127 63 4MB
german Pages 132 Year 2023
9’23
Blätter
9’23
Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €
8’23
7’23
Das Rammstein-Syndrom Sonja Eismann
Hitze-Hotspot Deutschland Uwe Ritzer
Revisionismus als Versuchung Norbert Frei
Zwischen Repression und Hoffnung: Die iranische Revolte Golineh Atai
Maskierte Ohnmacht: Berlusconi als Ikone des Populismus Ida Dominijanni
Verbannte Bücher: Der Kulturkampf der US-Rechten Annika Brockschmidt
6’23
5’23
Künstliche Intelligenz: Der maskierte Raub Naomi Klein
Das feministische Paradox Susanne Kaiser
Chicago: Prävention statt Polizei Lukas Hermsmeier
Was wird aus dem Menschen? Thomas Fuchs
Den Frieden verhandeln, Kiews Sicherheit garantieren Richard Haass, Charles Kupchan
Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie Richard C. Schneider
Blätter für deutsche und internationale Politik
Auf dem Weg in die KI-tokratie? Ferdinand Muggenthaler
Apokalypse oder Aufbruch? Fünf Jahre Fridays Christian Jakob USA: Der neue Aristopopulismus Charles King
Die neue Welt(un)ordnung Ulrich Menzel Zeitenwende in Niger und Mali Olaf Bernau Queerpolitik ohne Rückhalt Inga Hofmann 40 Jahre »Schwerter zu Pflugscharen« Bettina Röder Umkämpfte Erinnerung: Chile 50 Jahre nach dem Putsch Faride Zerán
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PROKLA.
Autorinnen und Autoren 9/2023
Seit 1971
ZEITSCHRIFT FÜR KRITISCHE SOZIALWISSENSCHAFT Schwerpunktthemen n Nr. 208: StaatsKapitalismus (3/2022)
n Nr. 209: Die Linke zwischen Krise und Bewegung (4/2022) n Nr. 210: Sozial-ökologische Transformationskonflikte und linke Strategien (1/2023) n Nr. 211: Tarifvertrag (2/2023) n Nr. 212: Perspektiven auf Ostdeutschland (3/2023) Probeheft anfordern! PROKLA I [email protected] I www.prokla.de Bertz + Fischer I [email protected] I www.bertz-fischer.de
VERLAG WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT
Hans-Ernst Schiller
Olaf Bernau, geb. 1969 in Ulm, Soziologe, Publizist, Mitbegründer und aktiv im transnationalen Netzwerk Afrique-Europe-Interact. Thomas Greven, geb. 1966 in Stolberg, Dr. phil., Politikwissenschaftler, Privatdozent an der FU Berlin und wiss. Mitarbeiter an der Uni Bonn.
Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Uta Meier-Gräwe, geb. 1952 in Erfurt, Dr. sc. oec., Prof. em. für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Universität Gießen, Vorstand von „Wirtschaft ist Care e.V.“. Ulrich Menzel, geb. 1947 in Düsseldorf, Dr. phil., Prof. em. für Politikwissenschaft an der TU Braunschweig.
Inga Hofmann, geb. 1997 in Berlin, Politikwissenschaftlerin, Redakteurin beim „Tagesspiegel“.
Ferdinand Muggenthaler, geb. 1967 in Fürth, Physiker und Journalist, „Blätter“-Redakteur.
Christian Jakob, geb. 1979 in Quakenbrück, Redakteur bei der „taz“ und Buchautor.
Maximilian Pichl, geb. 1987 in Bad Kreuznach, Dr. jur., Dr. rer. pol., Rechts- und Politikwissenschaftler, Vertretungsprofessor für Politische Theorie an der Universität Kassel.
Annika Joeres, geb. 1978 in Herten, Romanistin und Politikwissenschaftlerin, lebt und arbeitet als Journalistin und Publizistin in Südfrankreich. Ireneusz Paweł Karolewski, geb. 1971 in Warschau, Professor für Politische Theorie und Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Charles King, geb. 1967, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Georgetown.
Die Wirklichkeit des Allgemeinen
Mordechai Kremnitzer, geb. 1948 in Fürth, Rechtswissenschaftler, Prof. em. der Hebrew Universität Jerusalem, ehemaliges Mitglied verschiedener Regierungsausschüsse.
2023 – 373 Seiten – 40,00 € ISBN 978-3-89691-087-5
Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, freier Journalist in Berlin.
„Eine gründliche, extrem sachhaltige Rückbesinnung auf Wesentliches, für das wir wegen seiner Dauerpräsenz blind zu werden drohen.“ – Christoph Türcke in der SachbuchBestenliste vom August in Die Welt
Gesine Langlotz, geb. 1994 in Erfurt, Landwirtin, Baumwartin und Baumwart-Ausbilderin, Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft Mitteldeutschland.
Soziale Formen objektiver Vernunft: Wert, Technik, Staat und Sprache
WWW.DAMPFBOOT-VERLAG.DE
Jonas Becker, geb. 1991 in Ludwigsburg, Ökonom und Politikwissenschaftler, Gewerkschaftssekretär bei der EVG.
Claus Leggewie, geb. 1950 in WanneEickel, Dr. sc. pol., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen, Mitherausgeber der „Blätter“.
Rouven Reinke, geb. 1991 in Hannover, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Doktorand an der Universität Hamburg. Bettina Röder, geb. 1953 in Dresden, studierte Deutsch und Kunsterziehung, bis 2019 verantwortliche Redakteurin im Berliner Büro der Zeitschrift „Publik-Forum“, freie Journalistin. Simone Schlindwein, geb. 1980 in Baden-Baden, Historikerin und Politikwissenschaftlerin, Afrika-Korrespondentin der „taz“ in der Region der Großen Seen, lebt in Uganda. Anita Starosta, geb. 1985 in Düsseldorf, Historikerin, Referentin für Syrien, Türkei und Irak bei medico international. Berthold Vogel, geb. 1963 in Würzburg, Prof. Dr., Soziologe, Geschäftsführender Direktor Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI). Faride Zerán, geb. 1949 in Puerto Natales/Chile, Journalistin, Schriftstellerin, Vizerektorin der Universidad de Chile.
Blätter für deutsche und internationale Politik
Monatszeitschrift 68. Jahrgang Heft 9/2023 Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Peter Bofinger . Ulrich Brand Micha Brumlik . Dan Diner Jürgen Habermas . Detlef Hensche Rudolf Hickel . Claus Leggewie Ingeborg Maus . Klaus Naumann Jens Reich . Rainer Rilling Irene Runge . Saskia Sassen Karen Schönwälder . Friedrich Schorlemmer Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin
INHALT 9’23
KOMMENTARE
5 Wagenknecht oder AfD Verbot: Die letzte Chance? Albrecht von Lucke 9 Scheiternde Klimaanpassung: Das Drama unserer Städte Annika Joeres 13 Der Ausverkauf des Bodens Gesine Langlotz 17 Klimapolitik geht nur sozial! Berthold Vogel 21 Elterngeld: Familienpolitik als Standortfaktor Uta Meier-Gräwe 25 Israel: Das Recht zum Widerstand Mordechai Kremnitzer
REDAKTION Anne Britt Arps Albrecht von Lucke Annett Mängel Ferdinand Muggenthaler Steffen Vogel ONLINE-REDAKTION Tessa Penzel BESTELLSERVICE Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] WEBSITE www.blaetter.de
Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2023
29 Im Überlebenskampf: Die Kurden nach Erdog˘ans Sieg Anita Starosta 33 Systemisch verantwortungslos: Europas Flüchtlingspolitik Maximilian Pichl 37 Russland und Afrika: Alte Freunde, neue Absatzmärkte Simone Schlindwein DEBATTE
41 Die Rückkehr des Staates – fürs Kapital Jonas Becker, Rouven Reinke
ANALYSEN UND ALTERNATIVEN
47 Gegen das Untergangsdenken Fünf Jahre Fridays for Future Christian Jakob 57 Auf dem Weg in die KI-tokratie? Künstliche Intelligenz und die autoritäre Gefahr Ferdinand Muggenthaler 67 Putins Krieg und die neue Welt(un)ordnung Ulrich Menzel 75 Zeitenwende im Sahel: Der Putsch in Niger und der Abzug aus Mali Olaf Bernau 83 Der neue Aristopopulismus Wie US-Konservative die Demokratie beerdigen Charles King 93 Das Ende der Demokratie? Was in Polen auf dem Spiel steht Ireneusz Paweł Karolewski und Claus Leggewie 99 Die Stille der Erinnerung Chile 50 Jahre nach dem Putsch gegen Allende Faride Zerán 109 40 Jahre »Schwerter zu Pflugscharen« Wie die DDR-Friedensbewegung die Welt veränderte Bettina Röder 117 Ein blasser Regenbogen Das uneingelöste Versprechen vom queerpolitischen Aufbruch Inga Hofmann
AUFGESPIESST
123 »Spiegel«-Staatsfeinde Jan Kursko BUCH DES MONATS
125 Ducks. Zwei Jahre in den Ölsanden Kate Beaton EXTRAS
45 124 128
Kurzgefasst Dokumente Zurückgeblättert, Impressum, Autoren und Autorinnen
Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2023
Wolfgang Abendroth
Ernst Fraenkel
Paul Kennedy
Jan M. Piskorski
Elmar Altvater
Nancy Fraser
Navid Kermani
Samantha Power
Samir Amin
Norbert Frei
Ian Kershaw
Heribert Prantl
Katajun Amirpur
Thomas L. Friedman
Parag Khanna
Ulrich K. Preuß
Günther Anders
Erich Fromm
Michael T. Klare
Karin Priester
Franziska Augstein
Georg Fülberth
Naomi Klein
Avi Primor
Uri Avnery
James K. Galbraith
Alexander Kluge
Tariq Ramadan
Susanne Baer
Heinz Galinski
Jürgen Kocka
Uta Ranke-Heinemann
Patrick Bahners
Johan Galtung
Eugen Kogon
Jan Philipp Reemtsma
Egon Bahr
Timothy Garton Ash
Otto Köhler
Jens G. Reich
Etienne Balibar
Bettina Gaus
Walter Kreck
Helmut Ridder
Ekkehart Krippendorff
Rainer Rilling
Paul Krugman
Romani Rose
Adam Krzeminski
Rossana Rossandra
Erich Kuby
Werner Rügemer
Jürgen Kuczynski
Irene Runge
Charles A. Kupchan
Bertrand Russell
Ingrid Kurz-Scherf
Yoshikazu Sakamoto
In den »Blättern« schrieben bisher Wolf Graf Baudissin
Günter Gaus
Oskar Lafontaine
Saskia Sassen
Fritz Bauer
Heiner Geißler
Claus Leggewie
Albert Scharenberg
Yehuda Bauer
Susan George
Gideon Levy
Fritz W. Scharpf
Ulrich Beck
Sven Giegold
Hans Leyendecker
Hermann Scheer
Seyla Benhabib
Peter Glotz
Jutta Limbach
Robert Scholl
Homi K. Bhabha
Daniel J. Goldhagen
Birgit Mahnkopf
Karen Schönwälder
Norman Birnbaum
Helmut Gollwitzer
Peter Marcuse
Friedrich Schorlemmer
Ernst Bloch
André Gorz
Mohssen Massarrat
Harald Schumann
Norberto Bobbio
Glenn Greenwald
Ingeborg Maus
Gesine Schwan
E.-W. Böckenförde
Propst Heinrich Grüber
Bill McKibben
Dieter Senghaas
Thilo Bode
Jürgen Habermas
Ulrike Meinhof
Richard Sennett
Bärbel Bohley
Sebastian Haffner
Manfred Messerschmidt
Vandana Shiva
Heinrich Böll
Stuart Hall
Bascha Mika
Alfred Sohn-Rethel
Pierre Bourdieu
H. Hamm-Brücher
Pankaj Mishra
Kurt Sontheimer
Ulrich Brand
Heinrich Hannover
Robert Misik
Wole Soyinka
Karl D. Bredthauer
David Harvey
Hans Mommsen
Nicolas Stern
Micha Brumlik
Amira Hass
Wolfgang J. Mommsen
Joseph Stiglitz
Nicholas Carr
Christoph Hein
Albrecht Müller
Gerhard Stuby
Noam Chomsky
Friedhelm Hengsbach
Herfried Münkler
Emmanuel Todd
Daniela Dahn
Detlef Hensche
Adolf Muschg
Alain Touraine
Ralf Dahrendorf
Hartmut von Hentig
Gunnar Myrdal
Jürgen Trittin
György Dalos
Ulrich Herbert
Wolf-Dieter Narr
Hans-Jürgen Urban
Mike Davis
Seymour M. Hersh
Klaus Naumann
Gore Vidal
Alex Demirovic
Hermann Hesse
Antonio Negri
Immanuel Wallerstein
Frank Deppe
Rudolf Hickel
Oskar Negt
Franz Walter
Dan Diner
Eric Hobsbawm
Kurt Nelhiebel
Hans-Ulrich Wehler
Walter Dirks
Axel Honneth
Oswald v. Nell-Breuning
Ernst U. von Weizsäcker
Rudi Dutschke
Jörg Huffschmid
Rupert Neudeck
Harald Welzer
Daniel Ellsberg
Walter Jens
Martin Niemöller
Charlotte Wiedemann
Wolfgang Engler
Hans Joas
Bahman Nirumand
Rosemarie Will
Hans-M. Enzensberger
Tony Judt
Claus Offe
Naomi Wolf
Erhard Eppler
Lamya Kaddor
Reinhard Opitz
Jean Ziegler
Gøsta Esping-Andersen
Robert Kagan
Valentino Parlato
Moshe Zimmermann
Iring Fetscher
Petra Kelly
Volker Perthes
Moshe Zuckermann
Joschka Fischer
Robert M. W. Kempner
William Pfaff
Heiner Flassbeck
George F. Kennan
Thomas Piketty
Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2023
...und viele andere.
KOMMENTARE
Albrecht von Lucke
Wagenknecht oder AfD-Verbot: Die letzte Chance? Mit „Frisch erholt in die Selbstzerfleischung“, kommentierte die „Süddeutsche Zeitung“ die Rückkehr der Ampel-Koalition aus der Sommerpause. Und die FAZ fragte aus gleichem Anlass und passend zur Verabschiedung des Cannabis-Gesetzes spöttisch: „Kann man sich eine solche Regierung schönrauchen?“1 Tatsächlich ist das Erscheinungsbild der Ampel fast nur noch mit Galgenhumor zu ertragen. Nach der Sommerpause scheint sie genau da weitermachen zu wollen, wo sie vor ihr aufgehört hat: mit hoch destruktivem Streit. Der desaströse Start in die zweite Hälfte der Legislaturperiode zeigt, wie verfahren die Lage inzwischen ist, speziell zwischen Grünen und FDP. Seit Beginn der Koalition hatte die FDP das Agieren gegen die Grünen zum Prinzip erklärt, exemplarisch zu beobachten beim Gebäudeenergiegesetz, aber auch bei der massiv herabgestuften Kindergrundsicherung. Faktisch hatte Finanzminister Christian Lindner die 12 Mrd. Euro auf einen „Platzhalter“ von zwei Mrd. heruntergeschrumpft und auf diese Weise Familienministerin Lisa Paus regelrecht vor die Wand laufen lassen. Das war der Grund, warum Paus und andere Grüne des linken Lagers Lindners Wachstumschancengesetz ihre Zustimmung verweigerten – und damit der FDP glatt in die Falle gingen. Denn indem der Finanzminister trotz1 Daniel Brössler, Frisch erholt in die Selbstzerfleischung, in: „Süddeutsche Zeitung“, 17.8.2023; Berthold Kohler, Auf des Kanzlers Nase, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 17.8.2023.
dem, wider besseres Wissen, eine Pressekonferenz ansetzte, um sie dann angeblich spontan wegen der grünen Verweigerung abzusagen, spielte er den Grünen den Schwarzen Peter zu. Waren zuvor eindeutig die Liberalen die destruktive Kraft, ist nun der Eindruck entstanden, dass die Grünen mit gleicher Münze zurückzahlen, womit sie sowohl den eigenen Vizekanzler, der Lindners Gesetz unterstützte, als auch den Kanzler düpierten, der eben noch ein neues, geschlossenes Auftreten versprochen hatte. Parallel zur anhaltendenden Kakophonie der Ampel steigt der Zweifel an der Handlungs- und Leistungsfähigkeit dieser Regierung, ja sogar des Staates. Dadurch entsteht eine fatale Eigendynamik: In dem Maße, in dem die Regierung ihre Zerstrittenheit demonstriert, büßt sie zunehmend an Funktionsfähigkeit ein, was wiederum die Kritik an ihr immer weiter anwachsen lässt. Auf diese Weise gerät die Kritik an der Regierung und ihrer Handlungs(un)fähigkeit immer mehr zu einem Zweifel an der Demokratie als solcher. All das ist natürlich ein enormer Wachstumsbeschleuniger für die AfD, die inzwischen auf dem zweiten Platz in der Wählergunst rangiert und die SPD auf den dritten Rang verdrängt hat – eine in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartige Lage für eine Kanzlerpartei. Wie aber sehen die Lösungsvorschläge mit Blick auf den Niedergang der Ampel und den Aufstieg der AfD aus? Die einen setzen, angesichts der parallel stattfindenden zunehmenden Selbstauflösung der Linkspartei auf
Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2023
6 Kommentare Bundesebene, zunehmend auf eine kommende Wagenknecht-Partei. Wagenknechts »Mission« „Gründet euch endlich!“, fordert exemplarisch Jan Feddersen in der „taz“, da nur Wagenknecht und Co. den Rechtspopulisten speziell im Osten der Republik das Wasser abgraben und AfD-affine Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen könnten. Insofern sei es ein „verfassungspatriotischer Clou“, ja sogar „eine zivilisatorische, ja antifaschistische Mission, dieses Parteiprojekt der Wagenknecht-Fellows zu unterstützen“.2 Tatsächlich sammelt Wagenknecht schon lange ihre Truppen innerhalb der Linkspartei, um von innen heraus die Zerstörung des linken Konkurrenzprojekts zu betreiben. Und auch der zeitliche Plan des eigenen Antretens steht – erst bei der Europawahl im Juni 2024 und dann bei den drei Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst 2024, als entscheidendes Vorspiel für die Bundestagswahl ein Jahr darauf. Wie der stets gut informierte Pascal Beucker berichtet, soll zur Vorbereitung der neuen Partei wohl zunächst ein eingetragener Verein gegründet werden, um auf diese Weise die Mitgliedschaft auf stramme Gefolgsleute zu beschränken und nicht gleich alle Sektierer einzusammeln, während der eigentliche Parteigründungsakt auch aus finanziellen und parteirechtlichen Gründen erst 2024 erfolgen könnte.3 Die maßlose Stilisierung der Parteigründung zu einer „zivilisatorischen, ja antifaschistischen Mission“ spielt Wagenknecht und Co. natürlich enorm in die Hände. Dabei ist ausgesprochen zweifelhaft, ob und inwieweit es sich bei dieser Partei tatsächlich um ein aufklärerisches Projekt handeln wird. 2 Jan Feddersen, Gründet euch endlich!, in: „die tageszeitung“ (taz), 15.8.2023. 3 Pascal Beucker, Kurz vor dem Absprung, in: taz, 21.8.2023.
Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2023
Wagenknecht bezeichnet ihr Projekt ausdrücklich als ein „links-konservatives“. Mit ihrer klassenkämpferisch grundierten Diktion betreibt sie ein klassisches Umverteilungsprojekt (Nehmt‘s den Reichen, gebt‘s den Armen). Das ist der linke Aspekt ihres ansonsten aber ausgesprochen nationalen, ja sogar nationalistischen Populismus – unten das gute deutsche Volk, dort oben die bösen globalistisch orientierten Eliten –, der von dem der AfD kaum zu unterscheiden ist. Genau wie die Rechtspopulisten begreift Wagenknecht denn auch die Grünen als ihren Hauptgegner und bezeichnet sie als „die gefährlichste Partei“. Damit meint sie die materialistische Linie der klassischen Linken zu beerben, verkennt aber völlig, dass heute ein wirklich materialistisches Denken ohne ökologische Grundierung und die Bekämpfung der Klimakrise undenkbar ist. Denn die Verteidigung der biologischen Lebens- und Überlebensvoraussetzungen ist zweifellos die größte Gerechtigkeitsfrage der Gegenwart, für die gegenwärtigen wie für zukünftige Generationen. Wer daher heute „links“ nicht nur in einem nationalistischen, sondern internationalistischen Sinne versteht, muss ökologische Nachhaltigkeit im nationalen wie globalen Maßstab als zentrales Ziel verfolgen. Wer dagegen wie Wagenknecht ökologisches Denken nur als Ausdruck einer LifestyleLinken denunziert, agiert alles andere als links und schon gar nicht konservativ in einem normativen Verständnis – nämlich der Bewahrung des unbedingt Bewahrenswerten, sprich: der natürlichen Lebensgrundlagen. Links-konservatives Denken im Sinne von Wagenknecht, bei dem der primäre Bezugspunkt nur Nation, Familie und das deutsche Volk sind (etwa beim Kampf gegen Migration), ist letztlich national-borniertes, reaktionäres Denken. Da sie darauf abzielt, dezidiert AfD-Wählerinnen und Wähler zu gewinnen, könnte sie mit dieser Strate-
gie durchaus Erfolg haben.4 Allerdings spricht dies allein noch nicht für ein progressives Projekt, sondern vielmehr dafür, dass zukünftig zwei populistische Parteien ohne jeden Willen zur Übernahme politischer Verantwortung die regierungswillige Mitte in die Zange nehmen und so immer inkohärentere Koalitionen erzwingen werden – was das Vertrauen in die Demokratie weiter erodieren lassen dürfte. Was macht die Demokratie wehrhaft? Die zweite Strategie gegen die Rechtspopulisten agiert daher weit direkter, nämlich mit der Überlegung, die AfD schlicht zu verbieten. So forderte Bundespräsident Frank Walter Steinmeier anlässlich des 75. Jahrestags des Verfassungskonvents im bayerischen Herrenchiemsee, der 1948 die Basis für unser Grundgesetz legte, „dass wir Freiheit und Demokratie erneut verteidigen müssen“. Es gebe „eine historische Lehre“, die sich wie ein roter Faden durch den Verfassungsentwurf ziehe und die bis heute gelte: „Eine Demokratie muss wehrhaft sein gegen ihre Feinde“. Kein mündiger Wähler könne sich auf „mildernde Umstände“ herausreden, wenn er sehenden Auges politische Kräfte stärke, die zur Verrohung der Gesellschaft und zur Aushöhlung der freiheitlichen Demokratie beitrügen. Auch wenn Steinmeier dabei nicht ausdrücklich ein Verbot forderte und auch keine konkrete Partei nannte, war damit zweifellos die AfD gemeint. „Der Spiegel“ nahm denn auch prompt den Ball auf und forderte als erstes relevantes Presseorgan, die AfD zu verbieten.5 Die Strategie, die AfD in den Parlamenten und im politischen Pro4 Deshalb darf man sehr gespannt darauf sein, ob Wagenknecht ihrem neuen Projekt überhaupt einen linken Namen geben oder, wie bereits im Falle von „Aufstehen“, dabei völlig inhaltsleer bleiben wird. 5 Dietmar Hipp, Verfassungsfeinde verbieten!, in: „Der Spiegel“, 12.8.2023.
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zess durch Ausgrenzung zu schwächen, sei gescheitert und ein Verbot der Partei „notwendig, um die Demokratie zu schützen“.6 An diesem Punkt stellt sich die entscheidende Frage: Wann und wie ist eine Demokratie tatsächlich wehrhaft? Und ist dafür tatsächlich das Verbot der AfD notwendig? Zur Erinnerung: Parteien sind für unsere Demokratie schlechthin konstitutiv. Deshalb werden sie zu Recht geschützt. Bis zur Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit gilt das Parteienprivileg des Artikels 21 Grundgesetz; ein Parteienverbot ist insofern das allerschärfste Schwert. Deshalb wurden in der Geschichte der Bundesrepublik nur zwei Parteien verboten: 1952 die SRP, die Sozialistische Reichspartei als explizite NSDAP-Nachfolgeliste, und 1956 – nicht nur von Linken scharf kritisiert – die KPD, die Kommunistische Partei Deutschlands. Daraus folgt: Wehrhaft ist eine Demokratie jedenfalls nicht dann, wenn sie angesichts einer 20-Prozent-AfD – wohlgemerkt: in den Umfragen – förmlich in Panik gerät und deren Verbot in die Wege leitet, obwohl 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht die AfD wählen und weiter klar auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Wenn aber diesen 20 Prozent mit dem Verbot der AfD faktisch ihre Stimme entzogen wird, dann schwächt das zunächst einmal die Demokratie, weil damit auch ein konkretes inhaltliches Angebot verboten und die oft beschworene Repräsentationslücke weiter aufgerissen wird. Angesichts der enormen Schwierigkeit, eine neue Partei im Parteienspektrum zu etablieren – faktisch ist dies in der Geschichte der Bundesrepublik nur Grünen, Linkspartei und AfD gelungen –, ist es daher regelrecht naiv, wenn der „Spiegel“ behauptet, die Wählerinnen und Wäh6 So die allgemeine Verbotsforderung im Inhaltsverzeichnis des Heftes, die aber im angeführten Leitartikel auf einzelne Landesverbände in Ostdeutschland reduziert wird.
Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2023
8 Kommentare ler der verbotenen Parteigliederungen „könnten ihr Kreuzchen bald darauf bei geläuterten Alternativen machen“, solche Nachfolgeorganisationen wären ja schließlich erlaubt. Viel wahrscheinlicher ist massive Frustration die Folge eines AfD-Verbots, welche die davon betroffenen Mitglieder und Wähler veranlassen dürfte, noch radikaler zu werden und sich umso mehr von der Demokratie abzuwenden. Das Verbot der AfD kann daher nur das letzte Mittel sein, wenn tatsächlich alle anderen ausgeschöpft sind. Davon kann aber bisher nicht die Rede sein. So richtig es ist, dass in der AfD-Mitglied- und Anhängerschaft längst ein breiter rechtsradikaler Boden aus überzeugten Rechtsextremen, Reichsbürgern und Querdenkern existiert: Ein großer Teil wählt die Partei zumindest auch aufgrund des Versagens der traditionellen Parteien. Wenn daher jetzt aus den Reihen der Regierungsparteien der lauter werdende Ruf nach einem Verbot der AfD erklingt, muss das vor allem als Unterdrückung von Kritik und Ausdruck des eigenen Scheiterns erscheinen. Die wirklichen Probleme werden dadurch aber nicht gelöst, sondern nur verdrängt. Noch sind die Parteien unbedingt in der Lage, die AfD durch bessere Arbeit zu verkleinern. Wehrhafte Demokratie bedeutet daher in erster Linie, das Land gut zu regieren, sprich: taugliche Lösungen für die zweifellos gewaltigen Probleme dieses Landes zu finden. Das verlangt nicht zuletzt, dass diese Regierung ge- und entschlossen das umsetzt, was sie im Koalitionsvertrag beschlossen hat, eine sozial gestaltete ökologische Transformation. Zugleich kommt es darauf an, die AfD endlich inhaltlich zu stellen – etwa an ihren gefährlich isolationistischen Positionen, die der jüngste Europa-Parteitag wieder gezeigt hat, und an ihrer „Sozialpolitik“, die zur Folge hätte, dass gerade die finanziell Schwachen die Hauptleidtragenden wären, wenn die AfD (mit)regieren würde.
Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2023
So kann es der Regierung gelingen, die Werte der AfD wieder zu reduzieren. Dann braucht es kein Parteienverbot. Solange die Ampel aber weiterhin – wie fatalerweise auch CDU/CSU als die klassische Opposition – nur um sich selbst kreist und Partei- vor Staats- und Demokratieräson geht, wird sie die Bevölkerung immer mehr verlieren und dadurch die AfD weiter stärken. Wenn daher jetzt gefordert wird, die AfD zu verbieten, nachdem die Koalition mit ihrer Wahlrechtsänderung bereits Linkspartei und CSU den Einzug in den Bundestag erschwert hat, dann erinnert dies in gewisser Weise an das, was Bertolt Brecht vor just 70 Jahren, nach dem Volksaufstand des 17. Juni 1953, schrieb: Der Sekretär des Schriftstellerverbandes, heißt es in seinem Gedicht „Die Lösung“, habe auf der Stalinallee Flugblätter verteilen lassen, auf denen zu lesen war, dass das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe und es nur durch verdoppelte Arbeit zurückgewinnen könne. „Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ Übertragen auf die heutige Zeit bedeutet dies: Wenn der Protest nicht aufhört und die Leute weiter AfD wählen, verbieten wir doch einfach die Partei und das Problem ist erledigt. Das aber ist gerade nicht „Die Lösung“ des Problems, im Gegenteil: Der Verbotsdiskurs stellt unserem Land ein doppeltes Armutszeugnis aus, nämlich erstens der Politik, die bei der Lösung der Probleme versagt, aber zweitens auch der Bevölkerung, die dem Anwachsen der AfD immer noch in weiten Teilen mit Gleichgültigkeit begegnet. Solange man sich aber nicht selbst stärker in den oder für die Parteien engagiert, die wirklich bereit sind, demokratische Verantwortung in diesem Land zu übernehmen, so lange ist das bloße Lamentieren über die Schwäche der Regierung wohlfeil – und gilt weiterhin der Satz: Jedes Volk bekommt am Ende die Parteien, die es verdient.
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Annika Joeres
Scheiternde Klimaanpassung: Das Drama unserer Städte Wer in Berlin nach einem starken Regen knöcheltief im Wasser steht oder in einigen niedersächsischen oder brandenburgischen Orten bei Trockenheit nicht mehr seine Blumen gießen darf, hat es in diesem Sommer gespürt: Viele Städte und Kommunen in Deutschland sind nicht auf extreme Wettereignisse im Klimawandel vorbereitet. Sie haben nicht vorgesorgt für das, was uns mit Sicherheit1 bevorstehen wird: Bei Trockenheit und Niedrigwasser wird es an Trinkwasser mangeln, wasserintensive Anlagen wie Chemieund Papierwerke müssen den Betrieb einstellen. Starkregen, Sturzfluten und Hochwasser bringen kritische Infrastrukturen wie Krankenhäuser und Kraftwerke in Gefahr, und auch viele Häuser und Wohnungen sind hochwassergefährdet. Durch höhere Meeresspiegel sind Küstenzonen größeren Flutrisiken ausgesetzt, Städte und Dörfer können überschwemmt werden. Eine aktuelle Recherche2 von Correctiv, BR Data, WDR Quarks und NDR Data zeigt, dass die allermeisten Landkreise und kreisfreien Städte, die an deren Umfrage teilgenommen haben, um die steigenden Risiken wissen: Neun von zehn Landkreisen rechnen demnach damit, dass in ihrem Gebiet künftig mehr extreme Wetterereignisse eintreten. Trotzdem hat nur ein Viertel der 329 Landkreise und kreisfreien Städte ein Schutzkonzept für die Klima1 Renee Cho, Attribution Science: Linking Climate Change to Extreme Weather, climate.columbia.edu, 4.10.2021. 2 Katarina Huth, Annika Joerese et al., Hitze, Dürre, Starkregen: So schlecht ist Deutschland vorbereitet, correctiv.org, 13.7.2023.
krise, weitere 22 Prozent planen eines. In Sachsen-Anhalt ist die Lage besonders schlecht: Die allermeisten Gemeinden dort verfügen bisher über keinen Plan für die Anpassung an die Klimaveränderungen. Auch in anderen Bundesländern sorgen nicht einmal diejenigen Landkreise vor, die die Folgen der Klimakrise bereits gespürt haben. Zum Beispiel der Landkreis Karlsruhe: Die Menschen dort litten zwischen 1993 und 2022 durchschnittlich unter 17 Hitzetagen im Jahr. Trotzdem hat der Landkreis Maßnahmen gegen Hitze weder umgesetzt noch geplant. Dabei sind es in erster Linie Bürgermeister:innen und Landrät:innen, die ihre Bewohner:innen schützen könnten. Deshalb richtet sich auch das geplante Anpassungsgesetz3 von Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) explizit an die Rathäuser. Aber auch dieses Gesetz wird an der mangelnden Vorsorge erst einmal wenig ändern: Zwar werden damit alle Gemeinden und Kreise der Republik dazu verpflichtet, Schutzpläne zu entwerfen – doch Vorgaben, was genau sie umsetzen müssen, gibt es nicht. Und wenn die Gemeinden oder Kreise besonders klein sind, können Landesregierungen ihre Städte sogar von dieser Pflicht befreien. Außerdem sorgt der Bund, über bescheidene Förderprogramme hinaus, nicht für das nötige Geld für die kommunale Umsetzung. Über eine dauerhafte Finanzierung wollen Bund und Länder erst noch diskutieren. 3 BMUV, Bundesregierung verabschiedet erstes bundesweites Klimaanpassungsgesetz, bmuv. de, 13.7.2023.
Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2023
10 Kommentare Das ist eine verhängnisvolle Nachlässigkeit: Ohne einen Plan wird es nur in seltenen Fällen auch konkrete Maßnahmen geben. Und das, obwohl die Vorsorge für die Klimakrise ganz entscheidend in den Rathäusern der Republik umgesetzt werden kann. Beispielsweise ist eine der wichtigsten Maßnahmen, um sich für heiße Temperaturen und Starkregen zu wappnen, Asphalt und Beton durch Bäume und Grünflächen zu ersetzen. Genau darüber können die kommunalen Parlamente und die Verwaltungen entscheiden. Sie bestimmen, welche Flächen als Bauland ausgewiesen werden, ob für Parkplätze und Supermärkte Wiesen schwarz asphaltiert werden oder im Gegenteil Beton aufgebrochen und durch Bäume ersetzt wird. All dies bestimmt darüber mit, wie heiß es in einer Stadt wird und wie sie mit Starkregen zurechtkommt. Asphaltierte Straßen werden zu Hitzeinseln und bei Starkregen zum Problem: Wenn es Unmengen Wasser in kurzer Zeit regnet, läuft die Kanalisation über. Dann können sich auf den versiegelten Flächen Flutwellen bilden, Keller volllaufen, Parkhäuser zu tödlichen Fallen werden. Grünflächen hingegen können Wasser aufnehmen, dort versickert es ins Grundwasser. Entsiegeln dringend erforderlich Kommunen entscheiden auch darüber, ob eventuell vorhandene Flüsse renaturiert werden, Sickergruben für Starkregen geschaffen und neue Systeme eingeführt werden, bei denen statt wertvollen Trinkwassers das so genannte Grauwasser für die Toilette genutzt wird. Sie entscheiden darüber, ob und wie Wasser gespart werden soll, wie teuer Trinkwasser wird und welche Fabrik wieviel Kubikmeter entnehmen darf. Bei der Vorsorge für die Klimakrise sind die Kommunen und Gemeinden
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daher sehr mächtig – im Unterschied zum Klimaschutz, wo die maßgeblichen Entscheidungen eher in Berlin und Brüssel fallen. Trotzdem werden die meisten Kommunen die nächsten Extremwetterereignisse nahezu unvorbereitet erleben. Anpassung findet nicht statt. Dafür gibt es zwei Gründe: die Freiwilligkeit und das fehlende Geld. Zunächst zur Freiwilligkeit: Noch immer gehört die Vorsorge nicht zu den verpflichtenden Aufgaben einer Kommune. Das wäre dringend nötig, um die Umbauprojekte vorrangig zu behandeln. Pflichtaufgaben sind bislang Dinge wie Kindergärten, Wasserversorgung und die Müllabfuhr. Klimaanpassung hingegen, die im Zweifel Leben rettet, ist nur eine Kann-Aufgabe mit demselben Rang wie das Betreiben einer Tourismusinformation. Dabei ist sie eine der größten Aufgaben überhaupt. Ein der Klimakrise angepasstes Leben in der Stadt hieße, sie komplett umzuwandeln, um die Schlafzimmer, Büros und die Einkaufsstraßen möglichst kühl zu halten. Dichte Häuserreihen, versiegelte Flächen, nur wenige grüne Büsche und zusätzliche menschengemachte Wärme, verursacht durch Klimaanlagen und Heizungen, kann während Hitzewellen die Lufttemperatur in größeren Städten um bis zu 10 Grad höher ansteigen lassen als in der Umgebung. In Berlin wurden sogar schon Temperaturunterschiede von 12 Grad zum kühleren Umland gemessen: Je größer der Betonring um einen Standort, desto heißer wird es Tag und Nacht. Wir müssen in großen Dimensionen denken, das fordert4 auch der erste Professor für „urbane Klimaresilienz“ an der Universität in Augsburg, Markus Keck. Es gehe dabei nicht nur um ein paar Bäume. Jede Kühlfläche sei gut, aber ein Ahornbaum allein bringe wenig: Nötig seien grüne Schneisen, 4 Interview mit Annika Joeres, SR 2, sr.de, 19.1.2023.
Flüsse müssten renaturiert werden. Tatsächlich sind bislang Städte darauf ausgerichtet, das Wasser im Zentrum möglichst schnell loszuwerden und dafür in schmale Kanäle zu zwängen. Die begradigten und kanalisierten Flüsse können dann für Wasserkraft und Abwasserentsorgung genutzt werden. Aber eine ungewollte Folge ist: Ihr Pegel steigt bei Starkregen wesentlich schneller an, der Fluss rauscht bei Hochwasser mit hoher Geschwindigkeit durch das Zentrum. Eine Renaturierung aber kostet viele Millionen Euro und viel Zeit. Den Kommunen fehlt das Geld Dieses Beispiel führt zum zweiten Grund, warum Kommunen nicht handeln: Ihnen fehlt das Geld. Flächen zu entsiegeln, kostet hunderttausende Euro, die Pflege der Grünflächen muss jedes Jahr neu budgetiert werden. Kindergärten brauchen Sonnensegel, und um Menschen vom Auto abzubringen benötigen sie einen funktionierenden, günstigen öffentlichen Nachverkehr und sichere Radwege. In der Correktiv-Umfrage geben viele Landkreise an, notwendige Dinge nicht zu tun, weil ihnen das Geld dafür fehlt. Beispiel Ostallgäu: Der Kreis liegt in den Bergen, der höchste Gipfel kommt auf über 2000 Meter, die Ortschaften liegen auf einer Höhe von 600 bis 900 Metern. Dort sammelt sich viel Regenwasser aus den Alpen und bedroht Siedlungen und Menschen. Doch der Kreis hat nach eigenen Angaben „notwendige Maßnahmen nicht finanziert“ – dazu zählt er die Entsiegelung von Flächen und auch, Gebäudebesitzer zur Eigenvorsorge zu sensibilisieren. In der kommunalen Bauleitplanung seien die Herausforderungen durch Starkregen „teilweise“ berücksichtigt worden, jedoch auch noch nicht finanziert. Dieser entscheidende Punkt fehlt bislang in der Debatte um eine Vorsor-
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ge weitgehend: Städte brauchen dazu neues Geld. Denn weiter verschulden können sie sich kaum. Viele Städte haben schon jetzt Haushaltssperren verhängt. Rund 13 Prozent der Kommunen waren schon vor der Coronapandemie überschuldet, nun sind es mehr als die Hälfte: Sie haben deutlich weniger eingenommen und mussten mehr Arbeitslose und Arbeitsausfälle finanzieren. Ende 2021 beliefen sich die kommunalen Schulden pro Einwohner und Einwohnerin auf rund 4000 Euro.5 Schon jetzt müssen viele Bürgerinnen und Bürger mit ansehen, wie ihre Theater und Schwimmbäder schließen oder ihre kommunalen Steuern für Abwasser massiv steigen. Beide Entscheidungen treffen ärmere Familien besonders hart. Diejenigen also, die heute schon extremen Wetterereignissen stärker ausgesetzt sind. Etwa, weil sie in Betonburgen wohnen, die sich wesentlich stärker aufheizen als grüne, wohlhabende Viertel. Aber bislang fehlt eine aufrichtige Debatte darüber, dass neue Einnahmen gefunden werden müssen, um Menschen in der Klimakrise zu schützen. Ein höheres Wirtschaftswachstum ohne Änderung der Struktur kann in der Klimakrise jedenfalls keine Lösung sein. Vermehrtes Produzieren und Kaufen von den derzeit beliebten Produkten würde diese nur befeuern. Bleiben also höhere Steuern für Großverdiener und Luxusprodukte, von denen es seit der Pandemie mehr gibt als jemals zuvor. Nur so können die Kosten der Anpassung gerecht verteilt werden. Und noch ein Punkt ist wichtig: Wer über Anpassung spricht, ignoriert keineswegs die Dringlichkeit, Treibhausgasemissionen drastisch zu reduzieren. Im Gegenteil: Angesichts des enormen Aufwands, sich auf minimale Temperaturunterschiede von nur einigen Zehntelgrad vorzubereiten, ist 5 Statista, Integrierte kommunale Schulden zum Jahresende 2021, destatis.de, 9.11.2022.
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12 Kommentare Klimaschutz existenziell. Aber sich auf die konkreten Folgen vorzubereiten, bedeutet auch, dem Drama ins Auge zu sehen. Nur ein Leugner der Klimakrise würde abstreiten, dass wir uns, selbst bei vergleichsweise geringen Veränderungen, anpassen müssen. Anpassung ist auch Klimaschutz Doch auch die Anpassung stößt an Grenzen, beispielsweise bei Pflanzen. Keine Züchtung hat es je vermocht, sich von Niederschlag unabhängig zu machen. Weniger Wasser bedeutet weniger Ertrag – wir können und sollten dies abmildern, mit Hecken und bedeckten Böden, aber die künftige Ernte wird trotzdem mit jedem Dürretag und jedem Starkregen kleiner ausfallen. Technologie und Erfindungsgeist werden irgendwann nicht mehr ausreichen. Deiche kann man nicht unbegrenzt in die Höhe bauen, Klimaanlagen oder Heizungen sind auf ein stabiles Energiesystem angewiesen, das bei Stürmen, aber auch Dürren oder Überflutungen nicht kollabiert. Deshalb bedeutet eine gute Vorsorge auch immer: Emissionen senken. Glücklicherweise tragen die meisten Dinge, die Städte einführen können, zu beiden Zielen bei. Sich an die Klimakrise anzupassen, heißt in den meisten Fällen auch, die Klimakrise abzumildern. Wenn Parkflächen für Sicker- und Abkühlungsflächen verringert werden, bleibt das Auto stehen. In grüneren und damit fußgängerfreundlicheren Städten gehen Menschen eher zu Fuß oder nehmen den Bus. Längst ist wissenschaftlich beschrieben, wie positiv eine solche Stadtpolitik wirken könnte. Forscherinnen einer weltweiten Studie6 benannten die Vorteile einer Lebensweise, die sowohl Emissionen einspart als auch mit Hitze und Überschwemmungen besser zu6 The lancet Countdown, The Lancet Planetary Health special issue, 9.2.2021.
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rechtkommt. Radfahren und weniger Fleisch und verarbeitete Lebensmittel zu essen, verbessert auch die Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger. Die britischen Forschenden nennen sogar eine konkrete Zahl: Mit all diesen Maßnahmen könnte in Deutschland jedes Jahr der Tod von rund 160 000 Menschen vermieden werden. Trotzdem erkennt kaum eine Verwaltung wie lebenswert eine klimaangepasste Stadt sein würde. Stattdessen erlassen sie teilweise autoritäre Maßnahmen, deren Sinn fraglich ist. Wegen der Dürre dürfen etwa in Lüchow-Dannenberg Gärten, wenn es wärmer als 24 Grad Celsius ist, zwischen 11 und 19 Uhr nicht mehr bewässert werden. Für Felder gilt dies erst ab einer Temperatur von 28 Grad oder bei stärkerem Wind. Komplizierte Regeln, die sich niemand merken und noch weniger überprüfen kann, die aber offenbar vorspielen sollen, die Stadt handele. Niemand aber kann beziffern, welchen Wert solche Erlasse tatsächlich haben – der Wert von Grünflächen, Sickergruben und renaturierten Flüssen ist hingegen hinlänglich bekannt. Die meisten Städte belassen es bislang trotzdem bei diesen kostenlosen Schikanen, anstatt sich den wirklich wichtigen Dingen zu widmen. Eben weil die Aufgabe freiwillig ist – und das Geld fehlt. Wie wenig sich getan hat, dürfte jedem und jeder auffallen, der oder die durch Mannheim, Berlin oder Herne spaziert: Die meisten deutschen Städte sehen kaum anders aus als vor zehn oder 20 Jahren. Autos dominieren nach wie vor das Bild, Billig-Supermärkte dürfen Felder und Wiesen asphaltieren und nach grünen Fassaden sucht man meist vergeblich. Falls sich irgendetwas zum Positiven verändert haben sollte, ist es offensichtlich minimal – und das bei maximaler Warnstufe angesichts der kommenden Dürren, Überschwemmungen und Hitzewellen in einem der reichsten Länder der Erde.
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Gesine Langlotz
Nicht vermehrbar: Der Ausverkauf des Bodens Er ist begrenzt, nicht vermehrbar und seit jeher ein stark umkämpftes Gut: der Boden. Neben Wasser bildet er eine der wichtigsten Lebensgrundlagen auf unserem Planeten, denn jedes Lebewesen an Land ernährt sich von dem, was auf dem Boden oder durch ihn gedeiht. Gerade in Zeiten der rasant voranschreitenden Klimakrise steigt sein Wert stetig. Er gilt aber auch als inflationssicher, was ihn zu einem äußerst lukrativen Anlageobjekt macht. Zugleich spielen sich mannigfaltige Konflikte um seine Nutzung und Ressourcen ab – seien es die Energiekrise und die Strategien zu ihrer Bewältigung, die Ernährungskrise, die zunehmende Versiegelung und Verschmutzung des Bodens durch Landwirtschaft und Industrie oder seine Nutzung als Kohlenstoffsenke. Ohne zu übertreiben, lässt sich daher behaupten: Auf dem Boden wird die Zukunft von Gesellschaften und des Planeten verhandelt. Dennoch sehen wir ein Missverhältnis: Einerseits schreitet der Aufkauf von Land durch Investoren rapide voran. So besitzen laut einer aktuellen Studie des Thünen-Instituts nichtlandwirtschaftliche natürliche Personen durchschnittlich etwa 49 Prozent der Flächenanteile in den untersuchten Gemeinden, insbesondere in Ostdeutschland.1 Andererseits wird im öffentlichen Diskurs und in der Politik der enormen Relevanz des Bodens für das menschliche und letztlich für alles 1 Vgl. Andreas Tietz, Richard Neumann und Steffen Volkenand, Untersuchung der Eigentumsstrukturen von Landwirtschaftsfläche in Deutschland, Thünen Report 85, Braunschweig 2021.
Leben auf der Erde erstaunlich wenig Rechnung getragen. Das „Recht auf Boden” ist im Vergleich zum „Recht auf Wasser” nahezu gar nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert. Sollte die Klimakrise sich überschlagen und die Überschreitung eines klimatischen Kipppunktes das Erreichen eines weiteren nach sich ziehen, wird der Boden zum zentralen Schauplatz unterschiedlichster und gewalttätiger Auseinandersetzungen werden. Doch der Kampf ums Wasser und den Boden hat schon lange begonnen – auch hierzulande.2 Nach Jahrzehnten des Überflusses wird Wasser wohl wieder das erste rationierte Gut in Deutschland sein.3 Und dass der Boden bereits jetzt knapp wird, wissen neben all jenen, die Einfamilienhäuschen bauen, vor allem Landwirt:innen nur zu gut. Seit Jahren sind sie Zeug:innen und Betroffene des Konkurrenzkampfes um Flächen und müssen dafür mit hohen Pacht- und Kaufpreisen zahlen. Dieser Preis wird durch Übernutzung, Verschmutzung oder die Ausbeutung von Arbeitskräften an die Umwelt sowie an die osteuropäische Saisonarbeiterin weitergereicht. Das ist kein Vorwurf an die Landwirt:innen. Diese Dynamik entspringt vielmehr einem Wirtschaftssystem, in dem Profit vor Bodenschutz geht. Neben share deals und den Subventionen der Gemeinsamen Agrarpolitik 2 Vgl. Uwe Ritzer, Hitze-Hotspot Deutschland. Warum das Wasser immer knapper wird und was wir dagegen tun müssen, in: „Blätter“, 7/2023, S. 43-54. 3 Ulrike Herrmann, Das Ende des Kapitalismus, Köln 2022.
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14 Kommentare in Europa (GAP) – die seit 1962 zum größten Teil nach Flächenbesitz ausgeschüttet werden statt nach Qualitätskriterien der Bewirtschaftung oder je Arbeitsplatz – war ein zentraler Preistreiber auf dem Bodenmarkt der vergangenen Jahre die Finanzkrise von 2008.4 Das Platzen der Immobilienblase löste einen weltweiten Run auf die Flächen aus, während das zur Verfügung stehende fruchtbare Land angesichts von Dürren, Überschwemmungen und anderen menschengemachten Ursachen seit Jahrzehnten immer weiter schwindet.5 Dennoch interessiert es politisch bislang kaum jemanden, dass der Ausverkauf von Land mittlerweile absurde Blüten treibt.6 Landwirte unter Druck Auch politische Entscheidungen hierzulande wirken sich auf den Bodenmarkt aus. Eine katastrophale Entwicklung verursachte ausgerechnet das maßgeblich von den Grünen vorangetriebene Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) von 2009. Durch die massive Förderung von Biogasanlagen wurden Betriebe, die diese Anlagen bauten, gleich doppelt subventioniert: durch Subventionen für die Stromproduktion sowie durch die EU-Agrarsubventionen über die Fläche. Dies führte – neben der „Vermaisung“ der Landschaften, also des massiven Anbaus von Energiemais auf Kosten der Bodenqua4 Share Deals bezeichnen den Erwerb von Anteilen an einem Betrieb, mit dem auch die Kontrolle über denselben einhergeht. Gekauft werden Geschäftsanteile, keine einzelnen Flächen oder Tiere. Dadurch können außerlandwirtschaftliche Investoren das Vorkaufsrecht von Landwirt:innen umgehen. Land wird somit vordergründig zum Anlageobjekt. 5 Europäische Umweltagentur, Auf dem Boden der Tatsachen: Bodendegradation und nachhaltige Entwicklung in Europa – Eine Herausforderung für das 21. Jahrhundert: Umweltthemen-Serie No. 16/2022, S. 5. 6 Aktion Agrar, Ackerland im Ausverkauf. Brennpunkt: Ostdeutschland, 2021 sowie dies., Wem gehört der Acker? Aktionsheft für die Agrarwende, aktion-agrar.de.
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lität – zu einer innerlandwirtschaftlichen Konkurrenz auf dem Bodenmarkt und zu erheblichen Preissteigerungen auf dem Pachtmarkt. Dabei hatten bäuerliche Verbände und Bewegungen die Grünen mehrmals vor einer solchen Dynamik gewarnt. Und obwohl die Politik aus diesen Erfahrungen hätte lernen können, sieht es aktuell danach aus, als würde sie die gleichen Fehler nun mit dem Ausbau von Photovoltaikanlagen wiederholen. Diesmal stehen sich Investoren aus der Energiebranche und landwirtschaftliche Betriebe als Konkurrenten um Land gegenüber. Während erstere problemlos 6000 Euro Pacht je Hektar zahlen können, haben Bäuer:innen teils schon große Schwierigkeiten, Preise von 300 Euro je Hektar zu finanzieren. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) sollten angesichts dessen dringend gemeinsam an Strategien arbeiten, wie der Ausbau der Erneuerbaren umgesetzt werden kann, ohne die Preise auf dem Bodenmarkt in immer neue Höhen zu treiben. So wichtig die Energieversorgung ist, die Produktion von Lebensmitteln ist es auch. Das aber gerät in einer Gesellschaft, in der seit Jahrzehnten die Regale immer voll sind, allzu oft aus dem Blick. Die steigenden Pacht- und Kaufpreise machen es für Landwirt:innen zunehmend schwierig, den für ihre Arbeit benötigten Boden zu finanzieren. Große Betriebe und Investoren haben mehr Kapital bzw. können leichter Kredite aufnehmen, um weiteres Land zu kaufen. Weil Investoren den Boden zudem als Kapitalanlage nutzen, entkoppeln sich die Preise von dem Wert, der sich auf der Fläche innerhalb einer Generation mit Sorgfalt für Mensch und Natur erwirtschaften lässt. Bäuer:innen leben und wirtschaften dadurch in extremen Abhängigkeitsverhältnissen. Sie sind praktisch gezwungen, immer mehr Flächen zu beanspruchen – und sich hierfür Investor:innen zu su-
chen, um dem innerlandwirtschaftlichen Konkurrenzdruck standzuhalten und wirtschaftlich zu überleben. Beim Landkauf müssen sie sich hoch verschulden oder bei der Pacht von Land viel Zeit aufbringen, um die Beziehung zu den Verpächter:innen zu pflegen und so ihre Flächen zu sichern.7 Eine gerechte Bodenpolitik ist nötig Als eine der wesentlichen Lebensgrundlagen sollte der Boden aber kein Spekulationsobjekt sein. Boden muss gerecht verteilt, nachhaltig genutzt, gepflegt und vor Zerstörung bewahrt werden. Dafür bedarf es einer Bodenpolitik, die der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Energie dient. Doch es ist wie so oft: Für eine gerechtere Bodenpolitik setzen sich in erster Linie Betroffene ein. Mit wenig personeller Kapazität versucht beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) unter anderem gegen den Deutschen Bauernverband (DBV) – einen der mächtigsten Lobbyverbände Deutschlands –, progressive Steuerreformen und Gesetzesänderungen zu erwirken. Zu diesem Zweck hat der Verband verschiedene Instrumente erarbeitet. Eines davon sind Agrarstrukturgesetze. Sie dienen dazu, außerlandwirtschaftliche Investoren vom Bodenmarkt auszuschließen, share deals zu regulieren, Pachtpreisbremsen einzuführen und Anzeigepflichten für Landkäufe zu verankern. In Baden-Württemberg ist ein solches Agrarstrukturgesetz bereits implementiert. Bezeichnenderweise wurde hier die Kaufpreisbremse eingeführt, weil Schweizer:innen begannen, die Landschaft nördlich des Bodensees aufzukaufen. Anders sieht es derzeit im Osten Deutschlands aus: In Sachsen, Thüringen und Bran7 Konzeptwerk neue Ökonomie, Bausteine für Klimagerechtigkeit. Gerechte Bodenpolitik, konzeptwerk-neue-oekonomie.org, April 2023.
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denburg wurden zwar Gesetzesinitiativen ausgearbeitet, aber schon in der Planungsphase von DBV und Co. blockiert. Es fehlt leider neben mehr juristischer, medialer und wissenschaftlicher Unterstützung auch der breite Druck der Gesellschaft in der Auseinandersetzung um Boden- und Flächengerechtigkeit. Ein weiteres Instrument ist die progressive Grunderwerbssteuer. Sie soll dazu dienen, zum einen den Ersterwerb von Land für Gründer:innen in der Landwirtschaft bis zu einer gewissen Hektargrenze steuerfrei zu regeln, um Menschen überhaupt den Zugang zum wichtigen Produktionsmittel Boden zu ermöglichen. Zum anderen soll die Grunderwerbssteuer steigen, je mehr Land die Käufer:innen besitzen. Würde dies finanziell so aufeinander abgestimmt, dass die Kosten für die Steuerbefreiung durch die Steuermehreinnahmen bei steigendem Landeigentum ausgeglichen würden, bliebe die progressive Grunderwerbssteuer für den Staat sogar kostenneutral.8 Dadurch würden Betriebsgründungen überhaupt erst wieder ermöglicht – für die wirtschaftliche Perspektive im ländlichen Raum wäre das enorm wichtig. Denn gegenwärtig kostet es in der Landwirtschaft durchschnittlich 500 000 Euro, um einen Arbeitsplatz zu schaffen, womit diese zu den kapitalintensivsten Branchen gehört.9 Das aber liegt nicht zuletzt an den hohen Bodenpreisen. Der gesellschaftliche Wert eines Betriebes in der Landwirtschaft oder im Lebensmittelhandwerk ist gerade im ländlichen Raum Ostdeutschlands enorm. 8 Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), Einführung einer progressiven Grunderwerbssteuer zur Regulation des landwirtschaftlichen Bodenmarkts im Zusammenspiel mit weiteren Instrumenten. Rechtstechnische Umsetzbarkeit, abl-ev.de, 2022. 9 Ausgangslage der Landwirtschaft und des ländlichen Raums in Deutschland zur Erstellung des deutschen GAP-Strategieplans des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, bmel.de, Februar 2022.
