Die Blätter für deutsche und internationale Politik [3 / 2023, 3 ed.] 9783803137319


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Die Blätter für deutsche und internationale Politik [3 / 2023, 3 ed.]
 9783803137319

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3’23

Blätter

3’23

Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €

Blätter für deutsche und internationale Politik

Erdog˘ an, Assad und das große Beben Kristin Helberg

Mit Beiträgen von Étienne Balibar, Mykola Borovyk, Nicole Deitelhoff, Mischa Gabowitsch, Naomi Klein, Sergej Lebedew, Herfried Münkler, Adam Tooze, Igor Torbakow, Serhij Zhadan u.v.a.

320 Seiten, 18 Euro!

Jetzt bestellen – im Buchhandel und auf blaetter.de

320 S. | 18 Euro | ISBN 9783982132310

Krieg in der Ukraine: Zeitenwende wohin?

Russland vs. Ukraine: Gewalt schlägt Recht? François Hollande Israel: Das Ende der Demokratie? Eliav Lieblich und Adam Shinar

Panzer, Kampfjets und Raketen? August Pradetto 20 Jahre Irakkrieg: Das Versagen des Westens Andreas Zumach Afghanistan: Frauen als Faustpfand Marc Thörner Kapitalismus als Kannibalismus Nancy Fraser Verbrauchertäuschung per Gesetz Thilo Bode

Anzeigen

Autorinnen und Autoren 3/2023 Günther Baechler, geb. 1953 in Basel, Dr. rer. pol., Konflikt- und Friedensforscher, langjährig in der Friedensdiplomatie tätig, u.a. OSZE-Sondergesandter für den Süd-Kaukasus. Sophia Boddenberg, geb. 1992 in Leverkusen, Sozial- und Politikwissenschaftlerin, freie Journalistin in Chile. Thilo Bode, geb. 1947 in Eching am Ammersee, Dr. rer. pol., langjähriger Geschäftsführer von Greenpeace, Gründer der Verbraucherorganisation foodwatch.

Ab jetzt auch online ;)

Nancy Fraser, geb. 1947 in Baltimore, PhD, Professorin für Politik und Philosophie an der New School for Social Research in New York. Josef Früchtl, geb. 1954 in Zandt bei Cham, Dr. phil., Professor für Kunstund Kulturphilosophie an der Universität Amsterdam.

Jetzt Digitalabo bestellen! dasnd.de/digitalabo

Thomas Greven, geb. 1966 in Stolberg, Dr. phil., Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Peter Laudenbach

VOLKS THEATER Der rechte Angriff auf die Kunstfreiheit

WI R I N D S ! R MEH

Kristin Helberg, geb. 1973 in Heilbronn, Politikwissenschaftlerin, freie Journalistin.

WIR SIND MEHR!

François Hollande, geb. 1954 inRouen/ Frankreich, Jurist, Politiker der Sozialistischen Partei (PS), französischer Staatspräsident von 2012 bis 2017. Walter Jens, geb. 1923 in Hamburg, gest. 2013 in Tübingen, Dr. phil. habil., Altphilologe, Professor für Rhetorik, Publizist und Mitglied der Gruppe 47.

Broschiert 144 Seiten € 12.– ISBN 978 3 8031 3731 9 Auch als E-Book erhältlich

Blaetter-Politik_Laudenbach_230117.indd 1

18.01.23 15:14

Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Annett Mängel, geb. 1976 in Rodewisch, Politikwissenschaftlerin und Germanistin, „Blätter“-Redakteurin. August Pradetto, geb. 1949 in Graz, Dr. phil., Professor em. für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr Hamburg. Ulrich Rüdenauer, geb. 1971 in Bad Mergentheim, Germanist und Politologe, Journalist und Literaturkritiker. Leander Scholz, geb. 1969 in Aachen, PD Dr. phil. habil., Philosoph und Schriftsteller, Research Fellow am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Adam Shinar, J.S.D., Jurist, außerordentlicher Professor an der Harry Radzyner Law School der Reichman Universität in Herzliya/Israel. Wolfgang Templin, geb. 1948 in Jena, DDR-Bürgerrechtler, Mitbegründer der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ sowie der Partei Bündnis 90, Publizist. Marc Thörner, geb. 1964 in Hamburg, Geschichts- und Islamwissenschaftler, Sachbuchautor und freier Journalist. Steffen Vogel, geb. 1978 in Siegen, Sozialwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, freier Journalist in Berlin.

Yalda Zarbakhch, geb. 1981 in Isfahan/Iran, Medienwissenschaftlerin, Redaktionsleiterin des Persian Service der Deutschen Welle.

Eliav Lieblich, J.S.D., Jurist, Professor an der Buchmann Fakultät für Recht der Universität Tel Aviv/Israel.

Andreas Zumach, geb. 1954 in Köln, Publizist und freier Journalist für „die tageszeitung“ und andere Medien.

Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 68. Jahrgang Heft 3/2023 Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Peter Bofinger . Ulrich Brand Micha Brumlik . Dan Diner Jürgen Habermas . Detlef Hensche Rudolf Hickel . Claus Leggewie Ingeborg Maus . Klaus Naumann Jens Reich . Rainer Rilling Irene Runge . Saskia Sassen Karen Schönwälder . Friedrich Schorlemmer Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

INHALT 3’23

KOMMENTARE

5 »Ami go home«: Der Irrweg der Wagenknecht Lafontaine-Linken Albrecht von Lucke 9 Drei Jahre Corona: Die Illusion der Normalität Annett Mängel 13 Frankreich: Rentenreform um jeden Preis? Steffen Vogel 17 Aufbegehren im Iran: Die Ruhe vor dem Sturm Yalda Zarbakhch 21

REDAKTION Anne Britt Arps Dr. Thomas Greven Albrecht von Lucke Annett Mängel Steffen Vogel ONLINE-REDAKTION Tessa Penzel BESTELLSERVICE Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] WEBSITE www.blaetter.de

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2023

Scholz in Lateinamerika: Der Mythos vom nachhaltigen Rohstoffabbau Sophia Boddenberg

DEBATTE

25 Eine kreative Mythologie für die Linke Josef Früchtl ZUM 100. GEBURTSTAG VON WALTER JENS

31 Der Prototyp des bundesdeutschen Intellektuellen Ulrich Rüdenauer 35

Über demokratische Beredsamkeit in unmenschlichen Zeiten Walter Jens

ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

41 Gewalt schlägt Recht? Die Allianz der Autokraten und der Kampf um die neue Weltordnung Franc¸ois Hollande 49 Im zweiten Jahr der Zeitenwende: Gravitationszentrum Osteuropa Wolfgang Templin 53 Panzer, Kampfjets und Raketen? Über die roten Linien im Ukrainekrieg August Pradetto 61 Verhandeln ja, aber wann und wie? Günther Baechler 65

Ein Jahr Ukraine-, 20 Jahre Irakkrieg Warum der Globale Süden dem Westen nicht traut Andreas Zumach

71 Afghanistan: Frauen als Faustpfand Marc Thörner 77 Das Ende der israelischen Demokratie? Eliav Lieblich und Adam Shinar 83 Machterhalt um jeden Preis: Erdog˘an, Assad und das große Beben Kristin Helberg 91

Kapitalismus als Kannibalismus Die multidimensionale Krise und der Sozialismus des 21. Jahrhunderts Nancy Fraser

103 Menschenleere oder: Die Politik der Ökologie Leander Scholz

ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

113 Im Supermarkt: Verbraucher täuschung per Gesetz Thilo Bode BUCH DES MONATS

123 Rude Girl Birgit Weyhe AUFGESPIESST

29 Die neue Berliner Anstandsdemokratie Jan Kursko EXTRAS

39 127 128 128

Kurzgefasst Dokumente Zurückgeblättert Impressum und Autoren

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2023

Wolfgang Abendroth

Nancy Fraser

Paul Kennedy

Jan M. Piskorski

Elmar Altvater

Norbert Frei

Navid Kermani

Samantha Power

Samir Amin

Thomas L. Friedman

Ian Kershaw

Heribert Prantl

Katajun Amirpur

Erich Fromm

Parag Khanna

Ulrich K. Preuß

Günther Anders

Georg Fülberth

Michael T. Klare

Karin Priester

Franziska Augstein

James K. Galbraith

Naomi Klein

Avi Primor

Uri Avnery

Heinz Galinski

Alexander Kluge

Tariq Ramadan

Susanne Baer

Johan Galtung

Jürgen Kocka

Uta Ranke-Heinemann

Patrick Bahners

Timothy Garton Ash

Eugen Kogon

Jan Philipp Reemtsma

Egon Bahr

Bettina Gaus

Otto Köhler

Jens G. Reich

Etienne Balibar

Günter Gaus

Walter Kreck

Helmut Ridder

Ekkehart Krippendorff

Rainer Rilling

Paul Krugman

Romani Rose

Adam Krzeminski

Rossana Rossandra

Erich Kuby

Werner Rügemer

Jürgen Kuczynski

Irene Runge

Charles A. Kupchan

Bertrand Russell

Ingrid Kurz-Scherf

Yoshikazu Sakamoto

In den »Blättern« schrieben bisher Wolf Graf Baudissin

Heiner Geißler

Oskar Lafontaine

Saskia Sassen

Fritz Bauer

Susan George

Claus Leggewie

Albert Scharenberg

Yehuda Bauer

Jayati Ghosh

Gideon Levy

Fritz W. Scharpf

Ulrich Beck

Sven Giegold

Hans Leyendecker

Hermann Scheer

Seyla Benhabib

Peter Glotz

Jutta Limbach

Robert Scholl

Homi K. Bhabha

Daniel J. Goldhagen

Birgit Mahnkopf

Karen Schönwälder

Norman Birnbaum

Helmut Gollwitzer

Peter Marcuse

Friedrich Schorlemmer

Ernst Bloch

André Gorz

Mohssen Massarrat

Harald Schumann

Norberto Bobbio

Glenn Greenwald

Ingeborg Maus

Gesine Schwan

E.-W. Böckenförde

Propst Heinrich Grüber

Bill McKibben

Dieter Senghaas

Thilo Bode

Jürgen Habermas

Ulrike Meinhof

Richard Sennett

Bärbel Bohley

Sebastian Haffner

Manfred Messerschmidt

Vandana Shiva

Heinrich Böll

Stuart Hall

Bascha Mika

Alfred Sohn-Rethel

Pierre Bourdieu

H. Hamm-Brücher

Pankaj Mishra

Kurt Sontheimer

Ulrich Brand

Heinrich Hannover

Robert Misik

Wole Soyinka

Karl D. Bredthauer

David Harvey

Hans Mommsen

Nicolas Stern

Micha Brumlik

Amira Hass

Wolfgang J. Mommsen

Joseph Stiglitz

Nicholas Carr

Christoph Hein

Albrecht Müller

Gerhard Stuby

Noam Chomsky

Friedhelm Hengsbach

Herfried Münkler

Emmanuel Todd

Daniela Dahn

Detlef Hensche

Adolf Muschg

Alain Touraine

Ralf Dahrendorf

Hartmut von Hentig

Gunnar Myrdal

Jürgen Trittin

György Dalos

Ulrich Herbert

Wolf-Dieter Narr

Hans-Jürgen Urban

Mike Davis

Seymour M. Hersh

Klaus Naumann

Gore Vidal

Alex Demirovic

Hermann Hesse

Antonio Negri

Immanuel Wallerstein

Dan Diner

Rudolf Hickel

Oskar Negt

Franz Walter

Walter Dirks

Eric Hobsbawm

Kurt Nelhiebel

Hans-Ulrich Wehler

Rudi Dutschke

Axel Honneth

Oswald v. Nell-Breuning

Ernst U. von Weizsäcker

Daniel Ellsberg

Jörg Huffschmid

Rupert Neudeck

Harald Welzer

Wolfgang Engler

Walter Jens

Martin Niemöller

Charlotte Wiedemann

Hans-M. Enzensberger

Hans Joas

Bahman Nirumand

Rosemarie Will

Erhard Eppler

Tony Judt

Claus Offe

Naomi Wolf

Gøsta Esping-Andersen

Lamya Kaddor

Reinhard Opitz

Jean Ziegler

Iring Fetscher

Robert Kagan

Valentino Parlato

Moshe Zimmermann

Joschka Fischer

Petra Kelly

Volker Perthes

Moshe Zuckermann

Heiner Flassbeck

Robert M. W. Kempner

William Pfaff

Ernst Fraenkel

George F. Kennan

Thomas Piketty

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2023

...und viele andere.

KOMMENTARE

Albrecht von Lucke

»Ami go home«: Der Irrweg der Wagenknecht-Lafontaine-Linken Derweil der Krieg in der Ukraine zu einer immer größeren Tragödie wird, spielt sich – verglichen damit – auf deutschem Boden eine Farce ab. Allerdings mit erheblichen politischen Implikationen: An der Kriegsfrage entscheidet sich, wieder einmal, wohin die Linke in diesem Lande geht. Für diesen Richtungsstreit stehen exemplarisch die Zehntausenden, die um den Jahrestag des russischen Überfalls auf die Straße gegangen sind – die einen demonstrierend für das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine, die anderen, dem „Aufstand für Frieden“ von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer folgend, für den Stopp der Waffenlieferungen. Und während Gregor Gysi, lange Zeit die integrierende Autorität der Partei, den Aufruf mitunterzeichnet hat, hat sich der Vorstand der Linkspartei wegen der „rechtsoffenen Position“ des Manifests ausdrücklich davon distanziert. Damit kommt in der Kriegsfrage eine Spaltung in der Linkspartei zum Abschluss, die sich schon lange abgezeichnet hat. Ihre erste Phase war die radikale Absage der Wagenknecht-Lafontaine-Fraktion an jegliche gemeinsame Politik mit SPD und Grünen, was im fundamentalen Gegensatz zum ursprünglichen PDS-Konzept stand, eben nicht mehr in fataler Tradition die alleinige Verkörperung linken Wahrheitsanspruchs sein zu wollen, sondern auch und gerade Teil einer gestalterischen linken Koalition.1 1 Ausführlicher zur Entstehung der Linkspartei aus PDS und WASG siehe Albrecht von Lucke, Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken, München 2017.

Die zweite Etappe der Spaltung war die Gründung des Wagenknecht-Projekts „Aufstehen“ mit seinem rein national ausgerichteten Schutzanspruch für die hier lebenden Deutschen und der gleichzeitigen Absage an das „unteilbar“-Bündnis, das auf eine diverse, multikulturelle Gesellschaft und den universalistischen Schutz der Menschenwürde setzte. Damit war die Idee einer sich wechselseitig befruchtenden „Mosaik-Linken“ (Hans-Jürgen Urban)2 zerstört. Endgültig manifest wurde dieser Bruch in Sahra Wagenknechts Fundamentalkritik an einer angeblichen großstädtisch-akademischen „Lifestyle-Linken“, die mit ihrer ökologisch ausgerichteten Politik die Klassenfrage verdränge und damit die wirklich Bedürftigen verrate.3 Jetzt aber, mit dem „Aufstand“ in der Kriegsfrage (und nach dem kläglich gescheiterten Projekt „Aufstehen“) kommt es endgültig zum Schwur. Und zwar nicht primär aufgrund der Teilnahme von Rechten an der Demonstration, sondern wegen der inhaltlichen Ununterscheidbarkeit der Positionen etlicher Betreiber des „Aufstand“-Projekts von denen rechter Protagonisten. Wenn Wagenknecht höchstpersönlich die Grünen als „die gefährlichste Partei im Bundestag“4 bezeichnet, dann bringt das nicht nur ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem grünen Menschheitsthema zum Aus2 Hans-Jürgen Urban, Die Mosaik-Linke, in: „Blätter“, 5/2009, S. 71-78. 3 Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Frankfurt und New York 2021. 4 Vgl. „Die gefährlichste Partei im Bundestag“, www.tagesschau.de, 21.10.2022.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2023

6 Kommentare druck, sondern ist zugleich eine Aussage, der jedes AfD-Mitglied in seinem Kampf gegen die „rot-grün-versiffte Republik“ begeistert zustimmen kann. Im Kern geht die Auseinandersetzung um die Richtung der Linkspartei aber noch tiefer, nämlich im wahrsten Sinne um die Raison d’être der bundesrepublikanischen Linken – um das Verhältnis zum Multilateralismus, zum Westen und zur transatlantischen Partnerschaft. Und damit um die Frage, wer letztlich der Verantwortliche für diesen Krieg ist. Berlin-Moskau: Die eurasische Vision Nicht nur auf der großen Wagenknecht-Schwarzer-Demo am 25. Februar war die Antwort für viele glasklar: Die Kriegstreiber sitzen nicht in Moskau, sondern in den USA – und in der grünen Partei. Demnach handelt es sich um eine Eroberungskampagne der Nato, auf die Russland nur präventiv reagiert. Wagenknecht ist natürlich klug genug, diese Umdefinition nur anzudeuten, etwa wenn sie das Buch von Ulrike Guérot und Hauke Ritz anpreist, das den jüngsten Krieg nicht mit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 beginnen lässt, sondern bereits mit angeblichen Kriegshandlungen der Ukraine gegen die „Volksrepubliken“, also die von Putin erst okkupierten, dann annektierten und schließlich eingemeindeten Gebiete.5 Auf diese Weise mutiert Russlands Krieg tatsächlich zur bloßen „Spezialoperation“ – als „Notwehr“ gegen einen angeblichen US-amerikanischen Angriffskrieg. Andere aus dem engsten Kreis um Wagenknecht machen aus ihrem Herzen noch weniger eine Mördergrube, wie etwa Diether Dehm. Das Pentagon habe den Krieg „auf dem Rücken Europas“ mit Hilfe von „ukrainischen 5 Ulrike Guérot und Hauke Ritz, Endspiel Europa: Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können, Frankfurt a. M. 2022.

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Killerbanden mit SS-Symbolen“ vorbereitet und die Bundesregierung als angeblich treuer Vasall der USA habe bei der Kriegsvorbereitung mitgeholfen, so Dehm: „Das Minsker Abkommen II des damaligen Außenministers Steinmeier entpuppte sich als reines Hinhaltemanöver der deutschen Regierung und der Nato, um den ukrainischen Nazifaschistenfreunden ihre Zeit zum Aufrüsten einzuräumen.“6 Was Wagenknecht bisher eher andeutet, spricht derweil ihr Mann Oskar Lafontaine in seiner neuen Schrift „Ami, it’s time to go“ in entwaffnender Ehrlichkeit aus. „Das Ziel der US-Politik ist es seit 100 Jahren, Deutschland und Russland gegeneinander aufzubringen“, heißt es dazu von ihm in einem Interview mit dem „Freitag“.7 Deshalb wollten die USA „den Krieg so lange wie möglich führen, um Russland zu schwächen“ – auch das eine klassische Täter-Opfer-Umkehr. Hinter dem „Ami raus aus Europa“ steckt letztlich die Idee eines „vereinten Eurasiens“, eines Europas mit enger Bindung an Russland, aber ohne die Vereinigten Staaten, wie es Guérot und Ritz fordern, aber auch die engste Wagenknecht-Vertraute Sevim Dag˘delen, die dezidiert von einem „eurasischen Block“ spricht, den die USA mit dem „Stellvertreterkrieg der Nato“ in der Ukraine gegen Russland zu sprengen versuchten.8 Für diese eurasische, angeblich pazifistische Vision beruft sich das Wagenknecht-Lafontaine-Lager auf die sozialdemokratische Entspannungspolitik der 1970er Jahre. Dafür wird seit Jahren ein einziger Satz Willy Brandts völlig aus dem Zusammen6 Pascal Beucker und Tanja Tricarico, Friedenswirrwarr in München, in: „die tageszeitung“, 18.2.2023. 7 „Oskar Lafontaine, was würden Sie besser machen als Olaf Scholz?“, in: „Der Freitag“, 7/2023. 8 Sevim Dag˘delen, Deutsche Panzer gegen Russland? Die USA wollen Deutschland ins Feuer schicken, in: „Berliner Zeitung“, 16.1.2023.

hang gerissen, um der Ikone der Sozialdemokratie die eigene Position unterzuschieben. In seiner Rede zum Empfang des Friedensnobelpreises 1971 in Oslo sagte Brandt: „Krieg ist nicht die Ultima Ratio, sondern die Ultima Irratio“ – für Wagenknecht und Co. heute Beleg der Tatsache, dass sich jede militärische Unterstützung der Ukraine verbietet.

Kommentare

7

Brandt, der sich aufgrund seines Todes im Jahr 1992 nicht mehr selbst gegen diesen infamen Missbrauch verteidigen kann, stand aber dezidiert für das Gegenteil. „Ich bekenne mich nachdrücklich zu den universellen Prinzipien des allgemeinen Völkerrechts, so oft sie auch missachtet werden. Sie haben in den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen ihren verbindlichen Ausdruck gefunden: Souveränität – territoriale Integrität – Gewaltlosigkeit – Selbstbestimmungsrecht der Völker – Menschenrechte. Die Grundsätze sind unabdingbar, auch wenn es an ihrer Erfüllung so oft mangelt“, heißt es in seiner Osloer Rede, und weiter: „Das schließt die Unverletzlichkeit bestehender Grenzen notwendig ein.“9 Mit einem Verschleiern oder Leugnen des russischen Eroberungskrieges ist dies völlig unvereinbar, vielmehr folgt daraus eine Unterstützung des Selbstverteidigungsrechts der Ukraine. Brandt erinnerte sich in Oslo auch des „naiven Humanismus“ seiner ganz jungen Jahre, als er für Bertha von Suttners „Die Waffen nieder“ schwärmte. Doch er wusste stets, dass der Gesinnungspazifismus als totaler Gewaltverzicht moralisch integer nur für das eigene Leben, aber nicht für das anderer gelten kann. Viel wichtiger ist für Brandt die Tradition des Rechtspazifismus, die auf die Herstellung einer gerechten und friedlichen Weltordnung

abzielt: „Der Frieden ist so wenig wie die Freiheit ein Urzustand, den wir vorfinden: Wir müssen ihn machen, im wahrsten Sinne des Wortes“, so Brandt in Oslo ganz in der Tradition Immanuel Kants. Pacem facere, Frieden aktiv stiften: Das ist die Kontinuitätslinie seines Lebens, das Streben nach einer völkerrechtlich grundierten Weltinnenpolitik. Dass Brandt sich dabei nie als Gesinnungspazifist verstand, geht bereits aus seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg hervor. Aus dieser, seiner doppelten totalitären Erfahrung, mit dem Faschismus, aber auch dem Bolschewismus, strebte Brandt eine eigenständige europäische Politik an, auch und gerade als Emanzipation von den Großmächten. Gleichzeitig aber ließ er – im Gegensatz zu Lafontaine – nie einen Zweifel daran aufkommen, dass seine eigene Entspannungspolitik nur auf der Basis einer festen Bindung an den Westen gelingen konnte. Brandt betonte ausdrücklich: „Das Etikett ‚Ostpolitik’ sagt mir nicht zu. [...] In Wirklichkeit ist es so: Unsere Entspannungspolitik fing im Westen an und bleibt im Westen verankert. Wir wollen und brauchen die Partnerschaft mit dem Westen und die Verständigung mit dem Osten. Niemand sollte übersehen: Die westeuropäische Einigung, an der wir aktiven Anteil haben, behält für uns Priorität. Das Atlantische Bündnis ist für uns unverzichtbar.“10 Der Austritt aus der Nato war für Brandt daher nie eine Option. Schon auf dem Höhepunkt des Nachrüstungsstreits, bei dem Brandt – im Gegensatz zu Helmut Schmidt – bekanntlich viel Sympathie für die Position der Friedensbewegung hatte, verlief hier für ihn die rote Linie. Auf der großen Demonstration im Bonner Hofgarten am 22. Oktober 1983 sprach er sich zwar gegen den Nato-Doppelbeschluss aus, aber zugleich für die deutsche Verteidigungsbereitschaft, Bundeswehr und Nato-Mitgliedschaft, was

9 Zit. nach von Lucke, a.a.O., S. 172, 175.

10 Ebd., S. 173 f.

Brandts Politik: Im Westen verankert

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8 Kommentare ihm beim bedingungslos gesinnungspazifistisch eingestellten Teil der Demonstranten „Buhrufe und einen Hagel von Feuerwerkskörpern und Eiern“ einbrachte.11 Schon damals hatte die Verantwortungsethik Brandts mit dem platten Antiamerikanismus in Teilen der deutschen Linken – wie auch immer der Rechten – nichts zu tun. Doch diese Spaltung der Linken hat das Ende des Kalten Krieges in fataler Weise überdauert. Der entscheidende Unterschied besteht bloß darin, dass es sich bei der damaligen Sowjetunion um eine den Status quo sichernde Macht handelte und bei dem heutigen Putin-Russland um eine revisionistisch-imperialistische.12 Das ist der zentrale Grund für die noch größer gewordene Notwendigkeit des Nato-Bündnisses und der transatlantischen Partnerschaft, solange Europa nicht selbst verteidigungsfähig ist. Die Lage in der Ukraine zeigt jedenfalls, wie wehrlos dieses Europa ohne die militärische Unterstützung der USA heute wäre. „Wir sind blank“, hat es der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, auf den Punkt gebracht. Das verdrängen alle jene, die jetzt eine neue deutsch-russische, eurasische Freundschaft propagieren, ohne die USA auf europäischem Boden. Daher muss sich jetzt an dieser existenziellen Frage klären, wohin die Linkspartei geht. Der Ex-Vorsitzende Gregor Gysi hat seine Entscheidung jedenfalls getroffen. Für ihn ist die entscheidende Frage nicht die werteorientierte Verortung der Linken, sondern das „Überleben“ der Partei. Und er kann sich gewiss sein, dass die rein machtfixierten Strategen um Dietmar Bartsch diese Position absolut teilen. Dafür geht Gysi die Zusammenarbeit mit dem Magneten Wagenknecht („Sahra und ich haben eine histori-

sche Verantwortung, diese Partei zu retten“) über alles. Faktisch aber liefert Gysi, indem er Wagenknecht bekniet, doch in der Linken zu bleiben, ihr die Partei regelrecht aus – und damit ihrem alles andere als linken Kurs. „Nationalpopulisten aller Parteien, vereinigt euch“, lautet das Leitmotiv der Wagenknechtschen Sammlungsbewegung.13 Deshalb werden die Unterschiede zwischen links und rechts ganz bewusst zum Verschwinden gebracht, zur Freude von Rechtsradikalen wie Jürgen Elsässer, der in seinem „Compact“-Magazin schon lange von der neuen Querfront schwärmt. Gysi hat nicht erkannt – oder genauer: Er will nicht erkennen , dass es heute nicht um sein Lebenswerk geht, sondern um etwas weit Grundsätzlicheres, nämlich darum, wofür die Linke steht. „Links und frei“ lautete Brandts Leitspruch. Dieses freiheitlich-demokratische Erbe gilt es zu bewahren. Auch für die Linkspartei entscheidet sich an dieser Frage ihre Zukunft. Macht sie sich mit einem revisionistisch-reaktionären Russland gemein, oder versteht sie sich als eine Kraft, die die Freiheit nach innen wie nach außen verteidigt. Wenn sie weiter den schon immer reichlich anmaßenden Namen „Die Linke“ für sich in Anspruch nehmen will, ist letzteres ihre Aufgabe. Internationale Solidarität bedeutet, Freiheit und Menschenwürde der Ukrainerinnen und Ukrainer gemäß den Regeln des Völkerrechts zu verteidigen. Und zwar auch auf die Gefahr hin, dass ohne den Wagenknecht-Populismus der Einzug in den nächsten Bundestag misslingen könnte. Wie hatte einst ein anderer großer Linker gesagt: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“14 Es ist tragisch, dass wir in Zeiten leben, in denen man an diesen Mut wieder erinnern muss.

11 Peter Merseburger, Willy Brandt, 1913 – 1992, Visionär und Realist, Stuttgart und München 2002, S. 786. 12 Inklusive eines kleptokratischen Kapitalismus, der keinerlei „Systemalternative“ darstellt.

13 Vgl. Horst Kahrs u. Udo Wolf, Linkspopulismus trifft Rechtspopulismus, in: „Blätter“, 10/2022. 14 So begründete SPD-Chef Otto Wels am 23. März 1933 im Reichstag das „Nein“ der Sozialdemokratie zum Ermächtigungsgesetz.

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Kommentare

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Annett Mängel

Drei Jahre Corona: Die Illusion der Normalität Vor einem Monat ist sie gefallen, die letzte verbliebene bundesweit geltende Coronaschutzmaßnahme: Seit dem 2. Februar sind die Masken nun auch in Bussen und Bahnen des Nah- und Fernverkehrs nicht mehr vorgeschrieben. Schon zuvor hatte unter anderem Bayern die Maskenpflicht im alltäglichen Verkehrsgedränge ausgerechnet zur Hochzeit auch anderer Erkältungskrankheiten aufgehoben – und war damit einmal mehr zum Vorreiter und Drängler einer unsteten Coronapolitik geworden: Während Markus Söder zu Beginn der Pandemie als Kapitän des „Teams Vorsicht“ umfassende Eindämmungsregelungen forcierte, geriert er sich seit geraumer Zeit als die Speerspitze des „Teams Freiheit“, das das Ende der Pandemie und eine Rückkehr zur alten, vorpandemischen „Normalität“ fordert. Damit aber trägt der bayrische Ministerpräsident zu einer fatalen Schlagseite in der hiesigen Debatte über die Pandemiebekämpfung bei: Immer lauter werden jene Stimmen, die die politischen Maßnahmen zur Coronaeindämmung als völlig überzogen oder gänzlich unnötig darstellen. Derweil sich immer mehr politische Entscheidungsträger Asche aufs Haupt streuen, kommt in der medialen Diskussion eines entschieden zu kurz, nämlich eine wirkliche Bestandsaufnahme, wo wir heute stehen – und womit wir weiter rechnen müssen – nach der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, die nur deshalb in den vergangenen zwölf Monaten in den Hintergrund getreten ist, weil wir es seit einem Jahr mit dem Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine

mit einer noch größeren, die Grundfesten der europäischen Nachkriegsordnung infrage stellenden Herausforderung zu tun haben. Dabei kann zum dritten Jahrestag des ersten „Lockdowns“ hierzulande, der im Vergleich mit anderen Ländern nur ein halber war, noch immer nicht davon die Rede sein, dass das Virus seinen Schrecken vollständig verloren hätte: Auch jetzt sterben allein in Deutschland täglich um die 100 Menschen an dessen Folgen und in den Krankenhäusern wächst erneut die Zahl der Infizierten – auch wenn viele wegen anderer Indikationen dort landen. Doch weil sie dann – aus gutem Grund – noch immer isoliert werden, erhöht die Infektion den Aufwand für Krankenpfleger und Ärztinnen erheblich. An deren unzureichender Personaldecke hat nämlich auch das anfängliche Klatschen vom Balkon – zum Dank für ihren selbstlosen, viel zu lange schlecht geschützten Einsatz – bis heute nichts geändert.1 Long Covid in den Blick nehmen Hinzu kommt aber ein mindestens ebenso wichtiger Punkt: Noch immer wissen wir viel zu wenig über die Folgeschäden, die das Virus im Körper anrichten kann. Dabei gibt schon das, was bislang bekannt ist, ausreichend Grund zur Sorge. Inzwischen ist we1 Vgl. Ulrike Baureithel, Pflege am Limit: Die hausgemachte Katastrophe, in: „Blätter“, 12/2021, S. 21-24; dies., Krankenhäuser vor dem Aus: Lauterbachs Revolution, in: „Blätter“, 2/2023, S. 17-20.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2023

10 Kommentare niger die akute Krankenlast das Problem, sondern vielmehr das, was noch auf uns zukommt – und zwar in Form von Langzeitschäden auf die Betroffenen, aber auch auf die Gesellschaft insgesamt: Bislang haben die Unfallkassen und Berufsgenossenschaften zum Stichtag 31. Januar 2023 mehr als 310 000 Covid-Erkrankungen als Berufskrankheit anerkannt – und allein 2021 erkannten sie insgesamt dreimal so viele Berufskrankheiten an wie noch im Vorjahr. Die Zunahme geht fast ausschließlich auf Infektionskrankheiten, also insbesondere Coronainfektionen, zurück.2 Nun ist mit einer Anerkennung als Berufskrankheit zwar nicht gesagt, dass alle Betroffenen dauerhaft beeinträchtigt sind – und schon gar nicht, dass sie im Falle dessen auf einen Rentenanspruch und ausreichende Unterstützung zählen können. Doch allein der enorme Anstieg an Anträgen und Bewilligungen zeigt, wie viele Krankenschicksale sich dahinter verbergen und vor welcher Herausforderung unsere Sozialsysteme in Bälde stehen könnten, sollte auch nur ein Teil derjenigen fortwährend nur eingeschränkt oder gar nicht arbeiten können, die ihre Infektion als Berufskrankheit anerkennen lassen konnten. Denn unter anhaltenden Beschwerden nach einer Covid-Infektion leiden nach bisherigen Schätzungen mindestens bis zu sechs Prozent der Infizierten, bei Hospitalisierten sogar bis zu über 40 Prozent.3 Dabei kommt es zu verschiedenen Formen der Beeinträchtigung. Zum einen zu chronischer Erschöpfung, dem sogenannten Fatigue-Syndrom. Dabei leiden die Betroffenen bereits nach geringer körperlicher Anstrengung wie Zähneputzen oder selbst nach einem Telefonat mit Freunden unter schwerer körperlicher 2 Und Zehntausende von neueren Anträgen harren noch immer der Bearbeitung. Vgl. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Berufskrankheitsgeschehen, www.dguv.de sowie ebd., Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle im Zusammenhang mit Covid-19. 3 Vgl. Long Covid (Stand 31.1.2023), www.rki.de.

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Schwäche. Von einer Teilnahme am „normalen“ Leben sind sie völlig ausgeschlossen, Arbeit oder Schule lassen sich nicht bewältigen.4 Diese Folge einer Coronainfektion brachte – immerhin – die bislang viel zu wenig beachtete Erkrankung ME/CFS5 etwas mehr ins öffentliche Bewusstsein. Von dieser waren schon vor Corona hierzulande bis zu 250 000 Menschen, darunter 40 000 Kinder und Jugendliche, betroffen. Und doch mangelt es aufgrund unzureichender Forschung und Aufklärung an hilfreichen Behandlungsempfehlungen, Medikamenten und nicht zuletzt an Wissen auch beim medizinischen Fachpersonal. Viel zu oft werden die Erkrankten mit ihren Beschwerden noch immer nicht ernst genommen, ihre Einschränkungen als psychosomatisch abgetan oder sie in Reha-Maßnahmen zu körperlicher Ertüchtigung aufgefordert, obwohl in ihrem Fall das sogenannte Pacing6 ein weit erfolgversprechenderer Ansatz ist: der schonende Umgang mit den eigenen Energieressourcen und die Schulung im Erkennen der eigenen Grenzen. Neben der Fatigue treten unter den Long-Covid-Patienten oft Einschränkungen der Lunge wie Kurzatmigkeit und anhaltender Husten auf. Andere leiden unter neurologischen Beeinträchtigungen wie Kopf- und Muskelschmerzen, Geruchs- und Geschmacksverlust oder unter Beschwerden wie Konzentrationsstörungen und gedrückter Stimmung. Zudem zeigen immer mehr Untersuchungen, dass das Coronavirus Gefäße im Körper weit über die Lunge hinaus angreift, weshalb etwa Herzbeschwerden und Herzinfarkte selbst lange nach einer Coronainfektion auftreten können. 4 Vgl. Margarete Stokowski, Freedom Day oder nicht, Long Covid ist ein ernstes Problem, www.spiegel.de, 15.3.2022. 5 Die sogenannte Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom, vgl. www. mecfs.de sowie Marina Weisband, „Ich habe einen kaputten Akku“, www.taz.de, 5.12.2021. 6 Vgl. Pacing als Strategie zum Krankheitsmanagement bei ME/CFS, www.mecfs.de.

Allerdings wird es zunehmend schwerer, die genaue Ursache für Erkrankungen eindeutig zuzuweisen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass inzwischen von einer massiven Untererfassung von Coronainfektionen auszugehen ist, seitdem außer bei Krankenhaus- und Pflegeheimbesuchen keine Coronatests mehr finanziert werden. Sofern also nicht die vielbeschworene Eigenverantwortung zieht und hustende Menschen sich selbst auf Corona testen, bleiben viele Infektionen unerkannt und werden unter die Leute getragen. Mit dem Argument, dass auch bei normalen Erkältungskrankheiten und der Influenza keine Isolationspflicht bestehe, gibt es diese inzwischen auch bei Corona nicht mehr. Das trägt zwar mit dazu bei, dass die „Pandemie“ sich zur „Endemie“ entwickelt, ihre Gefahren sind damit aber noch lange nicht gebannt: Auch Malaria ist endemisch und fordert dennoch Jahr für Jahr hunderttausende Kranke und Tote. Der Irrglaube von der »Immunschuld« Und dennoch setzen viele das ersehnte Ende der Pandemie mit einem völligen Ende der Vorsicht und Rücksichtnahme auf vulnerable Gruppen gleich. Spätestens seit dem Interview mit Christian Drosten in der „Zeit“ im vergangenen November 7, in dem er für den Sommer 2023 – und eben nicht sofort – ein Ende der Pandemie in Aussicht stellte, gab es für die Rufer nach der alten Normalität kein Halten mehr. Das aber hatte gravierende Auswirkungen: Nachdem bundesweit an allen Schulen die Maskenpflicht gefallen war, stieg erwartungsgemäß die Zahl der Atemwegserkrankungen bei Kindern und damit auch deren Familien rasant an, wodurch sowohl die ambulante als auch die stationäre Versorgung der Jüngsten vor bislang kaum gekannte 7 Christian Drosten im Interview: „Die Lage wird für das Virus prekär“, www.zeit.de, 23.11.2022.

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Herausforderungen gestellt wurde.8 Diese Welle hätte mit einer vorsorgenden Gesundheitspolitik vermieden werden können – etwa mittels der nach zweieinhalb Jahren Pandemie endlich in fast allen Klassenzimmern vorhandenen Luftfilter oder indem man sich an die nachgewiesene Schutzwirkung von Masken erinnert hätte. Dennoch nahm man in Politik und Wirtschaft die absehbaren Ausfallzeiten wie auch die Krankheitslast in Schulen und damit auch der Arbeitswelt nahezu schulterzuckend zur Kenntnis. Das Mantra vieler Kritiker: „Kinder und Bildung dürfen nicht mehr leiden, Schulen müssen unter allen Umständen offen bleiben“, erwies sich als unhaltbar. Zwar blieben die Schulen jetzt bundesweit offen, aber die Klassen waren wegen Krankheit oft nur zur Hälfte gefüllt – oder übervoll, weil die wenigen verbliebenen gesunden Lehrkräfte mehrere Klassen auf einmal beschulen mussten. An Bildung wie in vorpandemischen Zeiten war nicht zu denken – und wieder waren jene Schüler im Vorteil, die nicht nur aus einem digital gut ausgestatteten Elternhaus stammen, sondern auch noch eine digital versierte Lehrerin haben. Denn auch drei Jahre nach Beginn der Pandemie und der wiederholt ausgerufenen Digitaloffensive fehlt dem deutschen Bildungssystem die erforderliche digitale Ergänzung des analogen Vor-Ort-Unterrichts. Letztlich hängt die jeweilige Ausstattung noch immer von den mehr oder weniger engagierten Direktorinnen und Lehrern ab.9 8 Vgl. Olga Staudacher, Wie soll ein krankes System kranke Kinder heilen?, in: „Blätter“, 2/2023, S. 13-16. 9 Dass Kinder aus ärmeren Familien und solche mit einem schwierigen familiären Hintergrund besonders unter den Schul- und Kitaschließungen litten und leiden, betont auch die jüngst vorgestellte Studie der Bundesregierung: Interministerielle Arbeitsgruppe: „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“. Abschlussbericht, Berlin und Bonn, 8.2.2023, www.bundesregierung.de; vgl. dazu auch: Annett Mängel, Corona: Die ignorierten Armen, in: „Blätter“, 6/2020, S. 9-12.

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12 Kommentare Dabei hat sich in der Pandemie wie unter einem Brennglas gezeigt, wie stark individuelle Bildungschancen davon abhängen, mit welchem finanziellen und sozialen Kapital die Familien ausgestattet sind. Doch trotz aller Beteuerungen, wie wichtig Bildung sei, tut sich hier bis heute so gut wie nichts, finden die Sorgen und Nöte derjenigen, die auch jetzt besonders unter der Inflation und den steigenden Energiepreisen leiden, kein Gehör. Meinten diejenigen, die die Belastung der Kinder und Jugendlichen während der Pandemie beklagen, dies wirklich ernst, müssten sie sich vor allem und mit aller Kraft dafür einsetzen, dass Kindergärten und Schulen mit ausreichend Lehrerinnen, Sozialpädagogen und auch technisch versiertem Personal ausgestattet werden. Nur so können diese ihrer Verantwortung für die Lernenden wirklich gerecht werden. Stattdessen aber werden die Schutzmaßnahmen während der Pandemie nun für eine vermeintliche „Immunschuld“ verantwortlich gemacht: Denn, so das Argument, hätte es Masken und Kontaktbeschränkungen nicht gegeben, wären die Kinder in diesem Winter nicht so krank gewesen. Richtig ist, dass gerade die Jüngsten, insbesondere die mit dem RS-Virus, jene Infektionen nachholten, die sie in ungeschützten Zeiten bereits früher gehabt hätten, weshalb mehrere Altersgruppen zeitgleich krank wurden und die Krankenhäuser auch deshalb teilweise überlastet waren. Dass man aber stattdessen das Virus besser ungebremst durch die Population der Kinder hätte durchlaufen lassen sollen – inklusive der damit verbundenen Ansteckungen von Lehrpersonal und Eltern und dem massiven Ausfall in der Arbeitswelt –, ist völlig abwegig. Vielmehr muss in Zukunft vor allem eines in der wissenschaftlichen Forschung viel stärker in den Blick genommen werden: nämlich die Frage, wie sich das Virus auf den Körper und dessen Funktionen auswirkt. Denn es

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ist keinesfalls ausgeschlossen, dass die massive Krankheitswelle dieses Winters auch mit einem durch Covid-19 geschwächten Immunsystem zu tun haben könnte. Gleichwohl bleibt es unerlässlich, möglichst genau zu analysieren, welche Maßnahmen während der Pandemie wie gewirkt haben, welche Folgewirkungen sie hatten und wie in Zukunft besser auf mögliche neue Pandemien reagiert werden kann. Fest steht: Schon jetzt offensichtliche Fehler dürfen sich keinesfalls wiederholen. Dazu gehört fehlende Schutzausrüstung für medizinisches Personal – hier muss dringend Vorsorge betrieben werden, schon, um in Zukunft die fatalen Maskendeals zu verhindern, mit denen sich einige wenige auf Kosten der Steuerzahler bis heute unbestraft bereichert haben. Gleiches gilt für die viel zu lange unregulierten Testzentren, die geradezu dazu einluden, ungeprüft nicht durchgeführte Tests abzurechnen. Auch Spielplätze abzusperren und den Aufenthalt in Parks ohne triftigen Grund zu untersagen, darf sich nicht wiederholen. Schließlich müssen die besonders vulnerablen Gruppen – Gebärende wie Sterbende und Schwerkranke, stärker in den Blick genommen werden. Spätestens dann, als Masken, zuverlässige Tests und die Impfungen zur Verfügung standen, hätten deren Bedürfnisse Priorität bekommen müssen. Dass viele von ihnen allein gelassen wurden, ist in der Tat kaum zu verzeihen. Und dennoch gilt es bei aller berechtigten Kritik immer eines im Blick zu behalten: Nämlich dass man selbstverständlich mit heutigem Kenntnisstand vieles anders machen würde, aber Entscheidungen in derart historischen Ausnahmesituationen immer nur mit den jeweils vorhandenen Informationen getroffen werden können10 – nach bestem Wissen und Gewissen. 10 Vgl. dazu auch: Christina Berndt, CoronaDiskurs. Immer schon gesagt, www.sueddeutsche.de, 10.2.2023.



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Steffen Vogel

Frankreich: Rentenreform um jeden Preis? Es ist eine Kraftprobe mit ungewissem Ausgang: Mit seiner geplanten Rentenreform hat Emmanuel Macron große Teile des Landes gegen sich aufgebracht. Die Gewerkschaften rufen vereint wie lange nicht zu Streiks auf, Millionen Menschen strömen zu den Großdemonstrationen. Bereits zu Beginn waren die Proteste massiver, als es selbst die klassenkämpferische Gewerkschaft CGT erwartet hatte. In Umfragen lehnen drei Viertel der Französinnen und Franzosen das Vorhaben ab. Derzeit ist es sogar alles andere als ausgemacht, dass Macrons Reform bis zum geplanten Abschluss der parlamentarischen Beratungen am 27. März eine Mehrheit in der Nationalversammlung finden wird. Das stellt den französischen Präsidenten vor ein gewaltiges, aber zu einem guten Teil selbstverschuldetes Dilemma: Macron hat seine politische Glaubwürdigkeit an das Gelingen dieser seiner wichtigsten innenpolitischen Reform geknüpft. Daher steht und fällt mit ihr auch seine Bilanz als Staatschef. Kapituliert Macron vor dem Volkszorn, wird er unweigerlich als gescheiterter Modernisierer gelten. Schaltet er hingegen auf stur und setzt die Reform gegen den Mehrheitswillen und am Ende nötigenfalls sogar per Dekret durch, riskiert er eine weitere Spaltung des Landes, zulasten der französischen Demokratie. Die massive Ablehnung, die der Rentenreform allenthalben entgegenschlägt, selbst aus Teilen der Regierungsfraktion, erklärt sich nur zum Teil aus den konkreten Plänen von Macron und Premierministerin Élisabeth Borne. Diese sind weniger weitreichend als noch im ersten, durch die Pande-

mie gestoppten Anlauf von 2019.1 So soll der Rentenbeginn nun von 62 auf 64 Jahre angehoben werden, statt wie ursprünglich geplant auf 65 Jahre. Da das Vorhaben aber Gruppen stärker belastet, die in der Arbeitswelt ohnehin benachteiligt sind, fügt es sich in den Augen vieler in das größere Panorama einer zunehmend von Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägten Gesellschaft – und in das Bild einer abgehobenen Elite, die blind ist für die soziale Lage einer Mehrheit der Französinnen und Franzosen. Damit sind alle Zutaten vorhanden, die es für eine harte Auseinandersetzung braucht – vor allem in einer politischen Kultur, in der Konflikt wichtiger ist als Konsens. Von außen betrachtet mag die Empörung irritieren. Denn das französische Rentensystem ist überdurchschnittlich teuer und extrem komplex: Die jährlichen Kosten entsprechen knapp 14 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, in Deutschland sind es zehn, im OECDSchnitt acht Prozent.2 Zudem existieren gleich 42 Rentensysteme, die oft nur bestimmten Berufsgruppen offenstehen und teils hoch defizitär sind. Allein schon die von der Regierung geplante Abschaffung zumindest eines Teils der vielen Spezialkassen würde eine Reform rechtfertigen. Dass Millionen Menschen vermeintlich dafür demonstrieren, weiterhin mit 62 Jahren in den Ruhestand eintreten zu dürfen, erscheint gerade in Deutschland, wo schon die Rente mit 70 debattiert wird, wie aus der Zeit gefallen. Tatsächlich aber gehen bereits jetzt viele Französinnen und Franzosen 1 Steffen Vogel, Zum Siegen verurteilt: Macron und die Rente, in: „Blätter“, 2/2020, S. 21-24. 2 OECD, Pensions at a glance 2021, Paris 2021.

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14 Kommentare deutlich später in Rente, zumindest sofern ihr Körper es mitmacht. Denn um eine abschlagsfreie Rente erhalten zu können, müssen sie 42 Beitragsjahre vorweisen, künftig sollen es 43 Jahre sein. Genau diese zeitgleiche Erhöhung des Renteneintritts und der Beitragsjahre führt aber zu Ungerechtigkeiten, insbesondere mit Blick auf drei Gruppen. Das gilt erstens für Menschen, die nicht studiert haben: Wer mit 20 Jahren erwerbstätig wird, kann bisher mit 62 Jahren in den Ruhestand gehen. Nach der neuen Regelung hätte er hingegen erst mit 63 lange genug Beiträge eingezahlt und würde ein weiteres Jahr später das Renteneintrittsalter erreichen – müsste also zwei Jahre länger arbeiten. Für Akademiker hingegen ist die Altersgrenze schon jetzt ohne Belang, da sie aufgrund ihres Studiums ohnehin länger arbeiten müssen, um abschlagsfrei zu sein. Wer künftig beispielsweise mit 23 Jahren die Uni abschließt, hat nach dem neuen System die fälligen Beitragsjahre an seinem 66. Geburtstag beisammen, also nur ein Jahr später als zuvor. Und für alle, die noch länger studieren, greift wie bisher die Höchstgrenze von 67 Jahren, ab der jeder spätestens ohne Abzüge in Rente gehen darf. Akademiker leiden damit weniger unter der Reform als ihre geringer qualifizierten Altersgenossen – die überdies schon jetzt weniger von ihrer Rente haben. Denn nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen stirbt statistisch gesehen beispielsweise eine Arbeiterin drei Jahre früher als eine Managerin, und ein Arbeiter lebt sogar über sechs Jahre kürzer als ein Manager.3 Diese im wahrsten Sinne des Wortes existenzielle Ungleichheit würde durch die Reform noch verstärkt. Ähnlich ergeht es, zweitens, den Müttern, für die sich die Anrechnung von Kindererziehungszeiten ungüns3 Claude Soula, Générations sacrifiées: derrière l’âge de départ à la retraite, les inégalités sociales, www.nouvelobs.com, 18.1.2023.

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tig auswirkt. Dadurch werden sie im Durchschnitt etwas länger zusätzlich arbeiten müssen als Männer. Auch in diesem Fall verschärfen die Regierungspläne bestehende Ungerechtigkeiten: Da Frauen im Schnitt deutlich weniger verdienen als Männer, fallen ihre Renten entsprechend um 40 Prozent niedriger aus – in deren Genuss sie nun obendrein später kommen würden.4 Selbst der Minister für Parlamentsbeziehungen, Franck Riester, musste einräumen, Frauen würden durch die Reform „ein wenig bestraft“.5 So aber fühlen sich, drittens, insgesamt viele ältere Arbeitnehmer. Derzeit ist in Frankreich nur ein knappes Drittel der über 60jährigen noch im Beruf, in der EU liegt der Durchschnitt immerhin bei 45 Prozent.6 Selbst wer körperlich fit genug und arbeitswillig ist, findet ab einem gewissen Alter in Frankreich schwerer einen Job als anderswo. Ein höheres Renteneintrittsalter bedeutet für viele daher nicht, dass sie länger im Beruf bleiben müssen, sondern dass sie länger arbeitslos sein werden. Auch das trifft geringer Qualifizierte häufiger als Akademiker. Es sind diese sozialen Unwuchten, die derzeit landesweit Menschen auf die Straße treiben. Ungerecht, aber notwendig? Die Befürworter von Macrons Plänen bemühen dagegen den Sachzwang. So erklärte der ehemalige Fraktionschef der Regierungspartei, Gilles Le Gendre ganz offen: „Ich sage nicht, dass diese Reform gerecht ist, sondern dass sie notwendig ist.“ Die Regierung argumentiert, angesichts der alternden Bevölkerung drohe den Rentenkassen ein 4 Tribunes contre la réforme Macron-Borne des retraites, in: „L’Humanité”, 26.1.2023. 5 Vgl. Retraites: „Les femmes sont pénalisées par le report de l’âge légal“, reconnaît Franck Riester, www.publicsenat.fr, 23.1.2023. 6 Claude Soula, Générations sacrifiées, a.a.O.

Milliardendefizit, das früher oder später das Rentensystem gefährden werde. Ihre Reform sei daher unabdingbar, um den Solidarvertrag zu retten.7 Wie hoch dieses Defizit tatsächlich ausfallen wird, ist allerdings stark umstritten, auch weil es von schwer kalkulierbaren Faktoren wie der erwarteten Arbeitslosenquote abhängt. Macrons Kritiker werfen ihm vor, bewusst ein düsteres Bild zu zeichnen, tatsächlich gehe es ihm bei seiner Reform vor allem um die erwarteten Mehreinnahmen von 20 Mrd. Euro jährlich, die er unter anderem zur von der EU angemahnten Haushaltskonsolidierung einplanen könnte.8 Den Sozialstaat verteidigen Mit dieser Argumentation machen es sich manche Reformgegner zwar zu leicht, denn ein erhöhter Finanzbedarf besteht angesichts der wachsenden Zahl von Rentnern ganz objektiv, die Regierung liefert ihnen aber eine Steilvorlage. Denn nach ihrem Entwurf sollen vor allem kleine Angestellte und Arbeiter deutlicher in die Pflicht genommen werden, statt zuerst die starken Schultern mehr zu belasten. So lehnt es Borne ab, das Defizit über höhere Arbeitgeberbeiträge zu verringern. Viele begreifen die Reform daher als einen weiteren Angriff auf den lagerübergreifend sehr beliebten Sozialstaat. Der Soziologe Luc Rouban bringt das so auf den Punkt: „Seit den 1980er Jahren versuchen die Eliten dieses Landes hartnäckig, liberal inspirierte Rezepte auf eine Gesellschaft anzuwenden, die nicht liberal ist.“9 7 Richard Godin, Réforme des retraites: dans la majorité fissurée, il y a ceux qui ne la voteront pas, ceux qui hésitent et ceux qui critiquent, www.nouvelobs.com, 26.1.2023. 8 Thomas Piketty, Président des riches, saison 2, www.lemonde.fr, 10.1.2023. 9 Vgl. Luc Rouban: „La mobilisation sur les retraites manifeste une défiance à l’égard de la hiérarchie sociale“, www.nouvelobs.com, 26.1.2023.

