3 Die Streitkräfte, „designed to budget“, meinte man, könnten kurzfristig im „Just-in-time“Modus bei Bedarf ab- und aufgerüstet werden. Die Verabschiedung des Sondervermögens setzt ein Signal. Es geht um nichts weniger als eine erzwungene Neuaufstellung der Bundeswehr. Ob 1 ARD-Morgenmagazin-Interview mit dem Vorsitzenden des Deutschen Bundeswehr-Verbandes, Oberst André Wüstner, 15.9.2022. 2 Vgl. Ralph Bollmann und Konrad Schuller, Europa braucht mehr Rüstungsfabriken, in: „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (FAS), 15.1.2023. 3 Vgl. Stephan Anpalagan, Die Bundeswehr wurde nicht kaputtgespart. www.stephananpalagan. de, 23.3.2022; Peter Carstens, Was die Bundeswehr braucht, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 16.1.2023; Matthias Gebauer und Konstantin von Hammerstein, Bereit zum Gefecht! Wie schlimm es um die Bundeswehr wirklich steht, in: „Der Spiegel“, 3/2023, 14.1.2023.

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70 Klaus Naumann dieser Neustart gelingt, lässt sich mit der Beantwortung dreier Frage klären: Reicht der politische Wille aus, um diesen steinigen Weg erfolgreich zu Ende zu gehen? Kann die Bundeswehr in ihrem jetzigen Zustand den Geldsegen sinnvoll und nachhaltig absorbieren? Und mehr noch: Was lässt sich mit Geld nicht kaufen?

Was vermag das »Sondervermögen«? An der politischen Energie und Durchsetzungsfähigkeit der Amtsträger in der Sicherheits- und Militärpolitik konnte in den vergangenen Jahren immer wieder Zweifel aufkommen. Die ehemalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht konnte sie nicht ausräumen.4 Daraus hat sich ein merkwürdiger und für die zivil-militärischen Kommunikationsbeziehungen ungewohnter Kontrast ergeben. Während die politische Seite Zukunftsbilder von den „stärksten europäischen Streitkräften“ malt oder Deutschland zur „militärischen Führung“ verdonnert sieht, geben sich Militärs wie General a.D. Egon Ramms, Heeresinspekteur Alfons Mais oder Oberst André Wüstner betont nüchtern und skeptisch. Wie dieses Spannungsverhältnis zu bewerten ist, zeigt sich, wenn man den Gesetz gewordenen Willen des „Bundeswehrfinanzierungs- und Sondervermögensgesetzes“ (BwFinSVermG, 1. Juni 2022) , des „Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetzes“ (BwBBGes, 7. Juli 2022) und des Wirtschaftsplans für die Verausgabung des Sondervermögens betrachtet.5 Das Begleitgesetz zum Sondervermögen bindet Regierung (und Parlament!) daran, im „mehrjährigen Durchschnitt von max. fünf Jahren 2% des BSP“ bereitzustellen, um die Fähigkeitsziele der Nato zu gewährleisten. Das kann inzwischen als Nato-Minimum gelten. Diese Marge muss nicht in jedem Haushaltsjahr erreicht werden (wie etwa im Haushalt 2023); entscheidend ist die effiziente Orientierung auf die Beseitigung der bestehenden Fähigkeitsdefizite der Bundeswehr. Um die langjährigen Beschaffungsprozesse von Großgerät zu ermöglichen, sind die entsprechenden Ausgaben des Sondervermögens aus der Jährlichkeit des Haushalts genommen worden. Weitere Auflagen fordern dazu auf, die Beschaffungen „zu beschleunigen und zu optimieren“, „marktverfügbare Lösungen“ anzustreben und das Vergaberecht zu vereinfachen. Tatsächlich wurden einige dieser Vereinfachungen bereits eingeleitet und durch das Beschaffungsgesetz – wenn auch befristet und auf das Vergaberecht verengt – abgesichert.6 Nicht zu übersehen ist, dass das ehrgeizige Beschaffungsvorhaben bisher nichtvoneinerentsprechendenÖffnungdermittelfristigenFinanzplanungüber 2026 hinaus begleitet wird. Zudem ist der Investitionsbedarf erheblich höher als 100 Mrd. Euro.7 Noch schwerer wiegen freilich die bestehenden Struktur4 Vgl. Peter Carstens, Lambrechts miserable Bilanz, in: FAZ, 21.12.2022. 5 Vgl. hierzu Ulf von Krause, Zeitenwende und Bundeswehr. 100 Milliarden als Chance für die deutsche Sicherheitspolitik? Wiesbaden 2022. 6 Frank Schauka, „Goldrandlösungen“, in: „Die Bundeswehr“, 5.7.2022. 7 Vgl. „Man bräuchte 300 Milliarden“, Interview mit der Wehrbeauftragten Eva Högl, in: FAS, 15.1. 2023.

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Bundeswehr: Realitätsschock Ukrainekrieg 71 defizite, die weit über das haushaltstechnische und finanzielle Arrangement hinausweisen. Ein Indikator ist der vom Ministerium nachlässig ausgearbeitete Wirtschaftsplan zum Sondervermögen. Aus ihm mussten nach Intervention des Bundesrechnungshofes sechs Rüstungsvorhaben gestrichen werden, weil sie den Finanzrahmen des Sondervermögens gesprengt hätten.8 Die gestrichenen Projekte sollen nun den laufenden Haushalten zugewiesen werden. Deren Investitionskapazität ist freilich begrenzt. Bei den übrigen acht Großprojekte sind Komplikationen absehbar – am sichtbarsten beim übertechnisierten Schützenpanzer Puma und bei der weiteren Ausgestaltung der deutsch-französischen Rüstungskooperationen für ein Kampfflugzeug (FCAS) und einen Kampfpanzer (MGCS).9

Mehr Geld alleine wird nicht reichen Hinter allem steht die rüstungs- und wehrstrategische Frage nach der Priorisierung bei den Beschaffungen. Wie plausibel ist die Proportionierung zwischen Heer, Luftwaffe und Marine, bei der die Landstreitkräfte den Kürzeren gezogen haben? Mit der Verstärkung der deutschen Präsenz an der NatoOstflanke fällt dem Heer die Hauptlast zu; schon 2025 soll nach dem Nato Force Model eine vollausgestattete und verlegefähige Division mit 30 000 Soldaten innerhalb von 30 Tagen abrufbar sein.10 Das ist kaum zu schultern, zumal sich das Beschaffungswesen dank jahrelanger Versäumnisse, für die niemand geradesteht, in der Zwickmühle steckt, zwischen ambitionierten militärischen Zielen, begrenzten haushaltspolitischen Möglichkeiten und – nicht zuletzt – eingeschränkten und stark nachgefragten industriellen Rüstungskapazitäten lavieren zu müssen.11 Beispielhaft ist das vieldiskutierte Munitionsproblem, das für die Einsatzund Durchhaltefähigkeit von eminenter Bedeutung ist. Das Nato-Soll sieht eine Bevorratung für 30 Einsatztage vor, für die leeren Magazine der Bundeswehr (derzeit Reserven für rund zwei Gefechtstage) ergibt sich daraus ein Bedarf in Höhe von 20 Mrd. Euro. Die Rüstungsindustrie verweist jedoch darauf, dass in den nächsten beiden Jahren nur ein Einkaufsvolumen von etwa zwei Mrd. Euro umgesetzt werden könne.12 Die Misere hängt nicht zuletzt am viel gescholtenen Rüstungsamt der Bundeswehr. Hier ist einiges zu tun; sechs Amtsinhaber in Folge sind daran gescheitert. Das Problem geht an die Substanz, mit Geld und Stellschrauben allein ist es nicht zu lösen. Kritiker haben von einer „Panikpolitik“ bei der aktuellen Beschaffung gesprochen; mit sehr viel mehr Recht muss das dahinter steckende „strategische Vakuum“ der Rüstungspolitik aufs Korn 8 Zum Bundesrechnungshof vgl. „Die Bundeswehr“, 10/2022, S. 8. 9 Vgl. Marco Seliger, Sondervermögen Bundeswehr – Die zehn wichtigsten Projekte, „Table security“ #4, 29.11.2022. 10 Zur „Division 2025“ vgl. Dietmar Klos, Ausrüstungsstand und Beschaffungsplanung Division 2025, in: „Europäische Sicherheit“, 11/2022, S. 18-22. 11 Vgl. Christian Mölling und Tobias Schütz, Zeitenwende in der Verteidigungspolitik, „DGAP Policy Brief“, Nr. 16, Mai 2022. 12 Ulrich Friese, Rheinmetall will Notstand bei der Munition verringern, in: FAZ, 16.12.2022.

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72 Klaus Naumann genommen werden.13 Die jahrelange Misswirtschaft navigiert in einem Bermuda-Dreieck: Das Spannungsverhältnis zwischen der fortgeschrittenen Veraltung der Bestände, der überzogenen Diversifizierung des (Waffen-) Materials und der störanfälligen Komplexität hypertechnisierter Waffensysteme. Dazu gesellt sich der illusionäre Planungshorizont einer Schönwetterarmee, die sich abgewöhnt hat, zwischen Bestand und Bedarf einer Präsenzarmee der Normalzeit und der um ein vielfaches erweiterten Einsatzstärke und Reserveausstattung einer Abschreckungsarmee zu unterscheiden. An diesem Punkt kollidiert das geschönte Lagebild heftig mit den Imperativen aufwuchs- und einsatzfähiger Streitkräfte. Ohne entschiedene Struktureingriffe ist das nicht aufzulösen.

Verstolperter Start: ein Schritt vor, zwei Schritte zurück? Drei markante Führungsschwächen der ausgeschiedenen Amtsinhaberin dokumentieren ein verlorenes Jahr. So sehr die schnellen (und überfälligen) Beschaffungsentscheidungen beim Großgerät (wie Kampfflugzeug F-35, Transporthubschrauber Chinook, bewaffnete Drohnen) zu begrüßen waren, der entschlossene Zugriff auf die Neugestaltung des Beschaffungs-, Nutzungs- und Instandsetzungswesen der Streitkräfte blieb aus. Desgleichen fehlten, zweitens, Struktureingriffe, die die Gesamtarchitektur einer Bundeswehr betreffen, die unter den Bedingungen der Kriseninterventionen nicht auf kurzfristig einsatzfähige, vollausgestattete und verlegefähige Verbände ausgerichtet war. Bisher sind nur erste Notoperationen erfolgt, um die Einsatzkräfte in Litauen überhaupt zureichend auszustatten. Einem Skandal glich die Versicherung Lambrechts, „der Truppe“ gehe es primär um die persönliche Ausrüstung: „Den Wunsch ‚Bitte, verändern Sie jetzt doch mal dringend die Strukturen‘ höre ich da nie.“14 Die bis dato vorherrschende Mischung von Geschäftigkeit und Attentismus hing, drittens, damit zusammen, dass die deutsche Welt bei Antritt der Ampel-Koalition im Herbst 2021 noch in Ordnung schien. Man glaubte sich für eine umfassende „Bestandsaufnahme“ Zeit nehmen und es sich leisten zu können, die beträchtlichen Vorarbeiten von Ministerium und Bundeswehrführung zu den fälligen „Veränderungen der Grobstruktur“ zur Seite zu legen.15 Erst der 24. Februar und das zeitenwendende Machtwort des Kanzlers haben für eine Umorientierung gesorgt. Aber das erfolgte mit gebremster Kraft, denn die „Bestandsaufnahme“, die offiziell noch immer nicht vorgelegt wurde, beschränkt sich 13 Vgl. Herbert Wulf, Panikpolitik, in: „Internationale Politik und Gesellschaft“, 15.3.2022; Martin Sebaldt, Im strategischen Vakuum, in: „Loyal“, 7-8/2021; Ders., Rüstungspolitik im Zeichen des Versagens: Die Trendwende Material der Bundeswehr zwischen Anspruch und Realität, in: „Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik“, 13/2020, S. 177-196. 14 „Die Helme haben auch Leben gerettet“, Die Verteidigungsministerin im Gespräch, in: FAZ, 30.11.2022. 15 Das betrifft vor allem die „Eckpunkte für die Zukunft der Bundeswehr“ (18.5.2021), die zunächst von der Website des Ministeriums entfernt wurden. Vgl. Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“, Berlin 2021, S. 148; Thomas Wiegold, Lambrecht ordnet grundlegende Bestandsaufnahme der Bundeswehr an – Strukturplanungen der Vorgängerin gestoppt, www.augengeradeaus.de, 27.1.2022.

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Bundeswehr: Realitätsschock Ukrainekrieg 73 dem Vernehmen nach auf Duzende von „Prüfaufträgen“ und „weitergehenden Untersuchungsbedarf“. Damit wird nach dem Ministerwechsel zu Boris Pistorius hoffentlich Schluss sein.

Gefragt sind Strukturentscheidungen für eine erneuerte Bundeswehr Für die Erneuerung der Bundeswehr besteht kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem; es bedürfte keiner gesonderten Bestandsaufnahme.16 Seit ca. fünf Jahren haben sich Planungsdokumente und Studien angehäuft und liegen auf Abruf bereit.17 Die Bundeswehr der Ära nach 1990 litt an Überzentralisierung, kopflastigen Strukturen, Privatisierung, Verrechtlichung und einer grassierenden Diffusion von Verantwortung, die durch ein neoliberal inspiriertes „prozessorientiertes“ Management angetrieben wurde. Sehenden Auges hatte man die Kollision von zweierlei Rationalitäten installiert. Während die eine Organisationsphilosophie betriebswirtschaftlich, kosten- aber nicht auftragsorientiert und an einem Top-down-Führungsstil ausgerichtet war, blieben die anderen Maximen wie Verantwortungsteilung („Führen mit Auftrag“), Vorrats- und Reservepflege („Haben ist besser als brauchen“) der Einsatzfähigkeit („train as you fight“) verbunden. Dieser Spagat sorgte immer schon für lange Dienstwege und Zielkonflikte und geriet vollends unter Stress, als mit dem Weißbuch 2016 die Gleichrangigkeit von Krisenintervention und Bündnis- als Landesverteidigung verkündet wurde. Doch Reparaturen blieben – trotz des seit 2015 erhöhten Wehretats – von geringer Wirksamkeit; hier schlummert eine Bringschuld der politischen Ebene, aber auch der militärischen Führung, die noch längst nicht beglichen ist. Immerhin, der Pfropfen ist aus der Flasche. An drei ausgewählten Themenbereichen lässt beispielhaft illustrieren, wo dringender Handlungsbedarf besteht, der vom neuen Amtschef unverzüglich bedient werden muss. Die Bundeswehr der Zukunft braucht organische und autonome Verbände, eine durchgehend erneuerte Verantwortungs- und Führungskultur und eine Erneuerung des zivil-militärischen Sozialvertrags.18

Aufgabe 1: Autonome Truppenverbände Sinnvoll ist ein Vergleich mit der Kontingentarmee der Auslandseinsätze. Diese konnte – recht und schlecht – mit ausgedünnten Magazinen (70 Prozent-Soll-Ausstattung) und Reserven leben. Die Vorbereitungszeiten reichten aus, die Einsatzkräfte aus Dutzenden von Einheiten und Truppenteilen 16 So Rainer L. Glatz, Die Zeitenwende. Von der Einsatzarmee zur Landes- und Bündnisverteidigung, in: „Innere Führung“, 3/2022, S. 62-65. 17 Neben den „Eckpunkten“ (Anm. 15) vgl. das „Fähigkeitsprofil der Bundeswehr“ (2017), die „Konzeption der Bundeswehr“ (August 2018) und das „Positionspapier Gedanken zur Bundeswehr der Zukunft“ (Februar 2021). Eine Grundorientierung gibt vor allem die Studie von Hans-Peter Bartels und Rainer L. Glatz, Welche Reform die Bundeswehr heute braucht – ein Denkanstoß, „SWP-Aktuell“ 84, Oktober 2020. 18 Zum Folgenden vgl. v.a. die „Eckpunkte“ sowie Bartels und Glatz, a.a.O.

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74 Klaus Naumann zusammenzustellen. Material und Ausrüstung wurden auftragsbezogen zusammengeführt (das sogenannte Verfügungsmanagement, im Truppenjargon „Aktion Läusekamm“). Die originären Strukturen des Truppenkörpers wurden dadurch untergraben. Das alles ist in einer Abschreckungsarmee der Bündnis- bzw. Landesverteidigung nicht mehr tragbar. Die Bundeswehr befindet sich unter hohem Handlungsdruck, im Bedarfsfall als „first responder“ zur Verfügung zu stehen, die Zuführung von Kräften zu koordinieren und abzusichern. Jetzt geht es um „Einsatzbereitschaft“, d.h. Kaltstartfähigkeit innerhalb kurzer Fristen und die Verlegefähigkeit geschlossener Verbände (z.B. ins Baltikum). Diese Verbände müssen autonom sein, d.h. ihren Grundbedarf (Nachschub, Munition, Sanität, Materialerhaltung und anderes mehr) selbst bestreiten können, und sie müssen organisch sein, d.h. das militärische Spektrum von Kampftruppen bis Artillerie und Luftabwehr abdecken können. Dafür ist die Vollausstattung der Truppe unabdingbar. Die vordringliche Konsequenz besteht darin, die Verantwortung für Kräfte und Mittel in einer Hand zu bündeln. Die Verantwortung des Generalinspekteurs, der Inspekteure und Kommandeure wird gestärkt werden müssen, während das aufgeblähte Verteidigungsministerium auf seine Kernfunktionen als „Ministerium der Parlamentsarmee“ (Eckpunkte), Organ der Fachaufsicht und Instrument der strategischen Führung der Bundeswehr (z.B. Wiedereinführung eines Planungsstabes) zurückgeführt werden sollte. Die Rückgabe der Verantwortung an die Bereichsverantwortlichen und Nutzer ist der entscheidende Hebel, um die Führungskultur zu verbessern.

Aufgabe 2: Erneuerte Verantwortungs- und Führungskultur Zentralisierung und Bürokratisierung haben in Ministerium und Bundeswehr zu einer lähmenden Diffusion von Verantwortung geführt. Auf den langen Wegen der Umlauf- und Mitzeichnungsverfahren wird Zeit vergeudet, die zurechenbare Verantwortung für Entscheidungen bleibt oft im Dunkeln. Dadurch wird die Bereitschaft untergraben, neue Wege zu wählen, Risiken einzugehen, zu improvisieren oder sich aus der Deckung zu wagen. Bürokratien sind selten fehlerfreundlich. Durchschnittlichkeit, Anpassungsfähigkeit und Absicherungsdenken werden begünstigt. Anders als die letzte Ministerin wahrhaben wollte, werden die hemmenden „Strukturen und Prozesse“, die diese Stagnation verursachen, in der Truppe deutlich benannt: „Es fehlten die notwendige Robustheit, Klarheit in den Zuständigkeiten und Durchhaltefähigkeit für eine militärische Großorganisation“, heißt es in einem von der Bundeswehr nicht veröffentlichen Auswertungsbericht einer Serie von Workshops.19 „Es mangele an in eigener Verantwortung agierenden Organisationselementen mit den Möglichkeiten zur 19 Auszüge aus dem offiziell nicht veröffentlichen Entwurf des „Abschlussberichts“ zum „Programm Innere Führung heute“ (Februar 2019), der dem Wehrbeauftragten vorlag. Siehe Jahresbericht 2019 des Wehrbeauftragten, BT-Drcks. 19/16500 vom 28.1.2020, S. 13f.

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Bundeswehr: Realitätsschock Ukrainekrieg 75 schnellen Reaktionsfähigkeit durch strukturell verfügbare Ressourcen. […] Zugleich zeigten sich Schwächen im Herbeiführen zeitgerechter Entscheidungen im breiten ministeriellen Konsens und in der Beteiligung des nachgeordneten Bereichs. Häufig werde daher nicht klar geführt, sondern in einer Art ‚Konsensrat‘ die Lösung mit den geringsten Auswirkungen auf den eigenen Bereich gesucht. […] Mannschaftsdienstgrade, Unteroffiziere und Offiziere bis zur Ebene der Inspekteure […] nannten sehr ähnliche, wenn nicht sogar die gleichen Hemmnisse guter Führung.“ Der Wehrbeauftragte zog daraus die Schlussfolgerung: „Kern der inneren Reformen, die jetzt anstehen, (muss) sein: Von der zentralisierten und spezialisierten Verantwortungsstrukturen hin zur ganzheitlichen Führung durch die Auftragsverantwortlichen, die Kommandeure (und Chefs und Spieße).“

Aufgabe 3: Erneuerung des zivil-militärischen Sozialvertrags Wenn die deutsche Gesellschaft unvorbereitet in einen Spannungsfall geraten sollte, könnte sich die Bundeswehr als eine Armee „ohne Hinterland“ erweisen. Der Krieg in der Ukraine unterstreicht hingegen, wie sehr die Wehrfähigkeit auf Solidarität, aber auch auf Unterstützung durch die Zivilgesellschaft angewiesen bleibt und wie sehr die Zivilbevölkerung durch Kriege in Mitleidenschaft gezogen wird.20 In existenziellen Konflikten ist das eine Sache auf Gegenseitigkeit, ein ungeschriebener Sozialvertrag. Die verfassungsstaatliche Schutzgarantie bezieht sich nicht nur auf die militärische Abwehr äußerer Bedrohungen oder Aggressionen; sie umfasst auch wirksame Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung. Das eine ist die militärische, das andere die sogenannte Zivilverteidigung. Letztgenannte aber, so das Urteil der Experten, ist das „Holzbein“ der militärischen Verteidigung – ein 100-Meter-Lauf ist damit nicht durchzustehen. Es ist nur scheinbar abwegig, wenn das Gesetz zum Sondervermögen (BwFinSVermG, § 1a) die Verpflichtung ausspricht, in Sachen Zivilschutz (und der Cybersicherheit) tätig zu werden, auch wenn das die Zweckbindung des 100 Mrd.-Pakets nicht unmittelbar berührt. Derzeit beschränkt sich die zivil-militärische Zusammenarbeit auf Rahmenübungen, doch die Strukturen des zivilen Bereichs sind, wenn das ginge, noch „hohler“ als jene der gegenwärtigen Streitkräfte. Der Bevölkerungsschutz besteht aus staatlichen Ehrenamtsorganisationen wie dem Technischen Hilfswerk und freien Trägern wie dem DLRG, DRK oder den Maltesern. Das sind starke und engagierte Verbände, was aber fehlt ist – siehe Coronakrise oder Flutkatastrophen – eine länderübergreifende Führungsstruktur mit Weisungsbefugnis, das Vorhalten standardisierter Module mit einschlägigen Fähigkeiten oder bundesweit koordinierte Regieeinheiten des Zivilschutzes. Hier zeigt sich das Bundesinnenministerium schwerfälliger als das Verteidigungsministerium, das kürzlich ein Territoriales Führungs20 Vgl. Anthony H. Cordesman, Die längerfristigen Auswirkungen des Ukraine-Krieges und die wachsende Bedeutung der zivilen Seite des Krieges, in: „Sirius“, 3/2022, S. 332-235.

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76 Klaus Naumann kommando aufs Gleis gesetzt hat.21 Die Reserven künftiger Heimatschutzkräfte sind freilich gering, und wenn es hart auf hart käme, müsste das Feldheer herangezogen werden, das dann vermutlich durch Einsätze gebunden ist. 22 Die Herausforderung für einen integrierten Ansatz zur Lösung dieser „gesamtstaatlichen Aufgabe“ steht dem für die militärische Neuaufstellung an Dringlichkeit nicht nach.