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16 Kommentare Und schließlich setzt sich die AbL dafür ein, dass noch nicht privatisierte Flächen der Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG) – die Treuhandnachfolgeorganisation für Agrarland der DDR – nach dem Konzeptvergabeverfahren der gemeinwohlorientierten Verpachtung vergeben werden.10 Seit 1992 verpachtete oder versteigerte die BVVG das Agrarland der DDR meistbietend, vor allem an große Betriebe. Im Koalitionsvertrag schrieb die Ampelregierung schließlich einen Privatisierungsstopp für die rund 92 000 verbliebenen Hektar fest, der inzwischen auch greift. Doch gegen das Vorhaben der AbL, die Flächen gemeinwohlorientiert zu verpachten, mauern derzeit die Landwirtschaftsminister Sven Schulze (CDU) aus Sachsen-Anhalt und Till Backhaus (SPD) aus Mecklenburg-Vorpommern – vor allem zu Profilierungszwecken im Milieu des Deutschen Bauernverbands. Sie wollen einen Präzedenzfall auf Bundesebene verhindern. Bodenschutz als Daueraufgabe Auch aus anderen europäischen Ländern kann man sich Instrumente abschauen. So dürfen in Dänemark Agrarflächen nur an Kinder, die den Hof übernehmen, vererbt werden, sonst geht das Land an andere Landwirt:innen. Litauen und Polen wiederum ha10 Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), Einführung einer progressiven Grunderwerbssteuer, a.a.O.
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ben bereits Kappungsgrenzen bei Betriebsgrößen eingeführt. Daneben gilt es im Sinne des Bodenschutzes, der für die Artenvielfalt desaströsen Versiegelungspraxis Einhalt zu gebieten. Diese geht unvermindert weiter,11 den selbstgesteckten staatlichen Zielen zum Trotz. Dabei beherbergt schon eine Handvoll Boden mehr Lebewesen, als Menschen auf der Erde leben. Jeder Quadratmeter Boden, jedes Fleckchen „Dreck“ ist einmalig – es gibt fast unendlich viele Böden mit diversen Eigenschaften. Mit jedem Tag, an dem wir den Boden übernutzen, verschmutzen oder versiegeln, stirbt ein Stück dieser Diversität. Bodenpolitik ist zentral, um den Problemen dieses Jahrhunderts zu begegnen. Wie der Zugang zu Land politisch geregelt ist, wird maßgeblich bestimmen, wie unsere Gesellschaft mit der Klimakrise und den sich in ihrem Zuge verknappenden Ressourcen umgehen kann. Doch die große Bedeutung dieses Politikfelds scheint im Bewusstsein der Öffentlichkeit und von Entscheider:innen bislang nicht angekommen zu sein. Noch immer ziehen wir uns nicht nur sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weg. Wir entziehen uns tatsächlich unserer Lebensgrundlage. Derzeit engagieren sich einige wenige Bäuer:innen, unterstützt von noch weniger Jurist:innen, konsequent und langfristig für die Bewahrung des Bodens und dessen gerechte Verteilung. Um den Ausverkauf und die Zerstörung des Bodens zu stoppen und diese lebenswichtige Ressource für zukünftige Generationen zu bewahren, ist jedoch eine weit größere Bewegung nötig. Wenn sich diese Einsicht durchsetzt, wären schon in dieser Legislaturperiode wichtige Gesetzesvorhaben durchsetzbar. Zugleich aber gilt: Bodenschutz muss dringend zu einer Daueraufgabe werden. 11 Vgl. Struktur der Flächennutzung, umweltbundesamt.de.
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Berthold Vogel
Klimapolitik geht nur sozial! Die Debatten über Klimapolitik, Energiewende und sozialen Ausgleich sind im Heizungskeller angekommen. Das ist kein schlechtes Zeichen, denn nun geht es nicht mehr nur um abstrakte 1,5-Grad-Ziele und Katastrophen andernorts, sondern um die eigene Lebensführung und darum, wie wir die ressourcenverbrauchende Realität unseres Alltags neu justieren. Dass hierbei allerlei billige Polemik und unerfreuliche Durchstecherei im Spiel sind, gehört wohl zum Preis dieser Debatte, die auch aus diesen Gründen seit Jahrzehnten vermieden wurde. In diesem Sinne kann man der aktuellen Ampelregierung alles Mögliche vorwerfen, nicht aber, dass sie keine heißen Eisen anpackt. Das mag unter Zeitdruck, unvollständig und ungeschickt geschehen. Aber es geschieht. Was lehren uns nun die vergangenen Monate? Zunächst, dass Energiewende und Klimaschutz weit mehr sind als eine technische oder planungsrechtliche Herausforderung. Sie sind die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Wohlstand und Zusammenhalt müssen gleichermaßen als soziale und ökologische Herausforderung betrachtet werden. Aktuell ist oft das Gegenteil der Fall. Vielerorts wird die ökologische Transformation als ein Projekt der Wohlhabenden gegen den (bescheidenen) Wohlstand der vielen dargestellt. Windräder, Diesel-Aus, Ernährungsratschläge – das sind in den Augen der Landbevölkerung, der Industriearbeiterschaft und auch der prekär Beschäftigten oftmals Projekte „der anderen“, die mit den eigenen Interessen und Zukunftsperspektiven wenig zu tun haben. Wer ökologisch vorankommen will, kommt um eine soziale Transformation
nicht herum. Das ist lange nicht begriffen worden, ja man kann Zweifel haben, ob diese Zusammenhänge heute allen klar sind. Nur ein Umsetzungsproblem? Von Industrievorständen über politisch Verantwortliche aller Couleur bis zu Fridays for Future: Bei allen Unterschieden sind sie sich in einem Punkt einig, dass wir beim Klimaschutz kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem hätten. Angeblich wissen wir alles, wir müssen jetzt nur noch – wie es neudeutsch heißt – „ins Tun kommen“. Diese Formel taugt nicht, denn noch immer werden Wärme- und Energiewende kaum als Anforderung an soziale Infrastrukturen gedacht. Während sich also die gesamte politische und wissenschaftliche Energie auf Fragen des Rechts, der Akzeptanz, der Machbarkeit konzentriert, bleibt im Hintergrund, dass Energie- und Klimafragen mit Fragen sozialer Ungleichheit, mit Verlusten und Gewinnen, mit Mentalitäten und Berufskulturen, mit Lebensweisen und Haltungen zu tun haben. Es geht um Beharrungskräfte, die Veränderung schwierig machen – die Debatte um den „Heizhammer“ ist ein gutes Beispiel. Aber Mentalitäten und Lebensweisen sind eben auch Faktoren sozialer Stabilität, die nicht ohne weiteres zur Seite geschoben werden dürfen. Hier muss eine Klimasozialpolitik ansetzen, die zeigt, dass Wärme-, Energie- und Verkehrswende nicht für individuelle Verluste stehen, sondern einen Beitrag zum kollektiven Wohlstand leisten.
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18 Kommentare Energieversorgung, Personenverkehr oder Wohnformen müssen als ökologische öffentliche Güter erkannt und gestaltet werden. Die ökologische Transformation ist nach diesem Verständnis kein Verlustgeschäft, sondern der Kern einer neuen Wohlfahrtspolitik, die in Infrastrukturen investiert und wirtschaftliche, soziale und ökologische Innovationen zusammenbringt. Der Wandel von Mentalität und Lebensweise kann nur auf der Grundlage einer sozialen Infrastrukturpolitik gelingen, die ökologische Belange in den Mittelpunkt rückt. Klimaschutz als Daseinsvorsorge Es ist offensichtlich, dass alle modernen, industriellen und wohlfahrtsstaatlich geprägten Gesellschaften es seit Jahrzehnten versäumt haben, Klima-, Energie- und Umweltfragen zu sozialen Fragen zu machen. Bis zum heutigen Tag gilt: hier Sozialpolitik und dort Umweltpolitik, hier Wohlfahrtsstaat und dort Umweltschutz. Das Denken in diesen Schablonen mag übersichtlich sein, aber es führt nicht weiter. Das Versagen der Umweltpolitik seit den 1970er Jahren liegt daher nicht an der oftmals beklagten Babyboomer-Ignoranz. Artensterben, Erderwärmung, Vermüllung der Weltmeere, gesundheitsschädliche Luftverschmutzung und globale Entsorgungsprobleme beim nuklearen Abfall sind seit Jahrzehnten bekannt. Wer es hören und lesen wollte, konnte das schon lange tun. Das gesellschaftliche und politische Versagen liegt darin, Klimaschutz und Ökologie nicht systematisch mit Daseinsvorsorge und öffentlicher Infrastruktur einer wohlfahrtsstaatlichen Demokratie verknüpft zu haben. Auch viele junge Klimaaktivistinnen und -aktivisten bringen sich noch mühsam bei, dass es weder „die“ Gesellschaft noch „die“ Menschen gibt. Die Möglichkeiten, auf ein älteres und dieselbetriebenes Automobil zu
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verzichten, und die Chance, das eigene Haus energetisch nachhaltig zu sanieren, sind sozial sehr ungleich verteilt. Klimaschutz und Ökologie müssen daher als sozial-infrastrukturelle Aufgaben erkannt werden, die in ein Netz gegen- und wechselseitiger Verpflichtungen und Anrechte eingebunden sind, vergleichbar mit wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystemen. Diese Erkenntnis setzt sich freilich nur langsam durch. Stattdessen räsonieren die einen über eine Öko-Diktatur, da sie der Auffassung sind, dass über Mehrheitsentscheidungen keine Menschheitsfragen beantwortet werden können. Andere spielen hartnäckig Armut und soziale Benachteiligung gegen Umweltschutz aus: Ökologische Politik könnten sich nur Besserverdienende leisten. Argumente dieser Art kommen im politischen Spektrum von rechts- wie auch von linksaußen. Auf bemerkenswert klarsichtige und überzeugende Weise hat sich hingegen zu all diesen Fragen der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen geäußert. Er verweist in seiner knappen Streitschrift „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ darauf, dass jeder Beitrag zu einer fairen und zivilen Gesellschaft ein Beitrag für den Klima- und Artenschutz ist: „Gegen extreme Vermögensungleichheiten vorzugehen, ist eine Klimaaktion. Die Hassmaschinen der sozialen Medien abzuschalten, ist eine Klimaaktion. Eine humane Einwanderungspolitik, der Kampf für die Gleichberechtigung der ‚Rassen‘ und Geschlechter, der Einsatz für mehr Respekt vor den Gesetzen und ihrer Anwendung, die Stärkung einer freien, unabhängigen Presse, die Verbannung von Waffen aus dem Land, in dem man lebt – all das sind bedeutsame Klimaaktionen.“1 Da wir also Energiewende und Klima- und Artenschutz nicht ohne sozialen Zusammenhalt denken dürfen, sollten wir – in Anleh1 Jonathan Franzen, Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?, Reinbek 2020, S. 36.
nung an richtige und sinnvolle Schutzmaßnahmen in der Pandemie – konsequent folgende 3G-Regel anwenden: Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Gleichwertigkeit. Sie sind die Voraussetzungen gesellschaftlichen Zusammenhalts und Prinzipien einer an sozialem Ausgleich orientierten Demokratie. 3G für sozialen Zusammenhalt Mit anderen Worten: Wer erfolgreiche Umwelt-, Artenschutz- und Klimapolitik machen möchte, der muss Planungsrecht und eine innovative Technologiepolitik im Blick haben, aber eben auch und gleichermaßen Fragen der Gerechtigkeit, des Gemeinwohls und der Gleichwertigkeit. Diese drei G sind die Voraussetzungen sozialen Zusammenhalts. Und ohne Zusammenhalt und sozialen Ausgleich wird eine nachhaltige ökologische Transformation der Arbeits- und Lebensweisen nicht gelingen. Doch was hat es mit den drei G auf sich? Die ökologische Transformation gibt es nicht ohne soziale Gerechtigkeit – und eine sozial gerechte Politik braucht einen handlungsfähigen Staat, der gleichermaßen Risiko- und Infrastrukturmanager sowie Investor und Innovator ist. Für kollektive Veränderung helfen weder Moralpredigten noch verfeinerte soziologische Akzeptanzforschung, die nach Wegen sucht, den Menschen vor Ort „beizubringen“, dass Windräder, Wärmepumpen oder PV-Anlagen etwas Gutes sind. Kollektive Veränderung kann es nur über die Sicherung und den Ausbau öffentlicher Infrastrukturen geben, die leistungsfähig und für die Menschen „praktisch“ sind, die den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten vom Arbeitspendeln über den täglichen Einkauf bis zum Bedürfnis nach einer Urlaubsreise entgegenkommen und sich im Alltag bewähren. Als gerecht werden von den Menschen den Alltag verbessernde Angebote im Bereich Woh-
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nen, Energie, Verkehr, Gesundheit etc. wahrgenommen. Soziale Gerechtigkeit ist daher kein abstraktes Prinzip, sondern der politische Leitfaden, um neue Wege zu finden, die Bedürfnisse der Menschen nach Mobilität, nach Daseinsvorsorge und nach sozialer Sicherheit zum Gegenstand der ökologischen Transformation zu machen. Zum Scheitern verurteilt ist eine Politik, die auf der einen Seite die Wärme- und Energiewende predigt, aber die Probleme von Pendlern im ländlichen Raum übersieht, und die nicht registriert, wie schwer ein Hausarzttermin zu bekommen ist, wie häufig der Unterricht ausfällt und wie lieblos der öffentliche Raum gestaltet ist. Diese Hürden im Alltag kann keine Energiewende kompensieren. Daher hängt die Bereitschaft, die ökologische Transformation als Forstschritt zu sehen, an konkreten Verbesserungen der Lebensbedingungen vor Ort. Die ökologische Transformation ist ein kollektiver Prozess, der das Gemeinwohl in den Mittelpunkt rückt. Die ökologische und klimagerechte Transformation ist kein staatliches Projekt, sondern ein kollektiver gesellschaftlicher Prozess, der lokal startet. Hierfür braucht es „Soziale Orte“2 , die Zusammenhalt auch in der Transformation ermöglichen und die die Vielfalt privater Ressourcen zu öffentlichen Gütern machen. Sie stärken den lokalen Zusammenhalt und binden wirtschaftliche, soziale, kulturelle und ökologische Aktivitäten zusammen. Dazu zählen Bürgerenergiesysteme, regionale Kreislaufwirtschaft, neue Wohnformen, der Aufbau genossenschaftlicher Strukturen sowie nachhaltige Verkehrskonzepte, die sich allesamt am Gemeinwohl orientieren. So kommt die Gestaltung unserer sozialen Umwelt und Arbeitswelt vor Ort in den Blick. 2 Vgl. Jens Kersten, Claudia Neu und Berthold Vogel, Das Soziale-Orte-Konzept – Zusammenhalt in einer vulnerablen Gesellschaft, Bielefeld 2022.
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20 Kommentare Soziale Orte sind keine sozialfürsorgerische Maßnahme, sondern ein Beitrag zur Infrastrukturentwicklung, von der die Menschen vor Ort profitieren. Zum Beispiel: Das Angebot an Arbeitsplätzen in der Region wächst oder bleibt stabil, der Nahverkehr funktioniert regelmäßig, Wohnformen werden altersgerecht entwickelt, die Energieversorgung wird zur Gemeinschaftssache und auch die Grundschule bleibt im Dorf. Es geht darum, lokale Ressourcen in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und ökologischer Hinsicht wirksam werden zu lassen. Soziale Orte leben nicht für sich alleine. Sie sind angewiesen auf kommunale Einrichtungen, auf Leistungen der Daseinsvorsorge und auf eine aktive Rolle von Gewerkschaften, Kirchen und Verbänden als lokale Impulsgeber und regionale Partner. Die ökologische Transformation braucht gleichwertige Lebensverhältnisse. Das ist keine Formel für Sonntagsreden, sondern ein politisches Gestaltungsziel,3 das deutlich macht, dass der Erfolg des Klimaschutzes in der Fläche liegt. Die Zukunftsfragen der Energiewende, der Mobilität, des Wohnens und der regionalen Wirtschaftskreisläufe entscheiden sich im Stadtquartier und vor allem im ländlichen Raum. Infrastrukturelle Aufwertung ländlicher Räume statt „Absiedelung“ und „Nutzungsfläche“ – hier liegt ein Schlüssel zum politischen und sozialen Gelingen der Transformation. Wer den ländlichen Raum nur als Hinterhof für Öko-Städte missversteht, wird scheitern. Um alle mitzunehmen, ist die Aktivierung des Verfassungsziels der Gleichwertigkeit von höchster Bedeutung. Gleichwertigkeit schafft gesellschaftliche Bindekräfte, hält Menschen vor Ort und eröffnet der jüngeren Generation eine Zukunft im ländlichen Raum und in der Kleinstadt. Die Förderung gleichwertiger Lebensver-
Die Anwendung und Umsetzung der 3G-Regel war über Jahrzehnte kein Thema öffentlicher Debatten. Jetzt müssen kommunale Daseinsvorsorge, öffentliche Infrastrukturen und eine innovative Klimasozialpolitik in Zeiten von Inflation, Krieg, Gesundheitsgefährdung und Extremwetterlagen rasch neu konzipiert und justiert werden. Aber vielleicht macht die aktuelle Multikrise auch den Letzten klar, dass es für eine erfolgreiche Umgestaltung unserer Wirtschafts- und Lebensweise gesellschaftlicher Grundlagen bedarf. Daher ist es eine fundamental wichtige Erkenntnis, dass der beste Beitrag zur ökologischen Transformation ein leistungsfähiger, innovationsbereiter und resilienter Sozial- und Rechtsstaat im Ganzen und konnektive und bürgerschaftlich gestaltete soziale Orte im Kommunalen sind. Die ökologische Frage als soziale Frage zu verstehen und zu gestalten, ist eine Anforderung an die politische Praxis und an eine fachübergreifende wissenschaftliche Forschung. Auch die Wissenschaft ist nicht nur in der Beobachtungsposition, sondern steht in der Verantwortung. Auf die Multikrise muss sie reagieren: erstens mit MultiDisziplinarität, die sich nicht an Fächergrenzen klammert, zweitens mit Kommunikationsfähigkeit im Zugehen auf die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen und drittens mit dem Mut zur Grenzüberschreitung in die gesellschaftliche Praxis hinein.
3 Vgl. Art. 72 Abs. 2, Grundgesetz und Paragraph 2, Raumordnungsgesetz.
4 Deutscher Caritas Verband, Sozialpolitische Positionen zur Jahreskampagne 2019 „sozial braucht digital“, Freiburg i.Br. 2019.
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hältnisse ist eine Absage an Zentralismus und an den Glauben, man könne eine demokratische Gesellschaft von oben nach unten bauen. Subsidiarität und Daseinsvorsorge erhalten neue Aufmerksamkeit – gerade im digitalen Zeitalter.4 Verantwortung übernehmen!
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Uta Meier-Gräwe
Der Kampf ums Elterngeld: Familienpolitik als Standortfaktor Der Fünfte Familienbericht der Bundesregierung bescheinigte Deutschland im Jahr 1991 eine massive „strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Leben mit Kindern“.1 Gut dreißig Jahre später trifft diese unmissverständliche Einschätzung der damaligen Sachverständigenkommission noch immer zu: Obwohl das Budget des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ohnehin lediglich 2,8 Prozent des Gesamthaushalts ausmacht, forderte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) für den Bundeshaushalt 2024 ausgerechnet von Familien- und Gleichstellungsministerin Lisa Paus (Grüne) massive Kürzungen von insgesamt 500 Mio. Euro. Per Brief gab er ihr die Empfehlung, auch beim Elterngeld einzusparen. Um derart rigorose Kürzungsvorgaben zu erfüllen, hat die Ministerin verschiedene Varianten durchrechnen lassen und entschied sich letztendlich, die Grenze für den Bezug von Elterngeld in Zukunft von 300 000 auf 150 000 Euro zu versteuerndem Einkommen abzusenken. Das würde immerhin knapp 300 Mio. Euro der geforderten Einsparungen bringen und lediglich die obere, einkommensstarke Schicht der Bevölkerung (maximal fünf Prozent) betreffen. Stattdessen die Höhe des monatlichen Elterngeldes für alle zu kürzen, hielt Paus sozialpolitisch nicht für vertretbar, zumal im Koalitionsvertrag erstmals seit dessen Einführung 2007 eine Dynamisierung angekündigt worden war, um das Elterngeld der Infla1 Bundesministerium für Familie und Senioren (BMFS), Fünfter Familienbericht der Bundesregierung, Drucksache 12/7560, Berlin 1991.
tion anzupassen. Jetzt bleibt es beim Minimum von 300 Euro und einem Maximum von 1800 Euro, was de facto einer handfesten Entwertung dieses Instruments gleichkommt. Auch den Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende zu streichen, kam für Paus als Alternative nicht in Betracht: Denn 43 Prozent der Haushalte Alleinerziehender hierzulande sind armutsgefährdet. Eine Kürzung des Kinderzuschlags für einkommensarme Familien kam für die Ministerin in Zeiten hoher Inflation und steigender Miet- und Energiekosten ebenfalls nicht infrage. Schon während der Coronapandemie ist insbesondere bei Müttern, Eltern mit Einwanderungsgeschichte und mit niedrigen Haushaltseinkommen das Vertrauen in die Bundesregierung massiv gesunken.2 Unter allen denkbaren Varianten sei daher die Kappung des Elterngeldes für einkommensstarke Haushalte für die Familienministerin die am wenigsten schmerzlichste gewesen3, obwohl die Ministerin zugleich einräumte, dass dies kein Glanzstück für die Gleichstellung sei. Während einer Umfrage im Auftrag des „Spiegel“ zufolge zwei Drittel der Befragten der Abwägung von Bundesministerin Paus folgen und ihren Vorschlag für „eindeutig richtig“ 2 Sonja Bastin und Kai Unziker, Verlieren die Eltern ihr Vertrauen?, in: Caterina Bonora, Mara Kruse, Sylke Meyerhuber u.a. (Hg.), Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die CoronaPandemie, IPW WORKING PAPER, 5/2022, S. 44 f. 3 Melanie Amann und Milena Hassenkamp, „Das sind handfeste Verteilungskonflikte“, spiegel.de, 7.7.2023.
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22 Kommentare (52,5 Prozent) oder „eher richtig“ (15 Prozent) halten4, rief die Kappung des Elterngelds bei den Bestverdienenden Entsetzen hervor. Die Onlinepetition der gut vernetzten Jungunternehmerin Verena Pausder, selbst FDP-Mitglied, wurde in wenigen Tagen von fast 600 000 Leuten unterschrieben – das entspricht dem Zehnfachen der real betroffenen Familien. Unter diesem Druck gab sich Finanzminister Lindner schnell einsichtig: Man müsse über das Elterngeld noch einmal reden.
Wir haben es hier mit einem Paradebeispiel von Lobbyismus zu tun, das zeigt, wie es privilegierten Gruppen hierzulande immer wieder gelingt, ihre Interessen medial wirksam zu vertreten. Zum Vergleich: Die Onlinepetition zur höheren Besteuerung von Millionären, gestartet im Jahr 2021, hat es bis heute nicht einmal auf 100 000 Unterschriften gebracht. In Pausders Petition „Nein zur Elterngeld-Streichung“ wird die geplante Änderung als massiver Rückschritt für die Gleichstellung kritisiert. Auch wenn das Argument nicht ganz von der Hand zu weisen ist, so sollten Paare mit mindestens 150 000 Euro zu versteuerndem Einkommen pro Jahr doch in der Lage sein, eine faire Arbeitsteilung auszuhandeln. Zumindest ist davon auszugehen, dass Frauen mit hohem Bildungsniveau vor der Geburt ihrer Kinder bereits gute Einkommen erzielt und daher ein Interesse an einer eigenständigen Erwerbsbiographie haben sollten. Das Argument allerdings, ihnen drohe nun durch den Wegfall von maximal 1800 Euro ein empfindlicher Wohlstandsverlust, aufgrund dessen sie sich Kinder künftig nicht mehr leisten könnten, mutet bei einem Dreifachen des durchschnittli-
chen Haushaltseinkommens völlig bizarr an. Ebenso beschämend ist das in der Petition herausgestellte Argument, einkommensstarke Paare hätten sich hart nach oben gearbeitet. Mehr an Arroganz und Selbstüberhebung ist kaum vorstellbar: Was ist mit den Reinigungskräften, der Krankenpflegerin im Schichtdienst, dem Altenpfleger und der Verkäuferin, die ebenfalls jeden Tag hart arbeiten? Sie waren es, die während der Coronapandemie endlich als systemrelevant anerkannt wurden, mit diesen Tätigkeiten allerdings nie auch nur in die Nähe eines Haushaltseinkommens von 150 000 Euro gelangen werden. Auch der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil forderte anstelle von Elterngeldkürzungen die schnelle Abschaffung der Steuervorteile durch das Ehegattensplitting für alle neu geschlossenen Ehen. Reformvorschläge dieser Art liegen schon seit mindestens drei Jahrzehnten auf dem Tisch und würden auch deutlich mehr an Einsparungen bringen als die Kappung des Elterngeldes, nämlich gut 15 Mrd. Euro.5 Ihre Umsetzung wäre zudem ein wichtiger Schritt in Richtung Gleichstellung: Denn der Splittingvorteil des gemeinsam veranlagten zu versteuernden Einkommens setzt für den weniger verdienenden Ehepartner – in der Regel die Frau und insbesondere nach der Geburt eines Kindes – starke Negativanreize, überhaupt erwerbstätig zu sein oder das Arbeitszeitvolumen zu erhöhen. Verdient der Ehemann sehr viel, so zahlt die geringer verdienende Frau (Steuerklasse fünf) ab dem ersten Euro einen sehr viel höheren Steuersatz als eine unverheiratete Person. Kaum bekannt ist zudem, dass verheiratete Frauen mit einem Jahreseinkommen von unter 40 000 Euro im Durchschnitt doppelt so viele Steuern zahlen wie Ehemänner mit gleichem Einkommen. Dieses Ungleichgewicht in der Partner-
4 Vgl. Große Mehrheit findet Kappung beim Elterngeld richtig, spiegel.de, 7.7.2023.
5 Florian Diekmann, Milliarden für die Hausfrauenehe – zu wenig Hilfe für Kinder, spiegel. de, 15.7.2023.
Die Lobby der Besserverdienenden
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schaft geht für Frauen vor allem im Falle einer Scheidung mit gravierenden finanziellen Einbußen einher. Seit der Unterhaltsreform des Scheidungsrechts von 2008 gibt es für die Ehefrau keine nacheheliche Statussicherung mehr. Vielmehr wird von ihr nach der Scheidung, auch nach längeren beruflichen Auszeiten, erwartet, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, oft unterhalb ihres erworbenen Qualifikationsniveaus – und zwar sobald das jüngste Kind das dritte Lebensjahr vollendet hat. Frauen nehmen dann meist Teilzeittätigkeiten auf, da sie die Sorgearbeit für ihre Kinder oft allein schultern. Somit verdienen sie, zumal überwiegend in schlecht bezahlten Care-Berufen, zumeist deutlich weniger und schlittern daher deutlich häufiger in die Altersarmut als Männer.6 Führt man sich vor Augen, dass inzwischen vier von zehn Ehen geschieden werden, zeigt sich die Dimension des Problems. Bis heute macht die gemeinsame steuerliche Veranlagung von Eheleuten die Frau zum steuerrechtlichen Anhängsel des Mannes. Eine Reform des Instruments, das nicht Familien, sondern lediglich Ehen mit unterschiedlichen Einkommen fördert, ist demnach überfällig. Gleichwohl setzt eine solche Reform den entschiedenen Ausbau von hochwertigen Kindergartenund Hortplätzen voraus. Dafür ein Sondervermögen einzurichten, wäre eine wirkliche Zukunftsinvestition mit hohen Earn-back-Effekten: Denn die mit dem Heraufziehen einer wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft erforderliche gleichstellungsorientierte Modernisierung des Wohlfahrtsstaates, wie er in den skandinavischen Ländern bereits vor vierzig Jahren vollzogen wurde, steht hierzulande immer noch aus. Gepaart mit einer wesentlich besseren Bezahlung von Care-Berufen, würde sich dann auch der in diesen 6 Das geschlechtsspezifische Gefälle bei den Alterseinkünften lag 2022 laut Angaben des Statistischen Bundesamts bei knapp 30 Prozent, tagesschau.de, 7.3.2023.
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Berufssegmenten beklagte Fachkräftemangel wirkungsvoll überwinden lassen. Eine zielgenaue Familienförderung könnte zudem durch eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf Produkte und Dienstleistungen für Kinder würde Familien erreicht werden. Vor diesem Hintergrund ist auch das Veto von Lisa Paus gegen das Wachstumschancengesetz der FDP ein völlig richtiges Signal: Geld für die Kindergrundsicherung bekämpft Kinderarmut und bedeutet eine Zukunftsinvestition in Fachkräfte. Diese Summe auf zwei Mrd. statt der ursprünglich veranschlagten zwölf Mrd. zu kürzen, wäre skandalös. Eine Politik der Fehlanreize Darüber hinaus wäre es zielführend, die beitragsfreie Mitversicherung in der Ehe oder der Lebenspartnerschaft zu reformieren. Sie kostet die Krankenkassen pro Jahr zwischen acht und 13 Mrd. Euro und kommt die Solidargemeinschaft folglich teuer zu stehen.7 Bisher können sich Ehe- bzw. Lebenspartner nur dann beitragsfrei familienversichern, wenn sie keine oder lediglich geringfügige Einkünfte erzielen, sprich: Die gesamten Einkünfte dürfen pro Monat nicht mehr als 485 Euro betragen. Also ist bestenfalls ein Minijob oder eine zeitlich von vornherein auf zwei Monate begrenzte Beschäftigung möglich. Andernfalls müsste sich die Betroffene freiwillig kranken- und pflegeversichern. Im Zusammenspiel mit den Steuervorteilen des Ehegattensplittings bleibt es daher oft bei einer geringen Teilzeitarbeit. Und das, obwohl viele Mütter gut oder sehr gut ausgebildet sind. 80 Prozent von ihnen haben Sorgeberufe erlernt und werden händeringend gesucht. Auch diese Regelung erweist sich folglich als Fehlanreiz. 7 Dietrich Creutzburg, Höhere Krankenkassenbeiträge für Familien?, faz.de, 21.6.2023.
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24 Kommentare Denn eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wird erst dann attraktiv, wenn der erzielte Lohn nach Abzug der Krankenkassenbeiträge das Einkommen aus einer nicht sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit bei zugleich kostenloser Krankenversicherung übersteigt. Allerdings genügt es auch hier nicht, an nur einer Stellschraube zu drehen. Ebenso ist eine bessere Bezahlung von Care-Berufen nötig, um berufstätigen Müttern eine echte finanzielle Sicherheit und armutsfeste Rente zu ermöglichen. Es ist angesichts des akuten und sich weiter verschärfenden Fachkräftemangels unfassbar, dass – im Kern als eine Folge der genannten Fehlanreize – in Deutschland fast fünf Millionen Frauen im erwerbsfähigen Alter nicht erwerbstätig und auch nicht aktiv auf Jobsuche sind.8 Gleichstellung als Standortfaktor Doch Reformen, die diese Fehlanreize beheben würden, sind – trotz Klingbeils Vorstoß zur Abschaffung des Ehegattensplittings – aktuell nicht geplant. Stattdessen wird derzeit immerhin an einem anderen Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag zur Familienbesteuerung gearbeitet, nämlich an der Abschaffung der Steuerklassen 3 und 5, die in Steuerklasse 4 überführt werden sollen. Die Reform würde dem geringer verdienenden Ehepartner mehr Netto vom Brutto lassen und – so die Hoffnung der Familienministerin – die „ökonomische Gleichstellung von Frauen stärken“. Die Ampelkoalition erhofft sich zudem, dass dadurch mehr Frauen erwerbstätig werden oder ihre Arbeitszeit erhöhen. Doch selbst gegenüber dieser Minireform sind die Widerstände innerhalb von FDP und CDU/CSU beträchtlich. Stattdessen will die Union nun die Bezugsdauer des Elterngeldes um weitere zwei auf 8 Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), Fachkräfte für Deutschland, Berlin 2022.
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bis zu 16 Monate ausweiten. Veranschlagte Mehrkosten: 700 Mio. Euro. Sie wolle Väter dadurch ermutigen, die Elternzeit stärker als bisher zu nutzen. Eine verbindliche paritätische Teilung der Elternzeitmonate – acht Monate und acht Monate – ist damit allerdings nicht gemeint. Dieses wird nach wie vor deutlich stärker von Müttern in Anspruch genommen: Seit 2017 stagniert der Elterngeldbezug bei Vätern bei im Schnitt 3,6 Monaten, während Mütter durchschnittlich 14,6 Monate in Anspruch nehmen.9 Was die CSU auf ihrer diesjährigen Sommerklausur als „Stärkung eines familienfreundlichen Deutschlands“ ausgab, ist in Wahrheit nicht mehr als ein wahltaktisches Manöver, denn im Oktober findet in Bayern die nächste Landtagswahl statt. Doch solche Schnellschüsse können nicht darüber hinwegtäuschen, dass allein in der bayerischen Kreisstadt Freising – trotz Rechtsanspruch – 684 Familien zu Beginn des neuen Kitajahres keinen Krippen-, Kita- oder Hortplatz erhalten werden.10 Solange Gelder für den infrastrukturellen Ausbau in diesen Bereichen nicht als Zukunftsinvestitionen, sondern als Konsumausgaben gesehen werden, die in Zeiten multipler Krisen massiv zusammengestrichen werden können, wird sich die Politikverdrossenheit unter Eltern noch weiter verstärken. Hinzu kommt, dass auch beim Schüler- bzw. Studierenden-Bafög, der Migrationsberatung für Erwachsene und Jugendliche gekürzt und ein Programm zur Fachkräfteoffensive für Erzieher:innen im Bundeshaushalt 2024 gestrichen werden soll. Mit all diesen Maßnahmen verspielt Deutschland langfristig seine wirtschaftlichen Standortvorteile, anstatt sie auszubauen. Das aber sollte selbst Union und FDP zu denken geben. 9 Vgl. statista.de, 5.5.2023. 10 Andreas Beschorner, Kita-Krise in Freising: „Familien sitzen im sinkenden Schiff“, merkur.de, 25.7.2023; vgl. auch: Franziska Meyer-Lantzberg, Stefan Kerber-Clasen, Yalçın Kutlu, Kita – Krise – Kollaps?, in: „Blätter“, 8/2023, S. 111-116.
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Mordechai Kremnitzer
Israel: Der Putsch von oben und das Recht zum Widerstand Ungeachtet der anhaltenden Massenproteste hat das israelische Parlament ein Kernelement der umstrittenen Justizreform verabschiedet. Es beschloss Ende Juli, die sogenannte Vernunftoder Angemessenheitsklausel abzuschaffen. Diese gibt dem Obersten Gerichtshof das Recht, Regierungsentscheidungen als unangemessen zurückzuweisen. Jetzt liegt der Ball bei dem Gericht, das seine eigene Entmachtung als unvereinbar mit den Grundprinzipien der Demokratie erklären könnte. Es wird im September das erste Mal über den Beschluss beraten. Hochrangige Regierungsmitglieder haben schon jetzt bekundet, dass sie ein derartiges Gerichtsurteil nicht respektieren würden. Premierminister Benjamin Netanjahu selbst gibt israelischen Medien keine Interviews; offenbar fühlt er sich nicht verpflichtet, den Bürgern gegenüber Rechenschaft abzulegen. Von ausländischen Sendern lässt er sich umso bereitwilliger interviewen und spielt dabei die Bedeutung der Gesetzesänderung herunter. Darauf festlegen, dass er die Gerichtsentscheidung akzeptieren wird, will Netanjahu sich nicht. Obwohl das für einen Premier eines Landes, das sich als Rechtsstaat versteht, eigentlich selbstverständlich sein sollte. Aber was ist noch selbstverständlich bei dieser Regierung? Wir mussten uns in den letzten Monaten daran gewöhnen, dass sie völlig irrational agiert. Insofern ist es folgerichtig, dass sie die sogenannte Vernunft- oder Angemessenheitsklausel unbedingt abschaffen will. Diese Klausel hat für die Demokratie in Israel eine wichtige Funktion. Die
Prüfung bezieht sich nicht auf konkrete Rechtsverstöße der Regierung, sondern darauf, ob alle relevanten Faktoren berücksichtigt und angemessen gewichtet wurden. Das Gericht interveniert nur, wenn es eine Entscheidung für „extrem unangemessen“ hält. Salopp gesprochen: Wenn das Gericht zwar den klaren Eindruck hat, dass etwas faul ist und es illegale Motive für eine Entscheidung gibt, dies aber im Detail nicht beweisen kann, dann ist die Angemessenheitsklausel die einzige Möglichkeit einzuschreiten. Bei der aktuellen Regierung ist die Angst sehr begründet, dass sie üble Dinge tut und diese verschleiert, da sie gewohnheitsmäßig Falschinformationen verbreitet. Das Instrument, unvernünftiges Handeln der Regierung oder eines Ministers für illegal zu erklären, ist also dringend nötig. Deshalb wird die Entscheidung des Gerichts von enormer Bedeutung sein, genauso wie die Reaktion, die darauf folgen wird. Wenn die Regierung das Urteil nicht befolgt, gerät Israel in eine verfassungsrechtliche Sackgasse. Wir können nur hoffen, dass sie nicht so weit gehen wird – auch aus wirtschaftlichen Gründen. Denn wenn sie sich über das Rechtssystem hinwegsetzt, hört Israel auf, ein Rechtsstaat zu sein. Und das hätte zugleich schwerwiegende ökonomische Folgen. Das dürfte Ministerpräsident Netanjahu bewusst sein. Weil wir hier aber über Leute sprechen, die nicht gerade rational handeln, können wir uns keineswegs sicher sein. Wir können uns auch nicht sicher sein, wie das Gericht entscheidet. Um die Demokratie zu retten, muss das
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26 Kommentare oberste Gericht auch tatsächlich aktiv und kreativ sein – was unseres nicht immer ist. Es neigt stattdessen dazu, konservativ und sehr auf die nahe Zukunft fixiert zu sein. Und wenn in Kürze drei der liberalen und kreativeren Richter, unter ihnen auch die Präsidentin Esther Hayut, in den Ruhestand gehen, wird es noch konservativer werden. Die Innovationskraft des obersten Gerichts hängt aber auch vom gesellschaftlichen Klima ab. Eine seiner Aufgaben ist der Schutz der Menschenrechte, insbesondere von Minderheiten. Die wichtigste Minderheit, die in Israel geschützt werden muss, ist die arabische. Aber es geht auch um die Rechte der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland und von Geflüchteten. Ein Großteil der israelischen Bevölkerung hat allerdings nicht viel Interesse am Schutz dieser Rechte. Das Gericht hat also eine Agenda, die liberaler und progressiver ist als die Ansichten der Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit. Hinzu kommt, dass die Regierung das Gericht seit mindestens zwanzig Jahren auf eine sehr bösartige Weise angreift. Es wird ihm also extrem schwergemacht, die Demokratie zu schützen. Auch deshalb ist die Hartnäckigkeit der aktuellen Protestbewegung sehr wichtig, auch die der Reservistinnen und Reservisten, die lautstark ihren Freiwilligendienst verweigern angesichts des Abbaus der Demokratie. Hier hat die israelische Gesellschaft ihr schönes Gesicht gezeigt: die Bereitschaft, für die Demokratie zu kämpfen. Und Teil dieses Kampfes sind auch Aufrufe zu zivilem Ungehorsam. Aber was heißt ziviler Ungehorsam? Ziviler Ungehorsam wird zum Thema, weil das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ versagt. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben verschiedene Länder – darunter Deutschland und Israel – dieses Konzept eingeführt. Im Hinterkopf hatte man dabei die spöttischen Äußerungen des NaziPropagandisten Joseph Goebbels über
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die Demokratie als eine Regierungsform, die es ihren Gegnern ermöglicht, sich den Weg zur Herrschaft zu bahnen und sie von innen heraus zu zerstören. Nach dem Prinzip der wehrhaften Demokratie verfügt sie nun über Mittel, um für ihr Überleben zu kämpfen, insbesondere den Ausschluss von politischen Parteien und Kandidaten, die sie negieren. Gleichzeitig führt das Bekenntnis zur Demokratie aber dazu, dass die Disqualifizierung von Parteien und Kandidaten auf die extremsten Fälle reduziert wird. Wehrlose Demokratie Wehrhafte Demokratien befinden sich somit in der Zwickmühle eines fast nie angemessenen Timings: Wenn die politische Kraft, von der die Gefahr für die Demokratie ausgeht, noch klein ist, stellt sie vordergründig keine wirkliche Bedrohung dar, aber wenn sie zu einer bedeutenden Kraft wird, kann es bereits zu spät sein, um sie noch aufzuhalten. Die Wahl von Personen wie Itamar Ben-Gvir1 in die israelische Knesset oder der Einzug der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) in den Deutschen Bundestag hat in diesem Sinne bewiesen, dass die wehrhafte Demokratie nicht funktioniert. Die Lehre des zivilen Ungehorsams – die in den Vereinigten Staaten entstand und auf Henry David Thoreau im 19. und John Rawls im späteren 20. Jahrhundert zurückgeht – war dagegen nicht darauf ausgerichtet, das demokratische System vor einer möglichen Zerstörung zu bewahren. Ihr Ziel war es, dort Abhilfe zu schaffen, wo ein grundlegender Fehler vorliegt – wie im Fall der Rassentrennung, die in den Vereinigten Staaten praktiziert wurde. Ziviler Ungehorsam in diesem 1 Ben-Gvir wurde 2007 von einem israelischen Gericht wegen rassistischer Aufhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Seit Dezember 2022 ist er Minister für die Nationale Sicherheit Israels.
Sinne umfasst gewaltlose Verstöße gegen das Gesetz, die darauf abzielen, andere von der Notwendigkeit zu überzeugen, eine staatliche Ungerechtigkeit zu korrigieren. Aber sie bleiben illegal. Staatstreue und der Rechtsstaatlichkeit verpflichtete Menschen begeben sich damit wissentlich in die Hände der offiziellen staatlichen Stellen, die berechtigt sind, rechtliche Schritte gegen sie einzuleiten. Gleichzeitig besteht die Erwartung, dass die positive Motivation, die sie zur Verweigerung des Gehorsams gegenüber dem Gesetz veranlasst hat, in dem Verfahren gegen sie als mildernder Umstand gewertet wird. Gerechtfertigter Ungehorsam In Israel ist heute klar, dass wir uns mit diesem Ansatz nicht begnügen können, um die Demokratie zu verteidigen. Zunächst einmal muss der Begriff „Rechtsbruch“ im Hinblick auf zwei Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung genau definiert werden: das Prinzip der Allgemeinen Handlungsfreiheit der Bürger und das Prinzip der Rechtmäßigkeit des staatlichen Handels. Nach diesen Grundsätzen ist es den Bürgern erlaubt, alles zu tun, was nicht verboten ist, während der Staat nur aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung handeln darf. So kann beispielsweise eine Anweisung eines Polizeibeamten an Demonstranten, die ihrem Recht auf Protest widerspricht, rechtswidrig sein. Dann ist es wiederum nicht verpflichtend, ihr Folge zu leisten, und jeder, der ihr nicht gehorcht, ist nicht kriminell. Man kann sich viele andere Fälle vorstellen, in denen etwas den Anschein hat, legal zu sein, aber in Wirklichkeit illegal ist und daher nicht zur Einhaltung verpflichtet. Dies gilt für sogenannte Bildungsprogramme, die dem nationalen Bildungsgesetz widersprechen – wie die Anweisung, öffentlich kontroverse Themen nicht zu
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diskutieren –, oder wenn sie die Menschenwürde oder das Recht auf Gleichheit verletzen. Ebenso ist es nicht rechtmäßig, die staatliche Kunstförderung nur zu gewähren, wenn die Künstler die Regierung nicht kritisieren. Wer sich solchen illegalen Anweisungen widersetzt, handelt nicht illegal. Er leistet also genau genommen auch keinen zivilen „Ungehorsam“. Es ist das Recht und vielleicht auch die Pflicht der Bürger in einem Rechtsstaat, dafür zu sorgen, dass sich ihre Vertreter gesetzeskonform verhalten. Umgekehrt liegt es in der Natur der Regierungsfunktion, dass sie dazu neigt, für sich selbst Befugnisse zu begehren, die über die hinausgehen, mit denen sie gesetzlich ausgestattet ist. Im Fall der aktuellen israelischen Regierung ist der Appetit auf solche Abweichungen grenzenlos. Ein Regime, das sich so verhält, untergräbt die Grundfesten des Rechtsstaates, und die Bürger müssen auf der Einhaltung des Rechts beharren. Das aber reicht in der aktuellen Situation nicht aus. Kurz gesagt: Die Bewahrung der Demokratie könnte Handlungen erfordern, die unter normalen Umständen nicht gerechtfertigt wären. Die Idee, die dieser Möglichkeit zugrunde liegt, ist die des „rechtfertigenden Notstands“, die auf den deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurückgeht. Demnach kann es notwendig sein, ein legitimes Interesse zu opfern, um ein anderes legitimes Interesse zu retten. Dies ist dann der Fall, wenn das zu rettende Interesse erheblich schwerer wiegt, wenn es keine andere vernünftige Möglichkeit gibt, es zu verteidigen, ohne das kollidierende Interesse zu schädigen, und wenn es sich bei den eingesetzten Mitteln um geeignete Mittel handelt.2 2 Im deutschen Recht ist dieser Rechtsgedanke in Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes verankert: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
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28 Kommentare Unter diesen Bedingungen ist ein Gesetzesbruch gerechtfertigt und zulässig. Wenn es in einer Wohnung brennt und aus dieser Wohnung Hilferufe zu hören sind, darf jeder in die Nachbarwohnungen eindringen und aus ihnen alles mitnehmen, was zur Rettung der Eingeschlossenen beitragen könnte. Diese Handlungen, die normalerweise als illegal angesehen werden, sind durch die besonderen Umstände gerechtfertigt und erlaubt. Israel auf dem Weg in einen nationalistisch-religiösen Staat Es ist schwierig, sich das Horrorszenario auszumalen, das sich in Israel abspielen wird, wenn es der Regierung gelingen sollte, ihre Justizreform, die einem Staatsstreich von oben gleicht, auch gegen das Oberste Gericht umzusetzen. In einem solchen Szenario wird ein Regime geschaffen, das über unbegrenzte Möglichkeiten verfügt, um korrupt, willkürlich und tyrannisch zu handeln. Es wird nicht das öffentliche Wohl im Auge haben, sondern das Wohl der Herrschenden, ihrer Mitarbeiter und ihrer Anhänger. Um seine eigene Existenz zu sichern, wird es unter anderem die Rede- und Meinungsfreiheit beseitigen. Diese Maßnahmen werden von der parlamentarischen Mehrheit ergriffen – also unter dem Deckmantel der „Rechtsstaatlichkeit“. Israel wird ein nationalistisch-religiöser Staat werden, der Gleichheit und Menschenwürde negiert. Er wird diejenigen, die in seinem öffentlichen Dienst kompetent sind, durch unqualifizierte, regimetreue Leute ersetzen. Der Staat wird mit offenen Augen in den Konflikt mit seinen Nachbarn marschieren – und in den diplomatischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Ruin. Ein solches Regime wird eine greifbare Gefahr für Israels Sicherheit und seine Existenz darstellen. Das Ausmaß dieser Gefahr kann bestimmte Geset-
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zesverstöße rechtfertigen – wie Verkehrsverstöße, die keine Gefahr für Leib und Leben darstellen, verbotene Versammlungen und mehr –, deren Ziel es ist, den Eintritt des Verderbens zu verhindern, sowie auch Verstöße gegen Disziplinarvorschriften, wie das unerlaubte Fernbleiben vom Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, um an einer Demonstration teilzunehmen. Damit ein derartiger Rechtsbruch als gerechtfertigt anerkannt werden kann, muss er vier Kriterien erfüllen: Erstens muss er auf die Wahrung der Demokratie abzielen, das heißt, er muss die (als Konservative getarnten) Revolutionäre dazu bringen, von ihren Plänen Abstand zu nehmen. Es muss deutlich gemacht werden, dass deren Schritte nicht legitim sind. Zweitens dürfen die Verstöße gegen das Gesetz keine Gewalt oder Verletzung der Menschenwürde nach sich ziehen. Drittens sind nur solche Gesetzesverletzungen zulässig, die begangen werden, nachdem die gesetzlich zulässigen Mittel des Protests und des Widerstands ausprobiert wurden und nicht in der Lage waren, die demokratie-zerstörenden Maßnahmen zu verhindern. Viertens schließlich muss der Schaden, der durch die Verstöße entstanden ist, etwa für die Wirtschaft oder die Öffentlichkeit, deutlich geringer sein als der Schaden, der entstanden wäre, wenn die Gesetze nicht verletzt worden wären. Die Gerichte wiederum sind befugt, die Grenzen des strafrechtlichen und disziplinarischen Verschuldens festzulegen. Sie können beispielsweise in bestimmten Fällen von der Verfolgung von Disziplinarverstößen absehen, wenn sie aufgrund außergewöhnlicher Umstände zustande gekommen sind. Insofern erlebt das israelische Justizsystem gerade zwei historische Prüfungen seiner Demokratietreue: Das oberste Gericht muss seine eigene Entmachtung zurückweisen und die Justiz insgesamt anerkennen, dass Gesetzesbruch zur Verteidigung der Demokratie gerechtfertigt sein kann.
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Anita Starosta
Im Überlebenskampf: Die Kurden nach Erdog˘ans Sieg Es waren wenige Wochen, in denen politische Exilant:innen die leise Hoffnung hegten, ihre Familien in der Türkei wieder besuchen zu können, in denen vorsichtig ausgesprochen wurde, dass die Tausenden politischen Gefangenen eine Chance auf Freilassung hätten und es wieder möglich sein könnte, sich ohne Repression für Frauenrechte und Minderheiten einzusetzen. Kurz schien es vorstellbar, der Drohnenkrieg gegen Nordostsyrien könne enden und Hunderttausende kurdische Flüchtlinge könnten in ein freies Afrin zurückkehren. All diese Hoffnungen wurden gespeist durch den Blick auf die türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai. Die Voraussetzungen für einen politischen Wandel schienen infolge des Jahrhunderterdbebens, des staatlichen Versagens bei der Nothilfe und der schlechten Wirtschaftslage günstig. Eine breite Opposition hatte sich auf den CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdarog˘lu als einzigen Präsidentschaftskandidaten geeinigt, obschon dieser bei weitem kein Wunschkandidat aller war. Doch der kurze Moment der Hoffnung ist großer Enttäuschung gewichen. Überdeutlich zeigt sich das gerade auch in den kurdischen Gebieten im Osten der Türkei und in Nordostsyrien, die seit Jahren unter Repressionen und Angriffen des türkischen Militärs leiden. Angesichts dessen war gerade in Nordostsyrien, im Gebiet der autonomen kurdischen Selbstverwaltung, die Hoffnung auf einen politischen Wechsel groß. Davon waren ganz grundsätzliche Dinge berührt: ohne Angst vor
einem türkischen Drohnenangriff die Landstraße befahren zu können, oder ohne Wasserknappheit – verursacht durch die türkische Regulierung – den heißen Sommer zu überstehen. Die türkische Bedrohung ist eine permanente Belastung für die dortige Bevölkerung. Die Sehnsucht nach einem friedlichen Alltag ließ sie daher gebannt auf die andere Seite der Grenzmauer blicken. Während im Nordwesten Syriens die islamistischen Rebellengruppen den Wahlsieg Recep Tayyip Erdog˘ans groß feierten, war die Stimmung in den kurdisch geprägten Gebieten nach dem Ausgang der Stichwahl also im Keller. Denn jetzt geht alles weiter wie gehabt: Nur eine Woche nach der Wahl nahmen die Drohnenangriffe in der Region wieder zu und halten bis heute an. Ziele dieser Angriffe sind Militärs und das Personal der kurdischen Selbstverwaltung, aber auch unbeteiligte Zivilist:innen. So schwächt das türkische Militär die Selbstverwaltung empfindlich und verbreitet in der Bevölkerung ein permanentes Bedrohungsgefühl – leider sehr effektiv. Zudem wird sich die schon vor der Wahl abzeichnende Annäherung zwischen den beiden Machthabern Baschar al-Assad und Erdog˘an wohl nun weiter verstetigen.1 Ende April, also kurz vor der Wahl, kam es in Moskau zum zweiten sogenannten Vierertreffen. Die Verteidigungsminister beider Länder trafen sich unter Beteiligung von Russland und Iran mit dem Ziel, die Probleme im Kriegsgebiet durch 1 Kristin Helberg, Machterhalt um jeden Preis: Erdog˘an, Assad und das große Beben, in: „Blätter“, 3/2023, S. 83-90.