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Die Proteste treffen also längst nicht nur wegen der Rentendebatte einen Nerv in der französischen Gesellschaft. Hinzu kommt, dass viele Französinnen und Franzosen, insbesondere aus den Jahrgängen ab 1980, die Arbeitswelt als frustrierend erleben, weil sie prekär beschäftigt sind, unterhalb ihres Qualifikationsniveaus arbeiten müssen oder glauben, gesellschaftlicher Erfolg werde weniger durch Leistung erreicht als vielmehr vererbt. Unter diesen Bedingungen möchten viele nicht noch mehr Zeit im Erwerbsleben verbringen, wie von der Regierung gefordert, im Gegenteil: 60 Prozent der Bevölkerung würden lieber weniger arbeiten, selbst wenn sie dadurch auch weniger verdienten.10 Aufwind für die Linke? All das müsste eigentlich eine Steilvorlage für die Linke sein, die schon oft von großen Streikbewegungen profitiert hat. Zudem strömt dieses Mal, anders als sonst, auch das „periphere Frankreich“ der Klein- und Mittelstädte massenweise zu den Protestzügen: Dort leben eher Angestellte und Arbeiter als Akademiker, dort fassen linke Parteien für gewöhnlich nur schwer Fuß – dafür aber zunehmend der rechtsradikale Rassemblement National. Dank ihrer guten Beziehungen zu den Gewerkschaften könnte die Linke dort nun wieder Boden gutmachen, heißt es in einem Papier der den Sozialisten nahestehenden Fondation Jean-Jaurès.11 Auch der starke Mann des neuen Linksbündnisses Nupes, Jean-Luc Mélenchon, baut auf einen linken Aufbruch: Sollte Macron angesichts des massiven Unmuts keinen Rückzieher machen, soll ein Misstrau10 Daniel Cohen, Face à la réforme des retraites, la colère et la résignation, www.nouvelobs. com, 31.1.2023. 11 Axel Bruneau und Thibault Lhonneur, La gauche et les sous-préfectures: la révolte inattendue?, www.jean-jaures.org, 8.2.2023.

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16 Kommentare ensvotum gegen die Regierung Borne zu Neuwahlen des Parlaments führen – und die Linkskoalition an die Macht bringen. Ob diese Hoffnung tatsächlich trägt oder eher trügt, ist aber ungewiss. Denn der massive, vor allem von den Gewerkschaften organisierte Protest verdeckt, dass sich in der Nupes nur wenige Monate nach ihrer Gründung vor der Parlamentswahl im vergangenen Juni schon erste Risse zeigen. So wollen die Grünen bei der Europawahl im kommenden Jahr auf keinen Fall erneut im Bündnis antreten, sondern mit einer eigenen Liste. Bei den Sozialisten geriet kürzlich die Neuwahl ihres Parteichefs zu einer Kampfabstimmung über die Nupes – der bisherige Generalsekretär Olivier Faure erhielt für seinen Bündniskurs nur magere 51 Prozent Zustimmung. Mélenchon schließlich hat in La France Insoumise, der mit Abstand größten Kraft innerhalb der Nupes, für erhebliche Unruhe gesorgt: In bewährt autokratischer Manier setzte er seinen Wunschnachfolger an der Parteispitze durch und verprellte damit wichtige Weggefährten, die ebenfalls Ambitionen gehegt hatten. Insofern ist es fraglich, ob sich die Nupes in diesem Zustand als verlängerter Arm der Protestbewegung empfehlen oder gar eine Parlamentswahl gewinnen kann. Regierung ohne Mehrheit Im Hintergrund lauert wie immer Marine Le Pen. Die Rechtsradikale ruft zwar nicht zu den Demonstrationen auf, versichert den Protestierenden aber ihr Verständnis und attackiert Macron für seine Missachtung des Volkswillens. Mit ihrem erprobten national-sozialen Kurs will auch Le Pen vom verbreiteten Unmut profitieren. Dabei hilft ihr die Schwäche der Konservativen, die bei den Wahlen im vergangenen Jahr erheblich Federn lassen mussten. Unter ihrem neuen Vorsitzenden Éric Ciotti,

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einem Anhänger des rechtsradikalen Phantasmas vom „Großen Austausch“, ist die Partei deutlich nach rechts gerückt. Zugleich ist ihr sozialer Flügel marginalisiert worden. Momentan sind die Konservativen die einzige Oppositionspartei im Parlament, die Macrons Reform zustimmen könnte – was Le Pen ausschlachten dürfte. Doch Macron braucht die Konservativen. Denn auch das Regierungslager zeigt sich derzeit alles andere als geschlossen. Gerade der linke Flügel der Präsidentenpartei hadert mit der Rentenreform, mehrere Abgeordnete wollen im Parlament mit Nein stimmen. Da die Regierung aber über keine eigene Mehrheit verfügt und selbst mit den Konservativen nur einen relativ knappen Vorsprung vor der Opposition hätte, könnte schon eine Handvoll Abweichler die Zustimmung zur Reform verhindern. Premierministerin Borne bliebe dann nur noch der berüchtigte Verfassungsartikel 49.3, der eine Umgehung der Nationalversammlung erlaubt. Zu dieser Maßnahme hat die Regierung in dieser noch kurzen Legislaturperiode schon wiederholt gegriffen, um Gesetze zu verabschieden – obwohl sie eigentlich nur für Krisenfälle gedacht ist. Wählt sie diesen Weg erneut, würde das ein fatales Bild abgeben: Macron stünde als Präsident da, der um jeden Preis eine Politik durchsetzen will, die schlicht nicht mehrheitsfähig ist, weder in der Gesellschaft noch im Parlament. Zu Recht warnt Macrons ehemalige Umweltministerin Barbara Pompili: „Man kann keine Reform gegen die Bevölkerung machen.“12 Tatsächlich würde es die Regierung mit einem solchen Durchregieren riskieren, Parlament und Parteien zu entwerten und so letztlich das Ansehen demokratischer Verfahren beschädigen. Das aber würde vor allem jenen nützen, die sich allenfalls oberflächlich zur Demokratie bekennen: Le Pens Rechtsradikalen. 12 Richard Godin, Réforme des retraites, a.a.O.



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Yalda Zarbakhch

Aufbegehren im Iran: Die Ruhe vor dem Sturm Ein halbes Jahr ist vergangen, seit die 22jährige Kurdin Jina Mahsa Amini im Iran von der Sittenpolizei verhaftet wurde und Tage später im Koma ihren Verletzungen erlag. Misshandelt und getötet im Polizeigewahrsam. Warum sie sterben musste? Weil „zu viel Haar“ unter ihrem Kopftuch sichtbar war. Die Sichtbarkeit der Frauen ist nicht nur eine Bedrohung für die sogenannte Sittenpolizei. Vielmehr noch ist sie eine Bedrohung für den gesamten Machtapparat: für das System der Islamischen Republik, dessen Grundpfeiler die Menschen im Iran, allen voran die Frauen, seit dem Tod der jungen Kurdin zum Erschüttern gebracht haben. Hierzulande mag in der Medienberichterstattung zuweilen der Eindruck entstehen, die Proteste seien abgeebbt. Doch das ist mitnichten der Fall. Zeit für eine Zwischenbilanz. Ein halbes Jahr ist vergangen, seit die Menschen im Iran begonnen haben, mutig und entschlossen auf die Straßen zu gehen, landesweit und vereint wie selten zuvor. Gegen ein theokratisches System, gegen die systematische Unterdrückung von Frauen, für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Kurzum: Für einen Regime Change. Der Iran hat in den vergangenen Jahrzehnten viele, auch große Protestbewegungen erlebt – zuletzt 2009, 2017/18 und im November 2019 –, aber noch nie zuvor in dieser Dimension, Intensität und Länge, trotz massiver Repressionen. Besonders hervorzuheben ist derzeit die Geschlossenheit über alle Gesellschaftsschichten und ethnische Gruppen hinweg. Insbesondere Frauen, Studierende, generell die

junge Generation sowie ethnische und marginalisierte Gruppen sind als größte Leidtragende der Regimepolitik der letzten Jahrzehnte die treibenden Kräfte. Der iranischen Human Rights Activists News Agency (HRANA) zufolge erstrecken sich die Proteste bislang auf 164 Städte und 144 Universitäten. Das Regime antwortet mit brutaler Gewalt: 525 Demonstrierende wurden laut Menschenrechtsorganisationen von Revolutionsgarden und Sicherheitskräften getötet, davon über 70 Kinder. Etwa 20  000 Demonstrierende sitzen in den Gefängnissen, wo sie physischer und psychischer Folter ausgesetzt sind, darunter Vergewaltigungen, die sich vor allem gegen Mädchen und Frauen richten, aber auch gegen junge Männer. Vier junge Menschen wurden bislang in Schau- und Schnellprozessen ohne faire Rechtsprechung oder Zugang zu Anwälten, ohne Beweise, nur aufgrund von unter Folter erzwungenen Geständnissen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Weiteren hundert Inhaftierten droht die Todesstrafe. Dass diese Proteste, die inzwischen durchaus so etwas wie einen revolutionären Prozess angestoßen haben, auch von der Machtelite und den Revolutionsgarden als ernstzunehmende, existenzielle Bedrohung wahrgenommen werden, verdeutlichte Ende November 2022 ein geleaktes Audiofile der Hacktivist-Gruppe „Black Reward“. Aus dem Gespräch eines ranghohen Revolutionsgardisten mit regimenahen Medienvertretern gehen drei Schlüsselelemente hervor: Erstens hat die von

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18 Kommentare den Demonstrierenden gezielt eingesetzte Dezentralität der Proteste innerhalb einer Stadt und die hohe Anzahl gleichzeitiger Proteste in vielen Teilen des Landes zu Ermüdungs- und Erschöpfungserscheinungen bei den Sicherheitskräften geführt. Diese haben zweitens Sorge vor den zahlreichen landesweiten Streiks. Und ein dritter, nicht unbeachtlicher Punkt: Sie gestehen ein, auf der Ebene des Medienkriegs versagt zu haben. Der Islamischen Republik ist sehr daran gelegen, durch Zensur, Desinformation und Kontrolle der staatlichen Medien ihre Propaganda zu streuen, auch in den Westen. Den Demonstrierenden im Iran – die unbewaffnet hochmilitarisierten Einsatzkräften gegenüberstehen, die nicht davor zurückschrecken, auf friedlich Protestierende und selbst auf Kinder zu schießen – bleibt demnach nur eine Waffe: ihre Handys. Sie riskieren ihr Leben nicht nur, wenn sie aktiv auf der Straße protestieren, sondern auch, wenn sie dokumentieren und filmen, mit welcher Brutalität die Revolutionsgarden und Basidjis gegen die eigene Bevölkerung vorgehen. Trotz Internetsperrungen und Blockaden ist es den Machthabern nicht gelungen, diesen medialen Prozess aufzuhalten. In bemerkenswerter Taktung und Fülle erreichen uns Bilder und Videos der Proteste und Festnahmen. Die Menschen im Iran riskieren ihr Leben, damit wir im Westen diese Bilder sehen. Es ist für sie überlebenswichtig, dass die Weltöffentlichkeit weiter hinsieht und dass die Berichterstattung nicht abbricht. So erreichen uns auch Videos wie das einer jungen Mutter, die aus dem Auto aufnimmt, wie Sicherheitskräfte auf Demonstrierende schießen – und dabei in der nächsten Sekunde ihren eigenen Tod filmt. Erschossen vor den Augen ihres siebenjährigen Kindes. Den Kampf um die Hoheit im Medienkrieg, wie die Revolutionsgarden es nennen, sollten wir im Westen immer im Hinterkopf behalten, wenn wir

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Meldungen von staatlichen iranischen Nachrichtenagenturen erhalten. Es ist wichtig, dass westliche Journalist:innen diese nicht eins zu eins übernehmen. Vielmehr müssen sie relativiert und in den Kontext gestellt werden, nur so vermeiden wir, in Propagandafallen zu tappen. Die Opposition formiert sich Das gilt auch für den hierzulande zuweilen erweckten Eindruck, die Proteste seien abgeebbt. Denn dieser Eindruck täuscht. In den kurdischen Gebieten und Belutschistan wird nach wie vor demonstriert. In anderen Teilen des Landes hat sich der Protest einstweilen von der Straße weg verlagert, schließlich ist es nicht möglich, über so einen langen Zeitraum hinweg einen Sprint hinzulegen. Die Bewegung bereitet sich vielmehr auf einen Marathon vor: Sie formiert sich im Untergrund. Sie findet Einzug in den Alltag in Form von zivilem Ungehorsam. So gehören Frauen mit offenen Haaren inzwischen vielerorts zum Stadtbild – trotz des erheblichen Risikos einer Verhaftung. Auch zum Jahrestag der Islamischen Republik am 11. Februar konnte die Regierung in diesem Jahr nur wenige Tausend Menschen für die üblichen Paraden (zwangs)mobilisieren. Hingegen gingen am 16. Februar in vielen Städten wieder Tausende Menschen auf die Straße, um den 40. Tag nach der Hinrichtung der Demonstranten Mohammad Mehdi Karami und Seyed Mohammad Hosseini mit Protesten zu begehen. Der revolutionäre Prozess ist weiterhin im Gange und formiert sich für die nächste Phase. Es wirkt wie die Ruhe vor dem Sturm. Unterdessen sortiert sich die Opposition neu. Ein unerwartetes Forum bot dafür die jüngste Münchner Sicherheitskonferenz. Sie hatte ein klares Zeichen gesetzt und erstmals keine Vertreter der Islamischen Republik eingeladen. Stattdessen diskutierten

dort Vertreter:innen der Opposition. Dazu gehörten die Aktivistin Masih Alinejad, der frühere Kronprinz und Sohn des letzten iranischen Schahs, Reza Pahlavi, sowie die Schauspielerin und Menschenrechtsaktivistin Nazanin Boniadi. Sie alle sind Teil einer jüngst gegründeten Exil-Koalition rund um acht prominente Iraner:innen im Ausland, darunter die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi. Sie wollen sowohl die gespaltene Exil-Opposition vereinen als auch das Sprachrohr für die Aktivist:innen im Land sein und sie als Ansprechpartner im Ausland vertreten. Gemeinsam mit Aktivist:innen im Iran arbeiten sie an einem Manifest für einen Übergang zur Demokratie. Die Reaktionen aus Teheran auf die veränderte Münchner Einladungspolitik blieben nicht aus. Der Sprecher des Außenministeriums diffamierte die Oppositionellen und bezeichnete es als Prestigeverlust der Sicherheitskonferenz, solch berüchtigten Figuren eine Tribüne zu geben. Man fordere, den Kurs im nächsten Jahr zu korrigieren. Keine Kompromisse mit dem Regime Die Forderung der Opposition in München lautete derweil: keine Verhandlungen mit dem Iran. Stärkere Sanktionen, die die Machthaber treffen, nicht die Bevölkerung, und die Aufnahme der Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste. Eine Forderung, die auch sehr viel Zustimmung im Iran selbst findet. Einer aktuellen Umfrage des renommierten niederländischen Forschungsinstituts Gamaan zufolge befürworten 70 Prozent der Iraner:innen die Einstufung der Revolutionsgarden als Terrororganisation und personenbezogene Sanktionen. Befragt wurden knapp 160 000 Menschen im Iran und etwa 40 000 Iraner:innen in der Diaspora.1 1 Vgl. Iranians’ Attitudes Toward the 2022 Nationwide Protests, www.gamaan.org, 4.2.2023.

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Für viele Iraner:innen, die seit Monaten ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn sie für demokratische Grundwerte, Freiheit und Demokratie eintreten, ist es nicht nachvollziehbar, warum westliche Demokratien dazu beitragen, das Regime zu stärken. Sie fordern keine Intervention des Westens. Dieser solle lediglich nichts tun, was dem Regime Auftrieb verleiht. Die mögliche Wiederaufnahme der Atomverhandlungen aber wäre eine solche Stärkung. Bei einem Regime, das vor nichts zurückschreckt, um an der Macht zu bleiben, sei das unverantwortlich. Und dass die Machthaber vor nichts zurückschrecken, haben sie in den vergangenen Monaten ihrer eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit unmissverständlich gezeigt. Die Menschen im Iran wollen keine Reformen und keine Kompromisse, die Verhandlungen jedoch stets beinhalten. Denn welche Kompromisse kann man eingehen mit Regierenden, die Schülerinnen entführen, vergewaltigen, totprügeln und hemmungslos erschießen, nur weil sie nach einem selbstbestimmten, freiheitlichen, demokratischen Leben streben? Selbstverständlich ist die Sorge der westlichen Staaten vor einer atomar bewaffneten Islamischen Republik berechtigt. Die richtige Antwort darauf gab auf der Münchner Sicherheitskonferenz die grüne Europaabgeordnete Hannah Neumann: „Der beste Weg, die nukleare Bedrohung loszuwerden ist, das Regime loszuwerden.“ Und es scheint, als würde jetzt so langsam auch im Westen ankommen, dass es eine Alternative für den Iran geben könnte – und die Islamische Republik vielleicht doch gestürzt werden kann. Die Menschen im Iran fordern das seit dem ersten Tag der Proteste unmissverständlich. Sie haben keine Hoffnungen mehr in die Reformierbarkeit des Systems. Sie rufen nach Regime Change. Dennoch scheint zumindest im Westen bislang noch an möglichen Reformen festgehalten zu werden.

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20 Kommentare Es ist auch dem Einfluss der Lobbyisten der Islamischen Republik im Ausland geschuldet, dass sich im Westen gewisse Narrative so lange halten konnten. Dazu gehört etwa die verbreitete Warnung, wenn es im Iran zu einer Revolution komme, werde die gesamte Region instabil. Es werde zu einem Bürgerkrieg kommen, am Ende drohe ein zweites Syrien. Doch worauf basieren diese Annahmen? Die Region ist ohnehin alles andere als stabil – nicht zuletzt aufgrund der Interventionen der Islamischen Republik und ihrer Revolutionsgarde mit Unterstützung der Hisbollah. Der Libanon, Irak und Syrien können ein Lied davon singen Der Bruch ist vollzogen Als vermeintliche Iran-Expert:innen, Journalist:innen, Wirtschaftsfachleute und Berater:innen haben sich Lobbyist:innen der Islamischen Republik, etwa der National Iranian American Council, in den vergangenen zehn Jahren ihre Tribünen in der westlichen Medien- und Politiklandschaft geschaffen. Dabei haben sie unbemerkt Talking Points der Islamischen Republik gestreut und keine Gelegenheit ausgelassen, in Interviews das System zu verharmlosen. Da wirkte Iran beinahe wie eine tatsächliche Republik mit demokratischen Elementen und gewählten Instanzen. Selbstverständlich äußern sich die Lobbyist:innen dabei auch kritisch, sonst würden sie in den westlichen Medien ja nicht gehört werden. Derzeit werden sie nicht müde, uns das Bürgerkriegsszenario als einzige Alternative zur Islamischen Republik auszumalen und die Bedeutung des Atomdeals hervorzuheben. Das soll den Menschen im Iran Angst machen und westliche Politiker:innen darin bestätigen, weiter mit dem Iran zu verhandeln und diplomatische Beziehungen zu pflegen. Doch die Mehrheit der Iraner:innen hat den Bruch mit dem Regime be-

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reits vollzogen. Auch das zeigt die erwähnte Gamaan-Studie aus dem Februar. So würden sich 80 Prozent der Befragten gegen die Islamische Republik aussprechen, sollte es heute ein Referendum geben, nur 15 Prozent bejahten das System. Ebenfalls 80 Prozent unterstützen die Proteste, auch wenn sie nicht alle selbst auf die Straße gehen, und 76 Prozent glauben, dass der revolutionäre Prozess erfolgreich sein wird – im Sinne eines Sturzes der Islamischen Republik. Das Regime, argumentierte jüngst der Wirtschaftswissenschaftler Mohsen Renani, werde sich nicht mehr lange halten können, wenn der geistliche Revolutionsführer Ajatollah Chamenei keine Revolution von oben anstößt.2 Renani benennt in seinem ursprünglich für Chamenei verfassten Text vier Stufen bis zu einem Systemwechsel. Drei dieser vier Stufen seien demnach schon erreicht: erstens das Scheitern der Regierung, Krisen in den Griff zu bekommen und Lösungen anzubieten, zweitens der Mangel an Glaubwürdigkeit und Verantwortungsübernahme. Dazu kommt drittens das Moment der Symbolik: Immer mehr Frauen verweigern den Hidschab als religiöses Symbol der Islamischen Republik, Sportler:innen boykottieren die Nationalhymne. Die Banner Chameneis werden ebenso niedergerissen und verbrannt wie die des Kommandeurs der Quds-Einheit Qasem Soleimani. Nun fehle nur noch die letzte Etappe, so Renani: der Fall der Struktur. Doch zeigen sich bereits erste Risse innerhalb der Machtstrukturen. Daran kann und sollte die westliche Staatengemeinschaft anknüpfen, wenn es um ihre nächsten Schritte geht. Es ist also kein alleiniger Indikator, ob und in welcher Frequenz sich der Protest auf den Straßen zeigt. Viel wichtiger ist etwas anderes: In den Köpfen der breiten Bevölkerung ist das System bereits gestürzt. 2 Vgl. www.renani.net, 16.2.2023.



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Sophia Boddenberg

Scholz in Lateinamerika: Der Mythos vom nachhaltigen Rohstoffabbau Als Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Januar nach Argentinien, Chile und Brasilien reiste, stand medial vor allem eines im Fokus: die Absage des neuen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva an die Bundesregierung, Munition für die von Deutschland in die Ukraine gelieferten Panzer bereitzustellen. „Brasilien ist ein Land des Friedens. Und deswegen will Brasilien keinerlei Beteiligung an diesem Krieg, auch nicht indirekt“, sagte Lula bei der gemeinsamen Pressekonferenz in Brasília. Mit dieser Haltung ist er auf dem Subkontinent nicht allein: Auch der argentinische Präsident Alberto Fernández lehnt Waffenlieferungen ab. „Auf der Nordhalbkugel fliegen Raketen und Menschen sterben, und auf der Südhalbkugel steigen als Folge die Preise und die Menschen hungern“, sagte er in Buenos Aires. Zwar verurteilen die Präsidenten von Chile, Argentinien und Brasilien den russischen Angriffskrieg, zu weiteren Zusagen aber sind sie nicht bereit. Damit zeigt sich: In Südamerika war der deutsche Kanzler auf der Suche nach Unterstützung im Ukrainekrieg wenig erfolgreich. Die linksgerichteten Regierungen der drei Länder wollen sich aus dem Krieg soweit es geht heraushalten. Das bedeutet nicht etwa, dass sie sich auf die Seite Russlands schlagen. Aber sie wollen sich auch nicht auf die Seite der Nato stellen, zumal die USA wegen ihrer historischen Mitverantwortung für die lateinamerikanischen Militärdiktaturen auf dem Kontinent keinen besonders guten Ruf haben. Hinzu kommt: China ist aktuell der wichtigste Handelspart-

ner von Chile, Argentinien und Brasilien und zudem der weltweit größte Markt für Elektroautos. Die Handelsbeziehungen zur Volksrepublik, aber auch zu Russland, mit denen sie sich in den letzten Dekaden ein Stück weit aus der historischen Abhängigkeit von den USA befreien konnten, wollen die Staatschefs der drei politisch und wirtschaftlich bedeutsamsten Länder Südamerikas nicht gefährden. Genau auf diesem Feld versuchte Scholz auf seiner Reise Kooperationen zu vereinbaren – und sich als sozial und ökologisch verantwortungsbewusster Partner vom Konkurrenten China abzuheben. Bei seinen Besuchen in Santiago, Buenos Aires und Brasília sprach sich der Bundeskanzler wiederholt für „Partnerschaften auf Augenhöhe“, „verantwortungsvollen Rohstoffhandel“ und „nachhaltigen Bergbau“ aus. Sein Ziel: Er will der deutschen Industrie Zugang zu stark nachgefragten Rohstoffen wie Lithium, Kupfer und grünem Wasserstoff sichern, die für die Energiewende nötig sind. Begleitet wurde er auf seiner Reise von einer zwölfköpfigen Wirtschaftsdelegation, darunter Vorstandsvorsitzende von Bayer, Volkswagen und Wintershall. Doch entgegen allen wohlklingenden Ankündigungen werden die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Südamerika wohl auch in Zukunft koloniale Ausbeutungsstrukturen vertiefen, anstatt sie zu überwinden. Seit der Kolonialzeit basieren die Wirtschaften Argentiniens, Chiles und Brasiliens auf dem Export von Rohstoffen. Damals wurden Indigene und Menschen aus Afrika als Sklaven in

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22 Kommentare den Gold- und Silberminen sowie auf Plantagen eingesetzt, um den europäischen Rohstoffhunger zu stillen. Heute arbeiten ihre Nachfahren im Bergbau und in der Landwirtschaft – und das unter weiterhin prekären Bedingungen. So sind in den Bergbauregionen Brasiliens Flüsse mit Schwermetallen belastet, in Argentinien erkranken Menschen in der Nähe der Sojaplantagen wegen des Einsatzes giftiger Pestizide, und in Chile leiden die Minenarbeiter:innen unter Gehörschäden und der Staublungenerkrankung Silikose. Und auch die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Südamerika sind bis heute extrem asymmetrisch. Chile exportiert hauptsächlich Kupfer, Lachs und Zellulose; Argentinien Soja, Mais und Fleisch; Brasilien Soja, Zucker und Erdöl. Die drei Länder importieren hingegen Autos, Maschinen und Elektronik – also verarbeitete Produkte, deren Wertschöpfung im Globalen Norden stattfindet. Deutsche Unternehmen und Verbraucher:innen profitieren von den niedrigen Löhnen und laxen Umweltstandards in der Region – nicht zuletzt eine Folge der dort in den 1980er Jahren von IWF und Weltbank durchgesetzten neoliberalen Strukturanpassungsprogramme. Und je weniger ein Rohstoff im Herkunftsland weiterverarbeitet wird, desto billiger kann er eingekauft werden. Das Ende der Abhängigkeit? Scholz zufolge soll sich das in Zukunft ändern. „Wir in Deutschland – und ich setze mich dafür ein, dass das für ganz Europa gilt, wollen unbedingt, dass die Länder, die Rohstoffe haben, die für die Zukunft der Welt von großer Bedeutung sind, selber davon profitieren“, sagte der deutsche Kanzler während seines Besuchs in Chile. Die südamerikanischen Länder verfügen über viele dieser zukunftsrelevanten Rohstoffe. In Chile etwa befin-

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den sich die größten Kupfervorkommen der Welt. Das Metall ist ein Schlüsselrohstoff für die Energiewende: Es leitet Wärme und Strom und ist Bestandteil von Kabeln, weshalb es für die Elektrifizierung enorm wichtig ist. Gebraucht wird es unter anderem für den Bau von Solarpanelen, Windrädern und Elektroautos. Der Deutschen Rohstoffagentur zufolge wird sich der globale Kupferbedarf bis 2035 verdoppeln; und Deutschland zählt neben China und den USA zu jenen Ländern, die weltweit am meisten Kupfer importieren. Im sogenannten Lithium-Dreieck zwischen Chile, Argentinien und Bolivien befinden sich zudem die größten bekannten Lithium-Reserven der Welt. Derzeit deckt Chile etwa 30 Prozent des weltweiten Bedarfs nach diesem für Batterien benötigten Rohstoff. Das Land exportiert ihn jedoch lediglich und stellt selbst keine Batterien her. Die deutsche Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe erwartet, dass die weltweite Nachfrage nach Lithium bis 2030 auf zwischen 316 000 und mehr als 550 000 Tonnen pro Jahr anwachsen wird. Etwa 90 Prozent davon würden für Lithium-Ionen-Batterien benötigt, die in Elektroautos eingebaut werden. Allein in Deutschland sollen bis 2030 sieben bis zehn Millionen Elektrofahrzeuge zugelassen sein, so das Ziel der Bundesregierung. Bereits 2013 vereinbarten die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der chilenische Ex-Präsident Sebastián Piñera zu diesem Zweck eine Rohstoffpartnerschaft zwischen der Bundesrepublik und Chile. „Deutsche Unternehmen haben großes Interesse daran, diese Zusammenarbeit auszubauen, auch im Bereich Lithium“, sagte Scholz nun jüngst in Chile. „Wir wollen Chile auf seinem Weg zu einem nachhaltigen Bergbau gerne unterstützen.“ Doch die Formulierungen der „Kooperationsvereinbarung über die Deutsch-Chilenische Partnerschaft für Bergbau, Rohstoffe und Kreislaufwirtschaft“, die während des Besuchs von

Scholz unterzeichnet wurde, bleiben äußerst vage. Ohnehin ist unklar, wie Bergbau überhaupt nachhaltig werden kann, ohne dass zugleich der hohe Ressourcenverbrauch in den Industrieländern hinterfragt wird. Der Kupferbergbau verbraucht extrem viel Wasser – und Chile leidet unter einer schweren Dürre, die durch die Ausbeutung des Rohstoffs noch verschärft wird. Die Kupferhütten verursachen zudem Schwefeldioxid- und Arsenemissionen; für jede Tonne Kupfer entstehen 2,2 Tonnen giftiger Abfälle. Diese werden in Chile in insgesamt 757 Lagern aufbewahrt, mehrere davon in unmittelbarer Nähe von Dörfern, die unter den damit verbundenen Umweltrisiken leiden. Auch der Lithiumabbau ist alles andere als nachhaltig. Um an den begehrten Rohstoff zu gelangen, der sich – aufgelöst in Sole – unter der Erde der chilenischen Atacama-Wüste befindet, pumpen die Bergbauunternehmen enorme Mengen an Salzwasser aus Ablagerungen unter der Wüstenerde an die Oberfläche in riesige Becken. Anschließend verdunstet die abgepumpte Flüssigkeit in der glühenden Wüstensonne, zurück bleibt das Lithiumkarbonat. Zwar wirkt die Wüste auf den ersten Blick wie ein Ort ohne Leben – aber sie beherbergt ein komplexes Ökosystem sowie das dort ansässige indigene Volk der Likan Antai. Der Lithiumabbau verschlingt die ohnehin knappen Wasserressourcen der Region, das gefährdet die Lebensgrundlage der Gemeinden und bringt das Ökosystem aus dem Gleichgewicht. So hat beispielsweise die Flamingo-Population in der Atacama-Wüste, die sich von planktonischen Algen aus den Wüstenlagunen ernährt, in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen. Auch Scholz‘ Versprechen in Brasilien, für den Schutz des AmazonasRegenwaldes eintreten zu wollen, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als hohl. Insgesamt 200 Mio. Euro will Deutschland Brasilien für den Umwelt-

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schutz bereitstellen. „Ohne den Schutz der tropischen Wälder in Brasilien und in Lateinamerika werden wir die Pariser Klimaschutzziele nicht erreichen“, erklärte Scholz auf seiner Reise. Aber kann der Wald beschützt werden, ohne die wirtschaftlichen Aktivitäten zu hinterfragen, die seine Abholzung antreiben? Die deutsche Wirtschaft: Ein Treiber der Regenwaldzerstörung Die Zerstörung des Amazonas begann nicht erst mit der Regierung des ehemaligen rechtsextremen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Schon seit Jahrzehnten wird der größte Regenwald der Erde wegen seines Rohstoffreichtums ausgebeutet – und mit ihm die indigenen Völker, die dort leben. Auch die deutsche Handelspolitik ist dafür mitverantwortlich. Agrarkonzerne roden den Wald unter anderem, um Soja anzubauen. Das daraus hergestellte Futter landet auch in den Futtertrögen der deutschen Massentierhaltung. Bergbauunternehmen wiederum fördern im Amazonas Eisenerz – und Deutschland bezieht etwa die Hälfte seiner Eisenerzimporte aus Brasilien. Ein großer Teil davon stammt aus der Mine Carajás, der größten Eisenerzmine der Welt, die sich mitten im Amazonas-Regenwald befindet. Eisen ist nicht nur einer der Hauptbestandteile von Windrädern und Photovoltaikanlagen; aus Eisenerz wird auch der für die Automobilindustrie so wichtige Stahl hergestellt. Letztere verarbeitet etwa ein Viertel des Stahls in Deutschland. Auch dass der Bundeskanzler Druck bei der Unterzeichnung des umstrittenen Mercosur-Abkommens macht, widerspricht seiner Ankündigung, sich für Umweltschutz und Sozialstandards einzusetzen. In Argentinien und Brasilien sprach sich Scholz dafür aus, die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staa-

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24 Kommentare ten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay zu beschleunigen. Umweltorganisationen in Europa und in Lateinamerika kritisieren das Abkommen, weil es vermutlich den Import von Rohstoffen wie Soja und Eisenerz aus Brasilien erhöhen und damit die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes verstärken würde. Gleichzeitig würden voraussichtlich mehr Pestizide von Unternehmen wie Bayer und BASF in die südamerikanischen Länder exportiert werden. Lula ebenso wie der argentinische Präsident Alberto Fernández befürworten die Unterzeichnung des Mercosur-Abkommens zwar grundsätzlich, wollen aber einige Aspekte neu verhandeln. „Das Abkommen berücksichtigt nicht die enormen Asymmetrien zwischen der europäischen Wirtschaft und der Wirtschaft des Mercosur“, sagte Fernández bei der Pressekonferenz mit Scholz in Buenos Aires. Neuer Rohstoff, alte Ausbeutung Der Einladung des deutschen Kanzlers an Chile, Brasilien und Argentinien, Mitglieder des Klimaclubs zu werden – einer Initiative von Scholz, der bisher die G7-Staaten angehören – folgten wiederum nur Chile und Argentinien, nicht aber Brasilien. Der Club hat zum Ziel, durch „industrielle Dekarbonisierung“ und „nachhaltige Industrietechnologien“ die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Dazu gehört auch die Förderung der Produktion von grünem Wasserstoff, etwa in Südamerika. Ein Pilotprojekt zur Gewinnung dieses Stoffs befindet sich im chilenischen Patagonien. Siemens Energy und Porsche haben hier die weltweit erste kommerzielle Anlage für die Herstellung von E-Fuels gebaut – gefördert vom Bundeswirtschaftsministerium. Angetrieben mit Windstrom, spaltet ein Elektrolyseur Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff. Der Wasserstoff wird in Methanol und schließlich in sogenannte E-Fuels verwandelt, strombasierte

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Kraftstoffe. Tausende Windräder sollen in den kommenden Jahrzehnten in Patagonien gebaut werden, um die Industrieländer mit solchen „klimaneutralen Kraftstoffen“ zu versorgen. Profitieren wird davon die deutsche Industrie, nicht aber die Menschen und die Umwelt in Südamerika – ein neuer Rohstoff, alte Ausbeutungsmuster. Festzuhalten bleibt: Scholz‘ Südamerika-Reise war trotz aller Rhetorik klar von wirtschaftlichen Interessen geleitet. Argentinien, Chile und Brasilien sollen Rohstoffe liefern, damit die deutsche Industrie „klimaneutral“ werden kann. Wenn die Ziele der deutschen Handelspolitik sich weiter auf den Abbau und Import von Rohstoffen beschränken – und danach sieht es momentan aus –, unterscheidet sie sich jedoch kaum von der chinesischen. Erst jüngst hat das chinesische Unternehmen Gotion sogar angekündigt, eine Lithiumbatteriefabrik in Argentinien bauen zu wollen. BMW hingegen baut in dem Land bisher nur den Rohstoff ab. Eine Handelsbeziehung mit Südamerika „auf Augenhöhe“ würde hingegen voraussetzen, die Länder nicht nur als Rohstofflieferanten auszunutzen. Damit der Handel zwischen Deutschland und Südamerika wirklich nachhaltig und umweltfreundlich wird, wäre es zudem unerlässlich, den Rohstoffverbrauch der deutschen Industrie zu verringern. Damit einhergehen müsste die Reduzierung des Autoverkehrs, des Energieverbrauchs und ein Wandel des Konsumverhaltens. Um eine global gerechte sozial-ökologische Transformation zu ermöglichen, muss die Wirtschaft auf die Bedürfnisse von Menschen und Natur ausgerichtet werden und nicht auf die Profitinteressen der Konzerne. Eine Energiewende, die nur auf Marktinstrumente und technologische Innovation als Lösungen für die Klimakrise setzt, verlagert dagegen nur die immensen sozialen und ökologischen Kosten der Wirtschafts- und Lebensweise von Industrieländern wie Deutschland in den Globalen Süden.

DEBATTE

Eine kreative Mythologie für die Linke In der Februar-Ausgabe analysierte der langjährige „Zeit“-Journalist Thomas Assheuer, wie die neue Rechte mit Hilfe der Macht des Mythos immer stärker die gesellschaftliche Hegemonie übernimmt. Dagegen müsse die Linke auf die Kraft der Aufklärung und der Fakten setzen. Im Gegensatz dazu plädiert der Philosoph Josef Früchtl dafür, dass die Linke ihrerseits keinesfalls auf die Kraft des Mythos verzichten könne, ohne an gesellschaftlicher Deutungsmacht zu verlieren. Der Mythos gehört der politischen Rechten. Das scheint in Stein gemeißelt wie in einem Denkmal aus dem 19. Jahrhundert, jener Zeit, in der, vorangetrieben durch die Romantik, nicht nur der Mythos einen herausgehobenen, ja erhabenen Stellenwert erhält, sondern auch jene Begriffe mit Macht die politische Bühne besetzen, die die Rechte seither ausbeutet: Volk, Nation, Vaterland, organisches Ganzes, Schicksalsgemeinschaft. Dabei ist die Herstellung einer direkten Einheit von Volk und Nation durch die Französische Revolution zunächst ein fundamental demokratischer Akt; es ist „das Volk“, das die Bastille stürmt. Wo eine Einheit ist, ist aber auch Ausgrenzung, und so nehmen die „Volksfeinde“ zu. Von innen wie von außen sieht die Nation die Reinheit des Volkskörpers bedroht, „Säuberungen“, Hinrichtungen und Kriege stehen an. So verändert sich die Bedeutung der Begriffe im Laufe der Geschichte. Sie werden zunehmend verehrt wie Fetische, Gegenstände mit übernatürlichen Eigenschaften, mit anderen Worten: wie mythische Gebilde. Und in dieser Entwicklung gehen schließlich die politische Vorstellungswelt der Rechten und der Mythos nahtlos ineinander über.

Das hält sich bis in unsere Tage. Thomas Assheuer kann daher in seinem Beitrag „Rechte Systemsprenger: Die Politik mit dem Mythos“ in einem großen Bogen die weltweiten Verlautbarungen und Kampfparolen der neuen Rechten einsammeln und ihren rhetorischen Stärken den entsprechenden Schwächen der Linken gegenüberstellen. Die Rechte verspricht nämlich nicht nur mehr Gerechtigkeit und praktische Erleichterungen, „sondern existenzielle Erfüllung. Nicht einen verbesserten Alltag, sondern ein neues Leben“, und die Linke kann nicht durch eine entsprechende rhetorische Kraft gegenhalten, sodass „kurzfristig“ gegen die rechte Mythisierung lediglich „die Arbeit an den Tatsachen“ hilft, „denn Tatsachen sind Mythenkiller“, so Assheuer. Aber die Dinge sind komplizierter. Und das liegt schlicht an der Mehrdeutigkeit des Begriffs Mythos. Es liegt nahe, sich fürs Erste am ursprünglichen griechischen Wortsinn zu orientieren. Ein Mythos erzählt demnach eine Geschichte und er tut dies in einer bildhaften, anschaulichen, ausdrucksstarken Erzählung. Mythisch denken heißt also zunächst, sich in vieldeutigen und gefühlsbeladenen Bildern zu bewegen, nicht mög-

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26 Josef Früchtl lichst eindeutige und abstrahierende Begriffe zu gebrauchen. » Alles kann, wie Roland Barthes in seinen ›Mythen des Alltags‹ gezeigt hat, zum Mythos werden.« Diese bildlich aufgeladenen Geschichten heften dann an Personen (Ödipus, Siegfried aus der Nibelungen-Saga, Jeanne d’Arc, Che Guevara, Marilyn Monroe), an Dingen (der Rhein, der Volkswagen, die Kalaschnikow) oder an Ereignisse (Schlacht auf dem Amselfeld, Stalingrad, Deutschland als Fußball-Weltmeister 1954) und verleihen ihnen – zweitens – eine herausgestellte symbolische Bedeutung. Alles kann, wie Roland Barthes in seinen „Mythen des Alltags“ (1957) gezeigt hat, zum Mythos werden, er ist keineswegs auf durchschlagende Personen, Dinge oder Ereignissen aus der Vorgeschichte beschränkt. Von dieser Bedeutung ist es nur ein kleiner, beinahe übergangsloser Schritt zum – drittens – Mythos als einer falschen Vorstellung und verschwommenen Lüge. Nur in dieser letzten Bedeutung können Fakten als Mythenkiller auftreten. Die kulturell interessante und politisch folgenreiche Bedeutung aber liegt auf den ersten beiden Ebenen. Man muss bei der Philosophie und den Sozialwissenschaften nachlesen, um in dieser Sache mehr Klarheit zu erhalten. Denn erst wird deutlich, weshalb die Linke keinesfalls auf die Kraft des Mythos verzichten darf. Historisch – daran muss zunächst erinnert werden – hat sich die Linke diese Kraft von Anfang an zunutze gemacht. Die Französische Revolution kann für sie zum Urbild der Revolution werden, weil deren Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ das Licht einer zwanglosen Gesellschaftsutopie ausstrahlt, aber auch voller Vieldeutigkeit und Aporien steckt. Ernst Bloch, der marxistisch-spekulative Philosoph

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der Utopie, hat darüber in seinem Buch „Naturrecht und menschliche Würde“ von 1961 geschrieben. Bis in unsere Tage klingt die Losung nach, auch in einem ordentlichen Grundsatzprogramm wie dem der SPD von 2007, in dem Freiheit nunmehr gleichberechtigt in einer Reihe steht mit Gerechtigkeit, die mehr meint als Rechtsprechung, und mit Solidarität, die nicht nur die Brüder, sondern auch die Schwestern und alle, die geschlechtlich anders sind, umfasst. Zum revolutionären Urbild im wörtlichen Sinn aber werden die Ereignisse von 1789 in Frankreich auch durch das Bild, das Delacroix erst Jahrzehnte später gemalt hat, die Barrikadenkämpfe der Julirevolution 1830 vor Augen: „Die Freiheit führt das Volk“. Im farblich expressiv leuchtenden Zentrum des Bildes steht die allegorische Anführerin des Aufstands, Marianne, eine göttlich scheinende Verkörperung der Freiheit, in der linken Hand ein Gewehr mit Bajonett, in der hochgereckten Rechten die wehende Tricolore, deren breiter roter Streifen hervorsticht, als kündige er schon die kommunistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts an. » Der Mythos ist eine eigenständige, irreduzible Form menschlicher Selbstverständigung, die gleichberechtigt neben Religion, Kunst, Wissenschaft und Technik steht.« Freilich ist diese gesellschaftspolitische Utopie inzwischen ausgebleicht. Als die Linke zum bisher letzten Mal politisch und vor allem kulturrevolutionär erfolgreich gewesen ist, in den Jugend- und Studentenprotesten der späten 1960er und der aufbrechenden Ökologie- und Friedensbewegung der 1970er Jahre, geht dies einher mit einem ernüchternden Lernprozess. Die hedonistische Selbstverwirklichung, getragen vom Sound der Rock- und

Eine kreative Mythologie für die Linke Popmusik, hakt sich im Lauf- und Tanzschritt ein bei den Ideen eines von Alexander Dubcˇek in Prag verkörperten „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, aber das Ende des Begeisterungsrausches lässt nicht lange auf sich warten. Hans Magnus Enzensberger beschreibt ihn 1981 mit Galgenhumor im „Untergang der Titanic“, einem Buch, das in poetischer Form den Mythos der „Titanic“ neu bearbeitet, das dramatische Ereignis eines Schiffsuntergangs, der symbolisch für den Untergang einer kapitalistisch und technologisch beherrschten Zivilisation und ihres unerschütterlichen Fortschrittsglaubens steht, aber auch für den Untergang der linken Utopie in ihrem Größenwahn. Dieser totalitäre Wahn, in dem alles mit allem verknüpft ist und alles erklärt werden kann, ist tendenziell auch im Mythos zuhause. Dazu auf Distanz zu gehen, ist sicher heilsam. Dennoch sollte man auch an diesem Punkt nicht über das Ziel hinausschießen und in Selbstkasteiung darauf verzichten, ein neues Leben zu imaginieren. Hilfreich ist dabei die philosophische und sozialwissenschaftliche Forschung. Hier ist man seit langem über vereinfachte Zuordnungen hinausgegangen. Die Entwicklungsformel „Vom Mythos zum Logos“, die, ganz im Sinne der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, der Klassische Philologe Wilhelm Nestle 1940 geprägt hat, die Rede vom Mythos als einem „Prälogischen“, die Lucien Lévy-Bruhl drei Jahrzehnte vorher vorgetragen hat, ist inzwischen auf ganzer Breite von einer Darstellung abgelöst, die den Mythos in seiner eigenen Logik als „symbolische Form“ (Ernst Cassirer) oder als eine Form der Aufklärung ansieht. „Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“, heißt es bekanntlich in Max Horkheimers und Theodor W. Adornos „Dialektik der Aufklärung“ (1944). Kurzum: Der Mythos ist eine eigenständige, irreduzible Form menschli-

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cher Selbstverständigung, die gleichberechtigt neben Religion, Kunst, Wissenschaft und Technik steht. » Funktional betrachtet, sind Vernunft und Mythos kein Gegensatz.« Die Frage nach der Wahrheit des Mythos wird dabei tendenziell durch die nach seiner Wirksamkeit ersetzt. Der Mythos erfüllt psychologisch, kulturell und soziologisch wichtige Funktionen. Er wirkt als Ventil, Surrogat, Stabilisator oder Korrektiv, sei es für den Einzelnen (wie Sigmund Freud herausgearbeitet hat), die Völker (Carl Gustav Jung tut sich hier hervor) oder die Struktur der Gesellschaften (Claude Lévi-Strauss ist diesbezüglich beispielhaft). Meistens lassen sich diese Wirkungen gar nicht säuberlich voneinander trennen. Das wird vor allem an jenen Mythen deutlich, die sich auf Vorgeschichtliches stützen. Achill, Ödipus, Kain und Abel, David und Goliath, König Artus – um sie und einige dünn gesäte historische Daten ranken sich Geschichten und durch sie vermittelte Werte, die eine Familie, ein Stamm, eine Stadt, eine Nation traditionsbewahrend zu ihren Geschichten und Werten macht und sich dadurch erst als Gemeinschaft begreift. Funktional betrachtet, sind also Vernunft und Mythos kein Gegensatz. Sie stellen Vertrautheit mit der Welt her, erklären je auf eigene Art die Natur, ermöglichen somit Naturbeherrschung und rechtfertigen die Werte einer Gemeinschaft. Das aber bedeutet, dass der Mythos nicht restlos in eine der anderen Selbstverständigungsund Denkformen zu übersetzen und daher auch nicht zu widerlegen oder zu überwinden ist. Von Fakten zeigt er sich weitgehend unberührt. Man kann an ihm immer nur weiterarbeiten. Die „Arbeit am Mythos“ (Hans Blumenberg) oder seine Überlistung (Horkheimer/Adorno) wird zum angemessenen

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28 Josef Früchtl Motto einer fortgeführten Aufklärung. Die Schlussfolgerung für die Linke muss also lauten: Lasst euch etwas einfallen! Seid kreativ im Verwandeln von Mythen und Narrativen! Bedient euch im reichen Reservoir der Kunst und der Populärkultur, dem unangefochtenen Vorbild der Mythentransformation. Die Kommunikationsabteilung des ukrainischen Präsidenten zeigt hinreichend Können und Witz, wenn sie wie vor kurzem Selenskyj bei verschiedenen Tech-Konferenzen simultan als Hologramm auftreten und ihn wie Prinzessin Leia in Star Wars um Hilfe im Kampf bitten lässt: „Wir werden das Imperium (Russland) besiegen.“ » Die Schlussfolgerung für die Linke muss daher lauten: Seid kreativ im Verwandeln von Mythen und Narrativen!« Was die drängendsten Probleme der Menschheit betrifft – die selbstverschuldete globale Klimaveränderung und die massenhafte, durch ausweglose ökonomische und politische Verhältnisse bedingte Migration –, sind keine einfachen Lösungen möglich. Und doch ist das gesuchte Narrativ einfach. Aber anders einfach als das der Rechten: Denn eine Lösung kann

hier nur aus der unvorhersehbaren Summe einzelner, sich wechselseitig beeinflussender Handlungen bestehen. Wir können das Ganze dann „Bewegungen“ (movements) oder „Zivilgesellschaft“ (civil society) nennen und die gemeinschaftliche Kraft vergleichen mit den Formationsflügen von Vögeln oder der Schwarmbildung von Fischen. „Avatar“, James Camerons Science-Fiction-Film, arbeitet, in aller Ambivalenz, an dieser bilderstarken Erzählung. „Aux armes, citoyens!“ hieß die Parole vor gut zweihundert Jahren. „An die rhetorisch-ästhetischen Waffen!“ muss sie heute lauten. Das politische Feld darf man nicht den rechten Schreihälsen und verschwiemelten Mythologen überlassen. Argumente aber reichen hier nicht aus. Vielmehr sollte man lustvoll bessere Geschichten und Erzählmuster, „Narrative“, erfinden, am besten packend, satirisch und selbstironisch. Radikalität und Humor gehören zusammen. Das heißt auch, dass die Linke nicht immer nur auf die Mythen der Rechten reagieren, sondern stattdessen selbst agieren sollte. Es gilt insofern noch immer die Losung: „Die Phantasie an die Macht!“, und wer gerne singt, singt sie in der gewiss etwas kitschigen, aber doch unverwüstlichen Version von John Lennon: „Imagine …“.

Das Geschäft mit der Gesundheit Kostendruck, Renditeerwartungen und Personalmangel belasten Beschäftigte und Patienten. Was muss sich ändern? Das Dossier auf www.blaetter.de: 13 »Blätter«-Beiträge für 6 Euro

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AUFGESPIESST

Die Stadt Berlin erlebt momentan ein einzigartiges Demokratie-Experiment: Anstelle der doch arg auf den Hund gekommen Mehrheitsdemokratie ist die Anstandsdemokratie der neueste Schrei – und möglicherweise schon bald in erster und ernster Erprobung. Aber der Reihe nach!

Die neue Berliner Anstandsdemokratie Bekanntlich erbrachte die letzte Wahl zum Abgeordnetenhaus nur einen Triumphator, nämlich die CDU mit furiosen 28 Prozentpunkten – macht bei einer Wahlbeteiligung von 63 Prozent sensationelle 12 Prozent Zustimmung der gesamten Bevölkerung (inklusive jener 20 Prozent der Berlinerinnen und Berliner, die mangels deutschen Passes von der Wahl gleich ganz ausgeschlossen sind). Was für ein Wahnsinnsergebnis! Prompt erklärte daraufhin der strahlende CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner es zu einer „Frage des Anstands“, dass nur er zum Bürgermeister gekürt werden dürfe und verlieh sich selbst den „Regierungsauftrag“. Umgehend unterstützt wurde er dabei von der bekanntesten Anstands-Dame der Republik, nämlich der „Bild“-Zeitung. Diesem Publikationsorgan aller Anständigen und moralisch Gutmeinenden im Lande hatte es schon vor der Wahl geschwant, dass es nach der Wahl mit Sicherheit zu einem „Wahlklau“ kommen werde – natürlich durch die infame Vereinigte Linke aus SPD, Grünen und Linkspartei. Und tatsächlich hatten diese drei Parteien die Dreistigkeit, ihren zusammen 48,8 Prozentpunkten und satten 90 von 159 Sitzen den Auftrag zur Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition zu entnehmen. Doch nicht mit uns, den Anständigen im Lande! Prompt trat daher am Tag nach der Wahl die versammelte

CDU-Bundesprominenz auf den Plan. „Der jetzige Senat mag noch über eine rechnerische Mehrheit im Abgeordnetenhaus verfügen, politisch hat er die Mehrheit gestern verspielt“, warf sich CDU-Parteichef Friedrich Merz in die Brust. Deshalb müsse dem Sieg der CDU unbedingt Rechnung getragen werden. Dem konnte die christlich-soziale Schwesterpartei nur zustimmen. „Es gibt überhaupt keine Legitimation für eine Fortsetzung der rot-rot-grünen Regierung“, polterte der bayrische Ministerpräsident und CSU-Chef zwar nicht aus den bekanntlich stets lupenrein demokratischen südlichen Gefilden, sondern von seiner Reise ins noch lupenreinere Albanien. Eine nicht von der CDU angeführte Regierung wäre „tatsächlich ein Umdrehen des Wahlergebnisses, eine grobe Missachtung der Demokratie“, so Markus Söder tief empört. Und weil die Union schon einmal so schön dabei war, setzte die ewige Hoffnungsträger für Höheres, Julia Klöckner, gleich noch einen drauf und behauptete, man könne jetzt nicht zur Tagesordnung einfach übergehen, denn „das kennt man ja aus anderen Systemen“. Will sagen: Die Herren Ulbricht und Honecker, die „Machthaber aus Pankoff“ (O-Ton Adenauer) lassen grüßen! Die derart gebeutelten SPD und Bündnis 90/Grüne gingen daraufhin schwer in sich. Mit jeweils 18,4 Prozentpunkten, sprich: 8 Prozent Zustimmung der gesamten Berliner Bevölkerung, ist es ja in der Tat auch nicht ganz so leicht, von einem großen Rückhalt für die potenzielle Bürgermeisterin zu sprechen. Die grüne Kandidatin Bettina Jarasch schien denn auch fast erleichtert über jene knapp 100 Stimmen, die förmlich über Nacht zum Minimalvorsprung der noch Regierenden Bürgermeisterin geführt und dieser das Primat bei einer möglichen rot-grün-roten Koalition verschafft hatten. Von einer möglichen Nachzählung sah Frau Jarasch jedenfalls gerne generös ab.