Lehrmeister Ukrainekrieg – ein Ausblick Der eingeleitete Prozess einer verzögerten und nun erzwungenen Neuaufstellung der Bundeswehr birgt auch nach dem Ministerwechsel zwei Unwägbarkeiten. Zum ersten wird dieser Prozess Jahre in Anspruch nehmen, und man kann nur hoffen, dass die Entwicklung der internationalen Konfliktlagen diese Zeit gewährt. Die Bundeswehr steht vor einer tiefgreifenden Umprogrammierung von einer „Schrumpfarmee“ (Brigadegeneral Sieger) zu einer auftragsgemäß ausgerichteten Abschreckungsarmee. Für die Truppe gleicht diese Entwicklung einer neuerlichen Geduldsprobe, die das ohnehin nicht hohe Vertrauen in die politische und militärische Führung herausfordern wird. Jetzt bedarf es nicht nur des politischen Willens und der militärischen Führungsstärke, sondern zugleich kommunikativer Fähigkeiten, die absehbaren Höhen und Tiefen des Umbaus zu begleiten. Zum zweiten könnte es sich schon bald herausstellen – das Menetekel des Puma-Panzers und die Berichte zur Einsatzbereitschaft deuten das an –, dass die Bundeswehr immer wieder auf ausgedientes Material zurückgreifen muss, um die eigenen Verpflichtungen zu erfüllen. Die Leidtragende wäre dann die Ukraine, deren militärische Unterstützung durch Deutschland zusätzlichen Hindernissen ausgesetzt würde. Die Sicherheit des freien und demokratischen Europa, die im ukrainischen Unabhängigkeitskrieg mit auf dem Spiel steht, wäre dann einer ernsten Belastungsprobe ausgesetzt. Nicht nur in dieser Hinsicht wird sich der Lehrmeister Ukrainekrieg23 als Gradmesser erweisen, denn auch die Beschaffungspolitik, die Truppenaufstellung, der Mindset der Streitkräfte und die Fähigkeit zu zivil-militärischer Resilienz werden sich an dieser osteuropäischen Erfahrung messen lassen müssen.24 Bisher ist allerdings wenig zu erkennen, wie dieses Exempel in Politik, Gesellschaft und Streitkräften tatsächlich angeeignet und umgesetzt wird.

21 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Unionsfraktion, BT-Drcks. 20/5112 vom 27.12.2022. 22 Vgl. Benjamin Vorhölter, Wehrhaftigkeit ist nicht allein Aufgabe des Militärs, in: „Loyal“, 11/2022, S. 50-53; Björn Möller, Katastrophen voraus! Der Bevölkerungsschutz ist schlecht aufgestellt, in: ebd., 1/2023, S. 8-21. 23 Ich erinnere an den verdienstvollen Essay von Karl Otto Hondrich, Lehrmeister Krieg. Reinbek bei Hamburg 1992, der nach dem Golfkrieg die Gemüter erhitzte. 24 Als Einführung vgl. Hanna Shelest, Defend. Resist. Repeat: Ukraine’s Lessons for European Defence. „ECFR-Policy Brief“, November 2022.

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Kindheit im Luftschutzbunker Das Leiden der ukrainischen Familien Von Anna Jikhareva

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isa Dmitrijewa hatte ihr ganzes Leben noch vor sich, doch sie wurde nur vier Jahre alt. Das Mädchen mit Down-Syndrom kam gerade von der Sprachtherapie, die sie regelmäßig besuchte. Zusammen mit ihrer Mutter überquerte sie einen belebten Platz im Zentrum von Winnyzja, einen Puppenwagen vor sich herschiebend, als mehrere russische Raketen einschlugen. Das Mädchen wurde bei der Explosion getötet, die Mutter kam schwer verletzt ins Krankenhaus.1 An jenem Tag Mitte Juli 2022 starben in der zentralukrainischen Stadt, weit weg von der militärischen Front, 23 Menschen, darunter neben Lisa Dmitrijewa zwei weitere Kinder, 140 Personen wurden verletzt. Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine fordert dieser noch immer täglich Tote und Verletzte; weiterhin zerstören Raketen und Artilleriegeschosse Häuser und Kraftwerke, Träume und Hoffnungen. Neben den Kämpfen in der Süd- und Ostukraine beschießt die russische Armee seit Monaten auch gezielt die kritische Infrastruktur des Landes – mit der Absicht, die Menschen zu zermürben, wenn sie in dunklen Wohnungen ausharren müssen, ohne duschen oder sich aufwärmen zu können.2 Zu den größten Leidtragenden dieses ständigen Ausnahmezustands gehören die ukrainischen Kinder. Auf diesen Opfern der russischen Invasion liegt in der internationalen Berichterstattung allerdings nur selten der Fokus. Laut der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft sind zwischen vergangenem Februar und Ende Januar insgesamt 459 Kinder gestorben, 914 wurden verwundet, 353 bleiben gemäß der Polizei verschwunden.3 Zwar decken sich die Zahlen der Vereinten Nationen weitestgehend mit diesen Angaben – doch weil etwa verlässliche Zahlen aus den von Russland besetzten Gebieten und den frontnahen Landstrichen fehlen, dürfte die Dunkelziffer wesentlich höher liegen, davon gehen auch die ukrainischen Behörden aus. Tausende Kinder haben Angriffe zwar selbst überlebt, aber ihre Eltern, Geschwister, Freund:innen oder das Zuhause verloren. Sie alle sind durch den Krieg gezwungen, viel zu schnell erwachsen zu werden. 1 Maria Varenikova und Andrew E. Kramer, In a Flash of Fire and Shrapnel, a Smiling 4-Year-Old’s Life is Snuffed Out, www.nytimes.com, 15.7.2022. 2 Vgl. Paul Simon, Zivilgesellschaft im Fadenkreuz. Die Ukraine vor dem Winter der Zermürbung, in: „Blätter“, 12/2022, S. 63-68. 3 Офіс Генерального прокурора, Ювенальні прокурори: 453 дитини загинуло внаслідок збройної агресії РФ в Україні, https://t.me/pgo_gov_ua/8939, 23.1.2023 sowie: www.childrenofwar.gov.ua.

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78 Anna Jikhareva Laut Unicef hat praktisch keines der sieben Millionen zurzeit im Land lebenden Minderjährigen gesicherten Zugang zu Elektrizität, Heizung und Wasser. „Diese Kinder sehen einem trostlosen Winter entgegen, zusammengekauert in Kälte und Dunkelheit, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie oder wann sie sich erholen können“, sagt Catherine Russell, die Direktorin des UN-Kinderhilfswerks, in einer Stellungnahme. „Abgesehen von den unmittelbaren Gefahren, die der Frost mit sich bringt, wird den Kindern auch die Möglichkeit genommen, zu lernen oder mit Freunden und Familie in Kontakt zu bleiben, wodurch sowohl ihre körperliche als auch ihre geistige Gesundheit stark gefährdet ist.“4 Gerade die Auswirkungen auf die Psyche sind in diesem Alter oftmals verheerend; Unicef spricht von einer „drohenden mentalen Gesundheitskrise“: Anderthalb Millionen Kinder seien bereits von Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischem Stress und anderen mentalen Erkrankungen betroffen. Die Kyjiwer Psychologin Kateryna Goltsberg schildert dem „Spiegel“ verschiedene Symptome von Traumata: „Neben Verschwiegenheit und Apathie sind da Aggressionen und Ticks wie Augenzucken oder häufiges Räuspern. Manche entwickeln sogar Krankheiten wie Asthma oder Schuppenflechte. Damit Kinder schreckliche Erlebnisse verarbeiten können, müssen sie unterstützt werden.“5

»Kein Kind hat Zugang zu geregelter Bildung« Neben den direkten Folgen des Krieges für die Gesundheit der Kinder schränkt er deren Recht auf Bildung ein. Wie alles andere sind auch die Bedingungen dafür in den letzten Monaten immer schwieriger geworden: Zehntausende Kinder können nicht mehr regelmäßig zur Schule oder in den Kindergarten gehen. Dies nicht zuletzt, weil über 3000 Bildungseinrichtungen im Land beschädigt und fast 500 komplett zerstört sind, wie das ukrainische Bildungsministerium auflistet.6 „Kein ukrainisches Kind hat mehr Zugang zu geregelter Bildung“, schreibt Unicef. Auch dadurch wird einer ganzen Generation die Zukunft genommen. Als der russische Angriffskrieg vor einem Jahr begann, war das Schuljahr in vollem Gang. Zuerst wurden Schüler:innen und Lehrer:innen für zwei Wochen in die Zwangsferien geschickt, alle Einrichtungen schlossen ihre Türen – doch als absehbar wurde, dass der Krieg so schnell nicht vorbei sein würde, nahmen viele den Unterricht wieder auf – online. Eine Praxis, die bereits während der Coronapandemie weit verbreitet war und deshalb mehr oder weniger funktionierte.7 Dies war auch ein Grund dafür, dass Lehrkräfte und Kinder, die nach Beginn der Invasion aus dem Land flohen, weiter unterrichten und lernen konnten. Das Bildungsministerium fällte zudem Ent4 Almost 7 million children in Ukraine at risk as attacks on energy infrastructure cause widespread blackouts and disruption of heating and water, www.unicef.org, 13.12.2022. 5 Thore Schröder, Zerbombte Kindheit, in: „Der Spiegel“, 30.12.2022. 6 Vgl. www.saveschools.in.ua/en. 7 Yuliia Nazarenko, Iryna Kogut und Tetiana Zheriobkina, Education and War in Ukraine, www. cedos.org.ua, 6.4.2022.

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Das Elend der ukrainischen Kinder und Frauen 79 scheide, damit keine Lücken bei den Leistungsnachweisen der Schüler:innen entstehen: Es wies die Schulen etwa an, alle Kinder automatisch in die nächsthöhere Klasse zu versetzen und die Jahresendprüfungen ausfallen zu lassen. Die Abiturprüfung fand zwar trotzdem statt, konnte aber nicht nur im Land selbst, sondern auch in dutzenden Städten in ganz Europa absolviert werden, wie die „Ukrajinska Prawda“ berichtet.8 So sorgte die Behörde zumindest in dieser Hinsicht für Chancengleichheit. Zum neuen Schuljahr im September 2022 öffnete dann rund die Hälfte der Schulen und Kindergärten wieder die Türen – jene, die den vorgeschriebenen Luftschutzbunker im Gebäude bereits hatten oder über die Sommerferien neu einrichten konnten. Die restlichen Kinder müssen weiterhin mit Fernunterricht vorliebnehmen – doch aufgrund der Stromausfälle infolge der Angriffe auf die kritische Infrastruktur ist der Zugang dazu oft nicht mehr gewährleistet. Verändert haben sich nicht nur die Rahmenbedingungen des Lernens, sondern auch der Inhalt: So gilt seit diesem Schuljahr in der Ukraine ein neuer Lehrplan. In der Grundschule wird etwa unterrichtet, wie man verschiedene Arten eines Luftalarms auseinanderhält, was man im Falle eines Angriffs tun soll, wie man einen Schutzraum einrichtet, Erste Hilfe leistet oder mit Angst umgeht. Immer wieder üben die Kinder im Unterricht, wie sie rasch in den Keller kommen, wo der Unterricht bei Luftalarm weitergeht. Und ab der fünften Klasse gilt in Fächern wie Literatur und Geschichte ein neues Programm, wie etwa die „taz“ berichtet.9 So werde den jungen Menschen nun etwa beigebracht, dass die Sowjetunion ein imperialistischer Staat gewesen sei, und wie sich die Ukrainer:innen der Repression dieses Staates widersetzt hätten. Aus dem Programm gestrichen worden seien Werke von vielen russischen Autoren, etwa Anton Tschechow, Lew Tolstoi oder Fjodor Dostojewski. Eingang in den Schulstoff hätten dafür Goethe oder Adam Mickiewicz gefunden. Der Unterricht droht damit zu einem ideologischen Kampffeld zu werden – in den von Russland besetzten Gebieten ist er das bereits. Russland nutzt die dortigen Schulen schon längst für Propagandazwecke: Der Lehrplan wurde geändert, vor allem im Geschichtsunterricht lernen die Kinder nun nur noch das, was dem Kreml genehm ist. „Nach Moskaus Plänen sollen die Schulen vor allem eine zentrale Rolle in der ideologischen Indoktrination der Kinder übernehmen und sie zu ‚russischen Patrioten‘ und Putin-Unterstützern machen“, schreibt etwa die Bildungsexpertin Tatiana Zhurzhenko.10 Dass dies meistens nicht freiwillig geschieht, legen diverse Berichte nahe. Demnach üben die Besatzungsbehörden Druck auf Lehrer:innen aus, damit diese ihren Schüler:innen die russische Sicht auf die ukrainische Geschichte vermitteln. So berichtete der „Guardian“ über den Fall einer Lehrerin, die sich weigerte, für die Besatzer:innen zu arbeiten, und deshalb entlassen wurde.11 8 Михайло Загородній, (Не)проблемне ЗНО-2022: як пройшло тестування та чи є результати завищеними, www.pravda.com.ua, 12.8.2022. 9 Juri Konkewitsch, Tolstoi in die Verbannung, www.taz.de, 6.9.2022. 10 Tatiana Zhurzhenko, Bildung unter Beschuss: das ukrainische Schulsystem unter Bedingungen der Okkupation, www.zois-berlin.de, 7.9.2022. 11 Shaun Walker und Pjotr Sauer, ‚No way I could work for the Russians‘: the Ukrainian teachers resisting occupation, www.guardian.co.uk, 18.9.2022.

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80 Anna Jikhareva „Stellen Sie sich vor: Ich habe mehr als 25 Jahre an dieser Schule gearbeitet. Am Tag meiner Entlassung bin ich allein hinausgelaufen, trug eine Topfpflanze und einen Beutel mit Gedichten, Tränen flossen mein Gesicht hinunter.“ Kurze Zeit später sei sie bei einem Elternabend als „Verräterin“ denunziert worden, weil sie die Schule verlassen hatte. Daraufhin floh die Lehrerin in von der Ukraine kontrolliertes Territorium. Etwa ein Drittel der Lehrkräfte hätten sich dagegen zur Kollaboration bereiterklärt, einige aus Enthusiasmus, andere aus Pragmatismus. Ähnliche Berichte darüber, wie Druck auf Lehrkräfte ausgeübt wird, sind aus den besetzten Gebieten immer wieder zu hören; der ukrainische Ombudsmann für Bildung spricht von „hunderten“ solcher Einflussnahmen. „Sie zwingen Lehrer, nach russischem Lehrplan zu unterrichten, sie bringen russische Lehrbücher mit, in denen steht, Ukrainer und Russen seien ein Volk, russischer Imperialismus, das volle Paket.“12 Wer sich in der Ukraine umhört, stößt aber auch auf immer mehr Erzählungen von Lehrer:innen, die nach der Rückeroberung besetzter Städte durch die ukrainische Armee als Kollaborateure verfolgt würden. Ukrainische Politiker:innen fordern harte Gefängnisstrafen für jene, die mit dem russischen Bildungssystem kooperieren oder kooperiert haben. Russische Medienberichte legen derweil nahe, dass Lehrer:innen für die besetzten Gebiete auf der von Russland 2014 annektierten Krim-Halbinsel oder in Russland selbst angeworben werden; die Rekrutierung soll allerdings eher schleppend verlaufen.13

Acht Millionen ins Ausland geflüchtete Kinder und Frauen Wie ergeht es Kindern, die zusammen mit ihren weiblichen Verwandten fliehen müssen? Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR befinden sich fast acht Millionen Ukrainer:innen im Ausland, die allermeisten davon sind Frauen und Kinder – wie viele Minderjährige es genau sind, darüber existieren allerdings kaum Zahlen. Für die rund 6,5 Millionen Binnenvertriebenen in der Ukraine hingegen schon: Ein Fünftel von ihnen soll minderjährig sein. Für beide Gruppen gilt: Die Flucht und das neue Umfeld können traumatisierend wirken, aber auch die Sorge um jene, die geblieben sind. Die fliehenden Frauen prägen derweil auch Diskurse in der Ukraine selbst – etwa jenen über Geschlechterrollen im Krieg. Zerstörte Träume, auseinandergerissene Familien, Sorge um Partner und Verwandte und Schmerz über ihren Verlust, aber auch Widerstand und Kampf: In den letzten Monaten hat sich die Rolle der ukrainischen Frauen radikal verändert. Sie müssen sich um die Familie und deren Überleben kümmern, wenn der Partner an der Front ist, sie helfen als Freiwillige in den Gemeinschaften, bei der Flucht oder der Aufnahme Geflüchteter, sie halten die Schulen und Krankenhäuser des Landes am Laufen. Rund 40 000 Frauen 12 Ebd. 13 Новая газета Европа, »Детям надо учиться. Не только же от бомб прятаться«, www.novayagazeta.eu, 26.7.2022.

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Das Elend der ukrainischen Kinder und Frauen 81 haben sich laut dem Verteidigungsministerium aber auch als Soldatinnen den ukrainischen Streitkräften angeschlossen, 5000 von ihnen sollen an der Front sein. Bereits nach der Annexion der Krim hatte sich die Zahl der Frauen in der Armee verdoppelt. Lange hatten liberale Feministinnen zuvor für mehr Sichtbarkeit in der Armee gekämpft, heute geben Soldatinnen in der Ukraine kaum noch ein überraschendes Bild ab – was die ukrainische Regierung als großen Gleichstellungserfolg feiert.

Die Verfestigung patriarchaler Strukturen Während der Krieg die Sichtbarkeit dieser Frauen wohl weiter erhöhen wird, stellt er für den ukrainischen Feminismus insgesamt eine große Herausforderung dar – weil er traditionelle Geschlechterrollen wieder festschreibt: Männer als heldenhafte Kämpfer, Frauen auf der Flucht als hilflose Opfer.14 Und weil er patriarchale Strukturen, die auch in Friedenszeiten die Gesellschaft durchdringen, verstärkt. Wie die Psychologin Vitalina Ustenko gegenüber dem linken ukrainischen Magazin „Commons“ sagt, würde der Krieg auch deshalb die traditionellen Rollen festigen, weil Frauen jetzt noch mehr Care-Arbeit leisten müssten.15 Viele Feminist:innen kritisieren auch, dass der Staat mit dem Ausreiseverbot für Männer eine patriarchale Sichtweise reproduziert habe. Sie setzen deshalb auf einen alternativen Diskurs über weibliche Subjektivität, der sich einer Viktimisierung widersetzt. Die ukrainische Genderforscherin Marta Havryshko macht gegenüber der „taz“ derweil eine weitere, „enorm gegenderte Dimension des Kriegs“ aus: die sexualisierte Gewalt, die ukrainische Frauen erfahren.16 Immer mehr Berichte deuten darauf hin, dass russische Soldaten auch in diesem Krieg Vergewaltigung als militärische Waffe einsetzen.17 Ähnlich äußerte sich Pramila Patten, die UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt gegenüber der Nachrichtenagentur AFP: „Wenn Frauen tagelang festgehalten und vergewaltigt werden, wenn man anfängt, kleine Jungen und Männer zu vergewaltigen, wenn man eine Reihe von Genitalverstümmelungen sieht, wenn man von Frauen hört, die über russische Soldaten berichten, die mit Viagra ausgerüstet sind, dann ist das eindeutig eine militärische Strategie.“18 Schon aus dem Krieg im Donbas in den letzten acht Jahren sind solche Fälle bekannt: Berüchtigt ist etwa das Lager Isoljazija, ein ehemaliges Kunstzentrum in Donezk, in dem Gefangene systematisch gequält wurden und sexualisierte Gewalt an der Tagesordnung war, wie ukrainische Organisationen doku14 Olena Strelnyk, „Männer als Beschützer, Frauen als Beschützte“ – Der Krieg als Herausforderung für den ukrainischen Feminismus, www.geschichtedergegenwart.ch, 3.7.2022; Alyona Gruzina, How Ukrainian Feminist and LGBT+ Organizations Work during the War, www.genderindetail.org.ua, 18.7.2022. 15 Марина Овчинникова, Гендерна нерівність в Україні під час війни: закриті кордони, особисті трагедії та демографічні виклики, www.commons.com.ua, 29.11.2022. 16 Patricia Hecht, „Nicht alle Männer sind Kämpfer“, www.taz.de, 13.4.2022. 17 Annelise Borges, „Russen setzen sexuelle Gewalt als Kriegsmethode ein“, sagt Staatsanwalt der Ukraine, www.de.euronews.com, 5.12.2022. 18 UNO-Beauftragte: Russische Soldaten erhalten Viagra zur „Entmenschlichung“ von Ukrainerinnen, www.blick.ch, 17.10.2022.

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82 Anna Jikhareva mentiert haben. Seit der Invasion im Februar vergangenen Jahres sind laut der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft über hundert Fälle bekanntgeworden – wobei die Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte, weil Vergewaltigungen nach wie vor mit einem Stigma behaftet sind und viele Frauen deshalb aus Angst oder Scham über das Erlebte schweigen.

Istanbul-Konvention: Eine neue Waffe im Kampf gegen Kriegsgewalt? Trotz des Elends, das der russische Angriffskrieg über die Frauen in der Ukraine brachte, hielt das vergangene Jahr allerdings auch eine positive Überraschung bereit. Mehr als ein Jahrzehnt hatten ukrainische Feminist:innen für die Ratifizierung der „Istanbul-Konvention“ zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen gestritten. Ende Juni 2022 dann stimmte die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, dafür. Expert:innen gehen davon aus, dass dies auch deshalb geschah, um der Ukraine den Weg in die EU zu ebnen. „Angesichts der besorgniserregenden Meldungen und Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen ukrainische Frauen in den von Russland besetzten Gebiete könnte diese Entscheidung nicht passender kommen. Durch die schnelle Umsetzung sollten die ukrainischen Behörden mit diesen Gräueltaten umgehen können, und die Überlebenden sollten bestärkt und darin ermutigt werden, Gerechtigkeit zu fordern“, sagt Agnès Callamard von Amnesty International.19 Dies aber dürfte sich auch in Zukunft als schwierig gestalten. Zwar sammeln NGOs und Frauenrechtsorganisationen Zeugnisse über sexualisierte Gewalt. Doch weil viele Opfer sich nicht trauen zu reden, ist auch die öffentliche Debatte selten von ihrer Sicht geprägt. Hinzu kommt, dass eine Unterstützung für von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen in der Ukraine bisher nicht besonders gut etabliert sei, wie Genderforscherin Marta Havryshko schreibt.20 Es fehle an Fachleuten, die psychologische Hilfe leisten oder Beweise sammeln könnten, ohne die Opfer zu retraumatisieren, aber auch an staatlichen Unterkünften für Überlebende und deren Familien. Zu den Betroffenen gehörten auch Kinder, die oftmals sekundäre Opfer sexueller Gewalt seien. Wenn die Kampfhandlungen eines Tages beendet sein werden, könnte indes noch ein weiteres Thema hinzukommen: Dann dürfte es Versuche geben, den weiblichen Körper im Diskurs über die Verantwortung der Frauen für den Wiederaufbau des Landes zu instrumentalisieren und ihre Reproduktionsfreiheit einzuschränken, befürchtet die Soziologin Oksana Dutchak im Magazin „Commons“: Schon jetzt würden mehrere Petitionen ein Abtreibungsverbot fordern und dies mit der drohenden Demografiekrise nach dem Krieg begründen.21 Glücklicherweise hatten diese Initiativen – bisher – noch keinen Erfolg. 19 Ukraine ratifiziert Istanbul-Konvention: „Ein historischer Sieg für die Frauenrechte“, www. amnesty.ch, 20. 6.2022. 20 Marta Havryshko, Vergewaltigung als Kriegswaffe? Einige Überlegungen zu sexueller Gewalt im Krieg gegen die Ukraine, 18.5.2022. 21 Марина Овчинникова, Гендерна нерівність в Україні під час війни: закриті кордони, особисті трагедії та демографічні виклики, www.commons.com.ua, 29.11.2022.

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Sieg der Apathie Die russische Gesellschaft nach einem Jahr Krieg Von Jens Siegert

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uch ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine verblüfft noch immer der enorme Kontrast zwischen dem Schock, den Russland damit international ausgelöst hat, und dem trägen Weiter-so im Land. Trotz des Krieges, trotz der schrecklichen Zerstörungen in der Ukraine, trotz der riesigen Zahl ermordeter ukrainischer Zivilisten und Soldaten, trotz der, nach ukrainischen Angaben, vielleicht mehr als 100 000 getöteten russischen Soldaten geht das Leben der meisten Menschen in Russland bisher weiter, als gebe es den Krieg nicht. Die politischen Eliten wiederum tun so, als laufe alles, wie Präsident Wladimir Putin gerne sagt, „nach Plan“. Seine Orientierung auf einen Sieg scheint für Volk und Macht weiter die einzige vorstellbare politische Option zu sein. Die militärischen Erfolge der Ukraine seit dem Sommer – nicht zuletzt dank westlicher Waffenlieferungen – haben die allgemeine Stimmung zwar verdüstert, aber, soweit zu sehen, bei kaum jemandem zu einem Umdenken geführt. Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums zeigen eine erstaunliche Kontinuität: Die Zustimmung der Bevölkerung zum Angriff auf die Ukraine ist unverändert hoch. Mehr als die Hälfte der Befragten, so Lewadas Grandseigneur Lew Gudkow in einem Interview zu Jahresbeginn, ist nach wie vor der Meinung, dass die sogenannte „spezielle Militäroperation“ im Großen und Ganzen ein Erfolg sei und Russland letztendlich siegen werde.1 Nur einmal, nach der vom Kreml veranlassten Mobilisierung von offiziell 300 000 weiteren Soldaten im vergangenen Herbst, sah es kurzfristig so aus, als ob sich an der weitgehend kritiklosen Zustimmung etwas ändern würde. Kurz zuvor hatten die ukrainischen Truppen die Stadt Cherson zurückerobert. In Russland begann sich daraufhin sowohl bei Unterstützern Putins als auch bei seinen Gegnern das Gefühl auszubreiten, dieser Krieg könne doch verloren gehen. Weiterhin zieht aber kaum jemand die Rechtfertigung des Kremls für diesen Krieg in Zweifel. Vielmehr sind nach wie vor die meisten Menschen in Russland davon überzeugt, dass sich ihr Land lediglich gegen einen seit langem „aggressiven Westen“ verteidige: Diesem gehe es darum, „Russland kleinzuhalten“ oder gar „zu vernichten“. Der fortdauernde Angriff

1 Vgl. hier und im Folgenden: „Russians Have Little Compassion for the Ukrainians“. Interview with Lev Gudkov, www.spiegel.de, 5.1.2023.