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30 Kommentare Verhandlungen zu lösen. Dabei ging es um die Rückführung syrischer Flüchtlinge aus der Türkei ebenso wie um die islamistischen Rebellengebiete in den syrischen Regionen Afrin und Idlib, deren Schutzmacht die Türkei ist. Ein zentrales Ziel der Türkei war in diesen Gesprächen jedoch auch die Zerschlagung der autonomen Selbstverwaltung in Nordostsyrien. Bisher gibt es keine offiziellen Runden, an denen die Vertreter:innen der Selbstverwaltung beteiligt werden oder bei denen sie anerkannter Verhandlungspartner sind. Sie sind auf die Gunst des Assad-Regimes angewiesen und werden Zugeständnisse machen müssen, wenn es hart auf hart kommt. Selbst die Ankündigung der Selbstverwaltung, die inhaftierten, teils internationalen IS-Terroristen nun vor ein Tribunal zu führen, hat bisher nicht dazu geführt, dass internationale Akteure die dortigen Politiker:innen als Vertreter:innen dieses Gebietes, das immerhin ein Drittel Syriens umfasst, ernst nehmen. Nun da Erdog˘an wieder fest im Sattel sitzt, fehlt der Region eine Entwicklungsperspektive. Verlierer:innen werden am Ende die Kurd:innen sein – sofern es nicht zu einer unerwarteten Intervention seitens der EU oder der Nato kommt. Diese könnten sich als machtpolitische Akteure in der Region durchaus aktiver einbringen und sich dabei an die Seite derjenigen stellen, die eine demokratische Alternative verkörpern. Unfaire Wahlen Denn aus Ankara werden in den nächsten Jahren gewiss keine demokratischen Impulse kommen. Schon nach dem ersten Wahlgang war klar: Die türkische Bevölkerung hat mehrheitlich rechts gewählt. Sowohl das islamistisch-nationale als auch das rechtsextreme Lager gingen deutlich gestärkt aus der Wahl hervor und dominieren weiterhin das Parlament. Es
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folgte ein zweiwöchiger Wahlkampf vor der Stichwahl, in dem besonders Erdog˘ans Herausforderer Kılıçdarog˘lu um die Wählerstimmen des rechten Ultranationalisten Sinan Og˘an buhlte und die rassistische Hetze gegen syrische Flüchtlinge auf die Spitze trieb. In der Stichwahl setzte sich Erdog˘an durch, auch eine große Mehrheit der im Ausland lebenden Türk:innen votierte für ihn. Seine Anhänger:innen feierten hier wie dort, selbst auf den Trümmern im Erdbebengebiet wurde gejubelt. Dass nicht einmal die Erdbebenkatastrophe – in der Millionen Menschen auch vom staatlichen Versagen unmittelbar betroffen sind – sowie eine extreme Wirtschaftskrise im Land mit einer Teuerungsrate von über 40 Prozent zur Abwahl des autoritären Herrschaftsapparats führte, wirft Fragen auf. Wie lässt sich der Wahlsieg des Autokraten Erdog˘an erklären?2 Die Wettbewerbsbedingungen waren nicht gleichwertig, befand auch die Beobachtermission der OSZE des Europarates. Die Medien sind voreingenommen, 95 Prozent der Fernsehsender stehen unter Kontrolle des Staatsapparates. Die Meinungsfreiheit im Land ist eingeschränkt. Rassistische und kurdenfeindliche Übergriffe, homophobe Hetze und gezielte Desinformation waren Teil von Erdog˘ans Medienstrategie. Bei der Wahl kam es zu den üblichen Unstimmigkeiten: Tweets und Meldungen über falsch gestempelte Stimmzettel, Übergriffe in Wahlbüros oder Behinderung der Wahlbeobachtung machten die Runde. Von fairen, freien Wahlen konnte keine Rede sein. All das ist bedeutsam, dennoch lässt sich der Sieg des Autokraten und das Erstarken des Ultranationalismus sowie des politischen Islams damit nicht erklären. Offensichtlich ist es Erdog˘an mit seiner altbekannten Strategie erneut ge2 Jürgen Gottschlich, Ein Triumph der Schwäche: Erdog˘ans letzter Sieg, in: „Blätter“, 7/2023, S. 93-98.
lungen, die Verantwortung für die Krisen zu externalisieren und damit von sich fernzuhalten: An der Wirtschaftskrise seien diejenigen schuld, die eine große, starke Türkei verhindern wollen. Und das Erdbeben habe ein Ausmaß gehabt, dem kein Staat der Welt gewachsen gewesen wäre. Gleichzeitig konnte sich Erdog˘an mit seinen Versprechen für den Wiederaufbau, Soforthilfen und Geldverteilung als großzügiger und fürsorglicher Landesvater inszenieren. Dass der Wiederaufbau sich über Jahre hinziehen wird, Betroffene sich für neue Wohnungen verschulden müssen und auch monetäre Hilfen nur über Kredite mit absurden Zinsen vergeben werden, verschweigt er geflissentlich. Die Opposition in der Krise Der Sozialwissenschaftler Hamit Bozarslan erklärt den Wahlausgang mit Phänomenen, die sich in den Jahren der Erdog˘an-Autokratie in der Gesellschaft verfestigt haben. Er sieht einen Verlust rationaler Fähigkeiten, ja eine „Verdummung“ in der Gesellschaft, die etwa in dem Erdbeben und seinen Folgen nur Schicksal erkennen kann. In affektgeladenen Krisenzeiten würden viele aus Angst an Altbewährtem festhalten. Eben das bedient auch der von Erdog˘an postulierte neoosmanische Kurs unter Stärkung des politischen Islams. Die Berufung auf den türkischen Nationalismus – historisch eng verknüpft mit dem Genozid an den Armenier:innen und der Unterdrückung anderer Minderheiten, insbesondere der Kurd:innen – als Stabilitätsfaktor erkläre denn auch das strikte Festhalten an antikurdischen und rassistischen Grundhaltungen. Für Bozarslan bedarf es einer grundlegenden gesellschaftlichen Transformation, die über Wahlen alleine nicht erreicht werden könne. Zur Überwindung des radikalen Nationalismus sei eine „demokratische Befreiungspädagogik“ nö-
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tig. Es brauche neue Freiräume für das Denken, die Sprache, die Kritik und den Körper – eine demokratische Revolution. Keine leichte Sache, aber für weniger sind Demokratie und Freiheit in der Türkei wohl nicht zu haben. Für die linke Opposition ist der Wahlausgang eine Niederlage. Angeführt von der progressiven und prokurdischen HDP musste sie unter extrem schwierigen Bedingungen Wähler:innen mobilisieren. Um einem anstehenden Parteiverbot zu entgehen, hatten sie in den Monaten zuvor unter Hochdruck am Aufbau der Grünen Linkspartei (Yes¸il Sol Parti) gearbeitet – ein Kraftakt, zumal knapp 4000 Parteimitglieder sowie führende Funktionär:innen in Haft sind; seit 2016 wurden über 25 000 Parteimitglieder kurz-, mittel- oder langfristig inhaftiert. Hinzu kommt, dass ein Kerngebiet der Partei nach dem Erdbeben quasi in Trümmern liegt und fast alle Aktiven in den Monaten vor der Wahl in Hilfsmaßnahmen eingebunden waren. Dass Kılıçdarog˘lu bei der Stichwahl in vielen kurdischen Städten über 70 Prozent der Stimmen erhielt – mehr als in den Gebieten seiner Stammwählerschaft im Westen des Landes – zeigt, wie groß der Wunsch nach Abwahl Erdog˘ans dort ist. Die Grüne Linkspartei kam landesweit jedoch nur auf knapp neun Prozent der Stimmen, drei Prozentpunkte weniger als die HDP fünf Jahre zuvor. Mit ihrem auf Demokratisierung setzenden Ansatz hat sie die Gesellschaft nicht erreicht. Der ehemalige Parteivorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas¸, dessen unrechtmäßige Inhaftierung vom Europäischen Gerichtshof erst kürzlich einmal mehr festgestellt wurde, fasste es nach der Wahl so zusammen: „Wenn man der Bevölkerung, die der kapitalistischen Moderne verfallen ist, die demokratische Moderne nicht erklären und keine Alternative für ein gutes und ehrenvolles Leben anbieten kann, ist der gesellschaftliche Zusammenbruch unausweichlich.“ Einige Tage später er-
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32 Kommentare klärte er seinen vorläufigen Rücktritt aus der aktiven Parteipolitik. Auch die beiden Ko-Vorsitzenden der HDP kündigten an, nicht mehr für den Parteivorsitz anzutreten. Nun steht ein Konsolidierungsprozess an. Mit Blick auf die anstehende Kommunalwahl im März 2024 ist dafür nur wenig Zeit. Zivilgesellschaft unter Druck Leidtragende der Wahl waren auch und besonders die knapp drei Millionen syrischen Geflüchteten, die in der Türkei seit dem Syrienkrieg leben und zum politischen Faustpfand Ankaras gegenüber der Europäischen Union geworden sind. Beide Präsidentschaftskandidaten führten den Wahlkampf über rassistische Mobilisierungen und eine Antiflüchtlingspolitik. Erdog˘an präsentierte neue Bauprojekte und fast fertige Retortenstädte in den türkisch kontrollierten Gebieten Nordsyriens und
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kündigte an, eine Million Syrer:innen zeitnah dorthin zu schicken. Kılıçdarog˘lu bediente sein rechtes Wählerspektrum, indem er großspurig verkündete, die „freiwillige“ Rückkehr von Syrer:innen in den kommenden zwei Jahren zu organisieren. Damit bediente er eine rassistische Grundstimmung gegenüber Geflüchteten, die nach dem Erdbeben in der Südosttürkei besonders offensichtlich ist. In den ersten Tagen nach der Jahrhundertkatastrophe kam es in Städten in der Provinz Hatay zu Hetzjagden auf Geflüchtete. Syrische Flüchtlinge sind bis heute im Erdbebengebiet die absoluten Verlierer:innen. Sie werden in Zeltlagern separiert, sind dort weitestgehend auf sich allein gestellt und ohne Perspektive. Für die Zivilgesellschaft in der Türkei und Syrien wird die Arbeit also weiterhin extrem schwierig bleiben. Sie steht in der Türkei mehr denn je unter Druck der staatlichen Repression und muss Behinderungen fürchten. Dabei ist ihr Einsatz besonders in den stark vom Erdbeben betroffenen Gebieten für viele überlebenswichtig. Es wird sich zeigen, ob es der linken Opposition in der Türkei unter den autoritären Bedingungen gelingt, eine demokratische Alternative anzubieten und sich damit gegen die Widerstände von oben durchzusetzen. Für Nordsyrien hingegen ist die Perspektive düster: Die humanitäre Lage hat sich nach dem Erdbeben einmal mehr verschärft, und Assad gelingt es zunehmend, sich international auch über die Verteilung humanitärer Hilfe zu rehabilitieren. Die Annäherung der beiden Despoten zementiert diese Entwicklung weiter. Solange daher von der internationalen Gemeinschaft keine politischen Lösungen für die Region forciert werden, in denen Menschenrechte und Demokratie das Handeln leiten, bleibt für die Bevölkerung und die aktive Zivilgesellschaft bloß ein harter Überlebenskampf – mit wenig Aussicht auf Besserung.
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Maximilian Pichl
Systemisch verantwortungslos: Europas Flüchtlingspolitik Wieder einmal sind die Flüchtlingszahlen weltweit angestiegen. Laut dem Global Trends Report des UN-Flüchtlingshilfswerks waren Ende 2022 mehr als 108 Millionen Menschen auf der Flucht.1 Doch zu den wiederholten Warnungen vor einem angeblichen Massenansturm auf Europa besteht kein Anlass. Denn von den aktuellen Flüchtlingen sind 62,5 Millionen Menschen Binnenvertriebene, die also ihren Herkunftsstaat nicht verlassen haben. Und von den restlichen rund 35 Millionen Menschen kommt nur ein Bruchteil in die Europäische Union. Dort sind im vergangenen Jahr die Flüchtlingszahlen vor allem wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gestiegen, der die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg zur Folge hatte. Aktuell ist Europa weit davon entfernt, einen Großteil der Schutzsuchenden aufzunehmen. Ein Weckruf für die internationale Staatengemeinschaft sollten die neuen Zahlen der UN dennoch sein. Notwendig wären gemeinsame Absprachen, wie fluchtauslösende Kriege und Konflikte gelöst werden können, wie sich das jährlich tausendfache Sterben an den Grenzen beenden ließe, wie Schutzsuchenden eine menschenwürdige Unterbringung ermöglicht wird, wie sie Zugang bekommen zu fairen und rechtsstaatlichen Verfahren und welche Schritte nötig sind, um ihnen langfristige Perspektiven in den Aufnahmegesellschaften zu ermöglichen. Stattdessen steht das individuelle Asyl1 Vgl. Zahlen und Fakten zu Menschen auf der Flucht, uno-fluechtlingshilfe.de.
recht weltweit unter Druck. Zunehmend stellen die ökonomisch starken Staaten des Globalen Nordens rechtsstaatliche Asylverfahren zur Disposition und setzen auf Abschottung. In den USA hat die Regierung unter Joe Biden eine Regelung zu verantworten, durch die Schutzsuchenden die Einreise verweigert wird, wenn sie nicht zuvor Asyl in einem Drittland beantragt haben. Im Juli 2023 kippte ein US-Bundesgericht diese Regelung zwar vorläufig, aber der Kurs der Regierung ist klar. In Großbritannien versucht die ToryRegierung unter Rishi Sunak, auf allen Ebenen Fluchtwege zu versperren und Asylsuchende zu entrechten. Immerhin ist Innenministerin Suella Bravermann mit ihrem Plan gescheitert, eine rigorose Rückführungspolitik zu betreiben. Der sogenannte Ruanda-Deal, durch den Asylsuchende in das afrikanische Land abgeschoben werden sollten – egal, ob sie sich zuvor dort aufgehalten haben oder nicht –, wurde durch das Berufungsgericht in London gekippt. In Ruanda gäbe es kein funktionierendes Asylsystem, dass Schutzsuchende vor der Kettenabschiebung in andere Staaten schütze, so das Gericht. Diesen menschenrechtlichen Einwänden zum Trotz hat die Ruanda-Lösung jedoch auch in der EU Anhänger. So setzte sich die österreichische schwarz-grüne Regierung bei den Verhandlungen um ein neues Asylsystem in Brüssel vehement für eine solche Möglichkeit ein. Mit dem Ratsbeschluss vom 8. Juni zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) ist die EU noch nicht so weit gegangen wie
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34 Kommentare die Biden-Regierung in den USA oder die Tories in Großbritannien. Aber der Beschluss der europäischen Innenminister demonstriert den Unwillen Europas, einen rechtebasierten Flüchtlingsschutz aufrechtzuerhalten. Dabei hat insbesondere die Bundesrepublik Deutschland eine historische Verantwortung: Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 waren auch eine Reaktion auf die Gräueltaten des NS-Regimes und millionenfacher Flucht in den 1930er und 1940er Jahren. Dennoch hat die Ampelregierung bei den Verhandlungen auf EU-Ebene die restriktive Position der EU-Kommission im Prinzip gestützt und keine Abkehr von der Politik der Entrechtung gefordert.
Ein zentraler Baustein des internationalen Flüchtlingsschutzes ist das Verbot des sogenannten Refoulement. Das heißt: Kein Vertragsstaat darf Menschen in ein Land abschieben, in dem dieser Person Folter oder eine unmenschliche Behandlung droht. Um das sicherzustellen, bedarf es aber individueller Verfahren, damit dies im Einzelfall überprüft wird. Die aktuellen Debatten um eine Ersetzung des individuellen Asylrechts, die jüngst etwa der Unionsgeschäftsführer Thorsten Frei gefordert hat,2 ignorieren, dass durch den Refoulement-Schutz in jedem Fall ein individuelles Verfahren durchgeführt werden muss, wenn ein Mensch in Europa um Asyl ersucht. Auf dem Papier lassen die EU-Innenminister das individuelle Asylrecht und den Refoulement-Schutz zwar stehen, sie wollen aber mit dem neuen, von der EU-Kommission vorgeschlagenen, Asyl- und Migrationspakt Ins-
trumente einführen oder ausbauen, die einen Zugang zu vollwertigen Asylverfahren versperren: Im Pakt enthalten sind unter anderem Schnellverfahren ohne umfassende Sachverhaltsprüfung, Haftzentren und weniger Rechtsschutz. Viele Regierungen der EU-Mitgliedstaaten wollen im Kern, dass keine Flüchtlinge mehr auf illegalisierten Routen nach Europa gelangen – und sie weigern sich zugleich, legale Fluchtwege zu schaffen.3 Die geplanten EU-Asylrechtsverschärfungen treiben die seit mehreren Jahrzehnten dominierende Logik der Externalisierung der Migrationskontrollen in doppelter Hinsicht weiter: Erstens schieben die zentraleuropäischen Mitgliedstaaten weiterhin die Verantwortung für die Aufnahme von Schutzsuchenden an die europäische Peripherie ab. In Griechenland, Italien und Spanien sollen die neuen Grenzverfahren vorrangig durchgeführt werden, und auf eine verbindliche Verteilung von Asylsuchenden in Europa hat sich der Rat nicht geeinigt. Zweitens werden bereits vorhandene Instrumente wie die sicheren Drittstaatkonzepte verschärft und ausgeweitet, um leichter Abkommen mit autokratischen Drittstaaten schließen zu können. Die Standards, ab wann ein Staat nach EU-Recht als angeblich sicher gilt, werden dabei noch einmal stark abgesenkt, beispielsweise muss der Staat künftig nicht mehr umfassend die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert oder umgesetzt haben. Durch diese Änderung soll auch der EU-Türkei-Deal nachträglich legalisiert werden, der nie dem europäischen Asylrecht entsprochen hat. Ohnehin hat dieses Abkommen in der Praxis nicht funktioniert. Vorgesehen waren unter anderem Visaerleichterungen für die Türkei, die nicht umgesetzt wurden, die Aufnahme von syrischen Schutzsuchenden aus der Türkei, die
2 Thorsten Frei, Das individuelle Recht auf Asyl muss ersetzt werden, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 18.7.2023.
3 Vgl. Marcus Engler, Aus den Augen, aus dem Sinn: Flüchtlingsabwehr in der EU, in: „Blätter“, 8/2023, S. 41-44.
Das individuelle Asylrecht unter Beschuss
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nicht erfolgt ist, und Rückführungen von Asylsuchenden aus den EU-Hotspots, die kaum stattgefunden haben. Das einzige, was der EU-Türkei-Deal am Ende tatsächlich bewirkt hat, ist die Festsetzung von Asylsuchenden auf griechischen Inseln und unwürdige Zustände wie in den Lagern auf Lesbos oder Samos, die zuletzt vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als menschenrechtswidrig beurteilt wurden.4 Neue Deals mit Autokraten Trotz solcher Erfahrungen mit Migrationspartnerschaften hat die EU bereits den nächsten Deal mit einer autokratischen Regierung geschlossen. Mehrmals reisten die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni unter dem Slogan #TeamEurope nach Tunis, um höchstpersönlich mit Präsident Kais Saied zu verhandeln. Sie schafften es im Juli 2023, ein sogenanntes Memorandum of Understanding zu vereinbaren. Es umfasst laut EU-Kommission fünf Säulen: makroökonomische Stabilität, Handel und Investitionen, grüne Energiewende, zwischenmenschliche Kontakte und Migration.5 Von den fast einer Mrd. Euro, die die EU-Kommission Tunesien zur Verfügung stellen will, sollen rund 105 Mio. in den Kampf gegen sogenannte irreguläre Migration fließen. Doch unter diesen Begriff fallen faktisch alle Schutzsuchenden, die versuchen, über das Mittelmeer Europa zu erreichen. Ein internes Schreiben aus dem deutschenAuswärtigen Amt, das „Zeit online“ einsehen konnte, äußert deutliche Kritik am übereilten Vorgehen 4 EGMR, A.D. v. Greece, Entscheidung vom 4.4.2023, Beschwerdenummer 55363/19. 5 Vgl. The European Union and Tunisia: political agreement on a comprehensive partnership package, ec.europa.eu/commission, 16.7.2023.
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der EU-Kommission. Der Deal mit Tunesien sei ohne rechtsstaatliche Garantien zustande gekommen und die Kommission habe den Rat bei den Verhandlungen übergangen.6 Das Kapitel über Migration enthält zudem keine Vereinbarungen, wie Flüchtlinge in Tunesien menschenwürdig aufgenommen werden sollen. Das Land hat bis heute kein funktionierendes Asylsystem und befindet sich derzeit in einer akuten Wirtschaftskrise. Die Europäische Union verhandelt nicht das erste Mal mit Tunesien. Schon Anfang der 2000er Jahre wollte die EU das Land dabei unterstützen, ein „wirksames und umfassendes Grenzverwaltungssystem“ zu schaffen.7 Das tunesische Parlament stellte 2004 sogar per Gesetz die irreguläre Ausreise unter Strafe. Damals kooperierte Europa noch mit dem autokratischen Präsidenten Zine el-Abedine Ben Ali, der 2011 im Zuge des Arabischen Frühlings gestürzt wurde. Nach den Umbrüchen in der nordafrikanischen Welt kollabierte jedoch auch das Grenzabschottungssystem der EU. Seitdem versucht Brüssel, mit den alten Instrumenten das schon einmal gescheiterte Grenzregime wiederaufzubauen. Der neue Deal mit Tunesien fällt in eine Zeit, in der Präsident Saied die Justiz entmachtet, die Pressefreiheit einschränkt und rassistische Verschwörungserzählungen über Flüchtlinge verbreitet. Die tunesische Opposition kritisiert das Abkommen folglich und vermutet, dass der autokratische Präsident dadurch sein Regime stabilisieren will. In der Tat hat Saied mit dem Deal ein Druckmittel in der Hand, um die EU davon abzuhalten, die innenpolitischen Zustände im Land zu kritisieren. Schon Libyens Diktator Muammar 6 Franziska Grillmeier, Yassin Musharbash und Bastian Mühling, Ohne Rücksicht auf Verluste, zeit.de, 2.8.2023. 7 Brot für die Welt, medico international und Pro Asyl (Hg.), Im Schatten der Zitadelle, Berlin und Frankfurt a.M. 2013, S. 121.
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36 Kommentare al-Gaddafi und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdog˘an haben in der Vergangenheit die Migrationspartnerschaften mit der EU genutzt, um sich außenpolitisch zu immunisieren. Die EU manövriert sich mit diesen Deals daher in eine außenpolitische Sackgasse. Zudem ist mehrfach dokumentiert, wie die tunesische Polizei Flüchtlinge schutzlos in der Wüste ausgesetzt hat. Human Rights Watch hat der tunesischen Regierung wiederholt vorgeworfen, schwarzafrikanische Flüchtlinge menschenrechtswidrig zu behandeln.8 „Dieser Migrationsdeal wird wahrscheinlich zu längeren, gefährlicheren und damit tödlicheren Migrationsrouten führen. Der Deal wird die SchleuserSysteme nicht schwächen, sondern stärken“, sagt die Migrationsforscherin Ahlam Chemlali.9 Das Grenzregime ist nicht alternativlos Victoria Rietig, Leiterin des Migrationsprogramms der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, hat in einem Artikel den „Empörten“ bzw. Kritikern des Deals vorgeworfen, wesentliche Punkte der Partnerschaft zu übersehen.10 Tunesien handele nicht nur auf Geheiß der EU, sondern habe „ein Eigeninteresse daran, seine Grenzen zu kontrollieren und gegen gefährliche Bootsüberfahrten vorzugehen“. Tatsächlich aber werden durch diese Politik tunesische Staatsbürger, die dem Abbau demokratischer Rechte und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit entgehen wollen, faktisch im Land eingeschlossen. Dadurch ist das Menschenrecht auf Auswanderungsfreiheit berührt, wie es in Artikel 13 Absatz 2 8 „Al Dschasira“, 14.7.2023. 9 Vgl. „Der EU-Tunesien-Deal wird SchleuserSysteme stärken“, mediendienst-integration.de, 26.7.2023. 10 Victoria Rietig, Fünf Punkte, die Kritiker des Tunesien-Abkommens übersehen, spiegel.de, 22.7.2023.
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der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte normiert ist. Rietig führt weiterhin an, es gäbe keine guten Alternativen zu dem Deal. Sie stellt damit die Prämisse auf, die EU müsse solche Migrationspartnerschaften eingehen und könne sich ihre Partner nicht immer nach rechtsstaatlichen Kriterien aussuchen. Aber die Alternative zu solchen Abkommen ist eine konsequente Übernahme von Verantwortung der Europäischen Union für den Flüchtlingsschutz und die Einhaltung geltenden europäischen Rechts. Denn durch solche Übereinkünfte verweigert sich die EU seit Jahren einer ernsthaften Debatte, wie eine humane Flüchtlingsaufnahme und wie rechtsstaatliche Verfahren auf europäischem Boden garantiert werden können. Der Fokus auf Abschottung und die Darstellung von Flucht als Gefahr haben rechte und rechtsextreme Bewegungen und Parteien in Europa gestärkt. Da sie in vielen EU-Mitgliedstaaten inzwischen die Migrationsagenda vorgeben, haben sich die Spielräume für eine menschenrechtsbasierte Asyl- und Migrationspolitik in den vergangenen Jahren erheblich verkleinert. Die EU-Kommission als Hüterin der Verträge müsste in dieser Situation das europäische Flüchtlingsrecht verteidigen. Stattdessen forciert sie weitere Asylrechtsverschärfungen und stärkt Regierungen wie der derzeitigen griechischen den Rücken, die brutale völkerrechtswidrige Pushbacks durchführt. Angesichts dessen müssen sich die zivilgesellschaftlichen Kräfte, die für die Verteidigung von Menschenrechten einstehen, neu sortieren und transnationale Bündnisse vertiefen. Im Falle des Tunesien-Deals hat sich zumindest gezeigt, dass NGOs, Aktivisten und Medienschaffende auf der europäischen und tunesischen Seite sehr schnell in der Lage waren, die Menschenrechtsverletzungen zu skandalisieren. Solche Partnerschaften müssen dringend vertieft werden.
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Simone Schlindwein
Russland und Afrika: Alte Freunde, neue Absatzmärkte Mit herzlichen Umarmungen und Geschenken hieß Russlands Präsident Wladimir Putin seine afrikanischen Amtskollegen Ende Juli in seiner Heimatstadt St. Petersburg willkommen. Für zwei Tage hatte er sie zum zweiten Russland-Afrika-Gipfel eingeladen, es folgte eine regelrechte Charmeoffensive: „Russland und Afrika sind Schlüsselfaktoren einer neuen Weltordnung“, hieß es im aufwendig produzierten Film, der zum Auftakt des Forums im großen Saal der Petersburger Kongresshallen eingespielt wurde. Darin wurden historische Aufnahmen gezeigt: Afrikaner und Sowjetbürger, seit langem vereint in Brüderlichkeit – so die Botschaft. Bereits vor dem Treffen hatte Putin einen Artikel verfasst, der in vielen afrikanischen Medien veröffentlicht wurde. Darin betonte er die „tiefen historischen Beziehungen“ Russlands mit dem Kontinent und versprach eine noch bessere Zukunft. Er erwähnte, dass der Handel Russlands mit afrikanischen Ländern im Jahr 2022 fast 18 Mrd. US-Dollar betragen habe und machte den Afrikanern ein Angebot: „Russische Unternehmen sind daran interessiert, aktiver auf dem Kontinent im Bereich der Hochtechnologien und der geologischen Erkundung, im Brennstoff- und Energiekomplex, einschließlich der Nuklearenergie, in der chemischen Industrie, im Bergbau und im Verkehrswesen, in der Landwirtschaft und Fischerei zu arbeiten.“ Ebenso charmant bedankte sich Putin in seiner Eröffnungsrede bei den 17 afrikanischen Staats- und Regierungschefs, die angereist waren. Sie hät-
ten ihre „Unabhängigkeit“ bewiesen, so Putin. Im Vorfeld des Gipfels hatte Russland dem Westen vorgeworfen, er setze die Afrikaner unter Druck, nicht nach St. Petersburg zu reisen. Damit hatte der Westen offenbar Erfolg: Beim ersten Russland-Afrika-Forum 2019 waren über 40 Staatschefs anwesend, dieses Jahr kam nicht einmal die Hälfte davon. Wer die derzeitigen Freunde Russlands auf dem Kontinent sind, das wurde an der Sitzordnung deutlich. Die Präsidenten und Militärchefs von Algerien, Ägypten, Burkina Faso, Eritrea und Uganda saßen in der ersten Reihe – alles Länder, die sehr enge Beziehungen zu Moskau unterhalten. Beim Gruppenfoto stand direkt neben Putin der Juntachef von Burkina Faso, Ibrahim Traoré, in ockerbrauner Flecktarnuniform und mit rotem Barett auf dem Kopf. Der 35jährige General hatte sich erst im vergangenen Jahr, wohl mit Russlands Hilfe, an die Macht geputscht. Jetzt schüttelte ihm Putin herzlich lachend die Hand. Am Rande der zahlreichen Panels nahm sich Putin für jeden der anwesenden Staatschefs ausführlich Zeit, um bilaterale Gespräche zu führen und Partnerschaftsabkommen zu unterzeichnen. Kritik hagelte es dennoch. Putins langjähriger enger Vertrauter, der 76jährige Präsident Ugandas, Yoweri Museveni, betonte in seinem direkten Gespräch mit Putin ausdrücklich: „Man kann einen ungerechtfertigten Krieg nicht gewinnen, die Geschichte hat das bewiesen.“ In ihren Abschlusserklärungen unterstrichen sowohl Putin als auch der
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38 Kommentare derzeitige Vorsitzende der Afrikanischen Union und Präsident der Komoren, Azali Assoumani, die Anwesenden hätten sich auf ein „gemeinsames Engagement für die Bildung einer fairen und demokratischen multipolaren Weltordnung auf der Grundlage der allgemein anerkannten Grundsätze des Völkerrechts und der UN-Charta“ geeinigt. Putin verkündete zum Abschluss stolz, Afrika und Russland würden in Zukunft in den Bereichen Sicherheit, Kampf gegen den Terrorismus und Extremismus, Lebensmittelsicherheit, Informationstechnologie, Weltraumtechnologie sowie Klimawandel intensiver zusammenarbeiten. Dieses Werben um einen Ausbau der Beziehungen zu Afrika zeigt: Um die Wirtschaftssanktionen des Westens infolge des Ukrainekrieges zu umgehen und sich neue Absatzmärkte zu erschließen, braucht der Kreml Afrika derzeit mehr als je zuvor. Die Afrikaner hingegen reisen in jüngster Zeit von Washington über Paris nach Israel, weiter in die Türkei und bis nach China; ja sie empfangen sogar Irans Staatschef – die ganze Welt wirbt mittlerweile um den Kontinent. Russland ist für die Afrikaner da nur ein Handelspartner unter vielen. Sie können es sich aussuchen, mit wem sie Geschäfte machen wollen. Beim Ukrainekrieg sind die Afrikaner in ihrer Haltung gegenüber Russland gespalten. Einige zögern, einen zu engen Schulterschluss mit dem Kreml zu demonstrieren. Der Schatten des Ukrainekrieges Beim ersten Russland-Afrika-Gipfel im Jahr 2019 war das noch anders. Damals hatte Putin die Afrikaner an die Schwarzmeerküste nach Sotschi eingeladen. Der Ansturm war groß: Von den 54 Ländern des Kontinents waren über 40 mit ihren Staatschefs vertreten, samt großer Delegationen im Schlepptau. Russland bot sich den Afrikanern als Alternative zum Westen
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an. Putin betonte in seiner Eröffnungsrede 2019 ausdrücklich, er wolle Handelsabkommen „ohne politische oder andere Bedingungen“ anbieten, und sagte, dass „eine Reihe westlicher Länder auf Druck, Einschüchterung und Erpressung souveräner afrikanischer Regierungen zurückgreifen“ würde, wohingegen Russland „gut geeignet“ sei, bei der Abwehr dessen zu helfen. Russland und die afrikanischen Länder kooperieren seitdem nicht mehr nur militärisch. Rund um den Gipfel in Sotschi unterzeichnete Moskau mit zahlreichen afrikanischen Regierungen umfangreiche Partnerschaftsabkommen: vom Aufbau der Nuklearenergie bis zur Versorgung mit russischen Nachrichtensendern war darin alles enthalten. Diese Abkommen erklären, warum viele afrikanische Regierungen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine keinen radikalen Bruch mit Moskau vollziehen wollten. Wie die neue Form der Partnerschaft mit Russland allerdings in der Praxis funktioniert, zeigt sich seitdem in der Zentralafrikanischen Republik und in Mali, wo russische Wagner-Einheiten seit einigen Jahren Präsidenten an der Macht halten, die mit dem Westen gebrochen haben. Dennoch hängt der Schatten des Ukrainekrieges über den russisch-afrikanischen Beziehungen. Denn dieser wirkt sich in Afrika mit hohen Lebensmittel- und Energiepreisen negativ aus. Vielen in Afrika ist zudem noch frisch in Erinnerung, wie Putin im Juni Kiew beschießen ließ, als dort drei afrikanische Präsidenten eine „Friedensmission“ vorstellen wollten. Moskau feuerte zur Begrüßung zwölf Raketen auf die ukrainische Hauptstadt ab. Die Gäste mussten sich in den Luftschutzbunker ihres Hotels retten. Dies hat den Beziehungen zwischen Afrika und Russland schwer geschadet. Das zeigte sich nicht zuletzt an der Frage, ob Putin das im August stattgefundene Gipfeltreffen der BRICS-Staaten in Südafrika besuchen könne. Da der
Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag einen Haftbefehl gegen ihn erlassen hat und Südafrika ein Unterzeichnerstaat ist, hätte Putin dort theoretisch verhaftet werden müssen. Ein Gericht in Südafrika bestätigte diese Verpflichtung ausdrücklich. Um dem Dilemma zu entgehen, einigte sich Südafrikas Staatschef Cyril Ramaphosa – der die afrikanische Friedensmission nach Kiew und Moskau angeführt hatte – mit dem Kreml darauf, dass Putin dem Treffen nur über Videoschalte beiwohnen würde. Getreide nur für Freunde Die Kündigung des Getreideabkommens von Seiten Russlands kurz vor dem Gipfel in St. Petersburg wird in Afrika nun als Antwort des Kremls auf diese Absage verstanden. Die im Juli 2022 geschlossene Vereinbarung, die nach einem Jahr offiziell auslief, hatte es ermöglicht, ukrainisches Getreide sicher über die Schwarzmeerhäfen zu exportieren. Laut Angaben des ukrainischen Außenministeriums konnten in diesen zwölf Monaten 33 Mio. Tonnen Getreide in 45 Länder exportiert werden, zwölf Prozent davon gingen nach Afrika. 725 000 Tonnen wurden zudem vom UN-Welternährungsprogramm (WFP) aufgekauft, das damit die Flüchtlingslager in Ost- und Zentralafrika belieferte. Dann jedoch beschoss Moskau die Getreidesilos am Hafen von Odessa, verhängte eine Seeblockade und machte den Export vorerst unmöglich. Dies hatte in Afrika einen Aufschrei zur Folge. Der Bedarf des WFP für Afrikas Flüchtlinge ist enorm: In den vergangenen Monaten waren laut Angaben der UN-Lebensmittel- und Agrikulturorganisation (FAO) in Kenia 5,4 Millionen Menschen auf Nahrungsmittellieferungen angewiesen, darunter auch somalische Flüchtlinge in den Lagern entlang der Grenze. In der DR Kongo sind es über 24 Millionen Menschen,
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meist Binnenvertriebene, im Südsudan fast acht Millionen, in Uganda zwei Millionen, im vom Bürgerkrieg betroffenen Sudan mittlerweile fast 20 Millionen – all diese Menschen müssen womöglich bald Hunger leiden. Laut eigenen Angaben bezog das WFP rund 80 Prozent des Weizens aus der Ukraine. Da diese Lieferungen nun aufgrund von Moskaus Haltung ausbleiben werden, warnte WFP-Direktorin Cindy McCain vor „Engpässen“. US-Außenminister Antony Blinken warf Russland vor, „Lebensmittel als Waffe“ einzusetzen. Putin versucht den Afrikanern also klarzumachen, wer hier am längeren Hebel sitzt. Gleichzeitig bot Russland ihnen in St. Petersburg eine Lösung für ihre Lebensmittelkrise an: Angeblich seien 60 Prozent des fruchtbaren Bodens in Afrikas „nicht ausreichend genutzt“, heißt es auf der Webseite des Forums. Deswegen hätten russische Bankenchefs sowie Vertreter russischer Lebensmittel- und Agrarkonzerne die afrikanischen Delegationen empfangen, um „über den Aufbau einer eigenen Produktion auf dem Kontinent“ zu diskutieren. Dafür versprach Russland Afrika „landwirtschaftliche Technologie und Ausrüstung“. An seine Freunde verteilte Putin auf dem Gipfel Geschenke: Ausgesucht hatte er sich – nicht zufällig – fünf Länder, die eng mit dem Kreml kooperieren, sowie Somalia, das am meisten von ausbleibenden Getreidelieferungen betroffen wäre: „Wir werden bereit sein, Burkina Faso, Simbabwe, Mali, Somalia, die Zentralafrikanische Republik und Eritrea in den nächsten drei bis vier Monaten jeweils mit 25 000 bis 50 000 Tonnen Getreide kostenlos zu versorgen“, so Putin in seiner Rede auf dem Gipfel. „Außerdem werden wir den Verbrauchern eine kostenlose Lieferung dieser Produkte anbieten.“ Der Jubel war groß. Auch Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin wurde auf dem Gipfel gesichtet, das erste Mal seit seinem geschei-
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40 Kommentare terten Aufstand Ende Juni. Er ließ sich sogar fotografieren, das Bild zirkulierte sofort in den afrikanischen Medien: In Jeans und weißem Hemd ohne Krawatte schüttelte Prigoschin herzlich lachend dem zentralafrikanischen Botschafter die Hand. Wagner: Der lange Arm des Kremls Die gescheiterte Meuterei des WagnerChefs hat in Afrika für viel Verunsicherung gesorgt. Obwohl Russlands Außenminister Sergej Lawrow direkt nach dem Söldneraufstand versicherte, die Beziehungen zu Afrika blieben unangetastet, ergaben sich daraus für die Afrikaner viele Fragen, was die Verlässlichkeit der Beziehungen zu Moskau angeht. In Afrika wurde Wagner bislang meist mit dem russischen Staat gleichgesetzt. So stehen beispielsweie in der Zentralafrikanischen Republik rund 2000 Wagner-Söldner – Ergebnis eines Sicherheitsabkommens, das Präsident Faustin Archange Touadéra 2019 in Sotschi mit Moskau schloss. Anfangs waren Offiziere des russischen Verteidigungsministeriums in dem afrikanischen Land stationiert, sie wurden aber nach und nach von Wagner-Kämpfern abgelöst – ein „Outsourcing“ der militärischen Aktivitäten Russlands im Herzen des Kontinents, das dem Kreml nicht zuletzt Kosten spart. Denn Wagner finanziert seine Missionen in Afrika weitgehend selbst. Mittlerweile haben die in der Zentralafrikanischen Republik stationierten Wagner-Leute lokale Firmen gegründet und Konzessionen zum Abbau von Gold und Diamanten erworben. „Wagner verhält sich dort quasi wie der russische Staat“, erklärt John Lechner, der zu den Aktivitäten der Wagner-Gruppe forscht. Erst nach dem Söldneraufstand in Russland sei vielen in Afrika bewusst geworden, dass es sich bei Wagner nicht um den russischen Staat handele, so Lechner. Ana-
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lysten vermuteten zunächst, der Kreml würde die Wagner-Vertreter in Zentralafrika, Mali, Libyen oder Sudan ablösen und durch loyale Offiziere aus dem Verteidigungsministerium ersetzten. „Zentralafrikas Präsident Touadéra kam kurzzeitig ins Schwitzen, was das nun für ihn bedeutet“, so der Analyst, der gerade ein Buch zu Wagner in Afrika schreibt. Doch Lechner musste feststellen: „Es hat sich zumindest in Zentralafrika in der Kooperation mit Wagner nichts verändert.“ Wagner selbst bestätigte das auch in einer Pressemitteilung: „Russland, die Trainer des Offizierscorps sowie die Wagner-Soldaten bleiben in Zentralafrika, nicht zuletzt damit die Einwohner friedvoll schlafen können!“ Prigoschin versicherte den Zentralafrikanern in einem Interview: „Alles läuft nach Plan.“ Es habe unter seinen Truppen lediglich eine Rotation gegeben, um „frische Kräfte“ ins Land zu bringen, die „kampfgestählt“ seien und dafür sorgen würden, dass der Bevölkerung „kein Schaden zugefügt wird“. Er betonte dabei ausdrücklich: „Keine unserer Handlungen steht im Widerspruch zu den Interessen der Staaten, in denen wir uns befinden, und natürlich auch nicht zu den Interessen der Russischen Föderation.“ Seine Truppen seien bereit, ihre Aufgaben im „Kampf gegen den Terrorismus“ in Afrika auszuweiten. Am Abend vor dem Gipfelbeginn in St. Petersburg putschte im Niger das Militär. Dabei wurde der prowestliche Präsident Mohamed Bazoum von russlandfreundlichen Generälen abgesetzt.1 In einer Audiobotschaft erklärte Jewgenij Prigoschin prompt seine Unterstützung für die Putschisten. Damit machte er eines sehr deutlich: Wagner ist auch künftig aktiv – und soll als Instrument des Kremls den russischen Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent weiter ausbauen. 1 Vgl. den Text von Olaf Bernau in dieser Ausgabe.
DEBATTE
Die Rückkehr des Staates – fürs Kapital Seit geraumer Zeit ist in Wirtschaftspolitik wie -wissenschaft vom Comeback des Staates die Rede, nicht zuletzt durch die sogenannten Bidenomics (vgl. die Artikel von Noah Smith, in „Blätter“ 5/2021, und Grey Anderson, 8/2023). Dahinter verbirgt sich aber keinesfalls eine linke Agenda, so die These der beiden Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Jonas Becker und Rouven Reinke, sondern eine noch immer auf die Interessen großer Konzerne und ihre Profitinteressen ausgerichtete Politik. „Trickle-down economics has never worked“: Mit diesem markanten Satz läutete US-Präsident Joe Biden vor gut zwei Jahren einen wirtschaftsund industriepolitischen Kurswechsel ein. Die basale Feststellung, dass durch Steuerentlastungen für wenige Superreiche und große Konzerne keine übermäßige Investitionstätigkeit, gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsgewinne sowie ökonomisch nachhaltiges Wachstum produziert werden, sollte Jahrzehnte ebendieser fatalen Politik beenden. Diese bald als Bidenomics1 bezeichnete Rückkehr des aktiven Staates in der Wirtschaftspolitik, die sich beispielsweise im American Rescue Plan Act oder im Inflation Reduction Act widerspiegelt, steht dabei für eine wirtschaftspolitische Entwicklung, die sich inzwischen auch in der deutschen Politik immer deutlicher zeigt. Nach Dekaden neoliberaler Staatsskepsis und einem Rückbau staatlicher Zuständigkeit – verbunden mit
Liberalisierungen und Privatisierungen im Bereich der öffentlichen Infrastruktur – erleben wir eine Neujustierung im Zusammenspiel von Unternehmen, Märkten und Staat. Mit jeder Krisenkaskade (Finanz- und Eurokrise, Klimawandel, Coronapandemie, Ukrainekrieg) zeichnet sich dabei die Rückkehr der Staatstätigkeit deutlicher ab. Waren staatliche Interventionen der Bundesregierung im Zuge der Finanzkrise, wie etwa die Verstaatlichung der Commerzbank, noch durch ein letztes Aufflammen ordoliberaler Austeritätspolitik in der Eurokrise (temporär) konterkariert worden, zeigt sich die Wirtschaftspolitik mittlerweile in einem anderen Gewand. Der Staat ist zu dem entscheidenden Akteur für die Prosperität der deutschen Volkswirtschaft mutiert. Wurde diese Ausrichtung zunächst primär von Linken wie der Ökonomin Mariana Mazzucato vertreten2, rufen längst auch Unternehmensverbände nach mehr staatlichen Interventionen.3
1 Noah Smith, Bidenomics: Ein neues Paradigma für eine neue Zeit, in: „Blätter“, 5/2021, S. 57-64; vgl. auch Grey Anderson, Bidenomics: Mit Sozialpolitik gegen China, in: „Blätter“, 8/2023, S. 89-96.
2 Mariana Mazzucato, Das Kapital des Staates. Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum, Frankfurt a. M. 2023. 3 Warum die Industrie plötzlich mehr Staat will, spiegel.de, 31.10.2022.
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42 Jonas Becker und Rouven Reinke Diese Tendenz ist aus politökonomischer Perspektive prinzipiell zu begrüßen, da das bisherige neoliberale Paradigma dazu geführt hat, dass vor allem die öffentliche Daseinsvorsorge in den Bereichen Bildung, Digitalisierung und Infrastruktur marodegespart wurde. Zudem droht der öffentlichen Verwaltung aufgrund des Personalmangels der Kollaps.4 Gleichwohl bringt die neue wirtschaftspolitische Leitidee eines stark investiv agierenden Staates neue Probleme mit sich.
» Heute braucht es den Staat zur Stabilisierung des Kapitalismus, und zwar nicht primär aus Sicht linker Parteien.« Insbesondere während der Coronapandemie und im Zuge des Ukrainekriegs wurden die Rufe nach „mehr Staat“ von der Politik im großen Stile umgesetzt. Dass es sich bei der neuen Rolle des Staates aber keineswegs um eine originär keynesianische Idee handelt, wird mit Blick auf die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der letzten Jahre und Monate deutlich. So hatten die staatlichen Eingriffe bei Lufthansa und Uniper lediglich einen Zweck: die Rettung (systemrelevanter) Unternehmen vor der Insolvenz. Gerade im Fall der Lufthansa wird dies deutlich, da der Staat auf jegliche Mitsprache bei Unternehmensentscheidungen verzichtet hatte. Eine Sperrminorität wurde ihm nicht eingeräumt. Der Staat fungiert hier als Rettungsinstanz kriselnder Unternehmen und greift als solcher in das Marktgeschehen ein. Das zeigt, dass es den Staat heute zur Stabilisierung des Kapitalismus braucht, und nicht primär aus Sicht linker Parteien. Auch die temporäre Aussetzung der Schuldenbremse und die Einrichtug von Schat4 Vgl. ZDF heute, Personalkollaps „eigentlich schon da“, zdf.de, 9.8.2023.
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tenhaushalten unterstreichen, dass staatliche Ausgaben und Investitionen eine ökonomische Notwendigkeit sind, insbesondere in Krisenzeiten. Darüber hinaus ist auch die milliardenschwere Subventionszahlung für den Bau der Intel-Chipfabrik in Magdeburg ein Indiz für die neue Rolle des Staates. Neben 6,8 Mrd. Euro aus dem Bundeshaushalt werden rund 3,1 Mrd. Euro aus dem Klima- und Transformationsfonds des Bundes bereitgestellt, mit dem die Bundesregierung Projekte für mehr Klimaschutz und die Transformation der Wirtschaft finanzieren will.5 Eine ähnliche Finanzierung schwebt dem Bundeswirtschaftsminister auch bei der Einführung eines „Brückenstrompreises“ vor. Dieser soll den Strompreis für energieintensive Industriezweige auf sechs Cent je Kilowattstunde deckeln. Die Kosten dafür schätzt das Ministerium aktuell auf rund 25 bis 30 Mrd. Euro, die aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds kommen sollen.6 Ein Teil der Wirtschaftswissenschaft sieht die Strompreisbremse als wichtigen Teil moderner Industriepolitik an.7 Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass große Industriekonzerne bereits jetzt einen niedrigeren Strompreis als weniger energieintensive Unternehmen zahlen, da der Preis durch steuerliche Ausnahmeregelungen mit steigendem Stromverbrauch sinkt. Der staatlich regulierte Industriestrompreis wäre folglich eine explizite Unterstützung der energieintensiven Industrie und keine Investition in grundlegende Infrastrukturprojekte zur sozial-ökologischen Transformation. Im Gegensatz 5 Chipfabrik. Fast zehn Milliarden Euro Förderung für Intel-Werk in Magdeburg, sueddeutsche.de, 19.6.2023. 6 Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Wettbewerbsfähige Strompreise für die energieintensiven Unternehmen in Deutschland und Europa sicherstellen. Arbeitspapier des BMWK zum Industriestrompreis für das Treffen Bündnis Zukunft der Industrie, 5.5.2023. 7 Vgl. Tom Krebs, Industriepolitische Zeitenwende. Ein europäischer Inflation Reduction Act, „FES diskurs“ 2023.
Die Rückkehr des Staates – fürs Kapital zu den wirtschafts- und industriepolitischen Maßnahmen der US-Regierung, die darauf abzielen, die Einkommen der unteren Mittelschicht sowie der im Niedriglohnsektor Beschäftigten zu stärken, setzt die Bundesregierung auf staatliche Subventionen, die in erster Linie den Unternehmen und den dahinterstehenden Kapitalgebern zugutekommen. Eine dezidiert auf die Interessen niedriger bis mittlerer Einkommensgruppen ausgerichtete wirtschaftspolitische Strategie lässt sich dagegen nicht beobachten. Die Maßnahmen der letzten Monate und Jahre deuten gleichwohl darauf hin, dass der Marktradikalismus politisch an sein Ende gelangt ist. Zur Stabilisierung der deutschen Wirtschaft wird nun auf einen Mix von interventionistischer Industriepolitik, keynesianischer Ausgabenprogramme sowie eine Reihe von Instrumenten zur Marktgestaltung, beispielsweise CO2Preis, vertraut. Die Ökonomin Daniela Gabor spricht dabei von einem „de-risking state“.8 Durch umfangreiche staatliche Investitionen in Klimaschutz und Transformation sollen private Profite vor Risiken geschützt werden. Der Staat ist nun nicht mehr der Hemmschuh, sondern der geradezu notwendige Faktor für ökonomische Prosperität. Neben der Bereitstellung von Infrastruktur soll er auch ganz bewusst als Akteur auftreten, wenn es beispielsweise um Subventionen für Standortentscheidungen großer Konzerne geht. Das Gleiche gilt für die Absicherung energiepolitischer Entscheidungen. Insgesamt zeichnet sich ein wirtschaftspolitischer Pragmatismus ab, der alte Dogmen in den Hintergrund treten lässt. Privatisierung, Deregulierung und Austerität scheinen sich als Instrumente der Wirtschaftspolitik überlebt zu haben. 8 Daniela Gabor, The wall street consensus. in: „Development and Change”, 3/2021, S. 429459.
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Für Jubel ist es jedoch zu früh: Denn die grundlegende Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf große Konzerne und ihrer Profitinteressen ist weiter kaum gebrochen. Die moderne Industriepolitik des Postneoliberalismus fokussiert sich weiter auf die Funktionsweise von Märkten und die aktive staatliche Unterstützung von Unternehmen und Konzernen – also ganz auf die Interessen privatwirtschaftlicher Akteure.
» Die Ampel plant kaum nennenswerte Investitionen für Zukunftsprojekte, die der gesamten Gesellschaft zugutekommen.« Augenscheinlich wird die Einseitigkeit dieser Rückkehr des Staates beim Blick auf den aktuellen Haushaltsentwurf. So plant die Ampel kaum nennenswerte Investitionen für Zukunftsprojekte, die der gesamten Gesellschaft zugutekommen. Bei Familienpolitik und Bildung werden sogar Einsparungen angestrebt; stattdessen werden Ausgaben in Industrie und Militär über Sondervermögen vorangetrieben. Zwar werden in diesem Zusammenhang weiterhin leidenschaftliche Debatten über die Schuldenbremse geführt, aber ein Blick auf die realpolitische Praxis der Schattenhaushalte zeigt, dass diese Rückkehr des Staates auch von der FDP mitgetragen wird. Kritik von Seiten der größten Oppositionspartei, der CDU, an diesen Maßnahmen ist allenfalls symbolischer Natur. Weder Parteichef Merz noch Generalsekretär Linnemann unterbreiten substantial alternative Vorschläge zur Wirtschaftspolitik. Es zeichnet sich somit ein lagerübergreifender Konsens in der wirtschaftspolitischen Ausrichtung ab. Diese neue Einigkeit über die Rolle des Staates in der Wirtschafts- und Industriepolitik birgt auch Gefahren: Sie schürt den
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44 Jonas Becker und Rouven Reinke Eindruck, als es gebe bei dieser zentralen politökonomischen Frage keine fundamentalen Unterschiede mehr zwischen den Parteien, obwohl diese genau hier stets einen Kerndissens ihrer ideologischen Fundamente hatten und auch weiter haben sollten.9 Der Eindruck fehlender Alternativen ist für den politischen Diskurs fatal, da es die demokratiefeindliche Erzählung rechtsextremistischer Parteien stärkt, die sich als einzige Fundamentalopposition gegenüber den von ihnen diffamatorisch so genannten Altparteien inszenieren können. Darüber hinaus sind vor allem die inhaltlichen Leerstellen relevant, die mit der modernen Industriepolitik verbunden sind. Bisher wurde es verpasst, staatliche Investitionen und Subventionen an soziale und ökologische Bedingungen zu knüpfen, die die dem Kapitalismus inhärente Verschärfung der sozialen Ungleichheit substanziell verändern.10 In dieser Frage ist auch die Position der Gewerkschaften bisher relativ zurückhaltend. Sie beschränken sich weitestgehend darauf, staatliche Unternehmenssubventionen an Tarifverträge und gute Arbeitsbedingungen zu knüpfen (und unterscheiden sich damit kaum von dem, was Joe Biden im Zuge seiner Maßnahmen hinsichtlich der Stärkung der US-Gewerkschaften auf den Weg gebracht hat). Durch diese zweifellos wichtige und richtige Forderung wird allerdings die Chance vergeben, die zentrale Frage der kapitalistischen Wertschöpfung offensiv zu stellen und anzugehen: nämlich die Frage nach den Eigentumsverhältnissen. So sind Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und der Einkommen zwar 9 Tatsächliche Opposition erfährt die Position nur noch von diametral auseinanderliegenden Akteuren: den verbliebenen marktradikalen Vertreter:innen der FDP und den sozialistischen Verfechter:innen einer Wirtschaftsdemokratie inner- und außerhalb der Linkspartei. 10 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014.
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eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung für eine Veränderung der ökonomischen Realitäten, gerade auch unter ökologischen Vorzeichen. Dafür käme es darauf an, die Ausweitung wirtschaftsdemokratischer Elemente zu fordern. Anstatt den Staat als stillen Teilhaber und Kapitalgeber und Garanten für Investitionssicherheit anzusehen, müssten öffentliche Gelder für privatwirtschaftliche Unternehmen an die Bedingung geknüpft werden, dass die Belegschaft bei unternehmerischen Entscheidungen mitbestimmen kann und an den Erlösen aus der Produktionstätigkeit beteiligt wird. Eine derart kritische Betrachtung der Wirtschaftspolitik ist allerdings nicht nur für Gewerkschaften oder soziale Bewegungen von Relevanz. Letztlich gefährdet der Fokus auf die Kapitalinteressen großer Konzerne alle demokratischen Kräfte. So werden die ökonomischen Interessen weiter Teile der Gesellschaft von der Bundesregierung aktuell kaum berücksichtigt. Durch die Subventionierung einzelner Unternehmen bei gleichzeitiger Verteidigung eines Sparhaushalts, der zukunftsrelevante Investitionen in Bildung und öffentliche Infrastruktur strukturell vernachlässigt, wird die bereits herrschende Vermögens- und Einkommensungleichheit nicht nur nicht bekämpft, sondern weiter verschärft, was Wut und Demokratieverdruss im Lande fortwährend anwachsen lassen wird. Somit bergen die aktuellen Entwicklungen in der Politischen Ökonomie – trotz der Rückkehr des Staates – eine große Gefahr: Sie könnten die extreme Rechte weiter stärken und damit wirkungsvolle wirtschafts- und insbesondere auch klimapolitische Maßnahmen langfristig unmöglich machen.11 11 Christian R. Proaño, Juan Carlos Peña und Thomas Saalfeld, Inequality, macroeconomic performance and political polarization: A panel analysis of 20 advanced democracies, BERG Working Paper Series, Nr. 157, Bamberg 2023.
KURZGEFASST
Christian Jakob: Gegen das Untergangsdenken. Fünf Jahre Fridays for Future und die Chancen der Klimabewegung, S. 47-56 Haben wir in Sachen Klimaschutz mehr Fortschritte gemacht, als es den Anschein hat? Ja, sagt der Journalist Christian Jakob, auch weil Fridays for Future einiges in Bewegung gebracht habe. Er plädiert dafür, sich nicht von apokalyptischen Visionen entmutigen zu lassen.
Ferdinand Muggenthaler: Auf dem Weg in die KI-tokratie? Künstliche Intelligenz und die autoritäre Gefahr, S. 57-66 Das Internet und Social Media starteten mit der Hoffnung auf eine herrschaftsfreie Kommunikation. Bei Künstlicher Intelligenz sei dies anders, so der „Blätter“-Redakteur Ferdinand Muggenthaler. Diese werde zwar nicht die Herrschaft übernehmen, sei aber strukturell autoritär und ein ungeheures Machtinstrument in der Hand von Staaten und Unternehmen.
