Die Blätter für deutsche und internationale Politik [6 / 2023, 6 ed.] 9783828848719, 9783828879966, 9783608501728


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german Pages 132 Year 2023

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Die Blätter für deutsche und internationale Politik [6 / 2023, 6 ed.]
 9783828848719, 9783828879966, 9783608501728

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6’23

Blätter

6’23

Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €

Blätter für deutsche und internationale Politik

Den Frieden verhandeln, Kiews Sicherheit garantieren Richard Haass und Charles Kupchan

blättern & scrollen Jetzt das Kombi-Abo bestellen: Print und digital – zum Aktionspreis! www.blaetter.de

Das Zaudern der Demokratien Thomas Speckmann

Künstliche Intelligenz: Der maskierte Raub Naomi Klein Narrative der Weltbeglückung Roberto Simanowski

Wie Macron die Zukunft verspielt Felix Heidenreich Chicago: Prävention statt Polizei Lukas Hermsmeier Rot gegen Grün statt Rot-Rot-Grün Hendrik Küpper und Carsten Schwäbe Reaktionäre Identitäre Markus Linden

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Autorinnen und Autoren 6/2023

Christoph

Schmidt und

Russland Europa –

Tectum

oder

Mythos Logos?

Russland und Europa – Mythos oder Logos? Von Prof. Dr. em. Christoph Schmidt 2023, 252 S., brosch., 34,– € ISBN 978-3-8288-4871-9 E-Book 978-3-8288-7996-6 Unterdrückung im Innern, Aggression nach außen: Ist das Russlands DNA? In der Tat blieben demokratische Tendenzen in Russland oftmals Episode – und Aufklärung Import. Aber warum? Hier beginnt die Beziehungsgeschichte zwischen Russland und Europa oder Mythos und Logos.

Nomos

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Kunda Dixit, Herausgeber und Verleger der „Nepali Times“, Publizist sowie visiting faculty member an der New York University in Abu Dhabi. Klaus Dörre, geb. 1957 in Volkmarsen, Dr. phil., Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena. Thomas Greven, geb. 1966 in Stolberg, Dr. phil. Politikwissenschaftler, Privatdozent an der FU Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Nordamerikaprogramm der Universität Bonn. Richard Haass, geb. 1951 in Brooklyn/ USA, Ph.D., Diplomat und Präsident des „Council on Foreign Relations”. Erika Harzer, geb. 1953 in Leonberg, Sozialpädagogin, Autorin und Filmemacherin, Trägerin des Peter-SchollLatour-Preises.

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Felix Heidenreich, geb. 1973 in Freiburg, Dr. phil., Politikwissenschaftler, Lehrbeauftragter an der Univ. Stuttgart.

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Seit 1971

ZEITSCHRIFT FÜR KRITISCHE SOZIALWISSENSCHAFT Schwerpunktthemen n Nr. 207: Gesellschaftskritik

und sozialistische Strategie (2/2022)

n Nr. 208: StaatsKapitalismus (3/2022)

n Nr. 209: Die Linke zwischen Krise

und Bewegung (4/2022) n Nr. 210: Sozial-ökologische Transformationskonflikte und linke Strategien (1/2023) n Nr. 211: Tarifvertrag (2/2023)

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Lukas Hermsmeier, geb. 1988 in Berlin, freier Journalist und Buchautor, lebt in New York. Sophia Kalantzakos, geb. in Athen, Ph.D., Publizistin und Professorin für Umwelt- und Politikwissenschaft an der New York University in Abu Dhabi. Naomi Klein, geb. 1970 in Montreal, Journalistin, Kolumnistin beim „Guardian“, Bestseller-Autorin und Professorin für Klimagerechtigkeit an der University of British Columbia. Hendrik Küpper, geb. 1997 in Beckum, Politikwissenschaftler, Redakteur der Zeitschrift „perspektivends“, Gymnasiallehrer in Vertretung. Anja Krüger, geb. 1967 in Viersen, Sozialwissenschaftlerin, Wirtschaftsredakteurin bei der „tageszeitung“. Charles Kupchan, geb. 1958 in Madison, Ph.D., Professor für Internationale Beziehungen an der Georgetown Universität in Washington D.C., Senior Fellow am „Council on Foreign Relations“.

Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, freier Journalist in Berlin. Claus Leggewie, geb. 1950 in WanneEickel, Dr. sc. pol., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen, Mitherausgeber der „Blätter“. Markus Linden, geb. 1973 in Cochem, apl. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Amadeus Marzai, geb. 1996 in Berlin, Historiker und Politikwissenschaftler. Sara Meyer, 1992 in Crailsheim, Politik- und Kulturwissenschaftlerin, freie Journalistin in Bogotá/Kolumbien. Simone Schlindwein, geb. 1980 in Baden-Baden, Historikerin und Politikwissenschaftlerin, Afrika-Korrespondentin der „tageszeitung“ in der Region der Großen Seen, lebt in Uganda. Kai E. Schubert, geb. 1991 in Berlin, Politikwissenschaftler, Doktorand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Gießen. Carsten Schwäbe, geb. 1988 in Korbach, Dr. rer. pol., Wirtschafts- und Politikwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter an der FU Berlin im Bereich Innovationsforschung. Roberto Simanowski, geb. 1963 in Cottbus, Dr. phil., Professor für Literatur- und Medienwissenschaft, Mitglied des Excellence-Clusters „Temporal Communities” der Freien Universität Berlin. Thomas Speckmann, geb. 1974 in Münster, Dr. phil., Historiker, Politikund Kommunikationswissenschaftler, hat Lehraufträge an den Universitäten Bonn, Münster, Potsdam und der FU Berlin wahrgenommen. René Wildangel, geb. 1973 in Rheinbach, Dr. phil., Historiker, freier Autor und Dozent an der International Hellenic University in Thessaloniki.

Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 68. Jahrgang Heft 6/2023 Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Peter Bofinger . Ulrich Brand Micha Brumlik . Dan Diner Jürgen Habermas . Detlef Hensche Rudolf Hickel . Claus Leggewie Ingeborg Maus . Klaus Naumann Jens Reich . Rainer Rilling Irene Runge . Saskia Sassen Karen Schönwälder . Friedrich Schorlemmer Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

INHALT 6’23

KOMMENTARE

5 America first, China second, Europe third: Die US-Wahl und der Ukrainekrieg Albrecht von Lucke 11 Russisch Roulette: Mit den US-Republikanern ins Chaos Thomas Greven 15 Indien: Auf dem Weg in die Tyrannei? Amadeus Marzai 19 Sudan: Kampf der Generäle Simone Schlindwein 23 Algerien: Feinderklärung nach innen Claus Leggewie 27 Kolumbien: Neustart für Gustavo Petro? Sara Meyer

REDAKTION Anne Britt Arps Albrecht von Lucke Annett Mängel Steffen Vogel ONLINE-REDAKTION Tessa Penzel BESTELLSERVICE Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] WEBSITE www.blaetter.de

Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2023

31 Nicaragua: Die Spirale der Unterdrückung Erika Harzer 35 Volker Wissing und der ewige Autobahnwahn Anja Krüger 39 Prekär beschäftigt: Die De formation der Wissenschaft Kai E. Schubert DEBATTE

43 Grün als Bedrohung Klaus Dörre

ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

53 Der maskierte Raub Künstliche Intelligenz und die Halluzinationen der Tech-Konzerne Naomi Klein 63 Narrative der Weltbeglückung Sprach-KI und die Mathematisierung der Ethik Roberto Simanowski 74 Den Frieden verhandeln, Kiews Sicherheit garantieren Für einen Plan B im Ukrainekrieg Richard N. Haass und Charles Kupchan 83 Spanien 1936 bis Ukraine 2022: Das Zaudern der Demokratien Thomas Speckmann 91 Frankreich als Menetekel Wie wir mit dem Heute das Morgen verspielen Felix Heidenreich 97 Chicago: Prävention statt Polizei Mit mehr sozialer Gerechtigkeit gegen das US-Strafsystem Lukas Hermsmeier 107 Reaktionäre Reaktion Wie die Kritik an linker Identitätspolitik in rechtes Identitätsdenken kippt Markus Linden 117 Rot gegen Grün statt Rot-Rot-Grün Der ruinöse Kampf der linken Kartellparteien Hendrik Küpper und Carsten Schwäbe BUCH DES MONATS

125 Die Insel Franziska Grillmeier

KOLUMNE

47 Der Himalaya: Hotspot des globalen Klimasystems Sophia Kalantzakos und Kunda Dixit AUFGESPIESST

49 Putinisten aller Par teien – vereinigt Euch! Jan Kursko EXTRAS

51 106 128

Kurzgefasst Dokumente Zurückgeblättert, Impressum, Autoren und Autorinnen

Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2023

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Der US Supreme Court verbietet das Recht auf Abtreibung, die Polizei verzeichnet einen starken Anstieg häuslicher Gewalt, auf TikTok werden Tötungsfantasien an Frauen zum Trend. Die These: Dieser Backlash ist eine Reaktion auf die zunehmende Gleichberechtigung. Wie kann der Teufelskreis durchbrochen werden? Die Journalistin Susanne Kaiser erzählt die ganze Geschichte und entwirft mögliche Lösungen.