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84 Jens Siegert auf das Nachbarland wird so zu einer existenziellen Notwendigkeit überhöht. Zugleich wird der Ukraine nicht zugestanden, selbstständig handeln und entscheiden zu können. Sie wird auf ein Objekt reduziert, das sich Russland unterzuordnen habe, und zwar als „natürliche“ Folge einer „gemeinsamen Geschichte“. Allerdings werden auch die Zweifel immer stärker, dass es Russland in seinem gegenwärtigen Zustand mit dem „kollektiven Westen“ aufnehmen könne. Dies beinhaltet auch ein apokalyptisches Element, das durch das staatliche Narrativ verstärkt wird: Indem der Krieg fortwährend, nicht zuletzt im Fernsehen, zur Überlebensfrage erklärt wird, erscheint eine eventuelle Niederlage nicht nur als eine Niederlage, sondern beschwört den Untergang des gesamten Landes herauf. Dabei bedient sich die Propaganda, durchaus erfolgreich, eines Tricks: In einem kühnen Umkehrschluss dient der als möglich beschriebene Untergang als Beweis, dass der Krieg Teil eines seit langem verfolgten westlichen Plans sei.

Kein Blick auf Opfer und Zerstörungen Angesichts all dessen ist es kaum verwunderlich, dass in den russischen Medien der Krieg gegen die Ukraine und die fatalen Folgen für die dort lebenden Menschen kaum vorkommen. Fast immer geht es nur um Russland (und den Westen): um eine mögliche militärische Niederlage, um das Chaos in der Armee, um die Inkompetenz der politischen und militärischen Führung (mit der Ausnahme von Putin selbstverständlich), um Warnungen an den und Rachegelüste gegenüber dem Westen. Wenn überhaupt von Opfern die Rede ist, dann von den getöteten russischen Soldaten, eher selten von ukrainischen Soldaten oder Zivilisten. Und wenn doch, dann werden sie als Opfer des Westens dargestellt. Die verheerende Not in der Ukraine, die vielen Flüchtlinge, die Stromabschaltungen wegen der russischen Raketen- und Drohnenangriffe auf Infrastruktur und Städte, die Kälte wegen zerstörter Heizsysteme oder die ständigen Luftalarme finden in der medialen russischen Öffentlichkeit nur als Folge einer westlichen Verführung und Verblendung der ukrainischen Eliten statt. In den allermeisten privaten Gesprächen fehlen sie ganz. Auch den Soziologen Gudkow befremdet diese fehlende Empathie dem angeblichen „Brudervolk“ gegenüber. Zwar wollten die Menschen in Russland keinen Krieg, so Gudkow im „Spiegel“-Gespräch, aber noch weniger wagten sie einen Konflikt mit dem Staat. Ein solcher, so ihre noch tief in der Sowjetzeit verwurzelte Erfahrung, bringe nichts ein und sei nicht zu gewinnen. Daher gehe es fast immer nur um individuelle (Über-)Lebensstrategien. Gudkow nennt diese Passivität resigniert „Unterwürfigkeit“ und „enttäuschend“. Auch er, der schon seit vielen Jahren den fehlenden Widerstand gegen die zunehmende Verrohung des russischen Staates und des öffentlichen Lebens mit Hinweis auf die eingelernten Lebenspraktiken eines „Homo Sovieticus“ erklärt, hatte sich zu Kriegsbeginn Illusionen über die gesellschaftliche Ablehnung eines Krieges gemacht.

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Russland: Sieg der Apathie 85 Im Frühjahr 2022 konnte man auch im Westen immer wieder die Hoffnung vernehmen, zumindest die „Soldatenmütter“ könnten, je mehr russische Männer im Krieg sterben würden, wie im ersten Tschetschenienkrieg zu einem Problem für den Kreml werden. Doch auch hier wirkt der oben beschriebene Mechanismus: Zwar dürften viele der Mütter, Ehefrauen und Töchter dagegen sein, dass ihre Söhne, Männer oder Väter in den Krieg ziehen müssen, aber sie wagen es nicht, sich gegen den Staat und den allgemeinen Konformitätsdruck zu stellen. Im Ergebnis versuchen viele von ihnen die Einberufung zu verhindern und kritisieren die schlechte Ausrüstung der mobilisierten Soldaten oder die fehlende und zu kurze Ausbildung, aber eben nicht den Krieg an sich. Zur mangelnden Empathie trägt auch eine tief in der russischen Gesellschaft sitzende, oft wenig bewusste imperiale Arroganz all denjenigen gegenüber bei, die irgendwann einmal unter russischer Herrschaft leben mussten. Zusammen mit einem Weltbild, das nur große Staaten als ausreichend unabhängige Akteure anerkennt, führt das dazu, dass viele Menschen in Russland nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, warum Kiew gegenwärtig Verhandlungen ablehnt: Da die Ukraine sich diesen Vorstellungen zufolge als kleineres Land den (größeren) Mächten um sie herum anzupassen und unterzuordnen hat, kann die Weigerung zu Verhandlungen laut der in Russland vorherrschenden Meinung nicht aus einem genuinen und legitimen Selbstinteresse des Nachbarlandes resultieren, sondern nur das Ergebnis der Interessen anderer, Russland feindlich gesinnter Mächte sein – also ein Diktat der USA oder des Westens insgesamt.

Etwas Widerspruch bei den Jüngeren Nur bei den unter 30jährigen ist die Situation ein wenig anders. Sie unterstützen den Krieg in geringerem Maße als Ältere. Vor allem aber treten sie sehr viel stärker für möglichst schnelle Verhandlungen ein. Das dürfte auch an persönlichen Motiven liegen, denn es sind vor allem jüngere Männer, die in den Krieg ziehen müssen und von denen viele sterben werden. Hinzu kommt aber auch die unterschiedliche Mediennutzung. Je jünger die Menschen sind, umso eher beziehen sie ihre Informationen nicht aus dem vollständig staatlich kontrollierten Fernsehen, sondern aus dem Internet. Zwar sind auch hier die meisten oppositionellen russischsprachigen Medien gesperrt, aber diese Sperrung ist über VPN-Kanäle recht leicht zu überwinden. Die Nutzung dieser Kanäle hat nach Lewada-Angaben seit Anfang 2022 auch tatsächlich zugenommen: von unter zehn auf gut zwanzig Prozent der Bevölkerung. Das ist ein Fortschritt, reicht aber nicht aus, um das Wissen darüber, was in der Ukraine wirklich passiert – und damit die politischen Verhältnisse in Russland – merklich zu beeinflussen. Auch die Sanktionen wirken sich bislang nicht auf die Meinungen vieler Menschen zum Krieg aus. So spielt es kaum eine Rolle, dass nun weniger westliche Konsumgüter auf dem russischen Markt zu haben sind. Die Aus-

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86 Jens Siegert wahl in den Geschäften ist etwas geringer geworden, aber es gibt bislang keine Defizite an Waren des täglichen Bedarfs. Zwar brach der Verkauf von langlebigen Konsumgütern und vor allem Autos im vergangenen Jahr ein, das dürfte aber stärker den unsicheren Zukunftsaussichten als fehlenden Finanzen geschuldet sein, denn die wirtschaftlichen Folgen der Sanktionen werden bisher weitgehend vom Staat kompensiert. Entlassungen gab es vor allem bei Angestellten westlicher Firmen, die sich aus Russland zurückgezogen haben, aber das sind im Landesmaßstab nur recht wenige. Umfragen zufolge treffen die Sanktionen vor allem diejenigen, die ohnehin eher geneigt sind, den Krieg abzulehnen, also die immer noch im Entstehen begriffene städtische Mittelschicht. Die große Masse der Menschen stellt sich zwar auf Einschränkungen und schlechtere Zeiten wegen der Sanktionen ein, macht dafür aber nicht den russischen Staat, sondern allein den Westen verantwortlich und hat längst damit begonnen, sich wirtschaftlich anzupassen. So sind bereits im vergangenen Jahr auch im Moskauer Umland viele Blumenrabatten wieder Gemüsebeeten gewichen. Die Menschen preisen die Folgen der Sanktionen bereits ein, bevor sie im realen Leben auf sie treffen, und fügen sich wieder einmal ihrem Schicksal, ohne aufzubegehren. Hoffnung auf eine bessere Zukunft hegen sie schon länger nicht: Statt positive Zukunftsaussichten zu bieten, präsentiert Putin Russland der eigenen Bevölkerung schon seit Jahren vor allem als Land mit einer großartigen Vergangenheit.

Verdrängung statt Widerstand Die Zahl derjenigen, die sich gegen die Invasion engagieren, bleibt aber auch aufgrund der staatlichen Repression gering. Seit dem 24. Februar 2022 sind mehr als 19 000 Menschen wegen öffentlicher Proteste gegen den Krieg festgenommen worden, darunter etwa 12 500 in den ersten beiden Wochen nach Beginn des russischen Angriffs. Die Website OVD-Info zählte bis Anfang Dezember 2022 in 232 Fällen eine anschließende strafrechtliche Verfolgung. Wer sich gegen den Krieg ausspricht oder gar öffentlich protestiert, riskiert hohe Geldbußen oder gar lange Haftstrafen.2 So gibt es öffentliche Proteste allenfalls noch vereinzelt in Form von Mahnwachen oder anonymen Flugblättern. Immer wieder sieht man Graffitis an sichtbaren Stellen wie Brücken und Hauswänden oder in den Schnee geschriebene Slogans. Das ist allerdings kaum mehr als eine Selbstversicherung, nicht ganz allein zu sein, und für viele Protestierende wohl auch eine Form der tätigen Reue. Politische Bedeutung haben diese Aktionen kaum. Hinzu kommt, dass viele Gegneres Krieges das Land längst verlassen haben. Dieser Exodus geschah bisher in zwei Wellen: direkt nach Beginn der Invasion am 24. Februar und dann erneut nach Bekanntwerden der Mobilisierung im September vorigen Jahres. Neben diesen spontanen Ausreisewel2 Hier und im Folgenden vergleiche www.ovdinfo.org.

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Russland: Sieg der Apathie 87 len entschieden sich viele Menschen erst nach längerer Überlegung und besser vorbereitet, das Land zu verlassen. Genaue Zahlen dazu gibt es allerdings kaum. Denn es werden zwar Grenzübertritte registriert, aber nicht deren Gründe und auch nicht, wer nach welcher Zeit zurückkehrt. Fast niemand der Ausgereisten meldet sich in Russland ab. Auch die verfügbaren Zahlen aus den Aufnahmeländern geben nur ein ungefähres Bild ab. Wahrscheinlich erscheint demnach eine Zahl zwischen einer halben und einer Million ausgewanderter Menschen, eher mit der Tendenz zur unteren Grenze.3 Im Land selbst überwiegt eine Stimmung der Unsicherheit. Trotz aller gegenteiligen Versicherungen aus dem Kreml stellen sich die meisten Menschen nicht die Frage, ob es eine weitere, umfassendere Mobilisierung geben werde, sondern nur, wann sie kommen wird. Das russische Mantra nach dem Zweiten Weltkrieg, „alles, nur kein Krieg“, das auch der erwähnten Enttäuschung Lew Gudkows zugrunde liegt, wirkt nicht mehr. Denn den Krieg hatten viele schon vor der Invasion eingepreist – und nun wird er mit Verdrängungs- und individuellen Überlebensstrategien hingenommen, anstatt ihm öffentlichen Widerstand entgegenzusetzen. Immerhin gibt es weiter eine aktive Zivilgesellschaft, die sich in Initiativen und NGOs für Menschenrechte, Bildung, soziale Hilfe, Gendergerechtigkeit, Ökologie und viele andere Themen einsetzt. Laut einer informellen Umfrage unter mehr als 150 NGO-Aktivisten im September und Oktober 2022,also nach der neuen Mobilisierung, blieben bei etwa 60 Prozent der befragten NGOs fast alle Mitarbeiter in Russland, sie hätten auch nicht vor, das Land zu verlassen. Nur drei Prozent der Organisationen verlegten ihre Arbeit vollständig ins Ausland. Zahlreiche der befragten NGOs berichteten zudem über viele neue Freiwillige.4 Allerdings müssen diese Initiativen sehr viel ihrer Zeit und Ressourcen für den Selbstschutz aufwenden. Viele haben noch keine neue Balance zwischen Sicherheit und Produktivität gefunden. Dazu trägt auch bei, dass neue repressive und diskriminierende Gesetze praktisch wöchentlich beschlossen werden und in Kraft treten. Deshalb haben viele NGOs ihre ursprüngliche Arbeit ein- oder umgestellt. Das liegt teilweise daran, dass es zu gefährlich oder gar unmöglich geworden ist, im ursprünglichen Themenbereich zu arbeiten – aber auch daran, dass es unter ihnen das große Bedürfnis gibt, etwas für die Ukraine und deren Bevölkerung zu tun. So gibt es eine große Anzahl von Initiativen, die ukrainische Flüchtlinge oder Ukrainer unterstützen, die zwangsweise nach Russland gebracht wurden. Einige Organisationen helfen Männern, die nicht am Krieg teilnehmen wollen, darunter Deserteuren und Soldaten an der Front. Aktuell besteht das größte Problem vieler, vor allem kleinerer NGOs in schwindenden und endenden Ressourcen. Das betrifft auslaufende finanzielle Zuwendungen aus dem Ausland wie aus dem Inland und damit auch 3 Die Angaben schwanken zwischen 500 000 und rund 900 000 Ausgereisten: Vgl. „Für Russland geht es in Richtung Sowjetunion“, www.n-tv.de, 12.1.2023; Russian emigration following the 2022 invasion of Ukraine, https.//en.wikipedia.org; @popdemography, www.twitter.com. 4 Die unveröffentlichte Umfrage wurde von einem Team unter der Leitung der Soziologin Irina Kosterina durchgeführt, die die Ergebnisse freundlicherweise dem Autor zur Verfügung gestellt hat.

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88 Jens Siegert fehlende Mittel für die Infrastruktur wie Räume und Computertechnik. Das zuvor halbwegs gut funktionierende Crowdfunding ist praktisch zum Erliegen gekommen. Daher besteht die Gefahr, dass viele NGOs vor allem aus den Bereichen Bildung und Soziales ihre Arbeit bald einstellen müssen. Menschenrechtlich orientierte große NGOs berichten im Gegenzug allerdings von steigender Unterstützung. Zugleich entstehen auch neue Initiativen, oft ohne formale Strukturen, die sehr flexibel auf die neue Situation reagieren. Ob sie sich etablieren können, muss sich aber erst noch herausstellen. Für viele Organisationen scheint sich bislang so viel nicht geändert zu haben. Sie lebten vor dem 24. Februar ohne große Ressourcen und unter staatlichem Druck und setzen ihre Arbeit nun unter aus ihrer Sicht weitgehend gleich schlechten Bedingungen fort.

Es gibt kein öffentliches Reden mehr Fast völlig verschwunden aber sind das kritische öffentliche Reden über den Krieg sowie jede Form von öffentlicher politischer Äußerung außerhalb der staatlichen Propagandablase und zahlreichen Kanälen im sozialen Netzwerk Telegram. Alles in allem dürfte es daher vergeblich sein, irgendeinen maßgeblichen Beitrag zur Wende dieses Krieges aus der russischen Gesellschaft zu erwarten. Eine Änderung kann nur aus dem Inneren des Regimes selbst kommen. Anzeichen dafür gibt es allerdings keine. Irgendwann in diesem Jahr wird Putin beschließen und verkünden, ob er 2024 erneut als Präsident „kandidiert“. Nichts deutet gegenwärtig darauf hin, dass er davon abrücken wird. In der politischen Machtelite gibt es aktuell keine ausgesprochenen Gegner des Krieges (mehr). Aber der Preis für die Weiterführung eines bei anhaltender und ausreichender westlicher Unterstützung der Ukraine nicht zu gewinnenden Kriegs dürfte unterschiedlich bewertet werden. Die Frage wird sein, ob der Spalt zwischen denen wachsen wird, die auf Rückschläge im Krieg mit weiterer Eskalation reagieren wollen, und denen, die eine weitere Eskalation für gefährlich halten. Es erscheint derzeit unwahrscheinlich, dass sich aus der Nomenklatura selbst Widerstand entwickeln wird – daher wird es am Ende Putin sein, der allein darüber entscheidet, diesen Angriffskrieg fortzusetzen oder doch einen Weg zur Deeskalation zu suchen.5 Russlands politisches und öffentliches Leben selbst wird weiter von Krieg und Eskalationsrhetorik bestimmt bleiben, bei ihrer gleichzeitigen Verdrängung durch große Teile der Bevölkerung. Dass angesichts der verheerenden Zerstörungen sowie der zahllosen verletzten, vertriebenen und verschleppten ukrainischen Kinder, Frauen und Männer die durch Russland hervorgerufene Verfeindung mit dem vermeintlichen „Brudervolk“ nach einem Ende des Kriegs wieder aufgelöst werden kann, ist nur schwer vorstellbar. 5 Vergleiche dazu: Tatiana Stanovaya, Russia Faces Three Pivotal Moments in 2023, www.carnegieendowment.org.

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Lützerath als Fanal Warum wir transformative Strategien im Kampf gegen die Klimakrise brauchen Von Ulrich Brand und Markus Wissen

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ützerath bleibt. Selbst wenn die Kohle unter dem Ort im Rheinischen Braunkohlerevier irgendwann abgebaggert sein sollte, wird dessen Name fortwirken: als Symbol für den Mut und den Einfallsreichtum von Menschen, die sich einem mächtigen Konzern ebenso wie der Staatsmacht widersetzen. Lützerath steht auch als Symbol für eine Politik, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt. Die Zeichen der Zeit, das sind der Kohleausstieg und der Übergang in eine Produktionsweise, in der das gute Leben aller und nicht die Verteidigung mächtiger Partikularinteressen den zentralen Bezugspunkt bildet. Dass dies nicht im Sinne von konservativen und liberalen Parteien ist, kann kaum überraschen. Deren historische Funktion besteht darin, gesellschaftliche Veränderungen so lange im Sinne der herrschenden Interessen hinauszuzögern, bis ihre Notwendigkeit unabweisbar geworden ist. Die Empörung über die politischen Versäumnisse richtet sich deswegen in erster Linie gegen die Grünen. Und dies zu Recht: Kaum sind sie zum zweiten Mal nach 1998 Regierungspartei auf Bundesebene geworden, machen sie erneut Politik gegen jene Bewegungen, aus denen sie selbst einst hervorgegangen sind. Beim ersten Mal war es vor allem die Friedensbewegung, die die Grünen unter ihrer damaligen Leitfigur Joschka Fischer brüskierten. Heute enttäuschen sie die Anliegen der Klimagerechtigkeitsbewegung, deren Stärke sie ihre jüngsten Wahlerfolge mitzuverdanken haben. Sicherlich hat niemand von der grünen Regierungsbeteiligung eine sozialökologische Revolution erwartet. Denn zum einen sind die Grünen nur Teil einer Koalition, in der mit der FDP eine antiökologische Kraft über ein erhebliches Druckpotenzial verfügt. Zum anderen steht außer Frage, dass staatliche Politik anderen Logiken folgt als das Handeln sozialer Bewegungen. Die Möglichkeiten staatlicher Politik werden systematisch durch die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse beschränkt. Diese schreiben sich in die staatlichen Apparate ein, sie prägen die Denkweisen ihres Personals und bestimmen, welche Probleme in welcher Form überhaupt debattiert werden können. Der von den 1968ern angestrebte „Marsch durch die Institutionen“ resultierte im Marsch der Institutionen durch die Protagonist:innen der Bewegung. Das war die Erfahrung der ersten grünen Regierungsbeteiligung: Schneller als ihm lieb war und meist ohne es zu bemerken, verinner-

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90 Ulrich Brand und Markus Wissen lichte das grüne Spitzenpersonal die institutionellen Restriktionen und missverstand dies als Ankunft auf dem harten Boden der Realität. Gemeint war die Realität der Herrschenden, die sie bis dahin kritisiert hatten und die sie nun mitgestalten wollten. Das Versäumnis der heute tonangebenden Grünen liegt darin, diese Erfahrung nicht reflektiert zu haben. Stattdessen liefen sie blindlings und unvorbereitet in eine Situation, in der sie schließlich den Quasi-Freibrief für einen der weltweit größten Umweltsünder als klimapolitischen Kompromiss verkaufen sollten. Über so viel grünen Realitätssinn wird sich RWE vermutlich noch länger die Hände reiben. Denn in Zeiten einer eskalierenden Klimakrise darf der Konzern weitere 280 Mio. Tonnen Braunkohle abbaggern und verbrennen. Im Jahr 2030, acht Jahre früher als im Kohleausstiegsgesetz vorgesehen, lässt er es dann gut sein mit der heißen Luft und der verbrannten Erde – und kann sich auf der Gewissheit ausruhen, dass dann die gestiegenen Preise für Zertifikate aus dem europäischen Emissionshandel die Kohleverstromung ohnehin unrentabel gemacht haben werden. Als Zugabe obendrauf bekommt der Konzern die Zerstörung einer wichtigen Infrastruktur der Klimagerechtigkeitsbewegung, die ihm in den kommenden Jahren noch einiges an Ärger beschert hätte: Das besetzte Lützerath war ein Ort, an dem Menschen zu Aktionstrainings, Workshops und Festivals zusammenkamen. Nun ließe sich einwenden, dass die Vorgängerregierung der Ampel die Energiewende systematisch ausgebremst und damit die Sachzwänge, mit denen Grüne und SPD als Regierungsparteien heute konfrontiert sind, erst geschaffen habe. Ohne die Grünen in der Regierung würde zudem alles noch schlimmer kommen. Und schließlich trage die derzeitige Regierung keine Schuld an den Gaspreissteigerungen infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. All das ist richtig, trifft aber nicht den entscheidenden Punkt: Dieser besteht zunächst einmal in der simplen Tatsache, dass der Abbau der Kohle unter Lützerath aus Gründen der Versorgungssicherheit und Netzstabilität nicht nötig ist. Zu diesem Schluss kommen gleich mehrere Gutachten.1 Sodann, und in der aktuellen politischen Diskussion weitgehend vernachlässigt, stellt sich die Frage: Für wen und wofür wird der Strom eigentlich erzeugt? Und um wessen Versorgungssicherheit geht es hier eigentlich? Denn selbst wenn die Kohle benötigt würde, um den bestehenden Strombedarf zu decken, wäre es ökologisch naheliegend, erst einmal diesen Bedarf zu problematisieren, bevor zu seiner Deckung noch mehr CO2 emittiert wird: Müssen wir wirklich Strom für Autofabriken erzeugen, damit darin riesige Mengen an immer größeren Fahrzeugen hergestellt werden, die, einmal freigelassen, selbst Unmengen an Strom verbrauchen oder die fossilen Treibstoffe gleich selbst in Kohlendioxid verwandeln? Brauchen wir Energie für eine chemische Industrie, um diese in die Lage zu versetzen, Berge an Verpackungen aus Kunststoff zu produzieren, die nach einmaligem Gebrauch 1 Siehe etwa das Gutachten der FossilExit-Forschungsgruppe an der Universität Flensburg, Das Rheinische Braunkohlerevier. Aktuelle Zahlen, Daten und Fakten zur Energiewende, www.coaltransitions.org, 2022 sowie: Aurora Energy Research, Auswirkungen eines adjustierten Kohleausstiegs auf die Emissionen im deutschen Stromsektor, www.kohlecountdown.de, 22.11.2022.