Ulrich Menzel: Putins Krieg und die neue Welt(un)ordnung. Warum wir die Internationalen Beziehungen neu denken müssen, S. 67-74 Russlands Invasion der Ukraine markiert auch eine Herausforderung für unser Verständnis der Globalisierung. Denn dieser Krieg, so der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel, ist Ausdruck eines Konfliktes zwischen liberalen und autoritären Mächten. An die Stelle des erhofften demokratischen Friedens ist der Hegemoniekonflikt zwischen den USA und China getreten.
Olaf Bernau: Zeitenwende im Sahel: Der Putsch in Niger und der Abzug aus Mali, S. 75-82 Im Niger hat das Militär gegen den westlich orientierten Präsidenten geputscht, in Mali sind die UN-Truppen inzwischen unerwünscht. Das markiert nicht weniger als eine Zeitenwende für den Sahel, zeigt der Soziologe Olaf Bernau: Die dortigen Staaten wenden sich vom Westen ab – mit höchst ambivalenten Ergebnissen.
Charles King: Der neue Aristopopulismus. Wie US-Konservative die Demokratie beerdigen, S. 83-92 Traditionell waren US-Konservative stets Verfechter der liberalen Demokratie. Nun aber attackieren republikanische Politiker wie Ron DeSantis
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46 Kurzgefasst massiv liberale Vorstellungen – und stellen zuweilen selbst die Demokratie infrage. Das hat Methode, argumentiert der Politikwissenschaftler Charles King. Er analysiert anhand der Schriften dreier rechter Vordenker die wachsenden autoritären Tendenzen bei den Republikanern.
Ireneusz Paweł Karolewski und Claus Leggewie: Das Ende der Demokratie? Was in Polen auf dem Spiel steht, S. 93-98 Wenn am 15. Oktober in Polen gewählt wird, steht dabei mehr auf dem Spiel als die Frage, wer die nächste Regierung stellt. Vielmehr verkörpern die zur Wahl stehenden Parteien höchst unterschiedliche politische Visionen, so der „Blätter“-Mitherausgeber Claus Leggewie und der Politikwissenschaftler Ireneusz Paweł Karolewski: Es geht um nicht weniger als die Zukunft des polnischen Rechtstaats sowie die Rechte von Frauen und Minderheiten.
Faride Zerán: Die Stille der Erinnerung. Chile 50 Jahre nach dem Putsch gegen Allende, S. 99-108 Am 11. September 1973 bombardierte das chilenische Militär den Präsidentenpalast und stürzte den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Die Militärjunta unter Augusto Pinochet drangsalierte das Land fast dreißig Jahre lang. Faride Zerán, schon damals Journalistin, blickt zurück und analysiert die wieder wachsende Popularität der Putschisten.
Bettina Röder: 40 Jahre »Schwerter zu Pflugscharen«. Wie die DDRFriedensbewegung die Welt veränderte, S. 109-116 Am 25. September 1983 wurde auf dem Lutherhof in Wittenberg unter Verantwortung des späteren „Blätter“-Mitherausgebers Friedrich Schorlemmer ein Schwert zu einer Pflugschar geschmiedet: als Symbol gegen die Aufrüstung während des Kalten Krieges. Die Journalistin Bettina Röder beschreibt die konflikthafte Vorgeschichte und die historischen Nachwirkungen dieses Ereignisses.
Inga Hofmann: Ein blasser Regenbogen. Das uneingelöste Versprechen vom queerpolitischen Aufbruch, S. 117-122 In ihrem Koalitionsvertrag versprach die Ampel-Regierung, die Selbstbestimmung von trans Menschen zu stärken und die Diskriminierung von queeren Elternpaaren abzubauen. Die bisherigen Vorhaben bleiben allerdings hinter der angekündigten Liberalisierung zurück, stellt die Journalistin Inga Hofmann fest und analysiert den Stand der Reformen.
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ANALYSEN UND ALTERNATIVEN
Gegen das Untergangsdenken Fünf Jahre Fridays for Future und die Chancen der Klimabewegung Von Christian Jakob
I
m Juni 2018, vier Monate bevor sie vor jetzt fünf Jahren, am 20. August, ihren berühmten „Schulstreik für das Klima“ startete, hatte Greta Thunberg getwittert: „Ein führender Klimawissenschaftler warnt, dass der Klimawandel die gesamte Menschheit auslöschen wird, wenn wir in den nächsten fünf Jahren nicht aufhören, fossile Brennstoffe zu nutzen.“ Sie bezog sich dabei auf den Harvard-Geophysiker James Anderson. Der hatte bei einer Rede an der Universität von Chicago im Januar 2018 allerdings nur gesagt, dass die Welt bis 2023 aufhören müsse, fossile Brennstoffe zu verwenden. Sonst seien die Auswirkungen auf die Polkappen irreversibel. Thunberg löschte den Tweet später. Doch er war symptomatisch für diese Zeit. 2018 war wohl das Jahr, in dem vielen Menschen erstmals, dafür aber mit voller Wucht, klar wurde, wie dramatisch die Klimakrise ist. Szenarien deuteten auf eine Erwärmung von bis zu fünf Grad bis zum Jahr 2100 hin und stellten menschliches Überleben infrage. Weil gleichzeitig von extrem kurzen Zeitfenstern zum Gegensteuern die Rede war, entstand das Bild von der Lage, die für viele kaum noch rational zu erfassen, geschweige denn rechtzeitig gesellschaftlich zu verhandeln schien.
»Eine Welt, in der die Sonne uns kocht« David Wallace-Wells’ Artikel „Die unbewohnbare Erde“ über eine Welt, „in der die Sonne uns kocht“, 2017 im New York Magazine und 2019 als Buch erschienen, war eines der wohl einflussreichsten Dokumente dieser Zeit. Was die realen Gefahren der Erwärmung angehe, „leiden wir an einem unglaublichen Versagen der Vorstellungskraft“, klagte Wallace-Wells und versuchte, ebenjener Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen: Die Welt werde voller Stürme sein, „so stark, dass wir neue Kategorien zu ihrer Beschreibung erfinden müssen“. Miami und Bangladesch hätten „keine Chance zu überleben“. Die Erde habe vor dem derzeitigen bereits fünf frühere Massenausster* Der Beitrag basiert auf dem neuen Buch des Autors „Endzeit: Die neue Angst vor dem Weltuntergang und der Kampf um unsere Zukunft“, das jüngst im Ch. Links Verlag erschienen ist. Darin finden sich auch die Quellenangaben.
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48 Christian Jakob ben erlebt, die jeweils „die Evolutionsgeschichte so vollständig ausgelöscht haben, dass sie wie ein Zurückstellen der planetarischen Uhr wirkten“. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, welche Wirkung solche Aussagen auf viele Menschen haben.
Eine neue Klimawirklichkeit Erstaunlicherweise war es genau derselbe Autor, der nur vier Jahre später einen ähnlich einflussreichen Text verfasste, der zwar keine Entwarnung gab, aber doch die Apokalypse absagte: Sein Artikel „Jenseits der Katastrophe. Eine neue Klimawirklichkeit kommt ins Blickfeld“ erschien Ende Oktober 2022 in der New York Times. Der Kern des mehrseitigen Essays: Seit der Pariser Klimakonferenz 2015 und vor allem mit dem Aufkommen von Fridays for Future 2018 nahm der globale Klimaschutz in einer Weise Fahrt auf, dass die apokalyptischsten Szenarien nicht mehr wahrscheinlich sind. Statt auf plus fünf Grad steuert die Menschheit heute wohl auf plus zwei bis plus drei Grad zu. Wallace-Wells öffnete Raum für Hoffnung. Die New York Times publizierte seinen Text einige Tage vor der Weltklimakonferenz COP27 in Ägypten. Die „Klimazukunft sieht sowohl besser als auch schlechter aus als noch vor ein paar Jahren“, so Wallace-Wells. Die schrecklichsten Vorhersagen seien durch die nun angelaufene Dekarbonisierung unwahrscheinlich geworden, die hoffnungsvollsten hingegen seien durch tragische Verzögerungen praktisch ausgeschlossen. Die Bandbreite möglicher Zukunftsszenarien für das Klima werde immer kleiner, und so entstehe ein klareres Bild dessen, was auf uns zukommt: „Eine neue Welt voller Umbrüche, in der Milliarden von Menschen weit entfernt von jeder Klimanormalität leben, die aber gnädigerweise nicht unmittelbar vor einer echten Klimaapokalypse steht.“ Dass die schlimmsten Temperaturszenarien nun viel weniger plausibel seien, stelle „in einer Zeit der Klimapanik und Verzweiflung ein unterschätztes Zeichen für einen weltgestaltenden Fortschritt dar“, so Wallace-Wells. Die Erkenntnis, dass eine „wirklich apokalyptische Erwärmung“ heute wesentlich unwahrscheinlicher sei als noch vor ein paar Jahren, „entreißt die Zukunft dem Reich der Mythen und holt sie auf die Ebene der Geschichte zurück: umkämpft, kämpferisch, mit einer Mischung aus Leiden und Gedeihen – wenn auch nicht für alle Gruppen gleichermaßen“. Immer noch lägen die wahrscheinlichsten Zukunftsaussichten über Schwellenwerten, die als katastrophal eingestuft wurden – was einem Scheitern der globalen Bemühungen gleichkomme, die Erderwärmung auf ein „sicheres“ Niveau zu begrenzen. „Da wir jahrzehntelang nur minimale Maßnahmen ergriffen haben, haben wir diese Chance vertan“, so Wallace-Wells. Vielleicht sei es noch beunruhigender, dass die Erwärmung selbst auf relativ moderatem Niveau immer gravierend scheine, je mehr man über sie herausfinde. Aber noch vor fünf Jahren kannte niemand Greta Thunberg, Schulstreiks, Fridays for Future oder Extinction Rebellion, schreibt Wallace-Wells. Es gab
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Gegen das Untergangsdenken 49 keine ernsthafte Debatte über den Green New Deal der US-Demokraten, das Klimaschutzpaket der Biden-Regierung, den European Green Deal und Fit for 55 der EU oder das Versprechen Chinas, die Emissionen bis 2030 zu senken. Kaum ein Land der Welt habe ernsthaft über Net-Zero gesprochen, viele nicht einmal über Emissionsreduktion. „Heute unterliegen mehr als 90 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts und mehr als 80 Prozent der globalen Emissionen Netto-Null-Zusagen unterschiedlicher Art, die alle eine umfassende Dekarbonisierung in historisch beispielloser Geschwindigkeit versprechen.“ Es scheint, als hätte die Menschheit sich in diesen letzten Jahren einen gewissen Gestaltungspielraum zurückerobert.
Transapokalypsen – die künftige Normalität? „Es geht nicht um alles oder nichts“, sagt der Klimaforscher Zeke Hausfather. „Es geht nicht darum, ob wir den Klimawandel in den Griff bekommen oder nicht, sondern darum, dessen Auswirkungen abzumildern.“ Es dürfe sich nicht die Vorstellung verfestigen, „dass wir entweder gerettet oder dem Untergang geweiht sind“. Tatsächlich würden alle in Zukunft unter der Erderwärmung leiden, weil die Emissionen nicht sofort zu stoppen seien, egal was geschehe. „Die Frage ist, wie viel Leid wir haben und wie viel wir retten können.“ Von der allgemeinen menschlichen Entwicklung sei dies nicht zu trennen. Die Fähigkeit der Gesellschaften, auf den Klimawandel zu reagieren, sei mit der Lösung aller anderen großen Probleme verbunden: Globale Gleichberechtigung, stärkere globale Institutionen, die Verteilung des Wohlstands seien der Schlüssel. Der Blick auf die Prognosen der Vergangenheit zeigt vor allem eins: Kaum etwas tritt so ein, wie es vorhergesagt wurde. Was also erwartet die Menschheit? Die künftige Normalität lässt sich mit Alex Steffens Begriff der „Transapokalpyse“ gut beschreiben: Wir werden in einem Zustand leben, in dem die Menschen sich dauerhaft gegen erodierende Lebensbedingungen stemmen müssen. Ein heroischer Ansatz nach dem Motto „Wenn wir scheitern, bedeutet das für uns das Ende von allem“ bringe uns nicht weiter, so Steffen. Leben und Gesellschaft könnten in Zukunft nur dann gelingen, wenn „wir uns zu Menschen formen, die auf einem Planeten, der sich in einer Dauerkrise befindet, erfolgreich sein können. Wir werden für den Rest unseres Lebens in Diskontinuität leben. Das ist jetzt unser Zuhause.“ Man werde mit Wohlstandsverlusten bezahlen, wenn Stürme über das Land fegen, wenn ein Kälteeinbruch ein ganzes Land in die Dunkelheit stürzt oder wenn ein neuartiges Fledermausvirus eine globale Pandemie auslöst. „Noch mehr aber werden wir alle unter dem ständigen Ausbluten der Ressourcen leiden: wenn die Kosten für Lebensmittel steigen, wenn Dürren zunehmen, wenn Wasser rationiert wird, oder wenn wir Klimaanlagen und Luftreiniger kaufen müssen, um die bisher immer sonnigen, klaren Sommer zu überstehen, die jetzt aber glühend heiße, rauchgeschwängerte Monate sein können“, schreibt Steffen.
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50 Christian Jakob Doch die Erfahrung, dass einige der zurückliegenden Krisen unterm Strich nicht allzu schlecht ausgingen, kann dabei helfen, sich auf diese Situation einzustellen. Viele staatliche Antworten auf die Covidpandemie waren letztlich trotz aller Schwierigkeiten nicht falsch. Weitere Pandemien werden folgen, auf die gemachten Erfahrungen und Forschungsergebnisse lässt sich aufbauen. Auch die befürchtete globale Wirtschaftskrise und ein Gasmangel durch den Krieg in der Ukraine wurden halbwegs verhindert. Das gesteigerte Bewusstsein für die Gefahren von großer Hitze und das neu verbreitete Wissen um die damit verbundene Übersterblichkeit zogen schon bald eine große Debatte um Maßnahmen wie Hitzeschutzpläne nach sich. Viele, die Krisen erforschen, weisen auf ihr unvorhersehbares Potential für Veränderungen hin. Die Ölkrise von 1973 etwa hatte zur Folge, dass vermehrt AKW gebaut wurden. Das wiederum ließ eine starke Umweltbewegung entstehen, auf deren Druck viele der ökologischen Verbesserungen der 1980er Jahre zurückgehen. Die Umweltbewegung wird künftig mit dem Widerspruch umgehen müssen, dass heute immer neue Technologien die von ihr geforderte notwendige Transformation möglich machen, diese Technologien aber gleichzeitig dazu instrumentalisiert werden, um Menschen zu suggerieren, sie könnten ihren Lebensstil unangetastet lassen. „Wer in Afrika lebt, ist jeden Tag mit Katastrophen konfrontiert“, sagte mir meine in Uganda lebende taz-Kollegin Simone Schlindwein. Seit 15 Jahren berichtet sie über die Region der großen Seen, in der sich Kriege, Armut, Vertreibung, Epidemien und Naturkatastrophen ballen. „Die Europäer haben sich an eine Sicherheit gewöhnt, die anderswo auf der Welt keineswegs normal ist. Sie werden sich umgewöhnen müssen.“ Dazu gehört, sich der Verdummungsmaschinerie zu verweigern, die den Menschen einredet, sich schon als Klimaretter aufspielen zu können, wenn sie bloß den Stromanbieter wechseln. Dazu gehört auch, sich der Tatsache zu stellen, dass Wohlstand und Sicherheit schrumpfen werden und es nicht mit Wärmepumpen und Elektroautos getan sein wird. Das wird schwierig. Aber es ist nicht das Ende der Welt.
Wer mündig bleiben will, glaubt an seine Zukunft Als der Kibbuz Chazerim 1946 gegründet wurde, war die Negev Wüste ein unwirtlicher Ort. Dort, wo die klassenlose Agrargemeinschaft jüdischer Siedler:innen entstehen sollte, fielen nur gut 100 Millimeter Regen im Jahr. Für Landbau zu wenig. Doch die Kibbuzim spezialisierten sich auf neue Bewässerungstechnologien, und 1959 konnte Simcha Blass, ein in Chazerim lebender Ingenieur, ein neuartiges System zur Tröpfchenbewässerung vorstellen. Mitten in der Wüste vermochte der Kibbuz damit ein bis heute grünes Meer aus Jojobasträuchern zu schaffen. Das dem Kibbuz gehörende Bewässerungsunternehmen Netafim stieg zum Weltmarktführer auf, die rund 800 Mitglieder halten bis heute an ihren sozialistischen Idealen fest. Während andere Kibbuzim privatisiert sind, wird in Chazerim Wäsche in einer
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Gegen das Untergangsdenken 51 Gemeinschaftswaschküche gewaschen, die Bewohner:innen essen gemeinsam im Speisesaal, das Kollektiv trägt Verantwortung für alle Mitglieder. Es kann nicht schaden, an solche Geschichten zu erinnern. Denn die Siedler:innen hatten genau das, was vielen heute fehlt: Die Vorstellung von einer guten, gemeinsamen Zukunft in und trotz einer widrigen Umwelt – und die Kraft, diese Zukunft kollektiv zu gestalten.
Wen überzeugt noch der Fortschritt? Unsere Gegenwart beschreibt die Gruppe Nevermore indes als einen steten Schwund von Zukunft. Dem „Spektakel des Untergangs“ sei Geschichte als „Chance der Entfaltung humaner Kräfte bis zu ihrem Optimum“ entgegenzustellen. Der Glaube an eine solche fortschrittliche Zukunft ist ein urlinkes Thema: Die Proletarier:innen hätten „eine Welt zu gewinnen“, schrieb Karl Marx im Kommunistischen Manifest. Heute, da der „Verlust der vertrauten Welt“ droht, gilt das vielleicht mehr denn je. Marx öffnete den gedanklichen Raum für eine selbstbestimmte Weltgestaltung, und mit der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Technik, der neuen Rolle der Universitäten, die nicht bloß altes Wissen weitergeben, sondern neues schaffen sollten, der Professionalisierung und Arbeitsteilung, entstand ihre praktische Grundlage. Nicht einmal 200 Jahre später ist vielen aber eine gute Zukunft kaum mehr vorstellbar. Veränderungen erscheinen vielen Menschen nicht als Folge von Weltgestaltung, sondern als Zerstörung und Zerfall, die sich ihrem Einfluss entzogen haben. In den apokalyptischen Bildern und Projektionen fehlen Hoffnung und Zuversicht, es fehlt die Möglichkeit von Glück. Und die vielen kaum mehr fassbar scheinenden Krisendynamiken verdrängen das Bewusstsein für das, was Fortschritt und soziale Kämpfe bis heute möglich machten. Vor 200 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa bei etwa 33 Jahren. Heute sind es global 73 Jahre. Vor 200 Jahren lebten 96 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut, heute sind es rund acht Prozent. In allen Weltregionen ist die Bevölkerungszahl enorm gestiegen, der Anteil Armer fiel überall stark. Vor 100 Jahren mussten Menschen in Deutschland im Schnitt fast zwei Drittel ihres Einkommens für Essen ausgeben, heute ist es rund ein Siebtel. 1903 gab es zum ersten Mal überhaupt bezahlte Urlaubstage – und zwar drei pro Jahr. Heute haben Menschen in Deutschland im Schnitt 32,1 Tage pro Jahr frei – ohne Feiertage. Wer zur Zeit des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, arbeitete zu Beginn seines Arbeitslebens regulär etwa 2500 Stunden im Jahr. Heute macht eine volle Stelle 1700 Stunden im Jahr aus – das sind rund 100 Achtstundentage weniger. Immer mehr Menschen erscheint es heute unmöglich, diese spektakuläre Erfolgsgeschichte sozialer Kämpfe und technischen Fortschritts für die Zukunft weiterzudenken: Weil sich die Macht des Menschen über den Planeten, die den Fortschritten zugrunde liegt, vor allem wegen seines Energiehungers als zunehmend zerstörerisch erweist. Und weil die Fortschrittsgewinne seit jeher ungleich verteilt sind und der Neoliberalismus diese
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52 Christian Jakob Ungleichheit in jüngster Zeit weiter radikalisiert hat – innerhalb von Gesellschaften ebenso wie global. Das triggert Ängste vor Abstieg, Wohlstandsverlust – und nicht zuletzt auch vor Geflüchteten. Doch weder Zerstörungen noch die Tatsache, dass die Lebenschancen zwischen heute Geborenen in Baden-Baden und in Bamako kaum ungleicher verteilt sein könnten, sind naturgegeben. Zu viele aber scheitern daran, sich die Veränderbarkeit dieser Dinge bewusst zu halten. Oder sie glauben, dass die Zeit nicht mehr ausreicht, um die Dinge zum Besseren zu wenden.
Die Zukunft ist offen Wissenschaftliche Vorhersagen scheinen in ihrer rationalen Autorität unerbittlich. Doch so umfangreich das gesammelte Wissen heute auch sein mag – nicht alles tritt genauso ein wie vorhergesagt. Der Wunsch, Wissen über die Zukunft zu generieren, treibt die Menschheit seit den Anfängen ihrer Geschichte an. Rolf Scheuermann vom Heidelberger CAPAS erinnert daran, dass die Menschen seit jeher glauben, bei Prognosen die Forschung auf ihrer Seite zu haben – auch, als sie sich noch auf Prophezeiungen oder Astrologie verließen. Auch darin habe einst viel mathematische Berechnung gesteckt. „Später wird man vielleicht auf die Prognosekräfte von heute genauso schauen wie wir jetzt auf die alten“, sagt Scheuermann. Denn nicht nur der Stand der Wissenschaft verändere sich stetig, sondern auch die Vorstellung davon, was Wissenschaft ist. An der Notwendigkeit, auf Grundlage des heutigen Wissensstandes gegen die Klimakrise vorzugehen, ändert das nichts. Doch kann der Gedanke an die begrenzte Aussagekraft düsterer Prognosen allemal dabei helfen, sich von ihnen nicht lähmen zu lassen und Vertrauen in den Selbsterhaltungstrieb der Menschheit zu bewahren. Der Historiker Stefan Brakensiek hat erforscht, wie frühere Gesellschaften angesichts einer als unsicher wahrgenommenen Zukunft gehandelt haben. Schon vormoderne Gesellschaften hätten „Kontingenzmanagement“, also eine Vorbereitung auf mögliche Risiken betrieben. „Für die meisten Gesellschaften war das handlungsleitend.“ Und das Potenzial, das Handeln an krisenhafte Erscheinungen anzupassen, sei zuletzt „extrem gewachsen“, sagt Brakensiek. Eigentlich gute Voraussetzungen für die Krisen von heute also. Und trotzdem erscheint die angemessene „Vorbereitung auf das Mögliche“ heute vielen unrealistisch: Wie soll etwa die Macht der Fossillobby gebrochen werden, wenn sie selbst bis an die Spitze der Weltklimakonferenz reicht und die COP28 im Dezember 2023 in Dubai vom Chef des staatlichen Ölkonzerns von Abu Dhabi geleitet wird? Die „offene Zukunft“, also eine, die in der eigenen Hand liegt, habe für das Selbstverständnis der europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt, sagt Brakensiek – was vor allem eine Folge der Aufklärung gewesen sei. Doch der Gedanke an die offene Zukunft kannte auch damals schon eine Nachtseite: „Apokalyptisches Denken scheint im Ima-
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Gegen das Untergangsdenken 53 ginarium Europas tief verwurzelt und hat Aufklärung und Säkularisierung ziemlich unbeschadet überstanden.“
Wachsende Skepsis trotz zahlreicher Erfolge Einiges deutet darauf hin, dass sich dies in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt hat. Das Hamburger Institut für Sozialforschung hat den Wandel des Fortschritts- und Zukunftsverständnisses der westdeutschen Linken seit 1980 untersucht. Diese Phase der „Geschichte nach dem Boom“ der 1950er bis 1970er Jahre sei gekennzeichnet von „wachsender Fortschrittsskepsis“ und einem „schwindenden Glauben an große Sozialutopien“, schreiben die Forscher:innen. „Der Zukunftsoptimismus, der bis dahin das moderne Denken gekennzeichnet hatte, schien durch Vorstellungen ersetzt zu werden, in der die Zukunft einer Gestaltung durch den Menschen entzogen war.“ Das stellte die ideengeschichtlichen Wurzeln der Neuen Linken infrage: den Fortschrittsglauben des Sozialismus. Zwei Faktoren waren dafür zusammengekommen: Ein gewachsenes Bewusstsein für die Gefahren der technischen Moderne und die Unfähigkeit, nach dem Zusammenbrechen des Sozialismus 1989 ein zugkräftiges Gegenmodell zum Neoliberalismus zu entwickeln. Die mexikanischen Zapatistas vermochten mit ihrem Aufstand 1994 kurzzeitig Aufbruchstimmung zu verbreiten. Doch ihre Idee von einer alternativen Globalisierung hatte in der Zeit des „Kampfes gegen den Terror“ nach 2001 keinen Bestand. In diesem Vakuum machte sich die Zukunftsskepsis breit – und hält sich. Die guten Nachrichten von heute verhallen da schnell. Wer spricht schon davon, dass in Deutschland Mitte Juni 2023 nur halb so viel Kohlestrom wie in der gleichen Woche im Vorjahr produziert wurde? Dass die Solarstromproduktion exponentiell wächst? Dass 2023 die Ökostromerzeugungskapazität weltweit um mehr als ein Drittel ausgebaut wird – und 2024 noch einmal? Dass es im globalen Automobilmarkt einen „Kipppunkt weg vom Verbrenner“ gibt? Dass es Forscher:innen kürzlich gar gelang, Strom aus Luftfeuchtigkeit zu gewinnen? An den Filterblasen und Timelines vieler, denen solche Nachrichten neuen Mut geben könnten, rauschen sie einfach vorüber. Was hängen bleibt, sind die steten Negativrekorde. Über die Vorbereitung auf die Klimakonferenz COP28 in Dubai schrieb der Journalist und Klimaexperte Bernhard Pötter: „Wenn wir denken, dass es aus ist, dann ist es wirklich aus.“ Und vielleicht heißt das auch: Erst wenn wir denken, dass es aus ist, ist es wirklich aus. Mit Fridays for Future wurde die globale Klimabewegung in nur wenigen Jahren zur größten sozialen Bewegung überhaupt. Ohne eine solche wird es nicht gelingen, den notwendigen politischen Druck aufzubauen, um die Lobbymaschinerie der Fossilindustrie zu stoppen und sie daran zu hindern, die verbleibenden Brennstoffe aus der Erde zu holen. Es braucht die Klimabewegung, um gleichzeitig das legitime Interesse an billiger Energie vor allem im Globalen Süden mit ökologischen Erfordernissen in Einklang zu bringen.
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54 Christian Jakob Die globale Mobilisierung für das Klima gibt Hoffnung, die Welt vor ihrer Zerstörung schützen zu können. Gleichzeitig konkurriert sie mit autoritären Krisenantworten, die heute zunehmend Anklang finden: Eine kürzlich veröffentlichte Befragung des Progressiven Zentrums unter Teilnehmer:innen der sogenannten Montagsdemos in Gera und Chemnitz offenbarte ein „tief sitzendes Misstrauen gegenüber den politischen Akteur:innen“ sowie „Antiamerikanismus und Nationalismus“. Viele der Befragten sind der Meinung, klimapolitische Maßnahmen wie der schnelle Umstieg auf erneuerbare Energien würden „den Industriestandort Deutschland gefährden“. Verantwortung trage Deutschland zuallererst für das Wohlergehen der Deutschen. Verbreitet waren unter den Teilnehmenden auch die Ablehnung politischer Parteien und ein Wunsch nach Unmittelbarkeit, also ein autoritäres und antiliberales Politikverständnis. „Den Befragten dienen diese Elemente zur Interpretation der Vielfachkrise der letzten Jahre“, schreibt das „nd“. Solche Einstellungen sind heute nicht nur in westlichen Gesellschaften weit verbreitet. Sie sind Ergebnis einer autoritären Wende und populistischer Agitation, die Krisen nur als Folge korrupten Elitenhandelns zu interpretieren imstande ist. Und sie lassen die Räume für fortschrittliche Antworten auf die Krisen dramatisch schrumpfen. Doch dem lässt sich entgegentreten. Etwa mit der Suche nach einem „Kosmopolitismus von unten“, dem Tasten nach neuen Formen einer globalen Demokratie, der Suche nach „gemeinsamen Welten“ und Formen solidarischen Zusammenwirkens als Gegenmodell zum autoritären Nationalismus.
Wohin soll die Veränderung führen? Der Unterschied zwischen fortschrittlichen und autoritären Antworten auf die Krise lässt sich dabei nach der Politikwissenschaftlerin Nadja Meisterhans als Unterschied zwischen Dystopie und Apokalypse beschreiben: In der Dystopie steckt „ein latentes Moment der Utopie“. Im Gegensatz zum apokalyptischen Denken arbeite die Dystopie nicht mit Prophezeiungen des Weltuntergangs, Verschwörungsideen oder angeblichem absoluten Wissen. Sie sei vielmehr ein Weckruf, sie frage, was passiert, wenn die Macht- und Herrschaftsstrukturen nicht verändert werden. Die dystopische Erzählung könne das Unbehagen und manifeste Leiden „fantasievoll benennen“ und in der Kritik des Bestehenden zumindest implizit auf Veränderbarkeit zielen und diese so ermöglichen. Die Philosophin Eva von Redecker glaubt, dass die Vorbereitung auf das Kommende nur darin bestehen könne, das Teilen zu üben. Das Privileg des 21. Jahrhunderts werde sein, nicht reisen, auswandern oder gar fliehen zu müssen. Sondern einen Ort zu haben, der bestehen bleibt, von dem man nicht weg muss. Andere, wie der Soziologe und „Blätter“-Mitherausgeber Ulrich Brand, verweisen auf die Notwendigkeiten des Umbaus der Ökonomie, für den es nach einem „Vierteljahrhundert neoliberaler Gehirnwäsche“ jedoch vielfach an Vorstellungskraft und Akzeptanz mangele. „Die Orientierung an ökono-
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Gegen das Untergangsdenken 55 mischem Wachstum ist tief in die Institutionen und Denkweisen kapitalistischer Gesellschaften eingelassen“, schreibt Brand. Dem sei nicht mit abstrakten Ideen wie „weniger Wachstum ist besser“ zu begegnen, sondern nur mit einer Infragestellung von „tief verankerten gesellschaftlichen Sinnzusammenhängen“, etwa der Auto-Mobilität. Nur so könne der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ in einen demokratischen Prozess stärkerer Planung überführt werden. Brand schrieb das schon 2005. Die Reaktionen etwa auf das Gebäudeenergiegesetz der Ampelregierung im Mai 2023 zeigen, wie recht er hatte: Der Versuch einer an den ökologischen Notwendigkeiten orientierten politischen Planung konnte allein mit der Aktivierung fehlgeleiteter Affekte („Heiz-Stasi“, „Freiheit“) zurückgeschlagen werden. Eine andere Möglichkeit von Fortschritt und Veränderung, die weniger auf der gesamtgesellschaftlichen als auf individueller Ebene angesiedelt ist, hat der schwedische Arzt Hans Rosling beschrieben. In seinem 2018 erschienenen Weltbestseller Factfulness verweist er auf die Fortschritte in der Welt – und wie sehr Menschen diese unterschätzen. Rosling versucht damit, Ängste zu lindern und Energien in konstruktives Handeln umzuleiten. Er bezeichnet sich als „Possibilisten“ und vertritt die Auffassung, dass der Fortschritt auch am Einzelnen hängt. Das trifft nicht nur auf Menschen wie Greta Thunberg zu. Schon ein Blick auf das, was die Zivilgesellschaft heute etwa an den europäischen Außengrenzen oder im Mittelmeer leistet, bestätigt Roslings Auffassung: Innerhalb weniger Jahre hat eine anfangs sehr kleine Gruppe Freiwilliger aus dem Nichts eine Infrastruktur zur Seenotrettung und Initiativen wie das Alarm-Phone aufgebaut. Seit 2015 dürfte dies Hunderttausenden das Leben gerettet haben. Es ist eine praktische und gleichzeitig zutiefst politische Antwort auf herrschendes Unrecht und ein Ausdruck gesellschaftlicher Gegenmacht, von der sich viel lernen lässt. Ein Blick in die globale Zivilgesellschaft zeigt viele solcher Beispiele. Oft geht es dabei darum, Rechte einzufordern – soziale Menschenrechte etwa, wie das Recht in einer „sicheren, sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt“ zu leben.
Das Recht auf Zukunft Der Humangeograf Carsten Felgentreff von der Universität Osnabrück erforscht seit Jahrzehnten die sozialen Folgen sogenannter Naturrisiken, also etwa Dürren, Brände, Überschwemmungen – all das, was der Klimawandel in noch stärkerer Intensität mit sich bringt. Für ihn liegt der Schlüssel zur Anpassung daran auf der Ebene des Rechts. „Wenn man Menschenrecht ernst nehmen würde, würden sich viele andere Debatten erübrigen“, sagt er. „In Staaten, in denen Politiker sich in freien Wahlen legitimieren lassen müssen und wo eine freie Presse offen über Unrecht berichtet, dort verhungern Menschen nicht massenhaft.“ Felgentreff bezieht sich dabei auf den Ökonomen Amartya Sen, der sich umfassend mit dem Zusammenhang von politischer Freiheit und sozialer Entwicklung befasst hat. Die beste Antwort
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56 Christian Jakob auf die Klimakrise seien demnach „rechtebasierte Ansätze für alle“. Denn die Härte, mit der bestimmte Krisen einzelne Menschen treffen, ist extrem ungleich verteilt. Und dies hat viel mit ihrer gesellschaftlichen Stellung zu tun. Diese zu verbessern sei künftig noch „wichtiger als Technologie“.
Vernetzung statt Verzweiflung Positive Beispiele dafür gibt es – etwa die erfolgreichen Klimaklagen von Fridays for Future, oder die Klagen des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin, das mit juristischen Mitteln gegen Menschenrechtsverletzungen vorgeht. So ist die Durchsetzung des „Rechts auf Rechte“ heute die angemessene Antwort auf die gefährliche Entwicklung der Erde. Doch weiter vorstellbar ist das nur, wenn zivilgesellschaftliche Gestaltungsmacht und Selbstwirksamkeit nicht verkümmern. Der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn glaubt, dass es nicht darum geht, zwischen „Beschwörung der Apokalypse und andererseits Fortschrittsglauben zu wählen“. Beides sei ein Glauben an Automatismen. Gestaltungsmacht könne sich auch nicht in Technologie erschöpfen. Die Herausforderung sei, „die Gesellschaft so zu organisieren, dass sie auf Krisen Antworten findet“. Zum Beispiel müsste hierzulande um eine Antwort auf die ungelöste Frage gerungen werden, wie die „Energiewende made in Germany“, an der sich heute so viele Debatten aufhängen, „global skalierbar“ werde. „Diese Zusammenhänge zu denken, öffentlich zu diskutieren, dafür Handlungsmöglichkeiten zu finden“ – darin sieht Renn die besten Chancen für eine wiederzuentdeckende Selbstwirksamkeit. Würde die Gesellschaft sich „in aller Ehrlichkeit der Wirklichkeit stellen“, dann wäre das „kein Moment der Verzweiflung, sondern ein Moment der Befreiung“, sagt Luisa Neubauer, die deutsche Sprecherin von Fridays for Future. Es würde ermöglichen, für echte Lösungen einzustehen. Die heutige Generation ist nicht die erste, die Krisen von überwältigender Dramatik erlebt und glaubt, keine Zukunft zu haben. Wirklich neu sind aber ihre Möglichkeiten, sich in noch nicht gekannter Weise zu vernetzen – und so Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Das erfordert mehr als bloße Anpassung an die kommenden Katastrophen. Es verlangt die demokratische Kontrolle von Wirtschaft und Ressourcen sowie den Schutz der Natur. Denn dass dies gestern nicht gelang, hat die Probleme von heute erst so groß werden lassen. Es verlangt, Solidarität zu erhalten und zu stärken, wenn um uns herum die Ressourcen erodieren. Es verlangt, Fortschritt, Rationalität und Offenheit zu behaupten gegenüber Autoritarismus und Populismus, die das Heil in der Abschottung suchen, aber nicht finden werden. Es verlangt Fantasie für neue Ideen von einem guten Leben, das mit weniger auskommt. Es erfordert, Akzeptanz zu schaffen für Einschränkungen, vor allem aber für Umverteilung. Denn das Überleben, das so viele infrage gestellt sehen, ist heute in erster Linie eine Frage der globalen Gerechtigkeit.
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Auf dem Weg in die KI-tokratie? Künstliche Intelligenz und die autoritäre Gefahr Von Ferdinand Muggenthaler
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it ChatGPT ist Künstliche Intelligenz (KI) im Alltag angekommen. Hört man sich ein wenig um, ist es offensichtlich: Eine Studentin lässt sich die Einleitung ihrer Hausarbeit von dem Chatbot schreiben; ein Unternehmensberater seine Präsentationen gestalten; eine Ausbildungssuchende den Entwurf für ein Bewerbungsschreiben erstellen. Auch in der Berichterstattung über KI hat sich der Schwerpunkt Richtung Alltag verschoben. Nachdem Branchengrößen und Wissenschaftler:innen im März auf Gefahren einer fast allmächtigen KI hingewiesen und ein Moratorium für die Weiterentwicklung der selbstlernenden Systeme gefordert hatten, ging es in der medialen Debatte vor allem um die künftigen Gefahren durch KI. Der offene Brief1 behauptete, heutige KI-Systeme seien schon auf dem Weg, auch bei allgemeinen Aufgaben mit dem Menschen konkurrenzfähig zu werden – bei speziellen sind sie ohnehin schon besser – und malte in Frageform ein apokalyptisches Szenario an die Wand: „Sollten wir alle Jobs automatisieren, auch die erfüllenden? Sollten wir nichtmenschliche Intelligenzen entwickeln, die uns irgendwann zahlenmäßig überlegen sind, uns überlisten, überflüssig machen und ersetzen könnten? Sollen wir den Verlust der Kontrolle über unsere Zivilisation riskieren?“ Solche Entscheidungen dürften nicht an die Chefs von Tech-Unternehmen delegiert werden. Wenn es kein freiwilliges Moratorium gebe, müssten daher die Staaten eingreifen. Es klang wie der Ruf des Zauberlehrlings, dem sein KI-Besen zu entgleiten droht: „Kontrolliert mich!“ Unterschrieben hatte auch Elon Musk, was der Glaubwürdigkeit der Warnung schadete und den Brief mehr als PR-Gag erschienen ließ. Und so wurde die Apokalypse abgesagt. Statt um die mögliche Superintelligenz in der Zukunft geht es jetzt mehr um die schon heute möglichen Anwendungen. Ein neuer Podcast der ARD zum Thema zeigt das exemplarisch. Aus dem Titel der ersten Folge sprach noch Besorgnis: „Werden wir alle arbeitslos?“ Schon die nächste Ausgabe schlug einen entspannten Ratgeberton an: „Wie macht mich KI produktiver?“ Fragen, die sich schon jetzt viele stellen. Laut Umfragen glauben 52 Prozent der Deutschen, KI könne ihre Arbeit stark verändern. 23 Prozent haben Angst, durch die neue Technik ihren Arbeitsplatz zu verlieren.2 1 Pause Giant AI Experiments: An Open Letter, futureoflife.org, 22.3.2023. 2 Vgl. Wie Künstliche Intelligenz die Arbeitswelt revolutionieren wird, stepstone.de, 28.6.2023; Fast jeder Vierte in Deutschland fürchtet wegen Künstlicher Intelligenz um seinen Job, ey.com, 8.6.2023.
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58 Ferdinand Muggenthaler Der weit überwiegenden Mehrheit der Menschen in Deutschland (92 Prozent) ist Künstliche Intelligenz mittlerweile ein Begriff. Immerhin 56 Prozent trauen sich zu, den Begriff auch zu erklären. Leider sagt die Umfrage nichts darüber aus, wie sie ihn erklären würden.3 Das wäre interessant zu wissen, bleibt KI doch ein schwammiger Begriff, und manche in der Branche wünschen sich, die Technologie hieße, was nicht ganz falsch wäre, „automatische Mustererkennung“. Der Name würde Ängste reduzieren und könnte helfen, die Forderung nach lästigen Regulierungen zu vermeiden.
Was ist Künstliche Intelligenz? Wenn von KI die Rede ist, dann ist in der Regel – auch in diesem Text – Software gemeint, die nicht einen durch Menschen geschriebenen Programmcode abarbeitet, sondern mit großen Datenmengen „trainiert“ wird. Es sind Programme, die aufgrund der Muster oder Wahrscheinlichkeiten, die sie während der Lernphase in den Daten gefunden haben, Entscheidungen treffen. In harmlosen Fällen schlagen sie die schnellste Route von A nach B vor. In anderen entscheiden sie schon heute über die Kreditwürdigkeit von Menschen oder darüber, wer zum Bewerbungsgespräch eingeladen wird. Das gleichermaßen Beunruhigende wie Faszinierende dabei: Wie die KI zu ihren Entscheidungen kommt, ist für Menschen nicht mehr nachvollziehbar. Ob es sinnvoll ist, die Fähigkeiten dieser Systeme als intelligent zu bezeichnen, ist eine andere Debatte. Klar ist: Der Mensch gibt Kontrolle ab, in der Entwicklung und in der Anwendung. Auch ihre Schöpfer – und Schöpferinnen, auch wenn das Übergewicht der Männer in diesem Bereich besonders groß ist4 – wissen nicht, wie das Programm genau zu seinen Entscheidungen kommt. Der Entscheidungsprozess findet in einer black box statt. Das ist auch der Unterschied zu anderen technologischen Umbrüchen: Als die Dampfmaschine erfunden wurde, wusste niemand, dass der massenhafte Einsatz von fossilen Energien das Klima verändern würde. Bei KI ist der Fall anders gelagert. Wenn wir heute von den Gefahren des massenhaften Einsatzes dieser Entscheidungsmaschinen sprechen, dann geht es weniger um noch nicht verstandene Nebenfolgen. Vielmehr wird der Prozess in der Maschine selbst nicht verstanden und es ist unbekannt, welche Fähigkeiten die lernenden Systeme noch entwickeln können. Die Konstrukteur:innen der Systeme kontrollieren nämlich auch den automatischen Lernprozess, der zu einer KI-Anwendung führt, nur zum Teil. Der Aufbau der lernenden Systeme, die zu den spektakulären Fortschritten in der KI geführt haben, orientiert sich dabei grob am Aufbau des menschlichen Gehirns, man spricht von „künstlichen neuronalen Netzen“. Das ist an sich nichts Neues mehr, aber die so entwickelten Anwendungen werden seit einigen Jahren immer besser und schneller, beispielsweise beim Identifizieren von Gesichtern oder der Übersetzung von einer menschlichen Sprache in eine andere. 3 Künstliche Intelligenz ist fast allen Deutschen ein Begriff, bitcom.org, 12.7.2023. 4 Global Gender Gap Report 2023, weforum.org, 20.6.2023.
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Auf dem Weg in die KI-tokratie? 59 Als Ende 2022 ChatGPT 3.5 an den Start ging, verlieh das der Diskussion über die Möglichkeiten und Gefahren der KI einen enormen Schub. Jetzt konnten alle – vorausgesetzt, sie verfügen über einen halbwegs stabilen Internetzugang und sprechen eine der unterstützten Sprachen – persönliche und spielerische Erfahrungen mit „generativer“ KI machen, also mit Software, die Neues schafft, und damit in gewisser Weise kreativ ist. Das Gleiche gilt für Bildgeneratoren wie Dall-E oder Stable Diffusion. ChatGPT 3.5 hatte nach seinem Start Ende November 2022 innerhalb von fünf Tagen eine Millionen Nutzer:innen. Im Januar beantwortete der Chatbot schon 100 Millionen Anfragen. Nach der ersten Faszination für die flüssige, menschenähnliche Kommunikation mit ChatGPT, zeigte das System auch seine Grenzen. Im Mai ging die Nutzung etwas zurück. War alles nur ein Hype? Nicht nur. Zwar werden sich weder die fantastischen positiven Versprechen in nächster Zeit einstellen noch die Weltbeherrschungsszenarien. Aber ein großer technologischer Schritt mit potenziell einschneidenden Folgen sind die neuen Large Language Models (LLMs) allemal. LLMs sind die Technologie hinter ChatGPT und verwandten Systemen wie Microsofts Bard oder Ernie Bot des chinesischen Konzerns Baidu. Sie schaffen es, trainiert an Millionen menschlicher Texte, eine schriftliche Unterhaltung zu führen, die kaum von der mit einem Menschen zu unterscheiden ist. (Der offensichtlichste Unterschied dabei: Die Chatbots machen keine Tippfehler.) Damit erfüllen sie viel breitere Aufgaben als spezialisierte Systeme wie die automatische Gesichtserkennung. Trotzdem sind die aktuellen LLMs keine künstlichen Wesen mit eigener Motivation oder gar einem Bewusstsein. Inwieweit sie ein Schritt dahin sein könnten, ist umstritten. Jedenfalls bleibt KI bis auf weiteres ein Werkzeug in der Hand von Menschen. Aber ein mächtiges neuartiges Werkzeug, das die Wirtschaft und die menschlichen Beziehungen insgesamt umkrempeln wird.
Künstliche Intelligenz in der Produktion KI hat schon begonnen, die Arbeitswelt zu verändern. Der Streik der Schauspieler:innen und Drehbuchautor:innen in den USA ist ein klares Zeichen dafür. Sie haben allen Grund zu befürchten, dass ihre Arbeit zunehmend von KI ersetzt wird. Schon jetzt werden Statist:innen durch KI überflüssig und lassen sich verstorbene Schauspieler:innen in neuen Filmen wieder „zum Leben erwecken“. Wo die Reise hingehen soll, zeigt auch Netflix, nicht nur in der jüngsten Staffel von „Black Mirror“, sondern auch mit Jobpostings: Mitten im Streik schreibt der Streamingdienst Jobs für KI-Produktmanagement aus und bietet dafür bis zu 900 000 Dollar Jahresgehalt,5 während 87 Prozent der Menschen vor der Kamera weniger als 26 000 Dollar verdienen. Auch andere Branchen stehen vor großen Umbrüchen. Ausgerechnet Programmierer:innenwerdenwohlinZukunftdeutlichwenigergebrauchtwerden. 5 Ken Klippenstein, As Actors Strike for AI Protections, Netflix Lists $900,000 AI Job, theintercept. com, 25.7.2023.
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60 Ferdinand Muggenthaler Denn die KI schreibt auf Anweisung in natürlicher Sprache Programmcode, und das deutlich schneller als die menschlichen Kolleg:innen. Der Journalismus verändert sich ebenso: Eine Befragung des Reuters Instituts in 53 Ländern kam zu dem Ergebnis, dass fast ein Drittel der Redaktionen KI schon häufig nutzen.6 Vor allem Sport- und Wirtschaftsmeldungen lassen sich bereits gut automatisch erstellen, und KI kann bei der klickaffinen Titelfindung helfen. Mehr Spielerei sind dagegen zurzeit noch die ersten komplett durch KI erzeugte Radioprogramme7 oder künstliche TV-Moderator:innen. Kurzum: Mit KI zeichnet sich ein gewaltiger Produktivitätsschub in vielen Branchen ab. Betroffen sind diesmal gerade hochqualifizierte und auch kreative Tätigkeiten. Viele Arbeitskräfte ohne KI-Expertise könnten durch wenige ersetzt werden, die mit der neuen Technik arbeiten. Ob für diesen Umbruch der Begriff „vierte industrielle Revolution“8 zutrifft, sei dahingestellt.
KI und Gesellschaft Wie KI unser Zusammenleben insgesamt verändern wird, ist dagegen weit unklarer, zumal es entscheidend davon abhängt, wie die Gesellschaften und Staaten auf ihren Einsatz reagieren. Wie schon die Internetnutzung, Smartphones und Social Media wird sie in unser Kommunikationsverhalten eingreifen. Denn sie ist unter anderem ein Kommunikationsmedium. Aber wenn hier auch gilt, „das Medium ist die Botschaft“9, dann ist die Frage: Was ist die Botschaft? Die Antwort lautet: eine autoritäre. Während sich mit dem Aufkommen des Internets und später der Online-Netzwerke wie Facebook oder Twitter die Hoffnung auf einen demokratisierenden Effekt verband, glaubt das von der KI kaum jemand. Das Internet kann eine transnationale Öffentlichkeit herstellen, die zum Beispiel dringend nötig ist, um die Klimakrise in den Griff zu bekommen. Online-Netzwerke konnten und können von Demokratiebewegungen genutzt werden, um autoritäre Strukturen ins Wanken zu bringen. Das hat der Arabische Frühling gezeigt. Auch für die jüngsten Proteste im Iran war der Informationsaustausch über Social Media wichtig. Anders als die traditionellen machen die neuen „sozialen“ Medien alle potenziell zu Sendern und Empfängern. So können die virtuellen Plattformen selbstbestimmte Kommunikation zwischen Menschen ermöglichen. Entsprechend sind autoritäre Staaten immer bemüht, sie streng zu kontrollieren. Es ist ein Katz- und Mausspiel. Die KI scheint hier klar aufseiten der Katze zu sein. Das zeigt nicht zuletzt das Beispiel China. Dort hat die Regierung gezielt die Entwicklung von Überwachungstechnik auf der Basis von Künstlicher Intelligenz vorangetrieben. Eine neue Studie belegt, wie in China öffentliche Überwachungsauf6 7 8 9
Reuters Institute, Digital News Report 2023, reutersinstitute.politics.ox.ac.uk, Juni 2023. Thomas Ihm, KI-Programm „RadioGPT“ produziert Radio, swr.de, 10.7.2023. Klaus Schwab, Shaping the Future of the Fourth Industrial Revolution, London, 2016. Vgl. Roberto Simanowski, Narrative der Weltbeglückung, in: „Blätter“, 6/2023, S.63-73.
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Auf dem Weg in die KI-tokratie? 61 träge die KI-Branche alimentieren.10 Und nach Protesten stieg die Zahl der öffentlichen Ausschreibungen für KI-Dienstleistungen jeweils noch an. Den Unternehmen nützt dabei nicht nur das Geld aus den öffentlichen Aufträgen, sondern ihnen nützen auch die Daten, die bei der Massenüberwachung gesammelt werden, um ihre künstlichen neuronalen Netzwerke zu trainieren. Die Überwachungssoftware wird dabei immer raffinierter. Die Systeme erkennen inzwischen Gesichter trotz Atemschutzmaske, und chinesische Firmen bieten Programme an, die schon das Ausrollen eines Transparents in Reichweite einer Überwachungskamera automatisch erkennen.11 Während die Gesichtserkennung in Echtzeit die Menschen auf der Straße überwacht, hilft KI auch bei der Zensur im digitalen Raum. Im von der „Great Firewall“ abgeschirmten chinesischen Internet kann sie eingesetzt werden, um abweichende, potenziell oppositionelle Verhaltensmuster zu erkennen.
Staatliche Regulierungsversuche Umgekehrt ist der chinesische Staat vorne mit dabei, wenn es darum geht, KI selbst zu kontrollieren: China hat im Januar 2023 als eines der ersten Länder umfassende Vorschriften gegen deepfakes erlassen, um die Verbreitung der täuschend echten Fälschungen von Bildern, Videos und Stimmen einzudämmen. Inhalte, die „die nationale Sicherheit und die nationalen Interessen gefährden und das nationale Image schädigen“, sind verboten. Von Anbietern harmloserer Inhalte verlangen die Behörden eine „auffällige Kennzeichnung“ von KI-generiertem Content. Staaten mit einem demokratischen Anspruch tun sich bei der Kontrolle der elektronischen Kommunikation notwendigerweise schwerer. Die Kontrolle von Hetze, Gewaltaufrufen und Fakenews – welche mit generativer KI leichter und schneller denn je zu produzieren und zu verbreiten sind – kollidiert mit der Meinungsfreiheit. Ein autoritärer Überwachungsstaat kann dagegen über die neuen Möglichkeiten jubeln, wenn er sie denn kontrolliert. Zwar kann auch in der EU oder den USA staatliche Überwachung zum Problem werden, aber vor allem untergräbt hier die private Kontrolle über KI-Systeme die individuelle und kollektive Selbstbestimmung. Schließlich fördert auch das massenhafte Sammeln von Daten und die anschließende KI-getriebene Steuerung des Konsumverhaltens durch die Tech-Konzerne nicht die Demokratie. Im Gegenteil: Sie verschafft diesen Unternehmen eine immense, demokratisch nicht legitimierte Macht. Außerdem birgt das mächtige Werkzeug KI in Händen von Google, Amazon oder Microsoft auch ein großes Erpressungspotenzial gegenüber den Staaten. Entsprechend sind ihre Lobbyist:innen aktiv, um eine ambitionierte Regulierung der KI in der EU zu verhindern. Sam Altman, der Chef des von Microsoft unterstützten Unternehmens OpenAI, das ChatGPT zunächst aus 10 Martin Beraja et al., AI-tocracy, in: „The Quarterly Journal of Economics“, 3/2023, S. 1349-1402. 11 Marcel Grzanna, Wie KI in China der Überwachung und Manipulation dient, table.media, 10.8.2023.
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62 Ferdinand Muggenthaler vorgeblich gemeinnützigen Motiven entwickelt hatte, drohte sogar mit dem Rückzug aus Europa. Der Entwurf des EU-KI-Gesetzes sei eine Überregulierung. Das EU-Parlament ließ sich glücklicherweise nicht einschüchtern und beschloss trotzdem eine verschärfte Version eben jener Vorschriften. Altman nahm seine Drohung später zurück, aber die Gelegenheiten für Lobbying sind nicht erschöpft: Das Gesetz muss jetzt noch mit der Kommission und den EU-Staaten verhandelt werden. Diese Verhandlungen sollen Ende des Jahres abgeschlossen sein. In Kraft treten werden diese Regeln vermutlich erst zwei Jahre später, wenn die Mitgliedstaaten sie in nationales Recht umgesetzt haben. Trotzdem sehen Organisationen wie Algorithm Watch, die sich seit Jahren für den Schutz von Grundrechten im Gebrauch von KI einsetzen, in dem Beschluss des EU-Parlaments einen Erfolg.12 Prinzipien wie Transparenz und Einstufung in Risikoklassen seien richtig und wichtig, allerdings bestehen große Zweifel, dass die Staaten diese Prinzipien auch konsequent durchsetzen können und wollen.