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Arme Franziska Giffey! Nun hatte sie die Bürde der potenziellen Regentschaft am Hals. Und was für eine: Denn nachdem sie, genau wie Frau Jarasch, ganz artig und anständig erste Gespräche mit dem CDU-Wahlsieger gesucht und geführt hatte, brach eine letzte Urgewalt des Berliner Anstands über sie herein, nämlich Heinz Buschkowsky, ihr einstiger Förderer und Vorgänger als Neuköllner Bürgermeister – heute allerdings, das muss man wissen, im Hauptberuf Informeller Mitarbeiter der „Bild“-Zeitung und hauptamtlicher Giffey-Jäger. „Die vereinigten Wahlverlierer haken sich unter“, gab sich Giffeys politischer Ex-Ziehvater entsetzt. „Unsere Werte gehen dabei vor die Hunde, der politische Anstand“ – was auch sonst – „wird zertrampelt“, so ein offenbar auch ziemlich ramponierter Buschkowsky. „Die Wähler haben den linksideologischen Kurs der alten Regierung abgeschafft, wollen eine neue, andere Stadtpolitik. Wenn Frau Giffey und ihre Spezis sich mit solchen Taschenspielertricks an Posten und Dienstwagen klammern, zerstören sie auf lange Sicht unser System und fördern den weiteren Ansehensverlust der Politik.“ Was für ein Aufschlag des alten SPD-Schlachtrosses! Fest steht: Wer solche Parteifreunde wie Frau Giffey hat, braucht keine Feinde mehr. Klare Schlussfolgerung des grandiosen Klartexters: „Die Regierung tritt ab, die Opposition nimmt deren Plätze ein.“ Was denn auch sonst, nichts einfacher als das! Wenn es da nicht ein klitzekleines, demokratietheoretisches wie -praktisches Problem gäbe: Noch wird in unserer Demokratie – anders als Friedrich Merz zu meinen scheint – eben der- oder diejenige zum politischen Sieger, der auch rechnerisch siegt, sprich: eine Regierungsmehrheit zustande bringt. Das aber ist, man mag es noch so sehr bejammern, der CDU in Berlin – übrigens genau wie in Bremen oder Hamburg – derzeit faktisch nicht

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möglich. Erstens, weil (noch) niemand mit der AfD koalieren will. Und zweitens, weil es in Berlin eben noch immer eine – und nicht einmal knappe – linke Mehrheit gibt. Und so wird denn Franziska Giffey, so wenig es ihr persönlich behagt, weiter in einer Koalition mit Grünen und Linkspartei regieren müssen. Schließlich haben alle drei Parteien vor der Wahl ihren Wählerinnen und Wählern versprochen, ihr Bündnis fortsetzen zu wollen, schon weil sie einander inhaltlich immer noch erheblich näher stehen als der Union. Wäre es da nicht eine arge Wählertäuschung, wenn sie dieses Versprechen jetzt nicht einlösten? Ja, man wäre fast geneigt, für diesen Fall mit Markus Söder von einer „groben Missachtung der Demokratie“ zu sprechen. Nur eine gibt trotzdem nicht auf, die unverwüstlich anständige „Bild“Zeitung. Sie hält an ihrem DemokratieProjekt „Anstand statt Mehrheit“ fest. Nur acht Tage nach der Wahl vermeldete „Bild“: „Fakt ist: 63 Pozent der Berliner wollen laut INSA, dass die stärkste Partei im Parlament die Regierung führt.“ 63 Prozent – eine klare Mehrheit, in der Tat! Zwar nur informell und durch keinerlei Wahl legitimiert. Aber was soll‘s, da geht doch noch was! Und wenn vielleicht nicht in Berlin, dann doch bestimmt woanders. Schließlich ist in Deutschland nach der Wahl noch immer vor der Wahl. Aus Sachsen und Thüringen haben sich jedenfalls bereits erste Interessenten beim Springer-Konzern gemeldet. Dort, im wilden Osten, werden in gut einem Jahr die Landtage gewählt. Und die AfD hat gute Chancen, diesmal als stärkste Partei durchs Ziel zu gehen. Warum sollte es dann nicht ohne Mehrheit für den Posten des Ministerpräsidenten reichen? „Danke ‚Bild‘, Danke CDU“ jubilieren daher Höcke und Co. – und freuen sich schon auf die nächste Kampagne für die neue Anstandsdemokratie. Jan Kursko

ZUM 100. GEBURTSTAG VON WALTER JENS

Der Prototyp des bundesdeutschen Intellektuellen Von Ulrich Rüdenauer

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er Intellektuelle hatte es in Deutschland nicht leicht, ja, er durfte lange nicht einmal so heißen. Der seit der Dreyfus-Affäre in Frankreich gebräuchliche Ausdruck war verpönt. Er klang zu sehr nach dem Erzfeind jenseits des Rheins, nach Kritikastertum, nach Revolution. Das Wahre, Schöne und Gute wurde hierzulande gegen die Asphaltliteraten und das Feuilleton ausgespielt, die hehre Kultur gegen einen modernen Zivilisationsbegriff – man denke nur an Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ aus dem Jahr 1918. In den weit verbreiteten Antiintellektualismus mischte sich dabei immer auch eine Prise Antisemitismus; bis heute hat sich daran wenig geändert. Der Historiker Dietz Bering nannte seine 1978 erschienene Monographie über „Die Intellektuellen“ im Untertitel nicht ohne Grund „Geschichte eines Schimpfwortes“. Lieber sprach man von Schriftstellern oder Gelehrten; die aber sollten sich bitte nicht zu sehr ins aktuelle Kampfgeschehen einmischen, sondern den Künsten oder ihren akademischen Nischen gewogen bleiben. So war es also bestellt, mindestens bis ins Jahr 1945 hinein. Nach dem Zivilisationsbruch gehörte es dann zu den wichtigen Aufgaben einer jüngeren Generation von Geistesmenschen, den öffentlichen Intellektuellen in der Bundesrepublik zu installieren, ihn vom Makel des Nestbeschmutzers oder Schlimmerem zu befreien. Der Intellektuelle wurde langsam als produktive Kraft in kulturellen und politischen Debatten wahrgenommen; die Eingemeindung des Begriffs in den öffentlichen Diskurs konnte auch als Gradmesser für die Demokratisierungsbemühungen der frühen Bundesrepublik verstanden werden. Wenn man den Prototyp des bundesdeutschen Intellektuellen benennen müsste, der in den 1950er Jahren nach und nach Gestalt annahm, so verfiele man auf einen schmalen, leicht kränklich wirkenden, aber über alle Maßen energiestrotzenden Mann: Walter Jens. Seine geistige Physiognomie und Umtriebigkeit erlaubten es ihm, in vielen Gewändern zu brillieren. Der studierte Germanist und Altphilologe war alles zugleich: Romancier und Übersetzer, Essayist und Kritiker, Aufklärer und Aufrüttler, Kanzelprediger und Fußballfan, Professor für Klassische Philologie und Rhetorik, engagierter Pazifist und nicht zuletzt Teil eines bemerkenswerten Ehe- und Produktionspaares. Auf all seinen Bühnen war er ein schillernder Stilist, schreibend wie redend. Er nutzte früh die Möglichkeiten, die der mediale Aufbruch in den

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32 Ulrich Rüdenauer Westsektoren nach 1945 mit sich brachte: weltoffene Zeitungen, weltöffnende Zeitschriften und natürlich den Welten verbindenden Rundfunk. Dieser bot – als Teil des Reeducation-Programms – gerade ambitionierten Autoren, die verschiedene Formate bedienen konnten und wollten, schier unbegrenzte Spielräume. Stephan Krass hat das kürzlich in seinem Buch „Radiozeiten“ eindrücklich beschrieben: Nicht mehr nur die einschlägigen politischen Foren und universitären Hörsäle sollten „als Ort für Kontroversen, Streitgespräche und Diskussionen“ dienen, sondern auch die Aufnahmestudios der Sendeanstalten. Über den Äther ließen sich publikumswirksam argumentative Schlachten zu den großen Fragen der Zeit austragen. Alfred Andersch, Axel Eggebrecht, Hans Mayer, Dolf Sternberger, Walter Dirks, Eugen Kogon und junge Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensberger, Ingeborg Bachmann oder Martin Walser hinterließen hier ihre Spuren. Auch Walter Jens glänzte in diesem Medium – und nicht nur dort. Jahrzehntelang war er eine Institution des öffentlichen Lebens. Selbst wer noch in den 1980er Jahren aufwuchs und sich für Kultur und Gesellschaft zu interessieren begann, kam an ihm nicht vorbei. Man sah ihn an der Seite von Heinrich Böll oder Erhard Eppler in Mutlangen gegen die Nachrüstungspolitik und die Stationierung von Pershing-Raketen protestieren; er imponierte in Talkshows und bekannte sich dazu, während des zweiten Golfkriegs amerikanische Deserteure in seinem Haus versteckt zu haben; er diskutierte mit seinem Freund Otto Rehhagel über den Zustand des deutschen Fußballs und mit Hans Küng über das Thema Sterbehilfe. Jens verabschiedete sich von jener seit der Weimarer Klassik gültigen „Neutralität des Poeten in Fragen des politischen Alltags“, dem Glauben, „ästhetische Selbstgenügsamkeit“ (Herder) sei Voraussetzung, „dass Humanität sich gegen Politik durchsetzen könne“, wie er in dem Essay „Geist und Macht“ schreibt. „Moralische Meditationen“ nannte Jens seine Einlassungen gerne. Heine war ihm da mitunter näher als Goethe. Der schlaksige Körper, die immer zu groß wirkenden Anzüge, die ausladenden Gesten – das war ein Nachhall der direkten Nachkriegszeit, eine intellektuelle Figur, die von Vergangenem sprach und zugleich zu allem Gegenwärtigen etwas zu sagen hatte. Walter Jens mischte sich ein. Auch in die Politik und deren Sprachgebrauch: In seiner Dankesrede zum TheodorHeuss-Preis 1988 hielt Jens das Ideal demokratischer Beredsamkeit, das er in Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt verkörpert sah, der kümmerlichen Phrasenhaftigkeit der Ära Kohl entgegen. Wahrheitsliebe, Spiritualität, pathetische Kargheit seien Fundamente dieser Beredsamkeit, Ambivalenz deren Tugend, sie „redet nicht numerisch daher, rückt durch die Benennung des Allgemeinen und Ganzen das Konkrete und Kleine nie aus dem Blick“. Der Einzelne sollte nie im Kollektiv verloren gehen. Die meisterhafte Beherrschung aller sprachlichen Mittel, von der geistreichen Sentenz bis zur witzigen Allegorie, präzise und phantasiebestimmt und zuallererst der Wahrheit verpflichtet, das scheint ihm in der Oggersheimer Bräsigkeit verschütt gegangen. Wie sehr es ihn geschmerzt haben muss, dass doch vielen seiner Zeitgenossen die rhetorische Satisfaktionsfähigkeit fehlte, lässt sich

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Der Prototyp des bundesdeutschen Intellektuellen 33 da erahnen. Rednerisches Geschick war für ihn gleichbedeutend mit demokratischer Überzeugungskraft. Die Kläglichkeit heutiger Parlamentsdebatten dürfte ihn, wäre er weiter unter uns, zu einer noch deutlicheren Schmähschrift provozieren.

Vom Krieg geprägt – auch ohne Kriegsteilnahme Walter Jens‘ Grundüberzeugungen kamen freilich nicht von ungefähr. Am 8. März 1923 in Hamburg geboren, teilte er das Schicksal der meisten Männer seiner Generation nicht. Eine schwere Asthmaerkrankung, die ihn wie Thomas Manns Hans Castorp zum Sanatoriumsdauergast machte (auch wenn sein Vorbild aus dem „Zauberberg“ der Zivilisationsliterat Settembrini war), bewahrte ihn davor, an einer der Fronten der Hitlerschen Kriegswut aufgerieben zu werden. Er war froh, sagte er später, nie in die Verlegenheit gekommen zu sein, eine Waffe in die Hand nehmen und im Gleichschritt marschieren zu müssen. Er studierte, um dieses Privileg wissend, umso strebsamer seine beiden Fächer Germanistik und Klassische Philologie, zunächst in Hamburg, dann in Freiburg, unter anderem hörte er dort Martin Heidegger. Bereits 1944 wurde er mit einer Arbeit über die sophokleische Tragödie promoviert, im Alter von 26 Jahren legte er seine Habilitationsschrift über Tacitus und die Freiheit vor. Walter Jens‘ intellektuelle Biografie ist beeindruckend und freilich auch vor ihrem Zeithintergrund zu betrachten: Die Nazizeit riss alles mit sich in den Abgrund; eine andere Perspektive als die der Schlachtfelder Europas schien es für diese Alterskohorte nicht zu geben. Als dann unerwartet doch eine offene Zukunft anbrach, wollte man im Zeitraffer nachholen, was einem vorenthalten worden war, und etwas gutmachen, die neue Gesellschaft mitprägen. Walter Jens fand schnell Anschluss an intellektuelle Kreise. 1950 veröffentlichte er im Rowohlt Verlag seinen ersten Roman „Nein. Die Welt der Angeklagten“, der wohlwollend aufgenommen und auch im Ausland rezipiert wurde. Wenig später stieß er zur Gruppe 47, die sich nach und nach zu dem zentralen Ort des literarischen Lebens entwickelte. In diesem besonderen Rahmen entstanden neue Sprechweisen; demokratische Umgangsformen konnten ausprobiert werden, wie Helmut Böttiger in seiner wegweisenden Studie über die Gruppe 47 herausgearbeitet hat. Was als Autorenwerkstatt begann, wurde aber zunehmend zur Bühne für Kritiker. Hans Mayer, Walter Höllerer, Joachim Kaiser, Marcel Reich-Ranicki und eben auch Walter Jens waren die Stars, die hier ihren Marktwert steigern, rhetorisch glänzen, Karrieren stiften oder verhindern konnten. In seinem „Brief an einen ganz jungen Autor“ aus dem Jahr 1962 liefert Martin Walser eine wunderbar persiflierende Innensicht der Diskussionen bei der Gruppe 47. Walser beschreibt die einzelnen Charaktere, überspitzend und treffend zugleich: „Walter Jens […] nimmt Dein Vorgelesenes und Höllerers Fähnchen in seine Scheren. Du darfst ruhig an so etwas wie Languste denken. Jens hält sich mit seinen Scheren Dein Vorgelesenes und die Zugaben Höllerers vom Leib. Du kannst Dich nicht darauf verlassen, dass er das pure Gegenteil

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34 Ulrich Rüdenauer von dem behauptet, was Höllerer gesagt hat. Zweifellos wird er dieses oder jenes Fähnchen Höllerers an eine andere Stelle stecken, vor allem aber wird er Dein Vorgelesenes immer wieder in die Luft werfen und immer wieder selbst auffangen, um zu sehen, wie schwer es ist, wie viel es aushält.“ Jens war ein Worte-Jongleur, ein exzellenter Redekünstler mit stupendem Wissen. Er konnte verbale Angriffe setzen und ebenso elegant abwehren. Diesem Talent und seiner klassischen Bildung verdankte Jens den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen, den er von 1963 bis 1988 innehatte. Daneben war er lange Jahre Präsident des PEN-Zentrums und von 1989 bis 1997 Präsident der Akademie der Künste in Berlin, in der spannenden Phase der Vereinigung von Westund Ostakademie also. Und nicht zuletzt war er von Januar 1989 bis Mai 2011 Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“. Seine Publikationen zur Literatur, zur Antike, zur Religion sind unzählbar; ganz zu schweigen von seinen Wortmeldungen zu aktuellen politischen Themen oder den vielseitigen kritischen Texten zu Kunst, Literatur und Fernsehen. Er sei kein Meister im Einzelkampf, hat Jens einmal gesagt, sondern im Zehnkampf. Mit seiner Frau Inge, mit der er seit 1951 verheiratet war, landete er 2003 sogar einen kapitalen Bestseller: „Frau Thomas Mann“, die Biografie von Katia Mann. Aber schon kurze Zeit später machten sich bei Jens die ersten Anzeichen einer beginnenden Demenz bemerkbar. Fast zehn Jahre lang dämmerte er – wie ehedem Hölderlin in seinem Turm – im Souterrain seines Tübinger Hauses vor sich hin. Dass die Erkrankung mit der Enthüllung seiner Mitgliedschaft in der NSDAP zusammenfiel, wollte Walter Jens‘ Sohn Tilman nicht als Zufall begreifen. In seinem Buch über den Vater, für das er vom Feuilleton viel Prügel einstecken musste, schildert er nicht nur den körperlichen und geistigen Zerfall des einstmals virtuosen Redners, sondern interpretiert die Krankheit als Ausdruck der Scham vor der eigenen Vergangenheit: eine Flucht ins Vergessen. Man vergaß auch Walter Jens ein wenig. Und nach seinem Tod im Jahr 2013 ist es um ihn noch stiller geworden. Mit Jens und seinen Generationsgenossen verschwindet auch die alte Bundesrepublik, sie wird endgültig historisch. Das intellektuelle Klima, geprägt durch den Krieg und begünstigt durch eine einzigartige mediale Konstellation, hat sich dramatisch gewandelt. Die konzerngesteuerten, fragmentierten Pseudo-Diskurse des digitalen Zeitalters erzeugen weder wirkmächtige Repräsentantinnen und Repräsentanten des kulturellen Lebens noch bieten sie Raum für tiefgehende, elaborierte, mitunter scharfe Analysen und Auseinandersetzungen, die über die Grenzen bestimmter Milieus hinausweisen könnten. Weil sich damit verbunden aber wieder mit aller Macht ein hemmungsloser Antiintellektualismus breitmacht, befeuert von rechten Populisten und einer demokratiemüden Öffentlichkeit, sollte man sich unbedingt an Walter Jens erinnern, einen „public intellectual“ wie er im Buche steht, einen „Prediger der Vernunft“ (Wolfgang Koeppen).

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Über demokratische Beredsamkeit in unmenschlichen Zeiten Von Walter Jens Im Jahr 1988, kurz bevor er im Januar 1989 Mitherausgeber der „Blätter“ wurde, erhielt Walter Jens – wie auch seine Frau Inge Jens – den Theodor-Heuss-Preis. In der Begründung heißt es: „Walter Jens wird für sein hervorragendes Lebenswerk als radikal-demokratisch engagierter Schriftsteller und entschiedener, immer wieder unbequemer Mahner für aufgeklärtes politisches Denken und humanes politisches Handeln ausgezeichnet. Dabei hat er sich der verbreiteten Behauptung eines unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Geist und Macht in unserer Gesellschaft nie gebeugt. Vielmehr versucht er, durch öffentliche Reden und sein persönliches Engagement zu politischem Handeln anzustiften, das zum Frieden, zur aufgeklärten Toleranz und Gerechtigkeit beitragen soll.“ Die Dankesrede von Walter Jens ist von bemerkenswerter Aktualität, weshalb wir sie hier in ungekürzter Form dokumentieren. Unser herzlicher Dank geht an die Theodor-Heuss-Stiftung in Stuttgart (www.theodor-heuss-stiftung.de) für die Erlaubnis zum Nachdruck. – D. Red.

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lood, toil, tears and sweat – Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß: Mehr habe er der Regierung, dem Parlament und dem Volk nicht zu bieten, erklärte Winston Churchill am Pfingstmontag, dem 13. Mai 1940, unmittelbar nach seiner Ernennung zum Premierminister im Unterhaus, und stellte damit, formelprägend, jene beiden Hauptcharakteristika eines demokratischen Politikers unter Beweis, deren Namen Wahrheitsliebe und Prägnanz, Ehrlichkeit und sentenziöse Bannkraft sind. Während der Diktator in Berlin seinem Volk in hochtrabender, klischeebestimmter Rede ein goldenes Zeitalter versprach und noch in den finstersten Stunden die aufgehende Sonne beschwor, sprach ChurchilI von Elend, Bitternis und Not – und dies in einer Sentenz, deren Struktur verrät, wie lange der Redner an ihr gearbeitet hatte: vier einsilbige Wörter, die beiden Binnenbegriffe durch den Stabreim verbunden, „toil and tears“, die Außenglieder in einer scheinbar simplen, in Wahrheit von Raffinement und Kalkül bestimmten Technik aufeinander bezogen. „Blood and sweat“, derart zusammengefügt, dass hinter den Nomina das Verbum „to sweat blood“ hindurchschien: Blut und Wasser schwitzen, sich abrackern bis zur Erschöpfung. Pathos verbindet sich mit Prägnanz: Die Formel bringt die Wahrheit durch das Stakkato jener blitzartig erhellenden Zuordnungen auf den Begriff, die Eleganz und Überzeugungskraft klassischer Parlamentsberedsamkeit definiert. Wahrheitsliebe, gepaart mit Spiritualität: So nimmt sich das Ideal jener demokratischen Beredsamkeit aus, wie sie, mit der ihm eigenen pathetischen

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36 Walter Jens Kargheit, Winston Churchill und, in ganz anderer Weise, Franklin Delano Roosevelt praktizierten – Roosevelt, der am Tag der Invasion, statt der Diktatoren eigenen martialischen Rhetorik, ein Gebet sprach, in dessen Zentrum die Überlegung stand, mit welchen Opfern der bevorstehende Kampf gegen das Deutschland Hitlers verknüpft sei. Viele, so Roosevelt, würden nicht mehr nach Hause zurückkehren am Ende des Krieges – Gott möge ihnen gnädig sein.

Demokratie, Wahrheit und Redekunst gehören zusammen Mochte der eine, Churchill, das Parlament zu (übrigens genau und kühl vorausberechneten) Ovationen hinreißen und der andere, Roosevelt, im Youand-I-Plauderstil der Kaminansprachen den Mann auf der Straße zu überzeugen suchen: Beide, so fremd sie einander am Ende gegenüberstanden, hatten eines gemeinsam – die Überzeugung, dass die drei Worte Demokratie, Wahrheit und Redekunst zusammengehörten. Während Diktatoren die Wahrheit schminken und Beredsamkeit durch eine Agitation ersetzen, die, statt Argumente vorzutragen, auf die Macht, die Pistole, die Garrotte verweist, zeigt demokratische Beredsamkeit die Ambivalenz der Probleme, verdeutlicht das Dunkel, das neben dem Licht ist, und verweist auf die Kosten der Siege: Viele werden sterben, und in unzähligen Familien wird geweint werden, am Tag, wenn die Kirchenglocken zum Siegesfest läuten. Demokratische Beredsamkeit verliert den einzelnen nie aus dem Blick, redet nicht numerisch daher, rückt durch die Benennung des Allgemeinen und Ganzen das Konkrete und Kleine nie aus dem Blick, sondern fragt mit Dostojewski: Wiegt der Triumph der scheinbar gerechten Sache die Tränen eines einzigen Kindes auf? Ein pathetisches Argument, gefährlich dazu in seiner idealistischen Verabsolutierung von blütenweißer Integrität und Moral? Vielleicht. Ein Anlass auf jeden Fall, von den Höhen klassischer Parlamentsrhetorik in jene Niederungen zu steigen, wo in Bonn am Rhein ein Wasserwerk liegt und Helmut Kohl mit den Seinen sich einer Redeweise bedient, die den Eindruck erweckt, als gelte all das nicht, was das Wesen republikanischer Beredsamkeit ausmacht: Bezeichnung der Wahrheit, mag sie auch noch so finster sein; phantasievolles Benennen, erfindungsreich und ungeschönt, der Zukunftsprobleme; inspiriertes Gedenken vergangener Größe und unvergänglicher Schuld; leidenschaftliches Debattieren über die Grundfragen einer Gesellschaft, deren Überleben hier bedroht, dort, in der Dritten Welt, möglicherweise, schon heute verspielt ist; Rücksichtnahme, im Sinne einer konkreten und humanen Imagination, auf das Wohl und Wehe von Menschen, deren Ängste, Träume, Hoffnungen, Verzagtheiten nicht gespeichert, wohl aber benannt werden können. Können und müssen! Ein seltsames Schauspiel: Wie da über dem Heute das Morgen, über der Macht die Moral, über der Summe das Leben verspielt wird. Da geht das verlorene Selbstwertgefühl von beschäftigungslosen Jugendlichen oder alten Leu-

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Über demokratische Beredsamkeit in unmenschlichen Zeiten 37 ten, die, weil sie sich schämen, keine Sozialhilfe beantragen, in der Formel von der Arbeitslosigkeit als der „großen Herausforderung“ unter – wodurch jene Grundvoraussetzung aller demokratischen Beredsamkeit entfällt, die da lautet: Denk an die einzelnen, wenn du die Millionen erwähnst. Ihnen, den Individuen, und nicht einem imaginären Kollektiv, bist du verpflichtet. („Der Wähler hat entschieden“: Verräterischer als durch solche Verdinglichung können Herrschende ihre Verachtung der Beherrschten nicht artikulieren.) Demokratische Beredsamkeit, die solchen Namen verdient, beruht auf einem ständigen Wechselgespräch zwischen den Beauftragten und jenen Bürgern, die es sich endlich verbieten sollten, als „die Menschen draußen im Land“ angesprochen zu werden: So als sei das Parlament ein Schloss, in dem Zeremonienmeister das hochheilige Drinnen vom profanen Außen abtrennen. Es ist aber kein Schloss und auch kein Wasserwerk, natürlich, keine Schwatzbude, kein Parlatorium, wo Abgeordnete Schau- und Scheingefechte über Tatbestände führen, die, im Vorfeld, von den Lobbys und der Ministerialbürokratie schon längst entschieden sind – es ist ein Bürgerhaus, von dessen Rednern zu erwarten ist, dass sie sich endlich dazu bequemen, im Hinblick auf das von uns mitzuverantwortende Sterben in der Dritten Welt von „blood and tears“ zu sprechen, vom großen Hunger und vom kleinen Glück, mit dem wir es erkaufen, von moralischer Verpflichtung und Geboten der Humanität, die von uns verlangen, jene Dialektik von solidaire und solitaire zu realisieren, auf der, gleich weit entfernt von unmenschlichem Kollektivismus und nicht minder verabscheuungswertem Sozialdarwinismus, die Demokratie beruht.

Wer nennt die Dialektik von Fern- und Nahziel beim Namen? Eine Demokratie, in der, in allgemeinem, widersprüchlichem und eher durch präzise Fragen als durch rasche Antworten bestimmtem Diskurs über jene Verpflichtung diskutiert wird, die, in solcher Schärfe, noch keiner Generation vorher zugemutet worden ist: eine Politik zu betreiben, die, in ständigem Rekurs des Zukünftigen aufs Gegenwärtige, eine Magna Charta für die nach uns Kommenden entwirft. Eine Magna Charta, deren Ratifizierung von konsequentem Verzicht auf Expansion und Wachstum und entschiedener Verteidigung der Lebensqualität von Menschen abhängt, über deren Wohl und Wehe jetzt befunden wird. Jetzt geht es darum, zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte, weit über die eigene Zeit hinaus nicht nur der Toten und nicht nur der Lebenden, sondern der nackten Existenz von Menschen innezuwerden, deren Rechte, in unabdingbarem Vorausblick, zu bewahren sind. Wer aber spricht davon, in unserem Parlament? Wer denkt übers Jahrtausend hinaus? Wer nennt die Dialektik von Fern- und Nahziel beim Namen? Wer wagt es auszusprechen, dass die gewaltigen Veränderungen des dritten Jahrtausends, die so oder so kommen werden, hier und jetzt vorausgeplant werden müssen: mehr Qualität statt Quantität, weniger Dynamik, mehr Weisheit – und, gewiss nicht unbillig in einem sich christlich nen-

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38 Walter Jens nenden Land, ein handlungsleitendes Bedenken des Satzes: „Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Die Wahrheit also – und zwar ungeschminkt – zu benennen, ist erste Pflicht der parlamentarischen Redner. Die zweite Aufgabe aber heißt: für die Wahrheit Worte zu finden, klare Benennungen, präzise, aber gleichwohl phantasiebestimmte Formeln, individuelle Antworten, eigenständige Sentenzen, witzige Allegorien, geistreiche Aphorismen, Maximen, Lyrismen, Sentenzen... was immer: Wenn nur endlich Schluss mit jenem „basic German“ ist, dem lumpigen Verschnitt, der heute dazu herhalten muss, die Provokationen von Seiten der Außenwelt zu nivellieren. Ein makabres Schauspiel, noch einmal. Die Welt ist komplexer denn je; Umschwünge, Öffnungen, faszinierende Metamorphosen – wohin immer man blickt: Glasnost regiert die Stunde –, und was tut, um nur sie zu nennen, die Regierung bei uns? Sie betoniert die Sprache, lässt das Vokabular schrumpfen, findet für die verschiedenartigsten Tatbestände immer die gleichen Vokabeln, von der „Herausforderung“ bis zur „Gemeinsamkeit aller Demokraten“. Wo Begrifflichkeit gefragt wäre, wird abgestandene, längst zum Klischee erstarrte Metaphorik geboten. Wo Konkretes benannt werden will, dient vage Umschreibung dazu, die Wahrheit aus den Blicken zu rücken: Kein alter Nazi, kein Bankrotteur, kein skrupelloser Machiavellist, der sich am Ende nicht auf „tragische Verstrickung“ hinausreden könnte. Nur nicht ins Detail gehen, heißt die Devise, nur munter drauflosschwadronieren (ganz unbekümmert: Journalisten haben, solange die Kameras laufen, nicht nachzufragen, sondern zu nicken); nur immer hübsch allgemein bleiben, „für Deutschland“ am liebsten, für „unsere Landsleute“ und die „Menschen draußen im Land“. Da wird es allerhöchste Zeit, denke ich, daran zu erinnern, dass die Wahrheit konkret ist, und weil sie das ist, hat auch die demokratische Beredsamkeit konkret zu sein – und dazu biegsam, variabel, vielgestaltig, den wechselnden Gegenständen angemessen: einmal kunstreich und einmal schlicht; hier eher biblisch, dort lehrhaft, hier hochpathetisch, aber präzise (wer wagt es, auch einmal Goethe in extenso zu zitieren, in Bonn, oder Schiller, der seinen „Fiesco“ durchdachte, in Oggersheim, wie man weiß?); hier enthusiastisch, dort sarkasmengesättigt, hier epigrammatisch und dort, im Faltenwurf Carlo Schmidscher Perioden, bestimmt von himmelwärts gewandtem Ernst. Poesie als Patin der Politik. Wie sagte Churchill? „We are still captains of our souls.“ „Captains“, wirklich? Ich fürchte, die radebrechenden Schiffsjungen im Lande Lessings und Heines, Politiker unterschiedlicher Couleur, werden eine harte Schule durchmachen müssen, ehe sie, nicht dank ihrer Amtsgewalt, sondern wegen ihrer von Sachverstand und Sensibilität zeugenden Sprach-Kompetenz das ihnen anvertraute Schiff vernünftig, behutsam, überzeugungsmächtig für die Zeitgenossen und hoffnungsbringend für die Kommenden werden lenken und damit, uns Demokraten der Bundesrepublik Deutschland betreffend, aller Welt demonstrieren können: „We are still captains of our souls.“

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KURZGEFASST

François Hollande, Wolfgang Templin, August Pradetto, Günther Baechler: Zwischen Waffenlieferungen und Verhandlungen: Wann und wie gelingt ein stabiler Frieden in der Ukraine?, S. 41-64 Angesichts des andauernden russischen Angriffskrieges werden die Debatten über westliche Waffenlieferungen an die Ukraine und über die Notwendigkeit von Verhandlungen mit Russland hitziger. In diesem Zusammenhang erörtert der ehemalige Präsident Frankreichs, François Hollande, die Bedeutung und Gefahr einer sich durch den Ukrainekrieg vertiefenden Allianz zwischen den Autokratien Russland und China für eine multipolare Weltordnung. Der Bürgerrechtler und Publizist Wolfgang Templin stellt im Zuge der in seinen Augen zögerlichen deutschen Waffenlieferungen die Notwendigkeit einer entschlossenen westlichen Konfrontationsstrategie gegenüber Russland heraus, bei der Deutschland eine Führungsrolle übernehmen solle. Der Politikwissenschaftler August Pradetto hingegen warnt vor einer drohenden Eskalation des Krieges durch weitere Waffenlieferungen des Westens. Der Schweizer Diplomat Günther Baechler beschäftigt sich mit den Voraussetzungen, unter denen Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland überhaupt zu einem nachhaltigen Frieden führen könnten.

Andreas Zumach: Ein Jahr Ukraine-, 20 Jahre Irakkrieg. Warum der Globale Süden dem Westen nicht traut, S. 65-70 Der Westen verurteilt den Angriff auf die Ukraine völlig zu Recht als völkerrechtswidrig. Der freie Journalist Andreas Zumach stellt jedoch kritisch fest, dass vor allem die USA seit Jahrzehnten das Völkerrecht lediglich selektiv anwendet, um eigene Verstöße zu verschleiern, etwa im vor 20 Jahren begonnenen Irakkrieg. Dies lasse den Westen unglaubwürdig wirken und führe zur Weigerung vieler Staaten des Globalen Südens, die Sanktionen gegen Russland mitzutragen.

Marc Thörner: Afghanistan: Frauen als Faustpfand, S. 71-76 Die Lage der Frauen in Afghanistan ist seit der Machtübernahme der Taliban besonders prekär. Der Journalist und Islamwissenschaftler Marc Thörner verdeutlicht, wie kontraproduktiv sich speziell die von der international vernetzten religiösen Führung in unterdrückerischen Frauendekreten erlassenen Bildungs- und Arbeitsverbote auch auf die ohnehin desaströse Lage des Landes auswirken. Selbst vereinzelte Bildungsmöglichkeiten seien nur Ausdruck eines reaktionären und rigiden Geschlechterregimes.

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40 Kurzgefasst

Eliav Lieblich und Adam Shinar: Das Ende der israelischen Demokratie?, S. 77-82 Eine geplante Justizreform der Netanjahu-Regierung sorgt in Israel und weltweit für Sorge um die israelische Demokratie. Die Juristen Eliav Lieblich und Adam Shinar warnen, dass die Reformen die demokratischen Institutionen des Landes untergraben und die gesellschaftliche sowie politische Spaltung Israels verstärken werden.

Kristin Helberg: Machterhalt um jeden Preis. Erdog˘an, Assad und das große Beben, S. 83-90 Das verheerende Erdbeben in der Türkei und in Syrien am 6. Februar forderte zehntausende Opfer. Doch die autoritären Herrscher in Ankara und Damaskus versuchen, die Katastrophe für ihren Machterhalt zu nutzen, warnt die Journalistin Kristin Helberg. Inbesondere das Assad-Regime in Syrien versucht, über die Nothilfe wieder diplomatische Anerkennung zu erlangen.

Nancy Fraser: Kapitalismus als Kannibalismus. Die multidimensionale Krise und der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, S. 91-101 Die Zunahme globaler Krisen ist für einige Kritiker Ausdruck einer inneren Problematik der wirtschaftlichen Organisation des Kapitalismus. Die Philosophin und Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser zeigt jedoch auf, wie der Kapitalismus als gesamtgesellschaftliche Ordnung begriffen werden kann, die systematisch ihre eigenen Grundlagen verschlingt.

Leander Scholz: Menschenleere oder: Die Politik der Ökologie, S. 103-112 Angesichts der Klimakrise erscheint der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte nicht als Lösung, sondern als Problem. Der Philosoph und Schriftsteller Leander Scholz beleuchtet die Geschichte der modernen Gesellschaft anhand ihrer Beziehung zur Natur und verdeutlicht, dass es für den Menschen von morgen von existenzieller Bedeutung ist, das Nichtmenschliche zu denken.

Thilo Bode: Im Supermarkt: Verbrauchertäuschung per Gesetz, S. 113-122 So alltäglich der Gang zum Supermarkt ist, so undurchsichtig sind jedoch die Qualitätsversprechen und Zutatenlisten auf den Produkten, kritisiert der Gründer der Verbraucherschutzorganisation „Foodwatch“ Thilo Bode. Er stellt fest, dass es die deutschen und europäischen Gesetze sind, die den (Super-)Markt formen, und fordert eine schärfere Regulierung der Lebensmittelindustrie.

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ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

Gewalt schlägt Recht? Die Allianz der Autokraten und der Kampf um die neue Weltordnung Von François Hollande François Hollande erlebte während seiner Amtszeit als französischer Präsident (von 2012 bis 2017) die Maidan-Revolution von 2014, die anschließende völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland und die Gründung zweier selbsternannter „Volksrepubliken“ in den Oblasten Luhansk und Donezk. Gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel handelte der sozialistische Politiker auf westlicher Seite das Minsker Abkommen von 2015 aus, das für einige Zeit einen fragilen Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland etablieren half. Im Rahmen des Normandie-Formats verhandelten Merkel und Hollande wiederholt mit dem damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und Kreml-Chef Wladimir Putin. Der vorliegende Text basiert auf einer Rede Hollandes an der Université Paris-1 Panthéon-Sorbonne und wurde im Original zuerst von der Zeitschrift „Le Grand Continent“ (www.legrandcontinent.eu) veröffentlicht. Die Übersetzung aus dem Französischen stammt von Thomas Greven und Steffen Vogel.

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as Jahr 2023 hat mit der Aussicht auf einen langen Konflikt auf dem europäischen Kontinent begonnen. Hauptprotagonist ist eine Nuklearmacht, deren Präsident Wladimir Putin sich bis an die Grenze des Erträglichen widersprüchlich ausdrückt und verhält – und der das Risiko einer Eskalation einzugehen bereit ist, von der die Welt das Schlimmste befürchten muss. Dieser Krieg, der uns heute alle bedrückt, ist nicht dadurch entstanden, dass sich die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland plötzlich verstärkt haben. Vielmehr ist er Teil eines Prozesses, der vor zehn Jahren begann und dessen Ergebnisse wir zum Teil erst heute sehen. Dieser Prozess korrespondiert mit dem Willen Russlands und Chinas, die Weltordnung so zu verändern, dass die Gewalt das Recht bricht. Wladimir Putin, der im Frühjahr 2012 in den Kreml zurückkehrte, und Xi Jinping, der Ende desselben Jahres zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas gewählt wurde, sind die Architekten dieser Strategie. Sie gründet auf der gemeinsamen Überzeugung beider, dass die Vereinigten Staaten – und insgesamt die Länder des Westens – den Höhepunkt ihres Einflusses überschritten haben und sich in einem unumkehrbaren Niedergang befinden. Dies rechtfertigt aus ihrer Sicht eine grundlegende Änderung der herrschenden internationalen Ordnung. Dieser Anspruch legitimiert sich in ihren Augen durch die Neuordnung der internationalen Kräfteverhältnisse.

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42 François Hollande So glaubt China, etwa im Jahr 2050 zur weltgrößten Volkswirtschaft aufzusteigen. Zum hundertjährigen Jubiläum der chinesischen Revolution im Jahr 2049 will China über einen entscheidenden technologischen Vorsprung in Schlüsselbereichen wie der Digitalwirtschaft, dem Internet und sogar dem Weltraum verfügen. Seit einem Jahrzehnt haben Russland und China auch in Rüstungsprogramme investiert, die zwar hinter dem der USA zurückbleiben, die aber – quantitativ wie qualitativ – auf eine Logik des Auf- und sogar Überholens bei der anspruchsvollsten Ausrüstung hinweisen. Sie zeigen sich zudem überzeugt, dass der Rückzug der USA von der Weltbühne unabwendbar ist. Als erster Beweis dafür galt ihnen die Weigerung von Barack Obama, im Sommer 2013 in Syrien zu intervenieren. Bestätigt sahen sie es durch die schwache Reaktion des Westens auf die Annexion der Krim und die Teilbesetzung des Donbass. Und das Debakel in Afghanistan erledigte den Rest. Als Zeichen des Einflussverlusts der freiheitlichen Regierungen interpretieren China und Russland auch das Taumeln der Finanzmärkte, das die westlichen Ökonomien belastet hat, und die terroristischen Anschläge, die Europa und die USA getroffen haben, sowie schließlich die großen Migrationsbewegungen, welche die westlichen Gesellschaften destabilisiert haben. Beide Imperien haben von diesen Entwicklungen profitiert, um neue Felder in Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten zu erschließen und ihre Grenzen immer weiter auszudehnen. Russland und – in etwas geringerem Maße – China haben zudem alle Unternehmungen unterstützt, mit denen die demokratischen Institutionen in unseren Ländern in Schwierigkeiten gebracht werden können, und dabei auf von ihnen kontrollierte Medien und auf Mobilisierungen in den sozialen Medien gesetzt. All dies hat den Verlauf von Wahlen gestört und Verschwörungsmythen geschürt. China und Russland schlossen daraus, dass nach der langen Periode, die durch den Fall der Mauer und die Beschleunigung der Globalisierung eröffnet wurde – und die sie beide als Phase des Ausgeliefertseins, der Unterwerfung und Demütigung erfahren haben –, die Zeit gekommen ist, zum Angriff überzugehen. In diesem Sinne war 2012 ein Schlüsseljahr. Seitdem haben sich Wladimir Putin und Xi Jinping sage und schreibe vierzig Mal getroffen – auch während der Pandemie, als sie sich ansonsten angeblich völlig isoliert hatten. Abgesehen von der Häufigkeit ihrer Begegnungen haben Putin und Xi es verstanden, eine Freundschaft zu knüpfen, die sie als „ewig und unendlich“ bezeichnen. Dieser Pakt hat niemals Risse bekommen: nicht bezüglich Syriens, nicht bezüglich des Iran und auch nicht bezüglich Nordkoreas. Er hat auch bezüglich der Ukraine gehalten, in allen Formen wirtschaftlicher, kommerzieller, energiepolitischer und militärischer Kooperation. Seine Umsetzung ist konkret: Russland ist heute der zweitgrößte Öllieferant Chinas und sein wichtigster Rüstungslieferant. Die beiden Länder führen gemeinsame Militärübungen durch, Marinemanöver genauso wie Luftwaffenpatrouillen. Aber diese Beziehung geht über die Bekräftigung gemeinsamer Interessen hinaus. Putin und Xi teilen dieselben Abneigungen: gegenüber dem Westen, den sie schwächen und dort zurückdrängen wollen, wo er handeln will, und gegenüber der Demokratie, von der sie behaupten, dass sie zu

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Dekadenz und zum Zerfall der Nationen führe. Sie greifen zu den gleichen Methoden: Furcht im Inneren – manchmal sanft, manchmal grausam, je nach den Umständen – und Dominanzgebaren nach außen. Allerdings mit einem Größenunterschied, was die jeweilige Stellung Russlands und Chinas in der Globalisierung betrifft. China braucht für sein Wirtschaftswachstum und also für seine innere Stabilität den Handel mit dem Rest der Welt und muss deshalb Investitionen begrüßen, die dazu beitragen. Dagegen kann Russland in einer relativen Autarkie existieren – doch wie lange? Auf jeden Fall glauben Putin und Xi, dass die Zeit für sie arbeitet und sie auf ewig miteinander verbunden sein werden, da ihre innenpolitische Macht zeitlich und in ihrem Ausmaß grenzenlos ist, solange es keine offensichtliche Gegenmacht gibt. Sie sind sich bewusst, dass sie damit einen Vorteil gegenüber den Demokratien haben. Sie können es sich erlauben, sich geduldig und abwartend zu verhalten, während die Regierenden in Demokratien sehr gut wissen, dass ihre Zukunft unsicher ist, andere ihnen zwangsläufig folgen werden und sie deshalb gezwungen sind, kurzfristig zu handeln.

Der Kampf um die Weltordnung Diese Asymmetrie, die zwischen Diktaturen und Demokratien immer bestanden hat, erreicht heute ein besonderes Ausmaß. Um populär zu bleiben – denn Autokraten müssen immer um ihre öffentliche Unterstützung wissen – spielen autoritäre Regime die Karte eines übersteigerten Patriotismus, und um ihre Ansprüche besser zu begründen, geben sie vor, vom westlichen Imperialismus und Neokolonialismus bedroht zu werden. Bei allen Unterschieden in der Ideologie – der Bezug zum Kommunismus für Xi Jinping, der Slawophilismus für Putin – treffen sich beide in der Ablehnung der bestehenden Weltordnung. Das ist ihre Botschaft für die Bevölkerungen, die sie für diesen Kampf einspannen wollen. Obwohl es sehr schwierig ist, das Maß der Unterstützung des russischen Volks für die Geschehnisse in der Ukraine genau zu ermessen, sollten wir daher die Effektivität der Propaganda nicht unterschätzen. Ein großer Teil der russischen Gesellschaft glaubt ernsthaft, dass Russland von der Nato und den „Nazis“ in der Ukraine bedroht wird. So sehr schließlich Peking und Moskau getrennt in Räumen handeln, die zwar immer größer werden, sich aber nicht zwangsläufig überschneiden, achten sie doch darauf, niemals miteinander zu konkurrieren und niemals öffentlich einen Dissens zu zeigen. Diese beiden Mächte müssen sich nicht notwendigerweise andauernd ihrer Allianz versichern, aber sie haben sich über eine Reihe von Zielen verständigt. Zunächst: Widerstand gegen die Vereinigten Staaten, die ihr Hauptgegner bleiben. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie sehr Putin die USA verachtet. Er hasst es ohne Zweifel, dass sie ihr ökonomisches System durchsetzen wollen, er verabscheut sie für ihre Lebensweise und ihre Vormachtstellung seit dem Mauerfall. Dieser Groll bleibt sein Antrieb. Das zweite Ziel ist es, Eindruck auf Europa zu machen. Das ist eindeutig eine der Absichten

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44 François Hollande hinter dem Ukrainekrieg: Angst erzeugen. Durch den Schrecken ein Nachgeben und eine Spaltung provozieren. Ihr drittes Ziel ist es, bei Konflikten in Regionen, die besonders reich an Rohstoffen, seltenen Erden und fossilen Energieträgern sind, größtmöglichen Einfluss zu haben. Im Hinblick darauf ist Russland in Afrika dabei, sein Spiel zu gewinnen. Auch im Nahen und Mittleren Osten befindet sich Russland in einer starken Position, mit guten Beziehungen sowohl zu den Golfstaaten und dem Iran als auch zu Israel. Zugleich achten Russland und China darauf, die Meere und Meerengen zu kontrollieren. Diese große, nicht erklärte Allianz ruht auf einer immer weniger impliziten Absprache, die nicht länger auf den Ausgleich in der Welt zielt, sondern auf die Errichtung einer neuen Hierarchie. Die Erschütterung des Planeten beginnt mit der Herausforderung unserer Werte von Freiheit, Demokratie und Grundrechten. In diesem Kontext bekommt der Konflikt um die Ukraine seine volle Bedeutung. Auf dem Spiel stehen dabei weit mehr als Territorialkämpfe. Es geht vielmehr um die globalen Kräfteverhältnisse und um einen Präzedenzfall, der den Rückgriff auf Gewalt zur Veränderung von Grenzen – und sogar der staatlichen Integrität mehrerer Länder – legitimieren kann. Die neue internationale Landschaft hängt davon ab, auf welche Weise der Krieg beendet und Frieden erreicht wird. Diesbezüglich ist die Alternative relativ einfach: Sollte Wladimir Putin auch nur einen Teilsieg erringen, Russland also die vier bereits annektierten – wenn auch nicht militärisch eroberten – Regionen absorbieren, zusätzlich zur bereits 2014 angegliederten Krim, dann hätten es die USA und Europa trotz aller großzügigen Unterstützung der Ukraine nicht vermocht, die Invasion zurückzuschlagen. Dann bestünde ein Risiko für die baltischen Staaten, Moldau und vielleicht sogar für Polen. Sie könnten ebenfalls Bedrohungen ausgesetzt sein, vielleicht nicht einer Invasion, aber sicherlich einem Druck auf ihre Stabilität. Auch von China würde dies als weiterer Beweis für die Schwäche des Westens bei der Unterstützung seiner Verbündeten interpretiert werden und für seinen Abscheu, zuzugeben, dass Kriege notwendig sein können – ein weiterer wesentlicher Unterschied zu Diktaturen. In dieser Gemengelage steht zu befürchten, dass bald auch Taiwan zum Ziel würde. Dieses Szenario würde auch von Ländern mit imperialen Ambitionen wie der Türkei, dem Iran und Saudi-Arabien als Erlaubnis dafür interpretiert werden, bei der Repression im Inneren und bei äußeren Eroberungen noch weiter zu gehen. Aufstrebende Länder wie Indien, Brasilien oder Südafrika würden in ihrer Position der Äquidistanz oder Gleichgültigkeit gegenüber zukünftigen Konflikten bestärkt. Bedenken wir dagegen die zweite Hypothese. Sollte Wladimir Putin in der Ukraine eine Niederlage erleiden, sollte er gezwungen sein, sich hinter die Linie zurückzuziehen, die vor der Invasion bestand, oder sollte er sogar alle seit 2014 besetzten Gebiete aufgeben müssen, dann würde dieser Rückzug – jenseits der innenpolitischen Konsequenzen, die eine solche Demütigung in Russland haben könnte –, die Versuche ausbremsen, Gewalt über das Recht zu stellen. China würde für lange Zeit darauf verzichten, Taiwan mit militäri-

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schen Mitteln einzunehmen, ohne jedoch grundsätzlich davon abzurücken. Das Bündnis zwischen China und Russland, auf ewig eingegangen, würde bestehen bleiben, doch diese Solidarität würde zum ersten Mal zu einer ökonomischen und politischen Last, mit Aussicht auf eine lang andauernde Isolation: China müsste sich sorgen, dass die Sanktionen, die es dann zwangsläufig treffen würden, sein bereits durch die Pandemie eingeschränktes Wachstum weiter schwächen würden. Insbesondere würde China befürchten, dass die Handelsbeschränkungen seine Hoffnung zerstören, die weltgrößte Volkswirtschaft zu werden. Damit das bessere Szenario Wirklichkeit wird, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein. Die erste ist, dass sich die Vereinigten Staaten wieder verstärkt engagieren. Sicherlich hat die Übermacht der USA zur Amtszeit von George W. Bush Ablehnung, Feindseligkeit und selbst Verwirrung hervorgerufen. Doch der Rückzug von der internationalen Bühne, unter Obama begonnen und unter Trump verstärkt, hat sich als verheerend erwiesen, weil so eine Lücke entstand, die schnell durch rivalisierende Mächte gefüllt wurde und Russland eine Ausweitung seines Machtbereichs erlaubte. Es stand zu befürchten, dass Joe Biden in die gleiche Richtung gehen würde, insbesondere beim Abzug aus Afghanistan, doch muss man feststellen, dass er im Ukrainekonflikt eine feste und mutige Haltung eingenommen hat. Die Vereinigten Staaten haben große Summen investiert, um der Ukraine zu helfen und tun dies auch weiterhin. Wird die republikanische Mehrheit im USRepräsentantenhaus Biden gestatten, diese Unterstützung fortzusetzen? Und wird der nächste Präsident, nach den Wahlen im November 2024, nicht doch den bereits eingeschlagenen protektionistischen Wirtschaftskurs durch eine isolationistische Außenpolitik ergänzen? Das ist zweifellos das Kalkül von Putin, der langfristig denkt. Er wird abwarten und den Ukrainekonflikt einfrieren, wenn er kann.