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Lützerath als Fanal 91 verbrannt oder ins Ausland exportiert werden? – Das ist die Versorgungssicherheit einer Produktions- und Lebensweise, die bereits heute unzählige Menschen in existenzielle Unsicherheit stürzt.

Warum soziale Bewegungen unerlässlich sind Viel sinnvoller – und angesichts sich zuspitzender Krisen immer dringlicher – wäre es dagegen, innezuhalten und zu fragen, welche Dinge tatsächlich gesellschaftlich notwendig sind und sich zudem auf eine Weise herstellen ließen, die nicht die Erde weiter aufheizt und die Lebensgrundlagen von Menschen hierzulande, andernorts und in der Zukunft zerstört: ein nachhaltiges Mobilitätssystem, ein gut ausgebautes und für alle zugängliches Gesundheitswesen oder energetisch sanierte und preiswerte Wohnungen. Natürlich ist dafür genug Geld da. Die Gesellschaft ist so reich wie nie zuvor. Wer sich hunderte Milliarden Euro für die Bundeswehr oder die Bankenrettung leisten kann, der hat auch ausreichend Ressourcen dafür, die Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. Warum sollten wir weiterhin Ressourcen und menschliche Kreativität dafür verschwenden, neue Finanzinstrumente zu entwickeln, SUVs zu designen oder Waffensysteme zu optimieren? Warum nicht stattdessen die gesellschaftlichen Anstrengungen, die praktische und kollektive Intelligenz von Beschäftigten in der Produktion, im Pflegebereich oder im Gesundheitswesen, die Kreativität von Ingenieur:innen in den Dienst des guten Lebens für alle stellen? Solche Fragen lassen sich in den Parlamenten und Ministerien kaum diskutieren. Das ist kein Wunder, denn sie gehen ans Eingemachte der kapitalistischen Produktionsweise: an die Möglichkeit, das Privateigentum an Produktionsmitteln letztlich auch zum Schaden der Allgemeinheit nutzen zu dürfen, solange dabei Profite, Wachstum und Steuereinnahmen herauskommen. Übertüncht wird dies mit Begriffen wie „Wettbewerbsfähigkeit“, dem Verweis auf Arbeitsplätze oder dem Argument, dass „die Chinesen“ das Problem beim Klimawandel seien. Europa mache ja schon seine Hausaufgaben. Doch all diese Behauptungen sind Nebelkerzen. Eben deshalb braucht es radikale soziale Bewegungen wie die in Lützerath und andernorts kämpfende Bewegung für Klimagerechtigkeit. Sie erschüttern scheinbare Gewissheiten, sie artikulieren Anliegen, die in den staatlichen Apparaten nicht oder nicht ausreichend vertreten sind, und sie machen scheinbar naturwüchsig gegebene harte Realitäten als das sichtbar, was sie sind: geronnene Resultate früherer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, oft in Form der Verallgemeinerung mächtiger Partikularinteressen. Die harten Realitäten als geschichtlich gewordene zu begreifen und sich einer Sachzwanglogik zu verweigern, heißt, die oft verschüttete Möglichkeit von Veränderung freizulegen und deutlich zu machen, dass alles auch ganz anders sein könnte. Um Erkämpftes zu sichern und Erfolge wirkmächtig werden zu lassen, müssen gleichwohl irgendwo Pflöcke eingeschlagen werden. Verände-

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92 Ulrich Brand und Markus Wissen rungen müssen rechtlich verankert, gegen Rückschritte abgesichert und so gestaltet werden, dass sie Angriffen standhalten. Darin liegt eine Schwierigkeit, an der schon viele progressive Bewegungen gescheitert sind. Sie erzeugen Aufbruchstimmung, zeigen mögliche Alternativen auf und wirken politisierend auf jüngere Generationen. Doch ohne spürbare gesellschaftliche Veränderungen, wie etwa durch das Ende der Verbrennung fossiler Energieträger, das Verbot von Fleischfabriken oder einen ambitionierten Rückbau des Automobilitätssystems, droht Frustration. Eine weitere Gefahr liegt darin, dass Bewegungen zu Beginn zwar vor allem gegen Repression und die herrschende Meinung kämpfen, dass ihnen auf lange Sicht aber die Vereinnahmung droht. Repression kann Bewegungen sogar noch stärken, erhöht sie doch bei aller Gefahr für Leib und Leben auch die Aufmerksamkeit für ihre Anliegen. Vereinnahmung bedeutet dagegen oft deren schleichendes Ende.

Die Herausforderung, transformative Strategien zu entwickeln Ebenso wie ihre ökonomische Geschäftsgrundlage, der Kapitalismus, leben liberale Demokratien von Veränderung. Sie reproduzieren sich, indem sie sich beständig neu erfinden. Soziale Bewegungen sind Seismographen eines Handlungsbedarfs, der sich aber politisch einfangen und nicht selten auch in neue Geschäftsmöglichkeiten übersetzen lässt. Das Resultat ist das, was Antonio Gramsci als „passive Revolution“ bezeichnet hat: die Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse auf dem Weg ihrer Veränderung, gesteuert von den herrschenden Interessengruppen. Entscheidend ist, sich dessen bewusst zu werden und einen kritisch-reflektierten Umgang damit zu finden. Das gilt sowohl für radikale Bewegungen als auch für progressive Akteure in den staatlichen Apparaten. Beiden stellt sich die Herausforderung, transformative Strategien zu entwickeln und sich dabei wechselseitig zu unterstützen. Im Unterschied zu modernisierend-affirmativen Strategien konzipieren transformative Strategien Reformen so, dass sie idealerweise Dynamiken in Gang setzen, die sich der Kontrolle der Herrschenden entziehen und sie letztlich vor Vereinnahmung schützen. Emanzipatorische staatliche und parteipolitische Akteure, denen es wirklich um weitreichende Transformationen geht, sollten sich des Spannungsverhältnisses bewusst werden, das darin liegt, Politik gleichzeitig in den und gegen die Institutionen des kapitalistischen Staates machen zu müssen. In diesem Widerspruch kann sich emanzipatorische Politik erfolgreich bewegen, wenn sie sich auch als institutioneller Resonanzboden sozialer Bewegungen begreift. Statt Bewegungen nur repräsentieren zu wollen, müssen Regierungen und Parteien, denen es um grundlegende Veränderungen geht, zur Ermächtigung von Bewegungen beitragen, aus denen sie umgekehrt ihrerseits Kraft ziehen. Nur so lassen sich Dynamiken in Gang setzen, die schließlich in der Absicherung von Errungenschaften münden, die von den Bewegungen erkämpft wurden. Die Grünen haben dies versäumt. Sie agieren gleichsam auf einem halbierten Resonanzboden: Aus der Selbstermächtigung der Klimagerechtig-

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Lützerath als Fanal 93 keitsbewegung ziehen sie Kraft in Form von Wähler:innenstimmen. Aber sie geben der Bewegung nichts zurück, sondern überlassen sie im Matsch von Lützerath der staatlichen Repression, die ausgerechnet von einem grünen Polizeipräsidenten orchestriert wird. Während die Bewegung aus den bisherigen Geschehnissen zumindest symbolisch als Siegerin hervorgeht, könnten die Grünen, wie Mona Jaeger in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mutmaßt,2 mit der Räumung von Lützerath ihren Hartz-IV-Moment erleben: Ebenso wie die SPD 2005 mit der Verabschiedung des Sozialgesetzbuches II über Jahre hinweg ihre sozial- und arbeitsmarktpolitische Glaubwürdigkeit verspielte, sind die Grünen drauf und dran, den letzten Rest an Kredit zu verspielen, den die Klimagerechtigkeitsbewegung ihnen vielleicht noch gewährt haben mag. Im festen Glauben, staatstragend auf dem harten Boden der Realität zu stehen, legen sie auf einem durchweichten Acker im Rheinland eine veritable Bauchlandung hin.

Wie weiter nach Lützerath? Beispiele, die zeigen, dass und wie transformative Politik machbar ist, gibt es zu Genüge. Eines aus der jüngeren Zeit ist die Initiative „Deutsche Wohnen enteignen“ in Berlin. Die Umsetzung des Volksentscheides würde die Lebenssituation vieler Menschen verbessern und gleichzeitig ein kapitalistisches Strukturprinzip infrage stellen, nämlich die private Verfügung über eine basale Infrastruktur. Ähnlich ließe sich mit anderen Infrastrukturen verfahren. Auch im Energiebereich wird über Vergesellschaftung diskutiert und in der Wasserversorgung wurden vielerorts privatisierte Unternehmen rekommunalisiert. Die Initiative ging in allen genannten Fällen von außerparlamentarischen Initiativen aus, die ihrerseits von einer – nie konfliktfreien – Interaktion mit linken Akteuren in den Staatsapparaten profitierten. Was ließe sich nach Lützerath daraus lernen, und wie könnten doch noch spürbare klimapolitische Veränderungen erstritten werden? Ein wichtiger erster Schritt wäre ein Moratorium für die Förderung der Kohle, ähnlich dem, das über 700 Wissenschaftler:innen für die Räumung der Siedlung gefordert hatten.3 Ein Moratorium wäre zwar nicht per se transformativ, ließe sich aber in einem transformativen Sinn füllen, wenn über das „Wie viel“ und „Wofür“ gesellschaftlicher (Energie-)Produktion diskutiert würde. Denn genau darum geht es: Wir müssen gerade im Energiebereich unsere zutiefst zerstörerische Produktions- und Lebensweise grundlegend verändern. Das impliziert einen Rückbau des motorisierten Individualverkehrs sowie eine Abkehr von der industriellen Landwirtschaft, aber auch ein Überdenken der Digitalisierung, die immer stromintensiver wird. Diese Fragen wurden in Lützerath direkt oder indirekt auch gestellt – und sie bedürfen einer nachhaltigen und global solidarischen Antwort. 2 Mona Jaeger, Erleben die Grünen ihren Hartz-IV-Moment?, www.faz.net, 15.1.2023. 3 Offener Brief: Ein Moratorium für die Räumung von Lützerath, www.de.scientists4future.org, 11.1.2023.

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Die Gratwanderung der Letzten Generation Von Dieter Rucht

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ie von der Letzten Generation ausgelösten Wellen schlagen hoch. „Wegsperren“ rufen die einen, „Bravo und weiter so“ die anderen. Mediale Aufmerksamkeit ist garantiert. Aber das ist nur die halbe Miete. Letztlich geht es um einschneidende klimapolitische Maßnahmen. Diese kommen jedoch nur in Gang, wenn sie nicht auf überwältigende Ablehnung in der Bevölkerung stoßen. Damit steht die Letzte Generation vor einer Entscheidung. Soll sie einfach weitermachen in der Hoffnung, ihre stetigen Nadelstiche würden am Ende eine klimapolitische Wende erzwingen? Oder stumpft die Wiederholung des Immergleichen das Publikum ab, sodass man bis auf weiteres von dieser Protestform absieht, wie soeben von den britischen Vorreitern von Extinction Rebellion beschlossen, oder zu dem fatalen Schluss kommt, dass Erhalt oder Steigerung der Aufmerksamkeit nur durch eine weitere Radikalisierung des Protests erreicht werden können? Nach – allerdings wissenschaftlich nicht belegter – Lesart der Letzten Generation bleiben der Menschheit nur noch zwei oder drei Jahre bis zum Erreichen eines irreversiblen klimatischen Kipppunkts. Daher rührt der Wille zur Radikalisierung des Protests. Damit verlagert sich allerdings die Debatte von den klimapolitischen Notwendigkeiten auf die Problematik des Regelbruchs, den polizeilichen und juristischen Umgang mit den Protestierenden, neuerdings auch auf die postulierte Möglichkeit, ja die angebliche Wahrscheinlichkeit eines veritablen Öko-Terrorismus und einer „grünen RAF“. Insofern hat die Debatte über die Mittel eine durchaus ablenkende Wirkung zulasten der Protestierenden. Dabei sind die Forderungen der Klimabewegung insgesamt, aber auch die der Letzten Generation, kaum anders als „kreuzbrav“ zu bezeichnen – und weit entfernt von der Fundamentalopposition, welche die damalige 1968er-Bewegung auszeichnete, aus der als extremster Flügel dann die RAF erwuchs. Was spricht gegen Tempo 130 auf Autobahnen oder die Einführung des 9-Euro-Tickets, wie von der Letzten Generation gefordert – und was gegen ein Gesetz zur Eindämmung der Lebensmittelverschwendung oder gegen schnellere und stringentere klimapolitische Maßnahmen auf breiter Front? Das alles sind Ziele, die als vernünftig gelten können. Sie finden zudem wissenschaftlichen Beistand.

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Die Gratwanderung der Letzten Generation 95 Anders verhält es sich bei der Beurteilung der Mittel des klimabewegten Protests. Hatte zunächst der eher symbolische denn tatsächlich einschneidende „Schulstreik“ von Fridays for Future die Gemüter erhitzt, so überwog danach freundliches Wohlwollen. Die Massendemonstrationen von Schülerinnen und Schülern – Proteste, die flugs zum Signum einer ganzen Generation erklärt wurden –, bekamen viel Applaus. Doch die politische Umsetzung der Forderungen ließ weiter auf sich warten. Damit stand für die motivierteren Aktivisten die Frage an, mit welchen Unterthemen und welchen Aktionsformen das Klimathema am Kochen gehalten werden könne. So verlagerte sich das Gesetz des Handelns auf bereits bestehende („Ende Gelände“) oder neu aufkommende offensiv gestimmte Gruppen, darunter „Extinction Rebellion“ und, immer stärker, auf jene Gruppe, die seither unter dem Namen „Aufbruch der Letzten Generation“ oder kurz: die „Letzte Generation“ für Furore sorgt.

Ohne Sinnhaftigkeit des Protests keine Zustimmung Als thematischen Anknüpfungspunkt wählte die Letzte Generation zunächst die weithin konsensfähige Forderung nach einem Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung. Sie verband diese Thematik allerdings, für viele Außenstehende schon damals nicht nachvollziehbar, mit der Blockade von Zuund Abfahrten von Autobahnen samt dem Ankleben von Händen auf dem Asphalt. Das Echo darauf war zwiespältig – einerseits Verständnis, andererseits wütender Protest. Angesichts der sich abzeichnenden Veralltäglichung des Außeralltäglichen zündete die Letzte Generation im Herbst 2022 eine neue Proteststufe – die Attacken auf Kunstwerke mit Farbe, Tomatensuppe oder auch Kartoffelbrei. Mit diesem Bildersturm war endgültig ein Punkt erreicht, der viele sagen ließ: „Jetzt reichts. Das geht zu weit“. Der Grund dafür: Es ist absolut nicht ersichtlich, was die verunzierten Kunstwerke mit dem Thema Klimaschutz zu tun haben – zumal es besonders paradox erscheint, dass eine Gruppe, die die Verschwendung von Lebensmitteln anprangert, nun ausgerechnet Lebensmittel als Wurfgeschosse einsetzt und voller Stolz per Video zeigt, wie man die Tomatensuppewurftechnik im häuslichen Badezimmer perfektioniert habe. Hier zeigt sich das Kernproblem: Jeder Protest, dessen Sinnhaftigkeit nicht evident ist, büßt die grundsätzlich für die geforderten Maßnahmen vorhandene Zustimmung ein – zumal dann, wenn er eher mit Rücksichtslosigkeit als mit Verantwortung assoziiert wird. Mit der etwa 90 Minuten währenden Blockade des Berliner Flughafens am 24. November 2022 zündete die Letzte Generation dann noch eine weitere Stufe der Regelverletzung. Eingriffe dieser Art haben – tatsächlich oder potenziell – weitreichende Gefährdungen zur Folge. Entsprechend scharf war der Tenor öffentlicher Kommentare. Mehrere Politiker appellierten direkt an die Gerichte, strenge Urteile zu fällen. Darüber hinaus forderte die

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96 Dieter Rucht Union, Straßenblockaden künftig als besonders schweren Fall der Nötigung einzustufen und mit mindestens drei Monaten bis zu fünf Jahren Haft zu belegen. Blockaden sollten als Regelbeispiel in den entsprechenden Paragrafen 240 des StGB aufgenommen werden. Vehement verteidigt wurden Regularien wie des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes, das eine Vorbeugehaft von bis 30 Tagen zur Verhinderung angekündigter Straftaten vorsieht, die in Einzelfällen um weitere 30 Tage verlängert werden kann.

Gibt es ein Recht auf zivilen Ungehorsam? Die Klimaaktivisten verweisen dagegen unbeirrbar auf die kaum bestreitbare ethische Qualität ihrer Zielsetzung. Die Letzte Generation bekennt sich ohne Einschränkungen zum klassischen zivilen Ungehorsam. Dieser ist als strikt gewaltfreier Bruch von Regeln bzw. Gesetzen definiert, aber an zusätzliche Bedingungen geknüpft. Dazu gehört die Darlegung der Gründe des Protests jenseits der Berufung auf das eigene Gewissen, das Bekenntnis zu seinen (illegalen) Handlungen mit Namen und Gesicht, ein deeskalatives Verhalten im Akt des Widerstands, die Meidung von Risiken für Gesundheit und Leben vom Protest negativ Betroffener sowie die prinzipielle – aber im konkreten Konfliktfall dispensierte – Anerkennung des sanktionsbewehrten Legalitätsprinzips. Zur Abwehr rechtlicher Sanktionen für ihren zivilen Ungehorsam berufen sich die Aktivisten auf den „rechtfertigenden Notstand“ (§ 34 StGB). Demzufolge ist eine an sich strafbewehrte Handlung als rechtmäßig anzusehen, wenn (a) das geschützte Rechtsgut höher einzustufen ist als das verletzte Rechtsgut und (b) die inkriminierte Handlung einer Gefahrenabwehr dient, für die keine anderen Mittel zur Verfügung stehen. Weil aber mehr als zweifelhaft ist, ob Blockaden und Bildersturm die einzigen verbliebenen Mittel sind, um die Klimakatastrophe zu verhindern, sind einer juristischen Billigung auch hier enge Grenzen gesetzt. Eine juristische Berufungsmöglichkeit könnte schließlich das bahnbrechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 bieten, das die Freiheits- und Grundrechte künftiger Generationen, darunter auch das Recht auf eine ökologisch intakte Welt, hervorhebt. Dieses Urteil zwingt die Legislative zu Nachbesserungen des 2019 beschlossenen Klimaschutzgesetzes, aber es sagt nichts zu Protestaktivitäten, legalisiert diese also auch nicht. Auf juristischer Ebene bleibt es somit bei der Kluft zwischen dem legitimen – und laut Bundesverfassungsgericht durchaus rechtlich gebotenen – Anliegen des Klimaschutzes im Interesse künftiger Generationen und der strafrechtlichen Behandlung von illegalen Blockadeaktionen, denen Delikte wie Nötigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Sachbeschädigung oder auch Hausfriedensbruch zugeordnet werden. Juristisch relevant ist allein, ob der konkrete Tatbestand erfüllt wird. Irrelevant sind dagegen die politischen Motive und Erwägungen der „Täter“, die allenfalls in das rhetorische Beiwerk der Urteilsverkündung und die

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Die Gratwanderung der Letzten Generation 97 Bemessung des Strafmaßes einfließen. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass Bundesjustizminister Marco Buschmann selbst angesichts von bislang zwei amtsgerichtlichen Freisprüchen von Blockierern im Ton der Gewissheit verkündet, derartige Urteile würden in den höheren Instanzen keinen Bestand haben. Mit Blick auf den klimapolitisch motivierten zivilen Ungehorsam ist die Maschinerie der Strafverfolgung inzwischen in Gang gekommen. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber sie mahlen. Bislang sind die Urteile moderat. Geldstrafen werden abgedeckt durch Crowdfunding oder auch die in Kalifornien beheimatete Stiftung Climate Emergency Fund. Doch insbesondere für die „Mehrfachtäter“ werden die Sanktionen im Zeitverlauf zunehmend härter ausfallen. Die Aktivisten wissen darum. Manche von ihnen werden aufgrund drohender Strafen aufgeben, andere berufliche oder sonstige Pflichten wieder in den Vordergrund rücken. Bei wiederum anderen wird sich Frustration oder Erschöpfung breitmachen. Doch ein Teil hat bereits erklärt, unverdrossen weiterzumachen und am Ende auch Gefängnisstrafen in Kauf zu nehmen.

Zwangsläufig immer radikaler? Und dennoch ist damit der Weg in die Radikalisierung keineswegs vorgezeichnet. Mit ihrer strikten Selbstbindung an zivilen Ungehorsam grenzt sich die Letzte Generation implizit gegenüber jenen Klimaaktivisten ab, denen diese Aktionsform als zu brav und damit letztlich wirkungslos erscheint. Diese offensiver ausgerichteten Gruppen favorisieren längst eine Steigerung des Protestmodus, der als „friedliche Sabotage“ firmiert. Dabei sollen massive Sachbeschädigungen die Kosten für fossile Energieerzeugung derart hochschrauben, dass die beteiligten Unternehmen aus diesen Geschäftsfeldern aussteigen. Ausgeschlossen wird lediglich Gewalt gegen Personen. Dieses auf schweren Sachschaden zielende Vorgehen ist definitiv kontraproduktiv. Es würde nicht nur politisch wie juristisch als kriminell eingestuft, sondern die Klimabewegung insgesamt in Misskredit bringen. Die Befürworter des militanten Protests, am publikumswirksamsten wohl der schwedische Journalist und Klimaaktivist Andreas Malm mit seinem Buch „How to Blow Up a Pipeline“, zitieren blauäugig jene unleugbaren historischen Fälle, in denen gewaltsamer Protest letztlich nicht nur Problembewusstsein geschärft, sondern auch historische Fortschritte erzielt hat, die wir heute, etwa mit Blick auf die Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht, als selbstverständlich erachten. Dieser Sachverhalt wird in der Fachliteratur als positiver radical flank effect bezeichnet. Aber es dürfte weitaus mehr historische Fälle geben, in denen militanter Protest gescheitert ist (weshalb davon heute kaum jemand mehr spricht) oder er sogar das Gegenteil dessen erreicht hat, wofür er ursprünglich angetreten war. Im Rahmen repräsentativ-demokratischer Systeme ist generell, aber auch mit Blick auf den Klimaaktivismus, eher mit einem negativen radical

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98 Dieter Rucht flank effect zu rechnen. Demzufolge wird der radikale Flügel einer Bewegung durch eigenes und/oder fremdes Zutun politisch isoliert. Nicht nur die breite Öffentlichkeit, sondern selbst potenzielle Bündnispartner wenden sich am Ende ab. Und dennoch gilt: Es gibt keine zwingend abschüssige Bahn, die, ausgehend vom fröhlichen Straßenprotest über die Zwischenstation des zivilen Ungehorsams zur „friedlichen Sabotage“ und schließlich zum Terrorismus führt. Im Gegenteil: Der zivile Ungehorsam kann – richtig verstanden – eine Brandmauer gegenüber dem militanten bzw. gewaltförmigen Protest errichten, weil er, wenngleich nicht rechtskonform, so aber doch demokratiekompatibel ist. Ziviler Ungehorsam kann ein machtvolles Mittel der Gewinnung von Aufmerksamkeit und auch Zustimmung sein. Er läuft aber zugleich immer auch Gefahr, ein rein taktisches Instrument zu bleiben, das sich mit seiner Fünfvor-zwölf-Rhetorik zu verselbständigen droht, wenn es nicht in eine übergreifende Strategie eingebettet wird.

Kein politischer Erfolg ohne gesellschaftlichen Resonanzboden Anstelle einer vorausschauenden Strategie setzt die Letzte Generation vor allem auf die Wirkung des Spektakels. Suchend und mäandernd, aber bislang durchaus erfolgreich, bedient sie die Klaviatur medialer Aufmerksamkeitsökonomie. Aber zugleich verkennt sie die Mechanismen und Restriktionen des an Mehrheiten gebundenen Politikbetriebs – wie auch die Beharrungskräfte einer auf Wachstum und Besitzindividualismus gepolten Gesellschaft. Angesichts der gewaltigen Bedrohungslage der Klimaveränderung und einer insgesamt fehlenden Handlungsbereitschaft erscheint ziviler Ungehorsam heute durchaus als legitim. Er kann notwendige Schritte anstoßen und Mehrheitsmeinungen temporär zuwiderlaufen. Aber: Ziviler Ungehorsam war und ist stets eine Gratwanderung zwischen dem Gestus einer Beifall sichernden Symbolpolitik und politischer Kriminalität. Dem Regel- und Gesetzesbruch als Mittel der Provokation wohnt in der herrschenden Aufmerksamkeitsökonomie ein Zwang zur Steigerung inne, welcher die persönlichen Kosten für die Aktivisten immer höher treibt und zugleich eine Polarisierung der Positionen befördert – samt einer zunehmenden Wagenburgmentalität. Am Ende bleibt der Erfolg von zivilem Ungehorsam immer abhängig von einem gesellschaftlichen Resonanzboden. Wird dieses Erfordernis missachtet, führt es in der Regel unweigerlich zu sozialer Isolierung – und daraus folgender Radikalisierung. Mäßigende und differenzierende Stimmen, die nach allen Seiten offen und sprechfähig sind, finden dann kaum noch Gehör. Gerade auf sie kommt es aber heute an, um endlich jene diskursiv gehaltvolle und zugleich politisch druckvolle klimapolitische Debatte zu führen, die doch so dringend erforderlich ist.