Gefahren für die Demokratie In den USA scheiterte der erste Versuch der KI-Regulierung schon vor Jahren: Am Ende seiner Amtszeit hatte Präsident Barak Obama eine entsprechende Initiative gestartet, die aber von seinem Nachfolger Donald Trump sofort kassiert wurde.13 Im Juli 2023 haben sich dann immerhin sieben Unternehmen, darunter Google und Amazon, feierlich dazu verpflichtet, verantwortungsvoller mit Künstlicher Intelligenz umzugehen. Präsident Joe Biden, der die Selbstverpflichtung verkündete, lobte diese als wichtigen Schritt, um die Gefahren von KI für die Demokratie zu bannen. Dass die schwammig formulierten Versprechen weit tragen, ist nicht anzunehmen. Aber unabhängig davon: Welche Gefahren für die Demokratie, von denen Biden sprach, lassen sich identifizieren? Eine davon ist sicherlich, das sie das Vertrauen in die Überprüfbarkeit von Tatsachen weiter erodieren lässt. Fälschungen von Nachrichten, Bildern und Videos sind kein neues Phänomen. Aber die Geschwindigkeit und die Qualität, in der inzwischen „Deepfakes“ produziert werden können, war bis vor kurzem noch undenkbar. Es wird immer einfacher Fotos, Videos oder auch Stimmen mit täuschend realistisch anmutendem Ergebnis zu fälschen. Das schafft einerseits neue Betrugsmöglichkeiten für Kriminelle, wie ein spektakuläres Beispiel Anfang des Jahres in China zeigt: Dort zahlte der Manager einer Tech-Firma aus Fuzhou umgerechnet 622 000 US-Dollar, weil ein Freund ihn in einem Video-Call dringend darum gebeten hatte. Vermeintlich. In Wirklichkeit trat im Video ein von Kriminellen gesteuerter KI-Klon des Freundes auf. 14 Die Technik lässt sich selbstverständlich auch in der politischen Propaganda einsetzen. Das mit einem KI-Programm von einem AfD-Politiker 12 EU-Parlament stimmt für Schutz vor schädlichen KI-Systemen, algorithmwatch.org, 15.6.2023. 13 Daniel Leisegang, Künstliche Intelligenz: Wettlauf ohne Ethik, in: „Blätter“, 10/2018, S. 21-24. 14 Fabian Peltsch, Chinas Angst vor Deepfakes, table.media, 11.8.2023.
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Auf dem Weg in die KI-tokratie? 63 erzeugte Bild von angeblich aggressiven jungen männlichen Flüchtlingen ist da sicher nur der Anfang. Gefährlicher als einzelne Fälschungen dürfte dabei die fortschreitende Zersetzung jedes Glaubens in überprüfbare Tatsachen sein. Dieser Trend, den wir ohnehin schon spüren, dürfte sich durch KI-Einsatz noch verstärken. Die Folgen werden beschrieben mit Begriffen wie „Realitätsapathie“ – wenn alle lügen, ist demokratische Einmischung sinnlos – und „Realitätszersplitterung“ – der Zerfall der Öffentlichkeit in Filterblasen. Beide Phänomene zersetzen die Grundlagen für demokratische Prozesse.15 Das Gegenmittel des fact checking wird angesichts der Flut immer besserer Fälschungen von Tag zu Tag anspruchsvoller. Paradoxerweise werden wir in Zukunft vermehrt künstliche Intelligenz brauchen, um Fälschungen durch KI zu entlarven.
Personalisierte Manipulation Neben der Fälschung von Inhalten macht es die KI auch einfacher, Botschaften direkt auf einzelne Gruppen oder Personen zuzuschneiden. Bisher versuchen bei Instagram, Tik-Tok, Facebook oder YouTube Algorithmen, die Aufmerksamkeit der Nutzer:innen zu lenken, um sie möglichst lang auf der Plattform zu halten. Dazu analysieren sie, schon jetzt mit KI, das individuelle Nutzungsverhalten, auch, um auf die einzelne Person zugeschnittene Werbung anzuzeigen. Dieses microtargeting funktioniert auch in der Politik. Im US-Wahlkampf 2016 versuchte Cambridge Analytica, die Wahlen zugunsten von Trump zu beeinflussen. Die Firma verfügte über Millionen von Facebook-Profilen und bot an, personalisierte Botschaften an Wähler:innen zu schicken. Wie wichtig Cambridge Analyticas microtargeting für Trumps Wahlerfolg tatsächlich war, ist umstritten. Mit den jüngsten Fortschritten bei generativer KI ist eine noch viel „persönlichere“ und trotzdem massenhafte Beeinflussung denkbar, gegen die sich die Methoden von Cambridge Analytica geradezu unbeholfen ausnehmen. Folgendes Szenario malt der Historiker und Gesellschaftsanalytiker Yuval Harari, einer der prominentesten Warner vor den Gefahren einer unregulierten KI, aus: Ein Chatbot gibt sich als Mensch aus, baut eine scheinbar vertrauensvolle Beziehung zu dir auf und streut nach ein paar Tagen oder Wochen in die Unterhaltung ein, dass Wladimir Putin doch ein paar nachvollziehbare Gründe für den Überfall auf die Ukraine hatte. Du beginnst zu argumentieren. Der Versuch, dein Gegenüber zu überzeugen, ist freilich völlig sinnlos und eine Vergeudung von Lebenszeit. Die KI dagegen lernt aus der Unterhaltung mit dir, ihre Kommunikationsstrategie noch zu verbessern.16 Ein technisch schon jetzt realistisches Szenario. Sofern die Serverfarmen groß genug sind, hat die KI kein Problem, Tag und Nacht ihre Argumentation 15 Die Begriffe Realitätsapathie und Realitätszersplitterung machte Aviv Ovadya im Zusammenhang mit dem US-Wahlkampf von Donald Trump bekannt. Siehe: Charlie Warzel, He Predicted The 2016 Fake News Crisis. Now He’s Worried About An Information Apocalypse, bussfeednews.com, 11.2.2018. 16 Yuval Harari und Pedro Pinto, Humanity is not that simple, youtube.com, 6.6.2023.
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64 Ferdinand Muggenthaler zu „verbessern“ und gleichzeitig mit Millionen Menschen zu sprechen. Ein Albtraum. Die logische Konsequenz für Harari: Demokratische Staaten müssen ein strenges Verbot der „Menschenfälschung“ durch Chatbots erlassen und durchsetzen, ähnlich dem, das für das Fälschen von Geld gilt. Tatsächlich ist das Transparenzgebot, also die Kennzeichnung von mit KI generierten Inhalten und von Chatbots als künstliche Kommunikationspartner, zentraler Bestandteil des geplanten KI-Gesetzes der EU, genauso wie der chinesischen Vorschriften oder auch schon der 2021 beschlossenen UNESCO-Empfehlungen für eine ethische KI. Es gibt also bereits genug durchdachte Vorschläge für Prinzipien, denen eine Regulierung von KI folgen sollte. Die Frage ist, wie diese Prinzipien durchgesetzt werden können.
Technologisches Wettrüsten Damit Regeln für KI tatsächlich wirksam werden, sind nicht nur Parlamentsbeschlüsse und Verwaltungsvorschriften nötig. Das ist auch eine technische Frage: Die besten Gesetze werden nie eine Garantie gegen die illegale Anwendung von als Menschen getarnten Chatbots sein, genauso wenig wie gegen deepfakes von Fotos oder Videos. Und so prophezeite der KI-Experte Kai-Fu Lee schon 2021, dass Anti-Deepfake-Programme bald so normal sein werden, wie Antiviren-Software es heute schon ist. Bereits jetzt gibt es die ersten derartigen Programme. So hat das Massachusetts Institute of Technology im Juli eine Software vorgestellt, die Fotos gegen die Verwendung in KI-Programmen „immunisieren“ kann. Wie bei der Antiviren-Software ist auch hier ein ständiger Wettlauf zwischen Manipulation und Aufklärungssoftware zu erwarten, aber auch einer zwischen Technologieentwicklung und Regulierung. Dabei droht ein anderer Wettlauf eine demokratische Regulierung der KI aufzuhalten: der um die Technologieführerschaft. Noch haben US-Firmen hier die Nase vorn und wehren sich gegen zu viel Regulierung mit dem Verweis auf die chinesische Konkurrenz. Hinter diesem im Englischen als arms race bezeichneten Rennen steht nicht nur eine Konkurrenz ums Geschäft, sondern auch ein ganz wörtlicher Rüstungswettlauf, der um die Entwicklung autonomer Waffensysteme. Auch aus diesem Grund verbot die US-Regierung Anfang August Investitionen in bestimmte Hightech-Bereiche in China, darunter in KI. „Wir wollen China daran hindern, sich die fortschrittlichsten Technologien zu beschaffen und zu nutzen, um die militärische Modernisierung voranzutreiben“, so die Begründung. Alarmierend sind einige Entwicklungen im Zusammenhang mit KI also durchaus. Alarmismus ist aber auch in diesem Fall kein guter Ratgeber. Es ist ähnlich wie in der Klimakrise: Lähmende apokalyptische Szenarien helfen nicht weiter, die Augen vor möglichen tiefgreifenden Veränderungen zu verschließen, ebenso wenig. Künstliche Intelligenz ist keine ferne Science-Fiction mehr. Sie ist da. Sie tritt uns nicht wie in „Terminator“ oder „Matrix“ als menschenähnliche
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Auf dem Weg in die KI-tokratie? 65 Superintelligenz gegenüber, sondern schleicht sich eher auf leisen Sohlen in unseren Alltag und unsere Arbeit ein, aber mit schwindelerregender Geschwindigkeit. Das geforderte Moratorium wäre da durchaus ein richtiger Schritt gewesen, um den Gesellschaften Zeit zu geben zu verstehen, was auf sie zukommt, und Sicherheitsnetze einzuziehen. Aber das blieb, wie nicht anders zu erwarten, ein frommer Wunsch. Gegenüber der rasanten technischen Entwicklung scheint der EU-Prozess zur Durchsetzung von Regeln für KI quälend langsam. Einzelne Urheberrechtsklagen von Musiker:innen, Fotograf:innen und Künstler:innen gegen das massenhafte Dateneinsaugen für die Entwicklung von generativer KI, wirken wie eine Schöpfkelle in einem Ozean und der Streik in der US-Filmbranche als verzweifelter Abwehrkampf gegen die Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch KI. Trotzdem sind das im Moment die einzigen Mittel, die Entwicklung zu bremsen, transparenter und kontrollierbar zu machen, zusammen mit Aufklärung über die Technologie: Demokratische Kontrolle kann nur funktionieren, wenn wir halbwegs verstehen, womit wir es zu tun haben.
Demokratisierendes Potenzial Den beschriebenen Gefahren halten Protagonisten der KI potenziell nützliche, menschenfreundliche Anwendungen der KI entgegen, etwa in der Medizin. Zweifelsohne gibt es diese, aber könnte KI auch demokratisierende Effekte haben? Schließlich brauchten die Menschen auch keine KI für all ihre Grausamkeit, Unterdrückung und fatalen Irrtümern in der Vergangenheit. Verschwörungstheorien kursierten bekanntlich schon im Mittelalter. Eine Romantisierung der menschlichen Intelligenz in der Diskussion um die künstliche ist also fehl am Platz. Tatsächlich ist es auch vorstellbar, mit KI menschlichen Vorurteilen entgegenzuwirken und auf diese Weise demokratische Teilhabe zu stärken. Nur müsste die Software dazu in kritischem Denken trainiert werden. So wie sie bisher meistens gebraucht wird, reproduziert und verstärkt sie im Gegenteil oft noch den bias (sprich: die Voreingenommenheit), den sie in den menschlichen Trainingsdaten vorfindet. Sandra Wachter, Professorin für Technologie und Regulierung an der Universität Oxford, würde deshalb lieber von „künstlicher Dummheit“ sprechen. Ein Beispiel von bias in den Daten sind medizinische Studien. Medikamente werden vor allem an Männern getestet. Wenn jetzt ein KI-gestütztes Medizinsystem mit diesen Daten gefüttert wird, kommen nur gute Diagnosen und Therapievorschläge für Männer heraus. „Garbage in, garbage out“ (Müll rein, Müll raus), lautet das Stichwort für diesen Prozess. Dagegen richtet das beste lernende System nichts aus. Ein anderes Beispiel für die Reproduktion von Vorurteilen sind KI-basierte Systeme in Bewerbungsverfahren. Wenn man die Software dafür nur in historischen Daten Muster erkennen lässt, werden vorhandene Diskriminierungen reproduziert und sogar verstärkt. Amazon testete schon vor einigen
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66 Ferdinand Muggenthaler Jahren ein KI-System zur Auswahl von Bewerber:innen. Da in der Vergangenheit vor allem Männer eingestellt wurden, sortierte das System konsequent Frauen aus. Das System wurde 2018 abgeschaltet. Aber das grundsätzliche Problem bleibt: KI ist, da sie aus Daten der Vergangenheit lernt, strukturkonservativ, solange nicht bewusst gegengesteuert wird. Sandra Wachter identifiziert grundsätzlich drei Möglichkeiten, mit KIEntscheidungshilfen umzugehen. Erstens, sie zu verwenden, wie sie sind. „Dann machen sie unser Leben schlechter.“ Zweitens, sie zu bändigen, dann werden sie genauso schlechte Entscheidungen treffen wie Menschen, nur schneller. Und drittens, sie zu nutzen, um bessere Entscheidungen zu treffen. Das sei möglich. Zwar können wir nicht vollständig verstehen, wie Entscheidungen in der black box der KI entstehen, aber das gelte auch für „die menschliche black box, die zwischen unseren Ohren sitzt“. Aber die Künstlichen Systeme könnten sehr viel besser getestet werden als der Mensch, um herauszufinden, wo der bias sitzt, und ihn verändern.17 Wachter belässt es nicht bei der Diagnose. Zusammen mit zwei Kollegen hat sie Software entwickelt, um diese KI-Voreingenommenheit zu bekämpfen. Heraus kamen zwei frei verfügbare Tools: eines, um auf bias zu testen und eines, um den bias zu reduzieren.18 Wenn also die lernenden Systeme darauf angesetzt würden, gerade die Faktoren auszuschalten, die beispielsweise bisher Frauen oder People of Color weitgehend von bestimmten Posten ausgeschlossen haben, könnten sie durchaus eine demokratisierende Wirkung haben. KI ist in der Welt und wird immer komplexer werden. Soll sie nicht antidemokratisch wirken, muss sie konsequent reguliert und intelligent gesteuert werden. Bisher geht es allerdings in den meisten Fällen in die andere Richtung: Künstliche Dummheit verstärkt menschliche Dummheit. 17 Interview mit Sandra Wachter, „Die künstliche Intelligenz ist oft ziemlich dumm“, deutschlandfunkkultur.de, 13.7.2023. 18 Interview mit Sandra Wachter, „KI kann Dinge schlecht verbessern“, taz.de, 10.6.2023.
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Weitere Informationen finden Sie in dieser Ausgabe auf Seite 124.
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Putins Krieg und die neue Welt(un)ordnung Warum wir die Internationalen Beziehungen neu denken müssen Von Ulrich Menzel
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ut eineinhalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine geht es längst nicht mehr „nur“ um eine militärische Auseinandersetzung, sondern auch um die Gestaltung – oder das Erleiden – einer neuen politischen wie ökonomischen Welt(un)ordnung. Die Spirale gegenseitiger Boykotte hat demonstriert, dass außenhandelsund insbesondere rohstoffabhängige Länder wie Deutschland dabei besonders verletzlich sind. Die USA mit ihrem großen Binnenmarkt und einer nahezu kompletten Ausstattung mit natürlichen Ressourcen tun sich dagegen leichter, andere mit Sanktionen zu belegen. In Ländern wie Deutschland sind Boykotte ein zweischneidiges Schwert, da sie beide Seiten treffen. Energie- und Inflationskrise waren und sind hierzulande die Folgen – und die Folge der Folgen ist, dass die Populisten, denen nach Abschwächung der Flüchtlingskrise und der Coronakrise das zentrale Mobilisierungsthema ausgegangen war, ein neues gefunden haben. Heute finden sich Putin-Versteher nicht nur unter den Rechten, sondern auch im Wagenknecht-Lager. Wieder werden die westlichen Regierungen von außen und innen in die Zange genommen, müssen sie bei ihrer Unterstützung der Ukraine nicht nur eine mögliche Eskalation des Krieges bedenken, sondern auch die Folgen für die heimische Wirtschaft und den sozialen Frieden im Lande. Seit Putins Drohung steht zudem die fast schon vergessene nukleare Abschreckung wieder auf der Tagesordnung.1 Alle Rüstungskontrollvereinbarungen, die zur Einhegung des Ost-West-Konflikts beigetragen haben, sind tot. Putin hat die letzte, den New-Start-Vertrag, ausgesetzt und damit ein Stück weiter an der Schraube der nuklearen Drohung gedreht. Dagegen ist die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in ihrer Funktion nicht mehr erkennbar. Ja, schlimmer noch: An die Stelle von Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sind Krieg und Konfrontation in Europa getreten – und ein Rüstungskontrollabkommen mit China ist schon gar nicht in Sicht.
* Der Beitrag basiert auf „Wendepunkte. Am Übergang zum autoritären Jahrhundert“, dem neuen Buch des Autors, das am 25. September im Suhrkamp Verlag erscheint. 1 Peter Rudolf, Welt im Alarmzustand. Die Wiederkehr der nuklearen Abschreckung, Bonn 2022.
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68 Ulrich Menzel Das alles ist eingetreten, obwohl seit Beginn der zweiten Präsidentschaft Putins 2012 absehbar war, dass er eine Revision der politischen Marginalisierung Russlands in der Welt und seiner Herabstufung auf eine bloße Rohstoffexportökonomie würde betreiben wollen. Die fünf Runden der NatoOsterweiterung (von 1999 bis 2020) und der seit 2019 in der Verfassung der Ukraine festgeschriebene Beitrittswille zur Nato waren für ihn nicht akzeptabel; die Interventionen im Kaukasus und in Syrien wie die Annexion der Krim waren die Antwort und erste Schritte der Revision. Doch der Westen hat all dies geschehen lassen und sich der Illusion hingegeben, dass es auch für einen Putin Grenzen gibt, die er nicht überschreitet. Mit dem 24. Februar 2022 hat Putin demonstriert, dass er sehr wohl dazu bereit ist. Mittlerweile geht es in der Ukraine jedoch um mehr, nämlich um einen Stellvertreterkrieg im neuen Systemkonflikt zwischen dem autoritären Osten und dem liberalen Westen. Die beiden Ukraine-Abstimmungen in der UN-Vollversammlung haben deutlich gemacht, wer alles potenziell zum autoritären Lager gehört – nämlich die 52 Länder, die mit Nein gestimmt oder sich der Stimme enthalten haben oder der Abstimmung ferngeblieben sind. Deren Abstimmungsverhalten war faktisch eine Unterstützung Russlands. Unter ihnen stechen der Iran mit seinen Drohnenlieferungen oder China mit seinem Einfluss auf die Anrainer der Neuen Seidenstraße, die alle zu den 52 Ländern zählen, besonders hervor. Im innermuslimischen Konflikt unterstützt Russland folglich die schiitische und die USA die sunnitische Seite.
Das Ende der Gewissheiten in den Internationalen Beziehungen Putins Krieg und die durch ihn ausgelösten Krisen stellen auch viele Gewissheiten der Lehre von den Internationalen Beziehungen (IB) infrage, unabhängig davon, ob man die Anarchie oder die Hierarchie der Staatenwelt als das grundlegende Merkmal des internationalen Systems ansieht. Viele, um nicht zu sagen fast alle IB-Paradigmen erscheinen derzeit als Utopien.2 Notwendig ist demnach auch für die Politikwissenschaft, ganz neu über die Inhalte ihres Fachs nachzudenken. Der außenpolitische Idealismus geht auf Kants Schrift „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ von 1795 zurück. Darauf basiert die Theorie des Demokratischen Friedens, die kurzgefasst besagt, dass Demokratien zumindest untereinander keine Kriege führen, weil ihnen ein normatives Grundverständnis gemeinsam ist, das den Krieg als Mittel zur Durchsetzung unterschiedlicher Interessen ausschließt. Je mehr Demokratien es auf der Welt gibt, desto friedlicher wird sie. Demokratisierungspolitik ist somit Friedenspolitik. Das gilt in letzter Konsequenz sogar für einen militärisch herbeigeführten Regimechange, wie das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs im Hinblick auf Italien, Deutschland und Japan gezeigt hat. Die Zunahme der Demokratien auf der Welt ist aber kein kontinuierlicher Prozess, sondern 2 Vgl. dazu Ulrich Menzel, Zwischen Idealismus und Realismus. Die Lehre von den Internationalen Beziehungen, Frankfurt a. M. 2001.
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Putins Krieg und die neue Welt(un)ordnung 69 erfolgt in Wellen, die von Rückschlägen abgelöst werden.3 Sowohl die UNO mit ihrer Mandatierung, legitimiert mit der Responsibility to Protect (R2P) zur auch militärischen Intervention in zerfallenen Staaten, wenn diese nicht mehr in der Lage sind, ihre Bürger zu schützen, als auch die einseitige Regimechange-Politik der USA stehen in dieser Tradition. Auch die politische Konditionierung gehört zu diesem Denken, im Sinne der Gewährung von Entwicklungshilfe, insbesondere in Afrika, für Good Governance. Nach der Wende der Jahre 1989/90 und der Redemokratisierung in Osteuropa schien sich diese Theorie zunächst zu bestätigen. Doch im 21. Jahrhundert erleben wir eine neue Welle der Entdemokratisierung und der Rückkehr autoritärer Systeme, weshalb im Sinne der Theorie des Demokratischen Friedens die Welt wieder unfriedlicher werden muss. Die idealistische Idee schlechthin ist zwar durch Putins Krieg nicht widerlegt, doch scheint das Potential für weitere Demokratien vorerst ausgereizt, zumal wenn Putin erfolgreich ist und weil China mit seiner autoritären Moderne eine attraktive Alternative bietet. Regelrecht widerlegt scheint auch der Institutionalismus als konkurrierendes Paradigma. Er lehrt, daß die Welt, je stärker sie verflochten ist durch internationale Abkommen und Organisationen, aber auch durch internationale Arbeitsteilung und Auslandsinvestitionen, umso friedlicher wird. Wer Handel miteinander treibt, der schießt nicht aufeinander – so ein klassischer Topos dieser Friedensidee. Jetzt müssen wir allerdings feststellen, dass die Globalisierung mittlerweile ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie selbst für vielfältigen Konfliktstoff sorgt, weil es bei ihrem Nullsummenspiel nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer gibt.
Das Versagen des Realismus im Falle Putins Globalisierung in neuer Form wird damit zur Alternative zu globaler Demokratisierung im friedenschaffenden Prozess. Tatsächlich erleben wir, dass die Wirkmächtigkeit internationaler Organisationen wie die der UNO immer geringer wird. Stattdessen kommt es zur Gründung immer neuer internationaler Organisationen, die eher zur Spaltung der Welt beitragen, weil ihre Mitglieder sich entweder um China oder um die USA scharen. Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit versus G7, lautet die neue Ordnung. Auch der Versuch, mittels der internationalen Gerichtsbarkeit in Den Haag zu einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen zu kommen, hat sich als Chimäre erwiesen. Gerichtet wird immer nur über Angeklagte aus kleinen und zerfallenen Ländern, vorzugsweise aus dem Süden, während die USA und China es grundsätzlich ablehnen, sich einer internationalen Gerichtsbarkeit zu unterstellen. Deshalb ist es nicht überraschend, dass die außenpolitische Tradition des Realismus wieder Konjunktur hat. Deren friedenstiftendes Instrument ist die 3 Samuel P. Huntington, The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century, Norman 1993.
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70 Ulrich Menzel Abschreckung, ergänzt um Militärbündnisse unter Gleichgesinnten. Insofern verfolgt der Realismus im Sinne von Frieden als Nichtkrieg ein bescheideneres Ziel als der Idealismus mit seinem positiven Frieden. Aber auch die Abschreckungstheorie muss sich fragen lassen, ob sie im Falle Putins nicht versagt hat. Die Logik der Abschreckung setzt auf beiden Seiten dieselbe Rationalität voraus, sonst kann sie nicht funktionieren, da der Kern der Abschreckung in der Zweitschlagfähigkeit besteht, die nicht nur atomar gemeint ist. Was auch immer der Angreifer unternimmt, er muss damit rechnen, dass der Angegriffene über das Potential verfügt, zurückzuschlagen und den Angreifer zu stoppen, im äußersten Falle eines Atomkriegs auch zu vernichten. Was aber ist, wenn diese Annahme nicht zutrifft? So wie ein Selbstmordattentäter sich nicht abschrecken lässt, weil er einer Märtyrerlogik folgt, hat sich auch ein Putin nicht abschrecken lassen, weil er nur seiner eigenen Rationalität gehorcht oder weil er schlecht informiert und falsch beraten wurde. Entweder war Putin beratungsresistent oder er hat grandios unterschätzt, welches Unterstützungspotential für die Ukraine mobilisierbar war – in der Ukraine selbst wie auch im Westen. Auch angedrohte oder verhängte Sanktionen verfehlen ihre Wirkung auf harte Diktatoren, führen eher zu deren weiterer Verhärtung. Die Liste der Beispiele, angefangen von Nordkorea über Kuba und Venezuela bis zum Iran, ist lang. Auch können Sanktionen mit Gegensanktionen beantwortet werden und eine Sanktionsspirale in Gang setzen. So wie die Rüstungsspirale zu mehr gegenseitiger Unsicherheit führt, führt die Sanktionsspirale zu wirtschaftlichen Krisen auf beiden Seiten. Bleibt am Ende nur die Hegemonietheorie als weiterhin gültiges Paradigma. Sie lehrt, dass in der Phase des hegemonialen Übergangs die Anarchie der Staatenwelt zurückkehrt. Der alte Hegemon, die USA, steht heute vor dem Dilemma zwischen Positions- und Statusverlust. Aber auch der mögliche künftige Hegemon China steht vor einem Dilemma – nämlich dem des Verlusts der bisherigen Vorteile des Freeridertums und den Kosten, zukünftig selbst für die internationale Ordnung aufkommen zu müssen. Deshalb changiert die Volksrepublik abwartend zwischen den Alternativen. Die 2013 von Xi gestartete Neue-Seidenstraßen-Initiative ist eine Zwischenlösung, um aus dem Dilemma herauszukommen. Man offeriert keine internationalen öffentlichen Güter, an denen alle partizipieren, sondern nur Clubgüter für die Mitglieder im Club der Neuen Seidenstraße. Sie sind auch nicht kostenlos wie die internationalen öffentlichen Güter, sondern durch die Beiträge der Mitglieder finanziert. Russland gehört definitiv als chinesischer Juniorpartner diesem Club an, wie der prominente Auftritt Putins auf den beiden Seidenstraßen-Gipfeln 2017 und 2019 in Peking unterstrichen hat. Durch die Sanktionen des Westens wird er ökonomisch sogar faktisch zur Mitgliedschaft gezwungen. Damit sind wir am Schluss bei der Traditionslinie der IPÖ, der Internationalen Politischen Ökonomie. Lange dominierte das neoliberale Paradigma, das in der ganz radikalen Variante auf den Staat als wirtschaftliche Ordnungsinstanz völlig verzichten will, weil der Markt alles regelt. Doch angesichts seiner
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Putins Krieg und die neue Welt(un)ordnung 71 wirtschaftlichen Auswüchse und des Erreichens ökologischer Kipppunkte, die die Grenzen der Globalisierung aufgezeigt haben, ist es in die Defensive geraten. Seit der Jahrtausendwende gibt es daher eine große Zahl von globalisierungskritischen Beiträgen, die wachsenden Einfluss auf die Politik gewinnen. Als absolut dominante Lehrmeinung hat der Neoliberalismus somit ausgedient. Stattdessen erleben wir eine Renaissance des Keynesianismus, der unter dem Begriff „Postkeynesianismus“ alle Chancen hat, das konkurrierende Pendant zum Neoliberalismus zu werden.4 Erst die globale Finanz-, dann die Energie- und über allem die Klimakrise geben einem Denken und Handeln Auftrieb, das wieder verstärkt auf die intervenierende Rolle des Staates setzt – in Deutschland auch um den Preis einer als „Sondervermögen“ verschleierten neuen Verschuldung. Insofern ist nicht nur der politische Idealismus, sondern auch der wirtschaftliche Liberalismus auf dem Rückzug, während der wirtschaftliche Revisionismus – im Sinne von Protektionismus, besonders in den systemkritischen Bereichen – auf dem Vormarsch ist.
Die neue paradoxe Konstellation Bei alledem steht eines fest: Wir befinden uns an globalen Wendepunkten, die weit über die militärische Dimension hinausgehen. Seit einigen Jahren sind wir dabei Zeuge einer paradoxen Konstellation, die durch den Sturm der Trump-Anhänger auf das Kapitol wie durch Putins Krieg ihre Kulminationspunkte erreicht hat. In den liberalen und scheinbar demokratisch so gefestigten Ländern kommt es zu autoritären Tendenzen, formieren sich immer neue populistische Parteien, Organisationen und Bewegungen. Da das radikale Mehrheitswahlrecht in den USA den Einzug neuer Parteien ins Parlament erschwert, haben die Populisten die Republikanische Partei von innen gekapert und finden auch in Europa mehr und mehr Zulauf. Die Wahlen in Italien, wo eine postfaschistische Partei die Ministerpräsidentin stellt, oder in Schweden, wo die Sozialdemokratie abgewählt wurde, sprechen für sich. Die Beispiele, auch in Deutschland, Ungarn oder Israel, ließen sich beliebig fortsetzen. Umgekehrt erleben wir in autoritär oder diktatorisch regierten Ländern eine Welle des Protests. So gesehen war der Arabische Frühling, auch wenn er in einem Herbst endete, nur der Vorbote. Die Proteste im Iran, die vor einem Jahr, am 16. September 2022, mit dem gewaltsamen Tod der jungen Kurdin Mahsa Jina Amini im Teheraner Polizeigewahrsam begannen, haben deutlich gemacht, dass es auch in der schiitischen Welt wachsende Unzufriedenheit gibt, die sich am Kopftuch nur entzündet hat. Auch die zaghaften Proteste in China, durch die rigide Coronapolitik ausgelöst, sitzen tiefer und richten sich gegen die Kommunistische Partei insgesamt, nicht nur in den Gebieten der nationalen Minderheiten wie in Tibet und Xinjiang. Sie werden getragen 4 John E. King, Postkeynesianismus. Eine Einführung, Wien 2022.
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72 Ulrich Menzel von einer urbanen Mittelschicht, die in China eigentlich zu den Gewinnern der Globalisierung gehört. Und selbst in Russland brodelt es unter der Decke der staatlichen Zensur und Propaganda – siehe die vielen Männer, die sich durch Flucht der Einberufung entzogen haben, die Anschläge auf Musterungsbüros und den stummen Protest der Soldatenmütter. Insofern wird das Stadium eines möglichen hegemonialen Übergangs von den USA zu China von einer komplexen innenpolitischen Gemengelage der beiden Hauptakteure begleitet. Auch wenn die Biden-Regierung im Vergleich zu Trump einen moderaten Kurs fährt und den Schulterschluss mit Europa sucht, sieht sie sich doch mit demselben Dilemma wie ihre Vorgängerregierung konfrontiert und muss ebenfalls Druck auf die westlichen Partner im Sinne der Lastenteilung ausüben und die eigene Wirtschaft vor der europäischen Konkurrenz schützen. Das ist der Kern des Inflation Reduction Act von 2022, mit dessen Hilfe 370 Mrd. US-Dollar eingesetzt werden zur Subventionierung von US-Unternehmen, die in neue Technologien zum Stopp des Klimawandels investieren. Zugleich ist Biden durch die Pattsituation im Kongress in seiner Handlungsfähigkeit nach außen eingeschränkt und muss auch im Hinblick auf die weitere Unterstützung der Ukraine Kompromisse mit den Republikanern machen. Umgekehrt ist die Position von Xi Jinping keineswegs so gefestigt, wie es auf dem letzten Parteitag den Anschein hatte.5 Wegen der harten Lockdowns dürfte er schon da hinter den Kulissen in der Parteiführung unter Druck gestanden haben. Die Orthodoxen, zu denen Xi zählt, wollten im Zweifelsfalle alles, was der Staatsmacht zur Verfügung steht, aufbieten, um die Proteste zu unterdrücken, befürchteten sie doch bei einem Nachgeben in der Coronafrage, dass sich daraus ein Flächenbrand entwickeln könnte, der das Machtmonopol der Partei herausfordert. Die Reformer haben dasselbe Ziel, wollen aber durch kleine Zugeständnisse Druck aus dem Kessel nehmen, um so die Herrschaft der Partei zu stabilisieren. Außenpolitisch und außenwirtschaftlich heißt das, entweder einen harten Kurs in der De-facto-Unterstützung von Putin zu fahren und westliche Forderungen nach einer wirtschaftlichen Öffnung des Landes abzulehnen, oder konzessionsbereit zu sein, weil China ein großer Gewinner der Globalisierung ist und viel zu verlieren hat – auch gegenüber der eigenen Bevölkerung, wenn es zu einer Wirtschaftskrise kommt. Der künftige Kurs an beiden Fronten wird Aufschluss darüber geben, welche Fraktion im Ständigen Ausschuss des Politbüros, dem eigentlichen Machtzentrum der chinesischen KP, sich durchsetzt. Ob es auch im inneren Zirkel um Putin, je länger der Krieg dauert und je stärker die Sanktionen wirken, zu einer solchen Fraktionierung kommt, muss vorerst spekulativ bleiben. Für die Welt insgesamt wäre es jedenfalls besonders fatal, wenn Trump, der den Westen geschwächt hat, weil er die USA auf Kosten des übrigen Westens wieder groß machen wollte, oder ein neuer Trump 2025 der nächste US5 Xia Cai, The Weakness of Xi Jinping: How Hubris and Paranoia Threaten China’s Future, in: „Foreign Affairs”, 5/2022.
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Putins Krieg und die neue Welt(un)ordnung 73 Präsident würde – und wenn sich zugleich Xi mit seinem kompromisslosen Kurs weiter durchsetzt.
Der neue chinesische Imperialismus Nach dem welthistorisch einzigartigen Take-off eines zehnprozentigen Wachstums über vier Dekaden zieht China unter Xi jetzt auch in neoimperialistischer Hinsicht nach. Peking begnügt sich nicht mehr mit Export und Auslandsinvestitionen, sondern startet eine geopolitische Offensive, die wie im Falle der USA hohe Militärausgaben erfordert. Dazu gehört das Landgrabbing in afrikanischen Ländern, der Zugriff auf das Nilwasser in Äthiopien und die Auslagerung von Industrieparks, weil auch in China die Löhne gestiegen sind. Die Hauptrichtung geht wie seit alters her nach Süden. Das Südchinesische Meer wird zum Hoheitsgewässer, dessen zum Teil künstliche Inseln werden in Flugplätze verwandelt, und in Kyaukpyu (Myanmar), Hambantota (Sri Lanka) und Gwadar (Pakistan) werden neue Häfen gebaut. Die vom Meeresspiegelanstieg bedrohten Malediven werden aufgestockt, in Djibouti wird eine erste Marinebasis gegründet und am Ende der Kette werden die Häfen von Piräus und Venedig ganz oder teilweise gekauft. Aus dem Indik, dem Indischen Ozean, wird der „Chinese Lake“. Eine Flotte von fünf Flugzeugträgern ist in Bau,6 zwei davon sind bereits in Dienst gestellt, um die Seerouten bis zum Persischen Golf und zum Roten Meer zu sichern. Die künftige Hauptroute zu Lande wird durch Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, den Iran und die Türkei nach Europa verlaufen. Dieser Hintergrund lässt die Konflikte zwischen den USA und dem Iran bzw. der Türkei in einem ganz anderen Licht erscheinen. Truppen zum Schutz chinesischer Auslandsinvestitionen sind bereits annonciert. China musste aktiv werden, weil es realisiert hat, dass die bequeme Zeit als Freerider zu Ende geht, weil erst Trump und nach ihm Biden die liberale Weltwirtschaftsordnung zur Disposition stellte und nicht mehr bereit ist, alleine für die internationale Sicherheit zu sorgen. Nur ist die chinesische Expansion – im Gegensatz zu der vormaligen des Westens – von keinem Missionarismus begleitet, der Welt die chinesische Zivilisation zu bringen. So wie sich China jede Einmischung in seine inneren Angelegenheiten verbittet, kümmert es sich nicht um die inneren Angelegenheiten der Partner in Asien und Afrika, verfolgt keine humanitäre Konditionierung bei den Infrastrukturprojekten. Damit ist es für die Autokraten weltweit attraktiv, zumal es demonstriert, dass Industrialisierung auch unter autoritär-bürokratischen Bedingungen möglich ist. Noch ist bei alledem nicht ausgemacht, ob sich die USA behaupten oder China in vielleicht 25 Jahren die internationale Führungsrolle übernehmen wird. Fest steht jedoch: Wir haben uns auf eine längere Zeit der Unsicherheit einzustellen. 6 Jamie Seidel, Here’s what we know about China’s newest aircraft carriers, in: „News Corp Australia Network”, 23.4.2018.
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74 Ulrich Menzel Der einstige hegemoniale Übergang von Großbritannien auf die USA war friedlich und versprach normative Kontinuität. Der mögliche hegemoniale Übergang zu China wird konfliktreich und von einem normativen Paradigmenwechsel begleitet sein. Der „peaceful rise“ Chinas ist eine Chimäre. Die derzeitige „Weltunordnung“ wird aber nicht, wie Carlo Masala annimmt, ein Dauerzustand sein.7 Sollte China obsiegen, würde das zu einem normativen Bruch führen, anders als im Falle des Übergangs von Großbritannien auf die USA. Auch damals war vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die Anarchie der Staatenwelt zurückgekehrt. Da wir heute einen Vormarsch der autoritären Systeme auf der Welt erleben, stehen wir in der Übergangsphase am Beginn eines Ost-West-Konflikts 2.0, in dem sich der alte Orient mit China und der alte Okzident mit den Vereinigten Staaten als Führungsmächte gegenüberstehen. Deshalb muss Europa die USA unterstützen und darf sich nicht als dritter Pol in der Welt, gar als eine neue Art der „Blockfreien“ verstehen, da es sich im Kern um einen Konflikt zwischen einer autoritären und einer liberalen Weltordnung handelt. Der Westen sollte allerdings Abschied nehmen von seinem Missionarismus, das westliche Modell in autoritär geführten Ländern mit Anreizen, Druck oder gar mit Gewalt durchzusetzen. Stattdessen sollte er sich auf die Behauptung der liberalen Ordnung daheim beschränken, die innenpolitisch massiv unter dem Druck der Populisten steht. Jedes neue Mitglied im liberalen Club ist willkommen, es muss aber freiwillig kommen. Bleibt schließlich noch die allergrößte Herausforderung – durch den Klimawandel, der schon gar nicht, wie die vielen Fehlschläge der Weltkonferenzen belegen, auf der Ebene globaler Kooperation zu stoppen ist, weil der mittlerweile größte Klimasünder – China – sich nicht in seinem weiteren Aufstieg beschränken lassen will, und viele im Land des zweitgrößten Klimasünders – den USA – nicht von ihrem ressourcenverschwenderischen Lebensstil ablassen wollen. Zumindest lässt Bidens Subventionspaket hoffen, dass dort nicht nur ein Umdenken, sondern auch ein neues Handeln begonnen hat. Deshalb bleibt angesichts der Dramatik des Klimawandels auch hier nur die Kooperation der Willigen auf globaler staatlicher Ebene wie auf individueller Ebene der Beitrag des Einzelnen. Angesichts des im Westen erreichten Wohlstands stellt sich zudem die grundsätzliche Frage, ob der Einsatz von Wissenschaft und Technik zur Entschärfung des Klimawandels ausreichen wird, zumal die Dekarbonisierung des Energiesektors den exponentiell wachsenden Verbrauch neuer Rohstoffe wie Lithium oder Kobalt verlangt, die einerseits zu neuen wohlhabenden Ländern nach dem Muster der Ölstaaten, aber andererseits auch zu neuen Abhängigkeiten führen werden. Notwendig ist demnach ein grundsätzliches Umdenken, das weiteres Wachstum kritisch hinterfragt und darauf abzielt, wie sich ein degrowth8 sozialverträglich realisieren lässt – im Sinne eines fundamental anderen „slow and ethical living“.9 7 Carlo Masala, Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens, München 2022. 8 Jason Hickel, Less Is More: How Degrowth Will Save the World, London 2021. 9 Wendy Parkins und Geoffrey Craig, Slow Living, Oxford 2006.
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Zeitenwende im Sahel: Der Putsch in Niger und der Abzug aus Mali Von Olaf Bernau
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och vor wenigen Monaten schien es ruhiger um den Sahel geworden zu sein. Zuvor hatten mehrere westliche Länder beschlossen, aus der UNFriedensmission MINUSMA in Mali auszusteigen, darunter auch Deutschland. Aus Berliner Regierungskreisen war sogar zu hören, dass der Sahel an Bedeutung verlieren würde, stattdessen sprachen Thinktanks davon, dass es nun darauf ankäme, die Region einzuhegen und ein Übergreifen der dschihadistischen Gewalt auf die Küstenländer zu vermeiden. Doch dann erfolgte ein spektakulärer Doppelschlag, der unmissverständlich in Erinnerung rief, dass der Sahel – ähnlich wie der gesamte afrikanische Kontinent – längst in eine fundamentale Transformationsphase eingetreten ist, samt weltpolitischer Implikationen. Zunächst verkündete der Außenminister der malischen, aus einem Putsch hervorgegangenen Übergangsregierung, am 19. Juni im UN-Sicherheitsrat, die UN-Mission MINUSMA solle das Land zum frühestmöglichen Zeitpunkt verlassen. Am 26. Juli putschte sodann im benachbarten Niger ein Teil des Militärs, was binnen weniger Tage das Land umkrempelte: Ähnlich wie bereits in Mali und Burkina Faso gingen die Putschisten schnell auf Distanz zum Westen, gleichzeitig erzeugten sie ein patriotisches, mitunter souveränistisch aufgeladenes Klima. Letzteres war vor allem eine Reaktion auf die Androhung der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), den gestürzten, demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum notfalls mittels einer Militärintervention ins Amt zurückzubringen. Wie sich die Lage in den Sahelländern bzw. in der ECOWAS-Zone1 langfristig weiterentwickeln wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar. Aber die Zeichen stehen unverändert auf Sturm. Umso wichtiger ist es zurückzuschauen und zu fragen: Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass nach Mali und Burkina Faso ausgerechnet Niger einen von breiten Teilen der Bevölkerung befürworteten Putsch erlebt hat – also jenes Land, das aus westlicher Sicht bis in jüngste Zeit als Stabilitätsanker in der Region galt? Denn zu den bemerkenswerten Reaktionen auf den Doppelschlag gehörte, dass sich vor allem die westliche Welt überrascht
1 Der ECOWAS gehören derzeit 15 Mitglieder an, darunter das wirtschaftliche Schwergewicht Nigeria. Vier davon sind derzeit wegen Militärputschen suspendiert: Burkina Faso, Guinea, Niger und Mali.
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76 Olaf Bernau zeigte, während viele Menschen im Sahel das Geschehen als folgerichtig empfanden. Einmal mehr wurde offenkundig, dass der Westen weiterhin außerstande ist, zuzuhören und somit gesellschaftliche Stimmungen adäquat einzuschätzen. Für ihn ist der Sahel bis heute eine Art Black Box, geprägt von Armut, Klimakrise, Dschihadismus und militärischer Gewalt – kurzum: von Chaos, das sich in Europa vor allem als vorgebliche Massenmigration bemerkbar macht. Umgekehrt wird viel zu selten gefragt, weshalb die Menschen mit den westlich dominierten Militärmissionen derart unzufrieden sind und wie sich dies mit einem fundamentalen Misstrauen gegenüber Regierungen und staatlichen Institutionen verschränkt. Ganz in diesem Sinne schreibt der kamerunische Philosoph und Historiker Achille Mbembe in einem aktuellen Beitrag für die französische Tageszeitung „Le Monde“, dass die jüngsten Putsche „Symptome tiefgreifender Veränderungen“ seien, Ausdruck einer hochgradig ambivalenten „Selbstzentrierung“ des afrikanischen Kontinents. Diese werde die nach dem Zweiten Weltkrieg begonnene Epoche der Entkolonisierung unausweichlich zu Ende bringen – bestenfalls in Gestalt „substantieller Demokratie“ mit „neuen Sinnhorizonten“, schlimmstenfalls als große „Gewaltmärkte“, geprägt vom „Kult des Unternehmertums und der grenzenlosen Verherrlichung des Individuums“.2
Das tragische Scheitern von MINUSMA in Mali Begonnen hatte der jüngste Beziehungszyklus des Westens zum Sahel mit großem Hurra: Nachdem französische Truppen Anfang 2013 auf Bitten der malischen Regierung die neunmonatige Terrorherrschaft dschihadistischer Kräfte im Norden des Landes beendet hatten, wurde dem damaligen französischen Präsidenten François Hollande ein euphorischer Empfang in der Hauptstadt Bamako bereitet. Mehr noch: Zahlreiche Neugeborene sollen in jenen Tagen nach ihm benannt worden sein. Doch die Stimmung kippte rasch. Denn Frankreich nahm sich nicht zurück, vielmehr riss die einstige Kolonialmacht im Rahmen der Antiterroroperation Barkhane den Kampf gegen die langsam wiedererstarkenden Dschihadisten an sich, während die weitgehend aufgeriebene malische Armee zu einer Art Hilfstruppe degradiert wurde. Das begründete Paris damit, dass malische Soldat:innen im Rahmen der EU-Ausbildungsmission EUTM erst einmal ausgebildet und demokratisch geschult werden müssten, nachdem es im März 2012 zu einem kurzzeitigen Putsch gekommen war. Zudem setzte sich Frankreich zusammen mit den Niederlanden dafür ein, dass der UN-Sicherheitsrat die Friedensmission MINUSMA auf den Weg brachte. Dabei galt, dass MINUSMA trotz angespannter Sicherheitslage nicht gegen Dschihadisten kämpfen, sondern sich einzig auf zivile Aufgaben konzentrieren sollte: Die Mission sollte die Umsetzung des Friedensabkom2 Achille Mbembe, Les putschs en Afrique de l’Ouest annoncent la fin d’un cycle qui aura duré près d’un siècle, in: „Le Monde“, 4.8.2023.
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Zeitenwende im Sahel 77 mens von Algier begleiten, das der malische Staat 2015 mit separatistischen (Tuareg-)Kräften aus dem Norden abgeschlossen hatte. Sie sollte zudem die Zivilbevölkerung vor terroristischen Angriffen schützen, auch im Zentrum des Landes, wohin sich der Konflikt ab 2015 ausgedehnt hatte. Und sie sollte die Reorganisierung staatlicher Institutionen in ländlichen Gebieten unterstützen. Aus heutiger Sicht ist unstrittig, dass in diese Arbeitsteilung zwischen MINUSMA und Barkhane mindestens zwei grundlegende Fehler eingewoben waren, die am Ende zu ihrem gemeinsamen Scheitern führen mussten. Erstens zeichnete sich schon früh eine latente Dominanz militärischer Lösungsansätze ab. Auch wenn es entwicklungspolitische Maßnahmen gab, waren diese weit davon entfernt, die Lage der Bevölkerung ernsthaft zu verbessern. Das hatte zur Konsequenz, dass die Dschihadisten weiterhin Zulauf erhielten und sich der allgemeine Unmut über prekäre Sicherheits- und Lebensverhältnisse zunehmend gegen die internationalen Militärmissionen richtete. Denn auch diese konnten ihren selbstgesteckten Ansprüchen nicht genügen – ein Eindruck, den sämtliche malische Regierungen zwischen 2013 und 2022 mit diskreten Vorwürfen verstärkten, vor allem um von eigenen Versäumnissen abzulenken. Zweitens machte sich die hauptsächliche Kritik der Bevölkerung zwar lange an Barkhane fest, wie unter anderem regelmäßige Umfragen der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigten. Doch da Barkhane und MINUSMA eng verknüpft waren und in beiden Missionen Frankreich den Ton angab, färbte am Ende die auf Barkhane gemünzte Kritik auch auf MINUSMA ab, zumal sich die UN-Mission wenig um inhaltliche Richtigstellung – und somit um ein besseres Image – bemühte. In der Konsequenz wurde die UN-Friedensmission ab ungefähr 2020 mit ähnlichen Verschwörungsnarrativen überzogen wie Frankreichs Barkhane. So sah sich auch MINUSMA dem Vorwurf ausgesetzt, Teil jenes Pols zu sein, der zuvörderst die Interessen westlicher Länder – und ihnen treu ergebener afrikanischer Eliten – vertreten und dabei noch nicht einmal vor einer Kooperation mit Dschihadisten zurückschrecken würde. Diese Entwicklung ist zweifelsohne tragisch, denn MINUSMA hat, auch entgegen landläufigen Vorurteilen in Europa, einen durchaus guten Job gemacht: Sie hat als Garantiemacht die Grundprinzipien des in Mali überwiegend unpopulären (weil von der internationalen Gemeinschaft aufgedrängten) Algier-Friedensabkommens offensiv verteidigt und durch verschiedenste Dialogformate maßgeblich zu einer Beruhigung der Konfliktdynamik im Norden beigetragen – gerade in jener Zeit, als sich die Lage im Zentrum Malis zuspitzte. Sie hat Sicherheitsinseln geschaffen und so die Zivilbevölkerung spürbar geschützt, insbesondere in den elf städtischen Zentren im Norden und Zentrum, wo sie eigene Basen unterhielt. Nicht alle Menschen haben davon profitiert, aber MINUSMA dürfte zahlreiche Anschläge und Massaker verhindert haben, auch durch Patrouillen in ländlichen Räumen, was in einer offenen Eskalationsdynamik enorm wichtig ist – von der Bewahrung individueller Menschenleben ganz zu schweigen. Auch hat MINUSMA teils eigene entwicklungspolitische Maßnahmen
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78 Olaf Bernau durchgeführt, teils anderen UN-Institutionen oder NGOs den Zugang zu umkämpften Gebieten ermöglicht. Zudem hat sie humanitäre Hilfe geleistet, etwa bei Nahrungsmittellieferungen aus der Luft für jene Dörfer, die im Zentrum Malis von dschihadistischer Umzingelung betroffen waren. Und sie hat vierteljährlich über den Zustand des Landes akribisch Bericht erstattet und damit nicht nur der malischen Gesellschaft, sondern auch der internationalen Gemeinschaft wertvolle Hinweise gegeben, wie die Arbeit weiterentwickelt werden sollte. Kurzum: eine passable Bilanz, auch im Vergleich zu anderen UN-Friedensmissionen. Und dennoch ist MINUSMA ins diskursive Mahlwerk geraten, einfach weil ihre Tuchfühlung mit Barkhane zu eng war und weil sie keine angemessene Kommunikationsstrategie gegenüber der malischen Gesellschaft entwickelt hat: Weder wurde seitens MINUSMA die in Mali vehement geforderte Erteilung eines Kampfmandats für UN-Truppen ernsthaft in Erwägung gezogen noch die damit korrespondierende Arbeitsteilung mit Barkhane infrage gestellt, sich also dafür eingesetzt, der malischen Armee eine stärkere – oder zumindest eine politisch führende – Rolle bei der Antiterrorbekämpfung zuzubilligen.
Frankreichs Fehler im Sahel Für ein besseres Verständnis dieser Gemengelage sollte man sich auch vor Augen führen, welche Interessen insbesondere Frankreich in der Region verfolgt, teils auch zusammen mit der EU. Wirtschaftlich sind zahlreiche französische Firmen im Sahel tätig, allerdings spielt das für die Außenhandelsbilanz Frankreichs keine entscheidende Rolle. Zudem gibt es Rohstoffe, vor allem Uran in Niger. Doch auch hier gilt, dass die Abhängigkeit der französischen Atomindustrie von Niger, von dem sie zuletzt durchschnittlich zehn Prozent des benötigten Rohstoffs bezogen hat – gerechnet auf die vergangenen zehn Jahre –, deutlich geringer ausfällt, als in vielen Medien zu lesen ist. Mit Blick auf Sicherheitsfragen will Frankreich das Schreckgespenst eines dschihadistischen Kalifats vor seiner imaginären – immerhin viertausend Kilometer entfernten – Haustür bannen. Hier kommen sicherlich die Traumata der großen islamistischen Anschläge 2015 und 2016 in Frankreich zum Tragen. Zudem sollen Migrant:innen aus west- und zentralafrikanischen Ländern an der Weiterreise nach Europa gehindert werden, wozu es kooperationswilliger Regierungen im Sahel bedarf. Dazu zählte bislang Niger, das 2015 nach einer angekündigten Zahlung von einer Milliarde Euro durch die EU ein von französischen Juristen ausgearbeitetes Gesetz verabschiedete, das, entgegen allen westafrikanischen, auch rechtlich verankerten Regelwerken, die Unterstützung von Migrant:innen unter Strafe stellt. Dazu kommen langgehegte politische Traditionen: Bis heute ist Paris dem Diktum von Charles de Gaulle verpflichtet, wonach „Frankreichs Macht in der Welt und Frankreichs Macht in Afrika untrennbar miteinander verbunden“ seien. Dieser von Arroganz und Rassismus getränkte Chauvinismus treibt die Menschen im Sahel buchstäblich zur Weißglut, und das umso mehr,
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Zeitenwende im Sahel 79 als die französische Gesellschaft die bis heute spürbaren Auswirkungen der Kolonisierung nicht anerkannt, geschweige denn je um Vergebung gebeten hat. Erst wer diesen französischen Interessenmix und die damit verbundenen Geisteshaltungen berücksichtigt, dürfte begreifen, wie es zu der fatalen französischen Antiterrorpolitik im Sahel gekommen ist. Frankreich war also nicht aus selbstlosen Gründen vor Ort, wie Hollande anfänglich gebetsmühlenartig wiederholte. Frankreich hat vielmehr rücksichtslose Machtpolitik betrieben und sich obendrein angemaßt, die Dinge besser zu durchschauen als alle anderen. Auch besser als die Malier:innen selbst, weshalb Paris die malische Armee absichtsvoll klein hielt. Das französische Offizierscorps kommunizierte kaum mit der malischen Seite, stimmte sich selten ab und fragte wenig, denn es stütze sich ungeniert auf seine in der kolonialen Aufstandsbekämpfung gemachten (Pseudo-)Erkenntnisse, wie der französische Journalist Rémi Carayol in einer faszinierenden Artikelserie zu den kolonialen Wurzeln von Barkhane herausgearbeitet hat.3
Antifranzösische Verschwörungserzählungen Jedoch wollte Frankreich nicht wahrhaben, dass sich die Konflikte auf diese Weise nur zuspitzen mussten. Das gilt auch für solche, die eine ethnische Tönung hatten, was im übrigen einer der Vorwürfe war, die der malische Außenminister Abdoulaye Diop im UN-Sicherheitsrat an die Adresse Frankreichs formulierte. So arbeitete die französische Armee in der Region Kidal beim Antiterrorkampf eng mit geländekundigen Tuareg der Ex-Rebellenformation MNLA zusammen. Diese aber hatten in der Wahrnehmung der allermeisten Malier:innen mit ihrem 2012 begonnenen Aufstand den Flächenbrand im Sahel überhaupt erst ausgelöst – was auch der Grund ist, weshalb der malische Staat die Teilhabe separatistischer Tuareg am Friedensabkommen von Algier nur zähneknirschend akzeptierte. Noch gravierender war, dass sich Barkhane 2017/2018 in der nigrischen Region Tillabéri auf die beiden TuaregMilizen GATIA und MSA stützte, um Jagd auf Dschihadisten zu machen. Denn die so protegierten Tuareg nutzten die Kooperation, um Vorteile bei Landkonflikten zu erzielen, die bereits seit den 1990er Jahren mit lokalen FulbeGemeinschaften schwelten. Das wiederum führte dazu, dass sich einige der Fulbe dem Islamischen Staat anschlossen, der heute der dominante Akteur im malisch-nigrischen Grenzgebiet ist. Wer derart grobschlächtig vorgeht, macht sich Feinde. Dazu kommen die fatalen Fehler, die im Antiterrorkampf niemals ausbleiben, etwa der französische Luftangriff auf eine Hochzeitsgesellschaft mit 22 Toten am 3. Januar 2021 in Bounti. Entsprechend wurde Barkhane schon früh als bloße neokoloniale Interventionsarmee wahrgenommen. Schlimmer noch: Barkhane entpuppte sich als eine regelrechte Rekrutierungsmaschine für dschihadistische Gruppen, und dies umso stärker, je weniger malische Soldat:innen bei der Terrorismusbekämpfung mit von der Partei waren. 3 Rémi Carayol, Aux origines coloniales de l’opération Barkhane, www.afriquexxi.info, 10.1.2022.