Europas fragile Einheit Die zweite Bedingung für ein Friedensszenario ist die Unterstützung der westlichen Öffentlichkeit. Auch vor der Invasion der Ukraine gab es Gründe für den Anstieg der Inflation: Die Geldschwemme durch die Politik der Zentralbanken, das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage nach der Coronakrise oder die Politik des „koste es, was es wolle“ auf europäischer Ebene, die auf gewisse Weise die Nachfrage stimuliert hat. Aber der Ukrainekrieg hat den Anstieg der Preise weiter verstärkt, und ein Teil der Öffentlichkeit bringt die heutigen Schwierigkeiten nicht so sehr mit dem Ende der Coronakrise in Verbindung als mit dem Beginn des Konflikts. Seitdem bewirken die Angst vor Mangel, die explodierenden Rechnungen und die Energieknappheit, dass die öffentliche Meinung die ukrainische Sache nicht völlig unterstützt. Es gibt sogar allen Grund anzunehmen, dass politische Gruppen, ja sogar europäische Staaten zu Verhandlungen oder Anpassungen des Sanktions-

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46 François Hollande regimes aufrufen werden. Bereits jetzt gibt es Spannungen in einem Europa, das ziemlich gut auf die Ukrainekrise geantwortet hat. Sie werden sich an einem neuralgischen Punkt zeigen: der Gelegenheit zu einer Vergleichslösung mit Russland. Eine Schlüsselrolle will dabei die Türkei spielen. Sie hat sogar eine Methode vorgestellt: sich die Ukraine Region für Region vorzunehmen und von Fall zu Fall zu schauen, zu welchen Zugeständnissen die beiden Seiten jeweils bereit sind. Die Türkei pflegt zudem internationale Beziehungen, die zur Mehrdeutigkeit beitragen, weil sie einerseits Nato-Mitglied ist und andererseits der „beste Feind“ Russlands. Die Türkei und Russland konkurrieren zwar in allen für sie relevanten Regionen, einigen sich aber immer. Das haben wir in Syrien genauso beobachten können wie im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Wladimir Putin hofft daher darauf, dass die öffentliche Unterstützung schwächer wird und die Europäer zeigen, dass sie an ihrem Lebensstil eher hängen als an ihren Werten, an ihrem Komfort eher als an der Demokratie und an ihrer Wirtschaft eher als an ihrer Sicherheit. Das ist ganz allgemein die Frage, die sich heute der Europäischen Union stellt: Was ist ihr Schicksal? Will sie eine bedeutende Wirtschafts- und Handelsmacht sein, deren Erfolge ihr einen inneren Zusammenhalt und internationalen Respekt sichern – um den Preis politischen Einflusses? Ein Zusammenschluss mit einer starken Wirtschaft, aber ohne politischen Anspruch auf globaler Ebene? Deutschland hat diese Sichtweise lange Zeit vertreten. Heute sieht es ihre Grenzen. Will sich Europa auf seinen Kontinent zurückziehen? Da seine Lebensweise weltweit eine solche Ausnahme geworden ist, muss sie da nicht um jeden Preis verteidigt werden? Müssen dafür nicht die Grenzen so hoch wie möglich gezogen werden, um Einwanderung zu begrenzen und die industrielle und energetische Souveränität zu sichern, damit man von Krisen nicht betroffen ist? Europa würde es schwerfallen, diese Entscheidung einstimmig zu treffen. Aber einige unterstützen sie bereits jetzt, denn heute wollen die Populisten Europa nicht länger auflösen. Das ist ein paradoxer Sieg des Brexits: Niemand will mehr die Union verlassen. Vielmehr wollen die Populisten aus ihr eine Festung machen, eine Insel, die sich nicht länger darum kümmert, was um sie herum geschieht, um besser schützen zu können, was sich in ihrem Inneren ereignet. Ein solcher Schließungsplan setzt jedoch eine Sicherheitsgarantie voraus. Diese kann nur von den Vereinigten Staaten kommen – worauf übrigens Donald Trump gesetzt hatte –, die sicherlich ihre Bedingungen stellen werden. Doch ein alternativer Weg ist möglich: eine politische Union, die die Stärke ihrer Werte zu sichern vermag – und daher einer Verteidigungs- und Sicherheitsanstrengung zustimmt –, um besser eine einheitliche Botschaft der Stabilität und des Gleichgewichts für die Welt zu vertreten. Diese Orientierung ist in den europäischen Debatten lange zurückgewiesen worden. Heute kann sie nicht länger aufgeschoben werden. Wir kennen das Zögern und die Widersprüche unserer Partner: Nord- und Osteuropa setzen inzwischen ein an Verblendung grenzendes Vertrauen

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in das atlantische Bündnis. Frankreich wiederum fordert eine strategische Autonomie im Rahmen der Nato, aber mit der Idee, eine europäische Verteidigungsindustrie aufzubauen und künftig gemeinsame Streitkräfte zu bilden. Deutschland schließlich wird alles in Einklang bringen wollen, also größere Ausgaben zulassen, auf eine gemeinsame Produktion hinarbeiten und gleichzeitig die ihm fehlenden Flugzeuge von den USA kaufen – mit denen es nie brechen will, während es zugleich darauf setzt, mit den anderen Europäern so weit wie möglich voranzukommen. Es ist vergeblich, zu hoffen, das Europa der 27 könne eine Union bilden, für die die Sicherheit eine Hauptachse wäre. Also wird das Europa der Verteidigung nicht vom Europa der 27 errichtet werden, sondern durch eine verstärkte Kooperation einiger Länder. Der Ukrainekonflikt dürfte es ermöglichen, diese unterschiedlichen Optionen zu klären.

Die UNO im Abseits Es beginnt eine neue Zeit der internationalen Beziehungen. Wie werden sie aussehen? Die Globalisierung, verstanden als völlige Öffnung der Märkte mit einer verstärkten Handelsintensität, hat ihre Grenzen erreicht. Erinnern wir uns daran, dass 1975 der Handel noch 30 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts ausgemacht hat. Dieser Anteil war zwischenzeitlich auf 60 Prozent gestiegen, bis die Coronakrise zu einem Rückgang führte. Dieser wird sich verstärken, einerseits durch die Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten und andererseits durch neue Beschränkungen und Regeln, die das Wachstum des internationalen Handels begrenzen werden. Dazu kommen noch die Auswirkungen der Sanktionen gegen China und andere Länder. Zudem werden nun Wertschöpfungsketten gebildet, die es erlauben, China und Russland mit protektionistischen Maßnahmen zu umgehen (friendshoring). In dieser Hinsicht haben die USA bereits Anstrengungen unternommen und die Europäer werden folgen müssen. Zusätzliche Zölle werden erhoben und nationale Industrien immer öfter subventioniert werden. Schließlich wird auch die Verallgemeinerung von Umweltnormen dazu beitragen, den Stellenwert des Welthandels in der Produktion zu verringern. Wir befinden uns nicht in einer Phase der Deglobalisierung, wie manche sagen, aber sicherlich in einer des weltweiten Rückgangs des wirtschaftlichen Austauschs. Gleichzeitig bildet sich entlang neuer Achsen eine multipolare Ordnung heraus. Auf der einen Seite verstärkt sich die chinesisch-russische Allianz, die autoritäre Regime aller Art unterstützt. Da wo man exekutiert, da wo man Menschen erhängt, wird immer eine der beiden Mächte die jeweilige Regierung unterstützen – mal Russland, mal China. Demgegenüber könnte die Allianz der Demokratien stehen, wenn die Vereinigten Staaten diese Bindung als in ihrem Interesse ansehen – welches nicht zwangsläufig dem unseren entspricht. Dafür muss Europa aber auch die Option wählen, für seine Verteidigung einzutreten, und müssen Länder

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48 François Hollande wie Japan, Südkorea, Australien und Kanada in Bündnissysteme eingebunden sein. Die Erhöhung der Verteidigungsausgaben in Demokratien beweist, dass eine Annäherung möglich ist. Zwischen diesen beiden Blöcken werden einzelne Länder versucht sein, ihr eigenes Spiel zu spielen, auch indem sie periphere Konfrontationen eröffnen. So behaupten sich neue kleine Mächte und spielen zunehmend eine Rolle, beispielsweise Ruanda in Afrika oder Indonesien in Asien – und nicht zu vergessen die Türkei. Der Terrorismus schließlich wird nicht unbedingt von der Bühne verschwinden. Denn sobald ungelöste Konflikte bestehen bleiben, auf die sich religiöse Elemente stützen können, erreichen die Auswirkungen zwangsläufig auch uns. Der Multilateralismus wird der große Verlierer dieser neuen Lage sein. Der UN-Sicherheitsrat ist dauerhaft durch Vetos lahmgelegt; die Friedensmissionen der UNO zeigen täglich ihre völlige Ineffektivität und ihre immensen Kosten, in Mali wie in der Demokratischen Republik Kongo. Der UN-Generalsekretär erlässt tapfer Deklarationen, die nur von denen gehört werden, die seine Werte teilen. Während das System politisch blockiert ist, zwingen paradoxerweise die Gesundheitskrisen, die globale Erwärmung oder die Herausforderungen der Digitalisierung und der globalen Kommunikation zu Kooperation und sogar zu gemeinsamen Entscheidungen. Wenn unsere Emissionen uns am Atmen hindern, wenn Weltregionen immer wieder Katastrophen ausgesetzt sind, wenn die großen Digitalunternehmen unsere Sicherheit bedrohen, sind wir alle betroffen und aufgefordert, die Ursachen zu bekämpfen. Das erklärt, warum bei großen Themen wie dem Klima internationale Abkommen immer noch möglich sind. Es gibt am Ende also doch einen Hoffnungsschimmer. Die Öffentlichkeit, die Menschen haben ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Sie können jederzeit aufstehen und verlangen, dass eine gemeinsame Ordnung errichtet wird. Das Beispiel von Chinas Zero-Covid-Strategie ist erhellend. Die Öffentlichkeit hat schließlich ihre Stimme gefunden, als man es nicht mehr erwartet hatte. Ein Staat kann sicherlich die Bevölkerung für ein oder zwei Jahre in ihren Wohnungen einsperren, aber es kommt ein Moment, da er – sogar wenn er über eine brutale Autorität und fast unbegrenzte Repressionsmittel verfügt – auf etwas stößt, das er nicht unterdrücken kann: auf die Notwendigkeit zu leben. Es gibt eine globale Öffentlichkeit. Sie wird alle Machtansprüche durcheinanderwerfen. Sie ist das einzige Licht, das wir in diesem dunklen Raum, zu dem unsere Welt geworden ist, sehen können. Die Abfolge von Krisen, aus denen wir uns nicht zu befreien vermögen, sollte uns zu einem neuen demokratischen Engagement anspornen. Aus dieser weltweiten Konfrontation, aus dem Anspruch, mit Gewalt das Recht zu negieren, und aus dieser Infragestellung der Freiheit – die keine Dekadenz ist, sondern ein Projekt – ziehen wir eine Lehre: Demokratien sind allen anderen Regimen überlegen – vorausgesetzt ihre Bürger sind bereit, sie besser zu verteidigen.

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Im zweiten Jahr der Zeitenwende: Gravitationszentrum Osteuropa Von Wolfgang Templin

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m 24. Februar ist der Überfall Russlands auf seinen westlichen Nachbarn in das zweite Jahr eingetreten. Die Ukraine erlebt damit die Fortsetzung und brutale Steigerung eines Angriffskrieges, der – was nicht in Vergessenheit geraten darf – bereits im Februar 2014 mit der Besetzung der Krim und der Installierung ukrainischer Separationsregime im äußersten Osten der Ukraine begonnen hat. Der Kleptokrat Viktor Janukowytsch, zwischen 2002 und 2005 sowie 2006 und 2007 Ministerpräsident der Ukraine und von 2010 bis 2014 deren Präsident, hatte es vor allem während dieser letzten vier Jahre vermocht, die Verteidigungskraft der regulären ukrainischen Armee zu zerstören und seine eigenen Sicherheitskräfte auszubauen. (Etliche von deren Mitgliedern sollten ab 2014 auch die Marionettenregime der Donezker und Lugansker „Volksrepubliken“ stärken.) In der Maidan-Revolution des Winters 2013/14 wurde Janukowytsch von den Demonstrierenden zum Rücktritt gezwungen, woraufhin er in einer Nacht- und Nebelaktion das Land verließ. Nach dieser „Niederlage“ sah Wladimir Putin den Weg frei für die kampflose Eroberung der Krim. Doch statt einer härteren Gangart gegenüber Putin und konsequenten Sanktionen suchte der Westen nach Kompromisslösungen, die sich in den „Minsker Vereinbarungen“ niederschlugen – einem völlig untauglichen Format, welches der Ukraine immer wieder unakzeptable Zugeständnisse und Territorialverluste aufzwingen wollte. Putin konnte dadurch in Ruhe die nächsten Angriffsschritte vorbereiten – und offen die Auslöschung der Ukraine als eigenständigen Staat wie der ukrainischen Identität ankündigen.1 Dem folgte vor einem Jahr der Beginn des als „militärische Spezialoperation“ deklarierten Eroberungskrieges – in der Annahme, dass der „dekadente Westen“, vor allem Deutschland, letztlich die völlige Auslieferung der Ukraine akzeptieren und sie eigenen Interessen, wie billigen Rohstoffen, opfern würde. Nur die unerwartete Widerstandskraft der Ukraine bewirkte letztlich ein Umdenken, auch in Deutschland, und ließ den Bundeskanzler von einer „Zeitenwende“ sprechen. Dessen ungeachtet verübte die russische Soldateska in den zurückliegenden Monaten ungezählte Gräueltaten – angeblich zur Verteidigung der „bedrohten“ russischen Bevölkerung auf dem Territorium der Ukraine und

1 Wladimir Putin, Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer, in: „Osteuropa“, 7/2021, S. 51-66; Putins Rede vom 21.2.2022, www.zeitschrift-osteuropa.de/blog.

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50 Wolfgang Templin gegen das „faschistische Regime“ in Kiew. So wurde aus der autokratischen, zunehmend diktatorischen Regentschaft Wladimir Putins, welche sich primär auf die Niederhaltung der eigenen Bevölkerung konzentrierte, ein terroristischer Kriegsverbrecherstaat und eine Bedrohung nicht nur seiner unmittelbaren Nachbarn. Während es von westlicher und gerade auch von deutscher Seite schnell zu großzügiger humanitärer und ziviler Unterstützung der Ukraine kam, setzte sich die militärische Solidarität nur sehr zögerlich durch – zur großen Unzufriedenheit vor allem unserer östlichen Nachbarn. Speziell das deutsche Einverständnis zur Lieferung von Leopard-Panzern anderer Staaten wie eigener kam viel zu spät, angesichts der langen Lieferzeiten und dem soeben erfolgten Beginn der russischen Frühjahrsoffensive. Dabei hatten Militärexpert:innen frühzeitig die Lieferung von Kampfpanzern und Artilleriesystemen gefordert, um die Ukraine bei ihrer Verteidigung wirksam zu unterstützen. Das Ringen um moderne Waffensysteme ist jedoch nur ein Ausschnitt der gebotenen Zeitenwende. Die erforderlichen Schritte zu ihrer Umsetzung stehen für eine viel komplexere Aufgabe in der deutschen Politik und Gesellschaft. Dabei geht es um die Unterstützung der Ukraine auf zahlreichen Feldern. Denn neben Waffen braucht das Land weiterhin humanitäre Hilfe wie auch massive Unterstützung beim Wiederaufbau. Vorbild dafür könnte der Marshallplan der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg sein. Zur Finanzierung des Wiederaufbaus muss aber auch Russland als Aggressorstaat herangezogen werden. Daneben bedarf es der verstärkten Dokumentation russischer Kriegsverbrechen als Grundlage ihrer späteren strafrechtlichen Verfolgung. Und schließlich ist ohne eine Ausdehnung der Sanktionen gegen Russland – die vollständige Abriegelung des Banken- und Finanzsystems, weitere Personensanktionen und ein vollständiges Rohstoffembargo – ein Erlahmen der russischen Kriegsmaschinerie schwer vorstellbar. Nur wenn dieser Ring sich weiter zuzieht und eine russische Niederlage wahrscheinlich wird, werden aktuelle und potenzielle Unterstützer Russlands wirksam abgeschreckt werden. All dies verlangt ein weit aktiveres Verhältnis zu unseren europäischen und außereuropäischen Partnern in der Neugestaltung einer internationalen Sicherheitsarchitektur. Es kommt darauf an, neue europäische Sicherheitsstrukturen in einer sich rasant verändernden Welt zu schaffen. Deutschland muss dabei endlich die vom Bundeskanzler versprochene Führungsrolle übernehmen. Ein wichtiger Bestandteil sollte eine Nationale Sicherheitsstrategie sein, deren Verabschiedung eigentlich bereits um die Jahreswende geplant war, dann aber bis zur Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar verschoben wurde. Doch auch dieses Datum wurde nicht eingehalten. Der Grund dafür sind die erheblichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundeskanzleramt und Außenministerium. Ein Entwurf, für den Expert:innen des Außenministeriums von Annalena Baerbock verantwortlich zeichneten, wurde vom Kanzleramt mit dem Vermerk zurückgewiesen, es handele sich hierbei um eine bloße Ideensammlung, die noch einer gründlichen Überarbeitung bedürfe. Tatsächlich aber handelt es sich um

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Zeitenwende: Gravitationszentrum Osteuropa 51 essenzielle Konfliktpunkte zwischen den unterschiedlichen Parteien innerhalb der Regierungskoalition. Welches Verteidigungs- und Kriegsziel sollen sich die Ukraine und ihre Verbündeten setzen? Kann es dabei um einen Kompromissfrieden gehen, der den offenen Krieg in einem Waffenstillstand „einfriert“? Oder wird damit das Ziel des Rückgewinns der weiter besetzten ukrainischen Territorien, einschließlich der Krim, leichtfertig aufgegeben? Soll es schließlich auch um Sicherheitsgarantien für Russland gehen – oder müssen sich die Vereinbarungen nicht gegen den Aggressor richten? Die sich hier bereits abzeichnenden Formelkompromisse werden kaum in der Lage sein, die tiefer sitzenden Widersprüche zwischen den Koalitionären zu überbrücken. Das Gleiche gilt für eine damit eng verbundene, aber noch viel weiter reichende China-Strategie.

Macht und Strategie: Die Verlagerung gen Osten Während die Ausformulierung der Zeitenwende auch angesichts dieser offenen Zielkonflikte in Deutschland weiter stockt, ist eine andere, von Olaf Scholz früh angesprochene, Entwicklung längst in vollem Gange. Der Bundeskanzler und eine Reihe geostrategischer Expert:innen sprachen von einer „Verlagerung des europäischen Gravitationszentrums in Richtung Osten“, lassen aber bis heute offen, was sie damit meinen. Derweil zeigen die Osteuropäer selbst, was sie darunter verstehen. Wenn sich die Staatsspitzen Polens, Litauens und der Ukraine Anfang Januar im westukrainischen Lviv trafen, hat das weit mehr als symbolische Bedeutung. Speziell Polen hat mit der Aufnahme von Millionen ukrainischer Flüchtlinge, gewaltigen Rüstungsanstrengungen und der politischen und militärischen Kooperation mit den baltischen und skandinavischen Partnern Unglaubliches geleistet. Und trotz des permanenten propagandistischen deutschfeindlichen Störfeuers der rechtskonservativen PiS-Regierung rückt in diesem Jahr deren Wahlniederlage – und der ihrer noch rechtsnationalistischeren Verbündeten – in greifbare Nähe. Der mögliche Machtwechsel bei den Parlaments- und Selbstverwaltungswahlen wie der dann ausstehenden Präsidentschaftswahl könnte liberalkonservative bis linksliberale Weichenstellungen für eine andere Nachbarschaftspolitik befördern. Im besten Fall könnte unser Nachbarland wieder zu einem starken, ungeteilt positiv auf Europa und Deutschland ausgerichteten Partner werden. Der Stern des ultranationalistischen und deutschfeindlichen Jarosław Kaczyn’ ski ist jedenfalls am Sinken, ihm brechen die Verbündeten weg. Dagegen zeigen Premierminister Mateusz Morawiecki und Staatspräsident Andrzej Duda bereits jetzt durch ihre politischen Auftritte, dass sie politisch im Spiel bleiben wollen. Manche ihrer an Deutschland gerichteten Wünsche und Forderungen sind durchaus vernünftig; Berlin sollte sie daher nicht einfach vom Tisch wischen. Denn Polen bleibt die entscheidende Brücke in die Ukraine, zu Belarus und den anderen um ihre Emanzipation von Russland ringenden postsowjetischen Staaten.

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52 Wolfgang Templin Für die Ukraine ist dagegen nicht eine möglichst enge Bindung an Warschau das Hauptziel, so sehr sie die polnische zivile Hilfe und die wirksame militärische Unterstützung in ihrem Überlebenskampf schätzt und braucht. Sondern perspektivisch strebt die große Mehrheit der Ukrainer:innen die Mitgliedschaft in der EU und der Nato an. Dafür ist sie bereit, trotz äußerster Belastung in Zeiten des Krieges, die dafür notwendigen Reformen voranzutreiben. Was das Land daher mittelfristig braucht, sind mindestens Sicherheitsgarantien gegenüber einem geschwächten, aber umso gefährlicheren russischen Gegner. Dafür braucht es starke Garantiemächte und ein koordiniertes internationales Handeln, an dem es immer noch fehlt. Deutsche Stimmen, die zur Zurückhaltung gegenüber Putin raten und ihn lieber weiter an der Macht sehen wollen, weil es noch viel schlimmere Kräfte gäbe, sitzen dagegen einer Illusion auf. Mit Putin sind in Russland bereits Nationalisten und Verbrecher der schlimmsten Sorte an der Macht. Bei der Mehrzahl der Machtelite handelt es sich zugleich um eiskalt und nüchtern kalkulierende Manager, Technokraten und Militärs, die durch die Loyalität von Mafiosi an ihren Chef gebunden sind. Solange Putin als Capo di Capi im „Mafiastaat“2 Erfolge aufweisen kann, hat er sie fest in der Hand. Neigt sich dagegen die militärische Bilanz immer stärker zu Ungunsten Russlands, ist das Land gar zum isolierten und geächteten Pariastaat geworden, dann steht das soziale Überleben aller intern konkurrierenden Clanmitglieder auf dem Spiel. Dann könnte ein ganz anderes Szenario eintreten: Putin ist selbst durch eine geheimdienstliche Sonderoperation an die Macht gekommen, er kann auch ohne einen offenen Palastputsch, quasi geräuschlos, an die Seite geschoben werden. Zunächst würde er, wie vor ihm Boris Jelzin, Sicherheitsgarantien für sich und seine Familie erhalten. Sein gerüchteweise immer wieder erwähnter schlechter Gesundheitszustand könnte dann als Ursache für seinen Rückzug angegeben werden. Die Mitglieder der vor allem am eigenen Überleben interessierten oberen und mittleren Elite Russlands wären in ihrem Ziel vereint, den Sanktionsring zu lockern, um alsdann im Zuge von Verhandlungen auf die internationale Bühne zurückkehren zu können. Damit dies geschieht, ist jedoch eine entschlossene Konfrontationsstrategie des Westens erforderlich. Zu lange waren die russischen Eliten an eine Haltung des Westens gewöhnt, die da lautete: Ihr könnt bei euch machen, was ihr wollt, nur liefert uns billiges Öl und Gas und gebt acht auf eure Atomwaffen. Deutsche Politiker:innen und Manager:innen waren dabei stets an vorderster Stelle dabei. Jetzt aber geht es um das schmerzhafte Umschalten, bei dem die Bundesrepublik als das bevölkerungsreichste Land in der Mitte Europas besonders gefragt ist. Die nächsten Monate werden gewiss noch nicht den Zerfall des Putinschen Terrorregimes und den seiner Machtclique bedeuten, sie könnten aber entscheidende Schritte dahin sein. Dafür ist es erforderlich, dass Deutschland endlich seine Verantwortung ernst nimmt, Führungsmacht unter den europäischen Partnern zu sein – und die Bundesregierung dies auch der verunsicherten deutschen Gesellschaft mutig vermittelt. 2 So bezeichnet der Nawalny-Vertraute Leonid Wolkow Russland in seinem neuen Buch „Putinland“.

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Panzer, Kampfjets und Raketen? Über die roten Linien im Ukrainekrieg Von August Pradetto

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s war durchaus ein Coup, als der Bundeskanzler sich Mitte Januar nach langem Zögern zur Lieferung von Leopardpanzern bereiterklärte – unter der Bedingung, dass auch Abrams-Panzer von den USA geliefert würden. Ob die zugesagten modernen Panzer allerdings tatsächlich das richtige Mittel zum richtigen Zeitpunkt sind, hängt entscheidend von der Strategie ab, in welche sie eingebunden werden. Wenn sie dazu dienen, einen weiteren Vormarsch der russischen Truppen aufzuhalten und die Stellungen der Ukrainer zu befestigen, also zur Verteidigungsfähigkeit der Ukraine beitragen und das Kriegsgeschehen nicht weiter eskalieren lassen, dann erfüllen sie zweifellos eine positive Funktion. Sie werden dem Krieg aber nicht – als vermeintlicher Game Changer – eine entscheidende Wende geben. Die meisten Militärexperten warnen ohnehin davor, die Wirkung von technologisch hochwertigem Material zu überschätzen. Je moderner und ausgefeilter die Systeme sind, desto anfälliger sind sie, desto größer ist der Reparaturaufwand, desto komplizierter wird die dafür erforderliche Logistik – und desto mehr Ausbildung ist für ihre Bedienung notwendig. Fest steht aber auch, dass die russische Armee schon lange versucht, durch Heranführung zusätzlichen Materials ihre Ausgangsposition für weitere militärische Auseinandersetzungen zu verbessern. Nach US-Schätzungen vom März 2022, also kurz nach Beginn des Krieges, verfügt die russische Armee insgesamt über mehr als 12 000 einsatzbereite Panzer. Bisher wurde jedoch nur ein Teil davon an die ukrainische Front gebracht, da Moskau bei Kriegsbeginn von einem schnellen Zusammenbruch der Ukraine ausging. Zwar hat die russische Armee seither hohe Verluste erlitten, allerdings ist nach wie vor von der Möglichkeit eines massiven Nachschubs auszugehen. Außerdem haben die Befehlshaber auf russischer Seite offenbar aus ihren anfangs horrenden Fehleinschätzungen und Fehlern gelernt. Dagegen verfügte die Ukraine nach US-Angaben zu Beginn des Krieges selbst nur über etwa 2600 Kampfpanzer und 12 000 gepanzerte Fahrzeuge. Der Westen hat in den letzten Monaten (ebenfalls nach offiziellen US-amerikanischen Angaben, von Ende Januar 2023) bereits mehr als 3000 gepanzerte Fahrzeuge ins Land geschickt. Darüber hinaus wurden mehr als 800 Artilleriesysteme, mehr als zwei Millionen Schuss Artilleriemunition und mehr als 50 Mehrfachraketenwerfersysteme sowie Seezielflugkörper und

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54 August Pradetto Luftabwehrsysteme geliefert. Dies alles hat der Ukraine bei der Verteidigung wie auch bei der Rückeroberung einiger Gebiete geholfen. Dennoch konnte es nicht verhindern, dass sich die russischen Streitkräfte im Osten und Südosten der Ukraine festsetzen konnten und seither punktuell immer wieder in die Offensive kommen. Bei der dagegen erforderlichen Verteidigung können die westlichen Panzer der Ukraine durchaus dienlich sein. In einer anderen strategischen Ausrichtung könnten sie allerdings auch in die Eskalation führen. Werden sie in eine offensive Strategie im Verbund mit anderen Waffen eingebaut und eingesetzt, ändert sich auch ihre Funktion. Im „verbundenen Gefecht“ eröffnen moderne Panzer ganz andere militärische Optionen – zumal zusammen mit den jetzt von der Ukraine geforderten Kampfjets und Raketen. Sie können dann dazu dienen, die von Russland okkupierten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk, aber auch die Krim anzugreifen. Genau dies ist die von der politischen und militärischen Führung in Kiew deklarierte Absicht. Die militärische Logik, die dieser Strategie folgt, bedeutet auch ein Ausgreifen der ukrainischen Militäraktionen auf russisches Gebiet – also auf Infrastruktur und Stützpunkte jenseits der ukrainischen Grenze –, um den Nachschub für die russischen Streitkräfte zu neutralisieren. Wären die ukrainischen Streitkräfte damit erfolgreich, wäre eine Eskalation zu erwarten, weil die russische Führung diese Gebiete, insbesondere die Krim, nicht aufzugeben bereit ist. Hier liegt der Kern des Konflikts und der daraus resultierenden Eskalationsgefahr: Aus ukrainischer Sicht handelt es sich dabei um die völkerrechtlich legitime Verteidigung des eigenen Staatsgebietes, aus russischer Sicht um einen Angriff auf das Staatsgebiet der Russischen Föderation. Die Frage, welcher Art die westlichen Waffenlieferungen sein sollen, ist also nicht nur unter dem Aspekt der völkerrechtlich und moralisch eindeutigen Legitimität vollständiger Souveränität und Integrität der Ukraine zu beantworten. In jede Entscheidung ist die Abwägung einer möglichen oder gar wahrscheinlichen Eskalation einzubeziehen. Es nützt wenig, darauf zu verweisen, dass Moskau den Krieg begonnen hat und es ja gar keine Eskalation gäbe, wenn sich die russischen Truppen zurückzögen. Die machtpolitische und militärische Realität ist leider eine andere. Angesichts dieser komplexen Lage gehen im Westen die Meinungen darüber, wie weiter verfahren werden soll, durchaus auseinander. Bei den osteuropäischen Nato-Mitgliedern überwiegt die Bereitschaft, die ukrainische Strategie der Wiedergewinnung ihrer seit 2014 verlorenen Gebiete zu unterstützen und weitreichende Mittel einzusetzen, um die ukrainische Armee dazu in die Lage zu versetzen. Diese Festlegung basiert erstens auf der Vorstellung, dass die militärisch potenten Länder der Nato, allen voran die USA, dafür die Mittel bereitstellen können und auch sollen. Zweitens beruht die Eskalationsbereitschaft auf der Überzeugung, dass die US-Garantie für die kleineren Länder, die an Russland grenzen, ihnen auch in Zukunft Schutz bieten wird. Und drittens gründet sie auf der Hoffnung, dass die Ukraine die „Eskalationsdominanz“ erlangen kann und Russland dann zurückweichen muss. Genährt wird diese Erwartung durch den gescheiterten Versuch der russischen Armee, die gesamte Ukra-

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Panzer, Kampfjets und Raketen? 55 ine unter ihre Kontrolle zu bringen, und durch die partielle Rückeroberung von bei der ersten russischen Offensive besetzten Gebieten. In den meisten westlichen Nato-Ländern überwiegt dagegen die Ansicht, man müsse eine derartige Eskalationsspirale, die den Krieg auf russisches Gebiet ausweitet, unbedingt vermeiden. Die Risiken seien eindeutig zu groß. Daher die klare Absage des US-Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers, nach den bewilligten Kampfpanzern auch noch Kampfjets zur Verfügung zu stellen.

Die »rote Linie«: Der Unterschied zwischen Offensive und Defensive Tatsächlich berührt die Kampfjet-Diskussion eine, wie es der deutsche Bundeskanzler formuliert, „rote Linie“. Sie bezeichnet den Unterschied zwischen Defensive und Offensive. Bei den besetzten Gebieten handelt es sich um einen Landstreifen, der von der russischen Grenze bis zur Frontlinie nur 100 bis 200 Kilometer breit ist. Eine F16, ein Eurofighter oder eine MiG-29 fliegen bis zu 2500 Kilometer in der Stunde. Diese Jets überfliegen diesen Landstreifen in fünf Minuten, dann sind sie in Russland. Zu Beginn des Krieges verfügte die Ukraine nach US-Angaben über 69 Jagdflugzeuge und Abfangjäger sowie 29 Flugzeuge für Bodenangriffe1 – also nicht einmal über ein Zehntel jener 772 Jagdflugzeuge und Abfangjäger sowie 739 Flugzeuge für Bodenangriffe, mit denen die russischen Streitkräfte ausgestattet sind.2 Auf beiden Seiten gab es massive Zerstörungen von Kriegsmaterial, doch wie bei den Panzern ist bisher nur ein Teil der russischen Flugzeuge an der ukrainischen Front im Einsatz. Ob man es also nun Verteidigung (des völkerrechtlich nach wie vor zur Ukraine gehörigen Territoriums) oder Offensive nennt: Eine Ausweitung der Kämpfe auf die 2014 okkupierten und von Russland zu eigenem Staatsgebiet deklarierten Gebiete wird angesichts dieser Kräfteverhältnisse zwangsläufig weitergehende Forderungen nach noch stärkeren Waffensystemen nach sich ziehen. Und diese würden – schon wegen ihrer qualitativen Beschaffenheit – notgedrungen ein stärkeres westliches Engagement erfordern, allein um ihre Funktionsfähigkeit am Kriegsschauplatz aufrechtzuerhalten. Doch selbst bei massiver Aufrüstung ist die russische Armee von den ukrainischen Streitkräften nicht zu besiegen. Russland verfügt (wieder nach US-Angaben) über eine Million aktiver Soldaten, zwei Millionen Reservisten und eine wehrtaugliche Bevölkerung von mehr als 46 Millionen, also weit mehr, als die Ukraine an Gesamtbevölkerung aufweist. Dazu kommen noch mehr als eine halbe Million paramilitärische Kräfte. Die bisher noch gar nicht nennenswert zum Einsatz gekommene russische Kriegsflotte umfasst mehr als 600 Schiffe. Auch wenn der Verteidiger mit Blick auf Motivation, Kenntnis des Kriegsschauplatzes und Unterstützung der Bevölkerung immer einen gewissen Vorteil gegenüber dem Angreifer aufweist: Einen Sieg über 1 Außerdem verfügt Kiew über 32 Transportflugzeuge sowie 112 Hubschrauber, davon 34 Kampfhubschrauber. 2 Moskau verfügt zudem über 445 Transportflugzeuge sowie 1543 Hubschrauber, davon 544 Kampfhubschrauber, außerdem über reichlich Luftabwehrsysteme, Lenkwaffen, Kurz-, Mittel- und Langstreckenraketen. Russland hat desweiteren 20 Tankflugzeuge, die Ukraine kein einziges.

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56 August Pradetto Russland könnte es nur geben, wenn die Nato ihre eigene, den russischen Streitkräften zweifellos überlegene, konventionelle militärische Macht einsetzt. Die Strategie der ukrainischen Führung zielte daher von Kriegsbeginn an auf eine solche Nato-Beteiligung ab. Genau dies wird bisher aber übereinstimmend von der Nato abgelehnt und zu vermeiden gesucht. Denn in einem solchen Fall wäre ein Nuklearkrieg nicht mehr auszuschließen – mit nicht nur für Europa unabsehbaren Folgen. Die in der öffentlichen Debatte vertretene Position einer Unterstützung der Ukraine „bis zum Sieg“ bzw. bis zur „vollständigen Wiederherstellung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine“ geht also schlicht an der Realität vorbei.

Wann ist die Zeit für Verhandlungen gekommen? Umso mehr drängt sich die Frage auf, ob jetzt nicht die Zeit für Verhandlungen gekommen ist. Ein für Diplomatie positiver Faktor ist, dass die Ukraine den Beweis erbracht hat, dass sie mit westlicher Unterstützung den russischen Streitkräften widerstehen kann und bereit ist, dies auch weiter zu tun. Die Nato hat demonstriert, dass sie willens und in der Lage ist, die Ukraine bei der Abwehr der russischen Aggression weiterhin auf vielfältigste Weise zu unterstützen. Die russischen Streitkräfte wiederum haben gezeigt, dass sie keineswegs geschlagen sind, auch wenn sie gegenwärtig in dem schmalen Streifen in der Ost- und Südostukraine festsitzen. Angesichts dieser Pattsituation tut sich hypothetisch ein Zeitfenster für Verhandlungen auf – das freilich nur dann real wird, wenn ein Waffenstillstand und Verhandlungen von Washington und Kiew wie von Moskau besser bewertet werden als andere Optionen. Die entscheidende Frage ist also, was der Anreiz für die Parteien sein könnte, sich an den Verhandlungstisch zu begeben. Der wichtigste Anreiz wäre die Einsicht auf allen Seiten, dass die Fortsetzung des Krieges eher schadet als nützt. Mit anderen Worten: Erst wenn alle Seiten statt von ihrem Sieg von der Sinnlosigkeit und den Nachteilen einer Fortsetzung des Krieges sprechen, erst dann ist der mentale Boden für Verhandlungen bereitet. Davon kann gegenwärtig noch keine Rede sein: Offiziell hält die ukrainische Führung am Ziel der Wiedergewinnung des gesamten Territoriums der Ukraine fest. Und auf russischer Seite werden dagegen keine Abstriche vom „Minimalziel“ gemacht, den gesamten Donbass unter Kontrolle zu bekommen. Solange dies der Fall ist, wird es keine Beendigung der Kampfhandlungen geben. Allerdings ist angesichts des erfolgreichen Widerstands der ukrainischen Armee und der massiven Unterstützung des Westens keineswegs sicher, dass Putin wirklich noch davon überzeugt ist, diesen Krieg gewinnen zu können. Eine Schlüsselrolle, was den Beginn von Friedensverhandlungen anbelangt, kommt, neben Moskau, Washington zu. Das gilt nicht nur für die Qualität der Waffenlieferungen an die Ukraine, sondern auch für die Bereitschaft der Ukraine, sich überhaupt an den Verhandlungstisch zu setzen. Sowohl die Verteidigung des restlichen Territoriums der Ukraine als auch der mögliche Versuch einer Rückeroberung der 2014

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Panzer, Kampfjets und Raketen? 57 annektierten Gebiete hängt ganz entscheidend von westlicher militärischer Unterstützung ab – und zuallererst von den USA. Die US-Position changiert dabei zwischen der Absicht, Russland keinerlei Zugeständnis zu machen, was die Verletzung völkerrechtlich anerkannter Grenzen anbelangt, und den Rivalen in militärischer und geopolitischer Hinsicht zu schwächen sowie – auf der anderen Seite – der Vermeidung des Risikos, selbst in den Krieg gezogen zu werden, bis hin zu einer unbedingt zu vermeidenden nuklearen Auseinandersetzung. Die in den USA vor allem in der ersten Phase des Krieges im Frühjahr geäußerte Absicht, Russland militärisch „substanziell“ zu schwächen, korrespondierte mit der Intention, die ukrainischen Streitkräfte mit allem auszustatten, was sie brauchen, um ihre Ziele zu erreichen. Diese Auffassung hat sich jedoch seit der Konsolidierung der russischen Besetzung im ukrainischen Osten und Südosten verändert – auch unter dem zunehmenden innenpolitischen Druck und dem Wunsch der Regierung Biden, sich primär den eigenen, US-amerikanischen Problemen zuzuwenden. Natürlich gibt es für alle Seiten die Option, keine Konzessionen zu machen und weiter ganz auf militärische Mittel zu setzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Krieg noch lange hinziehen wird, ist in der Tat nicht gering. Dies würde unter den gegebenen Rahmenbedingungen für die Ukraine einen brutalen Abnutzungskrieg bedeuten, der hauptsächlich ihr selbst schadet. Das Land ist schon jetzt zu einem erheblichen Teil zerstört und entvölkert; es wird Jahrzehnte damit zu tun haben, wieder auf die Beine zu kommen. Mindestens acht Millionen Menschen dürften in den Westen, über zwei Millionen nach Russland und Belarus geflohen sein. Und je länger der Krieg andauert, desto weniger Emigrierte werden in ein zerstörtes Land mit zerstörten Familien zurückkehren. Kurzum: Die Ukraine läuft bei einer Fortsetzung des Krieges in eine ökonomische, infrastrukturelle und auch demografische Katastrophe. Diese Realität muss in Rechnung gestellt werden, wenn man eine Strategie entwirft – und nicht nur das wünschenswerte Recht und Ziel der territorialen Integrität einer Ukraine, die nachher aussieht wie Afghanistan oder Irak. Aber auch für Russland bedeutet ein anhaltender Abnutzungskrieg enorme Kosten unterschiedlichster Art, ohne dass sich die Erfolgsaussichten substanziell verbessern werden, was die ursprünglichen Kriegsziele anbelangt. Das gilt schließlich auch für den Westen. Denn auch für diesen steigen mit der Länge des Krieges die Kosten wie auch das ungewollte Eskalationsrisiko. Die Bandbreite ist dabei groß, von möglichen Einschlägen in Atomkraftwerke über Provokationen von Extremisten bis hin zu Missinterpretationen militärischer Aktionen durch die involvierten Akteure. Vielleicht am größten ist jedoch das Risiko, das sich aus einer unbeabsichtigten Dilemmasituation ergeben könnte. Angenommen, die ukrainischen Streitkräfte würden (vom Westen militärisch mit allem ausgestattet, was dafür benötigt wird) die Krim angreifen und eine wirkliche Bedrohung für die dortigen russischen Streitkräfte und die russische Schwarzmeerflotte darstellen: Dann ist nicht davon auszugehen, dass die russische Führung einen Nato-Staat angreift und damit Art. 5 des Washingtoner Vertrags und die direkte Konfrontation mit Nato-Streitkräften auslöst, sondern dass gegen die Ukraine mit bis dahin

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58 August Pradetto noch nicht eingesetzten und noch zerstörerischen Waffen vorgegangen wird. Wie aber reagiert der Westen dann? Greift er nicht ein, überlässt er den russischen Streitkräften das Feld und lässt damit die Ukraine im Stich. Sollte er daher beschließen, selbst in irgendeiner Form militärisch einzugreifen, könnte daraus ganz schnell eine Kettenreaktion und damit die unmittelbare Konfrontation mit den Streitkräften Russlands hervorgehen. Die Folgen einer solchen Entwicklung wären kaum kalkulierbar. Mit der Dauer des Krieges steigt schließlich auch die Gefahr, dass die (noch existierende) Übereinkunft unter den Nato-Mitgliedern nicht mehr gewahrt wird, dass Entscheidungen über die militärische Unterstützung der Ukraine nur in abgestimmter Weise getroffen werden. Handeln etwa einige osteuropäische Mitglieder auf eigene Faust, indem sie Kampfjets liefern, oder kommt gar, wie es Selenskyj forderte, eine „Kampfflugzeug-Koalition“ zustande, könnte dies die Spaltung der Nato bedeuten. Moskau könnte daraufhin versucht sein, Schläge gegen Mitglieder einer solchen Koalition zu setzen, während andere Nato-Länder sich nicht zur Hilfestellung nach Art. 5 verpflichtet fühlen, weil die Koalitionäre nicht in Abstimmung mit den Verbündeten gehandelt haben. Gewiss, man kann derartige Szenarien als bloße „Eskalationsphobie“ abtun, die vor allem in Deutschland verbreitet sei. Tatsächlich aber werden diese Befürchtungen auch in den vom Konflikt weit entfernten USA gehegt, was deren ausgesprochene Vorsicht und Zurückhaltung bei der Lieferung von Kampfpanzern, Kampfflugzeugen und weiterreichenden Raketen erklärt. Käme es nämlich tatsächlich zu einer Konfrontation mit Russland, wären ganz schnell die USA gefordert, wenn es um die Einlösung der Beistandsverpflichtung für die an Russland grenzenden Nato-Mitglieder geht. All das gemahnt an eine der wichtigsten Schlussfolgerungen, die der große deutsche Militärtheoretiker, -historiker und -ethiker Carl von Clausewitz schon vor 200 Jahren aus den Katastrophen der napoleonischen Kriege gezogen hat: „Tue nie den ersten Schritt, ohne den letzten bedacht zu haben.“ Die Missachtung dieses Grundsatzes hat in den vergangenen drei Jahrzehnten zu desaströsen Fehlentscheidungen geführt – und zwar keineswegs nur auf russischer Seite, sondern auch im Westen, vom Afghanistan- über den Irakkrieg, das acht Monate dauernde Bombardement durch Nato-Mitglieder in Libyen und das Anheizen des Bürgerkriegs in Syrien – bis hin zum nicht zu Ende gedachten Versuch, die Nato-Osterweiterung auch auf die Ukraine auszudehnen. In all diesen Fällen waren die Kritiker einer angeblichen deutschen „Eskalationsphobie“ oder „Appeasementpolitik“ ganz vorne mit dabei und haben deutsche Regierungen für ihr „Zaudern und Zögern“ angegriffen. Das Scheitern ihrer eigenen Interventions- und Eskalationsstrategie erklärten sie dann stets tautologisch damit, dass noch nicht genug kriegerische Mittel eingesetzt worden seien, um am Ende siegreich zu sein. Dabei wurde in allen diesen Fällen der Mitteleinsatz Jahr für Jahr höher, mit immer kontraproduktiveren Ergebnissen. Ähnliches droht nun im Ukrainekonflikt. Dabei ist die Logik derer, die Verhandlungen ablehnen und für einen möglichst totalen „Sieg“ der Ukraine plädieren, ausgesprochen widersprüchlich. Einerseits sehen sie in Putin – völlig zu Recht – einen skrupellosen, seine

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Panzer, Kampfjets und Raketen? 59 eigenen Soldaten verheizenden Diktator, der notfalls vor nichts zurückschreckt. Andererseits bezeichnen sie die Befürchtung als übertrieben, dass eben dieser Putin am Ende auch Atomwaffen einsetzen könnte – und verweisen zur Begründung darauf, dass er auch bisher seine Nukleardrohungen nicht wahrgemacht habe. Dabei braucht man an dieser Stelle gar nicht zu spekulieren. Denn Russland verfügt in Bezug auf seine Nuklearwaffen über die gleiche Strategie wie der Westen: Wenn Abschreckung nicht mehr funktioniert und das eigene Staatsgebiet – oder das, was als eigenes Staatsgebiet deklariert ist – existenziell bedroht ist, werden Nuklearwaffen von einem Droh- und Abschreckungspotenzial, also von politischen Waffen, zu Waffen für den militärischen Einsatz. Genau dafür sind sie schließlich gebaut worden – um sie nämlich einzusetzen, wenn das eigene Staatsgebiet anders nicht mehr verteidigt werden kann. Deshalb behält sich jeder Atomstaat, ob Russland oder die USA, das Recht vor, diese Waffen auch dann einzusetzen, wenn ein konventioneller Angriff die nationale Sicherheit existenziell gefährdet.

Geopolitische Fehlkalkulation und das fehlende politische Sensorium Will man daher aus dieser fatalen Eskalationsspirale, die, wie beschrieben, ganz schnell zur Eskalationsfalle werden kann, herauskommen, müssen endlich Verhandlungs- und Waffenstillstandsmöglichkeiten ausgelotet werden. Das aber erfordert nicht nur auf russischer, sondern auch auf ukrainischer und westlicher Seite die Einsicht, dass man sich fundamental verkalkuliert hat. Denn faktisch begann die Auseinandersetzung um die Ukraine schon am 26. Dezember 1991, mit der Auflösung der Sowjetunion. Die Eliten des neuen Landes waren unfähig, einen Ausgleich zwischen dem Westen und dem Osten des Landes, zwischen den national-ukrainischen und den sprachlich und kulturell eher russisch geprägten Teilen des Landes zu bewerkstelligen. Der Ruf der Konfliktparteien nach Unterstützung aus dem Ausland, einerseits dem Westen, andererseits Russland, wurde daher schon in den frühen 2000er Jahren immer lauter. Dem folgte die zunehmende Einflussnahme von außen. 2014 kulminierte diese Entwicklung in gewaltsamen Auseinandersetzungen auf dem Maidan, die die Flucht des vormaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch nach Moskau und eine kompletten Regierungswechsel zur Folge hatten. Daraufhin okkupierte Wladimir Putin die Krim und sicherte die Gründung der sogenannten Volksrepubliken durch russland-orientierte Separatisten ab.3 Mit den Minsker Vereinbarungen versuchten Angela Merkel und François Hollande den Eskalationsprozess aufzuhalten. Doch weder die ukrainische noch die russische Führung, aber auch nicht die Akteure in Washington, London oder Warschau, unterstützten diese Politik. Damit scheiterte, was eine „europäische Lösung“ hätte sein können. Stattdessen bereiteten sich die Konfliktparteien auf den Krieg vor. 2018 beschloss das ukrainische 3 Vgl. August Pradetto, Die Ukraine, Russland und der Westen: Die Inszenierung einer Krise als geopolitischer Konflikt, in: Michael Staack (Hg.), Der Ukraine-Konflikt, Russland und die europäische Sicherheitsordnung, Wien 2017, S. 21–72.

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60 August Pradetto Parlament, den neutralen Status des Landes durch das Ziel eines Nato-Beitritts zu ersetzen und dies auch in der ukrainischen Verfassung zu fixieren. Nachdem Wolodymyr Selenskyj 2019 zum Präsidenten gewählt worden war, bauten Washington und Kiew ihre militärische Kooperation weiter aus, und nach der Wahlniederlage Donald Trumps und der Inauguration Joe Bidens als neuen US-Präsidenten im Januar 2021 wurde der Rückenwind aus Washington noch erheblich stärker. Russland reagierte darauf mit einem gewaltigen Truppenaufmarsch. Im Januar 2022, als dieser schon fast abgeschlossen war, wurde Kiew eingeladen, an der neuen Nato-Strategie mitzuarbeiten. Dann kam der 24. Februar 2022 und der Beginn von Putins Eroberungskrieg. Dieses Datum steht aber nicht allein für einen Zivilisationsbruch. Es bezeichnet auch das vorläufige Ende der Bemühungen, nach dem Kalten Krieg, in der post-bipolaren Ära, eine europäische Friedensordnung zu etablieren. Durchgesetzt haben sich in der Ukraine, in Russland und in Europa diejenigen, die keine Kompromisse wollten. Die vor allem in den USA und in Polen gehegte Auffassung, man könne die Nato sukzessive 1600 km an die russischen Grenzen bis kurz vor Moskau verschieben und die besonderen historischen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland negieren, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, entpuppte sich als eine fundamentale Fehlannahme – genau wie die mit der ukrainischen Führung geteilte Sichtweise, man brauche die Moskauer Drohungen und Truppenaufmärsche nicht ernst zu nehmen und dass Putin nur bluffe, um vom Westen als „Partner auf Augenhöhe“ anerkannt zu werden. Gewiss, juristisch betrachtet, hat nur die Ukraine darüber zu entscheiden, ob sie ein militärischer Vorposten der Nato im Osten Europas an der Grenze zu Russland sein will oder nicht. Und formal ist die Position der Nato völlig korrekt, Moskau kein Veto gegen ihre Entscheidungen in Brüssel zuzugestehen. Genau wie 1962 völkerrechtlich die Souveränität der kubanischen Regierung außer Frage stand, sich von der Sowjetunion bewaffnen zu lassen und mit ihr eine enge militärische Kooperation einzugehen. Doch real- und machtpolitisch wäre es für Havanna Suizid und für die Sowjetunion ein eventuelles nukleares Armageddon gewesen, die Einwände und die nuklearen Drohungen Washingtons nicht ernst zu nehmen. Realpolitisch wäre es daher auch für die ukrainische und die USFührung klüger gewesen, vom Drängen auf Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato Abstand zu nehmen und den Status einer gesicherten Neutralität anzustreben. Ungeheures Leid hätte dadurch vermieden werden können.4 All das ist nicht zuletzt einer gewaltigen Geschichtsvergessenheit geschuldet. Im Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts waren viele Führungspersönlichkeiten mit einem weit besseren politischen Sensorium ausgestattet als nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung. Damals begannen viele im Westen zu glauben, sie könnten die Sicherheitsstrukturen und die globale Ordnung ohne Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen und Ordnungsvorstellungen Dritter festlegen. Man kann nur hoffen, dass dieser Realismus jetzt zurückkehrt – und damit diesem so verheerenden Krieg ein baldiges Ende bereitet wird. 4 Vgl. August Pradetto, Realismus vs. Krieg: Neutralität als Chance, in: „Blätter“, 3/2022, S. 40-48.