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Protest in der Klimakrise: Die Legitimität zivilen Ungehorsams Von Robin Celikates

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enn gegenwärtig den Klimaprotesten der Letzten Generation, aber auch den Aktivist:innen in Lützerath der Vorwurf gemacht wird, sie seien zu radikal, sagt dies weit weniger über die Akteure aus als über unsere Gesellschaft, die sich bisher als in nur sehr begrenztem Maße willens oder fähig erwiesen hat, auf die Klimakrise in adäquater Weise zu reagieren. Sich angesichts der global evidenten und auch hierzulande immer schwerer zu verdrängenden katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise für seine Überzeugungen auf die Straße zu setzen und festzukleben oder eine Menschenkette auf einem Feld zu bilden und sich von der Polizei umrennen zu lassen, ist vielleicht radikal im Vergleich zu dem, was die meisten Menschen in Deutschland gewöhnt sind oder was sie erwarten. Platziert man die Proteste in einem größeren internationalen und historischen Kontext, so müssen die allermeisten Mittel, zu denen die unterschiedlichen Stränge der Klimabewegung greifen, aber noch als ziemlich gemäßigt gelten – und das umfasst durchaus auch die sogenannten radikaleren Teile, also Ende Gelände und Letzte Generation. Sich auf der Straße festzukleben und den Verkehr zu blockieren, in ein Unternehmensareal einzudringen und Hausfriedensbruch zu begehen, sich an einem Ministerium festzuketten – all das sind Praktiken des Protests, zu denen soziale Bewegungen in allen möglichen Kontexten, auch in Demokratien, immer wieder gegriffen und auf diese Weise demokratischen Fortschritt bewirkt haben. Insofern können Protestbewegungen, die diese Mittel einsetzen, durchaus Legitimität für sich beanspruchen. Das allerdings bedeutet noch lange nicht, dass einzelne Aktionen wie etwa Straßenblockaden im Berufsverkehr in allen Fällen gerechtfertigt oder auch nur das effektivste Mittel sind, um die Ziele der Bewegung zu erreichen. Aber dieser Einwand – eine bestimmte Aktion erscheint in einem konkreten Kontext als nicht gerechtfertigt oder nicht besonders effektiv – hat nichts damit zu tun, dass sie tatsächlich zu radikal wäre. Dass sich ein Protestmittel als ineffektiv erweist, hat häufig mehr mit der Skandalisierungslogik der gegnerischen Seite zu tun, die die öffentliche Diskussion auf eine schiefe Ebene lenkt, als mit übermäßiger Radikalität. Zur Erinnerung: Schon als Fridays for Future 2019 große Massen von Schüler:innen auf die Straße brachte, wurde beklagt, dass zu Schulzeiten zu protestieren zu radikal sei.

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100 Robin Celikates Dass der Streit um die Effektivität und Rechtfertigung von einzelnen Protestaktionen heute mit einer grundsätzlichen Delegitimierung der Klimaproteste oder gar von Protest als solchem einhergeht, ist intellektuell und politisch besorgniserregend. Häufig wird diese Art von Kurzschluss mit dem Argument vorgebracht, die Protestaktionen seien nicht legal und bereits aus diesem Grund illegitim. Natürlich sind Straßenblockaden als gezielte Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung und das Eindringen auf ein Firmengelände als Hausfriedensbruch illegal. Aber sie sind deswegen – anders als anscheinend auch Bundesjustizminister Marco Buschmann meint – noch lange nicht illegitim. Das sollte man sich eigentlich schnell vor Augen führen können: Ziviler Ungehorsam ist per definitionem nicht legal – und dennoch in einer Demokratie wie der unsrigen durchaus zulässig, ja mehr noch, unter Umständen auch politisch und moralisch gefordert. Dabei handelt es sich um Protest, der aufgrund der Dringlichkeit seines Anliegens bewusst gegen bestehende Gesetze – wie die Straßenverkehrsordnung – verstößt, sich dabei aber auf grundlegende Prinzipien – wie Gerechtigkeit, Demokratie und Verantwortung für zukünftige Generationen – bezieht und auf Gewalt gegen Menschen verzichtet. Ziviler Ungehorsam geht diesen entscheidenden Schritt des primär symbolischen Rechtsbruchs weiter, um zu signalisieren, dass das Anliegen der Protestierenden besonders dringlich, das Unrecht, gegen das sie sich wenden, besonders empörend und die ausbleibende oder mangelnde Reaktion des politischen Systems oder der Mehrheitsgesellschaft auf den Protest besonders problematisch ist.

Der Unterschied von Legalität und Legitimität Eigentlich sollte es sich von selbst verstehen, aber in der gegenwärtigen öffentlichen Aufregung muss es wohl explizit betont werden: Das heißt natürlich nicht, dass nun alle einfach nach Belieben anfangen können, aufgrund ihrer privaten Überzeugungen und Meinungen aus Protest Gesetze zu brechen. Abgesehen davon, dass wir von einer solchen Situation der totalen Anarchie nun wirklich zu weit entfernt sind, als dass sie ein gutes Schreckgespenst abgeben würde, ist hier insbesondere entscheidend, dass sich die Protestierenden an ihren Rechtfertigungen und Argumenten selbst messen lassen müssen. Genau weil der Klimaprotest sich neben wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen über die Klimakrise auch auf grundlegende Prinzipien der Demokratie wie die Einbeziehung der Betroffenen und die Verantwortung für zukünftige Generationen berufen kann (wie sie auch das Bundesverfassungsgericht in seinem wegweisenden Klimaurteil der Regierung ins Stammbuch geschrieben hat), kann er Legitimität auch dann beanspruchen, wenn er punktuell, etwa in Form von Straßenblockaden, an der Grenze von Legalität und Illegalität operiert. Führende Politiker wie der Bundesjustizminister und auch zahlreiche Medienvertreter scheinen allerdings nicht willens oder in der Lage, diese

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Klimakrise: Die Legitimität zivilen Ungehorsams 101 für die Geschichte und Gegenwart der Demokratie eigentlich grundlegende Unterscheidung von Legalität und Legitimität zu treffen. Das zeigt sich daran, dass immer wieder behauptet wird, Protest sei ja schön und gut und es sei ja durchaus zu begrüßen, dass sich die jungen Leute für ihre Zukunft engagieren, aber in der Demokratie solle doch bitte jeder Protest im Rahmen des Rechts stattfinden. Ein derart „autoritärer Legalismus“ (Jürgen Habermas) verkennt die fundamentale historische Wahrheit, dass es viele der für unsere Demokratie wichtigen demokratischen Errungenschaften – (einigermaßen) gleiche Rechte für Arbeiter:innen und Frauen, grundlegende, wenn auch noch immer eingeschränkte Rechte für Migrant:innen, Geflüchtete und LGBTQI-Personen – überhaupt nicht geben würde ohne vorausgegangene Protestbewegungen, die auch zum prinzipienbasierten Bruch geltenden Rechts im Namen von mehr Demokratie und Gerechtigkeit bereit waren. Ohne den heute von so vielen selbstzufriedenen Verteidigern des Status quo verächtlich gemachten Protest wären wir von jenem demokratischen Rechtsstaat meilenweit entfernt, in dem wir trotz aller weiter bestehenden substantiellen Defizite das Glück haben zu leben. Und weil es naiv und gefährlich wäre, zu leugnen, dass es auch heute noch substantielle Defizite gibt, ist es so naiv und gefährlich, die enorm wichtige, aber stets im Spannungsverhältnis von Legalität und Legitimität angesiedelte Rolle von Protest für Gegenwart und Zukunft der Demokratie zu verkennen.

Protest zur Durchsetzung demokratischer Prinzipien und Werte Diese demokratiefundierende Rolle von Protest anzuerkennen, ist eigentlich eine Minimalanforderung an eine demokratische politische Kultur und sollte auch Teil des Selbstverständnisses der gewählten Repräsentant:innen sowie der staatlichen Institutionen – inklusive Justiz und Polizei – sein. Das gilt es umso mehr in Erinnerung zu rufen, als die Regierung die von ihr selbst gesetzten Klimaziele, die ja weit mehr sind als unverbindliche Absichtserklärungen, offensichtlich klar verfehlt. Sogar der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages kommt zu dem Schluss, dass der Bundesverkehrsminister (ein Parteikollege des Bundesjustizministers) den klimafreundlichen Umbau des Verkehrssektors so massiv ausbremst, dass er gegen geltendes Recht verstößt. Umgekehrt gilt aber auch: Zu sagen, Protest ist grundsätzlich legitim, heißt noch lange nicht, dass er in jedem Einzelfall auch gerechtfertigt ist. Die Frage der Rechtfertigung ist ebenso wie die Frage der Effektivität von vielen Kontextfaktoren abhängig und kann letztendlich nur im Lichte der öffentlichen Debatte und das heißt in der demokratischen politischen Auseinandersetzung entschieden werden. Diese Debatte setzt aber voraus, dass Protest, und eben auch illegaler Protest, in einer Demokratie erst einmal als legitim anerkannt wird, wenn er sich auf die Prinzipien beziehen kann, die dem Legitimitätsanspruch eben dieser Demokratie zugrunde liegen – und wenn er sich selbst als Teil eben dieser Demokratie versteht, um deren Transformation es geht.

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102 Robin Celikates Daran, dass auch der Klimaprotest wesentlich zur Demokratie gehört und daher nicht zu ihrem Feind erklärt werden sollte, ändert auch die Tatsache nichts, dass von der Letzten Generation und anderen Teilen der Klimabewegung häufig die Forderung „System Change, Not Climate Change“ erhoben wird. Richtig verstanden ist ziviler Ungehorsam in einer Demokratie nicht auf rein systemimmanenten Protest reduzierbar. Anzunehmen, ziviler Ungehorsam dränge nur auf kleine Korrekturen oder Reformen hier und da, während das System als Ganzes akzeptiert werde, geht an seiner historischen und gegenwärtigen Rolle und an seinem demokratischen Transformationspotential vorbei. Die transformative Kraft des Ungehorsams ist viel grundlegender, ohne dass damit seine demokratische Legitimität in Frage steht. Das kann man sich schon an den einschlägigen historischen Beispielen klarmachen, die auch heute noch als Paradigmen des zivilen Ungehorsams gelten. Die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung – wie sie heute insbesondere mit dem Denken und Handeln von Martin Luther King, Jr. identifiziert wird – steht für Diskurs und Praxis des zivilen Ungehorsams, war aber zugleich äußerst radikal, gerade auch in ihrer Zielsetzung. Ihr ging es um deutlich mehr als eine kleine Änderung allein dieses oder jenes Gesetzes: Es ging um einen grundlegenden Wandel der US-amerikanischen Gesellschaft, nämlich ihrer politischen, ökonomischen und kulturellen Verfasstheit. Daran sieht man zunächst, dass man nicht einfach sagen kann: Der Protest fordert einen Systemwandel, also handelt es nicht um zivilen Ungehorsam. Das gilt insbesondere dann, wenn die Krise, auf die der Ungehorsam reagiert, von so grundlegender Art ist. Die entscheidende Frage hinsichtlich der Legitimität zivilen Ungehorsams lautet daher: Welche Prinzipien oder Werte sollen den Systemwandel anleiten, für den sich die Protestbewegung einsetzt, in welche Richtung soll er gehen und auf welche Weise soll er stattfinden? Wenn die dem Ungehorsam zugrundeliegenden Prinzipien oder Werte schon in der bestehenden Ordnung verankert sind und lediglich behauptet wird, ihre Realisierung weise über das hinaus, was im Grunde bereits anerkannt ist, dann ist die Bewegung im Lichte der dieser Ordnung zugrundeliegenden Prinzipien nicht einfach als illegitim zu bezeichnen – und damit zugleich zu diskreditieren. Schon die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung kontrastierte das Versprechen der Verfassung mit einer massiv defizitären Wirklichkeit, um den Einsatz für eine radikal andere Gesellschaft zu rechtfertigen. Das ist einerseits revolutionär – da ihre Forderungen auf eine radikal andere Gesellschaft zielen –, andererseits aber in der bestehenden Ordnung verankert, da die Gesellschaft die Prinzipien und Werte bereits anerkannt hatte, um die es der Bewegung ging. Auch wenn sich die heutige Situation natürlich grundlegend unterscheidet und man die Klimabewegung nicht mit der Bürgerrechtsbewegung gleichsetzen sollte, kann man trotzdem erkennen, dass auch die radikaleren Tendenzen der Klimabewegung teilweise ganz ähnlich argumentieren, wenn sie echte Demokratie, echte Generationengerechtigkeit, echte Nachhaltigkeit fordern. Im Prinzip liegen diese Prinzipien und Werte der demokratischen

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Klimakrise: Die Legitimität zivilen Ungehorsams 103 Ordnung zugrunde und stehen mehr oder weniger explizit auch im Grundgesetz, etwa als Verpflichtung der Staatsgewalt zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen auch in Verantwortung für künftige Generationen. Aber man kann wohl kaum behaupten, dass sie bereits umgesetzt sind oder dass wir kurz vor ihrer Realisierung stünden. Den mit diesen grundlegenden Prinzipien verbundenen Auftrag zu erfüllen, erfordert viel entschiedenere transformative Anstrengungen, als heute im politischen Mainstream akzeptiert und umgesetzt wird. In diesem Sinne ist der Klimaprotest sowohl radikal, weil er auf eine Veränderung des Systems abzielt, als auch systemimmanent, weil er die dem existierenden politischen System zugrundeliegenden Prinzipien in Anschlag bringt. Es sind diese Prinzipien, die – richtig verstanden – nach einer radikalen Transformation verlangen. Insofern streben große Teile der Klimabewegung nach einem Systemwandel, der eben nicht vollkommen mit dem System bricht. Im Gegenteil: Es geht ihnen sogar ganz im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom April 2021 gerade darum, dass auch zukünftige Generationen als einigermaßen Freie und Gleiche in einem demokratischen Rechtsstaat leben können.

Kein grundgesetzlicher Schutz des Kapitalismus Vor diesem Hintergrund ist es durchaus bemerkenswert, dass die Gruppe Ende Gelände in Berlin vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, dass auch andere Teile der Klimabewegung in die verfassungsfeindliche Ecke gestellt werden und dass gegen einen Teil der Letzten Generation inzwischen als angeblich „kriminelle Vereinigung“ ermittelt wird. Offenbar geht damit der Verdacht einher, dass Teile der Bewegung die demokratische Grundordnung in Frage stellen. Bei näherem Hinsehen ist das allerdings kaum nachvollziehbar: Ende Gelände ist zwar kapitalismuskritisch, aber das kapitalistische Wirtschaftssystem steht eben nicht unter dem Schutz des Grundgesetzes, weil es kein wesentlicher Teil jener freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist, auf deren Verteidigung sich der Verfassungsschutz eigentlich beschränken sollte – zumal die letzten Monate wieder einmal deutlich gemacht haben, dass die ernstzunehmende Gefahr hier von rechts droht. Das Grundgesetz lässt die Frage bewusst offen, wie genau die Wirtschaftsordnung auszugestalten ist. Zwar können bestimmte Aspekte der kapitalistischen Marktwirtschaft durchaus als in Grundrechten wie der Eigentumsgarantie oder der Berufsfreiheit angelegt verstanden werden, aber eine radikal andere Wirtschaftsordnung anzustreben ist möglich, ohne den Boden des Grundgesetzes zu verlassen. Radikale Kapitalismuskritik ist noch kein Schritt in die Verfassungsfeindlichkeit. Vor diesem Hintergrund ist die von manchen Medien und Politiker:innen betriebene Verwischung der Grenze zwischen legitimem, wenn auch umstrittenem Protest, der für die Demokratie zentral ist und von einer Demokratie auch ausgehalten werden muss, auf der einen Seite und demokratiefeindlichem Protest oder gar Terrorismus auf der anderen Seite höchst pro-

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104 Robin Celikates blematisch und besorgniserregend. Die Grenze ist in diesem Fall wirklich sehr einfach zu ziehen: Sie verläuft zwischen einem aus prinzipiellen Gründen gewaltfreien Protest, der keine direkte Gewalt gegen Menschen einsetzt und das Risiko der indirekten Schädigung zu minimieren versucht, und dem gezielten und offensiven Einsatz von Gewalt gegen Menschen, zu dem keine der an der Klimabewegung im breiten Sinn beteiligten Gruppen bisher aufgerufen hat. Die aus politischem Kalkül betriebene Delegitimierung und Kriminalisierung von Protest ist eine viel größere Gefahr für die Demokratie als die Straßenblockaden der Letzen Generation oder die Proteste in Lützerath.

Was sind geeignete Mittel? All diese Ausführungen zur Legitimität des zivilen Ungehorsams auch und gerade in einem demokratischen Rechtsstaat beantworten allerding noch nicht die Frage, welche Mittel letztlich zielführend sind. Selbst wenn man auch radikalen Protest im Lichte der ökologischen Krise für legitim hält, kann man etwa Zweifel an der politischen Sinnhaftigkeit einzelner Aktionen anmelden. So kann man mit guten Gründen bezweifeln, dass der Hungerstreik mit dem die Letzte Generation 2021 die politische Bühne betreten hat, ein adäquates Mittel war, wird es doch zumeist von Gruppen angewendet, die sich in einer unmittelbar asymmetrischen Gewaltsituation befinden – etwa weil der Staat sie wegsperrt, mundtot zu machen und auszulöschen droht. Ohne die berechtigten Ängste und die authentische Motivation der Letzten Generation herunterspielen zu wollen, stehen ihr doch andere Möglichkeiten offen, in die politische Öffentlichkeit zu intervenieren, wie sie die Gruppe dann ja auch ergriffen hat, etwa in Form von Straßenblockaden. Gerade vor diesem Hintergrund ist dagegen die öffentliche Aufregung über das Festkleben an sicher verglasten Kunstwerken in Museen und die im Allgemeinen gut und risikominimierend vorbereiteten Blockaden im öffentlichen Raum ziemlich absurd und auch etwas heuchlerisch. Freilich stellen sich auch hier Fragen: Wer Straßen blockiert, setzt andere damit Unannehmlichkeiten und Risiken aus. Aber das tun so gut wie alle Formen des politischen Handelns, die außerhalb der institutionalisierten Routinen stattfinden – von Gipfeltreffen bis zu den unzähligen Demonstrationen, die in Berlin jede Woche stattfinden. Zudem: Wer Straßen blockiert, verletzt auch die Straßenverkehrsordnung, protestiert aber im Normalfall nicht gegen die Straßenverkehrsordnung. Deswegen ist ziviler Ungehorsam immer auch symbolisch und auf Vermittlungsschritte angewiesen: Wir blockieren hier die Straße, wollen damit aber auf dieses oder jenes Problem aufmerksam machen. In den letzten Monaten hat sich daher mehr und mehr die Frage gestellt, ob Straßenblockaden im Berufsverkehr überhaupt zielführend sind, weil man damit jedenfalls nicht in erster Instanz jene gesellschaftlichen Eliten trifft, die mit ihrer Lebensführung den größten Schaden anrichten oder mit ihrer sozia-

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Klimakrise: Die Legitimität zivilen Ungehorsams 105 len und politischen Macht verhindern, dass genug getan wird, um den Schaden in Grenzen zu halten. Das spricht nicht per se gegen die Aktionsform der Straßenblockade, aber im Allgemeinen sind Protestbewegungen gut beraten, nach Interventionen zu suchen, die direkter sind, die dort intervenieren, wo der Zusammenhang zwischen Ziel und Mittel unmittelbarer vor Augen steht, und die auf diese Weise bei der Öffentlichkeit eher einen Erkenntniseffekt auslösen, der zum Umdenken zwingt.

Lernfähig bleiben! Kein Mittel ist immer gleichermaßen tauglich Angesichts der Kontextabhängigkeit und Kontingenz politischen Handelns gilt jedoch generell: Welche Mittel und Aktionsformen tatsächlich angemessen und effektiv sind, kann man nicht abstrakt und auch nicht im Vorfeld sagen. Protestbewegungen müssen experimentell vorgehen, das heißt aber auch: Sie müssen lernfähig bleiben und unter Umständen auch schnell reagieren können, wenn sich herausstellt, dass ein bestimmter Weg in die Sackgasse führt. Und sei es auch eine Sackgasse, in die man ohne eigenes Verschulden geraten ist, etwa weil Medien die Diskussion durch Skandalisierung verzerren und von politischer Seite durch Forderungen nach Repression und strafrechtliche Verfolgung Druck aufgebaut wird. Wenn zum Beispiel erst einmal die Geschichte in der Öffentlichkeit zirkuliert, dass Krankenwagen wegen Autobahnblockaden nicht durchkommen oder – schlimmer noch – ein Mensch wegen einer Blockade nicht gerettet werden konnte, dann kommt man dagegen kaum mehr an, selbst wenn sich herausstellt, dass die unmittelbaren Berichte nicht der Wahrheit entsprachen und die Reaktionen überzogen waren. Auch aus diesem Grund sollten sich Protestbewegungen nicht zu sehr an die gewählten Mittel binden. Mittel sind Mittel. Wenn sie sich als nicht effektiv herausstellen, muss man die Strategie anpassen. Nicht zurückstecken, sondern weiter experimentieren. Wichtig ist: Die Mittel müssen an den Zielen auch in dem Sinn ausgerichtet sein, dass sich die Ziele in den Mitteln widergespiegelt finden. Ein trotz ihres oft behaupteten Scheiterns gelungenes Beispiel dafür ist die Occupy-Bewegung aus den Jahren 2011 und 2012. Sie hat bewusst versucht, im Zuge der Besetzungen öffentlichen Raums auch die Art von solidarischen, inklusiven und demokratischen sozialen Beziehungen experimentell vorzuleben, die sie erreichen wollte. Durch alternative interne Organisationsformen der Bewegung wurde versucht, der oft auch in Protestbewegungen zu beobachtenden Marginalisierung sowieso schon marginalisierter Gruppen entgegenzutreten, deren Mitgliedern gleichen Rederaum zu geben, und soziale Hierarchien und Machtverhältnisse nicht zu reproduzieren. Das wurde zum Teil belächelt und als Revolutionsromantik abgetan. Aber es war ein zentrales Merkmal von Occupy, das heute auch unter dem Begriff der Präfiguration diskutiert wird: Soziale Bewegungen müssen die in ihren Forderungen artikulierte politische Alternative glaubhaft verkörpern.