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80 Olaf Bernau Wie aber konnte es in den vergangenen Jahren zu den starken antifranzösischen Verschwörungserzählungen kommen, die der ohnehin aufgeheizten Dynamik noch eine ganz eigene Note verliehen haben? Dazu zählt etwa die Behauptung, dass Frankreich die territoriale Aufspaltung Malis und Nigers betreibe, um in der rohstoffreichen Wüste einen eigenständigen, von Paris gesteuerten Tuareg-Staat zu gründen. Diese Frage ist vielschichtig und verweist auf die international geführte Debatte über das destruktive Potential sozialer Medien, zumal wenn vorsätzliche Manipulationen im Spiel sind, unter anderem durch russische Trollfabriken. Grundsätzlich spricht vieles dafür, dass der Ausgangspunkt der Verschwörungserzählungen das ganz reale Handeln Frankreichs im Sahel darstellt, allein deshalb, weil schon in den späten 2000er Jahren erste mehr oder weniger phantastisch anmutende Geschichten über Frankreich zirkulierten. Denn viele – insbesondere junge – Menschen verfügen nicht über die erforderlichen Bildungs- und Medienkompetenzen, um kritisch mit (offenkundig) falschen Informationen umzugehen, wie etwa Gilles Yabi vom zivilgesellschaftlichen Thinktank Wathi in Dakar immer wieder betont. Andere Erklärungen verweisen auf Überlegungen von Frantz Fanon. So hält Moussa Tschangari, einer der Veteranen der Demokratiebewegung in Niger, die antifranzösischen Narrative für die Folge eines „kolonialen Komplexes“.4 Die Menschen könnten sich ein Scheitern westlicher Armeen schlicht nicht vorstellen, sodass sie dahinter bloßes Kalkül vermuten müssten. Genährt wird dies zudem durch eigentümliche Vorgehensweisen der französischen Armee. So hat sich Barkhane in Mali immer wieder mit Flugblättern aus Helikoptern an Dschihadisten gewandt: „Barkhane sieht euch, auch wenn ihr euch versteckt.“ Die Landbevölkerung nahm diese einschüchternd gemeinte Botschaft an die Terroristen für bare Münze, weshalb es ihr unplausibel erscheint, wenn Massaker nicht unterbunden werden, zu denen Dutzende oder Hunderte Kämpfer mit Motorrädern über längere Distanzen anreisen.
Zwischen multipolarer Weltordnung und Souveränismus Spätestens vor diesem Hintergrund dürfte verständlich werden, dass die MINUSMA-Entscheidung der malischen Regierung keineswegs unvermittelt kam. Genauso wenig wie sie als bloße Reaktion auf den UN-Bericht zu dem Massaker von Moura verstanden werden sollte, bei dem Wagner-Söldner zusammen mit malischen Soldaten im März 2022 bei einer Antiterroroperation über 300 Zivilist:innen getötet haben (sollen). Denn so erdrückend die Beweislast auch erscheinen mag, ist es doch unterkomplex, die Entscheidung einzig auf das von Mali artikulierte Missfallen an der Untersuchung zurückzuführen. Es hilft auch nicht, diesen Vorgang mit dämonisierenden Vorwürfen zu kommentieren, wie in europäischen Medien häufig zu beob4 Im Gespräch mit dem Verfasser, 4.3.2023.
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Zeitenwende im Sahel 81 achten war – etwa wenn der seit 30 Jahren in Westafrika lebende niederländische Journalist Bram Posthumus allen Ernstes behauptet, dass Mali MINUSMA einzig deshalb aus dem Land geworfen habe, weil es „in aller Ruhe töten“ wolle.5 Die Absage an MINUSMA ist vielmehr als ein weiterer Schritt in jenem Prozess zu begreifen, der darauf abzielt, die postkoloniale Vormachtstellung des Westens endgültig aufzubrechen. Im Sahel begann er spätestens 2012 in Senegal mit der Protestbewegung „Y‘en a marre“ gegen eine dritte Amtszeit des damaligen Präsidenten Abdoulaye Wade, er setzte sich fort mit dem Sturz des langjährigen Autokraten Blaise Campaore 2014 in Burkina Faso, und er ging 2015 weiter mit ersten Protesten gegen die von Frankreich dominierte Währung des Franc CFA. Mittlerweile hat sich der Unmut von den jugendlichen Rändern ins Zentrum der Sahel-Gesellschaften ausgeweitet. Nun geht es um den Aufbau einer multipolaren Weltordnung, um ein Win-Win, um die Zusammenarbeit mit all jenen, die gute Angebote unterbreiten, egal ob es sich um westliche Länder oder um China, Russland oder die Türkei handelt. Wer also ernstlich glaubte, dass Mali lediglich deshalb an MINUSMA festhalten würde, um sich gewisse Vorteile zu sichern (wie den Transport von Wahlurnen beim Verfassungsreferendum im Juni 2023 durch UN-Flugzeuge), unterschätzt schlicht die Wucht dieses Neuanfangs. Eine Wucht, hinter der auch die Dynamik einer neuen Generation steckt, die nicht nur traditionelle Hierarchien und Perspektivlosigkeit infrage stellt, sondern auch mit frischem Blick auf die Geschichte schaut, angefangen vom kolonialen Erbe bis hin zu den fatalen Auswirkungen der verschuldungsbedingten Strukturanpassungsprogramme des IWF in den 1980er und 1990er Jahren.
Vom Hass auf das Fremde besessen Im Zuge dieses Umbruchs wird auch hemdsärmelig über die Widersprüche der MINUSMA-Entscheidung hinweggegangen. Denn natürlich droht der Abzug das Land deutlich zu schwächen, quasi spiegelbildlich zu den bereits erwähnten Stärken der UN-Friedensmission. Und das wiederum verweist auf die Ambivalenz der gesamtkontinentalen Aufbruchsbewegung und somit auf den von Achille Mbembe thematisierten Umstand, dass zwar die Loslösung aus dem westlich dominierten Korsett ein potentiell emanzipatorischer Akt ist, dass aber auch souveränistisch-regressive Fehlentwicklungen drohen. Denn die „Souveränisten“ seien, so Mbembe gewohnt markig, „vom Hass auf das Fremde besessen [...], sie lehnen die Demokratie ab, die sie als trojanisches Pferd der internationalen Einmischung betrachten. Sie bevorzugen den Kult der ‚starken Männer‘, die dem Virilismus anhängen und Homosexualität bekämpfen [...]. Daher die Nachsicht gegenüber Militärputschen und die Bekräftigung der Gewalt als legitimen Weg zur Machtausübung.“6 5 https://bramposthumus.wordpress.com, 30.06.2023. 6 Mbembe, a.a.O.
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82 Olaf Bernau Zieht man die Vorgänge in Mali als Folie heran, lässt sich auch die rasante Dynamik in Niger besser entschlüsseln. Denn das in der westlichen Öffentlichkeit beschworene Narrativ, wonach Niger ein Stabilitätsanker sei und der im Juli gestürzte Präsident Bazoum sein Amt einer demokratischen Wahl verdanke, hatte sich einmal mehr als westliches Wunschdenken entpuppt.
Niger: Vom Putsch zum Aufbruch? Vielmehr wurde Bazoum von der großen Mehrheit der nigrischen Bevölkerung massiv abgelehnt. Er setzte sich zwar von der etablierten politischen Klasse positiv ab, und doch überwog aus Sicht der Mehrheit seine Loyalität gegenüber dem allenthalben verhassten Vorgänger Mahamadou Issoufou. Dieser war 2011 mit viel Vorschusslorbeeren ins Amt gelangt, hatte sich aber schnell als Autokrat und hochgradig korrupt erwiesen. Hinzu kam weitere Kritik an Bazoum selbst: Als Innenminister unter Issoufou ging er scharf gegen Oppositionelle vor, seine Wahl 2021 war von zahlreichen Unregelmäßigkeiten überschattet, und die ökonomische Lage der Bevölkerung hat sich nicht wirklich verbessert. Noch wichtiger war Bazoums kompromisslos prowestliche Haltung, die bei großen Teilen der Bevölkerung auf starke Ablehnung stieß. Denn die Kritik an westlicher Militär- und Interessenpolitik dürfte in Niger mindestens genauso stark sein wie in Mali, obwohl – oder gerade weil – sich die Regierung in Niger stets sehr positiv auf den Westen bezogen hat. Umso unverständlicher waren die Reaktionen der ECOWAS sowie der internationalen Gemeinschaft auf den Putsch. Denn sie bedienten sich der gleichen repressiven Mittel, die bereits 2022 in Mali zu innen- und außenpolitischen Verhärtungen geführt hatten. Nach den harschen internationalen Reaktionen hatten die Putschisten leichtes Spiel, ungeachtet dessen, dass es sich um Generäle handelte, die noch nie durch progressive Forderungen aufgefallen waren. Nun reichte es, an patriotische, mitunter souveränistisch gefärbte Stimmungen zu appellieren, um große Teile der Bevölkerung mit wehenden Fahnen zu den Putschisten überlaufen zu lassen. Das liegt nicht daran, dass sie die Putschisten schätzen würden, sie erhoffen sich vielmehr einen Neuanfang. Und dabei kam den Umstürzlern auch Bazoum zu Hilfe, indem er ausgerechnet in der „Washington Post“ zu seiner Rettung aufrief, nicht aber im eigenen Land. Als Fazit bleibt: MINUSMA war kein Fehlschlag, aber in Verbindung mit Barkhane wurde das militärische Engagement in Mali zu einem von mehreren Katalysatoren für grundlegende Umbrüche, letztlich auch in Niger. Manche mögen das als Niederlage des Westens im Sahel begreifen. Doch angemessener wäre es, von einem Weckruf zu sprechen, sich endlich auf gleichberechtigte Beziehungen mit den Sahelländern einzulassen – und somit auch dem positiven Potential der aktuellen Aufbruchstimmung langfristig zum Durchbruch zu verhelfen.
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Der neue Aristopopulismus Wie US-Konservative die Demokratie beerdigen Von Charles King
Ü
ber ein Jahrhundert lang hatten die Lichtgestalten der amerikanischen Mainstreamrechten eine klare Mission und eine klare Vorstellung ihrer Ursprünge. Linke mochten auf utopische Pläne für den Aufbau einer perfekten Gesellschaft fixiert sein, doch Konservative standen für die nüchterne Arbeit bereit, die Freiheit gegen die Tyrannei zu verteidigen. Konservative sahen ihre Wurzeln im Jahr 1790, in den Warnungen Edmund Burkes vor den autoritären Gefahren der Revolution und in seinem Beharren auf einer vertraglichen Verbindung zwischen der ererbten Vergangenheit und der imaginierten Zukunft. Sie zählten den englischen Philosophen Michael Oakeshott und den emigrierten österreichischen Ökonomen Friedrich Hayek zu ihren Vorfahren und betrachteten öffentliche Intellektuelle wie den amerikanischen Autor William F. Buckley Jr. sowie Menschen der Tat wie die britische Premierministerin Margaret Thatcher und den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan als Kämpfer für die gleiche Sache: Individualismus, die Überlegenheit des Marktes, die universelle Sehnsucht nach Freiheit und die Überzeugung, dass Lösungen für soziale Probleme sich von selbst entwickeln würden, wenn sich doch nur die Regierungen raushielten. Barry Goldwater, der Senator von Arizona und Ahnherr der modernen Republikanischen Partei, formulierte es in seinem Buch „Das Gewissen eines Konservativen“ von 1960 so: „Konservative betrachten Politik als die Kunst, die maximale Freiheit für die Einzelnen zu erreichen, die noch mit der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung vereinbar ist.“ Im Laufe des letzten Jahrzehnts ist diese Sichtweise allerdings von einer alternativen Interpretation der Vergangenheit ersetzt worden. Für eine lautstarke Gruppe von Autoren und Aktivisten ist die wahre konservative Tradition das, was manchmal „Integralismus“ genannt wird – die Verknüpfung von Religion, persönlicher Moral, nationaler Kultur und staatlicher Politik in einer einheitlichen Ordnung. Diese Ideengeschichte spiegelt nicht länger das mühelose Selbstbewusstsein eines Buckley und bringt auch eine argumentative Linie nicht weiter, die vor allem durch die Beschäftigung mit den amerikanischen Gründervätern entwickelt wurde – und der zufolge Regie* Deutsche Erstveröffentlichung eines Textes, der unter dem Titel „The Antiliberal Revolution. Reading the Philosophers of the New Right“ zuerst am 20. Juni auf foreignaffairs.com erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Thomas Greven.
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84 Charles King rungen sich auf eine Verfassung stützen sollen, die die Staatsgewalten ausgleicht und freien Bürgern das Streben nach Glück ermöglicht. Stattdessen imaginiert sie die Rückkehr zu einer viel älteren Ordnung, vor der angeblichen Verirrung durch die Aufklärung, der vermeintlichen Fetischisierung der Menschenrechte und dem Glauben an den Fortschritt – hin zu einer Zeit, in der Natur, Gemeinschaft und Göttlichkeit als eine unteilbar arbeitende Gesamtheit gedacht wurden. Der Integralismus wurde von der katholischen Rechten entwickelt, aber seine Reichweite geht längst über diese Ursprünge hinaus. Jetzt ist er ein breiter Ansatz in Politik, Recht und Sozialpolitik, der bei seinen Verfechtern als „Gemeinwohlkonservativismus“ bekannt ist. In US-Bundesstaaten wie Florida – unter Gouverneur Ron DeSantis, der für die Republikaner ins Weiße Haus einziehen will – und Texas liefert diese Weltsicht die Grundlage, um den Zugang zu Wahlen zu beschränken, in Unterrichtspläne zu „race“ und Gender einzugreifen sowie Schulbibliotheken zu „säubern“.1 Die Rechtstheorie des Integralismus hat jüngere Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs geprägt, die die Rechte von Frauen beschränkt und die Trennung von Religion und öffentlichen Institutionen geschwächt haben. Und die integralistische Theologie liegt den Abtreibungsverboten zugrunde, die fast die Hälfte der Bundesstaatsparlamente in den USA verabschiedet haben. Die Befürworter des Integralismus werden in jedweder zukünftigen republikanischen Regierung vertreten sein. Und sie werden in ihrem Kampf gegen Liberale und Kosmopoliten sehr viel wahrscheinlicher als frühere amerikanische Konservative nach Bündnispartnern im Ausland suchen – und zwar nicht bei britischen oder europäischen Mitte-rechts-Parteien, sondern unter den neueren rechtsradikalen Parteien und autoritären Regierungen, die sich der Zerstörung der „liberalen Ordnung“ bei sich und im Ausland verschrieben haben. „Sie hassen mich und sie verleumden mich und mein Land, so wie sie Euch hassen und verleumden und das Amerika, dass Ihr vertretet“, sagte der ungarische Premierminister Viktor Orbán einer Zuschauermenge bei der Conservative Political Action Conference in Dallas, Texas, im vergangenen Jahr, einem jährlichen Treffen konservativer Aktivisten, Politiker und Geldgeber. „Aber wir stellen uns eine andere Zukunft vor. Die Globalisten können alle zur Hölle fahren.“ Aus all diesen Gründen ist die Lektüre rechter Philosophen der erste notwendige Schritt, um das im Ergebnis radikalste Überdenken des amerikanischen politischen Konsenses seit Generationen zu verstehen. Theoretiker wie Patrick Deneen, Adrian Vermeule und Yoram Hazony bestehen darauf, dass die ökonomischen Missstände der Vereinigten Staaten, die politische Zwietracht im Land und sein relativer Abstieg als Weltmacht auf eine einzige Ursache zurückzuführen sind: den Liberalismus, den sie als dominantes ökonomisches, politisches und kulturelles Gerüst der Vereinigten Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg identifizieren, und als das Modell, das das Land seit nahezu einem Jahrhundert dem Rest der Welt aufzwingen will. Doch diese 1 Vgl. Annika Brockschmidt, Verbannte Bücher: Der Kulturkampf der US-Rechten, in: „Blätter“, 7/2023, S. 119-124.
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Der neue Aristopopulismus 85 Ideen verweisen auch auf einen tieferen Wandel der konservativen Diagnose für die Probleme des Landes. Auf der amerikanischen Rechten verbreitet sich das Gefühl, das Problem mit der liberalen Demokratie sei nicht nur das Adjektiv, sondern auch das Substantiv – die Demokratie selbst.
Die besten Menschen – gegen die Globalisten Der erste Protagonist dieser neuen Strömung ist Patrick Deneen. Der Experte für Politische Theorie an der Universität Notre Dame wird in seinem Buch „Regime Change“2 von dem Wunsch getrieben, ein Land und eine Zivilisation zu retten, die sich aus seiner Sicht offensichtlich im Niedergang befinden. Er beklagt die obszöne Vermögensungleichheit in den Vereinigten Staaten und schreibt scharf von einer selbsterklärten Meritokratie, die tatsächlich dazu dient, Privilegien zu reproduzieren. Die wachsende politische Spaltung, die geschwächte Verbundenheit mit der Nation und das, was er als Abhängigkeit von „den Tech-Riesen, den Finanz-Riesen, den Pornografie-Riesen, den Marihuana-Riesen, den Pharma-Riesen und einer drohenden künstlichen Meta-Welt“ bezeichnet, sind für ihn Zeichen der Auflösung. Deneen gemäß haben Liberale die grundlegenden Räume der gesellschaftlichen Solidarität – „Familie, Nachbarschaft, Verein, Kirche und religiöse Gemeinschaft“ – absichtlich untergraben und regieren nun als Minderheit gegen den Demos, die Mehrheit des Volkes. In den Institutionen unter ihrer Kontrolle, von den Universitäten bis Hollywood, predigen sie, dass das einzig vernünftige Leben eines ist, das von den Beschränkungen durch Pflicht und Tradition befreit ist. Der vorgeblich beste Weg von der Jugend zum Erwachsensein bestehe darin zu lernen, „wie man mit ‚safe sex‘, weichen Drogen und Alkohol, [und] grenzüberschreitenden Identitäten umgeht […], alles Vorbereitungen auf ein Leben in einigen wenigen globalen Städten, in denen teure und exklusive Konsumgüter den Stellenwert von ‚Kultur‘ bekommen haben“. Dabei haben Liberale alle abgeschrieben, die nicht Teil der „Laptop-Klasse“ – vor allem Städter an den Küsten – sind, und so die geographische Mitte des Landes wertlos und verzweifelt zurückgelassen. Nach Deneens Ansicht sind es nicht nur Menschen auf der Linken, die diese amerikanische Ödnis produziert haben, sondern die gesamte politische, wirtschaftliche und kulturelle Elite des Landes. „Was in den Vereinigten Staaten im letzten halben Jahrhundert als ‚Konservatismus’ durchgegangen ist“, schreibt er, „ist heute als Bewegung entlarvt, die zur Erhaltung in einem fundamentalen Sinn niemals in der Lage noch grundlegend engagiert gewesen ist.“ Daher ist für ihn das Problem der Politik heute die tiefe Spaltung zwischen den Mächtigen und den Massen, ein Thema, dem Deneen mit Blick auf kanonische Denker wie Aristoteles, Thomas von Aquin und Alexis de Toqueville nachspürt. Gesellschaften gedeihen, wenn sie eine „gemischte Verfassung“ beibehalten, mit Institutionen auf unterschiedlichen Ebenen und 2 Patrick Deneen, Regime Change. Towards a Postliberal Future, New York 2023.
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86 Charles King mit unterschiedlichen Funktionen, vom Nationalen zum Lokalen, die Menschen diverser sozialer und ökonomischer Klassen miteinander verbinden. Um ein solches ideales System wiederherzustellen, müssen allerdings wahre Konservative an die Macht kommen und dabei laut Deneen „machiavellistische Mittel verwenden, um aristotelische Zwecke zu erfüllen“. Konservative haben sich zu lange mit einer im weiten Sinne liberalen Ordnung abgefunden, was bedeutet hat, Bündnisse mit Menschen einzugehen, die „das Primat des Individuums“ anstreben, die „natürliche Familie“ ablehnen und sogar die „Sexualisierung von Kindern“ betreiben, ein Vorwurf, den er in „Regime Change“ gleich zweimal wiederholt. Aber heute erkennen „die vielen“ ihre Klasseninteressen als „ökonomisch linke und sozial konservative Populisten“ und wünschen sich eine im weiten Sinne umverteilende Wirtschaft und eine Gesellschaft, die auf Tugend, Verantwortung und Vorhersagbarkeit gründet.
Die USA im »kalten Bürgerkrieg« Im Zeitalter der Revolution, das auf den derzeitigen „kalten Bürgerkrieg“ folgt, wird die Erneuerung des Landes einen „Aristopopulismus“ erfordern, schreibt Deneen. Darunter versteht er ein Regime, das von einer neuen Elite aus gebildeten Aristoi – griechisch für „die besten Menschen“ – angeführt wird, „die verstehen, dass ihre hauptsächliche Rolle und Zielsetzung in der gesellschaftlichen Ordnung darin besteht, die grundlegenden Güter zu sichern, die normalen Leuten ihr Gedeihen ermöglichen: die zentralen Güter Familie, Gemeinschaft, gute Arbeit, eine Kultur, die Ordnung und Fortbestand bewahrt und ermutigt, und Unterstützung für Glauben und religiöse Institutionen“. Diese neue Ordnung wird „somewhere people“ gegenüber den „anywhere people“ bevorzugen – Deneen greift hier die Begrifflichkeit des britischen Journalisten David Goodhart auf –, also Amerikaner, die in dichten Sinngemeinschaften verwurzelt sind, im Gegensatz zu den mobilen Globalisten, die derzeit das Sagen haben. Um dahin zu gelangen, braucht das Land ein größeres Repräsentantenhaus, bessere berufliche Ausbildung, erneuerte öffentliche Schulen, bezahlten Urlaub für familiäre Belange und in ihrer Macht beschränkte Großunternehmen – Ziele, die auch von Linken begrüßt werden könnten –, aber auch mehr öffentliche feierliche Bekenntnisse der „christlichen Wurzeln“ der Nation und einen „Familienbeauftragten“ mit Kabinettsrang, der Heirat und Schwangerschaft fördert, ein Ansatz, den man in Orbáns Ungarn verfolgt, wie Deneen schreibt. Seine Alternative zu einem erschöpften, ausschweifenden Liberalismus ist eine Art Politik, die „den Vorrang von Kultur, der Weisheit des Volkes“ und „die Bewahrung der normalen Traditionen eines Gemeinwesens“ betont. Es geht ihm um einen Konservatismus, der das anstrebt, was er und andere Autoren das „Gemeinwohl“ nennen. So wie sie den Begriff verwenden, geht es nicht so sehr um eine Wertschätzung des Gemeinwesens, sondern um den Aufbau einer bestimmten Art Gesellschaft: gemeinschaftlich, lokal und hierarchisch.
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Der neue Aristopopulismus 87 Im Bereich des Rechts und der praktischen Politik hat niemand mehr zur Definition dieser Art Gemeinwohl beigetragen als Adrian Vermeule, ein Professor an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Harvard University. Sein Buch „Common Good Constitutionalism“ ist keine politische Theorie, sondern ein juristisches Werk der Rechtsauslegung, aber wie Deneen zielt er darauf ab, zu einer Denkweise zurückzufinden, die aus seiner Sicht auf die Zeit vor der Aufklärung zurückgeht.3 Der Maßstab des Rechts sei dabei nicht der Schutz individueller Rechte, die für Vermeule nicht grundlegend für die Rechtsordnung sind. Sondern es sei zu fragen, ob das Recht „die größte Glückseligkeit oder das höchste Glück der gesamten politischen Gemeinschaft“ ermöglicht und „zugleich das höchste Gut für die Individuen, die diese Gemeinschaft ausmachen“. Das Gemeinwohl sei „einheitlich und unteilbar, nicht die Summe individueller Nützlichkeiten“. Diese Definition gibt rechtlichen Entscheidungen zugunsten von Solidarität und Subsidiarität den Vorzug: die Betonung der Verpflichtungen gegenüber Familie und Gemeinschaft; mehr Macht für niedrigere Regierungsebenen wie Bundesstaaten und Städte; und die Bewahrung dessen, was Vermeule als Naturrecht und die „uralte Tradition“ des antiken Roms und des modernen Großbritanniens versteht.
Menschenrechte nur im Rahmen des Gemeinwohls Für jeden, der nicht mit Rechtstheorie vertraut ist, stellt Vermeules Arbeit eine Herausforderung dar, aber ihre Implikationen werden deutlich. Menschenrechte sind demnach juristisch zweckmäßig, werden aber begrenzt durch das Maß, in dem sie dem Gemeinwohl dienen. Der „Verwaltungsstaat“ – die Behörden, die die Gesetze implementieren – ist nicht von Natur aus böse, wie manche Konservative behaupten, stattdessen muss er einfach auf die Verwirklichung des Gemeinwohls ausgerichtet werden. Dieses Argument passt zu Deneens „Aristoi“, den „treusorgenden Verwaltern“, die anhand des westlichen Kanons dazu ausgebildet wurden, das Gute zu erkennen, wenn sie es sehen. Vermeule ist der Überzeugung, dass frühere Entscheidungen des Supreme Court, die auf breit ausgelegten individuellen Rechten basieren, revidiert werden müssen. „Die Rechtsprechung des Gerichts in Bezug auf Meinungsfreiheit, Abtreibung, sexuelle Freiheiten und damit verwandte Angelegenheiten wird sich in einem auf das Gemeinwohl ausgerichteten Verfassungsregime als prekär erweisen.“ Aber auch Konservative, die zu sehr auf individuelle Freiheit abheben, sind ein Problem. Regierungen können und sollten die „Qualität und den moralischen Wert“ von freier Rede bewerten. Es gibt kein absolutes Recht, sich Impfungen zu verweigern, wenn diese für die öffentliche Gesundheit notwendig sind. Libertäre „Eigentums- und Wirtschaftsrechte werden ebenfalls weichen müssen, sofern sie den Staat davon abhalten, gemeinschaftliche und solidarische Pflichten für die Verwendung und Verteilung von Ressourcen durchzusetzen“. 3 Adrian Vermeule, Common Good Constitutionalism, Cambridge 2022.
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88 Charles King In „Common Good Constitutionalism“ entwickelt Vermeule nur vorgeblich eine Rechtstheorie, tatsächlich handelt es sich um eine umfassende Neukonzeption von Legitimität. Vermeule zufolge sind nicht Tradition, Charisma oder Rationalität die Grundlagen für rechtmäßige Herrschaft, wie es der deutsche Soziologe Max Weber konzipiert hat, sondern die „objektive legale und moralische Ordnung“, die am besten von Vertretern eines auf Gemeinwohl ausgerichteten Verfassungsregimes erkannt werden kann. Demokratie und Wahlen können laut Vermeule keinen besonderen Anspruch darauf erheben, das Gemeinwohl zu erfüllen. Eine „Reihe von Regimetypen kann auf das Gemeinwohl ausgerichtet sein oder eben nicht“. Liberale haben eine verfassungsmäßige Ordnung entwickelt, in der Legitimität sich von mit Rechten ausgestatteten Individuen ableitet, die von Zeit zu Zeit Repräsentanten auswählen, um Gesetze zu verfassen, Streitigkeiten beizulegen und den Frieden zu bewahren. Aber wenn diese Strukturen zu Ergebnissen führen, die dem Gemeinwohl entgegenstehen, dann müssen sie demontiert werden. Diese Weltsicht, das gibt Vermeule zu, kann „für den liberalen Geist schwer zu verarbeiten sein“.
Wiederherstellung und Ausbau der nationalen und religiösen Traditionen Wie Konservative das Erbe wiedererlangen könnten, aus dem Deneen und Vermeule ihre Theorien entwickeln, will Yoram Hazony in seinem Buch „Conservatism: A Rediscovery“ erkunden.4 Hazony, ein israelisch-amerikanischer Wissenschaftler und Präsident des Herzl Instituts in Jerusalem, beschreibt, ähnlich wie Deneen, anschaulich die angebliche Hölle der liberalen Ordnung und prophezeit ihren unmittelbar anstehenden Untergang. Aber er ist für die Idee empfänglich, dass „antimarxistische Liberale“ für ein Bündnis mit einem wohlverstandenen Konservativismus gewonnen werden können, welchen er als „Wiedererlangung, Wiederherstellung, Ausbau und Reparatur der nationalen und religiösen Traditionen“ definiert, die „Schlüssel für den Erhalt und die Stärkung einer Nation im Zeitverlauf“ sind. Der wichtigste Schritt für Hazony ist es, die Trennung von Staat und Kirche aufzuheben und „das Christentum wieder als den bestimmenden normativen Rahmen und Standard für das öffentliche Leben“ einzusetzen, „in allen Bereichen, in denen dieses Ziel erreicht werden kann, abgesehen von geeigneten Bereichen legitimer Nichtbefolgung“. Liberale hätten den öffentlichen Raum durch die Privatisierung konservativer Werte monopolisiert, beispielsweise dadurch, dass sie eine Gruppe von Studierenden dazu anhalten, während des Pride Month sexuelle Vielfalt zu feiern, aber einer anderen Gruppe verbieten, auf dem Schulgelände Bibelstudien zu organisieren. Ein erneuerter Konservatismus würde den Spieß einfach umdrehen. Das öffentliche Leben wäre wieder ungerührt nationalistisch und religiös. Aus Hazonys Sicht kann das Gemeinwohl auf der Basis einer unvoreingenomme4 Yoram Hazony, Conservatism: A Rediscovery, Washington, D.C. 2022.
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Der neue Aristopopulismus 89 nen Untersuchung der Geschichte und Natur bestimmt werden. Menschen werden in existierende Loyalitätsverbände hineingeboren, in Familien und Nationen, was wiederum Verpflichtungen gegenüber diesen Kollektiven mit sich bringt. Eine Familie pflanzt sich biologisch fort, während eine Nation ihre einzigartige Sprache und Religion und ihre einzigartigen Gesetze entwickelt, um ihre Existenz für zukünftige Generationen zu sichern. Hazony folgt diesen Prinzipien durch die Geschichte des englischen Verfassungsrechts und des Aufstiegs der Federalists, die er als die ursprünglichen Gründer und Entwickler der amerikanischen Nation betrachtet, bis hin zur seiner Meinung nach fatalen Aufgabe der „christlichen Demokratie“ zugunsten der „liberalen Demokratie“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Hazonys Auseinandersetzung mit der Rechts- und Politikgeschichte ist ernsthaft, wenn auch tendenziös, aber was den philosophischen Gehalt betrifft, ist „Conservatism“ im Grunde ein Manifest – eine literarische Form, die darauf zielt, die bereits Überzeugten zu unterstützen, und somit liefert das Buch in einem fort Behauptungen anstelle von Argumenten. „Menschliche Wesen wünschen sich ständig Gesundheit und Wohlstand der Familie, des Clans, des Stamms oder der Nation, an die sie durch Bindungen gegenseitiger Loyalität gebunden sind, und deshalb streben sie aktiv danach“, schreibt er beispielsweise. Diese Behauptung wirft allerdings die Frage auf, warum es Liberalen dann so leichtgefallen ist, all diese Bindungen zu untergraben. Insgesamt ist seine Sichtweise die eines analytischen und programmatischen Nationalisten. Er glaubt an die unveränderte Kontinuität kulturell definierter Nationen über die Zeiten hinweg, an ihr uraltes Primat als Form sozialer Organisation und an ihre universelle Rolle für die Grundlegung legitimer Staaten – Behauptungen, die sich durch Jahrzehnte evidenzbasierter Forschung in der Geschichts- und Sozialwissenschaft ganz einfach als falsch erwiesen haben. Viele Liberale sind patriotisch eingestellt, zeigen Gemeinsinn und religiöse Frömmigkeit. Nur sehen sie typischerweise keine Notwendigkeit, die gesamte Vergangenheit zu mobilisieren, um diese Bindungen zu beglaubigen.
Immer für die Familie – und gegen Homosexuelle und trans Menschen Deneen, Vermeule und Hazony kommen immer und immer wieder auf das Thema Familie zu sprechen, was oft ein Code für ihre Missbilligung der Existenz von Homosexuellen und Transgender ist. So spricht Vermeule mit Blick auf die Entscheidung des Supreme Courts im Fall Obergefell v. Hodges von 2015, die die gleichgeschlechtliche Ehe legalisierte, von einem typischen Beispiel liberaler Überreizung des Rechts – aber nicht aus dem Grund, den man vermuten könnte. Tatsächlich ist das Problem für ihn nicht, dass das Gericht sich widerrechtlich Kompetenzen des US-Kongresses aneignete, wie Konservative einst wohl argumentiert hätten. Nein, es geht ihm darum, dass eine „Ehe nur die Vereinigung von Mann und Frau sein kann“, weil diese Definition zur biologischen Reproduktion passt. Die Entscheidung begründete also die „grundsätzliche Aufwertung des Willens auf Kosten der natürlichen Ver-
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90 Charles King nunft“, weil die Ehe ihrer Rolle für die Aufrechterhaltung einer „dauerhaften politischen Gemeinschaft“ enthoben wurde. Für Deneen wiederum sind Familien mit homosexuellen Paaren auch ein herausragendes Beispiel für die grenzenlosen Lebensweisen, zu deren Schaffung sich Liberale ermächtigt fühlen – was Menschen wie ihn zwangsläufig zum Opfer mache, genauso wie das gesamte „Befreiungsethos des progressiven Liberalismus“. Er schreibt, dass die „Annahme zu sein scheint, dass der einzig wahrhafte Weg zur menschlichen Aussöhnung in der erfolgreichen Auslöschung der einen existierenden Unterdrückerklasse bestehe – der weißen, heterosexuellen, christlichen Männer (und allen, die mit ihnen sympathisieren)“. Wie bei der extremen Rechten in Russland, in der Europäischen Union und anderswo braucht es kein intensives Studium der Schriften dieser Autoren, um im Kern ihrer zivilisatorischen Angstvorstellungen einen offenen Fanatismus zu finden.
Wut, Sorge und Angst Viele Menschen werden die Existenz der amerikanischen Krise anerkennen, die Deneen, Vermeule und Hazony quält, und vielleicht sogar ihre Sehnsucht nach ernsthaften Politikern teilen, die nach Verbesserung streben. Aber ein Syndrom ist nicht dasselbe wie eine Krankheit. Letztere hat eine klare Ursache, Ersteres nicht. Diese drei Autoren glauben, dass die Quelle der gegenwärtigen Schwierigkeiten die gesamte liberale Ordnung sei. Diese steht – genauso wie der Begriff „woke“ – am Ende nur als eine Chiffre für alles, was sie hassen. Und da diese Autoren vor allem auf der Ebene großer Theorien arbeiten, streifen ihre Argumente nur verführerisch die sozialen Fakten, ohne nach ihren multiplen Ursachen zu forschen. Jedoch sind eine sinkende Lebenserwartung, die Aushöhlung der öffentlichen Bildung, Waffengewalt als Haupttodesursache amerikanischer Kinder oder obdachlose Bürger in Zeltstädten von Washington bis Los Angeles, allesamt das Ergebnis spezifischer politischer Entscheidungen auf unterschiedlichen Regierungsebenen und auf Basis unterschiedlicher Agenden und nicht einfach die Folgen eines amoklaufenden Liberalismus. Bedrohlich ist, dass Deneen und Hazony etwas zu den Beschwerden einer verletzten Mehrheit erklären, die tatsächlich nur das rechte, ethnokulturelle Engagement einer numerischen Minderheit betreffen. Bei Themen wie öffentlich finanzierter Gesundheitsversorgung, einem höheren Bundesmindestlohn, Abtreibung und Waffenkontrollgesetzen sind die Amerikaner ungefähr je zur Hälfte dafür und dagegen, oder gehören der linken Mitte an. Nach einer Umfrage des Pew Research Center von 2022 sagen selbst 56 Prozent der Katholiken, dass Abtreibung in allen oder den meisten Fällen legal sein sollte. Die öffentliche Zustimmung für gleichgeschlechtliche Ehen ist seit den 1990er Jahren stetig gestiegen, laut einer Gallup-Umfrage lag sie im letzten Jahr bei einem Rekordhoch von 71 Prozent. Weiße evangelikale Protestanten, verlässliche Unterstützer des früheren Präsidenten Donald Trump, machen gemäß dem Public Religion Research Institute nur noch
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Der neue Aristopopulismus 91 14 Prozent der US-Bevölkerung aus, ein historischer Tiefstand. Auch die Eliten sind nicht mehr das, was gemeinwohlorientierte Konservative sich vorstellen mögen. Seit über einem Jahrzehnt ist die kulturelle Gruppe mit der besten Ausbildung und dem höchsten Verdienst in den USA nicht die der gottlosen Kosmopoliten, sondern es sind Amerikaner aus indischen Familien, vor allem Hindus und Muslime – von denen fast drei Viertel laut einer Umfrage des Carnegie Endowment von 2020 sagen, dass Religion in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielt. In dieser Situation zu behaupten, dass „Amerika eine christliche Nation ist“, ist nicht mehr als Wunschdenken.
Gegen »zügellose Individuen« und eine »kranke Gesellschaft« Besonders besorgniserregend ist, dass eine starrsinnige politische Minderheit bereits zu dem Ergebnis gekommen ist, dass diese Trends nur umzukehren sind, wenn man politische Partizipation, eine unabhängige Justiz und Menschenrechte völlig abschreibt. Deneen, Vermeule und Hazony liefern die intellektuelle Unterfütterung für genau diese Strategie. Alle drei Autoren sehen sich in einer Tradition, von der sie glauben, dass sie bis in die Antike zurückgeht, aber ihre Arbeiten erinnern eher an eine jüngere Denkschule: die Klagelieder über eine Entartung Amerikas und die letzte Chance für Erneuerung, die vor einem Jahrhundert in Werken wie Madison Grants „Der Untergang der großen Rasse“ gesungen wurden. Grant war ein Rassentheoretiker, aber auch ein Progressiver, was für die heutigen gemeinwohlorientierten Konservativen ganz klar nicht zutrifft. Aber ihre politischen Empfehlungen sind größtenteils dieselben: Einwanderung stärker begrenzen, die Vorherrschaft der angloamerikanischen Kultur bewahren, den christlichen (bzw., bei Hazony, den christlichen und orthodox-jüdischen) Kern des Landes verteidigen und die Nation gegen die „zügellosen Individuen“ stärken, die eine „kranke Gesellschaft“ hervorgebracht haben, wie Hazony es formuliert. Im Zentrum dieser Empfehlungen steht die Überzeugung, dass das, was andere als gesellschaftlichen Wandel oder sogar Fortschritt betrachten mögen, nur ein Verlust sein kann. Die Wut, die diese Autoren förmlich verschlingt, ergibt abwechselnd elegische, predigende und schimpfende Prosa, vorgetragen mit dem Selbstvertrauen eines Studenten im zweiten Studienjahr, der meint, mit der gesamten menschlichen Geschichte vertraut zu sein. Aber wichtiger ist, dass ihre Wut ihre Empathie ad absurdum führt. Deneen schreibt von Herzen über eine Welt, in der „gesunde Ehen, glückliche Kinder, eine Vielzahl von Geschwistern und Vettern“ und „die Erinnerung an die Toten in unserer Mitte“ gesichert sind. Hazony widmet die abschließenden Teile von „Conservatism“ einer bewegenden Schilderung seiner Liebe für seine Frau und Kinder und seinen Überlegungen für ein ehrwürdiges und tugendhaftes Leben. Doch wenn es um die Kinder, die Gemeinschaften, das Wohlergehen und die Liebe anderer Menschen geht, ist die Verachtung dieser Autoren so schockierend wie das Grollen einer skandierenden Menge. Es ist besonders traurig, gelehrte Männer zu sehen, die sich ihrer eigenen
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92 Charles King Grausamkeit hingeben. Wenn sie andere dazu ermutigen, ihnen dabei zu folgen, wird aus dieser Trauer jedoch Angst. Denn wie andere antilinke Autoren, beispielsweise Hayek, betont haben, wird jeder Versuch, die Zwecke des Lebens unabhängig vom Willen lebendiger Wesen zu definieren, zu einer Form des Kollektivismus, der wiederum die Quelle von Unfreiheit und, schlimmer noch, Unmenschlichkeit ist. Diese Denkweise über Bord zu werfen, bedeutet die Zurückweisung der eigenen Tradition: eine Reihe von Auffassungen, die quer durch das politische Spektrum entstanden ist, von Michael Oakeshott über Hayek zu William F. Buckley, von Hannah Arendt bis James Baldwin. Sie alle haben echte Menschen – nicht Nationen, Ethnien oder Klassen – ins Zentrum zivilisierter Gesellschaften gestellt. Heute sieht sich eine aktivistische Gruppe amerikanischer Intellektueller, Politiker und Wähler als Teil eines internationalen Bündnisses der Gekränkten. Das Hauptanliegen dieser Menschen ist genau der „Regime Change“, den Deneen befürwortet. Es ist banal, darauf hinzuweisen, dass Donald Trump, Orbán, der russische Präsident Wladimir Putin und andere autoritäre Führer Varianten des gleichen politischen Typus sind, vielleicht sogar des gleichen psychologischen Typus. Aber noch besorgniserregender ist, dass sich in den Vereinigten Staaten ein Ökosystem entwickelt hat, das zukünftige Führer dieser Art produziert: eine Partei, ein Medienraum, Finanzquellen und nun sogar eine amerikanische Schule illiberalen Denkens. So sind die Vereinigten Staaten in der merkwürdigen Position, zugleich der leidenschaftlichste Verfechter der liberalen Ordnung zu sein – das heißt, eines regelbasierten, kooperativen Systems von Staaten, die sich zu liberalen Werten bekennen – und eine ihrer potenziellen Bedrohungen. Niemals zuvor war die Ausrichtung des Landes so vollständig vom Ergebnis zukünftiger Wahlen abhängig. Der springende Punkt liberaler Werte – solchen, die von vielen Progressiven, klassischen Liberalen und Mainstream-Konservativen geteilt werden – ist nicht, dass sie zeitlos sind oder Glückseligkeit garantieren. Sie beruhen aber auf der einen Tatsache des gesellschaftlichen Lebens, der wir sicher sein können: dass wir anderen Individuen begegnen werden, die anders sind als wir, die ihre eigenen Präferenzen, Ambitionen und Weltsichten haben. Lässt man die komplizierte Metaphysik und spekulative Theologie beiseite, bleiben Menschen, die sich bemühen, ein Schiff zu flicken, das bereits auf See ist. Es geht also darum, Wege zu finden, in einer sich wandelnden, vielfältigen Welt friedlich zusammenzuleben – und sogar zu gedeihen. Der traditionelle amerikanische (Links-)Liberalismus vertrat die Position, dass größere Gleichheit eine Errungenschaft für alle bedeutet. Der traditionelle amerikanische Konservatismus warnte davor, dass alle großen, radikalen Verbesserungspläne gewöhnlich in Katastrophen enden. Diese Debatte lohnt sich weiterhin. Denn bei all ihren Differenzen war diesen alten Lagern gemeinsam, dass sie Tyrannei erkennen konnten, wo auch immer sie sich zeigte: ob in der Sowjetunion, dem rassengetrennten amerikanischen Süden, oder in Philosophien, die Gott, die Geschichte oder die Natur für sich reklamierten. Diesen Realitätssinn hat die US-amerikanische Rechte verloren. Und womöglich läuft die Zeit ab, ihn doch noch zurückzuerlangen.
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Das Ende der Demokratie? Was in Polen auf dem Spiel steht Von Ireneusz Paweł Karolewski und Claus Leggewie
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er Abbau der Demokratie in Europa schreitet voran, die Muster dabei gleichen sich. Wo Rechtspopulisten an der Macht sind, wie in Polen, Ungarn, Italien, Schweden oder Finnland, disqualifizieren sie permanent die liberale und linke Opposition als amoralisch und schwulenfreundlich und behaupten, diese sei abhängig von den „Globalisten“ in Brüssel und Berlin, die angeblich als Antreiber einer „Umvolkung“ durch die Masseneinwanderung aus nicht europäischen Gebieten agieren. Zugleich wird die eigene Basis der „kleinen Leute“, überwiegend aus der Provinz, mit Angstkampagnen und EU-finanzierten Wahlgeschenken überhäuft. In Ungarn und Polen gehen die regierenden Populisten über den reinen Diskurs längst hinaus. Dort haben sie die Gewaltenteilung beschädigt, setzen Qualitätsmedien, Wissenschaft und Kunst unter Druck oder haben sie schon gleichgeschaltet. Wo Rechtspopulisten an die Macht wollen, wie in Frankreich, Österreich, den Niederlanden und Deutschland, rücken sie das Migrationsgespenst ins grelle Licht, mobilisieren gegen klima- und energiepolitische Maßnahmen und greifen zurück auf außerparlamentarische Hilfstruppen, von deren Radikalität sie sich notfalls verbal abgrenzen. Dabei entstanden vor allem seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine pseudopazifistische Querfrontkoalitionen. Wo Sozialdemokraten, Grüne und Liberale noch regieren, denunziert man sie als Genderideologen, wirre Multikulti-Träumer oder unfähige Verzichtspolitiker und treibt so einen Keil in die schrumpfende Mitte, was deren Wiederwahlchancen verringert. Und wo die Gegner der Populisten gemeinsam antreten, um die Erdog˘ans und Orbáns abzulösen, bleibt die erhoffte Einheit und Mobilisierungskraft oft aus. Der nächste Testlauf für die Ablösung rechtspopulistischer Amtsinhaber findet am 15. Oktober bei den Parlamentswahlen in Polen statt. Die seit 2015 regierende PiS-Partei („Recht und Gerechtigkeit“) führt in Umfragen mit Werten von 32 bis 37 Prozent; bliebe es dabei, könnte die PiS nicht die angestrebte Einparteienregierung bilden. Um an der Macht zu bleiben, müsste sie dann eine Koalition mit der kremlfreundlichen und rechtsradikalen Konfederacja eingehen, deren Umfragewerte bei zwölf bis 16 Prozent liegen. Es ist auch außerhalb Polens keine Seltenheit, dass sich neben rechtspopulistischen Parteien an der Macht weitere Rechtsaußenparteien und -bewegungen bilden, die über soziale Medien wie TikTok rekrutieren und dabei
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94 Ireneusz Paweł Karolewski und Claus Leggewie kein Blatt vor den Mund nehmen. So erklärte der Konfederacja-Vorsitzende Sławomir Mentzen vor einigen Jahren offen, seine Partei sei gegen „Juden, Homosexuelle, Abtreibungen, Steuern und die Europäische Union“. Sein Vorstandskollege Grzegorz Braun sekundierte: „Weder Deutsche noch Juden werden uns Geschichte beibringen […] Keine Perversen werden unsere Kinder erziehen und ihnen Toleranz beibringen. Und keine Eurokolchose der Volkskommissare wird uns erklären, wie wir unser eigenes Land führen sollen.“1 Derzeit jedoch gibt sich Konfederacja vor allem freiheitlich, steuerrebellisch und unternehmerfreundlich. Ihre Kreml-Enthusiasten wie Braun oder Janusz Korwin-Mikke bleiben im Hintergrund. Eine Koalition mit der Konfederacja wäre für die PiS nicht der erste Sündenfall: Bereits 2006 hatte die Partei eine Koalition mit der prorussischen Bauernpartei Samoobrona (Selbstverteidigung) gebildet. Das Muster könnte heute das gleiche sein: Die größten Kreml-Enthusiasten des kleineren Partners bekommen keine Ministerposten, die mit der Außen- und Sicherheitspolitik zu tun haben, und die prorussische Haltung schiebt man diskursiv der Opposition und namentlich Donald Tusk in die Schuhe. Möglich ist auch eine Minderheitsregierung der PiS, die von Teilen der Konfederacja, die selbst ein Sammelsurium unterschiedlichster Akteure ist, toleriert wird. Diese instabile Konstruktion würde der PiS Zeit verschaffen, Abgeordnete der Konfederacja zu „kooptieren“, um vorerst eine knappe Parlamentsmehrheit zu erreichen. Verbündete findet die PiS um ihren Chef Jarosław Kaczyn´ski bei ihrem mit misogynen und homophoben Parolen ausgetragenen Kulturkampf auch beim weit rechts stehenden, durch Missbrauchsskandale belasteten Klerus. Das klerikale Milieu sieht überall Gefahren lauern: Die LGBTIQ+-Gemeinschaft habe sich vermeintlich zum Ziel gesetzt, unter dem Deckmantel westlicher Offenheit und Toleranz polnische Kinder zu sexualisieren und katholische Landestraditionen auszuhebeln. Präsident Andrzej Duda meinte schon 2020, LGBTIQ+-Personen seien keine Menschen, sondern „eine Ideologie“, vor der Polen geschützt werden müsse. Im Juli 2023 raunte Kaczyn´ski in der Marienkultstätte in Jasna Góra: „Angegriffen werden unsere Grundwerte, Grundlagen unserer Gesellschaftsordnung, unserer Sitten, kurz gesagt: die Grundlagen der polnischen Identität.“2 Um die allgemeine Gefahrenlage zu verdeutlichen, sprach Premier Mateusz Morawiecki von der Einkreisung Polens: „Im Osten gibt es die Gruppe Wagner und im Westen die Gruppe Weber.“3 Damit hob er Jewgeni Prigoschins Söldnertruppe, die im benachbarten Belarus stationiert ist, auf eine Stufe mit der vom CSU-Politiker Manfred Weber angeführten Fraktion der EVP im Europaparlament. Bei aller Polemik gegen die EU prahlen PiS-Politiker jedoch gerne mit Großprojekten wie dem Fluss-Tunnel in Swinouj´scie an der Ostsee und verschweigen, dass 1 Dominika Sitnicka, Nie chcemy Zydow, gejow, aborcji, podatkow i UE. To trafia do wyborcow, in: „OKO.press”, 1.5.2019; Anna Mierzynska, Obiecujemy, ze nic wam nie damy, in: „OKO.Press”, 24.6.2023. 2 Vgl. Jaroslaw Kaczyn’ski na Jasnej Gorze: Sa plany pozbawienia nas suwerennos´ci, in: „Rzeczpospolita”, 9.7.2023. 3 Marcin Jan Orlowski, Mateusz Morawiecki: Na wschodzie grupa Wagnera, na zachodzie grupa Webera, in: „Interia”, 1.7.2023.
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Das Ende der polnischen Demokratie? 95 das Milliardenprojekt zu 85 Prozent durch die EU und zu 15 Prozent durch die Stadt finanziert wurde. Auch die Migrationsfrage gewinnt vor der Wahl erneut an Bedeutung. Kaczyn´ski und Morawiecki malen Verhältnisse wie in den französischen Banlieues an die Wand. Im letzten Wahlkampf hatte Kaczyn´ski vor „gesundheitlichen Gefahren“ wegen angeblich durch Migranten eingeschleppter Parasiten aus dem Mittleren Osten gewarnt.4 Doch in großen Bevölkerungsteilen wächst die Unzufriedenheit mit der PiS, vor allem unter jungen Menschen und Frauen. Bei den Protesten von 2015 bis 2016 gegen die Vereinnahmung des Verfassungsgerichts hatten noch vor allem Menschen im mittleren Alter demonstriert, die sich an die kommunistische Herrschaft erinnerten und Parallelen zur Regierungspraktik der PiS sahen, was für junge Menschen nur bedingt nachvollziehbar war. Die Großdemonstrationen gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze um 2020 waren dagegen von jungen Menschen dominiert. Sie protestierten gegen die menschenverachtenden Folgen des Urteils des Verfassungsgerichts, welches das ohnehin bereits repressive Abtreibungsrecht dem Klerus zuliebe noch weiter verschärft hatte und Gefahren für das Leben von Frauen damit deutlich erhöhte. Dem Urteil folgten tatsächlich mehrere Todesfälle von schwangeren Frauen: Die Ärzte hatten sich geweigert, die Schwangerschaft abzubrechen, um das Leben der Frau zu retten – aus Angst, juristisch belangt zu werden. Erst im Juni wurde der Tod einer 33jährigen Frau bekannt, die an Blutvergiftung starb, nachdem es das Krankenhaus abgelehnt hatte, bei ihr die medizinisch notwendige Abtreibung durchzuführen. Darauf folgten landesweite Proteste von Frauen mit der Losung „Keine tote Frau mehr. Hört auf, uns zu töten“. Es ist zu erwarten, dass das Votum der Frauen bei den kommenden Wahlen von besonderer Bedeutung sein wird – zumindest sofern Frauen und junge Menschen tatsächlich zur Wahl gehen. Umfragen gehen zwar von 60 bis 66 Prozent Wahlbeteiligung aus, allerdings stehen viele junge Menschen traditionellen Beteiligungsformen kritisch gegenüber. Sie gehen lieber zu Großdemonstrationen und bleiben Wahlen fern, womit sie auf die Bestimmung der Herrschaftseliten verzichten, da sie diesen allgemein nicht mehr trauen.
Kommt das ungarische Szenario? Der Ausgang dieser Wahlen wird auch über Polen hinaus von großer Bedeutung sein, nicht zuletzt mit Blick auf die Kooperation der Nationalisten. Der Ukrainekrieg hat zwar strategische Differenzen in der informellen VisegrádAllianz5 an den Tag gebracht: Während der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán schon fast zur offenen Unterstützung Wladimir Putins bereit zu sein scheint, steht Polen (bei fortbestehenden Differenzen mit der Ukraine) 4 Vgl. Kaczyn´ski: Paso˙z yty i pierwotniaki w organizmach uchodz´ców groz´ne dla Polaków, in: „Newsweek Polska”, 13.10.2015. 5 Vgl. Ireneusz Pawel Karolewski und Claus Leggewie, Die Visegrád-Connection. Eine Herausforderung für Europa, Berlin 2021.