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Verhandeln ja, aber wann und wie? Von Günther Baechler

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eit dem russischen Angriff auf die Ukraine gibt es eine hitzige Debatte darüber, wie dieser Krieg möglichst rasch beendet werden kann. „Verhandeln, jetzt und sofort!“, lautet die Parole von Wagenknecht, Schwarzer und Co.; doch viel zu selten wird dabei das entscheidende Problem analysiert: Welche Faktoren behindern und welche begünstigen Verhandlungen? Und welche Chance hätte die Mediation durch einen Dritten? Sprich: Wann und unter welchen Prämissen sind beide Parteien überhaupt bereit, sich an einen Tisch zu setzen, um über eine Beendigung der Gewalt zu verhandeln? Das erste Problem jeglicher Friedensverhandlungen ist das Gewalt- oder Eskalationsparadox. Es lautet wie folgt: Wären die Bedingungen für eine friedliche Lösung in einem Konfliktsystem bereits vor der Eskalation vorhanden gewesen, dann wäre es gar nicht erst zum Gewaltausbruch gekommen. Offensichtlich waren mindestens für eine Seite hinreichende Bedingungen dafür gegeben, den Konflikt eskalieren zu wollen, bevor man sich unter veränderten Vorzeichen mit der anderen Seite in Verhandlungen einigen würde. Wenn aber die Bedingungen für einen Dialog vor einer Eskalation nicht gegeben sind, dann sind sie es in der Regel nach dem Überschreiten der Gewaltschwelle noch weniger. Die sich zuspitzende Situation in der Ukraine unmittelbar vor dem Einmarsch Russlands in das Nachbarland zeigt das Paradox ganz deutlich. Obwohl Wladimir Putin bis zuletzt beteuerte, er plane keinen Angriff auf die Ukraine, gab es bereits seit November 2021 verschiedene hochkarätige Initiativen westlicher Regierungen, die ihn von einem Angriff auf die Ukraine abbringen wollten und angesichts der militärischen Drohkulisse eine „Rückkehr zur Diplomatie“ forderten. Schlussendlich konnten aber weder Präsident Macron noch Bundeskanzler Olaf Scholz oder das Treffen der stellvertretenden Außenminister Russlands und der USA in Genf Putin vom Angriff, der angeblich nie geplant war, abhalten.1 Nach der Invasion vom 24. Februar 2022 und dem Angriff auf die Hauptstadt Kiew war schnell klar: Es geht der russischen Führung um mehr als um taktische Gewinne, die die Ukraine an den Verhandlungstisch zwingen sollten. Der Schlachtenlärm übertönte im Laufe des Jahres unzählige Friedensappelle und Vorstöße aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Doch auch diskret eröffnete „back channels“ westlicher Vermittler:innen wurden im

1 Rüdiger von Fritsch, Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen, Berlin 2022, S. 121-124.

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62 Günther Baechler Laufe des Jahres nicht aktiviert. Der ukrainische „Zehn-Punkte-Plan“ vom Dezember 2022 wurde als unrealistisch eingestuft.2 Neben dem Gewaltparadox spielt zweitens der Zeitfaktor, genauer: die Zeitdynamik, bei jeder Verhandlungsinitiative eine zentrale Rolle. Erfahrungsgemäß sind Konfliktparteien nicht unmittelbar nach der Gewaltergreifung zu Verhandlungen bereit. Gerade bei bewaffneten Konflikten in und zwischen Staaten geht dem ersten Schuss eine lange Phase der Spannungen, Polarisierungen, Drohungen und Anschuldigungen voraus. Nach dem Umschlagen in eine gewalthaltige Auseinandersetzung heizen buchstäblich auf einen Schlag extrem belastende Faktoren die Konfliktdynamik weiter an: Dehumanisierung, Flucht und Vertreibung, humanitäre und gefechtsfeldbezogene Opfer, Verstümmelung und Tod. Dafür stehen in der Ukraine exemplarisch die Namen Butscha und Irpin. Gerade mit Blick auf die Gräueltaten wie auch die Risiken für den Weltfrieden wird von Drittparteien zwar eine rasche Rückkehr zum Dialog gefordert. Aber solange jedoch die Kampfhandlungen nicht in einen, scheinbar endlosen, Zermürbungskrieg münden, der die Macht der Führungen untergräbt und das eigene politisch-militärische System zersplittert, solange haben Verhandlungen kaum eine Chance. Die Wahrnehmung von Sieg oder Niederlage bestimmt zwar den Zeitpunkt möglicher Verhandlungen, aber wann dieser Zeitpunkt gekommen sein mag, wird von den Parteien sehr unterschiedlich wahrgenommen. Wer im vermeintlich falschen Moment Schwäche zeigt, verliert an der Heimatfront und wird als Verräter verurteilt. Die Geschichte ist daher voll von Beispielen mutiger Friedensstifter:innen, die Opfer der eigenen Seite wurden.3 Für die Drittpartei kommt es entscheidend darauf an, den Moment zu identifizieren und zu nutzen, an dem eine gewisse Synchronisierung von Zeitdynamik und Interessen sich abzuzeichnen beginnt – also die Einsicht in die Notwendigkeit greift, weitere Zerstörungen durch Verhandlungen zu vermeiden. Momentan kann davon aber noch keine Rede sein. Konfliktparteien streben danach, nach innen und außen ein möglichst vorteilhaftes Bild der Situation und eigenen Absichten zu vermitteln. Im Kontrast zu den eigenen hehren Zielen wird die andere Seite kleingeredet, verteufelt und dehumanisiert. Putin arbeitet daher seit langem an der Montage des Feindbilds von Faschist:innen, die gemäß einer Aussage von Außenminister Lawrow vom 2. Februar 2023 die „Endlösung der Russlandfrage anstreben“. Damit bezweckt er eine „Schuldumkehr“ in geradezu historischen Dimensionen. Sämtliche Gründe für eigenes aggressives Verhalten werden der anderen Seite angelastet. Der Täter wird zum Opfer und umgekehrt. Der völkerrechtswidrige Angriff wird zur präventiven Verteidigung umgedeutet, um die Sicherheit Russlands und der russischen Bürger:innen zu verteidigen. Aggression wird so zur Reaktion, Intervention zur Prävention, Eroberung zur Verteidigung. Wenn es des Weiteren gelingt, auch Drittparteien von den 2 Wolodymyr Selenskyj beim G20-Gipfel: Friedensplan nimmt Gestalt an! Diese Punkte fordert die Ukraine, www.news.de, 15.11.2022. 3 Nina Lwowna Chruschtschowa, Ermordet sind die Friedensstifter, in: „Neue Zürcher Zeitung“, 3.2.2023.

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Verhandeln ja, aber wann und wie? 63 schlechten Absichten der Gegenseite zu überzeugen, werden die Hintergründe einer Auseinandersetzung vollends nebulös und eine vertiefte Konfliktanalyse über die »wahren Ursachen« der Eskalation enorm erschwert. Wie uns die Konfliktursachenforschung lehrt, ist gerade die Analyse der Wurzeln eines Konflikts für die Mediation besonders herausfordernd, weil die Konfliktparteien alles Interesse daran haben, die Drittpartei darüber im Unklaren zu lassen oder gezielt in die Irre zu führen.4

Russische Verfassung gegen ukrainische Verfassung Zwei Besonderheiten des aktuellen Krieges erschweren eine Verhandlungslösung zusätzlich oder können sie sogar ganz verhindern. Zum einen ist der Konflikt stark von einer innerrussländischen Dimension geprägt. Diese ist historisch schon sehr viel älter als der Kalte Krieg, die Existenz der Nato oder der Zusammenbruch der Sowjetunion. Putin und seine Berater waren im Grunde immer sehr klar bei der Darlegung der Charakteristika der russisch-orthodoxen Zivilisation, die nicht nur im Gegensatz zum Westen stehe, sondern auch dazu auserwählt sei, den Westen vor dem moralischen Zerfall zu retten. Putin demonstriert damit: Eine Macht, die revisionistisch und imperialistisch im Lichte vergangener kaiserlicher Größe agiert, braucht nicht notwendigerweise einen gleichrangigen Gegenspieler. Der Drang nach Expansion erklärt sich quasi selbstreferenziell aus der eigenen Geschichte und ist nur bedingt eine Antwort auf das internationale Umfeld. Zum anderen hat Putin die Annexion von vier vormals ukrainischen Regionen und deren Eingliederung in die Russische Föderation in der Verfassung festgeschrieben. Damit hat er sich selbst und allen künftigen Präsidenten die Hände gebunden. Selbst wenn er wollte, könnte er am Verhandlungstisch keine territorialen Kompromisse eingehen, ohne die russische Verfassung dabei zu verletzen. Jeder, der mit der Herausgabe von „russischem“ Territorium liebäugeln sollte, würde politisch den nächsten Tag kaum überleben. Hinzu kommt, dass dieselben Gebiete Teil der ukrainischen Verfassung sind. Jede ukrainische Regierung wäre mit derselben Herausforderung konfrontiert wie die russische: Ob Verfassungsänderung oder grober Verstoß, der oder die Staatschef:in könnte einen solchen Schritt mit dem Leben bezahlen. Was bedeutet nun die Analyse dieser zentralen (aber längst nicht aller) Einflussfaktoren für die konkrete Forderung nach einer raschen Kriegsbeendigung am Verhandlungstisch? Geht es zunächst „nur“ um Vertrauensbildung, wie zum Beispiel eine zeitlich und geographisch befristete Waffenruhe? Oder geht es bereits um einen umfassenden Waffenstillstand mit entsprechenden Vereinbarungen über das Monitoring und einen Rückzug von Streitkräften? Im „Nebel des Krieges“ kann ein Bündel von Maßnahmen unterschiedlicher Akteure entscheidend für den Kriegsverlauf sein. Aus 4 Als „Co-Chairs“ der „Genfer Internationalen Diskussionen“ zwischen der Russischen Föderation (plus Abchasien und Südossetien) und Georgien durften wir auch nach 50 Runden und 15 Jahren den Punkt „Konfliktursachen und Vergangenheitsbewältigung“ nicht auf die Tagesordnung setzen.

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64 Günther Baechler diesem Grunde sind humanitäre Verhandlungen (Gefangenenaustausch, Zugang zur Bevölkerung, humanitäre Korridore) jederzeit wichtige Schritte, um Leid zu verhindern oder zu mildern. Es wäre aber falsch zu meinen, dass solche humanitären Dialoge per se die Bereitschaft der Parteien zu umfassenden Verhandlungen zur Folge haben. Speziell die Erfahrung im postsowjetischen Umfeld lassen einen skeptisch sein. Überall dort, wo Russland eine der Konfliktparteien war, kam es zu starren Formaten, die über die Zementierung des Status quo und die Leugnung Moskaus, überhaupt Konfliktpartei zu sein, nicht hinausführten. Die bereits bestehenden Verhandlungsformate drehen sich jedenfalls seit Jahren im Kreis. Dennoch sind wachsender diplomatischer Druck zusammen mit zivilgesellschaftlichen Forderungen nach Frieden durchaus nützlich. Ideal wäre es, wenn die beteiligte Drittpartei bereits vor der Eskalation zu beiden Seiten gute und vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut und gepflegt hat. Das heißt nicht, dass sie in jeder Hinsicht „neutral“ sein muss. Sie muss aber in Bezug auf die Akteure „unparteiisch“ agieren und für einen strukturierten Prozess und faire Modalitäten sorgen. Eine schwierige Aufgabe der Mediation besteht darin, eine gewisse „Opfer-Täter-Symmetrie“ am Verhandlungstisch herzustellen. Das geht eigentlich nur dann, wenn man sich weniger bei der Vergangenheit aufhält als vielmehr versucht, die gemeinsame Zukunft einvernehmlich zu gestalten. In den letzten zwei Jahrzehnten hat es nicht an diplomatischen Initiativen, Formaten und Mechanismen gefehlt, um die zahlreichen Konflikte im Dreieck Russland – postsowjetischer Raum – USA/Europa zu bearbeiten. Die vielen „kleinen“ Formate, wie die Genfer Gespräche, die Minsk-CoChairs zu Berg-Karabach, das Minsk-Abkommen zur Ukraine oder auch das „Normandie-Format“, führten aber zu keinem dauerhaften Frieden. Sie dienten Russland offenbar vor allem dazu, mit Hilfe von Drittparteien ihre Gebietsansprüche zu legitimieren und festzuschreiben. Entstanden ist so ein Flickenteppich mit Zonen großer Brüchigkeit, mit Armutsregionen in „Zwischeneuropa“ und mit Gebieten ungleicher Sicherheit. Der Ukrainekrieg lässt sich daher, auch angesichts seiner weltpolitischen Bedeutung, kaum noch in einem „kleinen Format“ mit „statusneutralen“ Scheinlösungen einfrieren. Vielmehr braucht es mit Blick auf 50 Jahre „Schlussakte von Helsinki“ im Jahr 2025 einen mutigen Schritt vorwärts. Zwei Stufen sind dabei zu nehmen: Die erste Stufe umfasst – im richtigen Moment – einen Waffenstillstand, der mit Hilfe von Drittparteien zwischen Russland und der Ukraine geschlossen werden muss. Die zweite Stufe könnte – etwa im Jahr „1975 plus 50“ – vertraglich zu einer umfassenden Friedensordnung mit gleicher Sicherheit für alle europäischen Länder führen. Die Resolutionen der UN-Vollversammlung könnten dafür nicht nur den völkerrechtlichen Weg weisen, sondern auch globale Garantiemächte mit an den Tisch bringen. Europa hätte so die Chance, sich von Revisionismus, Neokolonialismus und Krieg zu verabschieden, um sich den drängenden Fragen des 21. Jahrhunderts zu widmen. Und die UNO könnte die Gunst der Stunde zu einer tiefgreifenden Reform des Sicherheitsrats nutzen, womit der Multilateralismus endlich eine echte Chance bekäme.

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Ein Jahr Ukraine-, 20 Jahre Irakkrieg Warum der Globale Süden dem Westen nicht traut Von Andreas Zumach

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ut ein Jahr nach Beginn des Putinschen Angriffskrieges gibt es ein diffuses Bild, was die Parteinahme für die Kriegsparteien anbelangt. Während der Westen, militärisch verkörpert durch die Nato, eindeutig die Ukraine unterstützt, verhalten sich viele Staaten des Globalen Südens ausgesprochen indifferent und abwartend, was eine Verurteilung Russlands anbelangt. Dabei kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass durch Putins Krieg völkerrechtliche und menschenrechtliche Normen massiv unterminiert, ausgehöhlt und in ihrer Wirksamkeit und politischen Bindungskraft geschwächt werden. Doch dieser Krieg ist eben keineswegs singulär, was insbesondere im Globalen Süden unvergessen ist. Schon zwischen 1949 und 1989, also in der Phase des Kalten Krieges, sorgten ausgerechnet vier ständige und vetoberechtigte Mitglieder des UN-Sicherheitsrates für die Aushöhlung und Schwächung der Vereinten Nationen, nämlich die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich mit ihren kriegerischen Interventionen in Vietnam, Algerien, Afghanistan, Nordirland, den Falklandinseln und in anderen Ländern des Globalen Südens. Und nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 setzte sich dieser Aushöhlungs- und Schwächungsprozess der internationalen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen fort. Und zwar vor allem mit den Kriegshandlungen und Verbrechen der USA und verbündeter Nato-Staaten gegen/in Ex-Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien und der von den USA geführten Drohnenmordkampagne sowie mit Russlands Kriegen und Verbrechen in Tschetschenien, Syrien und mit der Annexion der Krim. Zweifellos der Höhepunkt dieser Entwicklung war der Irakkrieg, der am 20. März vor 20 Jahren begann. Im Ergebnis dieses Krieges und der nachfolgenden, ebenfalls völkerrechtswidrigen achtjährigen Besatzung Iraks durch die USA verloren rund eine Million Iraker:innen ihr Leben. Dieser von Washington und London mittels gefälschter Beweise für angebliche Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins herbeigeführte Krieg stellte den schwersten Anschlag auf das Völkerrecht und die UNO seit ihrer Gründung im Jahre 1945 dar.1 Zwar waren – mit vielleicht ein, zwei Ausnahmen – sämtliche der über 250 Kriege, die in den vergangenen 60 Jahren weltweit geführt wurden, ein Verstoß gegen das Gewaltverbot der UN-Charta. Doch niemals 1 Vgl. Andreas Zumach, Ein Jahr Irakkrieg. Bilanz des Scheiterns, in: „Blätter“, 3/2004, S. 289-296.

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66 Andreas Zumach zuvor erfolgte ein solcher Verstoß so kalkuliert und unter so absichtsvoller Missachtung des Willens der überragenden Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten wie im Fall des Irakkrieges. Und erstmals wurde ein Krieg ausdrücklich unter Berufung auf eine militärische Präventivdoktrin geführt. Damit wurden das Völkerrecht und die Institution der Vereinten Nationen grundsätzlich infrage gestellt. Auf diesen Umstand wies der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan in seiner historischen Eröffnungsrede zur Generalversammlung am 23. September 2003 hin. Doch selbst einstmals erklärte Kriegsgegner unter den UN-Mitgliedsregierungen hielten sich mit Kritik an dieser Präventivkriegdoktrin – wie auch grundsätzlich an der Völkerrechtswidrigkeit des Krieges – auffallend zurück. Das galt insbesondere für die rot-grüne Koalition in Berlin, von der – obwohl sie sich klar gegen die Kriegsbeteiligung aussprach – derartige Kritik weder vor noch seit dem Krieg zu hören war. Hätte die rot-grüne Bundesregierung den Krieg damals für völkerrechtswidrig erklärt, dann wäre sie gezwungen gewesen, der Bush-Administration ihre umfangreichen logistischen und militärischen Unterstützungsleistungen für diesen Krieg zu verweigern. Und auch von keiner anderen deutschen Bundesregierung gab es nach Ende des Krieges nennenswerte Kritik. Von Versuchen, die für den Krieg Verantwortlichen in der amerikanischen oder englischen Regierung einem Gericht zuzuführen, ganz zu schweigen. Zudem fand die Option auf den präventiven Einsatz militärischer Mittel (ohne eindeutige Bindung an ein Mandat des UN-Sicherheitsrates) inzwischen Eingang in die neue Sicherheitsstrategie der Europäischen Union. Und bei der Neuformulierung ihrer nationalen Militärstrategien planten auch Russland und Frankreich die ausdrückliche Aufnahme präventiver militärischer Handlungsoptionen. Viele Militärplaner betrachten den Irakkrieg also offenbar als willkommenen Präzedenzfall. Wie dramatisch dieser Einbruch war, zeigt sich daran, dass sich auch Putin heute auf einen angeblichen Präventivkrieg gegen das „faschistische Regime in Kiew“ und den gesamten „kollektiven Westen“ beruft.

Selektivität und doppelte Standards Anders war die Lage im Kalten Krieg: In den vier Jahrzehnten der Ost-WestBlockkonfrontation hielten sich die Akteure feindlicher Lager ihre jeweiligen Verstöße nur selten gegenseitig vor. Zuständige Gremien wie der Sicherheitsrat in New York und die Menschenrechtskommission (seit 2006: Menschenrechtsrat) in Genf, in denen diese Verstöße hätten thematisiert, politisch verurteilt oder sogar sanktioniert werden können, waren durch die globale Ost-West-Konfrontation völlig blockiert und handlungsunfähig. Im Kontext dieser Konfrontation wurden auch viele der formal blockunabhängigen UN-Staaten immer wieder von der einen oder anderen Seite für deren Interessen instrumentalisiert. Das führte dazu, dass auch die Generalversammlung von der Möglichkeit, bei einem „Bruch des Friedens“ einzu-

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Ein Jahr Ukraine-, 20 Jahre Irakkrieg 67 greifen, die sie 1950 wegen der monatelangen Blockade und Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrates im Koreakrieg durch ein sowjetisches Veto mit ihrer Resolution „Uniting for Peace“ geschaffen hatte, seitdem nur in elf weiteren Fällen Gebrauch gemacht hat. Zuletzt mit der Resolution vom 2. März 2022, in der die Generalversammlung auf einer „Notstandssitzung“ Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der Mehrheit von 141 der 193 Mitgliedsstaaten als „Bruch der UN-Charta“ verurteilte und die Regierung Putin zur Einstellung aller Angriffshandlungen und zum „sofortigen, bedingungslosen und vollständigen Abzug“ ihrer Invasionstruppen aufforderte. Mit Russland stimmten lediglich Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien gegen die Resolution. Insgesamt 35 Länder, darunter China, Indien, Irak, Pakistan und Südafrika, enthielten sich der Stimme. Bereits im März 2014 hatte die UN-Generalversammlung mit der Mehrheit von 100 gegen 11 Stimmen bei 58 Enthaltungen auch Russlands Annexion der Krim als Verstoß gegen die Prinzipien der UN-Charta und damit als völkerrechtswidrig eingestuft und das Referendum vom 16. März 2014 über eine Sezession (Abspaltung) der Krim von der Ukraine für „ungültig“ erklärt. Ziemlich klar war auch die Lage im Sicherheitsrat. Dort hatte – vor der Abstimmung in der Generalversammlung am 2. März 2022 – ein entsprechender Resolutionsentwurf am 24. Februar 11 Ja-Stimmen erhalten, war aber am Veto Russlands gescheitert. China, Indien und die Vereinigten Arabischen Staaten (VAE) enthielten sich der Stimme. Theoretisch hätte die Generalversammlung auch über die Verurteilung Russlands hinausgehen und – so wie 1950 im Fall des Koreakonflikts – konkrete Maßnahmen beschließen können, von Sanktionen bis hin zur Entsendung von UN-Truppen. Doch die Bereitschaft von UN-Mitgliedern außerhalb des Gebiets der OSZE, sich im Ukrainekrieg zu engagieren, ist sehr gering – nach wie vor wird dieser als ein innereuropäischer Konflikt wahrgenommenen. Hier rächt sich, dass die internationale Debatte über die Verletzung völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Normen spätestens seit Ende der 1990er Jahre immer stärker durch doppelte Standards geprägt ist, sprich: durch die selektive Anwendung dieser Normen und durch Whataboutism – also durch den Versuch, von eigenen Verstößen abzulenken oder diese zu verharmlosen durch Verweis auf (tatsächliche oder auch nur vermeintliche) Verstöße anderer. Das geschieht von westlichen Politiker:innen und vielen Medien mit Blick auf Verstöße Russlands – genauso wie umgekehrt. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Kosovokrieg von 1999. So kontert die russische Seite bis heute jegliche Kritik an der völkerrechtlichen Annexion der Krim mit ihrer Kritik am völkerrechtswidrigen Nato-Luftkrieg gegen Serbien und der nachfolgenden Abspaltung des Kosovo. Tatsächlich ist die weitverbreitete Behauptung westlicher Politiker:innen und Medien falsch, wonach der Überfall Russlands auf die Ukraine „der erste Anschlag seit Ende des Kalten Krieges auf die Europäische Friedensordnung“ sei – oder „der erste Angriff auf einen souveränen Staat“ oder „der erste Versuch, Grenzen in Europa mit Gewalt zu verändern“. Denn diese Pandorabüchse hat die Nato mit ihrem Luftkrieg gegen Serbien und der nach-

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68 Andreas Zumach folgenden gewaltsamen Abtrennung des Kosovo geöffnet.2 Allerdings gerät der Hinweis auf diese unbestreitbare Tatsache häufig zur völlig indiskutablen Relativierung, Verharmlosung oder gar zur Rechtfertigung russischer Verstöße gegen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen. Und das nicht nur aus dem Mund russischer Politiker oder Staatsmedien, sondern auch bei Diskussionen zwischen Menschen, die sich zur Friedensbewegung zählen.

Die Blockade des Sicherheitsrats Eines allerdings bleibt eine Tatsache: Bis zu Russlands Krieg gegen die Ukraine wurde in den Ländern des Globalen Südens – und zwar nicht nur in autokratisch oder diktatorisch regierten, sondern auch in Demokratien – der selektive Umgang mit Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen aufgrund eigener Betroffenheit in erster Linie als ein Problem der Staaten der westlichen „Wertegemeinschaft“ wahrgenommen. Zu dieser Wahrnehmung hat beigetragen, dass die drei westlichen Vetomächte im Sicherheitsrat, also die USA, Großbritannien und Frankreich, es mit ihrer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht immer verhindert haben, dass sie für ihre völkerrechtswidrigen Kriege oder ihre Kriegs- und Besatzungsverbrechen verurteilt wurden. Das gilt beispielsweise für den Vietnamkrieg der USA (1964-1975), Frankreichs Krieg in Algerien (1954-1962) oder für den gemeinsamen Krieg der USA und Großbritanniens gegen den Irak im Jahr 2003. Als Südafrika den Versuch unternahm, diesen Krieg einer „Koalition der Willigen“ in einer Resolution der Generalversammlung als völkerrechtswidrig zu qualifizieren, bestellte die damalige US-Regierung von George W. Bush die südafrikanische Botschafterin in Washington ein und erstickte diese Initiative mit massiven Drohungen gegen Pretoria im Keim. Wer, wie die USRegierung, den Irakkrieg bis heute zu rechtfertigen versucht oder ihn, wie auch viele Medien in Deutschland, lediglich als „Fehler“ bezeichnet, ist wenig glaubwürdig, wenn er heute Putin-Russlands Krieg gegen die Ukraine – völlig zu Recht – als völkerrechtswidrig und verbrecherisch kritisiert. Zu dem Glaubwürdigkeitsverlust haben auch die Drohungen der USA gegen den Internationalen Strafgerichtshof beigetragen, um unliebsame Ermittlungen zu mutmaßlichen Verbrechen von US-Soldaten in Afghanistan und anderswo zu verhindern. Ebenfalls als selektive Anwendung von völkerrechts- und menschenrechtlichen Normen wahrgenommen wird die fehlende Kritik oder gar offene Unterstützung der Nato für die völkerrechtswidrige Kriegsführung ihres Mitglieds Türkei gegen die Kurden. Dasselbe gilt seit Jahrzehnten für das mangelnde Engagement der westlichen Staa2 Im Unterschied zum Ukrainekrieg Russlands gab es beim Luftkrieg der Nato gegen Serbien im Sicherheitsrat nicht einmal den Versuch einer Resolution zu dessen Verurteilung. Denn bei der damaligen Zusammensetzung des Rates schien die zur Annahme mindestens erforderliche Mehrheit von neun Ja-Stimmen aussichtslos und drohte zudem ein sicheres Veto der drei Nato-Staaten USA, Frankreich und Großbritannien. Daher fand auch keine Debatte in der Generalversammlung statt. Allerdings haben bis heute lediglich 115 der 193 UN-Staaten das Kosovo bilateral als Staat anerkannt, das damit noch immer kein anerkanntes Mitglied der Weltorganisation ist.

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Ein Jahr Ukraine-, 20 Jahre Irakkrieg 69 ten zur Umsetzung der zahlreichen Resolutionen von UN-Sicherheitsrat und Generalversammlung für eine gerechte Friedenslösung im Israel-Palästina-Konflikt. In jüngster Zeit hat die anhaltende Weigerung der nördlichen Industriestaaten, die bereits im September 2020 von über hundert UN-Staaten aus dem Globalen Süden beantragte Aussetzung der Patente für CoronaImpfstoffe zu ermöglichen, zum Glaubwürdigkeitsdefizit weiter beigetragen. Dasselbe gilt für die seit Jahren anhaltende Blockade der Verhandlungen im UN-Menschenrechtsrat in Genf über ein von den Ländern des Südens angestrebtes Abkommen über völkerrechtlich verbindliche Menschenrechts-, Umwelt- und Sozialnormen für transnationale Konzerne mit wirksamen Überwachungs-, Durchsetzungs- und Sanktionsmechanismen. Und diese Selektivität der westlichen Wahrnehmung zeigte sich auch bei der jüngsten UN-Generalversammlung. Wer den ersten 35 Redner:innen zuhörte, konnte meinen, die 33 Männer und zwei Frauen lebten in verschiedenen Welten. Bei den Auftritten von Bundeskanzler Olaf Scholz und anderen Regierungschefs aus den Mitgliedsländern von Nato und EU sowie mit ihnen verbündeter Staaten wie Japan oder von Ignazio Cassis aus der Schweiz war Putin-Russlands Krieg gegen die Ukraine das alles beherrschende Thema. Andere aktuelle Kriege – etwa im Jemen oder in den vom Nato-Mitglied Türkei bekämpften Kurdengebieten in Syrien und im Irak – kamen in diesen Reden überhaupt nicht zur Sprache. Auch die Krisen, Katastrophen und Bedrohungen wie Hunger, Klimawandel, gestiegene Energiepreise, Umweltzerstörung und die Folgen der Coronapandemie, die vor allem den Globalen Süden betreffen, wurden – wenn überhaupt – nur am Rande erwähnt. In den Reden des senegalesischen Präsidenten Macky Sall, derzeit Vorsitzender der Afrikanischen Union, und der anderen Regierungschefs aus Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas war es hingegen genau umgekehrt. Sie konzentrierten sich – ebenso wie UN-Generalsekretär Antonio Guterres in seiner Rede zur Eröffnung der Generalversammlung – auf die globalen Krisen. Guterres kritisierte, dass zur Finanzierung dringender humanitärer Maßnahmen der UNO in Krisenregionen des Südens derzeit „32 Milliarden US-Dollar fehlen, so viel wie nie zuvor“.

Dringend erforderlich: eine Koalition für die Abschaffung des Vetorechts All diese Erfahrungen mit dem Westen haben dazu beigetragen, dass die allermeisten UN-Mitglieder trotz politischer Verurteilung von Russlands Ukrainekrieg die von den USA und der EU initiierten Sanktionen gegen Russland nicht mittragen. Doppelte Standards und Selektivität bei der Anmahnung völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Normen, Whataboutism und Orwellscher Neusprech zur Verschleierung eigener Verstöße: All das wirkt als schleichendes Gift zur Zersetzung und weiteren Schwächung der politischen Bindungskraft dieser universellen Normen. Und dieses Problem hat sich noch erheblich verschärft, seit sich China etwa seit Anfang 2021 aktiv an der gegenseitigen Aufrechnung tatsächli-

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70 Andreas Zumach cher oder vermeintlicher Verstöße beteiligt. Bis dato hatten die chinesischen Diplomaten zwar im Menschenrechtsrat der UNO immer mit viel Energie (und zum Teil auch mit Erfolg) versucht, kritische Resolutionen zur Menschenrechtslage in China zu verhindern. Doch seit dem Frühjahr 2022 treten Chinas Vertreter:innen in der UNO mit scharfer Kritik auf an (tatsächlichen oder vermeintlichen) Menschenrechtsverstößen in westlichen Demokratien, insbesondere in den USA, und bringen Resolutionsentwürfe zur Verurteilung dieser Verstöße ein. Möglicherweise ist das eine Reaktion auf die Kritik des Westens an der Unterdrückung der Uiguren in der chinesischen Provinz Xingjang. Für die Zukunft der internationalen Konfliktbeilegung verheißt dass nichts Gutes, im Gegenteil: Der Schulterschluss, den Moskau und Peking im Ukrainekrieg vollziehen, lässt für die kommenden Jahre oder gar Jahrzehnte einen Rückfall in die Blockade der Vereinten Nationen während des Kalten Krieges befürchten. Damit droht die Stärke des Rechts endgültig durch das Recht des Stärkeren ersetzt zu werden. Daher herrscht in einem Punkt unter den 193 Mitgliedern der UN-Generalversammlung ein Konsens zwischen fast allen westlichen Staaten – mit Ausnahme der Sicherheitsratsmitglieder USA, Frankreich und Großbritannien – und sämtlichen Ländern des Südens: Die derzeitige, 1945 in der UN-Charta festgelegte Zusammensetzung des Sicherheitsrates wird als historisch überholt kritisiert und seine Reform durch eine Erweiterung um zusätzliche Mitglieder gefordert. Die allermeisten Staaten fordern die Abschaffung des Vetos der fünf ständigen Mitglieder. Denn dieses Veto – oder oft auch nur seine Androhung – wurde in den letzten 77 Jahren fast immer dazu eingesetzt, die Handlungsfähigkeit des Rates in den Fragen seiner exklusiven Zuständigkeit für die Bewahrung oder Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit zu verhindern. Letztes Beispiel war besagtes Veto Russlands vom 24. Februar 2022 gegen die Resolution zur Verurteilung des am selben Tag begonnenen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Die deutsche Bundesregierung hingegen strebt für Deutschland die ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat mit einem Vetorecht an. Dass der Regierungsvertreter eines UN-Mitgliedslandes – wie Bundeskanzler Olaf Scholz jüngst – seinen Auftritt vor der Generalversammlung zur Formulierung dieser Forderung nutzt, ist allerdings seit Beginn der Debatte um eine Reform des Sicherheitsrates nach Ende des Kalten Krieges nur einmal vorgekommen: Im September 1993 preschte der damalige Bundesaußenminister Klaus Kinkel (FDP) völlig überraschend und ohne Absprache mit Kanzler Helmut Kohl mit dieser Forderung vor. Seitdem schürten sämtliche Bundesregierungen die Illusion, dass diese Forderung in absehbarer Zeit erfüllt würde. Die Länder des Südens, die völlig zu Recht eine stärkere Vertretung ihrer Weltregionen Afrika, Asien und Lateinamerika im Sicherheitsrat fordern, sind da viel realistischer. Sie wissen, dass eine Erweiterung des Rates nicht nur am Widerstand der autokratisch regierten ständigen Mitglieder Russland und China scheitert, sondern ebenso am Widerstand der drei westlichen Demokratien USA, Frankreich und Großbritannien. Denn alle fünf fürchten gleichermaßen eines: bei einer Erweiterung an Macht und Einfluss zu verlieren.

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Afghanistan: Frauen als Faustpfand Von Marc Thörner

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m 1. Januar dieses Jahres wird die Frauenärztin Yacubi Feyra1 aus einem eng belegten Behandlungssaal zur Tür gerufen. Vor ihr stehen Männer mit Bärten, weiten Hosen, Halstüchern, Patronengurten; ähnlich denjenigen, die seit anderthalb Jahren in Pickups und erbeuteten Polizeifahrzeugen durch die Straßen Afghanistans patrouillieren. Sie sprechen Paschtu, die Lingua Franca Süd- und Ostafghanistans, hier im tadschikisch-usbekisch geprägten Norden eher ungebräuchlich. Doch ihre Botschaft lässt sich nicht missverstehen: Ab sofort ist die Geburtsklinik von Badakshan geschlossen. Alle Mitarbeiterinnen müssen weg. Die Einrichtung wird ohne sie nach Paktia verlegt, also ins Stammland der hauptsächlich paschtunischen Taliban. „In der der Nacht zum 2. Januar starben mehrere Patientinnen“, berichtet die Ärztin wenige Tage später am Telefon. „Es gab einfach keine Gynäkologinnen und keine Hebammen mehr, niemand konnte sich noch um sie kümmern.“ Frauen, Neugeborene und Ungeborene, alleingelassen und ohne medizinische Versorgung – nicht nur nach den Befürchtungen von Ärztin Feyra könnte das die Langzeitfolge jener Studien- und Arbeitsverbote sein, die der De-facto-Staatschef des Islamischen Emirats Afghanistan, Mullah Ahandzadeh, Ende 2022 im südafghanischen Kandahar verkünden ließ. Wenn Universitäten keine Medizinerinnen mehr ausbilden und Pflegerinnen oder Krankenschwestern nicht mehr in Kliniken zur Verfügung stehen, wenn Männer andererseits aufgrund der überall forcierten Geschlechtertrennung Frauen nicht mehr behandeln sollen, dann gäbe es in Zukunft eine richtige und eine falsche Hälfte der Bevölkerung. Wobei die „richtige“ von der Isolation der „falschen“ allerdings nicht weniger stark betroffen wäre: Ehemänner, Kinder und alle anderen Angehörigen von Frauen. Selbst die konservativsten Staaten der islamischen Welt, das sunnitische Saudi-Arabien oder der schiitische Iran, verhängen keine gesetzlichen Studien- oder Arbeitsverbote gegen Frauen. Der Konfliktforscher Conrad Schetter analysiert die Vorgänge im Land seit Jahren. Auch aus der ersten Periode der Taliban-Herrschaft in den 1990er Jahren verzeichnet er keine Äußerung, die Frauen grundsätzlich das Recht auf Bildung abspricht. Wann immer die Taliban in der Vergangenheit darauf bestanden, dass Frauen keine Schulen oder Bildungseinrichtungen besuchen sollten, begründeten sie dies nicht mit religiösen, sondern vielmehr mit Sicherheits1 Dieser und die Namen der weiteren hier porträtierten Frauen wurden auf deren Wunsch geändert.

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72 Marc Thörner erwägungen. Zwischen 2010 und 2020, so Schetter, hätten die Taliban sogar Bildungskonzepte für Frauen entworfen. Und auch noch in den Doha-Gesprächen über eine Friedenslösung für das Land, die bis kurz vor dem Machtwechsel im August 2021 liefen, erklärten sie sich vor den Vertretern der internationalen Gemeinschaft offen für Frauenbildung. Von einem Verbot, höhere Schulen und Universitäten zu besuchen, war keine Rede. Was also steckt hinter den Dekreten, die die Rechte von Frauen so weit einschränken wie in keinem anderen Land der Welt? Handelt es sich um eine neue Ideologie? Oder vielleicht eher um Politik? Und vor allem: Warum kommt diese Volte gerade jetzt, da die internationalen Sanktionen voll durchschlagen, da die Märkte in Kabul nur noch den matten Abglanz ihrer einst so bunten Vielfalt spiegeln, da entlang einst quirliger Geschäftsstraßen Staub auf den Schaufenstern liegt, da Afghanistan wirtschaftlich am Abgrund steht, da jeder zweite Afghane vom Hunger bedroht ist, da Arbeitslosigkeit grassiert und das Land auf internationale Hilfe mehr denn je angewiesen ist?

»Gebt unsere Gelder frei«: Frauenrechte als Verhandlungsmasse Anfragen zum Thema Frauendekrete laufen im Kabuler Machtzentrum der Taliban ins Leere. In einem Ministerium gibt man sich allerdings sofort gesprächsbereit: dem für Finanzen. Ahmad Wali Haqmal, Abteilungsleiter Öffentlichkeit, ist wie beinahe alle hochrangigen Funktionäre im neuen Islamischen Emirat ein Religionsgelehrter. Gleich zu Gesprächsbeginn erhebt er bittere Vorwürfe gegen die internationale Gemeinschaft. Nicht nur das Geld des Islamischen Emirats Afghanistan sei eingefroren, „sondern auch das Geld, das unseren Menschen selber gehört“. Womit er die afghanischen Zentralbankreserven meint. Kein Wunder also, dass es Engpässe gibt, dass die Bevölkerung zu leiden hat. Schuld seien nicht die Entscheidungsträger des Emirats, schuld seien die Staaten, die den Menschen das Nötigste zum Leben vorenthielten. Damit müsse jetzt endlich Schluss sein. Dies losgeworden, beginnt Ministeriumssprecher Haqmal für die Anerkennung des Emirats Afghanistan und die Aufhebung der Sanktionen zu werben, zeichnet ein leuchtendes Bild von dem Projekt, dem zuliebe er seit August 2021 seine Lehrtätigkeit in Scharia-Recht ruhen lässt. Vom Sieg über die Korruption in einem der korruptesten Länder der Welt, „in dem dieses Ministerium hier eines der korruptesten war“. Jetzt sei dieses Hauptübel Afghanistans spurlos verschwunden. Und das sei nur der Anfang. Gebe man dem Emirat Afghanistan nur eine Chance, dann werde es sich zu einem Leuchtturm für die ganze Welt entwickeln. Mit echtem Islam, so wie von Gott ursprünglich intendiert, ohne monarchische Elemente wie in Saudi-Arabien oder Diktatur wie in der arabischen Welt. Ein Volk aus freien Gläubigen, das nicht mehr dem westlich-kolonialen Diktat folgt, sondern seinen angestammten Führern: den „Ältesten“. Bei diesen handelt es sich um Paschtunen-Chefs, jene, „die in den letzten 20 Jahren des Widerstands die Anführer gewesen sind“, so Haqmal. Sie hätten nicht unbedingt Regierungsfunk-

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Afghanistan: Frauen als Faustpfand 73 tionen, seien aber als moralische Instanzen respektiert als „diejenigen, die die Entscheidungen treffen. Und wir gehorchen ihnen“. Ganz oben, so Haqmal, stehe Mullah Ahandzadeh in Kandahar. Auf ihn hätten alle anderen eine Bey’a, einen islamischen Gefolgschaftsschwur geleistet und ihn dadurch als „Führer der Gläubigen“ legitimiert. Zählt man eins und eins zusammen, lässt sich eine Forderung ausmachen: Erkennt endlich das besondere System Afghanistans an. Nehmt die Sanktionen zurück, gebt die gesperrten Gelder frei. Ansonsten hätte auch das bitterarme Emirat Mittel und Wege, auf euch und eure Schutzbefohlenen im Land den nötigen Druck aufzubauen. Und zu den Druckmitteln gehören nicht zuletzt auch die Frauenrechte.

Kandaharis und Haqqanis: Die zwei Machtzentren der Taliban Reinhard Erös, ein ehemaliger Bundeswehrarzt und Entwicklungshelfer, kennt die Paschtunengegend schon seit den 1980er Jahren, als die Dschihadisten noch vom Westen unterstützt wurden und ihr antisowjetischer Widerstand auch vielen westlichen Politikern als Teil eines epischen Kampfes galt: Materialismus gegen Gottesglauben. Noch immer ist dem 75jährigen Bajuwaren eine grimmige Grundsympathie mit denen anzumerken, die er „die Religiösen“ nennt. Bereits lange vor dem Machtwechsel im August 2021 pflegte er Kontakte zu einigen Talibanführern und stimmte mit ihnen seine Ausbildungs- und Hilfsprojekte der „Kinderhilfe Afghanistan“ ab. Doch was die Taliban mit ihren Frauendekreten angerichtet haben, bringt ihn zur Weißglut. Wenn man schon Geschlechtertrennung durchführen will, wie kann man dann Frauen vom Medizinstudium ausschließen? Das kann wirklich nur von den „Kandaharis“ kommen, meint Erös, von Mullah Ahandzadeh, dem De-facto-Staatschef und selbsterklärten Führer der Gläubigen. Ahandzadeh habe nie studiert und sich mit den intellektuell sehr einfach strukturierten anderen Talibanführern in Kandahar umgeben. Will also diese Kandahar-Gruppe in der wirtschaftlich und sozial verfahrenen Situation das Momentum nutzen, um sich bei den vielen ländlichen Afghanen nicht mit Islam Zustimmung zu sichern, sondern mit „Paschtunwali“, dem besonders gegenüber Frauen höchst rigiden Sittenkodex der Paschtunen in den Taliban-Kerngebieten? Dann wäre Afghanistan, anders als von TalibanSprecher Haqmal dargestellt, nicht das weltweit einzige Land mit lupenreinem Islam, sondern das einzige, das gemäß paschtunischen Stammessitten regiert wird. Zum Glück, sagt Entwicklungshelfer Erös, gibt es da noch ein zweites Machtzentrum innerhalb der Talibanführung: das Haqqani-Netzwerk „in Kabul“, in dem er die „mehr Gebildeten“ ansiedelt. Die Verhandlungen in Doha, bei denen das Emirat sich noch bereit erklärt hatte, die Bildung von Frauen und Mädchen zu akzeptieren, hätten hauptsächlich die Haqqanis dominiert. Zu ihnen rechnet Erös auch seinen persönlichen Bekannten, den Innen- und Gesundheitsminister, „ein hochgebildeter Mann, 42 Jahre alt“ mit hervorragenden Englischkenntnissen, der auch in Deutschland Facharzt sein könnte. Bis jetzt halte dieser seine Hand noch schützend über das Frauen-

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74 Marc Thörner studium in der Südprovinz von Nangahar und versuche auch, die Kandaharis davon zu überzeugen, dass das Studienverbot kontraproduktiv sei.

International vernetzte Dschihadisten In der Kabuler Wohnung der Lehrerin Mahsa Rahman liegt ein Brief, handgeschrieben und mit dem grünen Briefkopf des „Haqqani-Netzwerkes Kabul“. Darin steht: „Nach den Informationen, die die Gotteskrieger des Islamischen Emirats Afghanistan erhalten haben, hat die Lehrerin Mrs. Mahsa die Eltern ihrer Schüler einberufen und zu ihnen über Frauenrechte und Demokratie gesprochen. Hören Sie mit derartigen Aktionen auf! Unterrichten Sie ihre Schüler gemäß den Geboten des Islam!“ Neben der Unterschrift befindet sich der Stempel des Haqqani-Netzwerkes. Der Anlass für das Schreiben: Mahsa hatte den Mädchen ihrer Schulklassen schon in den ersten Tagen nach der Machtergreifung der Taliban Mut zusprechen wollen. Sie habe sie daran erinnert, dass Frauen ein Recht auf Bildung hätten. Das gefiel einigen Vätern ihrer Schülerinnen nicht. Mit dem Machtwechsel sahen sie die Gelegenheit gekommen, ihre Töchter endgültig zu Hause zu behalten. „Und als sie auf meine Aufforderung hin dennoch weiter zur Schule gingen, denunzierten mich die Väter bei den Taliban.“ „Ein Einwohner dieses Viertels, der zu unseren Mitarbeitern in Kabul zählt“, so heißt es in dem Schreiben weiter, „teilt uns mit: ‚Aufgrund dieser Propaganda hat sich meine Familie gegen mich gestellt.‘ Wir warnen Sie und fordern Sie auf, zu uns zu kommen, um sich für Ihre Handlungsweise zu rechtfertigen und Ihr Bedauern über Ihr Verhalten auszudrücken. Der Vorladung kam Mahsa nicht nach, aus Furcht, gleich einbehalten und nicht zu ihren Kindern zurückgelassen zu werden. Kurz darauf erschienen die Haqqanis bei ihr zu Hause, um nach Mahsas Ehemann, einem ehemaligen Regierungsbeamten, und nach staatsgefährdendem Material zu suchen. Auf ihrem Handy zeigt sie hastig aufgenommene verwackelte Videos von einem vor der Wohnung stehenden, bei der Machtübernahme von den US-Truppen erbeuteten Humvee und von im Treppenhaus hochpolternden Bärtigen mit Kalaschnikows und US-Sturmgewehren. Ihr Mann, sagt sie, habe noch rechtzeitig untertauchen und sich retten können; mit ihren Kindern kann sie ihn manchmal im Geheimen treffen. Ihr selbst drohen seitdem Entlassung und Verhaftung. Jederzeit könnte das Kommando wiederkommen. Für ihre Töchter gibt es im Land keine Perspektive mehr, nachdem Mädchen nicht nur das Studium, sondern selbst die höhere Schulbildung verwehrt ist. Mahsa will deshalb nur noch eins: irgendwie raus. Vor Monaten schon hat sie sich in Deutschland auf die Listen des Auswärtigen Amts setzen lassen, hat aber bis heute keine Nachricht von deutschen Behörden erhalten. Guido Steinberg, Experte für den radikalen islamistischen Islam an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), betont die ausgesprochen dschihadistische und internationalistische Ausrichtung des Haqqani-Netzwerks, das von 2001 bis 2021 für zahlreiche Selbstmordattentate verantwort-

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Afghanistan: Frauen als Faustpfand 75 lich war. Es unterhalte „exzellente Beziehungen zu Al Qaida. Und seit 1996 wird Al Qaida von der Haqqani-Organisation beschützt und nicht von den Taliban insgesamt.“ Kein Zufall, dass der nach Ausschaltung Bin Ladens führende Al-Qaida-Mann, der Ägypter Ayman al Zawahiri, im Juli 2022 ausgerechnet in Kabul von US-Agenten geortet und dann mit einem gezielten Drohnenangriff getötet wurde, in einem vom Haqqani-Netzwerk genutzten Viertel. Der afghanische Innenminister und Chef des Netzwerkes, Siradschuddin Haqqani, lobte bei einem seiner seltenen öffentlichen Auftritte nach dem Machtwechsel weiterhin Selbstmordattentate als eine probate Waffe. Steinberg sieht fließende Übergänge zwischen dessen Unterstützern und dem Islamischen Staat (IS), zu dem bereits diverse ehemalige Haqqanis übergewechselt seien. Die afghanischen Taliban setzen sich also im Wesentlichen aus zwei Strömungen zusammen: Auf der einen Seite eine archaisch denkende Gruppe aus dem Süden, die ihren lokalen Stammeskodex auf nationale, wenn nicht auf internationale Ebene hieven will. Auf der anderen Seite Internationalisten, die aber zugleich auch Dschihadisten sind. Mit allen Grenzen, die das auf nationaler Ebene mit sich bringt. Steinberg warnt indes davor, die Haqqanis als moderat, als die geborenen Verbündeten des Westens einzuschätzen. „Für den gesellschaftlichen Frieden kann man sich von einer Organisation wie ihrer überhaupt keine positiven Auswirkungen erwarten. Die Haqqanis sind schiitenfeindlich. Sie sind auch den ethnischen Minderheiten, vor allem den Tadschiken, feindlich gesinnt. Und deshalb müssen wir davon ausgehen, dass gerade dort, wo Haqqani und seine Leute stark sind, die Konflikte auch in den nächsten Jahren zunehmen werden.“

Der Widerstand der Nach-Taliban-Generation Leila Akbari, die ihr Lehramtsstudium an der Universität von Herat abgeschlossen hat, fühlt sich als Angehörige der Nach-Taliban-Generation. Aufgewachsen, als internationale Truppen die radikalislamischen Krieger von der Macht vertrieben hatten, als Parlamentswahlen stattfanden, als Schulen und Fakultäten wie Pilze aus dem Boden schossen, als eine gut bewaffnete und finanziell bestückte internationale Gemeinschaft scheinbar den Schutz des Nation Building übernahm. „Die große Frauendiskriminierung“, sagt die Mittdreißigerin, „kannten wir vor allem aus den Erzählungen unserer Mütter.“ Zusammen mit anderen Lehrerinnen engagierte sie sich schon seit dem Machtwechsel im Sommer 2021 in einer Widerstandsgruppe, verfasste Flugblätter, organisierte Demonstrationen. An den Tag der Frauendekrete erinnern sie und ihre Kolleginnen sich ähnlich wie viele Zeitzeugen auf der ganzen Welt noch heute an den 11. September 2001: Einen Moment lang steht alles still. Und dann ist nichts mehr wie zuvor. Zahlreiche Studentinnen, erzählt sie, saßen in Herat in den Uni-Seminaren und waren dabei, Klausuren zu schreiben, als plötzlich Türen aufsprangen und Büroangestellte die Anordnung der Taliban verkündeten: Wer Frau sei, habe das Gelände unverzüglich zu verlassen. Das war schwer zu begreifen und noch schwerer zu

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76 Marc Thörner akzeptieren: Mitten aus der Klausur heraus die Universität räumen? Einfach nach Haus gehen und dort rumsitzen? Was sollte das? Die Frauen beschlossen, spontan zu demonstrieren. Einige versammelten sich in der Uni. Andere zogen zum Rathaus, wo sie eine Sperrkette aus Taliban empfing. Irgendwann fielen die ersten Schüsse, wenn auch nur in die Luft. Und Wasserwerfer rückten an. Dann folgten Haussuchungen, Handys samt Chatverläufen wurden konfisziert, Demonstrantinnen verhaftet – Leila und ihre Familie sahen keine andere Lösung, als aus der Stadt in den benachbarten Iran zu fliehen, und kamen von dort nach Deutschland. Einige Nachbarstaaten der Region haben inzwischen Stipendien für afghanische Medizinstudentinnen eingerichtet. Ende Januar 2023 meldete Entwicklungshelfer Reinhard Erös erste Erfolge seiner Bemühungen: Das Verbot des Hardliner-Regimes in Kandahar von Anfang Dezember, Mädchen nicht mehr zum Medizinstudium zuzulassen und Frauen nicht mehr in medizinischen Berufen arbeiten zu lassen, sei vor wenigen Tagen außer Kraft gesetzt worden, schreibt er in einem Rundbrief. „Mädchen können nunmehr ihr Medizinstudium aufnehmen bzw. fortsetzen, Ärztinnen, Hebammen und Krankenschwestern weiterhin arbeiten.“ Tatsächlich ließ die Kabuler Medizinische Universität, die nicht dem Hochschulminister, sondern Erös’ Ansprechpartner, dem Gesundheitsminister, untersteht, Medizinerinnen im Dezember 2022 ihr Studium wie geplant abschließen und unterstützt auch weiterhin das Frauenstudium der Fachrichtung Geburtshilfe. Ebenfalls gestattet das Gesundheitsministerium, dass Frauen an nichtstaatlichen Hilfseinrichtungen weiter als medizinisches Personal arbeiten. Bei alledem bleibt dennoch ein bitterer Beigeschmack. Frauen lediglich Medizinstudium und Arbeit in Hilfseinrichtungen zu erlauben, damit sie andere Frauen behandeln, trägt sicherlich dazu bei, Geschlechtertrennungen weiter zu zementieren. Überdies fehlt bisher jede offizielle Erklärung, wie es in Zukunft weitergehen wird. Afghaninnen, die von ihren Unis Bescheinigungen erbaten, um im Ausland weiter studieren zu können, berichten, dass ihnen die Papiere einfach nicht ausgehändigt werden. Nach den Dekreten Ende Dezember legte Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) alle bestehenden Projekte in Afghanistan auf Eis. Inzwischen ließ sie erklären, man werde die Finanzierung wieder aufnehmen, sofern Frauen an den Projekten mitarbeiteten oder durch sie erreicht werden könnten. Ein erstes Signal, dass man nicht zu viel Porzellan zerschlagen will? Im Augenblick, so bilanziert der Konfliktforscher Conrad Schetter, erregten sich zwar alle über das Thema Frauendekrete. Langfristig aber dürften wieder andere Aspekte in den Vordergrund treten. Zum Beispiel das Interesse der westlichen Staaten, das Emirat Afghanistan nicht allzu stark zu isolieren und dadurch womöglich andere Akteure das durch den westlichen Rückzug entstandene Vakuum ausfüllen zu lassen. Auch nach der Machtergreifung der Taliban, so unterstreicht er, „liegt das Land noch immer mitten zwischen den Regional- und Atommächten China, Russland und dem Iran“. Und damit mitten im Fokus geopolitischer Auseinandersetzungen. Für die Rechte der Frauen in Afghanistan verheißt das nichts Gutes.