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106 Robin Celikates Auch wenn die Klimabewegung heute zum Teil sicher von Frustration und Wut angesichts der deprimierenden Klimabilanz einer immer wieder an ihren selbstgesetzten Klimazielen scheiternden Regierungspolitik angetrieben wird, gilt es doch festzuhalten, dass der Protest schon einiges erreicht hat. Fridays for Future und Extinction Rebellion haben es geschafft, den Diskurs über die Klimakrise nachhaltig zu verändern und in breiten sozialen Schichten zu verankern. Wenn die eigenen Kinder Klimagerechtigkeit einfordern, oder einfach nur eine minimal erträgliche Lebensperspektive, ist das nicht so schnell als unrealistischer Radikalismus der üblichen Verdächtigen abzutun. Viel spricht dafür, dass auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Jahr nicht in der Weise gefällt worden wäre, wenn es die Klimabewegung nicht gegeben hätte. Ende Gelände und die Letzte Generation sowie die Proteste in Lützerath sorgen dafür, dass eine Rückkehr zum business as usual nicht so einfach gelingt, wie manche sich das wünschen. Sie demonstrieren damit, dass es sich bei der Demokratie um ein komplexes Ökosystem handelt, zu dem radikale Veränderungen einfordernde soziale Bewegungen ebenso gehören wie höchste Gerichte und die Institutionen der repräsentativen Demokratie. Für die Klimabewegung ist es im Lichte der ersten Erfolge ebenso wie angesichts der erwartbaren Hindernisse und Frustrationen ein großer Vorteil und gerade keine Schwäche, dass sie aus auf den ersten Blick recht unterschiedlichen Strömungen besteht, die eine breite Palette von Taktiken und Strategien abdecken. Neben dem eher moderaten Strang, mit dem viele Menschen relativ einfach sympathisieren können, muss es auch weiterhin die eher radikalen Stränge geben, die anecken und sich nicht primär darum kümmern, ob sie auf Verständnis stoßen oder nicht, die auch mal die Konflikte zuspitzen. Gerade aufgrund dieser Diversität ist es weiterhin wichtig, dass sich die moderatere nicht gegen die radikalere Flanke ausspielen lässt und Fridays For Future, Ende Gelände oder auch die Letzte Generation immer wieder an einem Strang ziehen, wie zuletzt in Lützerath, wo sich der Konflikt zwischen Klimabewegung, mächtigen Energieunternehmen und Teilen des Staates bildhaft zugespitzt und verdichtet hat. Und trotz des sich zusammenziehenden Zeithorizonts, der ja bereits im Namen Letzte Generation aufscheint, muss die Klimabewegung sich auf eine längere Auseinandersetzung einstellen – gerade weil so viel auf dem Spiel steht und es auch um mächtige Interessen geht. Daher braucht sie neben den großen Mobilisierungen und der punktuellen Aufmerksamkeitsgenerierung durch spektakuläre Aktionen organisatorische Infrastrukturen und politische Perspektiven für den langen Atem und für die stärkere transnationale Vernetzung. Letztlich kann es nur eine internationale, globale Antwort auf die Klimakrise geben, auch wenn besonders die Regierungen im globalen Norden in der historischen Verantwortung stehen, die Krise durch Nichthandeln und Obstruktion zumindest nicht noch zu verschärfen. Ob es zu der globalen Solidarität reicht, die notwendig wäre, um der sich heute abzeichnenden fatalen Logik des „Rette sich wer kann“ zu entkommen, hängt aber nicht zuletzt daran, ob die Klimabewegung diesen langen Atem haben wird.

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Libertär und autoritär Wie das Ich auf Kosten der Gemeinschaft regiert Von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey

I

m Vorwort von 1950 zu den Studien zum autoritären Charakter, in denen sich Theodor W. Adorno und andere Mitstreiter des Instituts für Sozialforschung in den 1940er Jahren mit dem aufziehenden Faschismus beschäftigt hatten, spricht Max Horkheimer vom Aufkommen einer „anthropologischen Spezies“ des autoritären Menschen. Dieser verbinde Rationalismus mit Irrationalismus, sei „gleichzeitig aufgeklärt und abergläubisch, stolz auf seinen Individualismus und ständig in Sorge, nicht wie alle anderen zu sein, ängstlich auf seine Unabhängigkeit bedacht und sehr geneigt, sich blind der Macht und der Autorität zu unterwerfen“.1 Auch heute mag es durchaus noch Exemplare dieser Spezies geben, doch dürfen Ähnlichkeiten zwischen Gestern und Heute nicht über die entscheidenden Veränderungen hinwegtäuschen: In den letzten Jahren tritt ein libertärer Autoritarismus in Erscheinung, der sich zunehmend extremisiert und sich damit weitestgehend von seinen konservativen, staatsfixierten Wurzeln verabschiedet. Dieser libertäre Autoritarismus ist das Produkt einer spätmodernen Gesellschaft, die von paradoxen Entwicklungen in den Bereichen Individualisierung, Demokratie und Gleichberechtigung geprägt ist. Zieht man noch einmal die von der Berkeley-Gruppe um Horkheimer und Adorno herauspräparierten Merkmale heran, finden wir stark ausgeprägte autoritäre Aggression, Projektivität, Aberglauben und Stereotype, Machtdenken, Destruktivität und Zynismus. Damit unterscheiden sich die Ergebnisse der damaligen Studie in einigen Aspekten von den Ergebnissen jener Einstellungen, die wir bei unserer Analyse der paradoxen Metamorphosen der spätmodernen Gesellschaft gewonnen haben. In unserer charakterologischen Studie haben wir die gewandelten Einstellungen seit Beginn der Coronakrise untersucht und unterscheiden dabei drei Typen: regressive Rebellen, Querdenker:innen und gefallene Intellektuelle. Die gefallenen Intellektuellen, so unser Ergebnis, neigen weniger zum Aberglauben, sind dafür aber von einer starken Abwehr des Sensiblen und nichtbinärer Geschlechteridentitäten getrieben. Letzteres trifft auf die Quer* Der Beitrag basiert auf dem jüngsten Buch der beiden Autor:innen: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, das soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist. 1 Max Horkheimer, Vorwort zu Authoritarian Personality (1950), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1991, S. 415-420, S. 415.

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108 Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey denker:innen weniger zu, im Gegenzug sind bei ihnen Aberglaube und Projektivität umso stärker verbreitet, während schließlich bei den regressiven Rebellen eher Destruktivität und Zynismus dominieren. Eines aber unterscheidet fast alle libertären Autoritären von den Menschen, die Adorno und seine Kolleg:innen in den 1940er Jahren untersucht haben: Sie sind keine starren Verfechter konventioneller Werte, sofern man unter „konventionell“ vor allem klassisch konservative Einstellungen versteht. Sie vertreten stattdessen die üblichen Konventionen spätmoderner Mittelschichtmilieus: Häufig lehnen sie gesellschaftliche Autoritäten ab, allen voran den Staat und Expert:innen. Die einzige Autorität, die sie anerkennen, sind sie selbst. Freiheit ist für sie ein unbedingter Wert, den sie nicht in sozialen Beziehungen mit anderen abgleichen oder gar einschränken wollen. Sie begreifen Freiheit als ihr alleiniges Recht, über das nur sie verfügen – wir sprechen deshalb von „verdinglichter Freiheit“. Libertär sind sie also in dem Sinn, dass sie ihre individuelle Freiheit absolut setzen. Dies ist jedoch gleichzeitig der Ausweis ihrer autoritären Neigung: Sie werten jene ab, die ein anderes Verständnis von Freiheit vertreten. Durch diese Form der aggressiven Herabwürdigung werden sie zu libertären Autoritären – und ähneln damit den Subtypen „Spinner“ oder „Rebell“ in den ursprünglichen Untersuchungen zur autoritären Persönlichkeit.

Eine Metamorphose des klassischen Autoritarismus Aus unserer Sicht haben die libertären Autoritären den klassischen Autoritarismus keineswegs abgelöst. Dieser ist nach wie vor stark präsent, wenn auch in domestizierter Form. Und wie vor uns die Berkeley-Gruppe sind auch wir uns bewusst, dass diese Theorie einen „Zeitkern“ hat: Sie wurde in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wie unter einem Brennglas entwickelt. Der libertäre Autoritarismus, den wir beschreiben, stellt insofern eher eine Metamorphose der genannten Subtypen des klassischen Autoritarismus dar, die nun stärker in den Vordergrund tritt. Für diese Metamorphose spricht, dass der libertäre Autoritarismus in all seinen Facetten an spezifische Elemente des sozialen Wandels in der Spätmoderne anschließt. Das geschieht in einer nervösen Welt, in der sich Normen permanent ändern und der Fortschritt zum einen ins Stolpern gerät, zum anderen von direkten Rückschritten begleitet wird. Wir sind zwar – individuell wie kollektiv – frei wie nie zuvor, allerdings sind die Zwänge nicht verschwunden. Sich zu unterscheiden, sich selbst zu verwirklichen, sich zu verbessern – dies sind vielfach keine selbst gewählten Optionen mehr, sondern Anforderungen, die von außen an uns herangetragen werden. Wenn das spätmoderne Individuum jedoch seine Ansprüche auf Selbstentfaltung nicht realisieren kann, ist die subjektive Kränkung größer denn je. Denn mit seiner Ausrichtung auf Selbstverwirklichung und Authentizität ist es ganz auf sich und seinen immanenten Horizont ausgerichtet.

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Libertär und autoritär 109 Auf diese Sehnsucht nach Transzendenz und die Suche nach ihren alternativen Spielarten sind wir in unserer Feldforschung und in unseren Gesprächen immer wieder gestoßen. Nährboden dieser Sehnsucht war und ist der kapitalistisch moderne, permanente Prozess der Rationalisierung und Säkularisierung, der, wie Georg Lukács es genannt hat, einen Zustand „transzendentale[r] Obdachlosigkeit“ produziert.2 In diesem Prozess hat der moderne Mensch seine Einbettung in spirituelle Sinnstrukturen verloren. Vor nun bald hundert Jahren war für Lukács die Romanlektüre eine Möglichkeit, mit diesem Problem umzugehen: In Literatur lässt sich eintauchen, man kann eine andere Welt imaginieren. Aus unserer Sicht ist das Revival von Esoterik und anderen Formen spiritueller Sinngebung ein Hinweis darauf, dass es heute immer noch eine große Nachfrage nach transzendentalem Obdach gibt. Gerade in einer weitgehend durchrationalisierten Gesellschaft, in der die spätmoderne Marktwirtschaft selbst zur Kultur wird, besteht ein Sinndefizit. Ein weiterer zentraler Faktor, den wir für den libertären Autoritarismus feststellen konnten, die antiautoritäre Erziehung, scheint im ersten Moment paradox. Die nach dem Krieg geborenen Angehörigen der BabyboomerGeneration (in Deutschland ungefähr die Jahrgänge 1955-1970) wurden zwar noch stärker autoritär erzogen. Für jüngere Kohorten gilt das in diesem Ausmaß allerdings nicht mehr, weder für die familiäre noch die schulische und politische Sozialisation. Sie waren die meiste Zeit ihres Lebens links, liberal oder gemäßigt konservativ. Sie partizipierten an einer demokratischen Ordnung, die sie in vielen Bereichen kritisierten, aber insgesamt akzeptierten. Doch seit Beginn der Coronakrise begreifen sie sich als erweckt oder erwacht und sehen die Gesellschaft auf dem Weg in die Diktatur oder längst dort angekommen. Die Trope des Erwachens fanden wir durchgehend im empirischen Material. Dies war insofern umso erstaunlicher, als sich ja nicht wenige von ihnen explizit oder implizit von den woken (also ebenfalls erwachten) Vertreter:innen der sogenannten „Identitätspolitik“ abgrenzen und sich stark auf ihren eigenen Resonanzraum zurückziehen. Die von uns untersuchten libertär-autoritären Erwachten machen nur einen kleinen Teil der Bevölkerung aus, allerdings ist bei ihnen ein erstaunliches Einschrumpfen sozialer Kreise festzustellen. Gerade bei den regressiven Rebellen hat sich die Welt verkleinert, sie haben viele Kontakte verloren. Bei den Querdenker:innen oder gefallenen Intellektuellen stellt sich die Sache freilich etwas anders dar: Während der Pandemie drangen Konflikte um Freiheit und Solidarität tief in den privaten Alltag ein. Freundschaften und Verwandtenkreise zerbrachen, jahrzehntealte Bande wurden innerhalb weniger Wochen oder Monate getrennt. Doch schnell fanden die Querdenker:innen in Neogemeinschaften des Misstrauens eine neue Heimat, manche sogar eine intellektuelle. Trotz ihrer scharfen Kritik an der liberalen Demokratie verstehen sich die libertären Autoritären als Demokraten – und begeben sich dennoch auf 2 Georg Lukács, Die Theorie des Romans, Darmstadt und Neuwied 1971 [1916], S. 32.

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110 Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey den rutschigen Abhang der antipolitischen Demokratie, der Abhängigkeitsleugnung und verdinglichten Freiheit. Gleichwohl sind es in der Regel keine faschistoiden Persönlichkeiten, als die Adorno noch jene betrachtete, die hohe Werte auf der F-Skala erzielten. Die libertären Autoritären der Gegenwart sind dagegen demokratisch sozialisiert und bekennen sich zu partizipativen Werten – haben jedoch oft keine Berührungsängste mit Faschist:innen. Sie sind von der Demokratie derart enttäuscht, dass ihre autoritäre Drift droht, nicht nur vorübergehend eine Rechtskurve zu nehmen, sondern diese auch beizubehalten. Allerdings muss es nicht so weit kommen – dazu am Ende mehr.

Staatskritik und die Paradoxien des Fortschritts Die libertären Autoritären richten ihren Zorn in erster Linie auf den modernen Staat. Dieser ist schon lange kein Klassenstaat Bismarckscher Prägung mehr, sondern ein komplexer Interventionsstaat, also ein Instrument zur Durchsetzung sozialer Fortschritte. Und gleichzeitig reproduziert er Ungleichheiten, Klassenlagen und Ausschlüsse. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Rolle des Staates noch einmal erheblich verändert. Zwar hat er auch weiterhin die strategische Funktion, den Kapitalismus am Laufen zu halten und die ihn tragenden Klassenstrukturen zu stabilisieren. In ihm verdichten sich aber auch die Konflikte um normative Fortschritte, und gerade angesichts wachsender globaler Risiken ist er nicht mehr nur der ideelle „Gesamtkapitalist“ (wie Friedrich Engels ihn nannte), sondern auch der reale „Gesamtvergesellschafter“ – er sieht sich verantwortlich für die gelingende Reproduktion sozialer Beziehungen. In der Pandemie haben sich beispielsweise die Ungleichheiten nicht verringert, mitunter sogar verschärft; aber der Staat hat eine Politik des universellen Gesundheitsschutzes betrieben. In der Vergangenheit zielte die Kritik am Staat (vor allem von links) insbesondere darauf, dass er letztendlich nichts gegen die Ungleichheiten unternehme, ja sie am Leben erhalte und sogar noch steigere. In der Wahrnehmung klassischer Neoliberaler stellte er hingegen eine Bedrohung für die Funktionsfähigkeit der Märkte und der Wettbewerbsfähigkeit dar. Für die libertären Autoritären der letzten Jahre erscheint er nun als Maschine, die individuelle Freiheiten einschränkt – sei es durch Inklusionspolitik, Multikulturalismus oder durch das Erzwingen von Solidarität in der Pandemie. Einige soziale Gruppen, darunter Männer höheren Alters, büßen ihre unangetastete Machtposition ein – und deuten dies als Freiheitsverlust. Die normative Demokratisierung, Inklusion und Egalisierung der Gesellschaft beschränken die subjektiven Freiheiten derer, die sie zuvor in ihrer Klassen- und Hierarchieposition genossen haben. An der staatlichen Macht und ihrer Kritik kristallisieren sich die meisten Fragen heraus: Libertäre Autoritäre sehen sich durch den Staat in der Ausübung ihrer unveräußerlichen Freiheiten eingeschränkt. Viele von ihnen

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Libertär und autoritär 111 betrachten sich als Opfer vermeintlicher progressiver, „linksliberaler Kosmopolit:innen“, die sich des Staates, der Universitäten und der Medien bemächtigt haben. So entsteht aus ihrer Sicht eine neue Frontstellung: der Antagonismus zwischen einer illiberalen Herrschaft linksliberaler Eliten und einer demokratischen Mehrheit, zwischen einem universitär gebildeten Zentrum und einer hart arbeitenden Peripherie – wobei die Kosmopolit:innen in urbanen Milieus angeblich auf Letztere herabblicken.3 Wechselseitige Ressentiments zwischen Stadt und Land, Arbeiter:innen und Angestellten etc. hat es schon immer gegeben; real sind allerdings die neuen Machtverschiebungen im Staat. Exklusionen und Ungleichheiten in den Statusordnungen wurden sukzessive verringert. In diesem Sinne ist es genau umgekehrt, als von der sentimentalen Freiheitsnostalgie („Früher konnte man noch alles sagen!“) suggeriert wird: Frauen beispielweise konnten in den retrospektiv idealisierten Zeiten eben keineswegs alles sagen oder tun, dazu hatten sie weder die Macht noch die notwendigen Sprechpositionen. So wurde in der Schweiz das allgemeine Frauenwahlrecht erst 1971 eingeführt, und in der Bundesrepublik galt bis 1977 die Hausfrauenehe, das heißt, der Ehemann hatte beispielsweise das Recht, die Arbeitsstelle seiner Gattin zu kündigen. Dass damals viele Dinge gesagt oder getan werden konnten, die heute als anstößig gelten, hat weniger mit einem Verfall der Meinungsfreiheit als vielmehr damit zu tun, dass damals niemand die Macht hatte, solchen Äußerungen zu widersprechen. Und dass außerdem damals eine Art Schere im Kopf existierte: Viele kamen gar nicht erst auf die Idee, gegen sexistische Konventionen oder rassistische Bezeichnungen aufzubegehren.

Der Preis der Egalisierung: Ein neues Tocqueville-Paradox Auch heute existieren Diskriminierungen fort, etwa im Haushalt, bei der Vergabe von Führungspositionen und vor allem beim Einkommen. Aber zumindest normativ war der Anspruch auf Gleichheit nie so weit fortgeschritten wie in der Gegenwart. Die affektiven Aufladungen aktueller Konflikte resultieren nicht aus einer neuen Empfindlichkeit, sondern aus Machtfragen, die im Register der Moral ausgetragen werden. Die erkämpften Fortschritte haben sich kumuliert und ein neues Tocqueville-Paradox hervorgebracht: Gerade die Verringerung der Ausschlüsse hat dazu geführt, dass sich infolge der eingetretenen Sensibilisierung der Kampf gegen Diskriminierung, NichtRepräsentation und Nicht-Berücksichtigung aufgrund von Geschlecht oder Ethnie noch verschärfte. Die Ausweitung von demokratischer Inklusion und Egalisierung hat jedoch einen Preis, der die Freiheitskonflikte der Gegenwart befeuert. Zum einen wurden parallel zu demokratischen Inklusionen soziale Rechte abgebaut. 3 Wir würden nicht bestreiten, dass es unangenehme, als herablassend wahrnehmbare Wortmeldungen von Linksliberalen gibt. Dass solche Konflikte real häufiger auftreten, halten wir allerdings nicht für ausgemacht.

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112 Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey Insbesondere für Arbeitnehmer:innen, Arbeitslose und Arme bedeutete dies eine Reduzierung individueller positiver Freiheitsrechte. Für die etablierten Eliten dagegen liefen die Egalisierung und die Inklusion bisher exkludierter Gruppen auf einen Machtverlust hinaus. In diesem neuen Machtkampf verhalten sich Linksliberale nicht selten genau wie diejenigen, die ihre Privilegien nun teilweise eingebüßt haben: wie Eliten. Sie bekämpfen die Konkurrenz und gehen dabei nicht zimperlich vor. Indem der Linksliberalismus, wenn er als „progressiver Neoliberalismus“ auftritt, jedoch materielle soziale Fragen ignoriert, hat er es nicht nur in ihrem Freiheitsverständnis gekränkten, libertären Autoritären erlaubt, sich als Vertreter der „kleinen Leute“ zu gerieren. Von dieser Gelegenheit machen auch Rechtspopulisten eifrig Gebrauch. Libertäre Autoritäre kämpfen aus ihrer Sicht gegen eine Diktatur, sie sehen sich als Heroen im Namen der Demokratie, unterlaufen jedoch demokratische Normen. Das ist zuweilen verwirrend. Zur Unordnung unserer Tage gehört ein gewisses babylonisches Sprachgewirr: Auch diejenigen, die Demokratie und Freiheit subversiv zersetzen wollen, tun dies im Namen von Demokratie und Freiheit. Die häufig anzutreffende Sprache der Emanzipation und Herrschaftskritik, die jedoch in ihrer Bedeutung verkehrt wird, reflektiert auch die Schwäche traditioneller progressiver Bewegungen, die sich entweder deradikalisiert haben oder in die staatlichen Institutionen eingezogen sind – oft sogar beides zugleich. Ältere emanzipatorische Bewegungen zogen ihre Kraft aus dem gemeinsamen Kampf gegen Stände, Hierarchie und Herrschaft, gegen Könige und die Kirche. Sie stritten für eine allgemeine Befreiung, für eine demokratische Gesellschaft der Bürger:innen, für eine Demokratie, die sich selbst konstituierte, regierte und kontrollierte. Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts glaubten viele Beobachter:innen, Freiheitsbewegungen hätten diese Kraft eingebüßt, da die große Disruption – die Konstitution von Bürgerrechten und Demokratie – bereits passiert war. Ab jetzt ging es eher um die inkrementelle Ausdehnung individueller Rechte. Damit veränderte die Kritik aber ihren Standort, ging es ihr doch nicht länger um die Transformation der kapitalistischen Totalität, sondern allein um ihre Korrektur. Grundsätzliche und umfassende Kritik an der kapitalistischen Moderne ist seither kaum noch vernehmbar – und wenn doch, dann praktisch ohne jede Chance auf praktische Umsetzung. Die traditionelle Herrschaftskritik ist schwach und orientierungslos, sie weist so viele blinde Flecke auf, dass sie im Dagegensein keine Orientierung und keinen Halt mehr bietet. Da die progressiven Kräfte sich nach dieser Metamorphose nicht länger gegen den Staat, gegen die Doxa der Medien (wo sie nun selbst einflussreiche Positionen bekleiden) oder gegen die biopolitischen Regierungsmaßnahmen zur Wehr setzen und da sie aus der Sicht zahlreicher Menschen nicht länger gesellschaftskritisches Denken, ja den „Volkswillen“ repräsentieren, haben linke Parteien oder soziale Bewegungen, die für ein kollektives Realitätsprinzip stehen, als Stimme der Herrschaftskritik ihre Glaubwürdigkeit verloren,

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Libertär und autoritär 113 während der libertäre Autoritarismus diese Leerstelle der Kritik zunehmend besetzt.

Der neue »Extremismus der Mitte« und die neuen Wahrheitskonflikte Ist der libertäre Autoritarismus möglicherweise nur ein temporäres Phänomen? Oder wird er spätmoderne Gesellschaften dauerhaft begleiten? Die Flüchtlingskrise von 2015 wurde relativ erfolgreich bewältigt, und auch die Coronapandemie wird irgendwann vorbei sein. Möglich auch, dass sich die Konflikte im intellektuellen Feld bereinigen, sei es durch Klärung, Annäherung oder schlicht, weil eine neue Generation Intellektueller nachrückt, die weniger unversöhnlich ist. Dennoch ist zu befürchten, dass es selbst in solch eher optimistischen Szenarien mit dem libertären Autoritarismus so schnell nicht zu Ende gehen wird. Vielmehr erkennen wir hier Symptome des „wachsende[n] Potential[s] eines ganz neuen, in libertären Formen auftretenden Extremismus der Mitte“, wie ihn Jürgen Habermas mit Blick auf die Coronaproteste ausgemacht hat.4 Was uns mit großer Wahrscheinlichkeit auch nach der Pandemie noch beschäftigen wird, ist die Epidemie der Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien. Dies hat mit der veränderten Ordnung von Wissen, Expertise und Handlungsfähigkeit in spätmodernen Gesellschaften zu tun. Alexander Bogner sieht in den diversen Bewegungen von „Konsensleugnern“ einen „ideologischen Feldzug gegen die Kolonialisierung der Gesellschaft durch die Wissenschaft“. Einerseits ist der Zugang zu Informationen demokratisiert, andererseits versteht man durch den Fortschritt in den Wissenschaften, ihre Spezialisierung und der damit einhergehenden Wissenskomplexität am Ende weniger von der Welt, die einen umgibt. Dennoch will man auch weiterhin ein gleichberechtigtes Subjekt im Diskurs sein, allerdings weniger wegen des eigenen Wissens als vielmehr mit der eigenen Meinung. In diesem Kontext ist es hilfreich, zwischen Fake News und Postfaktizität zu unterscheiden. Erstere sind im wesentlichen Falschaussagen, die als Fakten ausgegeben werden, während Postfaktizität als Haltung auf einen tieferen epistemischen Wahrheitskonflikt hindeutet. Postfaktizität meint in dieser Hinsicht das Pochen darauf, dass die eigene Meinung, das eigene Gefühl das gleiche Gewicht in der Bewertung einer Situation haben soll wie wissenschaftliche Evidenz.5 Hier scheint uns eine entscheidende Pathologie in der Gleichzeitigkeit von Nicht-wissen-Können und Partizipationsansprüchen zu liegen, auf der die postfaktische Politik der libertären Autoritären basiert. Sie wollen, dass alle (aber in erster Linie ihre) Meinungen berücksichtigt werden. In diesen Kon4 Jürgen Habermas, Corona und der Schutz des Lebens. Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation, in: „Blätter“, 9/2021, S. 65-78. 5 Vgl. Frank Fischer, Truth and Post-Truth in Public Policy, Cambridge 2021, S. 6 f.; Rose McDermott, Psychological underpinnings of post-truth in political beliefs, in: „Political Science & Politics“, 2/2019, S. 218-222, S. 219.