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96 Ireneusz Paweł Karolewski und Claus Leggewie an vorderster Stelle gegen den russischen Imperialismus. Taktische Gemeinsamkeiten, wie das zwischen Budapest und Warschau abwechselnde Veto gegen Strafmaßnahmen der EU sind damit aber nicht ausgeschlossen, auch ähnelt sich das Prozedere der Orbán-Partei Fidesz und der PiS bei der Verwandlung ihrer Herrschaft in eine „Demokratur“. Nach acht Jahren systematischen Machtmissbrauchs, parteipolitischer Unterwerfung der Massenmedien, zahlreichen Verfassungsverletzungen und hemmungsloser Bereicherung der PiS-Politiker auf Kosten der (EU-)Steuerzahler bestünde für sie bei einer Niederlage die reale Gefahr, dass sie durch unabhängige Gerichte zu Gefängnisstrafen verurteilt werden. Ihre Straffreiheit war bisher dadurch garantiert, dass es kaum mehr unabhängige Gerichte gibt, die Staatsanwaltschaft die Opposition verfolgt, und die systemische Korruption, Vetternwirtschaft und Propaganda der PiS eine gefügige Funktionselite geschaffen haben, ähnlich der Nomenklatura in der kommunistischen Ära. Die PiS hofft daher auf ein „ungarisches“ Szenario wie bei den Wahlen in Budapest im April 2022, als Fidesz mit Angstpropaganda und Wahlgeschenken – subventionierte Lebensmittel, Gehaltserhöhungen für Armeeangehörige und Polizei und Rentenerhöhungen – rund 49 Prozent der Stimmen gewann. Diesen Traumwert wird die PiS kaum erreichen, aber zu einem Ergebnis um 40 Prozent könnte, nach ungarischem Vorbild, ein „Referendum“ am Wahltag verhelfen, bei dem die Polen zur Migrationspolitik der EU befragt werden: „Unterstützt Du die Aufnahme Tausender illegaler Immigranten aus dem Nahen Osten und Afrika nach dem obligatorischen Umverteilungsmechanismus, aufgezwungen durch die EU-Bürokratie?“ Diese Frage zur Migrationspolitik wird von weiteren Fragen begleitet, unter anderem nach dem „Ausverkauf“ der polnischen Staatsunternehmen und der Erhöhung des Rentenalters. Mit solchen Suggestivfragen werden Parlamentswahlen in Plebiszite verwandelt. Die ungarische Volksabstimmung von 2016 zu den Migrantenquoten innerhalb der EU scheiterte zwar am Quorum von 50 Prozent, wurde von der Orbán-Regierung aber propagandistisch ausgeschlachtet und zur Mobilisierung der eigenen Basis, weiteren Polarisierung der Gesellschaft und Legitimierung des Demokratieabbaus genutzt. Gegen autoritäre Machthaber muss die Opposition bei Wahlen besonders geeint auftreten. Noch aber treten drei Kräfte getrennt an: Die Bürgerplattform (PO) mit dem ehemaligen Premierminister Donald Tusk an der Spitze darf mit 28 bis 32 Prozent rechnen, die PL2050 des konservativen Fernsehmoderators Szymon Hołownia im Bündnis mit der Bauernarbeit PSL mit elf bis zwölf Prozent. Die Linke – ein Amalgam neuer Gruppierungen und der Postkommunisten – käme auf sieben bis neun Prozent. 2015 war sie noch an der Sperrhürde gescheitert, was es der PiS trotz nur 37,5 Prozent erlaubte, eine Einparteienregierung zu bilden, da das polnische Wahlsystem bei weniger Parteien im Parlament die größeren Parteien begünstigt. Die PO hofft in dieser Lage auf ein „tschechisches“ Szenario, nach dem Vorbild der vereinigten Opposition, die in Prag bei den Parlamentswahlen 2021 und Präsidentschaftswahlen 2023 gewonnen hat. Damit wurde in Tschechien der state capture, der Staatsvereinnahmung durch Oligarchen
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Das Ende der polnischen Demokratie? 97 und der systemischen Korruption durch populistische Akteure, wie Miloš Zeman (Ex-Präsident) und Andrej Babiš (Ex-Premier), ein Riegel vorgeschoben. Auch in Polen wird 2025, etwa anderthalb Jahre nach den Parlamentswahlen, der Präsident neu gewählt. Das Hauptproblem der polnischen Opposition ist allerdings, dass sie bei weitem nicht so einig ist, wie dies in Ungarn und Tschechien der Fall war, und eine gemeinsame Wahlliste nicht zustande gekommen ist; Wahlbündnisse hätten bis zum 28. August formal angemeldet sein müssen, sodass jetzt nur noch informelle Absprachen möglich sind.
Machterhalt um jeden Preis? Ein beeindruckendes Zeichen der Einigkeit waren jedoch die Großdemonstrationen am 4. Juni zu einem symbolischen Datum: Am 4. Juni 1989 fanden die ersten Wahlen mit Beteiligung der Opposition im damals noch kommunistisch regierten Polen statt, bei denen der erste nichtkommunistische Premierminister im gesamten Ostblock, Tadeusz Mazowiecki an die Macht kam. Die Großdemonstration in Warschau, angeführt von Tusk, zählte mindestens 380 000 Menschen. Die Regierung war von der Größenordnung und Entschlossenheit dieser Kundgebung völlig überrascht, die Staatsmedien berichteten darüber entweder gar nicht oder nur polemisch. Es besteht allerdings die Gefahr, dass die Protestenergie bis zur Wahl verpufft, worauf die PiS hofft. Auch zeigen sich Spannungen innerhalb der Opposition. Jüngster Anlass war ein Wahlkampfvideo von Oppositionsführer Tusk, das der PiS-Regierung vorwarf, Tausende Migranten „aus islamischen Ländern“ ins Land gelassen zu haben. Die Absicht von Tusk war, die Verlogenheit der PiS vorzuführen. Denn die PiS-Regierung schließt seit Jahren bilaterale Gastarbeiterabkommen mit asiatischen Ländern ab, auch solchen mit muslimischer Bevölkerung, und hetzt im Wahlkampf dann wieder gegen „kulturell Fremde“. Doch das kam bei seinen Verbündeten nicht gut an: „Als Opposition sollten wir immer für Demokratie und Menschenwürde eintreten und zeigen, dass wir die Sicherheit des polnischen Volkes mit der Würde aller Menschen verbinden wollen“, kritisierte etwa der sozialistische Europaabgeordnete Robert Biedro´n. Die Kernwählerschaft der PiS ist hingegen loyal. Ähnlich wie bei anderen rechtspopulistischen Gruppierungen, wie der Fidesz in Ungarn, der AKP in der Türkei oder den Trumpisten in der Republikanischen Partei, verzeihen sie ihrer Parteiführung die größten Skandale und deuten Machtmissbrauch noch als Ausdruck legitimer Autorität. Sie halten sich für Demokraten, solange ihre Partei die Wahlen gewinnt, während verlorene Wahlen als Betrug durch die „anderen“ gelten, die per definitionem keine Demokraten sein können. Kompromisse mit der Opposition werden als faul abgelehnt, das eigene – in Polen oft religiöse – Milieu wird gegen die „anderen“ abgegrenzt. Die PiS propagiert zudem, im Unterschied zum möglichen Koalitionspartner Konfederacja, politisch-wirtschaftlichen Kollektivismus: Der Staat soll als treuer Fürsorger auftreten, Staatseigentum über Privateigentum stehen. Dar-
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98 Ireneusz Paweł Karolewski und Claus Leggewie aus resultieren Erwartungen an den autoritär-paternalistischen Staat, die die schlimmsten Verfehlungen der PiS legitimieren: Ein Familienvater, der sich um seine Kinder kümmert, kann sich ab und zu Fehltritte leisten und verdient dennoch weiterhin Respekt.6 Jenseits ihrer Kernwählerschaft wird die PiS um jeden Prozentpunkt kämpfen, nach Trumps Vorbild auch mit unlauteren Methoden, die schon bei den Parlamentswahlen 2019 und den Präsidentschaftswahlen 2020 eingesetzt wurden. Dazu zählte die systematische Bespitzelung führender Oppositioneller mit der Spionage-Software Pegasus. Opfer der illegalen Überwachung wurde etwa der Chef der PO-Wahlkampagne von 2019, Krzysztof Brejza.7 Möglich ist auch, dass bei einem für die Regierung ungünstigen Wahlausgang die von der PiS kontrollierte Nationale Wahlkommission die Neuauszählung der Stimmen in wichtigen Wahlbezirken anordnen wird. Die gleichgeschalteten Massenmedien werden keine Hemmungen haben, die Legende vom Wahlbetrug zu verbreiten. Es bestehen sogar Befürchtungen, die PiS könnte den Ausnahmezustand verhängen – und damit die Wahl auf einen späteren Termin verschieben –, sollten die Umfragewerte weiterhin nicht zufriedenstellend sein. Der Präzedenzfall ereignete sich 2021/2022, als der Ausnahmezustand wegen der „Migrationskrise“ an der Grenze zu Belarus in zwei Regionen Ostpolens mit 183 Ortschaften ausgerufen wurde. Dort war keine Presse zugelassen sowie die Bewegungsfreiheit für Bürgerinnen und Bürger deutlich eingeschränkt. Die derzeitige Nervosität der PiS-Regierung zeigt sich daran, dass sie den Oppositionsführer ins Visier nahm: mit einer „Lex Tusk“ und der Einsetzung einer „Staatlichen Kommission zur Untersuchung russischer Einflüsse auf die innere Sicherheit der Republik Polen in den Jahren 2007 bis 2022“. 2007 wurde Tusk Regierungschef und war verantwortlich für Energielieferverträge, die PiS insinuiert nun, dass er dabei das Vaterland verraten habe und ein Kollaborateur Putins sei. Doch nach der vorläufigen Ablehnung des Gesetzentwurfs im polnischen Senat hat die PiS selbst kalte Füße bekommen; es wäre leicht, in ihren Reihen Russophile mit problematischen Verbindungen nach Moskau auszumachen. Das Gesetz wurde zwar verabschiedet und modifiziert durch Präsident Duda unterzeichnet, aber es ist eher unwahrscheinlich, dass die „Staatliche Kommission“ vor den Wahlen tagen wird. Polen, das im Ukrainekrieg zur europäischen Regionalmacht avancierte, steht erneut vor einem historischen Moment. Sollte die Opposition verlieren, wird sich die Herrschaft der PiS weiter verfestigen, der Staat noch mehr im Dienst der Partei stehen. Die Gleichschaltung von Massenmedien, Schulen, Universitäten und Unternehmen würde weiter voranschreiten. Die „Zeitenwende“ ist auch in Polen noch nicht verstanden worden: Man kann sich nicht an die Speerspitze des Kampfes der liberalen Demokratie gegen die russische Autokratie setzen, wenn man demokratische Grundsätze selbst so stark verletzt und die autoritären Deformationen im eigenen Land massiv befördert. 6 Siehe das Interview mit der Soziologin Ewa Marciniak: Kim jest wyborca PiS? Wyz˙szy poziom neurotyczno´sci, uwaz˙aja sie za demokratów, in: „Dziennik Gazeta Prawna”, 5.8.2019. 7 Vgl. To oni zlecili szpiegowanie Krzysztofa Brejzy Pegasusem, wiadomosci.onet.pl, 20.1.2023; Szymon Palczewski, Historia Pegasusa. Brejza: ekwiwalent hejtu mojej osoby to 5 mln euro, cyberdefence24.pl, 27.10.2022.
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Die Stille der Erinnerung Chile 50 Jahre nach dem Putsch gegen Allende Von Faride Zerán
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as ist aus Margarita Paillal geworden, der Mapuche1-Bäuerin aus Cautín, deren Foto die Titelseite der Zeitschrift „Chile Hoy“ zierte, die am 11. September 1973 an den Zeitungskiosken hing? Paillal war 30 Jahre alt und Mutter von sieben Kindern. Zusammen mit zwei anderen Mapuche-Anführern war sie in die Hauptstadt Santiago de Chile gereist, um bei Präsident Salvador Allende die Verhaftung und Folterung von Bauern in der Gegend von Temuco anzuprangern. Angeführt wurde die Strafaktion gegen die politisch aktiven Gemeinden von Oberst Pablo Iturriaga und dem Kommandeur der Luftwaffe Rigoberto Pacheco. Mit einer Gruppe Soldaten hielten sie Ende August 1973 in der Provinz Cautín im Süden Chiles vier Tage lang das ehemalige Herrenhaus einer Finca besetzt, auf der im Zuge der Agrarreform die Agrarkooperative „Jorge Fernández“2 entstanden war. Sie rechtfertigten ihren Einsatz durch das sogenannte Waffenkontrollgesetz. Ich war 23 Jahre alt, hatte Paillal eine Woche zuvor interviewt und war von ihrem Mut und ihrer Klarheit beeindruckt. Was wird aus ihr werden, fragte ich mich an jenem Morgen des 11. September 1973 auf meinem Weg durch das Stadtzentrum Santiagos in die Redaktion von „Chile Hoy“, für die ich arbeitete. Dabei blickte mich die 30jährige an jeder Ecke, an der es einen Kiosk gab, mit traurigem und trotzigem Blick an, als würde sie mich nach dem Satz fragen, mit dem ich das Interview überschrieben hatte: „Wir sind wütender denn je.“ Ein Satz, der sich im Laufe des Tages als das Militär vorrückte, nach der Rede Allendes und der Bombardierung des Präsidentenpalastes „La Moneda“, als Provokation entpuppte, die Paillal der brutalen Repression der Putschisten auslieferte. Margarita Paillal hatte diese tausend Tage der Regierung Allende intensiv und engagiert gelebt; sie hatte ihre Kinder großgezogen, sie war eine Bauernanführerin geworden, und wie so viele glaubte sie, den Himmel mit ihrer Hand berührt zu haben. Ich suche nach der Akte mit ihrem Interview und zitiere sie: „Ich bin in der Leitung eines Comando Comunal und weil ich kämpferisch bin, streite ich mich mit den Genossen. Ich verlange und 1 Die Mapuche sind die größte indigene Gruppe in Chile. Beim Zensus 2017 bezeichneten sich über zehn Prozent der Einwohner Chiles als Mapuche. 2 Die Agrarreform hatte bereits die Vorgängerregierung gestartet, aber vor allem die Regierung Allende trieb sie voran: Sie enteignete insgesamt 6,4 Millionen Hektar Großgrundbesitz und verteilte sie an Kleinbauern, Kooperativen oder stellte sie unter staatliche Verwaltung.
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befehle, dass die Frauen das gleiche Recht haben zu arbeiten – an der Seite ihrer Männer – und das gleiche Recht zu streiten und zu kämpfen. Denn wir Frauen sind es, die am meisten unter der Armut leiden, die die Bedürfnisse kennen und die für unsere Kinder sorgen müssen.“3 Diese Mapuche-Anführerin und tausende Arbeiter, Bauern und Pobladores4, waren in jenen drei Jahren der Regierung Allende die Protagonisten. Sie drängten auf Veränderungen, die manchmal über das hinausgingen, was von den politischen Parteien und Führern der „Unidad Popular“5 angestrebt wurde. Ihre Gesichter sehen den Gesichtern derjenigen zum Verwechseln ähnlich, die heute, ein halbes Jahrhundert später, eine andere Zukunft fordern. Eine andere Zukunft als sie das neoliberale Drehbuch nach Jahrzehnten von Regierungen, die das Land unter der Verfassung und dem Wirtschaftsmodell des Pinochetismus verwalteten, für sie vorsah. Zu diesen Gesichtern gehören vielleicht die der Enkelkinder von Paillal. Was machte ich am 11. September 1973?6 Es heißt, dass es an diesem Tag bewölkt war, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich in den Himmel geschaut habe, bis ich auf das Dach des Gebäudes kletterte, in dem sich ein Teil der Belegschaft der Zeitschrift „Chile Hoy“ versteckt hielt, gerade als La Moneda bombardiert wurde. Als in den frühen Morgenstunden das Telefon klingelte und der Journalist Horacio Marotta, Leiter der Nachrichtensendung von „Chile Films“, mir von den Meldungen über Truppenbewegungen erzählte und mich warnte, sprang ich aus dem Bett und weinte in der Gewissheit, dass sich eine Tragödie anbahnte. Die improvisierte Botschaft von Präsident Allende, die ich später hörte, zerstreute alle Zweifel. Ich erinnere mich, dass ich zu „Radio Nacional“ gehen wollte, wo ich ebenfalls als Journalistin arbeitete. Die Redaktion des Radios befand sich mitten im Zentrum von Santiago, aber ich sah fremde Menschen aus dem Gebäude kommen und ging weiter. Nur mein Instinkt leitete mich durch die Straßen voller Menschen, die aus dem Regierungsviertel flüchteten. Gepanzerte Fahrzeuge, Militärlastwagen, Panzer, eine ganze Höllenmaschinerie bewegte sich in Richtung der Morandé,7 während in den Bäckereien die Menschen Schlange standen und verlangten, bedient zu werden, damit sie nach Hause gehen konnten. Es war der Morgen, an dem ich am meisten in meinem Leben gelaufen bin. Der längste Morgen meines Lebens. Ich ging zum Bustamante-Park, zur Wohnung von Marta Harnecker, der Leiterin von „Chile Hoy“, und gemeinsam gingen wir zum Sitz der Zeitschrift in der Avenida Italia, wo ein Team von Redakteuren auf uns wartete. Nachdem 3 Die „comandos comunales” (Kommunalkommandos) verstanden sich als Organe einer entstehenden rätedemokratischen Volksmacht; Interview mit Margarita Paillal, in: „Chile Hoy“, 65/1973. 4 Bewegung der städtischen Unterschicht, die Land besetzte, um darauf Behelfsunterkünfte zu bauen und bezahlbaren Wohnraum forderte. 5 Das linke Parteienbündnis, für das Allende 1970 als Präsidentschaftskandidat antrat. Er gewann den ersten Wahlgang mit relativer Mehrheit. Im zweiten Wahlgang, der verfassungsgemäß im Parlament stattfand, wurde er mit großer Mehrheit – 153 von 195 Stimmen – zum Präsidenten gewählt. 6 Dieser und alle weiteren kursiv gesetzten Auszüge aus: Faride Zerán, Los grises de mi mamá, in: ¿Qué hacía yo el 11 de septiembre de 1973? (Was machte ich am 11. September 1973?), Santiago de Chile 1997, S. 149-159. 7 Straße, die am Regierungspalast vorbeiführt.
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Chile: Die Stille der Erinnerung 101 wir Akten und Tonbänder herausgenommen hatten, gingen wir mit der Gruppe von Journalisten zu einem sicheren Haus in der Straße Villavicencio. Es handelte sich um eine Wohnung im obersten Stockwerk eines kleinen Gebäudes. Marta war von einem der Putschgeneräle, Gustavo Leigh, im ersten Kommuniqué der Junta denunziert worden, und einige der anwesenden Journalisten gehörten zur Belegschaft der uruguayischen Zeitschrift „Marcha“, die vom Militärregime in ihrem Land geschlossen worden war. Die Wohnung als „sicheren Ort” zu bezeichnen, war ein Witz. So sehr, dass ihr eigentlicher Bewohner, ebenfalls ein Journalist und Linker, anderswo Zuflucht gesucht hatte. Er besaß eine der umfangreichsten marxistischen Bibliotheken seiner Zeit, und die Wände seiner kleinen Wohnung waren mit großen Ikonographien bedeckt, die das grimmige, unerschrockene Gesicht von Marx zeigten. Eine andere Gruppe von Journalisten und Intellektuellen, die in der Wohnung unter uns Zuflucht gesucht hatte, kam mitten in der Ausgangssperre nach oben, um mit uns Informationen auszutauschen. Als im Oktober 2019 die Massenproteste ausbrachen, wunderten sich viele, dass sie nicht gemerkt hatten, dass Chile zu einem Dampfkochtopf geworden war, in dem alle Geschichten über die angeblichen Wohltaten des chilenischen neoliberalen Modells explodierten. Sie hatten das Ausmaß der Mobilisierungen nicht wahrgenommen, die dieser sozialen Revolte vorausgingen: die Proteste der Schüler im Jahr 2006, genannt „Marsch der Pinguine“. Die Rebellion der Studenten 2011. Der feministische Mai 2018 mit seiner Forderung nach einem kulturellen Wandel. Sie hatten auch die massiven Kundgebungen zum Internationalen Frauentag oder die sozialen Aufstände in Orten wie Freirina, Aysén, Chiloé und anderen Teilen des Landes nicht beachtet. Von einigen Ausnahmen abgesehen, entwarfen die Medien in diesen Jahrzehnten nach der Diktatur nicht nur das Bild eines bedingungslos akzeptierten und erfolgreichen sozioökonomischen Modells, sondern auch das einer homogenen, unkritischen Gesellschaft, in der es keine Debatten gab und aus der nur einzelne abweichende Figuren herausstachen: die Figur des Armen, des Marginalisierten aus dem einfachen Volk, die im Allgemeinen mit der Figur des Kleinkriminellen gleichgesetzt wurde. Die Figur des Künstlers, die auf den Bereich des Spektakels reduziert wurde. Und die des Intellektuellen, die als anstrengend wahrgenommen wurde, und dessen Beiträge selten auftauchten, solange sie nicht trivialisiert werden konnten. Dieses Bild von einem weißen Land ohne Herkunft und Gedächtnis, das von Chile gemalt wurde, symbolisiert in dem Eisberg, mit dem sich Chile auf der Expo in Sevilla 1992 vorstellte, und das der Soziologe Manuel Antonio Garretón in seinem Essay „Der unsichtbare Teil des Eisbergs“8 so treffend beschrieben hat, war keine zufällige Konstruktion. Die Medien, der offizielle Diskurs, der verordnete Konsens zu Beginn des Übergangs zur Demokratie verschoben so nicht nur die notwendige Debatte über unsere Unterschiede, die typisch sind für ein Land, das durch Schmerz und Schrecken zersplittert 8 Manuel Antonio Garretón, La Faz sumergida del Iceberg, Santiago de Chile 1994.
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ist und einen wesentlichen Teil seines Wesens verleugnet, den mestizischen9, pluralen, vielfältigen Teil mit eigenem kulturellen Erbe und Gedächtnis. Aufgeschoben wurde auch die Möglichkeit, die Vergangenheit moralisch zu beurteilen, damit das „Nie wieder“ in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen nicht nur ein Slogan, sondern ein Vermächtnis für künftige Generationen werden kann.
Verordneter Konsens und simulierte Homogenität Die 1990er Jahre bestätigten, dass der Eisberg eine Metapher für die Simulation einer homogenen Gesellschaft war. Die unabhängige Presse, die in der Lage war, über die reichhaltigen Konflikte und Debatten in unserer Gesellschaft zu berichten, verschwand allmählich, während die Konzentration der Printmedien durch zwei große Konglomerate, El Mercurio und Copesa, Gestalt annahm. Das sei eine Frage des Marktes, wurde uns aus dem Präsidentenpalast gesagt. Die Agenda der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht spiegelte ein konservatives, zensiertes Land wider, das Angst vor der Freiheit hat. Scheidung, Abtreibung, sexuelle Vielfalt, indigene Völker, die Verletzung der Menschenrechte, um nur einige Themen zu nennen, wurden aus der öffentlichen Debatte verdrängt, während die öffentliche Sicherheit, die Wirtschaftsindikatoren, der Fußball und die Show des schlechten Geschmacks das tägliche Leben der Chilenen bestimmten. Der Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) mit dem Titel „Die Paradoxien der Modernisierung” durchleuchtete den Zustand Chiles in den 1990er Jahren vielleicht gründlicher als jede andere Analyse und zeigte, wie desillusioniert, gespalten, misstrauisch, ängstlich und uninformiert das Land war. Darin gab es viele Zeugnisse des Unbehagens an einem politischen Übergang, der sich schamlos ins 21. Jahrhundert bewegte, den Diktator aus dem Londoner Gefängnis heraus verteidigte und Fragen nicht nur in Bezug auf Wahrheit und Gerechtigkeit im Bereich der Menschenrechte aufwarf, sondern auch in Bezug auf die Änderung der von der Diktatur geerbten Verfassung, die Rechte der indigenen Völker, den Wiederaufbau eines öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystems, die Rechte der Frauen und sexueller Minderheiten, um nur einige Themen zu nennen. An diesem Morgen glühten die Telefondrähte in Santiago, aber das System brach nicht zusammen. Als Netz von Journalisten tauschten wir sekündlich Informationen aus, die ziemlich genau waren, mit Ausnahme derjenigen, die von einer Befreiungsarmee unter dem Kommando von General Prats10 spra9 Als Mestizen werden in Lateinamerika Menschen bezeichnet, die sowohl von Europäern als auch von Indigenen abstammen. 10 Gemeint ist der verfassungstreue General Carlos Prats. Er war zeitweise Innenminister und Vizepräsident unter Allende. Nach dem Putsch seines Nachfolgers als Armeechef, Augusto Pinochet, ging er ins Exil nach Argentinien. Dort wurde er 1974 durch eine Autobombe getötet.
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Chile: Die Stille der Erinnerung 103 chen, was angesichts des Schreckens eine Fantasie war. Ich kann mich nicht mehr an die ersten Momente in dieser kleinen Wohnung in der Straße Villavicencio erinnern, die für einen Moment von den Besuchern aus dem Stockwerk darunter überfüllt war. Erinnern kann ich mich an den Moment, als die Bombardierung begann, als drei oder vier von uns Journalisten auf das Dach des Gebäudes kletterten, angeführt von Ulises Gómez, dem Sohn von José Gómez López, einem Mitflüchtling, dem die Tür, die auf das Dach führte, aus der Hand fiel und einen Lärm verursachte, der das kleine Gebäude und einige seiner Bewohner bis ins Mark erschütterte. Der Rauch von „La Moneda“ in Flammen, der ohrenbetäubende Lärm der Bomben, die vor unseren Nasen fielen, die Rufe, die den Wahnsinn, den Tod, das Schicksal von Augusto Olivares11, des Präsidenten Allende, der cordones industriales12 , der Städte, der Universitäten, unserer Häuser besiegelten, zeigten das Grauen, das unaufhaltsam auf uns zu kam. Der entscheidende Tag war gekommen, nur war niemand darauf vorbereitet. In den Tiefen unserer Seelen träumten und spekulierten wir über alles, nur nicht über die Möglichkeit, dass der Verrat wahr werden könnte. Am 4. September 2022 gingen mehr als 13 Millionen Menschen oder 85,7 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen, um über den Verfassungsentwurf abzustimmen, der von den 155 Mitgliedern des Verfassungskonvents neun Monate lang ausgearbeitet worden war. Die Niederlage war niederschmetternd. Am Tag des Referendums stimmten nur 38,14 Prozent für den Text, 61,86 Prozent lehnten ihn ab. Mehr als 7,8 Millionen Menschen sagten Nein zu dem Text, der eine der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt hätte werden können. Meine Generation kennt die Niederlagen und ihre Spuren. Extreme, wenn es um Staatsstreiche und ihre Folgen wie Verbrechen, Verschwindenlassen, Folter, Exil und Tränen geht. Physische und psychische, politische und persönliche Niederlagen, die Jahre und Generationen brauchen, um über sie hinwegzukommen. Die Niederlage vom 4. September war zweifellos verheerend für einen Teil der Gesellschaft. Wir hatten von dem Land geträumt, das in diesem Text beschrieben wird. Wir hatten uns diese utopische Gesellschaft mit garantierten Rechten, auch für die Natur, vorgestellt. Die Mobilisierungen von 2006, 2011, 2018 und dann der Ausbruch der Massenproteste im Oktober 2019 ließen uns glauben, dass dieser Aufschwung seine Entsprechung in einem Text finden würde, der den freiheitlichen und demokratischen Geist widerspiegelt, den das Land atmete. Vielleicht hatten wir die Tiefe der Wirtschaftskrise unterschätzt, die sich mit der Pandemie ausbreitete, und die, angesichts der spärlichen staatlichen Hilfen, die Entnahmen aus den privatsierten Rentenfonds in eine Überlebensalternative verwandelte. Auch die Auswirkungen der lateinameri11 Der Journalist und Präsidentenberater Augusto Olivares nahm sich als erster unter den Verteidigern des Präsidentenpalastes das Leben. Er gilt als erstes Opfer der Militärdiktatur. 12 Eine Struktur der Arbeiterselbstverwaltung während der Regierung der Unidad Popular.
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kanischen Migrationskrise hatten wir nicht richtig verstanden. Eine Krise, die nicht nur unsere kleineren Städte und Gemeinden traf und die prekären Gesundheits-, Bildungs- und Wohnungssysteme belastete, sondern vor allem einen tiefgreifenden Rassismus und eine Fremdenfeindlichkeit an die Oberfläche brachte, vor denen Umfragen und Studien längst gewarnt hatten. Einstellungen, die auch geschürt wurden durch eine gleichzeitige Krise der Sicherheit, deren Ausmaß wir nicht richtig analysiert hatten.
Das Scheitern der neuen Verfassung Auch aus dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen 2021 haben wir nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Damals bekam der Kandidat der extremen Rechten, José Antonio Kast, in der ersten Runde mehr Stimmen als der Kandidat der Linken, Gabriel Boric (27,92 Prozent Kast / 25,83 Prozent Boric). In der zweiten Runde verlor der Kandidat der extremen Rechten zwar gegen Boric, aber er verlor mit nicht unerheblichen 44,13 Prozent und seine Partei erhielt eine große Zahl der Parlamentssitze. Und erst recht hatte unser Lager nicht ernst genommen, dass es in Chile nicht nur um die schriftliche Verfassung ging, sondern um eine Veränderung des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Modells und damit um das Ende der Privilegien derjenigen, die den Staatsstreich von 1973 ermöglicht und unterstützt hatten. Es war daher keine Überraschung, dass alle möglichen Mittel eingesetzt wurden, um diese Veränderung zu verhindern. Mittel, die meiner Generation vertraut waren. Die Rechte schürte nicht nur die Polarisierung mit einer aggressiven Rhetorik im Kongress und anderen Foren der demokratischen Debatte, einschließlich des Verfassungskonvents, sondern sie erzeugte auch Angst mit Falschmeldungen, verbreitet von bestimmten Medien und in sozialen Netzwerken. So behauptete sie, mit der neuen Verfassung würden die privaten Rentenfonds enteignet, das Recht auf ein eigenes Haus, die Nationalflagge und die Nationalhymne abgeschafft. Es war kurz nach fünf Uhr nachmittags, und die Stille der über die Stadt verhängten Ausgangssperre wurde von vereinzelten Schüssen unterbrochen, die uns das Echo der Niederlage hören ließen. In der Küche der winzigen Wohnung kochte Marta Harnecker eine Suppe, und ich, unerfahren in solchen Dingen, versuchte, ihr bei ihrer gigantischen Aufgabe zu helfen, ein Dutzend unruhiger Gäste zu verköstigen. Das Geräusch des schweren Fahrzeugs, das auf dem Bürgersteig vor dem Gebäude vorfuhr, brachte uns zum Stillstand. Von der Küche aus konnte man das Panorama der Straße Villavicencio in seiner ganzen Pracht sehen. Das Aufgebot an Militärpolizisten in Kampfmontur, die aus dem Bus stiegen und ihre Maschinengewehre auf das oberste Stockwerk, unser Fenster, richteten, beseitigte jeden Zweifel. Unser Abendessen würde unterbrochen werden, das Ziel waren wir.
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Chile: Die Stille der Erinnerung 105 Aus einem unerklärlichen Grund beschlossen wir, unsere Kollegen nicht zu alarmieren. Wir setzten unser Treiben fort, als ob nichts geschehen wäre. Wir gingen gerade ins Wohnzimmer, als es energisch an der Tür klopfte. Der Journalist Miguel Budnick, ein aus dem Fernsehsender der Universität von Chile bekanntes Gesicht, öffnete die Tür, ohne zu ahnen wem, vielleicht in dem Glauben, dass ein anderer Nachbar mit neuen Informationen hereinkommen würde. Die schwer bewaffneten Männer traten ein und gaben die üblichen Befehle: zur Wand drehen, Hände hoch und Beine auseinander. Dann: Zeigen Sie Ihre Ausweise! Eine befehlende Stimme entschied, dass die beiden Frauen in der Gruppe in einer entspannten Position bleiben könnten. Wir wurden durchsucht, und dieselbe Stimme sagte: „Gibt es hier Journalisten?” „Nein“, antworteten wir im Chor und wie betäubt. „Gibt es hier Ausländer?” „Nein“, sagten wir in einem Ton, der angesichts der Ironie im Ton des Kommandanten, der unsere Ausweise in der Hand hielt, erbärmlich klang. „Durchsucht die Wohnung!”, befahl er. Ich weiß nicht mehr, was ich in diesem Moment dachte oder fühlte, aber Marx‘ Gesicht, das an die Hauptwand des Raumes genagelt war, gab mir einen Blick zurück, den ich inmitten des Chaos als perplex interpretierte. Die Worte der Kommuniqués der Militärjunta klangen noch in unseren Ohren, mit dem hasserfüllt ausgesprochenen Namen von Marta Harnecker darin, ebenso wie die Warnung vor Ausländern, die als Extremisten, Terroristen und ähnliches mehr bezeichnet wurden. Ernesto González Bermejo, ein bekannter uruguayischer Journalist, der zum Team von „Chile Hoy“ gehörte, war bei uns und wurde wie viele andere auch gesucht. Nach den unendlich langen Minuten, die die Razzia dauerte, befahl diese Stimme den Rückzug, und als sein Trupp bereits die Wohnung verlassen hatte, warnte er uns zu unser aller Überraschung: „Seid vorsichtig, ein Nachbar im ersten Stock hat euch denunziert. Sobald die Ausgangssperre aufgehoben ist, verlasst den Ort, denn es ist sehr gefährlich!“ Die Vergangenheit gehört zum Leben eines jeden, auch zum Leben eines Historikers, sinnierte Eric Hobsbawm in Santiago de Chile, als wir gemeinsam in der Lobby des Hotels Carrera saßen. Das Hotel existiert nicht mehr, genau wie dieser bedeutende britische Historiker jüdischer Herkunft, Autor eines Dutzends grundlegender Bücher wie „Das imperiale Zeitalter“ oder „Europäische Revolutionen“, dessen sterbliche Überreste auf dem East Londoner Friedhof ruhen, ganz in der Nähe von Marx‘ Grab. Hobsbawm besuchte Chile Ende 1998. Ich interviewte ihn für die Zeitschrift „Rocinante“, die es auch nicht mehr gibt, gerade zu der Zeit, als Pinochet in London verhaftet wurde.13 Wir sprachen über die Bedeutung des Gedächtnisses, und ich fragte ihn, ob es ein Zufall sei, dass er als Historiker immer wieder an Ort und Stelle ist, wenn ein historisches Ereignis stattfindet. Er lachte und antwortete, das sei einfach Glück. Das gleiche Schicksal hatte ihn nach Berlin geführt, als Hitler gerade die Macht übernahm, nach 13 Faride Zerán, Interview mit Eric Hobsbawm, Tenemos la fuerza moral y intelectual para los cambios, in: „Revista Rocinante“, 2/1998.
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Moskau nach Stalins Tod und nach Lateinamerika auf dem Höhepunkt der revolutionären Bewegungen. Hobsbawm erzählte mir an diesem Nachmittag von einem Erlebnis mit US-Studenten in den 1980er Jahren. Als er ihnen erzählte, dass er am Tag der Machtergreifung Hitlers in Berlin gelebt habe, sei das für sie so gewesen, als hätte er erzählt, er habe am ersten Kreuzzug teilgenommen. Beide Episoden lägen sehr weit zurück, erklärte er und betonte, dass die alten Mechanismen, die die Generationen miteinander verbunden haben, zerbrochen seien.
Erinnern an die Verschwundenen: Sprechen wir noch dieselbe Sprache? Dann wies Hobsbawm darauf hin, dass in mehreren europäischen Ländern ein völliges Schweigen über die Erfahrung der Weltkriege herrsche. Dagegen werde die gemeinsame Erfahrung des Zweiten Weltkriegs in England oder in Russland durch öffentliche Erinnerungen, durch Erzählungen und durch Fernsehsendungen kontinuierlich am Leben erhalten. In Deutschland und Frankreich sei dies jedoch nicht der Fall. „Im ersten Fall gab es eine ganze Generation, die nicht über die Ereignisse des Krieges sprechen konnte oder wollte. Dasselbe gilt für Frankreich, das nach dem Krieg auf der Grundlage eines Mythos rekonstruiert wurde, dem Mythos des Widerstands aller Franzosen gegen die Deutschen, den es aber tatsächlich so nicht gab. Deshalb war es fast dreißig Jahre lang nicht möglich, über einen großen Teil der Vergangenheit zu sprechen“, erklärte der Historiker. Hobsbawm kam zu dem Schluss, dass die Welt eine andere geworden war: Die Bedeutung der Wörter war – obwohl laut Wörterbuch noch dieselbe Sprache gesprochen wurde – für jemanden, der in den 1980er Jahren auf die Welt gekommen war, eine andere als für jemanden, der in den 1950er Jahren geboren wurde. Jetzt frage ich mich, in welcher Kategorie sich Chile heute, 50 Jahre nach dem Putsch, befindet, wenn Leugnungsdiskurse an allen Fronten wuchern, während an einem verregneten Samstagmorgen Ende Juli 2023 die 119 Männer und Frauen, die die Diktatur 1975 in der sogenannten Operation Colombo verschwinden ließ, in einem beispiellosen und herzzerreißenden Marsch durch die Hauptstraßen der Innenstadt Santiagos „wiederauferstehen“. In Holz nachgebildet und von ihren Verwandten umarmt, wurden diese 1,80 Meter großen Figuren vom Museum der Erinnerung und der Menschenrechte zum Museum der Schönen Künste getragen, in einer Reise der Gerechtigkeit und des Gedenkens. Die großen Medien, einschließlich des Fernsehens, berichteten nicht über dieses symbolträchtige Ereignis, und machten so – wie es die Diktatur vor 48 Jahren getan hatte – die Opfer unsichtbar. Es heißt, der 11. September sei ein nebliger Tag gewesen, aber das kann ich nicht bestätigen. Ich weiß auch nicht, was mit dem Bauernmädchen geschah, dessen wütendes Gesicht an jenem Dienstag in den Kiosken hing, und was
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Chile: Die Stille der Erinnerung 107 geschah, nachdem der Trupp die Wohnung in der Straße Villavicencio verlassen hatte. Ich weiß nicht, ob wir am Ende die Suppe gegessen haben, oder ob wir irgendwann in dieser langen Nacht, als die Schüsse fielen, geschlafen, geweint oder geredet haben. Ich habe keine Erinnerungen, nur das Gefühl, etwas Komplexerem gegenübergestanden zu haben als der erschütternden Vision des Todes. Dieser Offizier, an dessen Gesicht ich mich nicht mehr erinnere, hat uns vielleicht glauben lassen, dass noch nicht alles verloren sei. Ich weiß es nicht. Der 11. endete für mich mit dem Zuschlagen der Tür, durch die die Uniformierten die Wohnung verlassen hatten. Als die letzten gingen, veranlasste mich ein unwiderstehlicher Impuls, eine Frage zu stellen, eine „déformation professionelle“, aber im Nachhinein eine unverzeiliche Entgleisung: „Wie ist die Lage draußen, was passiert, gibt es viele Tote”, fragte ich einen Unteroffizier, der stehen blieb, zögerte und etwas Vages antwortete, das ebenso absurd war wie meine überraschende Frage: „Mehr oder weniger schlecht, schalten Sie das Radio ein!” Nachdem die Tür schließlich zugeschlagen wurde, war der erste, der das Schweigen brach, der Journalist José Cayuela, ein langjähriger Freund von mir, der mich in seiner Rolle als Chefredakteur zurechtwies ob meines lächerlichen und unangemessenen Rechercheimpulses. Ich habe keine weiteren Bilder von diesem Tag in meinem Gedächtnis. Seltsam sind die Fallstricke der Erinnerung. Dann erinnere ich mich wieder, wie wir das Gebäude verließen, als die Ausgangssperre für ein paar Stunden aufgehoben wurde. Schon in Marta Harneckers kleinem Citroen 2CV wurden wir beide von einem jungen bewaffneten Wehrpflichtigen angehalten, der zaghaft auf uns zeigte, ohne zu wissen, wie er das kleine, mit Papieren und Zeitschriften vollgestopfte Fahrzeug und zwei Frauen, die ihn mit Fragen und Lächeln bedrängten, durchsuchen sollte. Als wir eine der Alleen am Rande des Parque Forestal hinauffuhren und den verwirrten Jungen zurückließen, brachen wir in Gelächter aus. Der Tag war hell und die Bergkette der Anden leuchtete. Im September ist Santiago so, hell und warm. Selbst an Tagen, an denen der Tod in der Nähe ist. Eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Mori mit dem Titel „Chile im Schatten Pinochets“, die im vergangenen Mai veröffentlicht wurde, bestätigte das Klima, das schon in den Medien und den sozialen Netzwerken in Bezug auf das Gedenken an den 50. Jahrestag des Staatsstreichs zu spüren war. Die ausführliche Befragung kam zu dem Ergebnis, dass 36 Prozent der Bevölkerung – 20 Prozentpunkte mehr als vor zehn Jahren – glauben, dass die Streitkräfte „zu Recht“ geputscht hätten, während 41 Prozent der Meinung sind, dass „es nie einen Grund gibt, einen Staatsstreich durchzuführen“, was 27 Prozentpunkte weniger sind als bei der gleichen Umfrage im Jahr 2013, als 68 Prozent dieser Meinung waren. Nach Ansicht der Direktorin von Mori, Marta Lagos, hat die Studie gezeigt, „dass es im Westen keinen anderen Diktator gibt, der den Lauf der Zeit so gut überstanden hat wie Augusto Pinochet, der 50 Jahre nach dem Putsch sogar wieder an Ansehen gewonnen hat“.
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Diese Studie wie auch der jüngste Vorschlag einer Gruppe von Verfassungsräten – Mitglieder eines neuen Verfassungsrates, in dem Vertreter der Rechten die Mehrheit haben –, dass Verurteilte über 75 Jahre ihre Strafe unter Hausarrest verbüßen können, was bedeuten würde, dass beispielsweise 145 Personen davon profitieren würden, die wegen Menschenrechtsverletzungen im Gefängnis sitzen, die sie während der Diktatur begangen haben, veranlasst uns nicht nur uns zu fragen, welche Art von Politik und Gesellschaft da seit 1990 entstanden sind.
Pinochet gewinnt an Ansehen: Das Jahrhundert der Verleugnung? Es stellt sich auch die Frage, welche Rolle die Presse spielt angesichts dieser Umfrage und von Hassreden und Verleugnungsdiskursen, die beständig zunehmen und unwidersprochen in den Medien kursieren, als ob der Journalismus nichts mit der ethischen Verpflichtung zu tun hätte, die Menschenrechte und die Demokratie zu verteidigen. Es ist daher kein Zufall, dass in Chile der 50. Jahrestag des Staatsstreichs einhergeht mit der zunehmenden Leugnung der Verbrechen der Diktatur und mit Angriffen auf Gedenkstätten. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte stellt dazu in ihrem Bericht zur Lage der Menschenrechte in Chile 2022 fest, dass die Zunahme des Negationismus Hand in Hand geht mit der Schändung von Orten der Erinnerung: „In den letzten drei Jahren hat die Kommission eine Zunahme der Angriffe auf Gedenkstätten festgestellt. Öffentlichen Informationen zufolge wurden in vielen dieser Fälle Mahnmale und Gedenktafeln, die an die Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen der Diktatur erinnern, teilweise zerstört oder mit Botschaften beschmiert, die die Opfer beleidigen, die Verbrechen leugnen oder Hass verbreiten. Darüber hinaus gab es Berichte über Einbrüche auf das Gelände der Gedenkorte und über Handlungen, die sowohl die Unversehrtheit der Gedenkstätten als auch der Beweismittel oder der sterblichen Überreste der Opfer, die auf dem Gelände vermutet wurden, beeinträchtigt oder gefährdet haben.“ Hobsbawm nannte das 20. Jahrhundert aufgrund der vielfältigen Gewalttaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit „das Jahrhundert der Extreme“. Im 21. Jahrhundert wird versucht, diese Gewalttaten und Verbrechen zu vergessen oder zu leugnen. Aus diesem Grund haben einige Historiker es als „das Jahrhundert der Verleugnung und Straflosigkeit“ bezeichnet. So bleibt ein halbes Jahrhundert nach dem Militärputsch, bei dem ein demokratisch gewählter Präsident gestürzt, der Regierungspalast bombardiert und Zehntausende Menschen massakriert wurden, Hobsbawms Frage offen, ob Chile zu den Ländern gehört, die ihre Vergangenheit verschweigen – oder ob das „öffentliche Gedächtnis“, von dem der Historiker sprach, über das Leugnen, das Vergessen und das Weglassen siegen wird. Die Übersetzung aus dem Spanischen stammt von Ferdinand Muggenthaler.
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40 Jahre »Schwerter zu Pflugscharen« Wie die DDR-Friedensbewegung die Welt veränderte Von Bettina Röder
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ie Bilder gingen um die Welt; und wer dabei war, wird die Nacht vom 24. auf den 25. September 1983 nicht vergessen. Friedrich Kramer, damals 18 Jahre alt, heute Landesbischof der mitteldeutschen Kirche und Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), erinnert sich, wie der junge Kunstschmied Stefan Nau im Schein des Feuers an diesem eher kühlen Septembertag ein Schwert zu einer Pflugschar umschmiedete: „Es war eine sehr geheimnisvolle, aufgeladenen Atmosphäre, wir haben dazu gesungen und Friedenstexte der Propheten Micha und Jesaja gelesen.“ Friedrich Kramer war damals Abiturient, einer von 2000 jungen Menschen. Dicht gedrängt saßen oder standen sie auf dem Lutherhof in Wittenberg. Mit seiner damaligen Freundin hatte er sich auf dem Boden in der ersten Reihe niedergelassen – nur wenige Meter vom Amboss entfernt. „Als der Schmied die Pflugschar hochgehoben hat, haben alle gejubelt und geklatscht. Es war wie eine Abendmeditation und doch hatte sie einen hohen symbolischen Wert“, erinnert er sich. Auch Uta Schorlemmer war dabei. Die Schmiedeaktion erlebte sie als 13jährige. Am Abend auf dem Lutherhof habe sie ein „großes Gefühl des Aufgehobenseins in einer Gemeinschaft gegen die Kriegsangst“ empfunden, sagt sie rückblickend. Keiner wusste vor dieser Nacht, was ihn erwarten würde. Ganz im Geheimen, um Störungen durch die Staatssicherheit oder gar ein Verbot durch die SED zu verhindern, war sie von dem damals 39jährigen Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer und einer kleinen Friedensgruppe vorbereitet worden. Doch die Bilder der Nacht verbreiteten sich schnell über die Westmedien auch in die DDR hinein. Sie haben unzählige Menschen – auch die, die nicht dabei waren, – ermutigt, nun erst recht für eine Welt ohne Waffen zu streiten. Vorausgegangen war eine für manchen Jugendlichen in der DDR existenzbedrohende Auseinandersetzung um das Zeichen „Schwerter zu Pflugscharen“. Die SED hatte ihm den Kampf angesagt und meinte es sehr ernst damit. Nach dem Willen der DDR-Führung sollte das Zeichen gänzlich aus der Öffentlichkeit verschwinden. Friedrich Schorlemmer hatte dagegen die Parole ausgegeben: „Wenn man das Zeichen nicht mehr zeigen kann, wol-
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110 Bettina Röder len wir zeigen, wie man‘s macht!“ Aus der Forderung nach nichtmilitärischer Konfliktlösung wurde bald der Ruf „Keine Gewalt“, der in den Oktobernächten der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 der SED-Herrschaft ein Ende setzte. Die Wittenberger Nacht war ein Meilenstein auf dem Weg dorthin. Als „nächtliche Hammerschläge unter Luthers Wohnstube“ hat Friedrich Schorlemmer diese Aktion einmal bezeichnet. Sie war Teil des evangelischen Kirchentages 1983, bei dem es im Jahr des 500. Reformationsjubiläums Veranstaltungen in sieben Städten der DDR gegeben hat. Im Feuerschein hatten die jungen Leute gesungen: „Ein jeder braucht sein Brot, sein Wein und Frieden ohne Furcht soll sein. Pflugscharen schmelzt aus Gewehren und Kanonen, dass wir in Frieden beisammen wohnen.“ Und Friedrich Schorlemmer, damals Dozent am Predigerseminar in der Lutherstadt, hatte wie immer rhetorisch einfach und zugleich verblüffend erklärt: „Wir hoffen aber, dass man eines Tages sagen kann: Wir haben den Krieg verloren und können ihn nicht wiederfinden. Wir haben den Frieden gewonnen und wollen ihn nicht verlieren.“ 15 000 Menschen nahmen allein in Wittenberg teil, 200 000 an allen sieben Kirchentagen, unter ihnen auch zahlreiche Besucher aus dem Westen. Doch nicht nur die Zahlen, sondern vor allem die Inhalte machten die Treffen zu wichtigen Stationen der Friedensbewegung – auch und gerade, weil sich die zumeist jungen Leute nicht primär in Opposition zur DDR-Führung engagierten, sondern ihr Engagement von der großen Sorge um den Weltfrieden getragen war in diesem so entscheidenden Jahr.
1983 als das Jahr einer Vorentscheidung in Ost und West 1983 war das Jahr der Hochrüstung zwischen Ost und West. Die einschlägigen Proteste dagegen im Westen kann man problemlos in den Chroniken der deutschen Geschichte finden. Die aus dem Osten weniger. Da ist von der maroden DDR-Wirtschaft die Rede und davon, dass die meisten die Hoffnung auf Veränderung aufgegeben hatten. Die Kirchentage im Lutherjahr, bei denen der größte Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter 30 Jahren alt war, bezeugen jedoch, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Schon der Disputationsgottesdienst am Vorabend der Schmiedeaktion in der Wittenberger Schlosskirche, an die Martin Luther 1517 seine 95 Thesen angeschlagen hatte, ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Neben Luthers Grab war eine Tür aufgestellt, an die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre aktuellen Thesen anschlagen sollten – zu den „Spannungen in dieser Kirche – in unserer Welt – in uns selbst“, wie es hieß. Bei der Begrüßung hatte Friedrich Schorlemmer angesichts der anwesenden Stasi-Leute erklärt: „Spitzt die Ohren und lasst euch nicht beeindrucken von spitzen Ohren.“1 Und: „Wetzt die Worte, nicht die Messer, Scharfsinn tötet nicht.“2 Doch es ging ihm nicht nur um Worte, sondern auch um jene Spiritualität, die 1 Hektographierte Textvorlage für den Disputationsgottesdienst in der Schlosskirche von Wittenberg am 23.9.1983, S. 1 (Archiv Röder). 2 A.a.O.
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40 Jahre »Schwerter zu Pflugscharen« 111 bis in den Herbst 1989 hinein die Stärke der kirchlichen Friedensbewegung ausgemacht hat: „Die Spannungen lösen sich wieder im Stille sein, ganz Stille sein – im Singen – im Teilen – im Beten.“3 Und in den „Thesen“ hieß es dann: „Wir stehen heute vor einer Krise des Lebens selbst. Die Sintflut ist herstellbar geworden – als tausendfacher Blitz, als milliardenfaches Verhungern, als schleichende Vergiftung. Wer glaubt, so weiter leben zu können wie bisher, beteiligt sich am Untergang.“4 40 Jahre später könnte die Aktualität dieser Sätze kaum größer sein! Noch fünf Jahre zuvor hatte bei dem Spitzengespräch zwischen Staat und Kirche am 6. März 1978 kein Geringerer als Staats- und Parteichef Erich Honecker der Leitung des DDR-Kirchenbundes die Zusage gegeben, die kirchlichen Vorhaben zum Luthergedenken von staatlicher Seite zu unterstützen. Was immer er sich davon versprach, die Auswirkungen hat er wohl kaum vorhergesehen. Denn schon ein Jahr danach kam es in den Kirchen zu ersten öffentlichen Protesten gegen die zunehmende Militarisierung der DDR-Gesellschaft – etwa durch die Einführung von Wehrlagern für Studierende und Lehrlinge oder den Wehrunterricht an den allgemeinbildenden Schulen. Doch auch der beängstigende Rüstungswettlauf der im Kalten Krieg stehenden Militärsysteme und die Angst vor einem Atomschlag machten vor allem jungen Menschen zu schaffen, in Ost und West. Die kirchliche Jugendarbeit reagierte mit dem Vorschlag, alle Jahre im Herbst zu einer „Friedensdekade“ einzuladen. Gemeinsames Motto dieser Dekaden in den 1980er Jahren war „Schwerter zu Pflugscharen“. Die Vision aus dem biblischen Buch Micha hatte ja schon in den 1950er Jahren den Anstoß für eine überlebensgroße Skulptur gegeben, die die Sowjetunion den Vereinten Nationen geschenkt hatte und die seither vor deren New Yorker Hauptquartier steht. Was also lag näher, als dies zum Motto des Friedensengagements der jungen Leute in der DDR zu machen. Die Reaktion der SED ließ nicht lange auf sich warten: 1982 verbot sie das Motto und den inzwischen weit verbreiteten Friedensaufnäher mit der Begründung, der Friede müsse nun einmal bewaffnet sein angesichts westlicher Bedrohungen. Die Bundessynode, das Kirchenparlament aller evangelischen Kirchen in der DDR, reagierte umgehend und erklärte, auf das Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ nicht verzichten zu können. Und einzelne Bischöfe wie Heinrich Rathke (Schwerin) und Gottfried Forck (Berlin) trugen den runden Aufkleber aus Solidarität mit den jungen Leuten auf ihren Aktentaschen – auch bei Gesprächen mit Staatsvertretern. Dennoch einigten sich die Kirchen „um des Friedens willen“ auf einen Modus Vivendi mit den Behörden: Das Zeichen sollte im innerkirchlichen Bereich als Logo der Friedensdekade erlaubt sein, aber nicht mehr öffentlich getragen werden. Derweil hatten viele junge Leute bereits erfahren, wie der SED-Staat mit seinen Sicherheitskräften, aber auch über die Schulen und Betriebe versucht hatte, den Aufnäher aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. 3 A.a.O. 4 Hektographierte Thesen zum Disputationsgottesdienst am 23.9.1983 in der Schlosskirche von Wittenberg (Archiv Röder).