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Das Ende der israelischen Demokratie? Von Eliav Lieblich und Adam Shinar

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ach seinem unerwartet hohen Wahlsieg im November 2022 bildete Benjamin Netanjahu die am weitesten rechtsstehende Regierung der israelischen Geschichte. Ihre ultranationalistischen und ultraorthodoxen Mitglieder sind sich nicht in allem einig, wohl aber über ein Ziel: Die israelische Justiz zu schwächen und die Kontrolle der Regierung über Gerichte und Beamte zu stärken. Im Januar hat die Regierung ihre Pläne dafür vorgestellt. Obwohl sie moderat formuliert wurden, würden die geplanten Änderungen nahezu alle institutionellen Kontrollmechanismen aushebeln und große Macht in den Händen der Exekutive konzentrieren. Dies würde wiederum weitere, von der Koalition bereits beschlossene Schritte in Richtung Autoritarismus ermöglichen – sowohl in Israel als auch in den besetzten Gebieten. Netanjahu behauptet, dass die Reformen notwendig seien, um das Machtgleichgewicht zwischen Legislative und Judikative wieder herzustellen. Viele Israelis bestreiten dies, und so gingen am 21. Januar mehr als 130 000 Menschen auf die Straßen von Tel Aviv und anderen Städten, um gegen die Pläne zu protestieren. Seitdem hat es täglich Proteste gegen die von vielen Israelis befürchtete drohende Diktatur gegeben. Eine weitere Demonstration am 28. Januar zog eine Menge von über 100 000 Menschen an. Netanjahu und seine Verbündeten kanzeln die Proteste populistisch als elitär, auslandsfinanziert und linksradikal ab. Aber Studenten, Akademiker, Hochqualifizierte und Mitglieder der Zivilgesellschaft mobilisieren gemeinsam gegen die Pläne der Regierung, die laut Ökonomen der israelischen Wirtschaft schaden und ihre Fähigkeit beeinträchtigen könnten, ausländische Investitionen für den Hochtechnologiesektor anzuziehen. Niemals zuvor ist die israelische Politik so polarisiert gewesen. Netanjahus Partei hat das Justizsystem mehrfach attackiert, insbesondere als die Klagen gegen ihn an Fahrt aufnahmen. Netanjahu bestreitet vehement, dass die geplanten Gesetzesänderungen irgendetwas mit seinem Gerichtsverfahren zu tun hätten. Aber wenn sie in Kraft treten, kann er die Behörden des Justizministers und des Generalstaatsanwalts umstrukturieren und die Beamten

* Deutsche Erstveröffentlichung eines Beitrages, der unter dem Titel „The End of Israeli Democracy“ zuerst am 8. Februar auf www.foreignaffairs.com erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Thomas Greven.

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78 Eliav Lieblich und Adam Shinar ernennen, die sich mit seinen Verfahren befassen. Kontrolliert die Regierung künftig die Ernennung von Richtern, könnte Netanjahu zudem entscheiden, wer für seine Berufungsverfahren zuständig ist. Gegenwärtig sieht es so aus, als würden die Reformen verabschiedet werden. Netanjahu verfügt über eine stabile parlamentarische Mehrheit und seine Koalition hat ihre Attacke auf das Justizwesen mit einer Flut von Gesetzesvorhaben beschleunigt. Die Opposition kritisiert, dass dabei etablierte Verfahren missachtet werden. Der Oberste Gerichtshof könnte die Reformen nach ihrer Verabschiedung noch kippen, was das Land in eine ausgemachte Verfassungskrise stürzen würde. In jedem Fall hätte Netanjahus Regierung die Spaltung im Land verstärkt und Israels Demokratie geschwächt.

Land ohne formale Verfassung Netanjahus Gesetzesvorschläge können vergleichsweise einfach verabschiedet werden, da Israel – anders als die USA – keine starre Verfassung hat. Pläne für eine solche Verfassung waren in Arbeit, als Israel 1948 gegründet wurde, und im Jahr 1949 wurde zu diesem Zweck auch eine Verfassunggebende Versammlung gewählt. Diese konnte sich jedoch nicht einigen, und ihre Mitglieder beschlossen, das Gremium in ein Parlament umzuwandeln – die Knesset – und die verfassunggebende Macht dort zu belassen. Anstatt eine fertige Verfassung zu verabschieden, einigte sich die Knesset darauf, die Verfassung in Kapitel mit jeweils einem „Grundgesetz“ aufzuteilen, die eines Tages Teil einer formalen Verfassung werden sollten. Zwischen 1949 und 1992 prüfte der Oberste Gerichtshof die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsentscheidungen. Er schätzte also die Legalität des Regierungshandelns ein, konnte aber nicht Gesetze auf der Basis anfechten, dass sie gegen individuelle Rechte verstießen. 1992 verabschiedete die Knesset dann aber zwei Grundgesetze, die solche individuellen Rechte betrafen: das Grundgesetz zur menschlichen Würde und Freiheit sowie das Grundgesetz zur freien Berufswahl. Diese Gesetze waren neuartig, nicht nur weil sie bestimmte Rechte wie Würde, Freiheit, Privatsphäre, Eigentum, Freizügigkeit und Berufsfreiheit schützen. Sie enthalten darüber hinaus sogenannte Beschränkungsklauseln, die klarstellen, dass die aufgezählten Rechte nur im Einklang mit den Werten des Staates beschränkt werden können, und nur, wenn die Einschränkung zweckmäßig ist. Zudem darf sie nicht das erforderliche Maß überschreiten. Auf dieser Grundlage entschied der Oberste Gerichtshof drei Jahre später, dass die Grundgesetze einfacher Gesetzgebung übergeordnet seien und er daher befugt sei, Gesetze aufzuheben, die gegen die Grundgesetze verstoßen. Seitdem hat der Oberste Gerichtshof 22 Gesetze und Bestimmungen aufgehoben, darunter Regeln zur Inhaftierung von Asylbewerbern, zur Privatisierung von Gefängnissen und zur Enteignung von palästinensischem Land in Privateigentum für den Bau jüdischer Siedlungen im Westjordanland. Im Laufe der Zeit hat das Gericht auch die grundgesetzlich geschützte Men-

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Das Ende der israelischen Demokratie? 79 schenwürde so ausgelegt, dass sie die Meinungsfreiheit und das Gleichheitsrecht einschließt. Seit 1953 werden Richter in Israel von einem Ausschuss ausgewählt, der aus drei Richtern des Obersten Gerichtshofs, zwei Ministern, zwei Mitgliedern der Knesset und zwei Mitgliedern der israelischen Anwaltskammer besteht. Richter des Obersten Gerichtshofs müssen eine Mehrheit von sieben Stimmen in dem neunköpfigen Ausschuss erhalten, was bedeutet, dass keine Gruppe alleine handeln kann. Richter können ihr Veto gegen das einlegen, was die Politiker wollen, und Politiker können ihr Veto einlegen, gegen das, was die Richter wollen. Dies hat zu einem System der Konsensbildung und Verhandlung geführt, welches meist Richter hervorbringt, die als Zentristen wahrgenommen werden.

Das Oberste Gericht im Visier der Rechten Doch seine Urteile zur Verteidigung der Grundgesetze und seine Zusammensetzung haben den Obersten Gerichtshof zur Zielscheibe der israelischen Rechten gemacht. Sie beschuldigt das Gericht immer öfter, zu liberal zu sein und seine Befugnisse zu überschreiten. Netanjahu und seine Verbündeten argumentieren, dass die Grundgesetze das Gericht nicht explizit ermächtigen, Gesetze aufzuheben, und dass das Gericht in jedem Fall sowohl seine verfassungsrechtlichen als auch seine verwaltungsrechtlichen Kontrollbefugnisse sehr weit auslegt, während es gleichzeitig seine Rechte erweitert. Die Rechten behaupten des Weiteren, dass der Oberste Gerichtshof in Fragen der nationalen Sicherheit äußerst interventionsfreudig sei. Tatsächlich aber hat sich der Oberste Gerichtshof dem Staat gegenüber sehr zurückhaltend verhalten, insbesondere in Fragen der nationalen Sicherheit und sehr explizit bei der Überprüfung von Regierungsmaßnahmen in den besetzten Gebieten. Das Gericht hat sich stets geweigert, die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der israelischen Siedlungen im Westjordanland zu beurteilen, die völkerrechtlich als illegal gelten. Es hat den Abriss von Häusern militanter Palästinenser genehmigt, was gegen das Kriegsvölkerrecht verstößt. Jenseits des begrenzten Schutzes palästinensischen Privateigentums hat das Gericht tatsächlich fast jede politische Maßnahme in Bezug auf die Siedlungen genehmigt, während es gleichzeitig der seit 55 Jahren andauernden Besatzung einen Anstrich internationaler Legitimität verschaffte. Doch Netanjahus neuer Regierung reicht das nicht. Sie ist entschlossen, dem Obersten Gerichtshof die Macht zu nehmen, auch nur für den geringsten Schutz der Bürger zu sorgen. So hat sich die extrem rechte Koalition daran gemacht, vom Verfahren der Richterernennung bis hin zum Status und den Befugnissen der juristischen Berater der Regierung alles zu überarbeiten: Nach dem Plan der Regierung wird der Oberste Gerichtshof Gesetze zukünftig nur noch dann aufheben können, wenn sich alle fünfzehn Richter mit der jeweiligen Angelegenheit befassen und zwölf von ihnen zustimmen. Eine solch hohe Hürde würde bedeuten, dass nur sehr wenige Gesetze außer Kraft

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80 Eliav Lieblich und Adam Shinar gesetzt werden könnten – wenn überhaupt. Und selbst wenn es dem Gericht gelänge, ein Gesetz aufzuheben, wäre der Fall damit nicht abgeschlossen. Denn das Regierungsvorhaben enthält auch eine Klausel (notwithstanding clause), die der Knesset ermöglichen würde, jede Gerichtsentscheidung zur Aufhebung eines Gesetzes mit der einfachen Mehrheit aller Mitglieder zu überstimmen. In Israels parlamentarischem System hat jede Regierung eine Mehrheit. Deshalb würde diese Klausel es erlauben, dass jedes Recht außer Kraft gesetzt werden kann: Grundrechte, politische Teilhaberechte, selbst das Stimmrecht. Damit das Gericht nicht vom Kurs der Regierung abweicht, zielt das Vorhaben auch darauf ab, den Ausschuss für die Ernennung von Richtern so umzugestalten, dass die Regierung automatisch über eine Mehrheit verfügt. Anders als in vielen Demokratien gibt es in Israel kaum Kontrollen der legislativen und exekutiven Gewalten. Die Regierung kontrolliert die Knesset und die Koalition stimmt gewöhnlich als Block ab, gemäß der Entscheidungen eines Ministerausschusses. Das heißt, dass einige mächtige Minister, angeführt vom Premierminister, die Gesetzgebung kontrollieren. Die wichtigste Kontrolle der Exekutivgewalt besteht daher in der Überprüfung der Gesetze durch den Obersten Gerichtshof. Diese würde der Regierungsplan faktisch abschaffen. Nach dem vorgeschlagenen Plan könnte der Oberste Gerichtshof Grundgesetze überhaupt nicht mehr überprüfen. Wenn diese aber von der Überprüfung ausgenommen sind, könnten extreme Gesetze zu Grundgesetzen erklärt werden, um die Überprüfung zu umgehen. Ein weitreichendes Einwanderungsgesetz, das die unbegrenzte Inhaftierung von Asylbewerbern erlauben würde, ist genau aus diesem Grund bereits als Grundgesetz eingebracht worden.

Vorbild Viktor Orbán: Von der Demokratie in die Autokratie Die Regierung behauptet, dass die Reformen im Einklang mit Regeln in anderen Ländern stehen. So hat beispielsweise Kanada eine „notwithstanding clause“ und strenggenommen haben die Gerichte in Großbritannien nicht die Macht, Gesetze aufzuheben. Doch diese Länder verfügen über Kontrollmechanismen, die es in Israel nicht gibt, und die israelische Regierung beabsichtigt auch nicht, dies zu ändern. Wenn man überhaupt einen internationalen Vergleich anstellen will, dann mit Ungarn, das sich unter Premierminister Viktor Orbán von einer liberalen Demokratie in ein autokratisches Regime verwandelt hat. Die Situation in Israel ist möglicherweise noch gefährlicher. Ungarn steht unter dem Schirm der Europäischen Union, welche die Macht hat, den Zerfall aufzuhalten oder sogar umzukehren. Israel steht unter keiner vergleichbaren internationalen Aufsicht und ist in einen hartnäckigen und explosiven Konflikt verwickelt. Orbán hat seine Herrschaft gefestigt, indem er die Verfassung, die Zusammensetzung und den Zuständigkeitsbereich der Justiz sowie das Wahlrecht

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Das Ende der israelischen Demokratie? 81 geändert hat. Zudem hat er den öffentlichen Dienst mit Parteisoldaten durchsetzt, seine Kontrolle der Medien verstärkt und staatliche Mittel zugunsten von Pro-Orbán-Medien umgelenkt. Heute sind nur noch 20 Prozent der ungarischen Medien unabhängig und diese stehen unter ständigem politischen, regulativem und ökonomischem Druck. Die Zerschlagung der Gerichte hat all dies möglich gemacht, weshalb es kein Zufall ist, dass die israelische Regierung diese als erstes ins Visier genommen hat. Sobald sie das Justizwesen umgebaut hat, will Netanjahus Regierung das Wahlrecht erweitern: Selbst gelegentliche „terrorismusfördernde“ Aussagen – zu denen bereits scharfe Kritik an Israels Besatzung und vage Ermutigung palästinensischen Widerstands gehören könnten – wären dann verboten, was faktisch viele israelische Araber daran hindern würde, für die Knesset zu kandidieren. Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, wird es vermutlich zu einem starken Rückgang der Wahlbeteiligung palästinensischer Bürger Israels kommen. Dies würde Netanjahus Regierung weiter stärken, weil es so für die Opposition schwieriger würde, die für eine Regierungsbildung erforderliche Mindestanzahl von 61 Mitgliedern der Knesset zu erreichen. Die Beseitigung von Begrenzungen für staatliche Macht stellt die religiösen Fundamentalisten zufrieden und erlaubt Netanjahu, die Versprechen an seine Regierungspartner zu halten. Im Koalitionsvertrag hat er zugesichert, die Antidiskriminierungsgesetze des Landes so zu erweitern, dass es Geschäftsinhabern erlaubt wird, Dienstleistungen auf der Grundlage religiöser Überzeugungen zu verweigern. Dies hätte Auswirkungen für die LGBTQ-Community und andere Minderheiten.

Gegen kritische und unabhängige Berichterstattung Die Regierung Netanjahu hat auch Pläne zur Reform der Medien angekündigt. Shlomo Karhi, Minister für Kommunikation, kündigte an, die öffentlich finanzierten israelischen Medien privatisieren zu wollen. Dieser Schritt wird von den meisten Beobachtern als Versuch gewertet, gegen kritische und unabhängige Berichterstattung vorzugehen. Tatsächlich will Galit Distel Atbaryan, Ministerin für „public diplomacy“, sogar noch weiter gehen: Sie hat sich dafür ausgesprochen, die öffentlich finanzierten Medien ganz zu schließen, statt sie zu privatisieren. Denn, so sagt sie, „wenn man privatisiert, sickert die Linke ein“. Zugleich hat Kulturminister Miki Zohar angekündigt, die staatlichen Ausgaben für die Künste zu kürzen und die Finanzierung von Werken zu verweigern, welche „dem Ansehen des Staates schaden“. Dieses zweistufige Programm politischer Veränderungen verfolgt ein klares Ziel: die Meinungsfreiheit zu unterdrücken, indem kritische Inhalte aus dem öffentlichen Raum entfernt werden, und den Machtzugriff der Regierung zu stärken. Die vorgeschlagenen Medienreformen haben erheblichen Widerstand hervorgerufen, und Anfang Februar hat die Regierung verkündet, sie auszusetzen. Der für diese Kehrtwende genannte Grund ist bezeichnend: Die

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82 Eliav Lieblich und Adam Shinar Justizreformen haben für die Regierung höchste Priorität und deshalb soll es keine Ablenkungen geben, bis sie durchgesetzt worden sind. Auf jeden Fall wird es nach der Verabschiedung der Justizreformen auch einfacher sein, die öffentlichen Fernseh- und Radiostationen zu schleifen. Schließlich plant die Regierung, in den besetzten Gebieten härter vorzugehen. Bei der Präsentation des Regierungsprogramms verkündete Netanjahu, dass Juden exklusiven Anspruch auf das ganze Land in Israel haben, inklusive des Westjordanlands. Damit verabschiedet er sich von der Scheinbehauptung, die Palästinenser hätten Rechte in den Gebieten. Und im Koalitionsvertrag hat Netanjahu seinen rechtsextremen Partnern versprochen, seine Regierung werde weitere Siedlungen im Westjordanland fördern und die Grundlage für eine spätere Annexion schaffen. Er hat zudem erklärt, er gedenke, die Außenposten der Siedler auf privatem palästinensischem Land zu „legalisieren“, nachdem ein entsprechendes Gesetz vom Obersten Gerichtshof für ungültig erklärt worden war. Netanjahu hat zudem mit Bezalel Smotrich einen Siedler und einen der extremsten antipalästinensischen Politiker Israels zum Sonderbeauftragten im Verteidigungsministerium ernannt. Smotrich ist nun mit der Aufsicht ziviler Angelegenheiten im Westjordanland betraut. Indem Netanjahu dem Militär diese Befugnis entzieht und einem ernannten Politiker überträgt, zeigt er die Annexionsabsichten seiner Regierung. Zusammengenommen stellen die Reformvorhaben einen Anschlag auf Israels ohnehin schon defekte Demokratie dar. Das Programm der Regierung und die sich abzeichnende autokratische Wende haben bereits eine große Protestbewegung ausgelöst. Sie haben auch große Besorgnis außerhalb Israels hervorgerufen; Länder wie Frankreich und die USA äußern Vorbehalte gegen die bevorstehenden Veränderungen. Sollten Netanjahu und seine Koalition Israel auf den ungarischen Weg zwingen, gefährden sie daher nicht „nur“ die demokratischen Institutionen des Landes, sondern auch dessen Beziehungen zu seinen Verbündeten.

Mit Beiträgen von Étienne Balibar, Mykola Borovyk, Nicole Deitelhoff, Mischa Gabowitsch, Naomi Klein, Sergej Lebedew, Herfried Münkler, Adam Tooze, Igor Torbakow u.v.a.

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320 Seiten, 18 Euro!

320 S. | 18 Euro | ISBN 9783982132310

Krieg in der Ukraine: Zeitenwende wohin?

Machterhalt um jeden Preis: Erdog˘an, Assad und das große Beben Von Kristin Helberg

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as Jahrhundertbeben vom 6. Februar 2023 im Süden der Türkei und im Norden Syriens kannte weder Grenzen noch Nationalitäten. Es machte keinen Unterschied zwischen türkischen und syrischen Staatsbürgern, zwischen Einheimischen, Geflüchteten und Binnenvertriebenen, zwischen Türken, Arabern und Kurden. Die Unterschiede, die bei der Bewältigung der Katastrophe und im Umgang mit den Betroffenen zutage treten, sind menschengemacht. Zunächst schienen Opfer und Helfer zusammenzurücken. Rettungsteams aus Dutzenden Ländern strömten in die Türkei, syrische Vereine in Europa sammelten Geld- und Sachspenden. Die internationale Solidarität half, politische Gräben zu überwinden. Nach Monaten der Feindseligkeiten empfing der türkische Außenminister seinen griechischen Amtskollegen im Erdbebengebiet, aller territorialen Streitigkeiten zum Trotz. Die seit mehr als dreißig Jahren geschlossene türkische Grenze nach Armenien wurde für die Erdbebenhilfe des Nachbarlandes geöffnet, obwohl beide Länder nicht einmal diplomatische Beziehungen unterhalten. Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi telefonierte zum ersten Mal überhaupt mit Syriens Machthaber Bashar al-Assad, Jordanien schickte erstmals seit 2011 seinen Außenminister nach Damaskus. Aber kann das Erdbeben auch die in der Südtürkei und in Nordsyrien verlaufenden Konfliktlinien aufbrechen? Kann es die verhärteten Fronten zwischen den Kriegsparteien im Syrienkonflikt aufweichen? Und wird es die humanitäre Not in den Vordergrund rücken – egal, wer die Bedürftigen sind und wo sie leben? Es sieht nicht danach aus. Immer wieder werden Hilfskonvois, die innerhalb Syriens von einem Einflussgebiet in ein anderes fahren wollen, blockiert. Nach zwölf Jahren Kriegswirtschaft steht an jedem Checkpoint eine Miliz oder Armeeeinheit, die sich bereichert und einen Teil der Lieferung für ihre eigenen Leute beansprucht. Mal fordert das Regime 40 von 100 Diesellastwagen für sich, mal verlangen extremistische Gruppen 40 Prozent der Güter, mal müssen sämtliche Hinweise auf die kurdische Herkunft der Ladung entfernt werden. Hilfe über innersyrische Konfliktlinien hinweg gestaltet sich deshalb mühsam, sinnvoller ist die Unterstützung über die Türkei – auch aus geo-

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84 Kristin Helberg graphischen Gründen, schließlich liegen die am schwersten vom Erdbeben betroffenen Gebiete direkt an der syrisch-türkischen Grenze. Die Führungen in Ankara und Damaskus versuchen jedoch, die Krise für sich zu nutzen. Recep Tayyip Erdog˘an will wiedergewählt, Assad rehabilitiert werden – der türkische Präsident kämpft im Inneren, Syriens Machthaber nach außen. Ihr Krisenmanagement zielt deshalb darauf ab, die eigene Position zu stärken, was am besten auf Kosten des jeweils anderen geht. Kein Schulterschluss in der Not, sondern Machterhalt um jeden Preis.

Die Rolle der westlichen Sanktionen Während Erdog˘an die interne Kritik an seiner Führung rechtzeitig vor den anstehenden türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen mit der Verhängung des Ausnahmezustands zum Schweigen bringen möchte, bemüht sich Assad um Normalisierung. Ausführlich berichten syrische Staatsmedien über Solidaritätsbekundungen und Hilfslieferungen aus dem Ausland – stets verbunden mit dem Hinweis, dass westliche Sanktionen die Versorgung der Erdbebenopfer behindern würden. Die Botschaft an die Syrerinnen und Syrer ist klar: Seht her, wir sind nicht allein, nur die Amerikaner und Europäer wollen uns zerstören. Die Realität ist jedoch eine andere. Anders als im Irak in den 1990er Jahren gibt es im Falle Syriens keine umfassenden UN-Sanktionen, sondern nur Beschränkungen seitens der EU und der USA. Das Regime kann also mit Dutzenden anderen Ländern handeln, die Rohstoff- und Warenimporte aus Russland, Iran und China sicherten Assad in den vergangenen Jahren das Überleben. Für Europäer und Amerikaner ging es 2011 darum, ein Zeichen gegen die brutale Niederschlagung der Proteste zu setzen. Sie verhängten zwei Arten von Sanktionen – gegen Individuen und gegen Sektoren. Die einen zielen gegen mehrere Hundert Einzelpersonen, Unternehmen und Organisationen, die Assads Machtzirkel und dem Sicherheitsapparat nahestehen und für dessen Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich sind oder davon profitieren. Sie schränken den Handlungsspielraum der herrschenden Elite durchaus ein, auch wenn sie das Verhalten des Regimes insgesamt kaum beeinflussen können. Die sektoralen Sanktionen betreffen bestimmte Wirtschaftsbereiche wie die Öl- und Gasindustrie, das Bankensystem, den Kraftwerksbau, Informationstechnologie zur Internet- und Telefonüberwachung sowie Militär- und Luxusgüter. Sie haben durchaus unbeabsichtigte negative Auswirkungen auf die Bevölkerung, vor allem im Zahlungsverkehr und bei der Energieversorgung. Deshalb sollten sie in Absprache mit der syrischen Zivilgesellschaft regelmäßig angepasst werden. Landwirtschaftliche Produkte, humanitäre Hilfe sowie Medikamente und medizinische Ausrüstung unterliegen dagegen keinen Sanktionen. Experten verschiedener Institutionen fordern eine effektivere Umsetzung der gezielten Sanktionen, um die sektoralen Beschränkungen zum Teil

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Türkei und Syrien: Machterhalt um jeden Preis 85 aufheben zu können.1 Denn während das Regime die Sanktionen umgeht, indem es Briefkastenfirmen mit komplexen Eigentumsverhältnissen schafft und Frachtschiffe umbenennt, leiden kleine bis mittlere Unternehmen sowie die Zivilbevölkerung unter den pauschalen Einfuhrverboten. Smart sanctions müssten Assads Schlupflöcher und Umgehungsinstrumente ins Visier nehmen, statt ganze Sektoren lahmzulegen, heißt es in den Berichten. Ein Beispiel ist der Finanzmarkt: Aus Angst vor westlichen Strafmaßnahmen lassen Banken häufig keinerlei Transaktionen mit Syrienbezug zu, selbst Spenden für die Erdbebenopfer verzögerten sich, wenn bei Überweisungen das Stichwort „Syrien“ angegeben werde, melden Hilfsvereine. Diese „Übererfüllung“ von Sanktionen schadet vor allem der notleidenden Bevölkerung und Nichtregierungsorganisationen. Die darüber hinaus gehenden amerikanischen Bestimmungen im Rahmen des sogenannten Caesar Syria Civilian Protection Act, die seit 2020 in Kraft sind und sich gegen Dritte richten, die mit regimenahen Unternehmen oder Institutionen Geschäfte machen oder in Regimegebieten investieren wollen, wurden kurz nach dem Erdbeben für sechs Monate aufgehoben. Eine Geste des guten Willens seitens des US-Finanzministeriums, die Banken, Speditionen, Versicherungsgesellschaften sowie Fracht- und Logistikfirmen die Sicherheit gibt, für ihre Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Erdbebenkatastrophe nicht bestraft zu werden. Hilfsmaßnahmen für die syrischen Opfer werden folglich nicht von westlichen Sanktionen verhindert, sondern vom Regime erschwert. Seit Jahren leiden die Menschen unter der Misswirtschaft und den mafiösen Strukturen des Assad-Regimes sowie den Folgen der jahrelangen Zerstörung durch die syrische und russische Luftwaffe. Transparency International erklärte Syrien Anfang des Jahres zum korruptesten Land des Nahen Ostens. Eine generelle Aufhebung der Sanktionen würde deshalb keineswegs zu einer besseren Versorgung der Menschen führen, sondern die klientelistischen Strukturen des Regimes stärken.

Endet Assads diplomatische Isolation? In Wirklichkeit sind es die USA und die EU – allen voran Deutschland –, die die Menschen in den Regimegebieten seit zwölf Jahren über die Hilfsprogramme der Vereinten Nationen versorgen. Diese von Assad zum eigenen Machterhalt instrumentalisierte milliardenschwere humanitäre Hilfe will das Regime nun um weitere Millionen für die Erdbebenopfer aufstocken. Es besteht darauf, dass internationale Unterstützungsangebote mit Damaskus koordiniert werden, was bedeutet, dass nicht nach Bedürftigkeit, sondern 1 Karam Shaar und Said Dimashqi, US sanctions on Syria aren’t working. It’s time for a new sanctions approach that minimizes humanitarian suffering and increases leverage, www.atlanticcouncil.org, 13.1.2023; The Effectiveness of Sanctions as a Tool for Accountability and Behavioural Change Among Syrian Businesspersons in The Syrian Context, www.sldp.ngo, Oktober 2021; Wael Alalwani und Karam Shaar, A Comprehensive Review of the Effectiveness of US and EU Sanctions on Syria, www.mei.edu, 6.8.2021.

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86 Kristin Helberg nach Loyalität verteilt wird. „Was ihr nach Damaskus schickt, ist für uns verloren“, warnte ein Helfer im Norden per Videobotschaft. Dennoch unterstützen viele Länder das Assad-Regime direkt – nicht nur enge Verbündete wie Russland, Iran, die Hisbollah und China oder arabische Nachbarn auf Versöhnungskurs wie Irak, Libanon, Oman, Algerien und, allen voran, die Vereinigten Arabischen Emirate, die Assad bereits im März 2022 zum Staatsbesuch empfingen. Auch bislang zögerliche Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien und Katar schickten Hilfe, sogar Italien flog humanitäre Güter über Beirut ein. Manche Regierung scheint die Erdbebenkatastrophe als Feigenblatt nutzen zu wollen, um den Gesprächsfaden mit dem syrischen Regime nach Jahren der Funkstille wieder aufzunehmen. Wer seine Beziehungen mit Damaskus ohnehin normalisieren wollte, hat jetzt eine günstige Gelegenheit. Auch die Tatsache, dass die UN selbst bei einer Tragödie dieses Ausmaßes darauf bestehen, alles mit dem syrischen Regime zu regeln, hat Assads Position international gestärkt. Statt Nothilfe – etwa in Form von Baggern, Bergungsgerät, Generatoren, Treibstoff, Zelten und Wasseraufbereitung – von Anfang an großzügig und ohne das übliche bürokratische Prozedere über den zunächst einzigen Grenzüberhang Bab al-Hawa nach Nordsyrien zu lassen, dauerte es vier Tage, bis der erste UN-Konvoi mit regulärer humanitärer Hilfe die Menschen erreichte. Weitere Übergänge in Bab al-Salam und al-Rai passierten die UN-Lastwagen erst, als Assad eine Woche nach dem Beben ihrer dreimonatigen Nutzung zustimmte. Dabei kontrolliert nicht das Regime diese Grenzposten, sondern die oppositionelle Syrische Nationale Armee (SNA), Erdog˘ans islamistische Söldner, die in dem türkisch besetzten Gebiet zwischen Afrin und Jarablus als verlängerter Arm Ankaras fungieren. Aber weil das Assad-Regime formal der offizielle Vertreter Syriens bei den Vereinten Nationen ist, sprechen UN-Funktionäre stets in Damaskus vor – auch wenn es um humanitäre Hilfe für oppositionelle Regionen geht. So erschien Assad mit seiner Zustimmung auf einmal als großzügiger Retter in der Not – und das, obwohl er nichts von „seiner“ Hilfe abgeben musste, sondern nur erlaubt hatte, die vom Westen finanzierte UN-Unterstützung auch seinen Landsleuten in Nord-Aleppo zugute kommen zu lassen. Für das Regime offenbar ein lohnendes Zugeständnis: ein wenig mehr UN-Hilfe für die „Terroristen“ in Nordsyrien, dafür aber die internationale Erkenntnis, dass es sich lohnt, mit Assad zu reden. Nach tagelanger Kritik an ihrer Arbeit fühlten sich die Vereinten Nationen in ihrer Strategie der Einbindung bestätigt. Entscheidend für die Zukunft der Erdbebengebiete in Syrien wird sein, wie sich das Verhältnis zwischen Ankara und Damaskus entwickelt. Hält Erdog˘an an der Besatzung Nordsyriens fest? Oder zieht er seine Truppen aus den zum Teil schwer zerstörten Gebieten ab und überlässt seine oppositionellen Statthalter ihrem Schicksal bzw. Assad? Wird er das Gebiet der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyrien (AANES) – vereinfachend als kurdische Selbstverwaltung oder Rojava bezeichnet – weiter mit Drohnen und Artillerie angreifen lassen, um das PKK-nahe kurdische Autonomieprojekt zu zerstören? Oder einigt er sich lieber mit Assad auf eine schleichende

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Türkei und Syrien: Machterhalt um jeden Preis 87 Übernahme der Region durch das Regime? Und was wird aus den Millionen syrischen Geflüchteten in der Türkei? Wohin sollte die Regierung in Ankara sie zurückschicken, wenn auf der syrischen Seite der Grenze schon jetzt Millionen Menschen kein festes Dach über dem Kopf haben? Erdog˘ans Plan, in den türkisch besetzten Gebieten entlang der Grenze Unterkünfte für zurückkehrende Syrerinnen und Syrer zu bauen, hat sich durch das Erdbeben erledigt – die türkische Baubranche wird in nächster Zeit mit dem Wiederaufbau in der Südtürkei beschäftigt sein.

Annäherung zwischen Ankara und Damaskus Wie also geht es weiter zwischen Erdog˘an und Assad? Vor dem Erdbeben hatte der türkische Präsident sich um Annäherung bemüht – nach zwölf Jahren Eiszeit, in denen Erdog˘an seinen ehemaligen Urlaubspartner Assad als „Massenmörder“ bezeichnete und vor allem islamistische Aufständische wie Oppositionelle unterstützte. Ende Dezember 2022 hatten sich die Verteidigungsminister und Sicherheitschefs beider Länder mit ihren russischen Amtskollegen in Moskau getroffen, Mitte Februar sollten die drei Außenminister zusammenkommen, und noch vor den türkischen Wahlen im Frühsommer wollte Erdog˘an Assad die Hand schütteln. Hinter dieser Kehrtwende steckt allerdings weniger der Wunsch nach Frieden und Aussöhnung als vielmehr das Machtkalkül zweier Autokraten, die im Syrienkonflikt seit Jahren erfolgreich ihre Interessen durchsetzen und dabei einen extrem pragmatischen Umgang miteinander pflegen: Russlands Staatschef Wladimir Putin und Präsident Erdog˘an. Moskau und Ankara stehen in Syrien auf gegnerischen Seiten: Putin sichert Assad politisch und militärisch die Macht, gemeinsam mit dem Iran, dessen Bodentruppen weite Teile des Landes für Assad zurückerobert haben. Erdog˘an hingegen bewaffnet und trainiert die islamistischen Kämpfer der SNA und beherbergt in der Türkei mit der Nationalen Koalition das größte Bündnis der Assad-Gegner. Beide Seiten – Assad-Regime und Exil-Opposition – wären ohne ihre ausländischen Schutzpatrone nicht mehr da. Alle drei Interventionsmächte – Russland, Iran und die Türkei, die sich seit 2017 im sogenannten Astana-Format absprechen – stehen aktuell unter großem Druck. Moskau kämpft mit unerwartetem Widerstand in der Ukraine, Teheran mit anhaltenden Protesten, Ankara mit den Folgen des Erdbebens und einer schweren Wirtschaftskrise. Diese Bedrohungslage führt zu taktischen Verschiebungen, die die Lage in der Region nachhaltig verändern könnte – ganz im Sinne der drei Regime. Bisher waren die Rollen in Syrien klar verteilt. Während der Iran sich darauf konzentriert, eigene Militärstrukturen in Zentral- und Südsyrien aufzubauen, um die Nachschubwege zur libanesischen Hisbollah zu sichern und Israel entgegenzutreten, managen Putin und Erdog˘an den Norden des Landes. Dort befinden sich noch immer große Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes. Im Nordwesten herrscht in der vom Erdbeben beson-

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88 Kristin Helberg ders betroffenen Provinz Idlib die Extremistengruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS). Millionen Zivilisten haben hier Zuflucht gefunden, als ihre Heimatorte zwischen 2016 und 2020 wieder unter die Kontrolle von Assads Schergen fielen. Eigentlich will das syrische Regime Idlib mit russischer Luftunterstützung zurückerobern, doch aus Angst vor einer erneuten Fluchtbewegung in Richtung Türkei hat die Regierung in Ankara eigene Soldaten stationiert und mit der Führung in Moskau Anfang 2020 einen Waffenstillstand verabredet. Dieser ist zwar brüchig, hat aber eine Offensive Assads bislang abgewendet. Entlang der Grenze, zwischen der kurdisch geprägten und jetzt schwer zerstörten Region um Afrin und dem Ort Ras al-Ain (auf Kurdisch Serê Kaniyê), besetzt Erdog˘an mit Hilfe seiner syrischen Söldnermilizen und oppositionellen Statthalter Gebiete, die er in drei Militärinterventionen 2016, 2018 und 2019 völkerrechtswidrig eingenommen hat. Diese gehörten größtenteils zum Einflussbereich der kurdisch dominierten AANES, die im Nordosten fast ein Drittel des syrischen Staatsgebietes kontrolliert. Ihre bewaffneten Truppen, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), sind Verbündete des Westens im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Erdog˘an betrachtet die YPG wegen ihrer ideologischen und organisatorischen Verbindungen zur PKK jedoch als Terroristen und will die AANES zerschlagen. Seit Sommer letzten Jahres führt Ankara einen Drohnenkrieg gegen Vertreter der Selbstverwaltung, bei dem regelmäßig Zivilisten sterben. Während einer dreiwöchigen Militäroffensive Ende November und Anfang Dezember 2022 zerstörten türkische Kampfjets und Raketen auch Infrastruktur, darunter ein Krankenhaus, ein Elektrizitätswerk, ein Getreidesilo und ein Gasverteilungszentrum. Einzige Lebensversicherung der Kurden ist eine bescheidene US-Präsenz in Nordostsyrien, die bei der Einhegung des IS hilft. Aus Sicht Washingtons ein lohnendes Engagement, weil es mit wenig Mitteln – 800 Soldaten – einen der wenigen außenpolitischen Erfolge der vergangenen Jahre zementiert: den Sieg über den IS. In diese Gemengelage kam zuletzt Bewegung. Angesichts westlicher Sanktionen infolge seines Angriffs auf die Ukraine ist Putin auf Verbündete angewiesen, die Türkei nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein. Sie ist Mitglied der Nato, kontrolliert am Bosporus den Zugang zum Schwarzen Meer, vermittelt im Ukrainekrieg und hat einen machtbewussten Präsidenten, mit dem Moskau seit Jahren pragmatische Deals schließt. Wie krisenfest das russisch-türkische Verhältnis ist, zeigt sich in Syrien. Selbst bei militärischen Zusammenstößen bleiben Putin und Erdog˘an im Gespräch, etwa Ende Februar 2020, als 36 türkische Soldaten durch russische Luftangriffe sterben und keine drei Wochen später die Militärs beider Länder gemeinsam auf Patrouille gehen. Ende 2015 schießt die Türkei einen russischen Kampfjet ab, auf scharfe Rhetorik und ein russisches Import- und Reiseverbot folgt Monate später Schulterklopfen, zwei Jahre später kauft Ankara das russische Luftabwehrsystem S-400. So flexibel sind Autokraten, die sich in einer multipolaren Weltordnung nicht zwischen Nato und Russland, zwischen Amerikanern und Chinesen entscheiden wollen, sondern durch Austarieren ihrer Kontakte

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Türkei und Syrien: Machterhalt um jeden Preis 89 außenpolitische Unabhängigkeit generieren. Putin weiß das zu schätzen und möchte Erdog˘an zur Wiederwahl verhelfen.

Erdog˘ans Kalkül Der türkische Präsident ist nach außen mächtig wie nie, weil alle ihn brauchen, im Inneren war er jedoch schon vor dem Erdbeben angeschlagen, seine Wiederwahl erscheint keineswegs sicher. Neben dem schlechten Krisenmanagement während der Erdbebenkatastrophe, den Versäumnissen bei der Einhaltung von Bauvorschriften und der Frage, wo die Einnahmen aus der Erdbebensteuer hingeflossen sind, dominieren drei Themen den Wahlkampf – die miserable wirtschaftliche Lage, die fast vier Millionen syrischen Geflüchteten, die dafür verantwortlich gemacht und zunehmend angefeindet werden, und die als existenzielle Bedrohung hochstilisierte kurdisch geprägte Autonomieregion in Nordostsyrien. Zwei der Themen haben also mit Syrien zu tun und ließen sich laut Putin zusammen mit Machthaber Assad lösen. Würde Ankara seine Beziehung zu Damaskus normalisieren, könnten sowohl die Rückführung von Geflüchteten als auch die Zerschlagung der AANES ausgehandelt und gemeinsam betrieben werden, so das russische Argument. In seinem unbedingten Willen, die Wahlen zu gewinnen, war Erdog˘an deshalb bereit, über seinen Schatten zu springen und Assad die Hand zu reichen. Kein überraschendes, sondern ein für Autokraten typisches Verhalten, da es ihnen nicht um Ideologie, Werte oder strategische Bündnisse geht, sondern stets um den eigenen Machterhalt. Den Wählern konnte sich Erdog˘an als pragmatischer Führer präsentieren, dem das Wohl des türkischen Staates wichtiger ist als eigene Befindlichkeiten und der deshalb sogar bereit war, sich mit einem „Massenmörder“ auszusöhnen. Durch das Erdbeben ist die schrittweise Annäherung jedoch ins Stocken geraten. Erdog˘an kann es sich politisch nicht leisten, Solidarität mit den Menschen in Syrien zu zeigen, schließlich gelingt ihm nicht einmal die Versorgung der eigenen Bevölkerung. Zugleich sieht Assad, dass seine Rehabilitierung auch ohne den türkischen Staatschef voranschreitet und wie angeschlagen dieser intern ist. Er könnte es deshalb vorziehen, das Ergebnis der Wahlen in der Türkei abzuwarten – zumal die mehrheitlich nationalistische Opposition im Falle eines Wahlsiegs eine schnelle Einigung mit dem Regime in Damaskus angekündigt hat. Im Zuge eines solchen Abkommens wird Assad auf einen Abzug der türkischen Truppen aus Nordsyrien bestehen – eine Forderung, der die Regierung in Ankara womöglich nachkommen könnte. Denn die türkisch besetzten Gebiete entlang der Grenze sind vom Erdbeben schwer zerstört und so zu einer weiteren Belastung für die Türkei geworden. Das syrische Regime müsste umgekehrt zusagen, den Nordosten wieder komplett unter seine Kontrolle zu bringen, das kurdisch dominierte Autonomieprojekt aufzulösen und die YPG in die syrische Armee einzugliedern.

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90 Kristin Helberg Bleibt das Problem der Geflüchteten. Wohin sollen die in der Türkei lebenden Syrerinnen und Syrer zurückkehren, wenn Assad ganz Nordsyrien kontrolliert?

Vertriebene ohne Zuflucht Die meisten von ihnen sind vor der Gewalt des Regimes geflohen. Sobald entlang der Grenze wieder dessen Geheimdienste das Sagen haben, droht Rückkehrenden Verfolgung, Erpressung, Zwangsrekrutierung, Gefangennahme, Folter und Tod. Die anvisierte Lösung könnte ausgerechnet im Erdbebengebiet Nordwestsyriens liegen. Idlib könnte zum Sammelbecken für Syrien-Heimkehrer werden – in Schach gehalten von den HTS-Extremisten, humanitär notdürftig versorgt durch die Vereinten Nationen. Schon jetzt kehren Tausende Syrer in ihrer Verzweiflung nach Idlib zurück. Sie haben durch das Beben alles verloren und wissen im Gegensatz zu den Einheimischen nicht, wohin; bei der Vergabe von Zelten und Hilfsgütern würden türkische Staatsbürger bevorzugt, erzählen sie. Manche haben Angst, dass die verbalen Anfeindungen zunehmend in offene Aggression umschlagen, nachdem einzelne Syrer als Plünderer beschuldigt und von rassistischen Paramilitärs bedroht und verprügelt wurden. Auf der syrischen Seite erwartet sie zwar nicht mehr Hilfe von außen, dafür können sie auf die Unterstützung von Familie und Freunden sowie die Solidarität der eigenen Landsleute zählen. Die türkische Regierung hat zugesagt, vorübergehend heimkehrende Syrerinnen und Syrer innerhalb eines Zeitraumes von drei bis sechs Monaten wieder zurück in die Türkei zu lassen. Ob sie dieses Versprechen einhält, hängt in Wahlkampfzeiten auch vom Druck der Öffentlichkeit ab. Viele türkische Menschen fordern angesichts der eigenen Krise eine Rückkehr der Geflüchteten nach Syrien. Von den vier Millionen Syrerinnen und Syrern in der Türkei leben mehr als 1,7 Millionen in den vom Erdbeben zerstörten Gebieten – am 6. Februar ist aus ihrem Zufluchtsort ein Schauplatz der Apokalypse geworden, mal wieder.

Die Dokumente zum Zeitgeschehen – auf www.blaetter.de

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Kapitalismus als Kannibalismus Die multidimensionale Krise und der Sozialismus des 21. Jahrhunderts Von Nancy Fraser

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eit dem Ende der Systemkonkurrenz, dem Untergang des realexistierenden Sozialismus, gibt es auf der Welt nur noch ein herrschendes System, wenn auch in durchaus unterschiedlicher Ausprägung, nämlich den Kapitalismus. Da aber die globalen Krisen nicht ab-, sondern zunehmen und sich wechselseitig verstärken, stellt sich eine entscheidende Frage: Was stimmt nicht mit dem Kapitalismus? Kritiker, die den Kapitalismus aus einem eher eng gefassten Blickwinkel, als bloße Wirtschaftsform, betrachten, erkennen an ihm drei wesentliche Fehler: Ungerechtigkeit, Irrationalität und Unfreiheit. Erstens sehen sie die zentrale Ungerechtigkeit des Systems in der Ausbeutung der Klasse der freien, eigentumslosen Arbeiter durch das Kapital. Letztere arbeiten viele Stunden umsonst und produzieren enormen Reichtum, an dem sie keinen Anteil haben. Der Nutzen fließt vielmehr der Kapitalistenklasse zu, die sich die überschüssige Arbeit und den dadurch erzeugten Mehrwert aneignet und letzteren für ihren eigenen, vom System diktierten Zweck reinvestiert – nämlich um immer mehr davon zu akkumulieren. Die noch schwererwiegendere Folge ist das unerbittliche exponenzielle Wachstum des Kapitals als feindselige Macht, die genau die Arbeiter beherrscht, die es produzieren. Schauplatz dieser Ausbeutung ist die Sphäre der Produktion. Zweitens besteht nach dieser Sichtweise eine der entscheidenden Irrationalitäten des Kapitalismus in seiner eingebauten Tendenz zu wirtschaftlichen Krisen. Ein Wirtschaftssystem, das auf die unbegrenzte Akkumulation von Mehrwert ausgerichtet ist, der von profitorientierten Unternehmen privat angeeignet wird, ist von Natur aus selbstdestabilisierend. Das Streben nach Kapitalvermehrung durch Produktivitätssteigerung mittels technischen Fortschritts führt immer wieder zu einem Fall der Profitrate, zur Überproduktion von Waren und zur Überakkumulation von Kapital. Reparaturversuche wie die Finanzialisierung schieben den Tag der Abrechnung nur hinaus und sorgen dafür, dass er umso schlimmer ausfällt, wenn er denn kommt. Im Allgemeinen wird der Verlauf der kapitalistischen Entwicklung von periodischen Wirtschaftskrisen unterbrochen: von Boom-Bust-Zyklen, * Der Beitrag basiert auf „Der Allesfresser: Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt“, dem jüngsten Buch der Autorin, das am 11. März im Suhrkamp Verlag erscheint. Die Übersetzung stammt von Andreas Wirthensohn.

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92 Nancy Fraser Börsencrashs, Finanzpaniken, Pleitewellen, massiver Wertvernichtung und Massenarbeitslosigkeit. Und schließlich drittens besagt die eher enge Sichtweise, dass der Kapitalismus zutiefst unfrei und damit konstitutiv undemokratisch ist. Zugegeben, er verspricht oftmals – gerade in seiner europäischen Ausprägung – Demokratie im politischen Bereich. Dieses Versprechen wird jedoch systematisch im Ökonomischen durch soziale Ungleichheit einerseits und durch Klassenmacht andererseits unterlaufen. Insbesondere der kapitalistische Arbeitsplatz ist in den meisten Ländern von jeglichem Anspruch auf demokratische Selbstverwaltung ausgenommen. In dieser Sphäre befiehlt das Kapital und die Arbeiter gehorchen. Die Probleme des Kapitalismus ergeben sich gemäß dieser Perspektive aus der inneren Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft, seine Fehler liegen also primär in seiner wirtschaftlichen Organisation. Dieses Bild ist keineswegs falsch, aber unvollständig. Es zeigt vor allem die dem System inhärenten wirtschaftlichen Übel korrekt auf, versäumt es aber zugleich, eine Reihe von nichtökonomischen Ungerechtigkeiten, Irrationalitäten und Unfreiheiten zu erfassen, die ebenso konstitutiv für das System sind. Um diese zu identifizieren, verlangt der Begriff „Kapitalismus“ nach einer grundsätzlichen Klärung. Mit dem Wort wird gemeinhin ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das auf Privateigentum und Markttausch, auf Lohnarbeit und gewinnorientierter Produktion beruht. Aber diese Definition ist zu eng gefasst und verschleiert eher das wahre Wesen des Systems, als dass sie es offenlegt. „Kapitalismus“, so werde ich im Folgenden argumentieren, bezeichnet etwas weit Größeres, Umfassenderes, nämlich eine Gesellschaftsordnung, die eine profitorientierte Wirtschaft dazu befähigt, die außerökonomischen Stützen, die sie zum Funktionieren braucht, auszuplündern: Reichtum, der der Natur und unterworfenen Bevölkerungen entzogen wird; vielfältige Formen von Care-Arbeit, die chronisch unterbewertet, wenn nicht gar völlig verleugnet werden; öffentliche Güter und staatliche Befugnisse, die das Kapital sowohl benötigt als auch zu beschneiden versucht; die Energie und Kreativität der arbeitenden Menschen. Obwohl sie nicht in den Unternehmensbilanzen auftauchen, sind diese Formen des Reichtums wesentliche Voraussetzungen für die Profite und Gewinne, die dort sehr wohl verzeichnet sind. Als wesentliche Grundlagen der Akkumulation stellen auch sie konstitutive Bestandteile der kapitalistischen Ordnung dar. Kapitalismus bezeichnet also nicht nur eine Wirtschaftsform, sondern eine Gesellschaftsform, die es einer offiziell als kapitalistisch bezeichneten Wirtschaft erlaubt, monetären Wert für Investoren und Eigentümer anzuhäufen, während sie den nicht ökonomisierten Reichtum aller anderen verschlingt. Indem sie diesen Reichtum den Konzernen auf dem Silbertablett serviert, lädt sie diese ein, sich an unseren kreativen Fähigkeiten und an der Erde, die uns ernährt, zu laben – ohne die Verpflichtung, das, was sie verbrauchen, wieder aufzufüllen, oder das, was sie beschädigen, zu reparieren. Damit aber sind den verschiedensten Problemen Tür und Tor geöffnet. Zugespitzt gesagt: Wie der Ouroboros, das alte Bildsymbol einer den eige-

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Kapitalismus als Kannibalismus 93 nen Schwanz fressenden Schlange, ist die kapitalistische Gesellschaft darauf ausgerichtet, ihre eigene Substanz zu verschlingen. Sie ist ein wahrer Dynamo der Selbstdestabilisierung, der regelmäßig Krisen auslöst, während er routinemäßig die Grundlagen unserer Existenz auffrisst.

Eine seltene Art von Krise in Form mehrerer Fressanfälle Der Kapitalismus ist also ein kannibalistisches System, dem wir die gegenwärtige globale Krise verdanken. Offen gesagt, handelt es sich um eine seltene Art von Krise, in der mehrere Fressanfälle zusammentreffen. Was wir dank der jahrzehntelangen Finanzialisierung erleben, ist nicht „bloß“ eine Krise der grassierenden Ungleichheit und der prekären Niedriglohnarbeit; auch nicht „bloß“ eine Krise der Fürsorge oder der sozialen Reproduktion; auch nicht „bloß“ eine Krise der Migration und der rassistischen Gewalt. Es handelt sich auch nicht „einfach“ um eine ökologische Krise, in der ein sich aufheizender Planet tödliche Seuchen ausspuckt, und nicht „nur“ um eine politische Krise, die sich durch eine ausgehöhlte Infrastruktur, einen verstärkten Militarismus und dadurch auszeichnet, dass überall auf dem Globus Politiker Erfolg haben, die sich als starke Männer (strong men) gerieren. Oh nein, es ist viel schlimmer: Wir haben es mit einer allgemeinen Krise der gesamten Gesellschaftsordnung zu tun, in der all diese Katastrophen konvergieren, sich gegenseitig verschärfen und uns zu verschlingen drohen. Legt man dieses „kannibalische“ Verständnis des Kapitalismus zugrunde, kommen diese fundamentalen Probleme klar zum Vorschein. Erstens fördert die kannibalische Sicht auf den Kapitalismus einen erweiterten Katalog von Ungerechtigkeiten zutage. Diese sind aber eben nicht ausschließlich in der Ökonomie des Systems begründet, sondern in den Beziehungen zwischen der kapitalistischen Ökonomie und ihren nichtökonomischen Bedingungen. Ein Beispiel dafür ist die Trennung zwischen wirtschaftlicher Produktion, bei der die notwendige Arbeitszeit in Form von Geldlöhnen vergütet wird, und sozialer Reproduktion, bei der die Arbeit unbezahlt oder unterbezahlt ist, naturalisiert oder sentimentalisiert und zum Teil mit Liebe vergütet wird. Diese historisch geschlechtsspezifische Aufteilung verankert wichtige Formen der Herrschaft im Herzen der kapitalistischen Gesellschaften: die Unterordnung der Frau, die Geschlechterbinarität und die Heteronormativität. In ähnlicher Weise errichten kapitalistische Gesellschaften eine strukturelle Trennung zwischen freien „Arbeitern“, die ihre Arbeitskraft gegen Lohn zur Deckung ihrer Reproduktionskosten eintauschen können, und abhängigen „Anderen“, deren Körper, Land und Arbeitskraft einfach beschlagnahmt werden können. Diese Teilung fällt mit der globalen colour line zusammen. Sie trennt die „bloß“ Ausbeutbaren von den offen Enteigenbaren und rassifiziert letztere Gruppe als von Natur aus verletzlich. Das Ergebnis ist die Verfestigung einer Reihe von strukturellen Ungerechtigkeiten, darunter rassistisch motivierte Unterdrückung, (alter und neuer) Imperialismus, die Enteignung von Indigenen und Völkermord.

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94 Nancy Fraser Schließlich führen kapitalistische Gesellschaften eine scharfe Trennung zwischen Menschen und nichtmenschlicher Natur ein, die nicht mehr demselben ontologischen Universum angehören. Die nichtmenschliche Natur fungiert allein als Zapfhahn und Senke, weshalb sie sich brutaler Instrumentalisierung ausgesetzt sieht. Selbst wenn man dies nicht als Ungerechtigkeit gegen die „Natur“ (oder gegen nichtmenschliche Tiere) betrachten will, ist es doch zumindest eine Ungerechtigkeit gegen bestehende und künftige Generationen von Menschen, denen ein zunehmend unbewohnbarer Planet hinterlassen wird. Generell macht also eine erweiterte Sicht der kapitalistischen Gesellschaft einen erweiterten Katalog struktureller Ungerechtigkeiten sichtbar, der die Klassenausbeutung einschließt, aber weit darüber hinausgeht.