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114 Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey flikten belegen libertäre Autoritäre ihre Ansichten mit protowissenschaftlicher Evidenz, Gerüchten auf Telegram oder schlichten Fake News. Auch klassische Herrschaftskritik rekurriert natürlich auf eigene Empfindungen, auf der subjektiven Wahrnehmung einer Sache. Bei den libertären Autoritären sind die Register der Kritik jedoch oft verrückt, schiefgestellt oder vertauscht, damit sie am Ende der ohnehin bereits zuvor gefassten Meinung entsprechen. Es ist der beschleunigte soziale Wandel, der Verschwörungstheorien heute einen stärkeren Resonanzboden als früher verschafft. Denn es gibt schlicht keinen Transmissionsriemen, über den sich Ohnmachtsgefühle in rationale Herrschaftskritik übersetzen ließen. Und so kapitulieren die libertären Autoritären vor den Komplexitätszumutungen der spätmodernen Welt. Die positive Konsequenz: Falls sich die Verhältnisse beruhigen, falls wieder eine gewisse „Normalität“ einkehren sollte, finden möglicherweise auch wieder Menschen aus ihrem epistemischen Widerstand gegen die Realität heraus. Doch damit wären die Probleme noch lange nicht gelöst, denn es ist ja gerade die vermeintliche Normalität, die die Voraussetzungen sozialer Kränkungserfahrungen so umfassend produziert hat. Was passiert also, wenn wir nicht mehr zur Normalität zurückkehren, was ja, horribile dictu, gar nicht so unwahrscheinlich ist? Wenn die spätmodernen Gesellschaften in eine Abfolge – teilweise parallel laufender – schwerwiegender Krisen geraten, die jeweils neue Einschnitte und Freiheitseinschränkungen bedeuten?

Zukunft ohne Normalität Von einigen Problemen wissen wir bereits heute, dass sie kommen werden. Schon jetzt ist klar, dass der Klimawandel eine dauerhafte Herausforderung für die Weltgesellschaft sein wird. Andere Großkrisen hätten wir erahnen können, wieder andere, wie die Pandemie, haben so eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass uns ihr Auftreten immer als singuläres Ereignis überraschen wird. Durch die Globalität spätmoderner Gesellschaften greifen die Krisen ineinander und verstärken sich wechselseitig: Corona und der Ukrainekrieg beispielsweise gefährden zusammen globale Lieferketten und die Nahrungsmittelversorgung. Die Verknappung in den entsprechenden Feldern treibt wiederum die Inflation an, die in der lockeren Geldpolitik der letzten Jahre angelegt war, die ihrerseits auf globale ökonomische Probleme reagierte. Auch wir können nicht vorhersagen, welche Risiken sich realisieren werden, wir halten es dennoch für mehr oder weniger ausgeschlossen, dass die spätmodernen Gesellschaften auf einen Pfad linearen Fortschritts zurückkehren und eine dauerhaft stabile alltägliche Normalität erreichen werden. Deshalb fürchten wir, dass der libertäre Autoritarismus so schnell nicht wieder von der Bildfläche verschwinden wird. Das deutete sich bereits im Sommer 2022 an: Personen, die die Coronamaßnahmen übertrieben fanden,

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Libertär und autoritär 115 sahen nun auch in der Berichterstattung über den Ukrainekrieg eine künstliche Dramatisierung oder gar eine willkommene Ablenkung von der Coronapolitik.6 In vielen Telegram-Gruppen der Querdenker-Szene wurde der Angriff Russlands relativiert oder sogar gerechtfertigt.7 Dabei wird – soweit wir das derzeit einschätzen können – allerdings nicht unbedingt eine autoritäre Idealisierung Putins vorgenommen. Dies würde der Vorstellungswelt der libertären Autoritären auch gar nicht entsprechen. So sehnten sich in unserem Survey 2020 nur wenige Querdenker:innen nach einem starken Führer. Und in nach dem 24. Februar 2022 geführten Interviews galt Putin ebenfalls als unattraktive Figur. Allerdings wurde der Krieg teilweise als Konstrukt des Westens betrachtet. In unserem Survey war die Zustimmung zu verschwörungstheoretischen Aussagen zum Klimawandel zwar eher schwach ausgeprägt, aber schon jetzt ist absehbar, dass Coronaskeptiker:innen und Verschwörungstheoretiker:innen auch Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels stärker ablehnen werden. Und so halten wir es für denkbar, dass sich in kommenden Krisen weitere verquere Fronten bilden werden, die sich über eine schiefgestellte Herrschaftskritik verbinden, ergo sich auch in der Zukunft nicht abschwächen werden.

Soziale Freiheit und Demokratie Horkheimer und Adorno beschäftigten sich in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ mit der Frage, wie Fortschritt sich in sein Gegenteil verwandeln, wie die Menschheit, statt „in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei“ versinken kann.8 Eine Antwort lautete, dass die Aufklärung sich selbst zerstöre, wenn sie zu einem positivistisch durchdrungenen Mythos werde. Sie hatten dabei eine Wissenschaft vor Augen, die ihre gesellschaftliche Funktion nicht reflektiert, eine Technologie, deren Folgen nicht in den Blick geraten, und einen Markt, dessen historische Funktion der Befreiung aus feudalen Banden in eine selbstzweckhafte Apotheose kapitalistischer Beziehungen überführt wurde. Ihre Skepsis erweist sich auch in der Gegenwart noch als hochaktuell. In drei zentralen Feldern – der Austeritätspolitik der vergangenen 25 Jahre, der konkreten Form der Pandemiepolitik wie der absolut gesetzten neoliberalen Marktwirtschaft – verschmelzen heute scheinbare Sachzwänge, die hinter ein Grundprinzip der Aufklärung zurückfallen: das Denken in Alternativen. Horkheimer und Adorno waren zutiefst davon überzeugt, dass „die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist“. Aufklärung müsste demnach stärker selbstreflexiv sein, stärker in Alternativen 6 Vgl. dazu etwa Umfragedaten des COSMO-Projekts, die online verfügbar sind unter: https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/ web/topic/vertrauen-ablehnung-demos/30-verschwoerung. 7 „‚Querdenker‘ für Putin“, www.tagesschau.de, 4.3.2022. 8 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt a. M. 1985, S. 16.

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116 Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey denken – und diese auch öffentlich zur Wahl stellen. Eine spätmodern erneuerte Aufklärung wäre gefordert, die Produktionsbedingungen wissenschaftlicher Evidenz bei ihrer Interpretation zu berücksichtigen, sodass sie nicht in einen Positivismus zurückfällt, bei dem die Aufklärung zu einem „Mythos dessen [wird], was der Fall ist“.9 War die Austerität der vergangenen 25 Jahre alternativlos? Nach mehrmaligem Einsatz finanzieller Bazookas wissen wir heute, dass sie das nicht war, dass vielmehr politische Motive im Vordergrund standen. War die konkrete Form der Pandemiepolitik alternativlos? Sicher nicht in Gänze. Sie war auch das Resultat einer wenig vorausschauenden Politik und mangelnder systematischer Vorsorge. Dabei war das Risiko einer Pandemie schon lange bekannt. Ist die neoliberale Marktwirtschaft alternativlos? Keineswegs. Aber sie wird als einzig mögliche Alternative zu autoritären Regimes wie in China oder Russland präsentiert. Dass auch andere Alternativen denkbar sind, etwa eine Wirtschaftsdemokratie, findet im öffentlichen Diskurs kaum Widerhall. Viele der konkreten und sich verschärfenden Auseinandersetzungen der Gegenwart resultieren aus einem Konflikt um Demokratie und staatliches Handeln. Regierungen müssen häufig sehr schnell auf Ereignisse reagieren, für die es noch kein erprobtes Skript gibt.

Es fehlt eine selbstreflexive Haltung, ein kollektives Lernen In der real existierenden Demokratie wurde häufig falsch oder zu langsam gehandelt. Gewiss, Fehler werden immer gemacht, das gehört zur Politik. Zuweilen werden Maßnahmen dann auch noch dezisionistisch, mitunter autoritär exekutiert. Was jedoch regelmäßig ausbleibt, ist ihre systematische Aufarbeitung, eine selbstreflexive Haltung, ein kollektives Lernen. Beispiel Coronapandemie: Bis heute haben weder Politiker:innen noch Behördenvertreter:innen selbstkritisch erklärt, warum zuerst behauptet wurde, man müsse keine Maske tragen, ja dass dies möglicherweise sogar schädlich sei. Und im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine findet eine solche Selbstkritik nun zwar statt, allerdings teilweise mit umgekehrten Vorzeichen: Man gesteht zwar ein, sich bezüglich des faschistoiden Charakters der Putin-Diktatur geirrt zu haben, reagiert nun aber selbst angesichts vorsichtig vorgetragener Kritik wie jener von Jürgen Habermas am teils bellizistischen Ton mancher Forderungen mit Spott und Häme. Natürlich muss die Politik am Ende kollektivbindende Entscheidungen treffen, sie kann und sollte aber erstens stärker die Alternativen offenlegen und so den Bürger:innen die jeweiligen Konsequenzen erläutern, statt sich auf Sachzwänge zu berufen. Zweitens erscheint uns eine weit ausgeprägtere Form der Selbstreflexion und gegebenenfalls auch Selbstkritik angebracht. 9 Ebd., S. 14.

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Libertär und autoritär 117 Ein dritter Punkt wäre schließlich der Ausbau der Institutionen und der normativen Grundlagen der Freiheit: Soll sie mehr sein als bloß negative Freiheit, müssen wir sie als etwas zutiefst Soziales begreifen; sie beruht schließlich auf einem Geflecht subjektiver Rechte und institutioneller Voraussetzungen.10 Deshalb wird gerade ökonomische, politische und soziale Planung in der ausgehenden Spätmoderne zu einer Garantin individueller Freiheit. Erforderlich ist daher ein Sozialstaat, der die Risiken des Lebens wirksam abfedert, ein Gesundheitssystem, das auf kommende Pandemien vorbereitet, und ein Katastrophenschutz, der in der Lage ist, auf extreme Wetterereignisse zu reagieren. Für all das ist aber ein erneuertes Verständnis von Individualismus unabdingbar. Individuen sind wir immer nur in Kopräsenz mit anderen Individuen, mit der Gesellschaft und der Natur.11 Dies spricht keineswegs gegen Selbstverwirklichung oder Singularisierung. Sie müssen sich aber im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen entfalten und nicht auf die Sezession aus dem Gemeinwesen zielen. Die Freiheit der Zukunft braucht Solidarität. Denn wie Axel Honneth in „Das Recht der Freiheit“ argumentiert, ist der Mensch erst wirklich frei, wenn er „im Rahmen institutioneller Praktiken auf ein Gegenüber trifft, mit dem [ihn] ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung deswegen verbindet, weil [er] in dessen Zielen eine Bedingung der Verwirklichung seiner eigenen Ziele erblicken kann“. Honneth hat hier eine Gesellschaft vor Augen, in der eine demokratische Sittlichkeit vorherrscht. Solch eine Gesellschaft würde gerade die Individualität nicht zu lebloser Konformität einkochen, sondern sie im Gegenteil erst zur wirklichen Entfaltung bringen. Bis dahin ist es jedoch ein weiter Weg. Ein erster Schritt läge darin, wieder in gesellschaftlichen Alternativen zu denken, Optionen offenzuhalten und nicht den Status quo als die beste aller Welten zu affirmieren, weil die real existierenden Alternativen allzu grausam erscheinen. Die dafür erforderliche Demokratisierung der Demokratie wie der Wirtschaft ist im Möglichkeitsraum der Welt durchaus angelegt. Sie würde den gewachsenen Partizipationsansprüchen der Menschen entgegenkommen und ihre Entfremdung von einer politischen Ordnung reduzieren, die für sie im Alltag oft nur mittelbar erfahrbar und damit ein abstraktes Prinzip ist. Alternativen entstehen jedoch erst in Konflikten. Der französische Philosoph Miguel Abensour tritt daher für eine rebellierende Demokratie ein, die den Staat herausfordert, die Demokratie dadurch erneuert und in eine wahrhafte Demokratie verwandelt. Damit ist er alles andere als ein Theoretiker des Querdenkertums, sondern plädiert vielmehr für das genaue Gegenteil: eine vitale Herrschaftskritik von unten, die die Realität nicht bestreitet, sondern versucht, die Verhältnisse zum Besseren zu verändern.

10 Elisabeth Anker kritisiert den Begriff der negativen Freiheit weitergehend als üble Freiheit („ugly freedoms“), da er auch das Recht beinhalte, andere auszubeuten und zu unterjochen und das Klima zu zerstören; vgl. Elisabeth R. Anker, Ugly Freedoms, Durham 2022. 11 Vgl. Benjamin Bratton,The Revenge of the Real. Politics for a Post-Pandemic World, London 2021.

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DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem: • »Die Erhöhung der staatlichen Parteienfinanzierung ist verfassungswidrig« Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, 24.1.2023 • »Ein Tempolimit von 120 km/h auf deutschen Autobahnen könnte Treibhausgasemissionen in Höhe von 6,7 Mio. Tonnen CO2-Äquivalente einsparen« Studie des Umweltbundesamtes, 23.1.2023 • »Die ukrainische Bevölkerung schaut auf uns. Der Kreml schaut auf uns. Und die Geschichte schaut auf uns. Also werden wir nicht nachlassen« Eröffnungsrede beim Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe von US-Verteidigungsminister Lloyd J. Austin, 20.1.2023 • »Die Stimmen des fossilen ›Weiter so!‹ sind noch viel zu laut in der Gesellschaft« Erklärung zur Räumung in Lützerath, 18.1.2023 • »Das Steuersystem spielt eine Schlüsselrolle bei der direkten Verringerung von Armut und Ungleichheit« Bericht von Oxfam, 16.1.2023 • »Weltweit leiden mindestens 65 Millionen Menschen an Long Covid« Studie in »Nature Review Microbiology«, 13.1.2023 (engl. Originalfassung) • »Exxon Mobil wusste aufgrund eigener Studien schon seit Jahrzehnten von den Folgen des Verfeuerns fossiler Brennstoffe für das Klima« Studie der Forschenden der US-Universität Harvard und des Potsdam-Institus für Klimafolgenforschung (PIK), 12.1.2023 (engl. Original) • »Wir haben mit über 700 000 fehlenden Wohnungen das größte Wohnungsdefizit seit mehr als zwanzig Jahren« Pressemitteilung des Deutschen Mieterbundes, 12.1.2023 • »Lützerath ist ein Symbol für die notwendige Abkehr vom fossilen Zeitalter geworden« Offener Brief der Scientists for Future Deutschland, 11.1.2023 • »Erstmaliger Rückgang der menschlichen Entwicklung nach jahrzehntelangem Fortschritt« Global Risk Report 2023 des Weltwirtschaftsforums, 11.1.2023 (engl. Original) • »Die Twittersperren gegen Journalisten sind eine fatale Einschränkung der Pressefreiheit« Pressemitteilung des Deutschen Journalisten-Verbands, 16.12.2022 • »Dies ist kein Krieg zwischen zwei Staaten, sondern ein Krieg zwischen zwei Systemen: Autoritarismus und Demokratie« Dankesrede zum Friedensnobelpreis von Oleksandra Matviichuk des Center for Civil Liberties, 10.12.2022 (engl. Original)

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Der Staat als Feind: Reichsbürger und Sovereign Citizens Von Thomas Greven

A

ls die Polizei im Dezember des vergangenen Jahres die Putschpläne einer Gruppierung von Reichsbürgern durch die Festnahme von 25 Personen vereiteln konnte, rieben sich viele Bundesbürger die Augen. Wer waren diese Möchtegernumstürzler? Die Aufmerksamkeit der hiesigen Medien lag vor allem auf der Führungsrolle des ominösen Heinrich XIII. Prinz Reuß. Zudem war stets von einer „Reichsbürger-Bewegung“ die Rede, die nach dem Vorbild des „Deutschen Reichs“ einen neuen Staat anstelle der von ihnen als illegitim betrachteten Bundesrepublik errichten wollte. Diese Fokussierung war durchaus verständlich, waren doch die Flaggen des Kaiserreichs bereits während der versuchten Stürmung des Reichstags im August 2020 und bei vielen Querdenker-Demos im Zuge der Proteste gegen die Coronamaßnahmen präsent gewesen.1 Allerdings handelt sich bei den Reichsbürgern mitnichten um eine kohärente Bewegung (zumal es nicht nur einen, sondern reichlich Anwärter auf die Führungsrolle gibt, etwa den selbsterklärten „Reichsbürgerkönig“ Peter Fitzek). Letztlich haben wir es eher mit einer äußerst heterogenen Szene mit ganz unterschiedlich motivierten Einzelakteuren zu tun. Und so wichtig nationale Mythen für die „rechten Systemsprenger“ (Thomas Assheuer)2 sind: Die enorme internationale Präsenz antistaatlicher Bestrebungen zeigt, dass der Mythos des Kaiserreichs nur eine spezifisch deutsche Variante eines viel weiter verbreiteten Denkens ist. Dass die ideologischen und mythologischen Grundlagen antistaatlichen Denkens und Handelns meist opportunistisch gewählt werden, macht sie allerdings nicht weniger gefährlich, eher im Gegenteil. Die Zahl der antistaatlichen Akteure steigt stetig an, so wie auch die individuelle und kollektive Gewaltbereitschaft bei Reichsbürgern und im Querdenkermilieu. Auch wenn das Bundesamt für Verfassungsschutz nur einen Teil der auf 23 000 Menschen geschätzten Reichsbürgerszene für rechtsextrem hält, hat es 2021 die neue Bedrohungskategorie „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates” geschaffen. Bei den Reichsbürgern handelt es sich keineswegs um ungefährliche Spinner, was man mit Blick auf ihre abstrus erscheinenden Vorstellungen

1 Jakob Guhl und Dominik Hammer, Die Reichsbürger-Bewegung, www.isdglobal.org, 2022. 2 Thomas Assheuer, Rechte Systemsprenger. Die Politik mit dem Mythos, in: „Blätter“, 1/2023, S. 49-60.

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120 Thomas Greven durchaus meinen könnte. Gerade ihre ideologische und mythologische Flexibilität eröffnet vielen unterschiedlichen Akteuren wie Querdenkern und Verschwörungsgläubigen Anknüpfungsmöglichkeiten – und zwar weit über Deutschland hinaus. Insbesondere angesichts der wachsenden Verbreitung des antistaatlichen Gedankenguts in Sicherheitskreisen ist die weltweite Bedrohung der demokratischen Institutionen offenkundig.

Keine deutsche Besonderheit Dass gesellschaftliche Akteure die Legitimität ihres eigenen Staatswesens mit selbst konstruierten historisch-ideologischen und pseudojuristischen Begründungen infrage stellen, ist keine deutsche Besonderheit, sondern trat zuerst in den 1950er Jahren in den USA auf. Insbesondere die sogenannte Posse Comitatus (Macht für das Land) erlangte in den frühen 1970er Jahren eine gewisse Bekanntheit. Ihre Anhänger bezogen sich auf die Ablehnung der Eingriffe der Bundesregierung in den Südstaaten nach dem Ende des Bürgerkriegs und griffen auch auf den Mythos der „Frontier“, des Wilden Westens, zurück. Höchste Autorität sind für diese sogenannten Sovereign Citizens die gewählten Sheriffs auf der Ebene der Landkreise (counties).3 Als Sovereign Citizens werden nicht nur in den Vereinigten Staaten Individuen und Gruppierungen bezeichnet, die eine eigene Souveränität jenseits der existierenden staatlichen behaupten. Eine überzeugende deutsche Begrifflichkeit gibt es jenseits von „Reichsbürgern“ bisher nicht, diese aber stellen nur eine spezifisch deutsche Variante des „Souveränismus“ dar. Die zahlreichen Gruppierungen und Individuen aus der amerikanischen Szene der Sovereign Citizens bestreiten die Legitimität der Bundesregierung und der Bundesgesetze auf unterschiedliche Weise. Einige sind der Überzeugung, dass die Regierung im 19. Jahrhundert – oder auch erst durch die Aufgabe des Goldstandards im 20. Jahrhundert – von bösen Mächten in einen Konzern („corporation“) verwandelt worden sei. Wenig überraschend hat diese Theorie oft antisemitische Untertöne. Andere behaupten, dass der 1868 ratifizierte 14. Verfassungszusatz, der die befreiten Sklaven zu Staatsbürgern machte, eine Staatsbürgerschaft zweiter Klasse etablierte, die die „richtigen“ – also weißen – Bürger durch bürokratische Akte wie die Zuteilung einer Sozialversicherungsnummer, einer Postleitzahl oder eines Führerscheins aufgezwungen bekommen. Das Souveränitätsdenken kulminiert in der Überzeugung, dass man aus dieser Bindung zum als illegitim betrachteten Staat austreten kann und damit den Gesetzen der USA nicht mehr unterliegt. So erklären sich manche Sovereign Citizens mittels selbst hergestellter Dokumente zu „American State Nationals“, also zu Bürgern eines „ursprünglichen“ Staates, in dem Schwarze nicht über Bürgerrechte verfügen. Wie abstrus die Gedankengebäude der Sovereign Citizens mitunter sind, zeigt beispielsweise die „Strohmann“-Theorie, nach der man sich der 3 Christine Sarteschi, Sovereign Citizens. A Psychological and Criminal Analysis, Cham 2020; AntiDefamation League, Sovereign Citizen Movement, www.adl.org, 2017.

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Der Staat als Feind: Reichsbürger und Sovereign Citizens 121 behaupteten rein kommerziell-vertraglichen Beziehung zum Staat durch Verwendung alternativer Schreibweisen des eigenen Namens, mit roter Farbe oder gar Blut entziehen kann. Gemeinsam ist all diesen historischen Konstrukten, dass sie der US-Bundesregierung und anderen staatlichen Akteuren jede Legitimität absprechen und die Möglichkeit postulieren, sich eine eigene Souveränität zu schaffen. Nicht alle Akteure sind per se rechtsextrem, aber die Schnittmenge ist groß. Das Southern Poverty Law Center, das Extremismus in den USA dokumentiert und bekämpft, schätzt, dass es in den USA heute mindestens 300 000 Sovereign Citizens gibt, und listet viele ihrer Gruppierungen regelmäßig als sogenannte hate groups auf, die systematisch Hass verbreiten.4 Das FBI betrachtet die Bedrohung durch Sovereign Citizens sogar als inländischen Terrorismus.

Die Strategien der Sovereign Citizens Diese Einschätzungen haben auch mit den Mitteln zu tun, zu denen Sovereign Citizens regelmäßig greifen, um sich dem Zugriff des Staates zu entziehen – darunter Terry Nichols, einer der Beteiligten beim Bombenanschlag auf ein Gebäude der Bundesregierung in Oklahoma City 1995, bei dem 168 Menschen starben. Immer wieder werden Polizisten angegriffen; verschiedene Entführungs- und Folterpläne wurden vom FBI vereitelt. Doch auch die dominante Strategie des sogenannten paper terrorism ist keineswegs harmlos: Beamte, gewählte Politiker und andere, die sich bei Sovereign Citizens unbeliebt gemacht haben, werden dabei mit Anträgen, Beschwerden und Klagen überzogen, die regelmäßig Hunderte Seiten wild zusammengestellter pseudolegaler Argumente und Verweise umfassen. Wollen oder müssen die Betroffenen juristisch korrekt antworten, wird nicht nur die reibungslose Arbeit der Behörden unterminiert, sondern es entstehen auch erhebliche Kosten. Der gewünschte Effekt dieser Einschüchterungsversuche wird auch durch sogenannte liens erreicht, also die Anmeldung von Pfandrechten auf das Eigentum eines anderen, wodurch dessen Verfügung darüber beschränkt wird. Hierfür ist eine juristische Grundlage notwendig, doch in den USA ist es recht leicht, eine solche einfach zu behaupten – im Streitfall müssen dann wiederum die Gerichte bemüht werden, was für die Betroffenen äußerst kostspielig und lästig ist. Denn vor Gericht treten Sovereign Citizens extrem aggressiv auf. Sie bestreiten regelmäßig die Zuständigkeit und Legitimität des Gerichts und verlangen, sich selbst vertreten zu dürfen – was zum Scheitern von Verfahren führen kann, die dann wiederholt werden müssen. Im juristischen Sinne erfolgreich sind Sovereign Citizens selten, doch darum geht es ihnen auch nicht. Sie setzen vielmehr auf den politischen Effekt. Aus diesem Grund haben auch einige Angeklagte aus rechtsextremen Gruppierungen, die im Zusammenhang mit dem Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 vor 4 Southern Poverty Law Center, Sovereign Citizen Movement, www.splc-center.org, 2022.