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112 Bettina Röder Das ging so weit, dass Schüler oder Schülerinnen, die den Aufnäher trugen, zum Direktor ihrer Schule zitiert wurden, um ihnen den Verweis von der Schule anzudrohen, wenn sie den Aufnäher nicht entfernten. Andere erlebten, dass ihnen die Polizei auf offener Straße den Aufnäher mit einer Schere aus dem Jackenärmel schnitt. Viele der jungen Menschen reagierten dennoch friedlich und gewaltlos. Bei einem Friedensseminar im sächsischen Meißen schenkten sie den Polizisten, die zuvor ähnlich brutal gegen Träger des Aufnähers vorgegangen waren, sogar Blumen als Zeichen ihrer Friedfertigkeit. Im Laufe der 1980er Jahre gab es etliche solcher Friedensseminare, zu denen in der Regel zwei Mal im Jahr eingeladen wurde, um sich an einem Wochenende konzentriert über aktuelle Fragen auszutauschen. Dabei ging es nicht nur um Hochrüstung in Ost und West und um die Vision einer Welt ohne Waffen, sondern häufig auch um die Frage, was jeder Einzelne zum Frieden beitragen kann. Das erste dieser Wochenendseminare fand 1973 im sächsischen Königswalde statt. Als Initiator gilt der Autoelektriker und Wehrdienstverweigerer Hansjörg Weigel, der erklärte: „Frieden muss man schmecken können.“ Darum wurden kurzerhand in der schmucken Dorfkirche von Königswalde die Kirchenbänke ausgebaut und durch lange, weiß gedeckte Tische mit bunten Blumen ersetzt, an denen nicht nur diskutiert, sondern auch gemeinsam gegessen und gefeiert wurde. Auch hier war das vermeintlich Private also durchaus politisch. Kamen anfangs zu den Treffen nur einige Dutzend Teilnehmer und Teilnehmerinnen, so waren es 1983 schon rund 500. Ähnlich waren die Erfahrungen auch bei den Friedensdekaden. „Frieden schaffen aus der Kraft der Schwachen“ war das Motto der ersten Dekade im Herbst 1981. Mit anderen Worten: Nicht aus Stärke und durch große Zahlen entstehen Veränderungen, sie beginnen oft im Kleinen. Und so war es denn auch bei den DDR-weiten Treffen der kirchlichen Basisgruppen „Frieden konkret“. Sie dienten neben dem thematischen Austausch ganz wesentlich auch der Vernetzung der Gruppen. Da alljährlich eine andere der acht evangelischen Landeskirchen dazu einlud, traf man sich mal in Eisenach, mal in Greifswald, Leipzig oder Cottbus. Aber stets ging es dabei um Friedens- und Menschenrechtsfragen und um gemeinsame Vorhaben und Aktionen, beispielsweise um Kontakte zur Carta 77 in der Cˇ SSR oder zur Solidarnoc´z´ -Bewegung in Polen. Ohne diesen Vorlauf ist das Umschmieden des Schwertes in Wittenberg kaum zu verstehen. So war bereits über ein Jahr zuvor, am 13. Februar 1982, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um das Zeichen „Schwerter zu Pflugscharen“, die Dresdner Kreuzkirche zum Bersten voll. Und keiner der 5000 dort wusste, ob er unversehrt wieder nach Hause kommen würde. Viele der jungen Leute waren extra zu dem Abend aus allen Teilen der DDR angereist. Dass dennoch alles friedlich ablief, obwohl im Anschluss an das mehrstündige Friedensforum sogar Hunderte junger Menschen mit Kerzen vom Altmarkt zur Ruine der Frauenkirche auf den Neumarkt zogen und dort das alte Friedenslied „Dona nobis pacem“ anstimmten, ohne dass die allgegenwärtige Staatssicherheit eingriff – das empfanden viele damals als ein kleines Wunder. Gut ein Vierteljahr zuvor, am 10. Oktober 1981, waren im Bonner Hofgarten
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40 Jahre »Schwerter zu Pflugscharen« 113 300 000 Friedensbewegte zusammengekommen, um gegen das Wettrüsten zwischen Ost und West und gegen die Stationierung weiterer Mittelstreckenraketen in Europa zu demonstrieren. Was aber waren die Dresdner 5000 dagegen? Sehr viel, denn sie hatten mit der Teilnahme an diesem Friedenstreffen ein Stück Existenz und Freiheit aufs Spiel gesetzt. „Es war einer der Tage, an dem ich die größte Angst in meinem Leben hatte“, sagt Harald Bretschneider, der damalige sächsische Landesjugendpfarrer. „Die Bereitschaftspolizisten saßen im Dresdner Verkehrsmuseum. Wasserwerfer standen unter der Carolabrücke der Elbestadt. 5000 DDR-Sicherheitskräfte waren im Einsatz.“5
Der Kampf der DDR-Regierung gegen die eigene Jugend Vorangegangen war die Flugblattaktion einer kleinen Gruppe junger Leute. Sie hatten dazu aufgerufen, am 37. Jahrestag der Zerstörung Dresdens zur Ruine der Frauenkirche zu kommen, um dort gegen Krieg und Aufrüstung zu mahnen. Die Stasi durchkämmte daraufhin die Schulen, nahm junge Leute fest, um sie zu verhören. Harald Bretschneider, der zu den geistigen Vätern des Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“ gehört, wollte vermitteln und regte an, die jungen Menschen zu einem Friedensforum in die Kreuzkirche einzuladen. Dort sollten sie ihr Anliegen offen zur Sprache bringen. Doch der SED-Führung und ihrer Staatssicherheit passte auch dieser Vorschlag nicht ins Konzept. Woraufhin Landesbischof Johannes Hempel auf ein Gespräch mit dem damaligen Dresdner SED-Bezirkschef Hans Modrow drängte, um ihm die kirchlichen Pläne zu erläutern, ohne die jungen Menschen preiszugeben. Anfang Januar 1982 kam das Gespräch zustande, es war ein Deal ohne Netz und doppelten Boden. Der Landesbischof versicherte, dass die jungen Leute friedlich bleiben würden. Und Modrow erklärte, dass dann die Polizei auch nicht eingreifen würde. Immerhin hat er Wort gehalten. Das Leitwort der Friedensdekade 1982 „Frieden schaffen ohne Waffen“ verstehe er als ein symbolisches Alarmschlagen, sagte Bischof Hempel zu den 5000 jungen Menschen in der Kreuzkirche. Denn es mache klar, Waffen hinterließen keine Sieger. Genau das war die Botschaft des Abends. Die Jugendlichen hatten ihren Protest gegen das Wettrüsten in Ost und West zur Sprache gebracht, ihre Angst vor einem Atomkrieg, die Militarisierung im eigenen Land, die Propagierung der ewigen Feindbilder in Ost und West. Doch die Rechnung der SED-Führung, den Protest so zu befrieden, ging nicht auf. Mit dem 13. Februar 1982 hatte sich nichts erledigt, im Gegenteil: Der friedliche Protest war von da an nicht mehr zu ersticken. Auch nicht vor der Ruine der Frauenkirche, vor der alljährlich am 13. Februar die Jugendlichen Kerzen aufstellten, Blumen niederlegten und „Dona nobis pacem“ sangen6 – allen Versuchen der SED zum Trotz, deren Protest zu ersticken, sei es mit Sprechchören und Aktionen der SED-Jugendorganisation FDJ oder mit staatlich verordneten „Friedenskundgebungen“ vor der Ruine. Und vier 5 Harald Bretschneider, zit. nach „Der Sonntag“, 13.2.2022. 6 Die Treffen vor der Frauenkirche setzen sich fort bis zu deren Wiederaufbau.
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114 Bettina Röder Jahre nach dem denkwürdigen Friedensforum startete der damalige Dresdner Superintendent Christof Ziemer mit dem Dresdner Stadtökumenekreis eine Initiative, die 1988 zur ersten von drei Ökumenischen Versammlungen führte, die wiederum das Land wie kaum ein anderer Prozess verändern und im Herbst 1989 zur Friedlichen Revolution führen sollten. Auch die Synode des DDR-Kirchenbundes bekam sehr schnell die Ausstrahlung zu spüren, die von der Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ ausging. Nur wenige Monate nach dem Dresdner Friedensforum, im September 1982, setzten die Synodalen das Friedensthema auf ihre Tagesordnung. Sie erklärten zum Abschluss ihrer Beratungen unter Federführung von Friedrich Schorlemmer sowie Renate und Reinhard Höppner, dem späteren sachsen-anhaltischen Ministerpräsidenten, eine „Absage an Geist und Logik der Abschreckung“, die fünf Jahre später in Görlitz zur „Absage an Geist, Logik und Praxis“ erweitert wurde. In der Görlitzer Erklärung, die den Titel „Bekennen in der Friedensfrage“ trug, heißt es: „Wer heute als Christ das Wagnis eingeht, in einer Armee Dienst mit der Waffe zu tun, muss bedenken, ob und wie er damit der Verringerung und Verhinderung der Gewalt oder dem Aufbau einer internationalen Ordnung des Friedens und der Gerechtigkeit dient.“ Und weiter: „Die Kirche sieht in der Entscheidung von Christen, den Waffendienst überhaupt zu verweigern, einen Ausdruck des Glaubensgehorsams, der auf den Weg des Friedens führt.“7 Wesentliche Vorarbeiten zu diesem Diskussionsprozess hatte der katholische Theologe Joachim Garstecki geleistet, der beim evangelischen Kirchenbund als Referent für Friedensfragen tätig war. Doch nach dem Fall der Mauer musste er zur Kenntnis nehmen, dass man ihn in der gesamtdeutschen EKD schlicht nicht haben wollte: Die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg fülle ja all das bereits aus, was man für Friedensfragen brauche, hieß es. Was für eine fatale Fehleinschätzung! Friedrich Schorlemmer hat denn auch wiederholt kritisiert, dass schon die Friedensdenkschrift der EKD aus dem Jahr 1996 – „Kirche des gerechten Friedens werden“ – überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat, was die Kirchen in der DDR vorgedacht und gelebt haben. Das gilt nicht zuletzt auch für die drei „Ökumenischen Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“, zu denen die Kirchen in der DDR 1988/89 einluden. Denn die im April 1989 verabschiedeten Texte zu der Trias Gerechtigkeit, Frieden und Umweltbewahrung enthielten im wahrsten Sinne des Wortes revolutionäre Sprengkraft. Zum ersten Mal seit der Reformation hatten sich dazu alle christlichen Kirchen und Gemeinschaften in der DDR auf gemeinsame Positionen verständigt und diese in zwölf Beschlusstexte gefasst. Als eine „Sternstunde für das Haus der Zukunft, nicht fürs Erinnerungsalbum“, hat der Erfurter Propst Heino Falcke diese Texte einmal bezeichnet. Sie gingen nicht „nur“ in die Programme der im Herbst 1989 neu gegründeten Reformgruppen und Parteien ein; sie sind vielmehr hochaktuell. Auch weil vieles bis heute nicht eingelöst ist: das Leben in Solidarität mit 7 Beschluss der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR vom 18. bis 22. September 1987 in Görlitz.
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40 Jahre »Schwerter zu Pflugscharen« 115 den Armen in der Welt und mit Ausländern in Deutschland, Gerechtigkeit im Land und politische Friedenssicherung bei uns und weltweit.
Gelebte Ökumene: Keine Hierarchien von oben und unten „Es war produktiv, weil es keine Hierarchien von oben und unten gab. Wer gut war, war oben“, hat Friedrich Schorlemmer einmal über die Ökumenischen Versammlungen gesagt, bei denen er als Berater dabei war.8 Die Krankenschwester habe neben dem Bischof, der Arzt neben dem Kraftfahrer gesessen. Was für eine Botschaft in unserer heutigen Zeit, wo gerade dieser Gegensatz von den vermeintlich oben und unten Stehenden die Gesellschaft spaltet, den gesellschaftlichen Frieden gefährdet. Die Menschen im Land waren bei den Versammlungen aufgerufen, sich durch Vorschläge zu beteiligen. Weit über 10 000 Zuschriften flossen in die Beratungen ein. Der 1983 vom Weltkirchenrat auf Initiative von DDR-Vertretern angestoßene „konziliare Prozess“ sollte im Land verortet, konkrete Forderungen sollten beraten werden. Die Kirche organisierte einen demokratischen Entscheidungsprozess. Der Dreiklang „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ wurde zu einem Denk- und Handlungsimpuls. Am 30. April 1989 wurden die Ergebnisse in der Dresdner Kreuzkirche präsentiert – vieles davon steht weiterhin auf der Tagesordnung. Die massive Kritik der SED an all dem blieb nicht aus. Doch wirklich aufhalten konnte sie nichts mehr – nicht zuletzt dank des seit 1985 amtierenden sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow. Auf seine Forderung nach Glasnost und Perestroika beriefen sich immer mehr Menschen. Und sie wurden umso mutiger, je mehr Unzufriedene das Land gen Westen verließen. Die Ereignisse der auf den April 1989 folgenden Wochen und Monate überschlugen sich dann förmlich. Bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 wurden die öffentlichen Auszählungen erstmals von Mitgliedern kirchlicher und unabhängiger Basisgruppen beobachtet. Einen Monat später, am 7. Juni, gingen in Berlin junge Menschen auf die Straße, um gegen den Wahlbetrug zu protestieren – und setzten dies an jedem 7. der folgenden Monate fort. Gleichzeitig hielt die Welt den Atem an, angesichts der Ereignisse in China, die am 3. und 4. Juni 1989 auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking ein so blutiges Ende fanden. Die friedensbewegten Gruppen in den Kirchen riefen daraufhin zu Solidaritätsveranstaltungen auf, luden zum Trommelfasten in Berliner Kirchen ein. Und immer war auch das Zeichen „Schwerter zu Pflugscharen“ dabei. Und sie ließen sich auch nicht einschüchtern, als der für Sicherheitsfragen zuständige Sekretär im SED-Politbüro, Egon Krenz, ankündigte, dass die SED ähnlich wie die Genossen in China verfahren werde, wenn sie nicht endlich Ruhe geben würden. Dieser Mut war es auch, der die Besonderheit des 9. Oktober 1989 in Leipzig ausmacht, als 70 000 friedlich auf dem Ring der Messestadt mit dem Ruf 8 Friedrich Schorlemmer im Gespräch mit der Autorin 2022.
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116 Bettina Röder „Keine Gewalt“ demonstrierten. In gut 100 Städten der DDR gab es damals Demonstrationen, und alle schauten gebannt nach Leipzig, weil keiner wusste, ob Krenz seine Drohung wahr machen und auf Demonstranten schießen lassen würde. Es war ein Kairos, ein glücklicher Moment im Zusammenspiel vieler Faktoren, dass dieser alles entscheidende Tag ohne Blutvergießen endete. Auf dem Weg dahin, wie schließlich auch zum 9. November 1989, dem Fall der Mauer, spielten die Politik Gorbatschows sowie die Entspannungspolitik von Willi Brandt eine wichtige Rolle – aber auch die evangelischen Kirchen in der DDR, die theologisch weit vor 1989 Gewaltfreiheit vorgedacht und mit einer eigenen Friedenstheologie begründet haben. Und es waren nicht nur mutige Menschen, die unter dem Schutzdach der Kirche zu gemeinsamem Engagement zusammenkamen, sondern zugleich solche, die ihr politisches Engagement aus ihrem Glauben, aus dem Evangelium herleiteten. Auch Schorlemmers Freund Christian Führer, der viel zu früh verstorbene Leipziger Nikolaikirchenpfarrer, gehörte dazu. Beide veröffentlichten 2003 einen Aufruf, in dem sie für einen neuen Tag des nationalen Gedenkens plädierten: für den 9. Oktober mit der alles entscheidenden Montagsdemonstration in Leipzig. Den legten sie in der Nikolaikirche aus und binnen kurzer Zeit hatten mehr als 10 000 Menschen aus Ost und West ihre Unterschrift darunter gesetzt. Darin hieß es unter anderem: „Der Tag der Einheit wird vom Volk nicht abgelehnt, aber auch nicht angenommen. Ein solcher Tag braucht eine Tat, an die sich etwas hängt – politisch und emotional – was feierwürdig ist, was Erinnerung an Vergangenes wachruft und für Künftiges von Bedeutung ist.“9 „Steh auf, misch dich ein, Du kannst die Welt verändern, sie friedlicher und demokratischer machen, wenn Du es gewaltlos tust.“ Dieser Botschaft vom Herbst 1989 hat sich die „Stiftung Friedliche Revolution“ verpflichtet. 2009 wurde sie von Menschen aus Ost und West in Leipzig gegründet – mit dem Ziel, sich im Geist der Friedlichen Revolution auch heute einzumischen und kommende Generationen dazu zu ermuntern. Friedrich Schorlemmer gehört seit ihrer Gründung dem Stiftungskuratorium an. Am 10. Oktober des Jahres 1993 erhielt er in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In der Begründung heißt es: Er habe „durch sein Beispiel seine Mitmenschen in der Hoffnung bestärkt, dass auch weiches Wasser den Stein bricht“. Die Laudatio hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der sich dabei auch an jene denkwürdige Nacht des 24. September 1983 in Wittenberg erinnerte. Er war damals einer der vielen West-Gäste auf dem Kirchentag. Auch ihm sei unvergessen, wie „unter den Augen der Stasi – mit ihren Infrarotfilmen dokumentiert – das Schwert zur Pflugschar umgeschmiedet“ wurde. Eine Aktion „ohne Gewissheit auf Erfolg, ohne konkrete Perspektive auf Wirkung“, sagte er in seiner Rede. „Sie war eine Aussaat ohne Kenntnis, wann und wie es zur Ernte kommen werde, aber in der Zuversicht darauf.“ Und er fragt: „Haben wir denn jetzt schon geerntet? Oder liegt die wahre Ernte noch vor uns?“ Angesichts einer friedlosen Welt steht die Antwort auf diese so drängende Frage immer noch aus. 9 Christian Führer und Friedrich Schorlemmer, Der falsche Feiertag, zit. nach „Publik-Forum“, Dossier September 2003, S. 2.
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Ein blasser Regenbogen Das uneingelöste Versprechen vom queerpolitischen Aufbruch Von Inga Hofmann
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s war das Versprechen an queere Menschen in Deutschland: Als die Ampelparteien im Oktober 2021 ihren Koalitionsvertrag unterzeichneten, war von einem „queerpolitischen Aufbruch“ die Rede. Zwei rechtliche Reformen sollten diesem den Weg bereiten: Zum einen wollte die Ampel das diskriminierende Abstammungsrecht endlich zugunsten queerer Elternpaare reformieren und zum anderen das grundrechtswidrige „Transsexuellengesetz“1 durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen. Doch knapp zwei Jahre später, nach der Hälfte der rot-grün-gelben Legislaturperiode, hat sich nur wenig getan. Ein Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz liegt zwar mittlerweile auf dem Tisch, bleibt allerdings umkämpft und enttäuscht die hohen Erwartungen von queeren Verbänden und Aktivist:innen. Die Reform des Abstammungsrechts wird derweil verschleppt, obwohl sich mehrere Klagen betroffener Familien beim Bundesverfassungsgericht stauen und der Druck auf eine politische Lösung damit steigt.2 Solange aber queerpolitische Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag nicht angegangen werden, widerspricht die aktuelle Rechtslage Grundrechten auf Selbstbestimmung und Gleichberechtigung. Lea Beckmann bezeichnet das noch immer geltende „Transsexuellengesetz“ und das Abstammungsrecht als „die größten legislativen Menschenrechtsprobleme für queere Menschen in Deutschland“. Die Juristin unterstützt gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) queere Elternpaare, die gegen das Abstammungsrecht vor Gericht ziehen. Das Transsexuellengesetz verhindert seit nunmehr 40 Jahren, dass trans, nicht-binäre und intergeschlechtliche Personen ein selbstbestimmtes Leben führen können: Allein um den Geschlechtseintrag und den Vornamen im Personenstandsregister ändern zu lassen, sind derzeit zwei psychologische Gutachten und ein Amtsgerichtsentscheid nötig. Dieser Prozess ist sehr langwierig, kann mehrere tausend Euro kosten und wird von Betroffenen als entwürdigend und übergriffig beschrieben: So werden sie von ihnen unbe1 Der Begriff „transsexuell“ ist veraltet, stattdessen werden als Eigenbezeichnungen trans und transgeschlechtlich gewählt. 2 Vgl. Inga Hofmann, Mutter, Mutter, Kind: der Kampf für die Regenbogenfamilie, in: „Blätter“, 8/2021, S. 25-28.
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118 Inga Hofmann kannten Personen, auf deren Gutachten sie angewiesen sind, beispielsweise intensiv nach ihrer sexuellen Praxis befragt. Das Bundesverfassungsgericht hat Passagen des Gesetzes wiederholt für verfassungswidrig erklärt und eine Reform angemahnt. Bereits im Jahr 2008 forderte es den Gesetzgeber dazu auf, „den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen“. In einem Urteil von 2011 wies es darauf hin, dass Teile des Gesetzes gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht verstoßen und nicht mit dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit zu vereinbaren sind.3 Eine Reform hin zu einem modernen Selbstbestimmungsgesetz, das den Lebensrealitäten transgeschlechtlicher Menschen gerecht wird, ist deshalb unumgänglich. Allerdings ist es gesellschaftlich hochumstritten: So sehen Gegner:innen der Reform mit Verweis auf die schwedische Abkehr von liberalen Regelungen die Gefahr, dass sie Jugendliche die körperliche und seelische Unversehrtheit kosten könne. Dabei verweisen sie darauf, dass dort ein hoher Anstieg von Behandlungen junger Menschen in der Pubertät zu verzeichnen gewesen sei.4 Diese Kritik geht allerdings völlig am hiesigen Gesetzesvorschlag vorbei. Denn das Gesetz soll allein die Änderung des Geschlechtseintrags und des Vornamens im Personenstandsregister vereinfachen. Auf den Zugang zu geschlechtsangleichenden Operationen oder Hormonen hätte es keinen Einfluss, da diese gar nicht Teil der Reform sind. Hierfür gelten nach wie vor die einschlägigen medizinischen Richtlinien – die grundsätzlich allerdings auch einer dringenden Überarbeitung bedürfen, um vor allem jenen Jugendlichen vor der Pubertät helfen zu können, die seit früher Kindheit wissen, dass sie trans sind. Doch darum geht es im derzeit diskutierten Gesetz nicht: „Für 99 Prozent der Bevölkerung ändert sich durch eine rechtliche Vereinfachung [...] überhaupt nichts“, sagt auch die Grünen-Abgeordnete Tessa Ganserer, die selbst trans ist. Sie bezeichnet es als Unding, dass Transsein mitunter als „Modeerscheinung“ bezeichnet werde. „Die Zahl derjenigen, die sich outen, steigt. Das liegt daran, dass die Akzeptanz zunimmt.“5 Ganz anders sieht das der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Sexualmediziner Alexander Korte, der befürchtet, dass schon die erleichterte Namensänderung unnötige Operationen im Erwachsenenalter nach sich ziehen würde.6 Trans, nicht-binäre und intergeschlechtliche Menschen beschreiben es jedoch als geradezu existenziell nötig, den Personenstands- und Geschlechtseintrag niedrigschwellig ändern lassen zu können. Denn solange der sogenannte Deadname, also der abgelegte Name, auf Ausweisdokumenten vermerkt ist, stehen sie vor großen Hürden. Viele berichten von 3 Vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27.5.2008, 1 BvL 10/05 und BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 11.1.2011 – 1 BvR 3295/07, bundesverfassungsgericht.de. Vgl. auch: Kathariner Hamberger, Der schwierige Weg zu einem neuen Transsexuellenrecht, deutschlandfunk.de, 26.5.2021. 4 Christine Westerhaus, Schweden: Den Trans-Train stoppen, emma.de, 28.4.2021. 5 Patricia Hecht und Luise Strothmann, „Trans ist keine Mode“, taz.de, 11.6.2022. 6 Vgl. Jan Feddersen und Kaija Kutter im Gespräch mit Alexander Korte: „Es ist hip, trans zu sein“, taz.de, 2.5.2023.
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diskriminierenden Situationen, etwa beim Gang zu Behörden oder in Arztpraxen. Der Autor Henri Maximilian Jakobs bezeichnet die Transition – also den Prozess der Anerkennung der eigenen Geschlechtsidentität – sogar als „lebensrettende Maßnahme“7, um die psychische Gesundheit zu bewahren und Suizide zu vermeiden.
FDP und Grüne: Nur in der Opposition queerpolitisch fortschrittlich? FDP und Grüne hatten deshalb bereits in der vergangenen Legislaturperiode eigene Vorschläge für ein Selbstbestimmungsgesetz unterbreitet. Wiederholt kritisierten sie aus der Opposition heraus die damalige Große Koalition für ihre Untätigkeit und insbesondere auch die Union für ihre Blockadehaltung. Umso mehr überrascht es nun, dass auch nach dem Regierungswechsel queerpolitische Vorhaben verschleppt werden. Erst nach einer monatelangen Hängepartie veröffentlichten Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) Ende April einen gemeinsamen Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz. Dieser verspricht einige praktische Verbesserungen: Künftig soll eine Selbsterklärung queerer Menschen auf dem Standesamt ausreichen, damit sie ihren Geschlechtseintrag ändern können. Damit würden psychologische Gutachten und der Amtsgerichtsentscheid entfallen. Bei Minderjährigen unter 14 Jahren soll die Änderung des Geschlechtseintrags nur von den Sorgeberechtigten beantragt werden können. Jugendliche ab 14 Jahren können eine Erklärung zwar auch eigenständig abgeben, brauchen dafür allerdings die Zustimmung ihrer Eltern. Sollte diese nicht vorliegen, könnte ein Familiengericht die Entscheidung ersetzen. Der Entwurf wurde im August in leicht geänderter Fassung vom Bundeskabinett beschlossen. Die Veröffentlichung zog sich wohl auch deshalb so lange hin, weil Buschmann und Teile der FDP sich von einer massiven Kampagne gegen das Gesetz in den sozialen Medien beeindrucken ließen: Insbesondere sich selbst als „genderkritisch“ bezeichnende Feminist:innen formulierten die Sorge, dass Männer, indem sie kurzerhand ihren Geschlechtseintrag ändern, das Selbstbestimmungsgesetz dazu ausnutzen könnten, um in Frauenschutzräume einzudringen, seien es Saunen, Frauenfitnessstudios oder sogar Frauenhäuser, in die Frauen vor männlicher Gewalt flüchten. Empirisch belegbar ist dieses Argument indes nicht. Der deutschen Frauenhaus-Koordinierung etwa sind keine Fälle bekannt, in denen trans Frauen Frauenhäuser missbräuchlich genutzt hätten. Auch eine Studie der University of California, die sich mit der Frage befasste, zeigt, dass sich das Sicherheitsrisiko in keiner Weise dadurch erhöht, wenn trans Personen öffentliche Einrichtungen nutzen, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen.8 Viel7 Vgl. Henri Maximilian Jakobs und Christina Wolf, All die brennenden Fragen, Berlin 2023. 8 Amira Hasenbush, Andrew R. Flores und Jody L. Herman, Gender Identity Nondiscrimination Laws in Public Accommodations: a Review of Evidence Regarding Safety and Privacy in Public Restrooms, Locker Rooms, and Changing Rooms, in: „Sexuality Research and Social Policy”, 3/2019, S. 70-83.
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120 Inga Hofmann mehr sind insbesondere trans und nicht-binäre Personen häufig Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt. Hierzulande haben die Fälle queerfeindlicher Gewalt in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.9
Die Hetze nimmt zu – international wie national Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans* ordnet die Gegenargumente in eine langfristige Entwicklung ein, die mit einer „enormen transfeindlichen Mobilisierung“ einhergehe – sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene: „Es gibt Widerstand von christlich-fundamentalistischer Seite, von transexkludierenden Radikalfeministinnen sowie aus dem rechtspopulistischen bis hin zum rechtsextremen Spektrum.“ Von politischer Seite sind die Hoffnungen groß, dass der nun vorliegende Gesetzentwurf die aufgeheizte Debatte beruhigen werde. Von Verbänden wurde er in Teilen als „Meilenstein“ gefeiert, gleichzeitig kamen auch Bedenken auf, weil irreführende Gegenargumente Eingang gefunden haben, die jeglicher Empirie entbehren. So wurde im Entwurf ein Passus ergänzt, der festlegt, dass Einrichtungen wie Saunen, Umkleiden oder Fitnessstudios für Frauen nach den Regeln des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) weiterhin das Hausrecht behalten. Das AGG gestattet in Paragraf 20 eine unterschiedliche Behandlung wegen des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung, wenn das „dem Bedürfnis nach Schutz der Intimsphäre oder der persönlichen Sicherheit Rechnung trägt“. Im Einzelfall könnten Betreiber den Zutritt verweigern. Faktisch würde sich damit zwar rechtlich nichts ändern, denn pauschale Zutrittsverweigerungen wären weiterhin nicht möglich. Fraglich ist aber, weshalb der Abschnitt überhaupt eingefügt wurde. Befürworter:innen begründen den Hausrechtsparagrafen mit dem Schutz von Frauenräumen. Der Deutsche Frauenrat, ein Dachverband von rund 60 bundesweit aktiven Frauenorganisationen, widerspricht diesem Argument jedoch entschieden. „Die großen Gefahren, die derzeit heraufbeschworen werden, sehen wir nicht“, sagt die Vorsitzende Beate von Miquel. Sie kritisiert, dass der Hausrechtsparagraf trans Frauen unter Generalverdacht stelle und Misstrauen schüre: „Die Skepsis gegenüber trans Personen beruht also nicht auf realen Erfahrungen, sondern falschen Annahmen.“ Es gebe keine Belege dafür, dass eine progressive Gesetzgebung zu vermehrten Übergriffen von trans Frauen gegenüber cisgeschlechtlichen10 Frauen führe. Stattdessen sollten reale Gewalterfahrungen von Frauen in den öffentlichen Fokus gerückt werden, wie zum Beispiel häusliche Gewalt.11 9 „Beleidigt, ausgegrenzt, bedroht“. Mehr Angriffe gegen queere Menschen in Deutschland, tagesspiegel.de, 17.5.2023. 10 Cis bezeichnet eine Übereinstimmung der Geschlechtsidentität mit dem biologischen Geschlecht. 11 Vgl. Inga Hofmann, Frauenrat unterstützt Selbstbestimmungsgesetz: „Wir dürfen Gewaltformen gegen Frauen nicht gegeneinander ausspielen“, www.tagesspiegel.de, 30.6.2023. Deutscher Frauenrat, Stellungnahme des Deutschen Frauenrats zum Referentenentwurf eines Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften (SBGG), Berlin 30.5.2023.
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Ein blasser Regenbogen
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Die Juristin Beckmann kritisiert zudem die Regelungen für Jugendliche und jene zur im Gesetzentwurf festgelegten Karenzzeit: Die Änderung des Geschlechtseintrags und des Vornamens müssen drei Monate vorher beim Standesamt angemeldet werden. Auch andere europäische Länder wie Belgien und Luxemburg sehen eine Karenzzeit vor. In Deutschland würde die Regelung für einige – vor allem intergeschlechtliche – Personen allerdings eine Verschlechterung bedeuten. Die Karenzzeit soll Missbrauch vorbeugen und voreilige Entschlüsse erschweren. Tatsächlich dürfte es in zahlreichen Kommunen aber ohnehin Monate dauern, bis Antragstellende einen Termin erhalten, um ihren Personenstand zu ändern. Hinzu kommt, dass trans Personen ihr Coming-out ohnehin zumeist über Jahre hinauszögern. Bevor sie sich outen, leben die meisten Menschen bereits lange Zeit mit dem Wissen um ihre Geschlechtsidentität. Beim Hausrechtsparagrafen und der Karenzzeit merke man, dass transfeindliche Lobbygruppen Sorgen und Ängste gestreut hätten, sagt Beckmann. „Das führt dazu, dass im Gesetzentwurf in beiden Punkten wirklich unnötigerweise in die Selbstbestimmung von trans Menschen eingegriffen wird.“ Dass die Kritik an dem Gesetz derart stark ausfiel, hängt auch mit internationalen Entwicklungen zusammen. Einer Analyse von Transgender Europe zufolge steigt die Gefahr von Rückschritten und „transfeindlichen Backlashes“ in europäischen und zentralasiatischen Ländern. Auch in zahlreichen US-Bundesstaaten wurden in den vergangenen Monaten weitreichende Repressalien gegen trans Personen beschlossen: In Virginia sind Lehrkräfte dazu verpflichtet, Schüler:innen mit dem Pronomen und Namen anzusprechen, die ihnen bei der Geburt zugeordnet wurden – unabhängig davon, ob diese ihren Namen bereits offiziell geändert haben. Für betroffene Personen ist das eine große Demütigung.12 In Tennessee untersagt ein neues Gesetz komplett, an Minderjährigen geschlechtsangleichende Behandlungen vornehmen zu lassen; dazu zählen Operationen, aber auch bereits die Einnahme von Hormonen wie sogenannte Pubertätsblocker. Um die Rechte queerer Personen hierzulande weiter zu stärken, fordern Organisationen wie der Bundesverband Trans* sowie die Grünen, einen Entschädigungsfonds für Personen einzurichten, die sich bis zum Jahr 2011 sterilisieren lassen mussten, weil sie nur dadurch ihren Personenstand ändern durften. Dieser Fonds ist bislang nicht vorgesehen. Ob er in kommender Zeit noch eingerichtet wird, erscheint fraglich.
Was wird aus dem Abstammungsrecht? Ebenso unsicher ist, ob die Bundesregierung noch vor Ende der Legislaturperiode eine Reform des Abstammungsrechts verabschiedet und damit den Versprechen im Koalitionsvertrag gerecht wird. Das geltende Abstam12 Annika Brockschmidt, So machen die Republikaner trans Kinder in den USA zur Zielscheibe, fr.de, 22.9.2022.
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122 Inga Hofmann mungsrecht benachteiligt queere Elternpaare gegenüber heterosexuellen Paaren. Denn darin ist festgelegt, dass die Person, die das Kind gebärt, automatisch als „Mutter“ in die Geburtsurkunde eingetragen wird. Als zweites Elternteil kommt lediglich ein „Vater“ infrage, also eine Person mit männlichem Geschlechtseintrag. Auf diese Weise werden lesbische Elternpaare ausgeschlossen, aber auch Paare, bei denen ein Elternteil trans ist oder den Geschlechtseintrag „divers“ hat. Um als gleichberechtigtes Elternteil anerkannt zu werden, müssen die jeweiligen Partner:innen zum Zeitpunkt der Geburt mit der gebärenden Person verheiratet sein und das Kind im Rahmen einer sogenannten Stiefkindadoption adoptieren – ein Verfahren, das als belastend beschrieben wird und sich über Jahre hinziehen kann. Bei heterosexuellen Paaren ist das anders: Hier wird der Partner automatisch als Vater in die Geburtsurkunde eingetragen – und zwar unabhängig davon, ob er es biologisch auch wirklich ist. Queere Paare protestieren seit Jahren gegen diese Ungleichbehandlung und sind bis vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Die Bundesregierung könnte einem Grundsatzurteil aus Karlsruhe zuvorkommen, indem sie queere Familien umfassend rechtlich absichert. Bislang wurde allerdings kein Gesetzentwurf veröffentlicht – entgegen den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag. Queere Menschen machen daher weiter Druck: Erst vor wenigen Wochen übergab ein Bündnis aus mehreren Organisationen – darunter die Initiative Nodoption, ein Zusammenschluss queerer Elternpaare – der Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) ein Schreiben mit Leitlinien für eine Reform. Eine Reform sollte möglichst umfassend vielfältige Familienkonstellationen berücksichtigen, hieß es von Seiten der Initiative. Doch die Bundesregierung bleibt mit ihren Reformüberlegungen überaus vage. Bislang werden im Koalitionsvertrag nur lesbische Elternpaare berücksichtigt. Dabei sind ebenso schwule, trans, nicht-binäre und intergeschlechtliche Personen von der rechtlichen Diskriminierung betroffen. Die Einschränkungen und vagen Formulierungen dürften nicht nur dem Zeitdruck bei den Verhandlungen geschuldet sein. Denn die Ampelparteien waren sich in einigen zentralen Punkten uneinig, etwa was den Ehestatus angeht: Noch völlig ungeklärt ist, ob dieser die Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung der Elternschaft bleibt. Die Frage, wie weit eine Abstammungsrechtsreform gehen soll, scheint derzeit jeden Fortschritt zu verhindern. Ob die Bundesregierung sich doch noch einigt, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. In ökonomischen und finanziellen Fragen ist sie derzeit hochgradig zerstritten; einzig das liberale Gesellschaftsbild eint sie eigentlich noch. Dies zeigt sich auch in der interministeriellen Zusammenarbeit von Buschmann und Paus beim Gesetzentwurf zum Selbstbestimmungsgesetz. Mit der Umsetzung der queerpolitischen Vorhaben könnte die Bundesregierung nicht nur einen Arbeitsnachweis liefern, sondern der Liberalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse einen enormen Schub verleihen. Aber es bleibt nicht mehr viel Zeit, um das große Versprechen vom „queerpolitischen Aufbruch“ doch noch einzulösen.
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AUFGESPIESST
Zeitungen und Zeitschriften haben es dieser Tage nicht leicht; das gilt offenbar auch für den „Spiegel“. Laut dem Branchen-Magazin „kress“ vom 18. August habe der Einbruch bei der Printwerbung im März 2023 fast 50 Prozent betragen. Doch wie hält man dagegen und steigert die Auflage? Natürlich mit fetzigen Aufmachern, wie in der Ausgabe 34/2023: „Die neuen Staatsfeinde“ ist der Report „aus dem Innenleben einer radikalen Bewegung“ überschrieben, der aber nicht von den Reichsbürgern oder der rechtsextremen Identitären Bewegung handelt, sondern, hört, hört, von der ominösen Letzten Generation.
»Spiegel«-Staatsfeinde Potztausend, denkt sich da der geneigte Leser, so reden doch bisher – wie auch der „Spiegel“ weiß und schreibt – nur „Polemiker wie Dobrindt“, der die sogenannten Klimakleber schon mal als Klima-RAF bezeichnet und ansonsten über sie „wie über Staatsfeinde“ spricht. Jetzt also benutzt auch der „Spiegel“ diesen Jargon: „Wie weit sind sie bereit zu gehen? Gehen sie am Ende doch den Weg, den schon andere anfangs friedliche Bewegungen gegangen sind, werden gewaltbereit, gar militant?“, tönt suggestiv das einstige selbsternannte „Sturmgeschütz der Demokratie“. Doch Belege? Fehlanzeige! Der „Spiegel“ fragt Nils Kumkar: „Wird die Bewegung sich weiter radikalisieren? Man könne natürlich nichts ausschließen, sagt der Soziologe. Bislang sei allerdings keine Radikalisierung zu beobachten – eher sogar das Gegenteil. Auf den Hungerstreik seien friedliche Sitzblockaden gefolgt.“ „Woher aber kommt es dann“, insistiert der „Spiegel“ – ganz „investigativ“, aber ohne Beleg –, „dass viele Deutsche trotzdem die Radikalisierung befürchten, sie
sogar für wahrscheinlich halten“, und befragt den alten Terror-Spezialisten Wolfgang Kraushaar nach Parallelen zwischen Klebern und RAF. Doch auch der 68er-Veteran muss das Magazin enttäuschen: „‚Man sollte die Letzte Generation nicht mit der RAF vergleichen, es gibt da keine Ähnlichkeit‘, sagt er. Selbst die junge Anti-AKW-Bewegung sei viel militanter gewesen.“ Was nicht heißt, dass das immer so bleiben muss, weiß der „Spiegel“: „‚Man muss aufpassen, dass man nicht an der Eskalationsschraube dreht‘“, so Kraushaar. Dumm nur, dass er dabei weniger an die Letzte Generation als an den Staat denkt: „Die Verantwortung liegt vor allem bei den Behörden. Der Verdacht, dass man es bei ihr mit einer kriminellen Vereinigung zu tun haben könnte, ist so eine Eskalation.“ Mit dieser Ausgabe kann man nun gut und gerne auch von einer „Spiegel“-Eskalation sprechen: Denn was anderes als eine „kriminelle Vereinigung“ wäre die von ihm so mutig enttarnte „straff geführte Organisation“ von „Staatsfeinden“? Doch irgendwann hat auch der „Spiegel“ ein Einsehen: „Der Frust über die Regierung ist innerhalb der Letzten Generation groß, die Kritik heftig. Aber im Grunde flehen die Aktivistinnen und Aktivisten die Volksvertreter mit jeder ihrer Aktionen an, endlich zu handeln.“ Und so lauten denn die letzten Sätze, über eine Aktivistin im bayerischen Polizeigewahrsam: „‚Wir müssen den Gerichten zeigen, dass es auch in ihrer Verantwortung liegt, die Klimakrise anzuerkennen.‘ Den Glauben an den Staat hat sie noch nicht verloren.“ Was für eine Wendung, mehr Staatsfreundschaft geht nicht! Aber wer will schon „sagen, was ist“ (Rudolf Augstein, „Spiegel“-Gründer) und setzt so etwas auf‘s Cover? Denn eines zählt doch allemal mehr: „Spiegel“-Titel müssen knallen – auf dass die Auflage wieder steige! Jan Kursko
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DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN
Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem: • »Saudische Grenzschutzbeamte töteten mindestens Hunderte äthiopische Migranten, die die jemenitisch-saudische Grenze überqueren wollten« Bericht von Human Rights Watch, 21.8.2023 (engl. Original) • »Arme Menschen leiden stärker unter dem Klimawandel, obwohl sie mit ihrem Konsumverhalten weniger zu ihm beitragen« Studie von Plos Climate, 17.8.2023 (engl. Original) • »Die globalen Durchschnittswerte der Land- und Lufttemperatur waren in diesem Juli so hoch wie nie zuvor« Pressemitteilung des Copernicus Dienstes zur Überwachung des Klimawandels, 8.8.2023 (engl. Original) • »57 Prozent der erwerbstätigen Eltern sind mit Kita-Schließungen oder verkürzten Betreuungszeiten konfrontiert« Pressemitteilung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, 4.8.2023 • »In den ärmsten Bezirken ist die Krebsinzidenz von Männern um 23 Prozent und die von Frauen um 20 Prozent höher als in den reichsten Bezirken« Studie in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „International Journal of Cancer“, 4.8.2023 (engl. Original) • »91 Prozent der Deutschen befürworten einen klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft« Studie vom Bundesumweltministerium und Umweltbundesamt, 3.8.2023 • »Wir finden keine Belege dafür, dass Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer Treiber irregulärer Migration sind« Studie in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Scientific Reports“, 3.8.2023 (engl. Original) • »Mütter tragen den größten Teil des Mental Load« Report des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der HansBöckler-Stiftung, 1.8.2023 • »20 000 russische Aktivist*innen sind wegen Kritik am Krieg schweren Strafmaßnahmen ausgesetzt« Pressemitteilung von Amnesty International, 20.7.2023 • »Im Durchschnitt sind Bahnreisen doppelt so teuer wie entsprechende Flüge« Analyse von Greenpeace, 20.7.2023 • »Elf Kinder sterben jede Woche beim Versuch, das zentrale Mittelmeer zu überqueren« Pressemitteilung von UNICEF, 14.7.2023
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BUCH DES MONATS
Ölsande, Arbeit, Einsamkeit Von Thomas Greven Heute kann Kate Beaton vom Comiczeichnen leben, und zwar dort, wo sie leben will: in ihrer Heimat, auf der schönen Insel Cape Breton, dem nördlichen Teil der kanadischen Atlantikprovinz Nova Scotia. Denn ihr jüngster Band „Ducks“ ist überaus erfolgreich, kommerziell wie künstlerisch. Als erster Comic gewann das Buch den „Canada Reads“-Literaturpreis, hinzu kamen diverse Comic-Preise, darunter gleich zwei der renommierten Eisner Awards. Zudem landete das erste längere Werk der Künstlerin auf den Bestenlisten der „New York Times“, des „New Yorker“ und des „Time Magazine“. Kate Beaton, Ducks. Zwei Jahre in den Beim Verkauf half auch die Empfehlung des Ölsanden. Aus dem Englischen von Jan Dinter. Zwerchfell / Reprodukt, ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama. Berlin 2023, 448 S., 39 Euro. Bekannt geworden ist Beaton durch ihre zuerst im Internet veröffentlichten Comicstrips, in denen sie literarische und andere Werke persifliert. Der intelligente, manchmal auch scharfzüngige Humor, der diese Strips auszeichnet, scheint in „Ducks“ nur ab und zu auf. Zu ernst sind die Themen, die in diesem autobiographischen Comic angesprochen werden. Aufgrund aufeinanderfolgender Krisen der sie prägenden Industrien – Fischerei, Kohle und Stahl – exportiert Cape Breton seit Jahrzehnten vorrangig ihre Menschen, und zwar überall dorthin, wo Arbeitskräfte gebraucht werden. Doch für die Menschen auf der abgeschiedenen Insel sind alle Jobs weit weg, und so landen viele von ihnen im kanadischen Westen, bei der Förderung von Ölsanden in Alberta. Die Menschen auf Cape Breton – darunter viele Nachkommen von Einwanderern aus Schottland und Irland – bilden eine recht enge Gemeinschaft und zeichnen sich durch große Verbundenheit zu ihrer Heimat aus. Doch die ökonomischen Nöte zwingen viele dieser lokal verwurzelten „somewheres“ (David Goodhart) seit langem dazu, wenigstens phasenweise wie allzeit mobile und flexible „anywheres“ zu leben, und – dieses Bild verwendet Beaton – in ihren Familien „leere Stühle“ zu hinterlassen. Zu diesen unfreiwilligen Arbeitsnomaden gehört nach dem Abschluss ihres Studiums Anfang der 2000er Jahre auch die damals 21jährige Kate
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Beaton. Ihre Eltern, die beide mehr oder weniger gute Jobs auf Cape Breton haben, präsentieren ihr eine Reihe von Alternativen zur Arbeit im abgelegenen Norden von Alberta. Klar, Krankenschwester ist ein ehrenwerter Beruf, das weiß Beaton. Aber warum hat sie dann ein geisteswissenschaftliches Fach studiert, fragt sie. Ja, warum, wenn Du davon nicht leben kannst, fragen die Eltern zurück, die ihre Kinder allerdings durchaus ermutigt haben, zu studieren. Doch Beaton weiß, dass vieles möglich wird, wenn sie erst die Last der Schulden losgeworden ist, die sie während des Studiums akkumuliert hat. Die Tatsache, dass sie insgesamt unter vielen Entbehrungen zwei Jahre in Alberta arbeitet, bevor die Schulden getilgt sind, deutet darauf hin, dass es sich nicht um einen trivialen Betrag handeln kann. Denn in Kanada schreitet ebenso wie in den USA die Kommerzialisierung der höheren Bildung voran. Und die Debatten über finanzielle Erleichterungen sind die gleichen wie beim großen Nachbarn: Warum sollen Menschen, die nicht studiert haben, mit ihren Steuergeldern die universitäre Ausbildung von Elitensprösslingen und zukünftigen Gutverdienern finanzieren?
Allein in einer Männerwelt
Der Fokus der knapp 450 Seiten langen, äußerst nuancierten Erzählung liegt auf der abgelegenen Parallelwelt der Ölsande im Norden Albertas. Es ist eine Männerwelt, insbesondere in den Camps nahe den Förderstätten, die die Beschäftigten nur ab und zu für Kurzurlaube bei ihren Familien verlassen – und Kate Beaton gar nicht, weil die Kosten dafür das mühsam Ersparte sofort wieder auffressen würden. Stattdessen arbeitet sie so viel wie möglich, nimmt Nachtschichten an und beißt sich durch. Dabei erfahren wir von den konkreten Prozessen der Förderung zunächst sehr wenig – eine fachliche Ausbildung hat Beaton, durch deren Augen wir die Ölsande kennenlernen, ja nicht: Sie arbeitet bei der Material- und Werkzeugausgabe und später im Büro. Stattdessen sehen wir eine junge Frau, auf die plötzlich viele, wenn nicht alle Augen gerichtet sind, und zwar beinahe ständig: „Dadurch komme ich mir nicht mal wie eine Person vor“, schreibt sie. Es dauert nicht lange bis zur ersten anzüglichen Bemerkung, und die Objektivierung hört niemals auf. So reflektiert Beaton als Ich-Erzählerin auftritt, schafft sie es doch, ihre permanente Überforderung in dieser Extremsituation authentisch darzustellen – und zwar im organischen Erzählfluss, ohne störende Einschübe. So empfiehlt sie einer ihrer Schwestern und einer Freundin die Arbeit in Alberta, weil man eben schnell gutes Geld verdienen kann, andererseits aber weiß sie, dass die beiden besser keine Röcke anziehen sollten. Es ist eine große erzählerische und zeichnerische Leistung Beatons, gleichzeitig ihr Verlorensein und ihre späteren Einsichten und Reflexionen überzeugend und differenziert zu vermitteln, oft allein durch Mimik. Es musste wohl diese lange Zeit zwischen ihrer dortigen Arbeit und der späteren künstlerischen Verarbeitung vergehen, bis Beaton sich dazu in der Lage sah. Dies gilt vor allem für die Darstellung zweier Vergewaltigungen, die sie kurz hinterein-
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ander erleidet. Sie ist verwirrt und beschämt. Vorher und nachher hört sie von Vorgesetzten und anderen Männern immer wieder, dass sie sich eben ein dickeres Fell zulegen müsse, dass sie „Spaß verstehen“ solle. Auch deshalb wendet sie sich nicht an die Personalabteilung, sondern erträgt es sogar, dass einer der Männer offensichtlich mit seiner „Eroberung“ prahlt. Beaton gibt sich Mühe, die Gesichter der vielen Männer individuell zu gestalten, schaltet den verschiedenen Kapiteln sogar einen Überblick des jeweiligen „Personals“ vor, und dennoch: Die Männer wirken gleichförmig, fast amorph – ein starkes Symbol für die Monotonie und die überwältigende Dominanz von Männern an diesem „nicht normalen“ Ort. Um Hierarchien geht es hier allerdings nicht, anders als in den MeToo-Berichten aus der Filmund Musikwelt. Doch das Trauma ist dasselbe: Man hat nur eine Sekunde für eine Reaktion, aber Leid für eine Ewigkeit, schreibt Beaton. War sie gewarnt? Der somalische Taxifahrer, der sie zum Camp bringt, spricht von den „verrückten Männern“. Doch Beaton weiß, dass auch sie selbst in diesem Rattenkäfig nicht „normal“ ist. Und so bringt sie eine erstaunliche Empathie für die einsamen und gelangweilten Männer auf, nicht nur, weil die allermeisten sie ja freundlich oder neutral behandeln. Vor allem stellt sie sich die bange Frage, wie sich denn die eigenen Brüder, der eigene Vater in der Monotonie dieser Grenzsituation verhalten würden. Würden sie zu den Netten gehören? Ihr Herz bricht, schreibt Beaton, weil die Übeltäter so sprechen wie man selbst – also mit dem Zungenschlag der Atlantikprovinzen.
Traditionen ernst nehmen
Heimat ist in gewisser Weise das verbindende Element des Buches, in dem auch die Umweltprobleme der Förderung und ihre toxischen Folgen für die dort lebenden Angehörigen der „first nations“ angesprochen werden, die zu einer ersten Politisierung der jungen Beaton führen. Wer weiß, dass beispielsweise viele Mecklenburger, die seit der Wende überall in der Bundesrepublik Jobs gefunden haben, sich danach sehnen, endlich Arbeit in ihrer Heimat zu finden, kann nachfühlen, welches Glück Beaton empfinden muss, wieder auf Cape Breton leben zu können. Die politischen Konsequenzen der jahrzehntelangen neoliberalen Kommodifizierung aller Lebensbereiche haben auch das sprichwörtlich „nette“ Kanada nicht ausgespart. Wie in den USA vollzieht sich eine Trumpifizierung der großen konservativen Partei unter dem Druck der Basis, vor dem Hintergrund einer wütenden Polarisierung, die sich während der Covidpandemie beispielsweise durch die Blockade des „Freedom Convoy“ äußerte. Insofern ist „Ducks“ implizit auch eine Ermahnung, die Verwurzelung der Menschen und ihre Traditionen ernster zu nehmen. Einem Einheimischen platzt irgendwann der Kragen angesichts der ständigen gefühlsduseligen Heimatnostalgie der Atlantikkanadier aus Nova Scotia und Neufundland. Er liebt eben seine Heimat, auch wenn alle anderen nur von dort wegwollen: Alberta.
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Zurückgeblättert... Während heute die Künstliche Intelligenz die Welt umtreibt, sorgte vor 60 Jahren die technische Revolution der Kybernetik für Aufsehen: Wolfgang Baranowsky, Der Mensch und die kybernetische Maschine, Teil I in: »Blätter«, 9/1963, S. 716-721; Teil II, 10/1963, S. 783-790. Den Text finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de
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VERLAG WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT
Hans-Ernst Schiller
Olaf Bernau, geb. 1969 in Ulm, Soziologe, Publizist, Mitbegründer und aktiv im transnationalen Netzwerk Afrique-Europe-Interact. Thomas Greven, geb. 1966 in Stolberg, Dr. phil., Politikwissenschaftler, Privatdozent an der FU Berlin und wiss. Mitarbeiter an der Uni Bonn.
Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Uta Meier-Gräwe, geb. 1952 in Erfurt, Dr. sc. oec., Prof. em. für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Universität Gießen, Vorstand von „Wirtschaft ist Care e.V.“. Ulrich Menzel, geb. 1947 in Düsseldorf, Dr. phil., Prof. em. für Politikwissenschaft an der TU Braunschweig.
Inga Hofmann, geb. 1997 in Berlin, Politikwissenschaftlerin, Redakteurin beim „Tagesspiegel“.
Ferdinand Muggenthaler, geb. 1967 in Fürth, Physiker und Journalist, „Blätter“-Redakteur.
Christian Jakob, geb. 1979 in Quakenbrück, Redakteur bei der „taz“ und Buchautor.
Maximilian Pichl, geb. 1987 in Bad Kreuznach, Dr. jur., Dr. rer. pol., Rechts- und Politikwissenschaftler, Vertretungsprofessor für Politische Theorie an der Universität Kassel.
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Die Wirklichkeit des Allgemeinen
Mordechai Kremnitzer, geb. 1948 in Fürth, Rechtswissenschaftler, Prof. em. der Hebrew Universität Jerusalem, ehemaliges Mitglied verschiedener Regierungsausschüsse.
2023 – 373 Seiten – 40,00 € ISBN 978-3-89691-087-5
Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, freier Journalist in Berlin.
„Eine gründliche, extrem sachhaltige Rückbesinnung auf Wesentliches, für das wir wegen seiner Dauerpräsenz blind zu werden drohen.“ – Christoph Türcke in der SachbuchBestenliste vom August in Die Welt
Gesine Langlotz, geb. 1994 in Erfurt, Landwirtin, Baumwartin und Baumwart-Ausbilderin, Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft Mitteldeutschland.
Soziale Formen objektiver Vernunft: Wert, Technik, Staat und Sprache
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Jonas Becker, geb. 1991 in Ludwigsburg, Ökonom und Politikwissenschaftler, Gewerkschaftssekretär bei der EVG.
Claus Leggewie, geb. 1950 in WanneEickel, Dr. sc. pol., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen, Mitherausgeber der „Blätter“.
Rouven Reinke, geb. 1991 in Hannover, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Doktorand an der Universität Hamburg. Bettina Röder, geb. 1953 in Dresden, studierte Deutsch und Kunsterziehung, bis 2019 verantwortliche Redakteurin im Berliner Büro der Zeitschrift „Publik-Forum“, freie Journalistin. Simone Schlindwein, geb. 1980 in Baden-Baden, Historikerin und Politikwissenschaftlerin, Afrika-Korrespondentin der „taz“ in der Region der Großen Seen, lebt in Uganda. Anita Starosta, geb. 1985 in Düsseldorf, Historikerin, Referentin für Syrien, Türkei und Irak bei medico international. Berthold Vogel, geb. 1963 in Würzburg, Prof. Dr., Soziologe, Geschäftsführender Direktor Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI). Faride Zerán, geb. 1949 in Puerto Natales/Chile, Journalistin, Schriftstellerin, Vizerektorin der Universidad de Chile.
9’23
Blätter
9’23
Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €
8’23
7’23
Das Rammstein-Syndrom Sonja Eismann
Hitze-Hotspot Deutschland Uwe Ritzer
Revisionismus als Versuchung Norbert Frei
Zwischen Repression und Hoffnung: Die iranische Revolte Golineh Atai
Maskierte Ohnmacht: Berlusconi als Ikone des Populismus Ida Dominijanni
Verbannte Bücher: Der Kulturkampf der US-Rechten Annika Brockschmidt
6’23
5’23
Künstliche Intelligenz: Der maskierte Raub Naomi Klein
Das feministische Paradox Susanne Kaiser
Chicago: Prävention statt Polizei Lukas Hermsmeier
Was wird aus dem Menschen? Thomas Fuchs
Den Frieden verhandeln, Kiews Sicherheit garantieren Richard Haass, Charles Kupchan
Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie Richard C. Schneider
Blätter für deutsche und internationale Politik
Auf dem Weg in die KI-tokratie? Ferdinand Muggenthaler
Apokalypse oder Aufbruch? Fünf Jahre Fridays Christian Jakob USA: Der neue Aristopopulismus Charles King
Die neue Welt(un)ordnung Ulrich Menzel Zeitenwende in Niger und Mali Olaf Bernau Queerpolitik ohne Rückhalt Inga Hofmann 40 Jahre »Schwerter zu Pflugscharen« Bettina Röder Umkämpfte Erinnerung: Chile 50 Jahre nach dem Putsch Faride Zerán