Die systematische Zerstörung der eigenen Grundlagen Eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus müsste neben den ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen auch diese anderen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten beseitigen. Sie darf sich nicht darauf beschränken, die Organisation der wirtschaftlichen Produktion zu verändern, sondern muss auch deren Verhältnis zur gesellschaftlichen Reproduktion und damit die Geschlechter- und Sexualordnung transformieren. Ebenso muss sie der Mitnahmementalität des Kapitals mit Blick auf die Natur und der Enteignung des Reichtums der unterjochten Bevölkerungen und damit der rassistischen und imperialistischen Unterdrückung ein Ende machen. Kurz gesagt: Wenn der Sozialismus die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus beseitigen soll, muss er nicht „nur“ die kapitalistische Wirtschaft, sondern die gesamte institutionalisierte Ordnung der kapitalistischen Gesellschaft verändern. Aber damit noch nicht genug. Das erweiterte Konzept weitet auch unseren Blick darauf, was als kapitalistische Krise gilt. Wir können auf diese Weise einige eingebaute selbstdestabilisierende Tendenzen erkennen, die über die der kapitalistischen Wirtschaft innewohnenden Dynamiken hinausgehen. Erstens gibt es eine systemische Tendenz, die soziale Reproduktion zu kannibalisieren – und damit Fürsorgekrisen zu provozieren. In dem Maße, in dem das Kapital versucht, die Bezahlung der unbezahlten Care-Arbeit, von der es abhängig ist, zu vermeiden, übt es regelmäßig enormen Druck auf diejenigen aus, die diese Arbeit in erster Linie leisten: Familien, Gemeinschaften und vor allem Frauen. Die gegenwärtige, finanzialisierte Form der kapitalistischen Gesellschaft erzeugt heute genau eine solche Krise, da sie sowohl eine Kürzung der öffentlichen Bereitstellung sozialer Dienstleistungen als auch eine Erhöhung der Lohnarbeitsstunden pro Haushalt, also gerade auch von Frauen, fordert. Die erweiterte Sichtweise macht zweitens eine inhärente Tendenz zur ökologischen Krise sichtbar. Da das Kapital es vermeidet, auch nur annähernd die wahren Wiederbeschaffungskosten für die Inputs zu zahlen, die es der nichtmenschlichen Natur entnimmt, laugt es die Böden aus, verschmutzt es die Meere, überflutet es Kohlenstoffsenken und überfordert ganz allgemein

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Kapitalismus als Kannibalismus 95 die Kohlenstoffspeicherkapazität des Planeten. Es bedient sich kannibalisch am natürlichen Reichtum und verleugnet dessen Reparatur- und Ersatzkosten, wodurch es die metabolische Interaktion zwischen den menschlichen und nichtmenschlichen Komponenten der Natur regelmäßig destabilisiert. Die Folgen sind heute unübersehbar: Was den Planeten zu verbrennen droht, ist nämlich nicht, wie in fast jeder UN-Deklaration bemüht, „die Menschheit“, sondern der Kapitalismus. Die Tendenzen des Kapitalismus zur ökologischen und sozial-reproduktiven Krise sind drittens untrennbar mit seinem konstitutiven Bedarf an enteignetem Reichtum rassifizierter Bevölkerungen verbunden: seine Abhängigkeit von gestohlenem Land, erzwungener Arbeit und geplünderten Rohstoffen; seine Abhängigkeit von rassifizierten Zonen als Deponien für Giftmüll und von rassifizierten Gruppen als Lieferanten von unterbezahlter Care-Arbeit, die zunehmend in globalen Betreuungsketten organisiert wird. Das Ergebnis ist eine Verflechtung von wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Krise mit Imperialismus und rassistisch-ethnischem Antagonismus.

Von der Krise des Regierens zur Untergrabung der Demokratie Viertens offenbart der erweiterte Blick auf den Kapitalismus eine strukturelle Tendenz zur politischen Krise. In diesem Bereich will das Kapital ebenfalls beides zugleich haben: öffentliche Güter und eine Freistellung von ihrer Finanzierung. Durch die Hinterziehung von Steuern und die Schwächung staatlicher Regulierungen neigt es dazu, die öffentliche Gewalt auszuhöhlen, von der es doch zugleich abhängig ist. Die aktuelle, finanzialisierte Form des Kapitalismus hebt dieses Spiel auf eine ganz neue Ebene. Die Megakonzerne sind den territorial gebundenen öffentlichen Mächten weit überlegen, indem die globale Finanzwelt die Staaten diszipliniert; indem sie Wahlergebnisse, die nicht in ihrem Sinne ausfallen, lächerlich macht und antikapitalistische Regierungen daran hindert, auf die Forderungen der Bevölkerung einzugehen. Das Ergebnis ist eine große Krise des Regierens, die nun mit einer Krise der Hegemonie einhergeht, da sich die Menschen auf der ganzen Welt massenhaft von den etablierten politischen Parteien und dem neoliberalen Common Sense abwenden. Und schließlich ist da noch das eingebaute Demokratiedefizit des Kapitalismus. Auch dieser Fehler erscheint weitaus größer, wenn wir uns eine erweiterte Sichtweise dieses Gesellschaftssystems zu eigen machen. Das Problem besteht nicht nur darin, dass die Bosse in den Fabriken das Sagen haben. Es geht auch nicht nur darum, dass wirtschaftliche Ungleichheit und Klassenmacht jeden Anspruch auf gleiche demokratische Mitsprache im politischen Bereich zunichtemachen. Ebenso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger ist, dass dieser Bereich von Anfang an stark beschnitten wurde. Tatsächlich wird durch die Trennung von Wirtschaft und Gemeinwesen der Spielraum für demokratische Entscheidungen von vornherein radikal verkleinert. Wenn die Produktion an private Unternehmen übertragen wird,

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96 Nancy Fraser sind es nicht wir, die unser Verhältnis zur Natur und das Schicksal des Planeten kontrollieren, sondern die Klasse der Kapitalisten. Ebenso entscheiden nicht wir, sondern sie über die Form unseres Arbeits- und Nichtarbeitslebens – wie wir unsere Energien und unsere Zeit aufteilen, wie wir unsere Bedürfnisse interpretieren und befriedigen. Indem sie die private Aneignung des gesellschaftlichen Überschusses gestattet, ermächtigt die spezifische Verbindung von Wirtschaft und Gemeinwesen schließlich die Kapitalisten, den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung zu gestalten und damit unsere Zukunft zu bestimmen. Die zentralen gesellschaftlichen Fragen werden in kapitalistischen Gesellschaften also von vornherein von der politischen Agenda gestrichen. Investoren, die auf maximale Akkumulation aus sind, entscheiden sie hinter unserem Rücken. Kurzum: Der Kapitalismus kannibalisiert nicht nur sich selbst, sondern auch uns – er raubt uns die kollektive Freiheit, gemeinsam zu entscheiden, wie wir leben wollen.

Wie hätte ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert auszusehen? Mit der Rückkehr des „Kapitalismus“ aufgrund der Erkenntnis seiner fundamentalen Krisenhaftigkeit hat aber auch der „Sozialismus“ ein Comeback erlebt – als Bezeichnung für die bedeutendste Alternative zum Kapitalismus. Wenn aber der Sozialismus tatsächlich die beschriebene kapitalistische Kannibalisierung überwinden will, steht er vor einer ziemlich großen Aufgabe. Er muss eine neue Gesellschaftsordnung erfinden, die nicht „nur“ die Klassenherrschaft überwindet, sondern auch die Asymmetrien zwischen den Geschlechtern, die rassistische/ethnische/imperialistische Unterdrückung und die politische Herrschaft in den unterschiedlichsten Bereichen. Ebenso muss er vielfältige Krisentendenzen entinstitutionalisieren: nicht „nur“ wirtschaftliche und finanzielle, sondern auch ökologische, sozial-reproduktive und politische. Schließlich muss ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert den Geltungsbereich der Demokratie erheblich erweitern – und zwar nicht „nur“ durch die Demokratisierung der Entscheidungsfindung innerhalb einer vordefinierten „politischen“ Zone. Grundlegender ist, dass er die Definition und Abgrenzung, die Festlegung der Rahmen (der frames), die das „Politische“ ausmachen, selbst demokratisieren muss. Sprich: Er muss den Geltungsbereich der demokratischen politischen Selbstbestimmung weit über seine derzeitigen kläglich engen Grenzen hinaus erweitern. So gesehen ist die Aufgabe, den Sozialismus für das 21. Jahrhundert neu zu denken, durchaus beachtlich. Wenn diese Aufgabe bewältigt werden kann (und das ist ein großes Wenn), dann nur durch die gemeinsamen Anstrengungen vieler Menschen, darunter Aktivisten und Theoretikerinnen. Es gilt, die in sozialen Kämpfen gewonnenen Einsichten mit programmatischem Denken und politischer Organisation zusammenzuführen. In der Hoffnung, einen Beitrag zu diesem Prozess zu leisten, möchte ich abschließend drei Überlegungen anstellen, die zeigen sollen, wie die vorangegangene Diskussion ein neues Licht auf einige klassische Topoi sozialistischen Denkens wirft.

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Kapitalismus als Kannibalismus 97 Die erste betrifft die institutionellen Grenzen. Diese ergeben sich, wie wir gesehen haben, aus den institutionellen Trennungen des Kapitalismus: seiner Trennung von Produktion und Reproduktion, von Ausbeutung und Enteignung, von Wirtschaft und Politik, von menschlicher Gesellschaft und nichtmenschlicher Natur.

Ziehen wir die Grenzen neu – nachhaltig und gerecht Genau diese Trennungen sind dazu prädestiniert, in kapitalistischen Gesellschaften zu Krisenherden und Kampfschauplätzen zu werden. Für Sozialistinnen ist deshalb die Frage, ob und wie gesellschaftliche Sphären voneinander abgegrenzt und miteinander verbunden sind, mindestens genauso wichtig wie die Frage nach ihrer internen Organisation. Anstatt sich einseitig auf die innere Organisation der Wirtschaft (oder auch der Natur, der Familie oder des Staates) zu konzentrieren, müssen Sozialisten über das Verhältnis der Wirtschaft zu ihren gesellschaftlichen Bedingungen nachdenken. Wenn der Sozialismus sämtliche institutionalisierten Formen kapitalistischer Irrationalität, Ungerechtigkeit und Unfreiheit überwinden soll, muss er die Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion, Gesellschaft und Natur, dem Ökonomischen und dem Politischen neu denken. Dabei geht es nicht darum, dass Sozialisten darauf abzielen sollten, diese Trennungen ein für alle Mal zu beseitigen. Im Gegenteil, der katastrophale sowjetische Versuch, die Unterscheidung zwischen „dem Politischen“ und „dem Ökonomischen“ aufzuheben, kann als allgemeine Warnung vor einem solchen Bestreben dienen. Aber wir können – und müssen – die institutionellen Grenzen, die wir von der kapitalistischen Gesellschaft geerbt haben, neu denken. Wir sollten zumindest versuchen, sie neu zu ziehen, damit dringende Angelegenheiten, die der Kapitalismus ins Ökonomische verwiesen hat, politisch oder sozial werden. Wir sollten auch darüber nachdenken, ihren Charakter zu verändern, die Grenzen weicher und durchlässiger zu gestalten. Wir sollten uns auf jeden Fall überlegen, wie wir die verschiedenen Bereiche, die durch sie getrennt werden, miteinander kompatibel und wechselseitig responsiv, nicht antithetisch und nicht antagonistisch machen können. Mit Sicherheit muss eine sozialistische Gesellschaft die Neigung des Kapitalismus überwinden, Nullsummenspiele einzuführen, die der Natur, der öffentlichen Macht und der sozialen Reproduktion das wegnehmen, was sie der Produktion geben. Noch wichtiger ist, dass wir die gegenwärtigen Prioritäten in diesen Bereichen umkehren müssen. Wenn kapitalistische Gesellschaften die Imperative der sozialen, politischen und ökologischen Reproduktion denen der Warenproduktion unterordnen, die ihrerseits auf Akkumulation ausgerichtet ist, müssen Sozialistinnen die Dinge auf den Kopf stellen: Sie müssen die Pflege der Menschen, den Schutz der Natur und die demokratische Selbstverwaltung als höchste gesellschaftliche Prioritäten einführen, die wichtiger sind als Effizienz und Wachstum. In der Tat besteht die Aufgabe des Sozialismus

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98 Nancy Fraser genau darin, die Dinge in den Vordergrund zu stellen, die das Kapital in den verleugneten Hintergrund drängt. Schließlich muss ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert den Prozess der institutionellen Gestaltung demokratisieren, das heißt, die Gestaltung und den Umfang der gesellschaftlichen Bereiche zu einer politischen Frage machen. Kurz gesagt: Was der Kapitalismus hinter unserem Rücken für uns entschieden hat, sollte nun im Rahmen kollektiver demokratischer Verfahren von uns entschieden werden. Daher sollten wir uns selbst daran beteiligen, was Rechtstheoretiker als „Redomaining“ bezeichnen: die Grenzen neu ziehen, die gesellschaftlichen Bereiche abstecken und entscheiden, was in diese Bereiche aufgenommen werden soll. Dieser Prozess kann als „metapolitisch“ angesehen werden, das heißt als Mobilisierung politischer Prozesse des Redomaining (zweiter Ordnung), um politische Räume (erster Ordnung) demokratisch zu konstituieren. In diesem Fall entscheiden wir selbst politisch, welche Angelegenheiten politisch behandelt werden und in welchen politischen Arenen. Um als wirklich demokratisch gelten zu können, muss die sozialistische Umgestaltung jedoch gerecht sein. Erstens muss die Entscheidungsfindung in angemessener Weise inklusiv sein; bei jeder Angelegenheit, die erörtert wird, müssen alle Betroffenen das Recht haben, sich zu beteiligen. Darüber hinaus muss die Beteiligung zu gleichen Bedingungen erfolgen. Demokratie erfordert eine gleichberechtigte Beteiligung und ist daher mit struktureller Herrschaft unvereinbar. Aber es gibt noch eine andere, weniger bekannte Idee, an der sich der Prozess ebenfalls orientieren sollte. Nennen wir sie „Pay as you go“. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der alle Formen des Trittbrettfahrens und der sogenannten primitiven Akkumulation ablehnt, muss die Nachhaltigkeit all jener Produktionsbedingungen sicherstellen, die der Kapitalismus so rücksichtslos kaputtgemacht hat. Mit anderen Worten: Eine sozialistische Gesellschaft muss sich bemühen, den gesamten Reichtum, den sie in der Produktion und Reproduktion verbraucht, wieder aufzufüllen, zu reparieren oder zu ersetzen. Zunächst muss sie die Arbeit, die Gebrauchswerte produziert (einschließlich der Care-Arbeit, die die Menschen erhält), sowie die Arbeit, die Waren produziert, wiederherstellen. Darüber hinaus muss sie all den Reichtum ersetzen, den sie einem Außen entnimmt – also Bevölkerungen und Gesellschaften in der Peripherie sowie der nichtmenschlichen Natur. Und schließlich muss sie die politischen Kapazitäten und öffentlichen Güter wieder auffüllen, auf die sie im Zuge der Befriedigung anderer Bedürfnisse zurückgreift. Mit anderen Worten: Es darf kein Trittbrettfahren geben, wie es der Kapitalismus gleichzeitig fördert und ablehnt. Diese Bedingung ist eine conditio sine qua non für die Überwindung der intergenerationellen Ungerechtigkeit, die der kapitalistischen Gesellschaft eigen ist. Nur wenn sie beachtet wird, kann ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert die vielfältigen Krisentendenzen und Irrationalitäten des Kapitalismus überwinden. Dies bringt mich zu einer zweiten Reihe von Überlegungen, die die klassische sozialistische Frage nach dem Überschuss betreffen. Der Überschuss ist der Fundus an Reichtum, den die Gesellschaft kollektiv erwirtschaftet und

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Kapitalismus als Kannibalismus 99 der über das hinausgeht, was sie benötigt, um sich auf ihrem gegenwärtigen Niveau und in ihrer gegenwärtigen Form zu reproduzieren. In kapitalistischen Gesellschaften wird der Überschuss als Privateigentum der Kapitalistenklasse behandelt und von den Eigentümern veräußert, die das System dazu zwingt, ihn immer und immer wieder, ohne Ende, zu reinvestieren in der Hoffnung, noch mehr davon zu produzieren. Das ist, wie wir gesehen haben, sowohl ungerecht als auch selbstdestabilisierend.

Demokratisieren wir den Überschuss – als kollektiven Reichtum Eine sozialistische Gesellschaft muss die Kontrolle über den gesellschaftlichen Überschuss demokratisieren. Sie muss die Überschüsse demokratisch verteilen und durch kollektive Entscheidungen genau festlegen, was mit den vorhandenen Überkapazitäten und Ressourcen geschehen soll – und auch, wie viel Überkapazitäten sie in Zukunft produzieren will und ob sie angesichts des Klimawandels überhaupt Überschüsse produzieren möchte. Der Sozialismus muss also den in der kapitalistischen Gesellschaft verankerten Wachstumsimperativ entinstitutionalisieren. Das bedeutet nicht, wie einige Ökologinnen jetzt argumentieren, dass wir Degrowth als fest eingebauten Gegenimperativ institutionalisieren müssen. Es bedeutet vielmehr, dass wir die Frage des Wachstums (wollen bzw. brauchen wir es überhaupt und wenn ja, wie viel, welcher Art, wie und wo?) zu einer politischen Frage machen müssen, die es auf der Grundlage multidimensionaler, von der Klimawissenschaft informierter Überlegungen zu entscheiden gilt. In der Tat muss ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert alle diese Fragen als politische Fragen behandeln, als Gegenstand demokratischer Verfahren. Wir können den Überschuss auch als gewonnene Zeit begreifen: Zeit, die nach der notwendigen Arbeit für die Bedürfnisbefriedigung und für die Wiederauffüllung dessen, was wir verbraucht haben, übrig bleibt; also Zeit, die freie Zeit sein könnte. Die Aussicht auf freie Zeit war ein Dreh- und Angelpunkt aller klassischen Darstellungen der sozialistischen Freiheit, auch der von Marx. In der Anfangsphase eines neuen Sozialismus hätten wir aber vermutlich erst einmal relativ wenig zusätzliche freie Zeit. Der Grund dafür liegt in der enormen unbezahlten Rechnung, die die sozialistische Gesellschaft vom Kapitalismus erben würde. Obwohl der Kapitalismus sich seiner Produktivität rühmt und obwohl Marx selbst ihn für einen wahren Motor der Überschussproduktion hielt, habe ich meine Zweifel. Das Problem ist, dass Marx den Überschuss so gut wie ausschließlich in der nicht vergüteten Arbeitszeit sah, die das Kapital den Lohnarbeitern entzieht, nachdem diese genügend Wert produziert haben, um ihre eigenen Lebenshaltungskosten zu decken. Den verschiedenen unentgeltlichen Leistungen, die das Kapital enteignet und sich aneignet, schenkte er dagegen viel weniger Aufmerksamkeit und noch weniger der Tatsache, dass es deren Reproduktionskosten nicht decken kann. Was wäre, wenn wir diese Kosten in unsere Berechnungen einbeziehen würden? Was wäre, wenn das Kapital für die unentgeltliche Reproduktions-

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100 Nancy Fraser arbeit, für die ökologische Reparatur und Wiederherstellung, für den Reichtum, der den rassifizierten Menschen entzogen wurde, und für die öffentlichen Güter hätte zahlen müssen? Wie viel Überschuss hätte es dann wirklich produziert?

Beziehen wir die Reproduktionskosten ein: Keine Märkte oben und unten Das ist natürlich eine rhetorische Frage. Wie genau man sie zu beantworten versuchen könnte, ist unklar. Klar ist jedoch, dass eine sozialistische Gesellschaft eine saftige Rechnung für jahrhundertelang nicht bezahlte Kosten erben würde. Sie würde zudem eine saftige Rechnung für massenhaft unbefriedigte Bedürfnisse der Menschen überall auf der Welt erben: Gesundheitsversorgung, Wohnraum, nahrhafte (und leckere) Lebensmittel, Bildung, Transport usw. Auch diese Bereiche sollten nicht als überschüssige Investitionen betrachtet werden, sondern als absolute Notwendigkeit. Das Gleiche gilt für die dringliche und riesige Herausforderung einer Dekarbonisierung der Weltwirtschaft – eine Aufgabe, die keineswegs optional ist. Generell bekommt die Frage, was notwendig und was überflüssig ist, im Lichte unserer erweiterten Vorstellungen vom Kapitalismus und vom Sozialismus eine ganz andere Bedeutung. Das trifft auch auf einen dritten wichtigen Topos der Gesellschaftstheorie zu: die Rolle der Märkte in einer sozialistischen Gesellschaft. In dieser Frage lassen sich die Implikationen des kannibalischen Kapitalismuskonzepts auf eine simple Formel bringen: keine Märkte oben, keine Märkte unten, aber möglicherweise einige Märkte dazwischen. Lassen Sie mich das erklären. Was ich mit „oben“ meine, ist die Verteilung des sozialen Überschusses. Angenommen, es gibt einen sozialen Überschuss zu verteilen, dann muss er als kollektiver Reichtum der Gesellschaft insgesamt betrachtet werden. Keine Privatperson, kein Unternehmen und kein Staat kann ihn besitzen oder das Recht haben, einseitig über ihn zu verfügen. Als wahrhaft kollektives Eigentum muss der Überschuss über kollektive Entscheidungs- und Planungsprozesse verteilt werden – eine Planung, die demokratisch organisiert werden kann und muss. Marktmechanismen sollten auf dieser Ebene keine Rolle spielen. Die Regel lautet: weder Märkte noch Privateigentum „at the top“. Dasselbe gilt für „unten“, womit ich die Ebene der Grundbedürfnisse meine: Unterkunft, Kleidung, Nahrung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Transport, Kommunikation, Energie, Freizeit, sauberes Wasser und saubere Luft zum Atmen. Es stimmt natürlich, dass wir nicht ein für alle Mal festlegen können, was genau als Grundbedürfnis gilt und was genau erforderlich ist, um es zu befriedigen. Auch das muss Gegenstand demokratischer Diskussionen, Auseinandersetzungen und Entscheidungen sein. Aber was auch immer dazu gezählt wird, muss als Rechtsanspruch bereitgestellt werden und nicht auf der Grundlage der individuellen Zahlungsfähigkeit. Das bedeutet, dass die Gebrauchswerte, die wir zur Befriedigung dieser Bedürfnisse produzieren, keine Waren sein können, sondern sie müssen öffentliche

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Kapitalismus als Kannibalismus 101 Güter sein. Das verweist übrigens auf einen entscheidenden Nachteil von Vorschlägen für ein universelles (oder bedingungsloses) Grundeinkommen hin, das vorsieht, den Menschen Geld zu überweisen, damit sie Dinge zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse kaufen können. Auf diese Weise wird die Befriedigung der Grundbedürfnisse nämlich als Ware behandelt. Eine sozialistische Gesellschaft sollte sie aber als öffentliche Güter betrachten. Es sollte an der Basis keine Märkte geben. Also keine Märkte unten oder oben. Aber was ist mit dem Dazwischen? Sozialistinnen sollten sich das Dazwischen als einen Raum vorstellen, in dem mit einer Mischung aus verschiedenen Möglichkeiten experimentiert werden kann: ein Raum, in dem Märkte einen Platz finden könnten, ebenso wie Genossenschaften, Commons, selbstorganisierte Assoziationen und selbstverwaltete Projekte. Viele traditionelle sozialistische Vorbehalte gegen Märkte würden sich in dem Kontext, den ich mir hier vorstelle, auflösen oder abschwächen, da ihre Funktionsweise weder die Dynamik der Kapitalakkumulation und der privaten Aneignung des gesellschaftlichen Überschusses befeuern noch davon verzerrt werden würde. Sobald der obere und der untere Bereich sozialisiert und dekommodifiziert sind, würden sich Funktion und Rolle der Märkte in der Mitte verändern. Dieses Vorhaben scheint klar genug, auch wenn wir jetzt noch nicht genau sagen können, wie es konkret umgesetzt werden soll. Viele solcher Ungewissheiten schreien nach Reflexion und Klärung durch diejenigen, die eine erweiterte Konzeption des Sozialismus für das 21. Jahrhundert entwickeln wollen. Gewiss, die von mir hier skizzierte Sichtweise ist eindeutig partiell und vorläufig. Sie befasst sich nur mit einer Teilmenge der dringlichsten und relevantesten Fragen und tut dies in einer Weise, die eingestandenermaßen sondierend ist. Dennoch hoffe ich, die Vorzüge dieser Herangehensweise an die Frage, was Sozialismus heute bedeuten sollte, aufgezeigt zu haben. Einer dieser Vorzüge ist die Aussicht, den Ökonomismus der gängigen Vorstellungen zu überwinden. Ein weiterer Vorteil ist die Möglichkeit, die Relevanz des Sozialismus für eine breite Palette aktueller Probleme aufzuzeigen, die über die der traditionellen Arbeiterbewegungen hinausgehen, nämlich soziale Reproduktion, struktureller Rassismus, Imperialismus, Entdemokratisierung und Klimawandel. Ein dritter Vorteil ist, dass sie ein neues Licht auf einige klassische Topoi des sozialistischen Denkens werfen kann, darunter institutionelle Grenzen, den sozialen Überschuss und die Rolle der Märkte. Darüber hinaus schließlich hoffe ich, etwas Einfacheres, aber Wichtigeres gezeigt zu haben: dass es sich lohnt, das sozialistische Projekt im 21. Jahrhundert weiterzuverfolgen; dass „Sozialismus“ kein bloßes Schlagwort oder Relikt der Geschichte bleiben muss, sondern der Name einer echten Alternative zu dem System werden kann, das derzeit den Planeten zerstört und unsere Chancen auf ein freies, demokratisches und gutes Leben zunichtemacht.

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Menschenleere oder: Die Politik der Ökologie Von Leander Scholz Our movement is called »Earth First!« not »People First!«. David Foreman

A

m 30. März 1898 hielt Wilhelm Wetekamp eine paradigmatische Rede im Preußischen Abgeordnetenhaus, die ihn zu einem Pionier des Naturschutzes in Deutschland machte. Bereits mehrfach hatte der liberale Politiker und Reformpädagoge versucht, den Parlamentariern und der Staatsregierung sein wichtiges Anliegen vorzutragen. Nun duldete es keinen Aufschub mehr. Denn mit jedem Tag, an dem die moderne Landwirtschaft den Ertrag der Böden steigerte, verschwanden weitere Teile der heimischen Flora und Fauna auf unwiederbringliche Weise. Die erfolgreiche Trockenlegung der Moore und die umfassende Flurbereinigung nahmen vielen Pflanzen und Tieren ihren existenziellen Lebensraum. An die Stelle der natürlichen Vielfalt der Landschaften trat eine gleichförmige Bodenkultur, geeignet für den massenhaften Anbau von nur wenigen Nutzpflanzen, ausgesät für die Ernährung großer Menschenmengen und ihrer zahlreichen Nutztiere. Mit der gnadenlosen Verödung der so kultivierten Natur ging ein Artensterben einher, dessen gravierende Folgen noch kaum absehbar waren. Aus diesem Grund forderte der engagierte Abgeordnete und frühe Naturschützer, radikaler vorzugehen, als das bei allen bisherigen Schutzgesetzen geschehen war: „Wenn etwas wirklich Gutes geschaffen werden soll, so wird nichts übrig bleiben, als gewisse Gebiete unseres Vaterlandes zu reservieren, ich möchte den Ausdruck gebrauchen: in ‚Staatsparks‘ umzuwandeln, allerdings nicht in Parks in dem Sinne, wie wir sie jetzt haben, das heißt einer künstlichen Nachahmung der Natur durch gärtnerische Anlagen, sondern um Gebiete, deren Hauptcharakteristikum ist, dass sie unantastbar sind.“1 Im Unterschied zu den Vorschriften, die bereits zur Begrenzung der Jagd und der Fischerei galten, sollte dieser Vorschlag die Verfügungsgewalt der Menschen in einem bestimmten Bezirk vollständig außer Kraft setzen. Beabsichtigt war weder eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Produktivität, wie das in der Forstwirtschaft schon länger gemacht wurde, noch ging es um den ästhetischen Genuss natürlicher Kunstwerke, wie im Fall der zahlreichen

1 Wilhelm Wetekamp, Rede am 30. März 1898. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 22. Dezember 1897 einberufenen beiden Häuser des Landtags, Haus der Abgeordneten, Dritter Band, Berlin 1898, S. 1959.

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104 Leander Scholz Parkanlagen adeliger und bürgerlicher Provenienz. Die „Staatsparks“ sollten allein der Erhaltung von vermeintlich unrentablen Bodenformen dienen und so zu „Zufluchtsorten“ für die Pflanzen und Tiere werden, die im ausgehenden Jahrhundert des Fortschritts und der großen Industrie keine Aussicht auf eine weitere Existenz hatten: „Man sieht, dass, wenn nicht künstlicher Schutz eintritt, es nicht möglich sein wird, unsere Tierwelt zu erhalten.“2 Daher müssten die neuen Parks „unantastbar“ sein und wie ein Heiligtum ihrer profanen Nutzung entzogen werden. Diese Auszeichnung beschreibt allerdings nicht nur ihre Funktion für die bedrohte Flora und Fauna, sondern macht sie zugleich zu einer Krypta der kommenden Ökologie und ihrer Politik. Mit ihnen ist der Kern einer neuen politischen Ordnung gegeben. Am 1. Oktober 1906 wurde als erste Naturschutzbehörde die Staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen eingerichtet.

Das ökologische Zeitalter Das ökologische Zeitalter beginnt also mit einem eigenwilligen Gründungsakt, in dessen Zentrum ein menschenleerer Bezirk steht. Aus diesem sind die Menschen ausgeschlossen, zum Schutz der Natur vor den Menschen und zum Schutz der Menschen vor sich selbst. Der homo sapiens, der fast die gesamte Erde besiedelt und zahlreiche Lebewesen aus ihrer ursprünglichen Heimat verdrängt hat, ist zu einer Gefahr für das Leben insgesamt und damit auch zu einer Gefahr für sich selbst geworden. Nicht mehr aus seiner Gestaltungsmacht erwächst die Rettung, sondern aus einer Natur ohne Menschen, die von den Menschen vor ihrer Vernichtung durch die Menschen bewahrt werden muss. Das Eigenwillige dieses Gründungsaktes besteht darin, dass dabei kein Mythos und kein Held, weder ein Gott noch ein homo magnus eine Rolle spielt, sondern ein solches Erschrecken der Menschen über sich selbst dazu führt, dass ihnen nichts anderes mehr übrig bleibt, als sich von sich selbst zu distanzieren. Weil gerade die Anstrengung, die Welt so einzurichten, dass sich darin gut leben lässt, diese Welt ruiniert hat, hilft es nichts, sich noch mehr anzustrengen. An die Stelle des Selbstvertrauens, mit dem die Menschen zum Maßstab der Dinge geworden sind, ist ein elementares Misstrauen gegen ihr eigenes Können getreten. Sich selbst aus dem Zentrum zu nehmen, wird von nun an eine Übung sein, die den Weg des Überlebens weist. Wie in den klassischen politischen Lehren der Neuzeit steht am Anfang des ökologischen Paradigmas und seiner Politik ein „Naturzustand“, den es allerdings nicht zu überwinden, sondern im Gegenteil zu erhalten gilt. Während der ehemalige status naturalis, aus dem die moderne Welt hervorgegangen ist, durch seine Unerträglichkeit gekennzeichnet war, herrscht in diesem Naturzustand eine Ordnung, die sich bereits genügt, die keiner Verbesserung bedarf und vor allem nicht des Menschen, um sie bewohnbar zu machen. Diese Natur muss nicht bezwungen und nicht kultiviert werden. 2 Ebd., S. 1959.

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Menschenleere oder: Die Politik der Ökologie

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Der Schrecken, der mit dem status naturalis der Neuzeit verbunden war, geht jetzt vom status civilis und seinen kulturellen Errungenschaften aus, vor denen der ökologische Naturzustand bewahrt werden muss. Die Ängste und Hoffnungen, die mit dem Übergang von einem bedrohlichen Naturzustand zu einem begehrten Kulturzustand verbunden waren, haben sich vollständig verkehrt. Der status naturalis und der status civilis haben ihre Plätze getauscht. Während für die klassischen politischen Lehren der Neuzeit die Menschen von Natur aus in ein grausames Chaos hineingeboren sind, das nur durch die Vermehrung anthropogener Macht gebändigt werden kann, verkörpert der neue Naturzustand eine Ordnung, die sich von selbst einstellt und die vor allem ohne Menschen auskommt. Der Naturschutz, der sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts um diese ökologische Ordnung bemüht, hat daher von Anfang an nicht allein ein praktisches, sondern auch ein epistemisches Ziel. Zwar sollen die „Staatsparks“ den bedrohten Lebewesen einen „Zufluchtsort“ bieten, aber der theoretische Raum, den sie eröffnen, richtet sich als Versprechen an die Welt der Menschen. Der Erhalt der heimischen Pflanzen und Tiere, „besonders auch für die Wissenschaft“,3 wird genau dann zu einer politischen Aufgabe, wenn die anthropologischen Gewissheiten in eine unumkehrbare Krise eingetreten sind und die Suche nach neuen Leitbildern begonnen hat.

Die Naturpolitik der Moderne Jede Politik ist im Kern eine Naturpolitik, die maßgeblich durch die Abgrenzung der belebten von der unbelebten Natur und die Aufteilung der Lebewesen bestimmt wird. Deren Status bemisst sich nach ihrem Anteil an der Politik, der ihnen gewährt wird, oder den sie von sich aus reklamieren. Selbst dann, wenn sich die Politik ausschließlich an die Menschen richtet, setzt sie zunächst einen Naturbezug voraus, der ihr diese Ausrichtung erst ermöglicht und ihr dadurch den konkreten Raum ihrer Existenz eröffnet. In der antiken europäischen Tradition des politischen Denkens ist die Unterscheidung zwischen dem Leben auf dem Land und dem in der Stadt bereits vorausgesetzt. Das Verständnis der pólis als Öffentlichkeit und Quelle demokratischer Politik kann es allerdings nur geben, weil sich schon eine demografische Dichte des menschlichen Zusammenlebens herausgebildet hat, die sich von anderen existierenden Aufteilungen der Lebewesen abhebt. Nicht das verstreute Leben auf dem Land mit seinen bindenden Rhythmen, sondern die Autarkie der Stadt, umgeben von einer bewirtschafteten Natur, bildet den Raum des antiken politischen Denkens, in dem die Bürger ein gelungenes Leben in der Gemeinschaft mit anderen führen können. Nur in diesem Raum kann sich die menschliche Freiheit angemessen entfalten, eingebettet in die Ewigkeit einer Natur, die als sinnvoll erlebt wird und mit erkennbaren Zwecken ausgestattet ist, weil sie es dem Menschen erlaubt, seine wahre Bestimmung zu finden. 3 Ebd., S. 1959.

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106 Leander Scholz Diese Auffassung hat sich in der Neuzeit grundsätzlich gewandelt. Die moderne Wissenschaft von der Natur hat nichts mehr mit der alten theoˉría zu tun. Was einmal eine unvergängliche Ordnung war, deren Erkenntnis den Menschen ihren Platz anweist, ist zu einem Objekt geworden, das es zu explizieren und zu manipulieren gilt. In den Dingen liegt keine Wahrheit mehr verborgen, sondern die praktische Potenz einer grenzenlosen Verfügung über ihr Dasein. Die Bestimmung des Menschen besteht jetzt allein in seiner Gestaltungsmacht. An die Stelle der pólis ist die Gesellschaft getreten, die sich selbst produziert und für die alles andere bloß ein Mittel ihrer eigenen Produktion ist. Mit der modernen Emanzipation der Menschen hat sich daher zugleich ein Abgrund aufgetan, in dem die Menschen sich selbst ausgeliefert sind: „Wenn es keinen höheren Maßstab mehr gibt als das Ideal unserer Gesellschaft, dann sind wir vollkommen außerstande, kritischen Abstand von diesem Ideal zu gewinnen.“4 Aus einem Verständnis von Politik, das sich an ewigen Wahrheiten orientiert, ist eine fundamental historische Welt geworden, die das überzeitliche Naturrecht durch ein positives Recht ersetzt. Von jetzt an ist allein der menschliche Gesetzgeber die Quelle allen Rechts. Mit der Entdeckung der Geschichte erscheint nun prinzipiell alles als variabel und historisch relativ. Die Wahrheit der Welt ist zu ihrer Machbarkeit geworden, in deren Possibilität die Menschen mit sich allein und ungeschützt vor sich selbst sind. Die moderne Ordnung ist eine Ordnung des Nullpunkts. Sie ist nicht mehr gerahmt durch eine Natur, die bis dahin das Vorbild einer menschlichen Nachahmung abgegeben hat. Im Gegenteil, wo die natürlichen Vorgaben am geringsten sind, da erweist sich die menschliche Gestaltungsmacht am größten. Der Nullpunkt ist dort gegeben, wo das „Minimum an ontologischer Disposition“ zugleich das „Maximum an konstruktiver Potentialität“5 freisetzt. Der Mensch wirkt jetzt wie ein selbständiger Schöpfer im großen Maßstab, der seine Werke analog zum Gott der Genesis aus dem Nichts erschafft. Um das tun zu können, muss alles, was bislang Bedeutung hatte, in Zweifel gezogen werden. Erkenntnis besteht nicht mehr in einer Übereinstimmung von Denken und Sein, bei der die menschliche Welt als Abbild einer kosmologischen Ordnung erscheint. Zum Ausgangspunkt aller Konstruktionen der modernen Gesellschaft wird eine anthropologische Sonderstellung, die die Menschen zur gleichen Herrschaft über die Lebewesen befähigt wie über die Gegenstände. Der neue Geist sieht sich in einem Gegensatz zur Natur, aus der er sich herausarbeiten muss, bis er bei sich selbst angekommen ist. Seine bevorzugten Wohnstätten sind die Metropolen des Welthandels, von denen aus er die gesamte Erde erobert und kolonisiert. Das Projekt der Moderne verdankt sich dabei keiner Entscheidung, sondern einer Katastrophe der Wahrheit. Denn erst mit den konfessionellen Bürgerkriegen am Beginn der Neuzeit ist die Gewissheit untergegangen, dass sich das Gemeinwesen einfügt in ein Weltganzes, in dem auch die Menschen ihren berechtigten Platz haben. Die Erfahrung eines endlosen Krieges 4 Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, Frankfurt a. M. 1977, S. 5. 5 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1999, S. 251.

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Menschenleere oder: Die Politik der Ökologie

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aller gegen alle zwingt zur Loslösung von allen kosmologischen Bindungen. Deren Verlässlichkeit ist in eine Vielzahl von widerstreitenden Überzeugungen zerfallen, auf die sich zu berufen den konfessionellen Konflikt nur weiter anheizt: „Die Gewissensinstanz, anstatt eine causa pacis zu sein, ist in ihrer subjektiven Pluralität eine ausgesprochene causa belli civilis.“6

Die Katastrophe der Wahrheit Die Menschen erscheinen nun von Natur aus in den Krieg hineingeworfen, bestimmt durch eine ständige Angst und ihr Verlangen nach Macht. Diese Natur bietet ihnen keine Heimat mehr, sondern ist grausam und mangelhaft. Als Prämisse der Moderne weist sie aber zugleich den Weg ihrer Überwindung. Weil der Streit ursprünglich und unlösbar ist, können sich die Menschen nicht mehr als animal sociale verstehen, sondern müssen die Zuversicht in ihr Zusammenleben selbst hervorbringen. Garantiert werden kann sie nur durch eine souveräne Gewalt, die sich absolut setzt und alle anderen Quellen politischer Legitimation verschließt. Das zukünftige Wohlergehen beruht auf einer Suspendierung der Wahrheit, an deren Stelle das geschichtsphilosophische Paradigma menschlicher Selbstverwirklichung tritt. Aus diesem neuen Absolutismus erwächst die moderne Demokratie. Der historische Akt, der die Menschheit zu einem erhabenen Subjekt macht, entzieht allen anderen Lebewesen ihren Anteil an der Welt. Ohne die neuzeitliche Naturpolitik wären die revolutionären Ereignisse der Moderne nicht möglich gewesen. Deren Radikalität liegt in dem Versuch, das Gemeinwesen wie ein Werk zu betrachten, das sich vollständig neugestalten lässt. Im Unterschied zu früheren Gründungsakten sind an den modernen keine anderen Lebewesen mehr beteiligt, weder reale noch fiktive. Ihre Konstruktionen sollen von aller alten Metaphysik gereinigt sein. Ihre Rationalität versteht sich als transparent und für alle Menschen zugänglich. Mit ihnen soll die dunkle Vergangenheit, in der auch andere als menschliche Kräfte das Schicksal bestimmt haben, zurückgelassen und ein neuer Anfang gemacht werden, bei dem die Menschen ganz bei sich sind. Ihre politischen Stiftungen ereignen sich „unter den Augen der Zeitgenossen“, für alle einsichtig und „bar aller Geheimnisse“,7 im Gegensatz zu den Gründungslegenden früherer Zeiten. In der Moderne kann das Schicksal in die eigene Hand genommen werden, weil es exklusiv als das eigene erscheint. Diese Planbarkeit der Gesellschaft gilt ebenso für den Naturbezug. Für den Fortschritt wird alles andere zur Ressource. Die Zerstörung der Natur setzt nicht erst mit der Industrialisierung ein, ihre Entwertung im Verhältnis zur menschlichen Freiheit ist bereits vollzogen, lange bevor zahlreiche Pflanzen und Tiere für immer von der Erde verschwunden sind. Mit diesem Verlust beginnt jedoch nicht nur das ökologische Schicksal des homo sapiens, son6 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1973, S. 22. 7 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1986, S. 263.

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108 Leander Scholz dern offenbart sich zugleich eine anthropologische Krise, die den menschlichen Maßstab prinzipiell infrage stellt.

Das ökologische Schicksal Der Naturbezug der Moderne, der den Menschen ihre Autonomie gestattet hat, wird im 19. Jahrhundert zu ihrem Verhängnis. Aus der demografischen Dichte geht das politische Drama der Überbevölkerung hervor. In den europäischen Metropolen entstehen ganze Elendsviertel, die den Gesellschaftskörper mit einer wachsenden Unruhe heimsuchen. Erstmals erscheint es als denkbar, dass der Naturhaushalt grundsätzlich von der schieren Menge der Menschen überfordert ist. Wiederkehrende Hungersnöte und Wellen der Auswanderung kulminieren im Gefühl einer kommenden Katastrophe. Angesichts der realen und imaginierten Folgen des Pauperismus mehren sich die Zweifel, ob es mit den verfügbaren Subsistenzmitteln überhaupt noch möglich sein wird, die Menschen dauerhaft zu ernähren. Um den sozialen Fortschritt verlässlich zu sichern, bleibt nichts anderes übrig, als die technische Innovation massiv voranzutreiben. Das gleiche gilt für die Bewirtschaftung der Natur. Aus der Emanzipation von der Natur wird die Notwendigkeit, ihre Produktivität immer mehr zu forcieren. Dieses Programm setzt sich in allen politischen Lagern durch. Die Kosten des sozialen Friedens werden externalisiert. Von nun an ist der ökologische Widerspruch zwischen einer prosperierenden Ökonomie und dem Haushalt der Natur nicht mehr zu beseitigen. Auch in theoretischer Hinsicht wird die vorausgesetzte Natur unzuverlässig. Mit den neuen Einsichten in die Evolution verschwindet die Hierarchie der Lebewesen ebenso wie die Sonderstellung der Menschen. Aus der klassischen Naturgeschichte wird eine Geschichte der Natur, in der die Lebewesen existenziell auftauchen und wieder verschwinden können. Das Wissen um die Prinzipien der Evolution vertreibt alle aufklärerischen Hoffnungen auf eine Humanisierung der Natur im großen Stil. Wenn sich die neue Naturgeschichte dem Zusammenspiel von Zufällen und Anpassungsleistungen verdankt, dann gilt das auch für die Menschen, denen ebenfalls wie allen anderen Lebewesen keine Ewigkeitsgarantie mehr gegeben ist. Auf diesen metaphysischen Schock reagieren phantasmatische Planungen im Zeichen eines Sozialdarwinismus, um die Herrschaft über das eigene Schicksal zurückzuerlangen. Aus der menschlichen Natur wird eine „Verstaatlichung des Biologischen“8, die das Leben der Bevölkerung zum Gegenstand umfassender politischer Maßnahmen macht. Rassenideologien sollen sicherstellen, dass die europäische Menschheit nicht im kontingenten Strudel der Evolution untergeht. Sie bilden die Vorgeschichte der grausamen Genozide des 20. Jahrhunderts und verweisen auf die gleiche Logik, mit der bereits die Auslöschung ganzer Populationen in der Tierwelt und der Pflanzenwelt 8 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2001, S. 282.

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gerechtfertigt wurde. Aus der modernen Selbstbehauptung ist längst ein kollektiver Zwang geworden.

Das Naturrecht der Ökologie Die Karriere des ökologischen Wissens im 20. Jahrhundert ist nicht nur einer Krise der Lebensgrundlagen geschuldet, in die sich die moderne Gesellschaft immer tiefer verstrickt. Nach zwei Weltkriegen und einer humanitären Katastrophe größten Ausmaßes sind zudem die anthropologischen Fundamente nicht mehr fraglos gegeben. Die Emphase, die mit der Entdeckung der Geschichte verbunden war, ist dem Gefühl ihres Endes gewichen. Unter den Bedingungen des posthistoire muss die Zukunft aus anderen Quellen geschöpft werden. Von den traditionellen politischen Positionen ist kein radikal Imaginäres mehr zu erwarten. Mit dem ökologischen Thema ist jedoch eine neue Größe in das Feld der Auseinandersetzungen eingetreten, die sich nur unzureichend mit der Zuständigkeit einer Umweltpolitik erfassen lässt. Auch wenn der Umweltschutz vorrangig zum Staatsziel wird, um die etablierte Lebensweise trotz ihrer Verheerungen nicht aufgeben zu müssen, verändert sich damit die menschliche Autonomie von Grund auf. Immer mehr natürliche Faktoren werden zu politischen und zwingen die Menschen, die Existenz anderer Lebewesen in ihre Planungen einzubeziehen. Die menschlichen Anstrengungen können nicht mehr allein der Verfügbarkeit der Welt gelten, sondern müssen sich nun auch der Sorge um ihren Fortbestand widmen. Dazu muss die humane Sicht zugunsten einer posthumanen überschritten werden. Das geschieht vor allem mittels einer Kritik des modernen Subjekts: „Mit jeder Tatsache, die es findet, hat sich das findende Ich in die geurteilte Welt hinausverlegt. Die Objekte sind entfremdete Subjekte, und das Sein überhaupt ist entfremdeter Geist.“9 So entsteht anstelle des modernen Anthropozentrismus ein Biozentrismus als Grundlage einer ökologischen Ethik. In deren Rahmen beschreibt die nichtmenschliche Sicht auf die menschlichen Angelegenheiten den Ursprung einer neuen Wahrheit. Nicht die Linien des Globus, die durch die weltweiten Ströme aus Menschen und Dingen gezeichnet werden, bilden daher den Horizont einer ökologischen Gesellschaft, sondern die Erde mit ihrer Biosphäre, die durch die Expansion der Menschen einer potenziellen Verwüstung ausgesetzt ist. Die kolonialen Landnahmen seit der Entdeckung der Neuen Welt am Beginn der Neuzeit waren angetrieben von der Vorstellung eines rechtsfreien Raums, den es anzueignen und aufzuteilen galt. Zur unzivilisierten Natur gehörten dabei auch ihre Bewohner, egal ob Menschen oder Tiere. Daher konnte sich die enorme Gewalt der Eroberer problemlos mit der hohen Mission der Menschenrechte vertragen. Auch die Idee einer Weltgesellschaft nach dem Ende der Kolonialordnung wurde noch vom parallelen Projekt eines Universalismus und einer Unterwerfung getragen. Aus diesem Grund versteht 9 Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Bonn 1981, S. 121.

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110 Leander Scholz sich die Anrufung der Erde zugleich als Kritik der Globalisierung, mit der die natürliche und kulturelle Vielfalt zunehmend verschwindet. Aus ökologischer Sicht erscheinen die Menschen stets eingebunden in einen Bioregionalismus. Ihre Existenz lässt sich nicht unabhängig von der Existenz anderer Lebewesen erfassen. Jedes Lebewesen lebt mit bestimmten anderen Lebewesen zusammen, an einem bestimmten Ort und unter bestimmten Bedingungen. Verbunden sind die Menschen nicht durch ein anthropologisch Allgemeines, sondern aufgrund ihrer ökologischen Koexistenz mit anderen Lebewesen. Deren notwendiger Lebensraum setzt der menschlichen Expansion ihre Grenzen. Weil sich die ökologische Krise nur in einer Anstrengung weltweiter Kooperation bewältigen lässt, bildet die Erde mit ihren pluralen Lebenswelten nun den Ausgangspunkt eines neuen Allgemeinen. Aus diesem Grund muss das Menschenrecht durch ein Naturrecht ersetzt werden, das dem ökologischen Komplex aus natürlichen und politischen Faktoren gerecht wird.

Die Ökologisierung der Gesellschaft Im Zuge der neuzeitlichen Ablösung des politischen Raums von seinen kosmologischen Vorgaben ist aus dem höchsten Gut eines Weltganzen das Maximum menschlicher Begierden geworden. Mit der Entdeckung der Absolutheit der Freiheit wurde zugleich ein prinzipiell unbegrenzter Appetit freigesetzt. An die Stelle der Einbettung aller Handlungen in den Rahmen einer übergeordneten Natur trat das Konzept einer menschlichen Natur, die allein durch die Dynamik des Begehrens bestimmt ist. Damit der neue Egoismus der Einzelnen das Gemeinwesen nicht zerstört, sondern ihm möglichst zuarbeitet, wurde es nötig, eine neue politische Regulation der Leidenschaften zu finden: „Seit dem Ende des Mittelalters und vor allem im Gefolge der immer häufigeren Kriege und Bürgerkriege im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert suchte man nach einem Äquivalent für die religiösen Gebote, nach neuen Verhaltensorientierungen und nach Vorkehrungen, die den Herrschenden wie den Beherrschten die so dringlich benötigte Disziplin und Beschränkung auferlegen sollten; und die Ausbreitung von Handel und Wirtschaft schien hierfür recht verheißungsvoll.“10 Mit der Geburt des modernen Subjekts ist auch der homo oeconomicus zur Welt gekommen, der die Übersetzung von Feindschaft in Konkurrenz gewährleisten sollte. Seitdem ist der politische an den ökonomischen Liberalismus gebunden. Ihre Symbiose ermöglicht zwar den sozialen Frieden, aber sie blockiert die Bewältigung der ökologischen Krise. Denn angesichts des Umstands, dass die ökonomischen Imperative den Haushalt der Natur schwerwiegend schädigen, muss die erfolgreiche Ökonomisierung der Gesellschaft in eine Ökologisierung überführt werden. An die Stelle der ökonomischen Regulierung der Leidenschaften tritt dann ihre ökologische 10 Albert Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründung des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a. M. 1987, S. 138.

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Menschenleere oder: Die Politik der Ökologie

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Einhegung. Auf diese Weise wird aus der liberalen Wirtschaftsordnung eine Bioökonomie, in deren Mittelpunkt nicht mehr allein die menschliche Produktivität steht, sondern die aller Lebewesen. Entscheidend ist von jetzt an der Kreislauf der gesamten Biosphäre. Dessen ökologische Formierung des Begehrens stellt zugleich die Quelle eines neuen Liberalismus dar, bei dem die Bindung der menschlichen an die menschenleere Welt eine Entlastung der Menschen von sich selbst bedeutet. Im Unterschied zu den zahlreichen Aufrufen, zur Natur zurückzukehren, die in wiederkehrenden Wellen die moderne Gesellschaft durchzogen haben, handelt es sich bei ihrer Ökologisierung nicht um die Wiederherstellung einer vormodernen Naturpolitik. Denn die historische Genese des ökologischen Wissens fällt zusammen mit der Verabschiedung einer natürlichen Ordnung, in der die Lebewesen ihre festen Plätze haben. Während die klassische Naturgeschichte auf einer stabilen Taxonomie basierte, geht das ökologische Wissen von einem Gleichgewicht aus, das sich unter verändernden Bedingungen stets neu einfinden muss. An die Stelle von fixen Entitäten treten die Abhängigkeiten der Lebewesen von ihrer Umgebung und voneinander. Das ökologische Wissen hat es daher von Anfang an mit komplexen Beziehungen und ihren zahllosen Interdependenzen zu tun. Aus diesem Grund ist das ökologische Wissen auch für die moderne Gesellschaft attraktiv und ihre Ökologisierung überhaupt möglich. Weil Gesellschaft und Natur in ihrer Komplexität korrespondieren, lassen sich die ökologischen Prinzipien ebenfalls auf die Gesellschaft übertragen. Eine ökologische Politik umfasst nicht nur die Beziehung zur Natur, sondern auch die Gesellschaft selbst, die sich wie eine Natur aus ökologischer Perspektive betrachten und regulieren lässt: „Was für die Spezies gilt, die in einem Wald zusammenleben, gilt auch für die Gruppierungen und Arten von Menschen in einer Gesellschaft, die sich in einem ähnlich unsicheren Gleichgewicht von Abhängigkeit und Konkurrenz befinden.“11 Auf diese Weise wird aus der natürlichen Biodiversität eine soziale Diversität, die ebenfalls an Modellen des Gleichgewichts orientiert ist. Auch wenn das ökologische Wissen anhand der Krise der Lebensgrundlagen gewonnen wurde, besteht seine Wirksamkeit darin, dass es sich generalisieren lässt und zur Lösung solcher politischen Probleme beitragen kann, die sich mit den klassischen Konzepten nicht mehr bewältigen lassen. Aus dem menschenleeren Bezirk zu Beginn des ökologischen Zeitalters ist längst ein neues Leitbild geworden, dessen ethisch-politische Orientierung nicht mehr dem modernen Motiv menschlicher Autonomie geschuldet ist.