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122 Thomas Greven Gericht stehen, zu Strategien der Sovereign Citizens gegriffen. So legte Greg Rubenacker einen handschriftlich verfassten Antrag auf Absetzung des Gerichts vor: „The United States District Court is a private for profit corporation. (It is not government owned).“5 Dies sorgt für Aufmerksamkeit und Unterstützung aus den sich überlappenden rechtsextremen Szenen.

Geschäftemachende Gurus Zur Verbreitung der Strategien der Sovereign Citizens trägt nicht zuletzt das opportunistische Kalkül bei, sich so Straf- oder Unterhaltszahlungen, Gebühren und Bußgeldern zu entziehen. Und zugleich lässt sich mit der Verbreitung der entsprechenden Strategien durch Seminare und Vorträge eine Menge Geld verdienen. Daher gibt es in der Szene auch diverse Gurus, die sich vor allem durch ihren Geschäftssinn auszeichnen. In den USA fanden die Sovereign Citizens inzwischen erstaunlicherweise auch eine kleine Anzahl Nachahmer in der afroamerikanischen Community, die ja von den meisten weißen Aktivisten aus der „wahren“ staatlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden sollen. Auch diese Gruppierungen, wie die in den 1990er Jahren in den Städten an der Ostküste entstandenen „Moors“ oder „Muurs“, sind heterogen, und es existieren auch hier verschiedene Argumentationsmuster, warum die Bundesregierung und andere staatliche Akteure nicht anerkannt und ihre Zugriffsrechte abgelehnt werden. Manche dieser Ideen einer spezifisch afroamerikanischen staatlichen Eigenständigkeit gehen auf pseudoreligiöse Überzeugungen zurück, etwa auf den 1913 gegründeten Moorish Science Temple of America. Andere beziehen sich auf die angeblich eigenständige Washitaw Nation in Louisiana. Auch in dieser Szene sind politische Aktivisten, zahlungssäumige Individuen und Geschäftemacher vertreten. Und auch unter ihnen steigt die Gewaltbereitschaft. So verteidigte sich Darrell Brooks, der an Weihnachten 2021 in Waukesha, Wisconsin, absichtlich in eine Menge gefahren ist und dabei sechs Menschen getötet hat, ausdrücklich mit Sovereign Citizen-Strategien: Er verlangte, dass das Gericht ihm seine Identität als Staatsbürger der USA beweist. Er forderte zudem immer wieder, dass die Richterin ihm beglaubigte Kopien ihres Amtseids aushändigt. Brooks wurde dennoch zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Fall wurde wiederum von weißen Rechtsextremisten als „Anti-Weiße Hasskriminalität“ ausgeschlachtet, weil Brooks in den sozialen Medien entsprechende Kommentare sowie antisemitische Positionen verbreitet hatte. Das Gedankengut der Sovereign Citizens hat inzwischen weit über die USA hinaus Verbreitung gefunden, vor allem durch das Internet und soziale Medien, aber auch durch persönliche Kontakte. So meldete der Sovereign Citizen Watcher – eine von der Expertin Christine M. Sarteschi geführte Website, die weltweit Meldungen sammelt – am 16. Januar einen noch unbe5 „Das Bezirksgericht ist ein privater, gewinnorientierter Konzern. Es ist kein Regierungseigentum“

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Der Staat als Feind: Reichsbürger und Sovereign Citizens 123 stätigten Fall aus der Ukraine, wo sich ein Mann mit Argumenten der Sovereign Citizens gegen seine Rekrutierung gewehrt haben soll – die Ukraine wäre damit bereits das 31. Land, in das sich die Szene ausbreitet.6

Grenzüberschreitende Verbreitung

Obwohl die historischen Mythen, an die die Sovereign Citizens anknüpfen, nationalspezifisch unterschiedlich sind, zeigen sich doch über den englischen Sprachraum hinaus erstaunliche Parallelen. Nämlich insbesondere bezüglich der verwendeten Strategien und des Vorwurfs, das abgelehnte Staatswesen sei in Wirklichkeit ein fremdgesteuertes Unternehmen. Auch hierzulande sind manche Reichsbürger davon überzeugt, dass die Bundesrepublik eine Firma ist, betitelt beispielsweise als „BRD GmbH“ oder als „Verwaltungskonstrukt“. Vor allem aber erweisen sich die Sovereign Citizens aufgrund ihrer ideologischen Flexibilität als äußerst anknüpfungsfähig für antistaatliche Aktivisten unterschiedlichster Couleur. Deren Zahl ist in vielen Ländern massiv gewachsen – insbesondere im Zuge der Auseinandersetzungen um die Covid-19-Pandemie. In Kanada etwa erklärte sich Romana Didulo zur „Queen of the Kingdom of Canada” und forderte ihre Anhänger zum Widerstand gegen die Coronamaßnahmen auf. Sie wurde festgenommen, nachdem sie Angehörige der Sicherheitskräfte dazu anhalten wollte, medizinisches Personal, das Kinder impfen wollte, zu erschießen. In England nutzten Impfgegner vielfach das Argument der Sovereign Citizens, dass nur die Magna Charta und das „common law“ für sie gültig seien. Und auch in Neuseeland und Australien haben Gruppierungen wie die Australian Sovereignty Alliance durch den Widerstandsdiskurs während der Pandemie massiven Aufwind bekommen. Nicht zuletzt ist das Gedankengut der Sovereign Citizens für einen kleinen, aber wachsenden Teil der Anhänger von Verschwörungsmythen wie QAnon attraktiv. Es stützt beispielsweise die Überzeugung, dass Joe Bidens Präsidentschaft illegitim ist. Da sich Q’s Voraussagen über Donald Trumps Sieg über den „deep state“ nicht bestätigt haben, haben sich einige Influencer aus der QAnon-Szene darauf verlegt, ihre Anhänger mit dem Gedankengut der Sovereign Citizens vertraut zu machen und sie dazu aufzufordern, Schritte zu unternehmen, um „American State Nationals“ zu werden. Trumps kurzzeitiger Sicherheitsberater Michael Flynn lobte dies als eine „großartige Aufklärung über unsere Rechte“.7 Besonders bedrohlich ist die Verbreitung des antistaatlichen Gedankenguts der Sovereign Citizens bei Armee und Polizei. Diese Verwicklungen entstehen meist durch ideologisch doktrinäre rechtsextremistische oder christlich-nationalistische Einflüsse. Doch die entlarvten Putschpläne der 6 Vgl. https://sovereigncitizenwatch.com. Neben vielen anglophonen und europäischen Ländern werden souveränistische Aktivitäten auch aus Singapur gemeldet. 7 Flynn hatte Kontakte zu ausländischen Stellen verschwiegen, wurde aber von Trump begnadigt.

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124 Thomas Greven Reichsbürger haben offengelegt, dass auch das ideologisch flexiblere Denken der Sovereign Citizens in Sicherheitskreisen anknüpfungsfähig ist. Auf die geplanten „Heimatschutzkompanien“ alleine wollten sich die Verschwörer allerdings für ihre Umsturzpläne nicht verlassen; sie setzten wohl auf die Intervention einer „Allianz“ von außen – insbesondere aus Russland, aber auch aus den USA. Angesichts der unter Reichsbürgern weit verbreiteten Vorstellung, die Bundesrepublik sei kein souveräner Staat, sondern nach wie vor ausländisch besetzt, wirkt dies besonders unausgegoren und bizarr. Um logische Konsistenz geht es allerdings bei alledem selbstverständlich nicht, sondern vor allem um individuelle politische Karrieren und Geschäftemacherei. Die verschiedenen Akteure sind Teil eines wachsenden Flickenteppichs aus ideologischen und verschwörungsmythologischen Versatzstücken, gespickt mit den pathologischen Wahnvorstellungen Einzelner. Auch in Deutschland kursieren längst dezidierte Anleitungen, wie man sich mit dem Gedankengut der Sovereign Citizens gegen Zwangsvollstreckungen und andere staatliche Maßnahmen wehren und die Behörden schikanieren kann – was auch längst passiert, bis hin zur Gewalt gegen Polizisten.8 Manche deutschen Querdenker und Reichsbürger entziehen sich dem Zugriff des Staates auch durch Flucht ins Ausland, wodurch sich das antistaatliche Gedankengut über die Grenzen hinaus weiterverbreitet. Die größte Gefahr für einen drohenden – und nicht nur schleichenden – Zerfall der liberalen Demokratien stellt die zunehmende Anzahl von Sovereign Citizens und anderen Extremisten unter Sicherheitskräften dar. Ernsthafte Putschversuche sind somit keineswegs grundsätzlich ausgeschlossen. Vermutlich besteht in vielen Ländern längst die Fähigkeit zu einzelnen terroristischen Aktionen. Allerdings ist zu hoffen, dass diese nicht zu der von den Sovereign Citizens erhofften Destabilisierung des Staatswesens führen werden. Viele Sicherheitsbehörden nehmen die Bedrohung inzwischen ernst, ebenso wie Gefahr, selbst unterwandert zu werden. Auch wenn die „taktischen Akkzelaristen“9 sich auch in Deutschland schon lange den baldigen Endkampf von Gut und Böse, sprich: Weiße gegen den Rest, wünschen, um den angeblichen „Großen Austausch“10 noch zu verhindern: Eine konkrete Putschgefahr besteht derzeit wohl nicht. Doch das Einsickern von antistaatlichem und verschwörungsmythologischem Gedankengut in konservative und rechtspopulistische Parteien darf auf keinen Fall unterschätzt werden. Die Beteiligung der ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten Birgit Malsack-Winkemann an den Reichsbürger-Putschplänen ist dafür ein eher noch harmloses Beispiel. Doch die Entwicklung der Republikanischen Partei in den USA zeigt, wie aus vermeintlich harmlosem Irrsinn ganz schnell bitterer Ernst werden kann. 8 Vgl. Frank Jansen, Die Waffenaffinität hat noch zugenommen, www.tagesspiegel.de, 26.4.2022. 9 „Rechtsextremer militanter Akzelerationismus strebt danach, liberale, demokratische und kapitalistisch verfasste Gesellschaften zusammenbrechen zu lassen. Dazu sollen in diesen Gesellschaften vorhandene Widersprüche oder wahrgenommene Verfallsprozesse beschleunigt werden.“ Vgl. Militanter Akzelerationismus, https://cemas.io, 15.9.2022. 10 Vgl. Jason Stanley, Anleitung zum Völkermord. Der Mythos vom „Großen Austausch“, in: „Blätter“, 11/2022, S. 95-100.

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BUCH DES MONATS

Die Blockade der US-Linken Von René Kreichauf Noch Ende 2020 schien der US-Linken ein Aufschwung bevorzustehen: Joe Biden war zum Präsidenten gewählt worden und die Demokratische Partei hatte knappe Mehrheiten im Kongress erobert. Viele hofften, nun würden sich die im Wahlkampf durch Bernie Sanders popularisierten linken Forderungen verwirklichen lassen. Dieser Hoffnung spürt Margit Mayer, emeritierte Professorin für nordamerikanische und vergleichende Politik an der FU Berlin, in ihrem neuen Buch nach. Auf Basis einer breit gefächerten Literatur- und Medienrecherche untersucht sie die ersten eineinhalb Jahre der Biden-Regierung sowie die Aktivitäten und Reaktionen Margit Mayer, Die US-Linke und die der Linken. Ihr gelingt dabei eine bemerDemokratische Partei. Über die Herausforderungen progressiver Politik in kenswerte und scharfe Analyse nicht nur des der Biden-Ära, Bertz+Fischer, Berlin Zustands der Linken sowie ihrer Chancen 2022, 252 Seiten, 12 Euro. und Grenzen, progressive Politik durchzusetzen, sondern auch der fragilen wie strukturell selektiven politischen Institutionen des Landes. Auch nimmt sie aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick, die die Linke mehr spalten als zusammenführen. Ihre Beobachtungen fallen zum Teil ernüchternd aus. In den vergangenen 40 Jahren hat sich die gesellschaftliche Spaltung in den USA immer stärker vertieft, sichtbar in der Umverteilung von 54 Bill. US-Dollar von den unteren 90 Prozent der Bevölkerung zum obersten einen Prozent in diesem Zeitraum. Vor allem die Einkommen jener 68 Prozent der US-Bürger, die keinen College-Abschluss haben, schrumpften – mitsamt dem Glauben, dass die Regierung noch ihre Interessen vertrete. Just diese demographische Gruppe hat die Demokratische Partei aber aufgegeben, seit sie verstärkt auf urbane und suburbane Mittelschichten setzt. Zugleich vollzog sich bei den Republikanern ein lange vorbereiteter, und während Trumps Präsidentschaft beschleunigter, „Marsch durch die Institutionen“ der Parteirechten. Neue Thinktanks und Plattformen betrieben die ideologische Nach- und Aufrüstung der Partei und vernetzten sich mit republikanisch dominierten Parlamenten und regionalen Grassroots-Organisationen.

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126 Buch des Monats

Dieser zunehmend radikalisierten Formierung steht eine gespaltene Demokratische Partei gegenüber, deren zentristische Führung zwar mächtiger ist denn je, aber mit der gleichzeitigen Einbindung konservativer Senatoren und ihres progressiven Flügels überfordert scheint. Bei ihrer Betrachtung der US-Linken konzentriert sich Mayer auf die Democratic Socialists of America (DSA) und Black Lives Matter (BLM). Im Gegensatz zu anderen jüngeren Veröffentlichungen über die US-Linke, wie beispielsweise Lukas Hermsmeiers „Uprising: Amerikas Neue Linke“, die gern die „Wiedergeburt der amerikanischen Linken“ und deren scheinbar neue Einflussräume zelebrieren, zeichnet sich Mayers Untersuchung durch eine sachliche und differenzierte Analyse darüber aus, wo und warum es der US-Linken momentan an Schlagkraft fehlt. Tatsächlich sind viele progressive Reformvorhaben der Biden-Regierung gescheitert oder fielen mager aus, obwohl sie von linken Bewegungen und Kongressmitgliedern vehement gefordert wurden. Das zeigt Mayer anhand der Klima- und Energiepolitik sowie der Migrations-, Wirtschafts-, und Gewerkschaftspolitik, aber auch anhand der Auseinandersetzungen um Wahlrechts- und Polizeireformen und das Recht auf Abtreibung.

Konflikte und Spaltungen

Wie reagieren nun die progressiven Bewegungen auf Bidens Politik? Bei den Democratic Socialists geht die zunehmende Orientierung auf Wahlen mit einer Deradikalisierung einher; ihr Engagement in gewerkschaftlichen, betrieblichen, Wohnungs- und anderen sozialen Kämpfen schwindet. Dadurch gerät auch die einst anvisierte „Rekonstitution der Arbeiterklasse als politisches Subjekt“ aus dem Blick – abgesehen von bemerkenswerten Ausnahmen wie dem Red-Hot-Summer-Programm, mit dem die DSA hunderte junger Aktivist:innen an Arbeitsplätzen bei Amazon, im Gesundheitssektor und in anderen „strategischen Branchen“ schult. Dabei zeigt sich, so Mayer, dass die Demokratische Partei unter Biden für die US-Linke ein schwieriger Verbündeter ist, wenn es darum geht, genuin linke Projekte und Forderungen zu verwirklichen. Linke Initiativen in den USA sind zudem stark von philanthropischen Organisationen abhängig, die mit neoliberalen Geschäftsmodellen operieren und/oder eng mit den Demokraten verbunden sind. Diese Abhängigkeiten führen sowohl zu Konflikten und Spaltungen innerhalb von und zwischen linken Bewegungen als auch zur strukturellen Anbindung an jene Kräfte, Logiken und Herrschaftsverhältnisse, die es aus linker Sicht eigentlich zu bekämpfen gilt. Konfrontiert mit der Wirkmächtigkeit des philanthropischen Sektors, der Macht der zentristischen, unternehmerfreundlichen Corporate Democrats und dem reaktionären Populismus der Republikaner fällt es linken Bewegungen und Organisationen sichtlich schwer, ihre eigentliche – klassenpolitische – Zielsetzung zu verfolgen. Auch die Fokussierung linker Gruppen auf gruppenbezogene Identitätspolitik und entsprechende Forderungen nach Gleichberechtigung erweist

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Buch des Monats 127

sich als ambivalent. So ist Bidens Kurs in diesen Fragen, schreibt Mayer, von einer „Politik des gerechten (und neoliberalen) Multikulturalismus“ geprägt, die gemeinsam mit globalen Konzernen, großen Stiftungen und Universitäten eine neue Diversitätspolitik vorantreibt. Das erleichterte einerseits insbesondere den professionalisierten nationalen BLM-Organisationen eine Zusammenarbeit mit den Demokraten. Andererseits herrscht innerhalb der BLM-Bewegung keineswegs Konsens darüber, dass ihre Forderungen nach Repräsentation und Anerkennung unter Biden eher umgesetzt werden können als unter einer rechtskonservativen Regierung. Das liegt daran, dass dessen DEI-Politik (für Diversity, Equity, Inclusion) auf Antidiskriminierung und Repräsentation auf allen Ebenen setzt, damit aber klassenspezifische Problemlagen sowie die rassifizierte Überausbeutung und Marginalisierung verschleiert, von der vor allem schwarze Menschen und Migrant:innen betroffen sind.

Fragmentierte Bewegungen

Mayer macht damit deutlich, weshalb in der rassistisch aufgeladenen und stark polarisierten US-Gesellschaft momentan wenig Raum für eine Organisierung bleibt, die zugleich race- und klassenbasiert ist; zumal nicht in einer Weise, die zu einem „gemeinsamen Kampf aller Betroffenen gegen die Macht der kapitalistischen Klasse“ führen könnte. Silohafte Identitätspolitiken verschiedener progressiver Gruppen tragen zur von den Eliten gewollten Fragmentierung bei und stehen dem Projekt einer vereinten Arbeiterklasse entgegen, argumentiert Mayer. Damit knüpft sie indirekt an die Ideen des afroamerikanischen Intellektuellen W.E.B. Du Bois an, der in seinem 1935 erschienenen Werk „Black Reconstruction in America“ schrieb, dass die Trennung der (weißen) Arbeiterbewegung und der (schwarzen) abolitionistischen Bewegung zum Scheitern einer gemeinsamen Arbeiterrevolution im 19. Jahrhundert geführt habe. Beide Bewegungen, so Du Bois, hätten nicht erkannt, dass sie durch das gleiche soziale System sowohl unterdrückt als auch mobilisiert werden. Sie hätten sich durch Rassismus und die auf beiden Seiten fehlende Anerkennung der Kämpfe der jeweils anderen spalten und sich in Konkurrenz zueinander treiben lassen. Obwohl ihr Buch nicht mit einem hoffnungsvollen Ausblick endet, leistet Margit Mayers schonungslose Analyse einen zentralen Beitrag, um zu verstehen, wie die US-Linke zwischen Klassen-, Regierungs- und Identitätspolitik gefangen ist – aber auch, um aus dieser misslichen Lage zu entkommen. Sie macht dabei deutlich: Ohne Druck von der Straße und von lokalen Bewegungen, die nicht im Würgegriff von abgehobenen nationalen Organisationen, Großkonzernen und Stiftungen festhängen, wird es nichts werden. Denn, das zeigen historische und jüngere Beispiele, gerade im Lokalen können inklusive Klassenkämpfe in Verbindung mit Freiheitskämpfen Erfolg haben – wenn sich die Bewegungen nicht auseinanderreißen lassen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023

Zurückgeblättert... Am 6. Januar starb der langjährige »Blätter«-Autor, Linken-Politiker und Kopf der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik Axel Troost. Wir erinnern mit Dankbarkeit an seine so wichtige Arbeit mit einem weiter hoch aktuellen Artikel von 2013: EU: Steuerflucht als Geschäftsmodell (in: »Blätter«, 12/2013, S. 13-16). Den Text finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de

Die Blätter für deutsche und internationale Politik erscheinen als Monatszeitschrift. Verlag:

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An der Ausgabe wirkten Moritz Fromm und Leena Harmuth mit. Die gemeinnützige Blätter-Gesellschaft – Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V. gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die »Blätter für deutsche und internationale Politik« heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Inken Behrmann vor. Die »Blätter« erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 40147, 10061 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX. Preise: Einzelheft 11 Euro, im Abonnement jährlich 93,60 Euro (ermäßigt 74,40 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint zeitgleich mit der Dezemberausgabe auf www.blaetter.de. Heft 3/2023 wird am 2.3.2023 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2023

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VERLAG WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT

Helmut Dahmer

Trotzki, die Psychoanalyse und die kannibalischen Regime 2022 – 277 Seiten – 30,00 € ISBN 978-3-89691-076-9

Autorinnen und Autoren 2/2023 Carolin Amlinger, geb. 1984 in Zell, Dr. phil., Literatursoziologin, wiss. Mitarbeiterin an der Universität Basel.

Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Ulrike Baureithel, geb. 1957 in Freiburg, Literaturwissenschaftlerin, freie Journalistin,„Freitag“-Mitbegründerin.

Sarah Mersch, geb. 1981 in Freiburg, Filmwissenschaftlerin, freie Korrespondentin in Tunis.

Ulrich Brand, geb. 1967 auf der Insel Mainau, Dr. phil., Professor für internationale Politik an der Universität Wien, Mitherausgeber der „Blätter“.

Oliver Nachtwey, geb. 1975 in Unna, Dr. phil., Wirtschaftswissenschaftler, Soziologe, Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel.

Achim Brunnengräber, geb. 1963 in Lorsch, Dr. phil. habil., Politikwissenschaftler an der FU Berlin.

Klaus Naumann, geb. 1949 in Bremen, Historiker und Politikwissenschaftler, Mitherausgeber der „Blätter“.

Robin Celikates, geb. 1977 in Konstanz, Dr. phil., Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie an der FU Berlin.

Dieter Rucht, geb. 1946 in Kempten, Dr. rer. pol., Professor für Soziologie an der FU Berlin, Senior Fellow am WZB.

Albert Denk, geb. 1983 in München, Dr. des., Sozialwissenschaftler an der FU Berlin.

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Vedran Džihic´, geb. 1976 in Prijedor/ Bosnien-Herzegowina, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter an der Universität Wien.

Kritik ist keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft

Susanne Götze, geb. 1980 in Berlin, Dr. phil., Historikerin, Buchautorin und Redakteurin im „Spiegel“-Hauptstadtbüro. Thomas Greven, geb. 1966 in Stolberg, Dr. phil., Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Corinna Hauswedell, geb. 1953 in Hamburg, Dr. phil., Mitherausgeberin des Friedensgutachtens, Leiterin von Conflict Analysis and Dialogue in Bonn (CoAD). Svenja Huck, geb. 1994 in Coburg, Historikerin, freie Journalistin.

Karl Marx

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Anna Jikhareva, geb. 1986 in Moskau, Politikwissenschaftlerin, Reporterin bei der WoZ in Zürich. René Kreichauf, geb. 1987, PhD, Humangeograph und Stadtforscher, Postdoc an der Vrije Universiteit Brussel. Benet Lehmann, geb. 1997 in Hamburg, Historiker, Doktorand an der Universität Gießen.

Paul Schäfer, geb. 1949 in Mainz, Soziologe, bis 2013 Obmann der Linkspartei im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages, Publizist. Lucas Schwarz, geb. 1995 in Starnberg, Geograph an der FU Berlin. Jens Siegert, geb. 1960 in Salzgitter, Politikwissenschaftler, Publizist, lebt in Moskau. Olga Staudacher, geb. 1988 in Ravensburg, Dr. med., Assistenzärztin in der Pädiatrie, Gründungsmitglied der Initiative Berliner Kinderkliniken. Michael Strebel, geb. 1977 in Oberwil-Lieli/Schweiz, Dr. rer. soc., Lehrbeauftragter, Parlamentsmitarbeiter. Dörte Themann, geb. 1991 in Friesoythe, Politik- und Umweltwissenschaftlerin an der FU Berlin. Regina Viotto, geb. 1975 in Paderborn, Dr. jur., wiss. Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld. Markus Wissen, geb. 1965, Dr. phil., Politikwissenschaftler, Professor an der HWR Berlin, Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS. Fanny Zeise, geb. 1978 in Herdecke, Politikwissenschaftlerin, Referentin Arbeit, Produktion, Gewerkschaften der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS).

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