Jenseits des Humanismus Der neuzeitliche Humanismus hat über Jahrhunderte die westliche Zivilisation geprägt. Alle maßgeblichen philosophischen und politischen Pro11 Gregory Bateson, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt a. M. 1985, S. 555.

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112 Leander Scholz gramme der Moderne beruhen auf seinen Grundannahmen. Mit der Krise der Lebensgrundlagen erscheint der Mensch zum ersten Mal nicht als Lösung, sondern als Problem. In dieser Konstellation ist das ökologische Wissen entstanden, das es mit einer eigenständigen Ordnung zu tun hat, die nicht von den Menschen erschaffen wurde und als deren Teil sie erscheinen. Da es sich nicht dem Humanismus, sondern seinen Folgeproblemen zu verdanken hat, ist es dem ökologischen Wissen möglich, ein neues Selbstverständnis der menschlichen Gesellschaft hervorzubringen: „Auch wenn wir die Gesellschaft durch und durch konstruieren, dauert sie, übersteigt sie uns, beherrscht sie uns, hat sie ihre Gesetze, ist sie ebenso transzendent wie die Natur.“12 Im Unterschied zum klassischen Verständnis von Politik basiert der ökologische deˉmos prinzipiell auf einer Vielzahl unterschiedlicher Lebewesen, die sich nicht versammeln lassen, um ihre Stimmen abzugeben, aber dennoch ihren zunehmenden Anteil an der Politik haben. Das Nichtmenschliche zu denken, könnte daher für die Menschen existenziell wichtig sein. 12 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, S. 52.

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Im Supermarkt: Verbrauchertäuschung per Gesetz Von Thilo Bode

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upermärkte sind für uns Verbraucher eine Art zweites Wohnzimmer: Weit über 200 Mal im Jahr kauft ein Haushalt durchschnittlich im Lebensmitteleinzelhandel ein; drei Viertel der Menschen geben an, dass sie ihren angestammten Lebensmittelladen ein- bis viermal in der Woche aufsuchen, zwölf Prozent halten sich dort sogar „fast täglich“ auf. Doch so alltäglich der Gang zu Aldi & Co., so vertraut dort die Wege vom Obst und Gemüse zu den Milchprodukten und Getränken, so skeptisch blicken wir darauf, was wir aus den Regalen nehmen und am Ende jedes Supermarktgangs vom Einkaufswagen aufs Kassenband legen. Das ist nicht meine Privatthese, sondern gesichertes Wissen unter Marktforscherinnen. Der Aussage „Es ist für den Verbraucher sehr schwierig, die Qualität von Lebensmitteln richtig beurteilen zu können“, stimmten bei einer Befragung von 30 000 Haushalten 81 Prozent zu, weitere 14 Prozent waren unentschieden, und nur knapp fünf Prozent befanden ihr Orientierungsvermögen in Sachen Lebensmittelqualität für gut. Welch katastrophaler Befund: Mehr als vier von fünf Verbraucherinnen können die Qualität ihrer Lebensmittel nicht richtig einschätzen! Profunde Kenntnis über Lebensmittel kann unsere Einkäufe gar nicht leiten. Denn wir wissen nicht wirklich, was drin ist in den Lebensmitteln. Wie sie hergestellt wurden. Ob sie Pestizide enthalten. Wo die Ware genau herkommt. Wie ihre Klima- und ihre „soziale Bilanz“ aussehen. Was die Zusatzstoffe bewirken. Und weil wir all diese qualitätsbildenden Parameter nicht oder nur schemenhaft erkennen können, wissen wir auch nicht, ob das Produkt im Vergleich zu einem anderen seinen Preis wert ist. Wir wissen so wenig und sind gezwungen, einfach zu vertrauen. Wir sind nicht die souveränen Marktteilnehmer auf Augenhöhe, die über eine wirkliche „Wahlfreiheit“ verfügen, und auch nicht diejenigen, die durch ihre Nachfrage eine Art „Volksabstimmung an der Kasse“ (O-Ton Rewe-Sprecher) abhalten. Wenn Verbraucherinnen und Verbraucher die Qualität von Lebensmitteln nicht erkennen können, ist es nur rational, dass sie zu den billigeren Produkten greifen. Zwar ist der Preis kein Indikator für Qualität, aber er ist der letzte verbliebene Parameter, der das Bedürfnis nach Orientierung bedient: Man * Der Beitrag basiert auf dem aktuellen Buch des Autors unter Mitarbeit von Stefan Scheytt: „Der Supermarkt-Kompass. Informiert einkaufen, was wir essen“, das soeben im S. Fischer Verlag erschienen ist.

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114 Thilo Bode weiß wenigstens, dass man günstig einkauft, der Rest ist so oder so Lotterie. Jeder hat die Erfahrung schon oft gemacht: Billig ist nicht automatisch schlecht und teuer längst nicht immer gut. Die Produkte bei Discountern wie Aldi oder Penny sind qualitativ nicht minderwertiger als die Lebensmittel bei Vollsortimentern wie Edeka oder Rewe, in manchen Bereichen sind die Discounter sogar besser, weil sie mit ihrem hohen Anteil an Eigenmarken aus Angst vor Reputationsverlust strenge interne Sicherheitssysteme installiert haben. Was nichts daran ändert, dass man auch im Discounter in Sachen Qualität meist blind zu den Waren greifen muss – nur eben günstiger. Angesichts hoher Inflationsraten ist das unbestreitbar ein großer Vorteil. Erschwingliche Lebensmittel für jeden sind eine große soziale Errungenschaft. Jeder wird hierzulande satt; ein Schnitzel oder eine Papaya aus Thailand sind keine Luxusprodukte mehr. Gemüse und Obst sind zwar im Vergleich zu Fleisch relativ teuer, aber noch können sich die meisten Menschen bei uns eine ausgewogene Ernährung leisten, auch wenn erste Anzeichen einer „Ernährungsarmut“ schon zu beobachten sind – mehr als zwei Millionen Kunden bei den Tafeln sprechen Bände. Inakzeptabel ist allerdings, das niedrige Preisniveau als Rechtfertigung für Täuschung und Gesundheitsrisiken zu instrumentalisieren nach dem Motto: Wer so wenig fürs Essen auszugeben bereit ist, darf sich nicht wundern und schon gar nicht beklagen, wenn die Lasagne eben mal Pferdefleisch statt Rindfleisch enthält oder dass Pestizide in Obst und Gemüse allgegenwärtig sind. Wer so argumentiert, verhöhnt fundamentale Verbraucherrechte. Ganz abgesehen davon: Die Forderung nach Transparenz und Gesundheitsschutz im Lebensmittelmarkt darf nicht gegen die Forderung nach bezahlbaren Lebensmitteln ausgespielt werden. Niemand soll niedrige Preise gegen das Recht eintauschen müssen, einwandfreie Lebensmittel und transparente Informationen über deren Qualität, Herkunft und sonstige Eigenschaften erwarten zu können. Grundrechte wie Gesundheitsschutz sind keine Verhandlungsmasse. Vielmehr muss gelten: Gerade im reichen Europa müssen sich alle Menschen gesunde Lebensmittel leisten können, die nicht auf Kosten von anderen Menschen, der Natur und Tieren hergestellt worden sind. Das ist bedauerlicherweise nicht der Fall, weder in der Welt noch in Europa.

Regeln steuern den Markt, nicht die Verbraucher Aber wie konnte es bei uns überhaupt so weit kommen? Die Entwicklung ist kein Zufall, und ich bestreite vehement die These, die Verhältnisse im Supermarkt seien die Folge unseres Einkaufsverhaltens. Nichts ist falscher als diese Idee. Es sind die Regeln, die den (Super-)Markt formen, nicht der Inhalt unserer Einkaufswagen. Dass wir heute ein Oligopol aus den vier Lebensmittelgiganten Aldi, Lidl, Rewe und Edeka haben, die 85 Prozent des Marktes beherrschen, liegt nicht an unserer Ablehnung von „Tante Emma“, sondern ist vor allem das Resultat wettbewerbsrechtlicher Regeln, die diese

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Im Supermarkt: Verbrauchertäuschung per Gesetz 115 Konzentration nicht verhindert, sondern begünstigt haben. Dass wir heute sehr viele Angaben auf Lebensmittelverpackungen nicht verstehen und andere dort überhaupt nicht finden oder dass wir Gesundheitsgefährdungen in Kauf nehmen müssen, ist keine Folge übertriebener deutscher Sparsamkeit, sondern europäischer und deutscher Gesetzgebung. Hierzulande gibt es auf Zehntausenden Seiten derzeit mehr als 700 lebensmittelrechtlich relevante Gesetze, Verordnungen nebst Anlagen und Ausführungsbestimmungen der EU, des Bundes und der Länder, und die Frage ist, wem sie nützen. Diese Regeln sind nicht für uns Verbraucher gemacht, sondern dienen den Interessen der Herstellerinnen und Händler. Wer das bezweifelt, sollte – pars pro toto – die 128 Seiten starke Olivenölverordnung lesen und sich dann die Frage stellen, warum selbst derart detaillierte Vorgaben nicht dazu führen, dass Olivenöle der nominell höchsten Güteklasse („nativ extra“) auch wirklich exzellente Öle sind. Die Antwort: Weil es so gewollt ist. Am Beispiel Olivenöl kann man auch gut nachvollziehen, warum es irrig ist, zu glauben, wir könnten mit unserem Einkaufsverhalten den Markt in Richtung besserer Qualität beeinflussen: Solange die Regeln so sind, wie sie sind, ist es völlig irrelevant, ob ein paar qualitätsaffine Verbraucherinnen öfter Olivenöl x oder y nachfragen in der Erwartung, dadurch ein Signal an die Hersteller und Händlerinnen zu senden; solange die Regeln sind, wie sie sind, wird die Lebensmittelwirtschaft die Spielräume der Olivenölverordnung zu ihren Gunsten nutzen, und das heißt: ein Produkt anbieten, das der Verbraucher nicht durchschauen kann.

Verantwortung ohne Haftung Das Prinzip der ohnmächtigen Verbraucherin lässt sich fast beliebig durchs Lebensmittelsortiment deklinieren: Wenn Sie sich Ihre Brötchen nicht mehr aus den Selbstbedienungsfächern der Discounter fischen, sondern beim „kleinen“ Regionalbäcker holen, bekommen Sie mit größter Wahrscheinlichkeit unverändert Backwaren mit undeklarierten Zutaten – weil es das europäische Lebensmittelrecht hergibt. Wenn Sie nur noch Bio-Milch und Bio-Fleisch kaufen, ist das ein ehrenwertes Ansinnen, ändert aber nichts an der Tatsache, dass Tiere auch bei Bio-Bauern unnötig leiden können, weil die Regeln an Parametern wie der Stallgröße ansetzen und nicht danach ausgerichtet werden, ob die Tiere tatsächlich seltener krank sind. Nein, Gesundheitsdaten werden erst gar nicht systematisch erhoben. Sinnlos sind moralische Appelle oder Schuldzuweisungen an Verbraucherinnen und Konzerne. Beide sind weder „schlecht“ noch „gut“, sondern verhalten sich so, wie es die staatlich gesetzten Rahmenbedingungen vorgeben. Weder können sich Verbraucherinnen eine andere Landwirtschaft oder andere Lebensmittelsortimente „herbeikaufen“ noch können Supermärkte aus dem System ausbrechen oder es von innen heraus reformieren, indem sie plötzlich entgegen den Regeln völlig transparent informieren, etwa über den Pestizidgehalt ihrer Äpfel, über die Arbeitsbedingungen von Erntehelfern, über die system-

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116 Thilo Bode bedingten „Produktionskrankheiten“ bei Milchkühen und Masthühnern, über die gesundheitlichen Risiken für Kinder durch unausgewogene Lebensmittel, über die Treibhausgasemissionen von Tierfutter für die Rindermast. Ein Supermarkt, der all diese Informationen preisgäbe, während die Konkurrenz weitermachte wie bisher, wäre bald vom Markt verschwunden. Und während sich die realen Verhältnisse der Lebensmittelerzeugung in den Ställen und auf den Feldern nicht verbessern oder sogar verschlechtern, kann man seit Jahren einen regelrechten Überbietungswettbewerb der Handelsriesen in Sachen Nachhaltigkeit beobachten. Gelegentlich kann man sogar den Eindruck gewinnen, die Rettung der Meere, der Artenvielfalt, des Klimas, der Regenwälder, der Böden oder der regionalen Versorgungsstrukturen wäre der eigentliche Geschäftszweck der Konzerne. Doch es gibt allen Grund, diesen Nachhaltigkeitsorgien zu misstrauen. Sie sind durchsichtige Manöver, die davon ablenken sollen, dass die Konzerne ihre eigentliche Aufgabe nicht erfüllen, nämlich uns Kunden ein in Qualität und Preis vielfältiges Lebensmittelangebot zu machen, aus dem wir gut informiert unsere eigene Wahl treffen können. Tatsächlich kostet die Verantwortungsübernahme die Handelsunternehmen nichts oder nicht sehr viel, siehe Rewes angeblich klimaneutrales Hähnchenbrustfilet oder die Ankündigung von Lidl, bis 2025 bei den Eigenmarken nur noch solche Produkte in Kinderoptik (das heißt mit Comic-, Tierfiguren und anderen Anreizen) anbieten zu wollen, die nach dem Nährwertprofil der Weltgesundheitsorganisation für Kinder geeignet sind. Die Maßnahme klingt viel größer, als sie ist: Denn erstens können die Produkte im Sortiment bleiben, nur eben ohne spezifische Kinderoptik; und zweitens behält sich Lidl Ausnahmen von der Regel vor, und zwar bei Aktionsartikeln zu Weihnachten, Ostern und Halloween, also immer dann, wenn diese Produkte besonders nachgefragt werden. So alltäglich Nachhaltigkeitsinitiativen im Wettbewerb der „Big Four“ inzwischen sind, so wenig prägen sie tatsächlich ihr Geschäftsmodell. Dieses basiert darauf, Produkte mit der höchstmöglichen Rendite möglichst schnell auf möglichst geringem Raum umzuschlagen. Dafür müssen möglichst viele Waren durch entsprechende Phantasiebezeichnungen eine sehr gute Qualität suggerieren. Ihre Preise repräsentieren folglich weniger die Qualitätsunterschiede als die für die Renditemaximierung notwendige Mischkalkulation. Echte Qualitätsdifferenzierung hieße hingegen: mehr Platzbedarf, langsamerer Umschlag, höhere Transport-, Lager- und Verwaltungskosten. Und all das drückt auf die Rendite. Im Kern wird dieses Geschäftsmodell durch den gesetzlichen Rahmen des europäischen Lebensmittelrechts determiniert, in dem Nachhaltigkeit kaum eine Rolle spielt. Und jeder Konzern und jeder kleine Einzelhändler schöpft diesen Rahmen aus, so weit es eben geht. Der naheliegende Schluss lautet deshalb: Wer den Lebensmittelmarkt wirklich verändern will, muss die Spielregeln ändern. Wer qualitativ bessere Produkte in den Supermärkten sehen will – gesündere, weniger klimaschädliche, weniger Tierleid erzeugende, sozialverträglichere Lebensmittel –, braucht dafür schlicht andere, bessere Gesetze. Gesetze, die im Interesse von uns Konsumentinnen, der Umwelt,

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Im Supermarkt: Verbrauchertäuschung per Gesetz 117 anderer Menschen und der Tiere sind. Wissenschaftlich und empirisch ist es längst vielfach belegt: Beim Schutz von Allgemeingütern wie einer intakten Umwelt oder hohen Tierschutzstandards agiert die große Mehrheit der Verbraucher ebenso wie jeder Handelskonzern oder jede Landwirtin als „Trittbrettfahrer“ nach dem rationalen Grundsatz: „Wenn ich als Einziger oder mit nur wenigen anderen Mitstreiterinnen teures Fleisch oder teure Eier von gut behandelten Tieren produziere / verkaufe / kaufe, während viele andere das nicht tun, bin ich der Dumme und im Nachteil.“ Dass sich Aldi, Rewe, Lidl oder Edeka inmitten eines erbitterten Preiswettbewerbs nicht als einzelne Unternehmen zum Systemreformator aufschwingen und damit gegen eigene wirtschaftliche Interessen agieren, ist ihnen nicht vorzuwerfen. Sehr wohl vorzuwerfen ist ihnen aber, dass sie hinter den Kulissen so gut wie jeden Reformansatz für das Gesamtsystem torpedieren. Das tun sie fast nie namentlich, sondern meist versteckt hinter der Macht einschlägiger Verbände auf deutscher und europäischer Ebene. So rühmt sich der „Handelsverband Deutschland“ seiner Bürokooperation in Brüssel unter anderem mit Aldi Süd, Edeka, Rewe, Lidl und Metro. Diese Kooperation sei „zur größten nationalen Interessenvertretung der Branche in Brüssel geworden. Kein anderer Wirtschaftszweig hat seine Kräfte derart gebündelt.“ Für „zusätzliche Schlagkraft“ sorge eine sehr enge Kooperation mit EuroCommerce, dem europäischen Dachverband des Handels. Es wäre naiv zu glauben, die geballte deutsche und europäische Handelsmacht würde sich in Brüssel dafür einsetzen, das Geschäftsmodell der Supermärkte zu schwächen. Das aber wäre die zwingende Konsequenz, wenn es für Supermarktkunden weniger Täuschung und mehr Gesundheitsschutz, Transparenz und Wahlfreiheit geben soll.

Missbrauchtes Vertrauen Das Lobbying der Handelsverbände in Berlin und Brüssel ist nur ein Teil der Erklärung dafür, warum die Regeln so verbraucherfeindlich sind. Hinzu kommt eine besondere Eigenschaft von Lebensmitteln – die Tatsache, dass sie sogenannte Vertrauensgüter sind. Das sind solche Waren und Dienstleistungen, bei denen Kundinnen die Qualität weder im Voraus noch im Nachhinein wirklich einschätzen können. Dazu gehören zum Beispiel Medikamente, aber eben auch Lebensmittel. Denn einem Apfel im plastikumwickelten Sechser-Pack sieht man nicht an, ob und welche Pestizide er möglicherweise enthält. Und selbst wenn man hineinbeißt, schmeckt man nicht, ob er nie oder 20-mal gespritzt wurde. Genauso wenig verrät der Geschmack eines Schweineschnitzels, ob das Tier während seines kurzen Lebens Schmerzen litt und krank war. Ob ein Liter Milch oder ein Stück Käse vergleichsweise nachhaltiger produziert wurden als das daneben liegende Konkurrenzprodukt – Supermarktkundinnen können es nicht wissen und folglich auch kein Urteil über die Qualität fällen. Bei Gütern, deren Qualität die Käufer leichter selbst ermitteln können – die Rechenleistung eines

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118 Thilo Bode Laptops, die Energieeffizienz einer Heizungsanlage –, führt der Wettbewerb zu einer Qualitätssteigerung, weil sich Anbieterinnen mit nachprüfbar besseren Produkten von ihren Konkurrentinnen abheben können. Hingegen ist in einem intransparenten Markt wie dem der Lebensmittel die zwangsläufige Folge, dass konkurrierende Anbieterinnen sich mit nicht nachprüfbaren Qualitätsversprechen gegenseitig überbieten oder mit nicht erkennbaren Qualitätsverschlechterungen unterbieten und so dem „Downgrading“ auf breiter Front Vorschub leisten. Mit anderen Worten: Der Markt sorgt nicht für Verbraucherschutz! Nach der Krise um die Rinderseuche BSE vor gut zwanzig Jahren hat sogar der bekannte Ökonom und Markt-Hardliner HansWerner Sinn eingeräumt, dass ein effektiver Verbraucherschutz staatlicher Interventionen bedarf, um Transparenz, Qualitätsauswahl und Gesundheitsschutz im Lebensmittelmarkt sicherzustellen. Ihren Regulierungspflichten bei den Vertrauensgütern des Lebensmittelmarkts indes sind die staatlichen Stellen weder auf EU-Ebene noch auf nationaler Ebene der Mitgliedstaaten nachgekommen. Sie sind verantwortlich für das eklatante Transparenzdefizit und damit den Qualitätsverfall des Lebensmittelangebots. Damit haben Politik und Staat das Vertrauen der Verbraucherinnen missbraucht und den einfachen Weg gewählt, sich nicht mit der Lebensmittelindustrie anzulegen, sondern sich hinter dem Rücken der Verbraucherinnen und auf deren Kosten mit ihr arrangiert. Dieser Vertrauensbruch steht für ein eklatantes Politikversagen, weil der Staat seiner Schutzpflicht für das Grundrecht seiner Bürgerinnen auf Leben, das sich auch in einer ausgewogenen und gesunden Ernährung manifestiert, nicht ausreichend nachkommt. Die EU und ihre Mitgliedstaaten verstoßen mit dieser Vernachlässigung ihrer Schutzpflicht sogar gegen bestehendes Recht, nämlich gegen die sogenannte Basisverordnung 178 / 2002, die das übergeordnete EU-Lebensmittelrecht bezeichnet und in den Mitgliedstaaten geltendes Recht ist. Die Verordnung wurde unter dem Schock der BSE-Krise Anfang des Jahrtausends aufgesetzt, was erklärt, warum sie in großer Klarheit einen vorsorgenden Gesundheitsschutz postuliert, der sowohl potenzielle Gefährdungen als auch langfristig wirkende Gefahren berücksichtigt. Vergleichbar umfassend ist der Täuschungsschutz in der Verordnung geregelt: Sie verbietet nämlich nicht nur Täuschung und Irreführung, sondern bereits die Möglichkeit, dass Verbraucherinnen in die Irre geführt werden könnten. Das Gebot der Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln entlang der Lieferketten sowie Transparenz- und Informationspflichten für Unternehmen und Behörden sind ebenfalls Bestandteil der Verordnung. Der epochale Fortschritt dieser Verordnung für das Lebensmittelrecht ist ihr durchgehend präventiver Ansatz. Dass Prävention im Lebensmittelmarkt besonders sinnvoll ist, kann man an einem einfachen Beispiel festmachen: Einen defekten Computer kann man zurückgeben, nicht jedoch ein dioxinbelastetes Ei, das man unwissentlich gegessen hat. Für die Lebensmittelwirtschaft bedeutet Prävention jedoch höhere Kosten. Es ist vorteilhafter, einen möglicherweise gesundheitsschädlichen, aber billigeren Zusatzstoff so lange einzusetzen, bis er verboten wird, als aus Präven-

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Im Supermarkt: Verbrauchertäuschung per Gesetz 119 tionsgründen von vorneherein eine unschädliche, aber teurere Alternative zu verwenden. Denn für nachträgliche Schäden, beispielsweise in Form von Kosten des Gesundheitswesens, muss die Allgemeinheit aufkommen, also die Versicherten und Steuerzahlerinnen. Die Kosten der präventiven Maßnahme, hier ein ungefährlicher Zusatzstoff, muss hingegen das Unternehmen bezahlen. Der Widerstand der Lebensmittelwirtschaft gegen Prävention ist auch ein wesentlicher Grund dafür, dass zwanzig Jahre nach Verabschiedung der Verordnung diese in weiten Teilen nicht umgesetzt worden ist. Diese Tatsache spiegelt sich in den vielen nachgeordneten gesetzlichen Vorschriften wider, die die Vorgaben der Basisverordnung unterlaufen, seien es die Kennzeichnungsvorschriften, die Produktverordnungen oder die Zusatzstoffzulassungsverordnung.

Der freie Warenverkehr steht noch immer über dem Verbraucherschutz Hätte Deutschland die Vorgaben der Basisverordnung ernst genommen, wäre auch die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission (DLMBK) in ihrer heutigen Form schon längst abgeschafft. Sie ist ein gesetzlich verankertes Gremium, das beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) angesiedelt ist und in Fachausschüssen sogenannte Leitsätze erarbeitet. Diese beschreiben die Zusammensetzung und Beschaffenheit von Lebensmitteln sowie ihre Verkehrsbezeichnungen. Die Leitsätze der Kommission haben zwar keine Gesetzeskraft, wirken aber de facto wie Gesetze, weil Gerichte sie zur Orientierung heranziehen. Beschlüsse der Kommission, an deren Verfassungsmäßigkeit erhebliche Zweifel bestehen und in der auch der Lebensmitteleinzelhandel mit Sitz und Stimme vertreten ist, können nicht gegen die Stimmen der Lebensmittelindustrie gefällt werden. Die Abstimmungen und Beratungsprotokolle sind geheim. Die Kommission erfüllt nicht ihre Aufgabe, das Täuschungsverbot umzusetzen, den Gesundheitsschutz zu stärken und die Qualität der Lebensmittel zu verbessern. Im Gegenteil, sie bedient primär die Interessen der Lebensmittelindustrie, auch indem ihre Leitsätze die Verbraucher häufig täuschen. Ein weiterer Grund für die verbraucherfeindliche Entwicklung des Lebensmittelmarktes ist die Tatsache, dass sich Verbraucherinnen bzw. ihre Verbände nicht gerichtlich gegen Regierungen und Behörden wehren können. Sei es, wenn eine wärmebehandelte, länger haltbare Milch in täuschender Weise als „frische Milch“ bezeichnet werden darf, sei es, wenn Behörden das Gebot der Rückverfolgbarkeit von Separatorenfleisch nicht durchsetzen oder im Sinne des Vorsorgeprinzips Zusatzstoffe nicht verbieten, die gesundheitsgefährdend sein können. Es ist ein Ausweis der Machtverhältnisse auf dem Lebensmittelmarkt: Wir Verbraucher können uns bzw. unsere Interessenverbände können sich juristisch nicht zur Wehr setzen. Und nicht zuletzt sieht sich der EU-Verbraucherschutz mit der grundlegenden Schwierigkeit konfrontiert, dass ein zentrales Element der EU-Verträge die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes sind – der freie Verkehr von

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120 Thilo Bode Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. An diesen vier Grundfreiheiten orientiert sich auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, mit der Konsequenz, dass der freie Verkehr von Waren im Binnenmarkt prinzipiell einen höheren Rang genießt als der Verbraucherschutz. Ein praktisches Beispiel dafür liefert einmal mehr die Nährwertkennzeichnung Nutri-Score, die nach überwiegender Meinung der Wissenschaft ein sehr wirksames Instrument ist, Verbraucherinnen und Verbraucher durch Ampelfarben zu einer ausgewogeneren Ernährung zu bewegen. Ohnehin ist es den Mitgliedstaaten wegen des Primats des EU-Binnenmarktes untersagt, den bisher nur freiwillig anwendbaren Nutri-Score isoliert in ihren Territorien als verbindliche Kennzeichnung einzuführen. Aber auch die Einführung des verbindlichen Nutri-Scores auf EU-Ebene ist keineswegs sicher. Die EU will im ersten Quartal 2023 einen Vorschlag für eine verbindliche Nährwertkennzeichnung, wie sie der Nutri-Score darstellt, unterbreiten. Ob dieser Vorschlag dem Schutzniveau des bisher freiwillig anwendbaren Nutri-Scores entspricht, muss sich erst noch herausstellen. Zu bedenken ist, dass die auf einer Mehrheitsentscheidung basierende Einführung eines für alle EUUnternehmen verbindlichen Nutri-Scores zur Folge haben kann, dass ein Mitgliedstaat vor dem Europäischen Gerichtshof mit dem Argument klagt, der Export wesentlicher Produkte des Landes würde behindert. Eine Klage Italiens wegen Benachteiligung seiner Exporte von Parmesan und Spaghetti, beides keine Lebensmittel mit einem ausgewogenen Nährwertprofil, könnte durchaus Erfolg haben. Keine guten Aussichten für einen effektiven lebensmittelrechtlichen Verbraucherschutz in Europa.1

Ampel auf Grün schalten Wer die Losung ausgibt, individuelles Einkaufsverhalten könne Märkte verändern, trägt dazu bei, dass sich nichts ändert. Denn die Impulse dafür müssen aus der Politik kommen, nur dort kann der Anstoß für den überfälligen, radikalen Systemwechsel erfolgen. Die Lage aber ist vertrackt: Denn zum einen ist es sehr unrealistisch, dass die EU von sich aus die Agrar- und Lebensmittelpolitik grundlegend reformiert – das zeigen die vergangenen Jahrzehnte, die verlorene Jahrzehnte waren. Hinzukommt, dass die EU bis auf wenige Ausnahmen die Hoheit in der Lebensmittel- und Agrarpolitik hat. Die Mitgliedstaaten haben deshalb kaum Chancen, eine konkrete Vorreiterrolle zu übernehmen. Dennoch sehe ich zwei Wege, Veränderungen in Gang zu setzen: Erstens kann ein großer und starker Mitgliedstaat wie Deutschland, wenn er denn will, erheblichen Einfluss auf die Lebensmittelund Agrarpolitik der EU nehmen, so wie alle deutschen Regierungen dies auch bei ihrem Einsatz für die deutsche Automobilindustrie bewiesen haben. Und zweitens müssen die wenigen nationalen Spielräume, die verbleiben, umso konsequenter genutzt werden. 1 „Unlautere Handelspraktiken künftig verboten“, www.bundesregierung.de, 12.10.2022.

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Im Supermarkt: Verbrauchertäuschung per Gesetz 121 Als Ende 2021 die Grünen in die neue Regierungskoalition eintraten, waren die Erwartungen hoch, sie würden diese zwei Hebel betätigen. Doch der Koalitionsvertrag enttäuscht diese Erwartungen gründlich. Er ist ein Vertrag des „Weiter so“, nicht des Aufbruchs. Die Vorlage dazu liefern die Berichte der beiden noch von der Regierung Merkel eingesetzten Kommissionen zum Thema Landwirtschaft, die „Borchert Kommission“ und die „Zukunftskommission Landwirtschaft“. Erstere schlägt eine freiwillige „Tierwohl-Kennzeichnung“ vor. Käuferinnen dieser so gekennzeichneten Produkte müssen dafür einen Preisaufschlag bezahlen, mit dem größere Ställe für die Tierhaltung finanziert werden sollen. Größere Ställe sind allerdings keine Garantie dafür, dass die Tiere weniger leiden. Dafür braucht es ein staatlich verpflichtendes Gesundheitsmonitoring, das anhand nachprüfbarer Daten schmerzhafte Krankheiten der Tiere identifiziert und kuriert. Das geplante Tierschutz-Siegel der rot-grün-gelben Regierung ist auch deshalb grundsätzlich der falsche Weg, weil es nicht das Leiden aller Tiere in der Landwirtschaft beendet, sondern nur das Schicksal einer kleinen Kaste privilegierter Tiere verbessert, die von Käufers Gnaden abhängen. Auch wenn es aufgrund des EU-Binnenmarktes sehr schwierig ist, effektiven Schutz für alle Nutztiere zu gewährleisten, vermisst man das eindeutige Signal einer deutschen Regierung mit Grünen-Ministerinnen an die EU: Wir fordern ein europäisches Tierschutzgesetz!

Refomiert die Lebensmittel-Kommission! Das große Defizit des Berichtes der Zukunftskommission Landwirtschaft besteht darin, dass er darauf verzichtet, Umweltschäden aus der Agrarproduktion endlich über Abgaben für Pestizide, Düngemittel und Treibhausgasemissionen zu verringern und damit konsequent das Verursacherprinzip anzuwenden. Um den Konflikt mit der konventionellen und der ökologischen Landwirtschaftslobby nicht austragen zu müssen, drückt sich auch der Koalitionsvertrag vor einer derartigen Anwendung des Verursacherprinzips und überträgt die Verantwortung für eine nachhaltigere Landwirtschaft auf die Supermarktkundinnen und -kunden, indem für Lebensmittel ein Siegel des ökologischen Fußabdrucks entwickelt werden soll, das die Verbraucherinnen anspornt, nachhaltige Produkte zu kaufen. Doch man kann die Landwirtschaft mit der Einführung eines Siegels nicht effektiv ökologisieren. Der Beleg: Trotz der Einführung des Bio-Siegels vor mehr als zwanzig Jahren und trotz der Eierkennzeichnung ist die ökologische Landwirtschaft bis heute nicht mehr als eine Nische; und die Umweltschäden durch die Landwirtschaft haben nicht abgenommen. Durch einen Verzicht auf die Forderung nach einer Abgabe auf Treibhausgase aus der Fleisch- und Milchproduktion unterlaufen die Grünen zudem auch ihre eigenen klimapolitischen Ambitionen und verhindern damit, dass Deutschland seine klimapolitischen Ziele erreichen kann, wozu es eines substanziellen Beitrags der Landwirtschaft bedarf. In der Landwirtschaft

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122 Thilo Bode müssten die Treibhausgase, die überwiegend in der Tierhaltung anfallen, reduziert werden und damit auch die Tierbestände. Davon wären aber nicht nur die konventionellen, sondern auch Bio-Betriebe betroffen. Zwar verspricht der Koalitionsvertrag, die Fläche des ökologischen Landbaus in Deutschland von gegenwärtig zehn auf 30 Prozent bis zum Jahr 2030 zu erhöhen, also einen Zuwachs der Ökoanbaufläche um 20 Prozentpunkte bzw. eine Verdreifachung innerhalb weniger Jahre. Der Vertrag nennt aber nur die Zielgröße und verschweigt, mit welchen Maßnahmen das Ziel erreicht werden soll. Klar ist allerdings: Wenn der Ausbau der ökologischen Landwirtschaft im bisherigen Schneckentempo vorangeht, ist das 30-Prozent-Ziel erst nach knapp 60 Jahren erreicht. Im Bereich Lebensmittel gibt es noch nationale Spielräume, zum Beispiel bei den Klage- und Informationsrechten. Zudem könnten die Lebensmittelüberwachungsbehörden endlich personell und finanziell besser ausgestattet werden. Nichts davon adressiert die Koalition. Zwar plant sie ein Verbot von Werbung für ungesunde Lebensmittel, die sich an Kinder richtet, aber den größten und einzigen nationalen Hebel, um vor allem das Täuschungsverbot der EU-Verordnung zumindest teilweise umzusetzen und die Qualitätsauswahl für Verbraucher zu verbessern, fasst die Koalition gar nicht erst an: die grundlegende Reform der wahrscheinlich verfassungswidrigen Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission (DLMBK). Die von der DLMBK beschlossenen Verkehrsbezeichnungen täuschen in weiten Teilen die Verbraucherinnen und unterlaufen damit das Täuschungsverbot des Lebensmittelrechts. Die DLMBK wurde zwar zwischen 2016 und 2020 „reformiert“, dies änderte jedoch an den schwerwiegenden verbraucherpolitischen und verfassungsrechtlichen Defiziten substanziell nichts. Bleibt die Frage: Warum ist der aktuelle Koalitionsvertrag für Landwirtschaft und Lebensmittel, also zwei Sektoren, für die die Grünen verantwortlich zeichnen, so dürftig? Und warum passierte in der bisherigen Amtszeit so wenig? Die Antwort lautet: Es liegt an Klientelinteressen und opportunistischer Konfliktvermeidung. Mit der Forderung nach Anwendung des Verursacherprinzips würden es sich die Grünen mit ihrer Klientel, der ÖkoLandwirtschaft, verderben. Denn die besonders profitable, aber treibhausgasintensive Öko-Milch- und Fleischwirtschaft würde durch eine Klimaabgabe besonders leiden. Und die Lebensmittelbuch-Kommission wird verschont, um sich nicht mit der Industrie anzulegen, sicher auch in der Erwartung, dass die Kommission ohnehin niemand kennt. Das ist ein fatales Versäumnis, weil die Kommission vorwiegend die Interessen der Industrie vertritt und nicht die der Verbraucherinnen. So bleibt ein Koalitionsvertrag, der die Chance, „mehr Fortschritt (zu) wagen“ – so sein Titel –, nicht ergreift. Stattdessen sind der Vertrag und das bisherige Agieren der Ampel ein Rückschritt!

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BUCH DES MONATS

Austausch statt Aneignung Von Thomas Greven Die Comickünstlerin Birgit Weyhe ist eine sehr genaue Beobachterin ihrer Umwelt. Sie braucht nur wenige prägnante Worte und Bilder, um die kleine Universitätsstadt im Mittleren Westen der USA, in der sie sich für eine Gastdozentur aufhält, auf den Begriff zu bringen: Mehr Kirchen als Supermärkte. Im Supermarkt Waffen, aber kein Alkohol. Ohne Führerschein läuft nichts. Langeweile und freundliches Desinteresse der Menschen. Für ihre Arbeiten, in denen sich die 1969 in München geborene und in Uganda und Kenia aufgewachsene Künstlerin unter anderem mit der Aufarbeitung der deutsch-afrikanischen Beziehungen beschäftigt, ist Weyhe vielfach ausgezeichnet worden, beispielsBirgit Weyhe, Rude Girl. avant-Verlag, weise 2016 mit dem Max und Moritz-Preis des Berlin 2022, 312 S. 26 Euro. Comic-Salons in Erlangen. Auch ihr Comic „Madgermanes“, der das Schicksal der Vertragsarbeiter aus Mosambik behandelt, die in der DDR ausgebildet werden sollten, tatsächlich aber vor allem ausgebeutet wurden, erntete viel Lob. Einfühlsam beschreibt sie, wie sich die Zurückgekehrten nach den Jahren in Deutschland in ihrer Heimat fremd fühlen. Und so reagiert Weyhe zunächst gereizt und beleidigt, als ihr während ihres USA-Aufenthalts bei einer Buchvorstellung aus dem Publikum „kulturelle Aneignung“ vorgeworfen wird. Sie habe nicht das Recht, über mosambikanische Menschen zu schreiben, das wäre Ausbeutung. Na, wenn das so ist: „In Zukunft werde ich nur noch über mittelalte weiße Frauen aus Norddeutschland schreiben.“ Doch am Ende bleibt Weyhe nicht bei ihrer instinktiven Trotzhaltung. Zurück in Hamburg, kommt ihr dabei der Zufall zu Hilfe. Sie erhält eine Interviewanfrage der US-Germanistikprofessorin Priscilla Layne und erfährt im Gespräch auch viel über das „Leben einer außergewöhnlichen Frau, die weder weiß ist, noch mittelalt, noch aus Norddeutschland kommt“. „Rude Girl“ ist der Comic, der schließlich aus den Gesprächen der beiden entsteht. Er ist für die auch in Deutschland intensiver werdende Diskussion um kulturelle Aneignung äußerst wertvoll.

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Wie schreibt man respektvoll über eine Kultur, der man nicht selbst angehört? Wie verhält man sich überhaupt zu Elementen „fremder“ Kulturen, zu ihrer Musik, ihrer Kleidung, ihrem Essen? Bisher ist dies noch eine vor allem angloamerikanische Kontroverse. Der Versuch, sich respektvoll zu verhalten, treibt dort viele Blüten. So ist es in Kanada in progressiven Kreisen üblich geworden, bei öffentlichen Reden zunächst dankbar auf die „first nations“ zu verweisen, auf deren Boden man sich befindet. Freilich werden keine Anstalten gemacht, diesen Boden zurückzugeben, und es ist nur selten jemand anwesend, den die Ansprache betrifft. Alles nur leere Symbolpolitik also, „Tugendprotzerei“, wie es von konservativer Seite hämisch heißt? Keineswegs: Symbole sind wichtig, Sprache ist wichtig, wenn es um Respekt für verschiedene Kulturen geht. Doch kulturelle Aneignung ist nicht nur ein konservativer Kampfbegriff geworden, hierzulande zu beobachten beim Sturm im Wasserglas um das angebliche „Canceln“ von Winnetou. Denn leider kann allein der Vorwurf der kulturellen Aneignung auch dazu dienen, Diskussionen abzuwürgen, Konkurrenten wegzubeißen und gewinnbringend moralische Überlegenheit zu demonstrieren. So war es bezeichnend, welchen Angriffen sich die Grüne Bettina Jarasch ausgesetzt sah, als sie bekundete, dass sie als Kind „Indianerhäuptling“ werden wollte. Ihre Kritiker, so schien es, wussten selbstverständlich schon im Vorschulalter, welche moralischen Standards in ihrem Leben einmal gelten würden.

Vielfältige Ausgrenzungen

„Rude Girl“ zeigt demgegenüber, wie eine „kulturelle Annäherung“ gelingen kann. Auf der Basis ihrer Gespräche mit Layne erzählt Weyhe die fiktive Geschichte von Crystal. Das Besondere ist, dass Weyhe alle entstandenen Szenen von Layne kommentieren lässt und diese Feedbackschleifen wiederum in den Comic aufnimmt. Dadurch kommt die „Betroffene“ – auf deren Leben die Erzählung ja beruht – nicht nur direkt zu Wort, sondern ihre Kommentare gehen auch in die Erstellung und Präsentation der jeweils nächsten Szenen ein – so entsteht ein Lernprozess auf der Basis gegenseitigen Respekts, an dem wir als Leser teilnehmen. Die Erzählung beginnt als komplexe Familien- und Einwanderergeschichte. Während Crystal „eine kleine US-Amerikanerin von Geburt an“ ist, haben alle Bezugspersonen ihrer Kindheit karibische Wurzeln. Doch man kann auf vielfältige Weise nicht „dazugehören“. Auch Crystal erfährt immer wieder Ausgrenzung. In der Schule nennen Afroamerikaner sie „Oreo“, nach dem Keks, der außen schwarz, innen aber weiß ist. Sie stoßen sich an Crystals britisch geprägter Sprache, die in ihren Ohren „weiß“ klingt, daran, dass sie keine „schwarze“ Musik kennt und dass sie viele weiße Freunde hat. Der kulturelle Graben zu den „American Descendants of Slaves“, den Nachkommen der Sklaven – übrigens auch für Barack Obama ein Hindernis für seine politische Karriere, bis seine Frau Michelle ihm die notwendige Legitimität verschaffte –, bleibt auch später bestehen. In ihren Kommenta-

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ren reflektiert Priscilla Layne die Fragen, die Weyhe in den biographischen Szenen verhandelt: Vermögen schwarze Einwanderer aus der Karibik, die an den amerikanischen Traum glauben, die prägende afroamerikanische Erfahrung des strukturellen Rassismus überhaupt nachzuvollziehen? Was ist trennender, „race“ oder Klasse? Oder Bildung? Afroamerikaner aus der Arbeiterklasse denken wegen Crystals Wortwahl, dass diese sich „für was Besseres hält“. Und nachdem Crystal eigentlich in der Punkszene ihre Ersatzfamilie gefunden hat, kommen die Freunde nicht mit ihrem Studentendasein klar: „Du gehörst halt nicht mehr zu uns.“ Dagegen wird der Graben zu ihren weißen Kommilitonen über Klasse konstituiert, denn Crystal kann sich viele Statussymbole und Freizeitaktivitäten nicht leisten. Sie muss arbeiten, während ihre Kommilitonen die Welt erkunden und larmoyant davon berichten. Crystals Ausgrenzung hat viele Dimensionen. Ihre Mutter hält zwar zu ihr, kommt aber nicht damit klar, dass Crystal nicht sein will, „wie ein karibisches Mädchen zu sein hat“. Die tradierten Vorstellungen von Weiblichkeit passen nicht zu Crystals Sportbegeisterung und schon gar nicht zu ihrer Punkfrisur, dem „Chelsea Cut“, für den sie zum Entsetzen ihrer Mutter ihre Haare fast ganz abrasiert. Wie Crystal mit anderen Außenseitern zusammenfindet und schließlich über ihre Begeisterung für Kafkas „Die Verwandlung“, aber auch für Brecht und Marx, ihre akademische Leidenschaft als Germanistin entdeckt und sich in Deutschland in einen linken Skinhead verliebt, das bleibt über die ganze Strecke des Comics spannend und bewegend. Dazu trägt auch Weyhes variabler und dynamischer Zeichenstil bei. Sie wählt abstrakte Bilder und Tiergestalten, um starke Emotionen und Verstörungen darzustellen. Diese unterbrechen den Erzählfluss, hemmen ihn aber nicht. Einmal visualisiert Weyhe Crystals Außenseitertum mit einem Puzzlestück, das nicht passen will. Mit einer wechselnden Farbpalette grenzt Weyhe die unterschiedlichen Passagen voneinander ab. Das ist überaus stimmig. Doch Layne hat auch kritische Bemerkungen, und zwar zur schwierigen Frage, wie denn die Hautfarbe von Schwarzen gezeichnet werden soll. Weyhe zeichnet auch die schwarzen Gesichter zunächst „farblos“ – das bemängelt Layne, weil dadurch eine „post-rassistische Gesellschaft“ evoziert würde, die es nicht gibt. Doch auch die ganz schwarzen Gesichter, die Weyhe in früheren Arbeiten gezeichnet hat, überzeugen Layne nicht, denn sie erlauben kaum mimischen Ausdruck. Weyhe verwendet schließlich unterschiedliche Brauntöne. So wie die beiden Gesprächspartnerinnen voneinander lernen, wandeln sich im Buch die Erzählweise und die zeichnerische Darstellung. Der respektvolle Austausch zwischen Weyhe und Layne ist so eindrucksvoll wie Crystals Geschichte. Der Lernprozess ist ein Lehrstück für den Umgang mit verschiedenen Kulturen und Erfahrungen: neugierig, ohne Rechthaberei oder moralisches Überlegenheitsgebaren. Weyhe weiß, dass sie mit ihrer Biographie und den Themen ihrer künstlerischen Arbeit auch Teil dessen ist, was als kulturelle Aneignung diskutiert wird. Doch die Bereitschaft, als „Beobachtende und Lernende“ ihre „Perspektive neu [zu] überdenken“, soll „nicht komplett einengen“. Die Freiheit, aus einer anderen als der eigenen Perspektive erzählen zu dürfen, muss erhalten bleiben.

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Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem: • »Unsere Unterstützung für die Ukraine wird nicht nachlassen, die NATO wird nicht zerfallen, und wir werden nicht müde werden« Pressestatement von US-Präsident Joe Biden in Warschau, 21.2.2023 (engl. Original) • »Der Westen will Russland die historischen Gebiete entreißen, die heute Ukraine genannt werden« Rede zur Lage der Nation von Russlands Präsident Wladimir Putin, 21.2.2023 (engl. Fassung) • »Drei Jahre Hanau – Kein Vergeben, kein Vergessen und keine Aufklärung in Sicht« Pressemitteilung des Dachverbands der Migrantinnenorganisationen, 17.2.2023 • »Frauen haben das Recht, für die gleiche Tätigkeit genauso viel Geld wie ihre männlichen Kollegen zu erhalten« Urteil des Bundesarbeitsgerichts, 16.2.2023 • »Wir sind zutiefst beunruhigt über die Ankündigung der israelischen Regierung, annähernd 10 000 Siedlungseinheiten zu genehmigen« Gemeinsames Statement der Außenministerinnen und -minister Deutschlands, Frankreichs, Italiens, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten, 14.2.2023 • »Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt!« Petition ›Manifest für Frieden‹ von Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und 69 weiteren Erstunterzeichner:innen, 10.2.2023 • »Wir kämpfen gegen die anti-europäischste Kraft der Welt« Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor dem Europaparlament, 9.2.2023 (engl. Original) • »Jeder Mensch, der damals verfolgt wurde, verdient achtungsvolle Erinnerung. Jeder Mensch, der heute verfolgt wird, hat Anspruch auf unseren Schutz!« Rede von Rozette Kats bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus, 27.1.2023 • »Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut bedroht« Factsheet zu Kinder- und Jugendarmut der Bertelsmann Stiftung, 26.1.2023 • »Teheran scheint fest entschlossen, alle unabhängigen Informationsflüsse auszutrocknen« Pressemitteilung von Reporter ohne Grenzen (RSF), 25.1.2023 • »Die Noten von ChatGPT sind ausreichend für den Abschluss des Jurastudiums« Studie von Forscher:innen der University of Minnesota, 25.1.2023 (engl. Original)

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Zurückgeblättert... Kurz vor Beginn des Irakkriegs am 20. März 2003 analysierten die bekannten Neorealisten John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt die angeblichen Interventionsgründe und plädierten für Abschreckung und Containment (Serientäter Saddam? Die Beweise der Kriegsbefürworter stechen nicht, in: »Blätter«, 3/2003, S. 296-306). Den Text finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de

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An der Ausgabe wirkten Leena Harmuth und Antonius Stockinger mit. Die gemeinnützige Blätter-Gesellschaft – Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V. gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die »Blätter für deutsche und internationale Politik« heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Inken Behrmann vor. Die »Blätter« erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 40147, 10061 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX. Preise: Einzelheft 11 Euro, im Abonnement jährlich 93,60 Euro (ermäßigt 74,40 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint zeitgleich mit der Dezemberausgabe auf www.blaetter.de. Heft 4/2023 wird am 30.3.2023 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

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Autorinnen und Autoren 3/2023 Günther Baechler, geb. 1953 in Basel, Dr. rer. pol., Konflikt- und Friedensforscher, langjährig in der Friedensdiplomatie tätig, u.a. OSZE-Sondergesandter für den Süd-Kaukasus. Sophia Boddenberg, geb. 1992 in Leverkusen, Sozial- und Politikwissenschaftlerin, freie Journalistin in Chile. Thilo Bode, geb. 1947 in Eching am Ammersee, Dr. rer. pol., langjähriger Geschäftsführer von Greenpeace, Gründer der Verbraucherorganisation foodwatch.

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Nancy Fraser, geb. 1947 in Baltimore, PhD, Professorin für Politik und Philosophie an der New School for Social Research in New York. Josef Früchtl, geb. 1954 in Zandt bei Cham, Dr. phil., Professor für Kunstund Kulturphilosophie an der Universität Amsterdam.

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Thomas Greven, geb. 1966 in Stolberg, Dr. phil., Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Peter Laudenbach

VOLKS THEATER Der rechte Angriff auf die Kunstfreiheit

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Kristin Helberg, geb. 1973 in Heilbronn, Politikwissenschaftlerin, freie Journalistin.

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François Hollande, geb. 1954 inRouen/ Frankreich, Jurist, Politiker der Sozialistischen Partei (PS), französischer Staatspräsident von 2012 bis 2017. Walter Jens, geb. 1923 in Hamburg, gest. 2013 in Tübingen, Dr. phil. habil., Altphilologe, Professor für Rhetorik, Publizist und Mitglied der Gruppe 47.

Broschiert 144 Seiten € 12.– ISBN 978 3 8031 3731 9 Auch als E-Book erhältlich

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Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Annett Mängel, geb. 1976 in Rodewisch, Politikwissenschaftlerin und Germanistin, „Blätter“-Redakteurin. August Pradetto, geb. 1949 in Graz, Dr. phil., Professor em. für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr Hamburg. Ulrich Rüdenauer, geb. 1971 in Bad Mergentheim, Germanist und Politologe, Journalist und Literaturkritiker. Leander Scholz, geb. 1969 in Aachen, PD Dr. phil. habil., Philosoph und Schriftsteller, Research Fellow am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Adam Shinar, J.S.D., Jurist, außerordentlicher Professor an der Harry Radzyner Law School der Reichman Universität in Herzliya/Israel. Wolfgang Templin, geb. 1948 in Jena, DDR-Bürgerrechtler, Mitbegründer der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ sowie der Partei Bündnis 90, Publizist. Marc Thörner, geb. 1964 in Hamburg, Geschichts- und Islamwissenschaftler, Sachbuchautor und freier Journalist. Steffen Vogel, geb. 1978 in Siegen, Sozialwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, freier Journalist in Berlin.

Yalda Zarbakhch, geb. 1981 in Isfahan/Iran, Medienwissenschaftlerin, Redaktionsleiterin des Persian Service der Deutschen Welle.

Eliav Lieblich, J.S.D., Jurist, Professor an der Buchmann Fakultät für Recht der Universität Tel Aviv/Israel.

Andreas Zumach, geb. 1954 in Köln, Publizist und freier Journalist für „die tageszeitung“ und andere Medien.

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Erdog˘ an, Assad und das große Beben Kristin Helberg

Mit Beiträgen von Étienne Balibar, Mykola Borovyk, Nicole Deitelhoff, Mischa Gabowitsch, Naomi Klein, Sergej Lebedew, Herfried Münkler, Adam Tooze, Igor Torbakow, Serhij Zhadan u.v.a.

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Krieg in der Ukraine: Zeitenwende wohin?

Russland vs. Ukraine: Gewalt schlägt Recht? François Hollande Israel: Das Ende der Demokratie? Eliav Lieblich und Adam Shinar

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