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Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2023

224 Seiten, gebunden I € 22,– (D)/€ 22,70 (A) ISBN 978-3-608-50172-8

Je stärker die Frauen, desto größer der Hass auf sie

17.04.2023 12:53:42

KOMMENTARE

Albrecht von Lucke

America first, China second, Europe third: Die US-Wahl und der Ukrainekrieg Seit dem 25. April wissen wir, dass der neue Kandidat der US-Demokraten für die Wahl 2024 auch der alte ist, nämlich der amtierende US-Präsident Joe Biden. Noch ist dagegen nicht ausgemacht, wer sein Herausforderer sein wird. Viel spricht allerdings dafür, dass es zur Wiederauflage Biden gegen Trump kommen wird, wenn auch in vertauschten Rollen. „Bidens ‚vier weitere Jahre‘ klingen wie eine Gefängnisstrafe“, kommentierte fast resignativ das konservative „Wall Street Journal“ und begründete dies damit, dass nur jeder vierte Amerikaner eine zweite Legislatur Bidens wolle. Das dürfte bereits ein Vorgeschmack darauf sein, wie FOX News (auch ohne Tucker Carlson) und andere gegen den 80jährigen Biden Stimmung machen werden, der bereits bei seinem Amtsantritt im Januar 2021 der älteste US-Präsident der Geschichte war. Auf das Land dürfte daher ein enorm harter Wahlkampf zukommen – mit massiven Implikationen auch für Europa. Diese Wahl, ja vermutlich bereits der Wahlkampf, hat weitreichende Auswirkungen auf die alte Welt, und speziell auf die Ukraine. Denn er findet statt vor dem Hintergrund zweier geopolitischer Großkrisen, Ukraine und Taiwan, die sich wechselseitig beeinflussen. Einerseits gibt es eine neue politische Systemauseinandersetzung zwischen einem bekennend autokratischen Osten und dem „kollektiven Westen“ (Wladimir Putin), die vor allem von Russland, aber auch seitens Chinas immer wieder bekräftigt wird. Man kämpfe nicht nur gegen das Regi-

me aus „Neonazis“ in der Ukraine, so der russische Präsident am 9. Mai, dem Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg 1945, sondern auch gegen eine „globalistische Elite“ der westlichen Demokratien.1 Andererseits ist auch „der Westen“ nicht homogen, sind die Interessen der drei aktuell wesentlichen Akteure auf westlicher Seite – der USA, der Ukraine und der EU – keineswegs deckungsgleich. Das dürfte im US-Wahlkampf sehr deutlich werden und erheblichen Einfluss auf den Ukrainekrieg haben, insbesondere mit Blick auf einen möglichen Wahlsieg von Donald Trump. Fest steht schon jetzt: „America First“ wird erneut die dominierende Parole sein, ob in der Trumpschen Variante oder der von Ron DeSantis, der als der vielleicht noch gefährlichere Herausforderer gilt. Dieser Parole wird sich auch Joe Biden nicht entziehen können und wollen. Volle Konzentration auf die US-Interessen, wenn auch in etwas weniger radikaler Weise, wird seine Antwort auf Trump sein. Das gilt zunächst und in erster Linie für die Innenpolitik und bedeutet die Fortsetzung, ja möglicherweise sogar Steigerung des protektionistischen Kurses, den Biden bereits 2021 eingeschlagen hat. „America first“ gilt aber auch für die Außenpolitik. Dort hat der Slogan allerdings noch eine andere Bedeutung, nämlich: „America first, China second, Europe [allenfalls] third“. Das betrifft sowohl die Rangfolge der Regionen aus US-Sicht als auch die Be1 Daniel Brössler, Putins kleine Welt, in: „Süddeutsche Zeitung“, 10.5.2023.

Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2023

6 Kommentare deutung der Aufgaben für Amerika. Zuerst geht es immer um den Hauptrivalen China und erst dann folgt, mit erheblichem Abstand, Europa. Zur Erinnerung: Joe Biden trat sein Amt mit dem Versprechen an, die Außenpolitik seiner Regierung im indopazifischen Raum zu verankern. Damit wollte er dem bereits von seinem Vor-Vorgänger Barack Obama verkündeten „Pivot to Asia“ endlich Konsequenzen folgen lassen. In einem strategischen Leitfaden für die nationale Sicherheit, der im März 2021 veröffentlicht wurde, bezeichnete die Regierung Biden den Indopazifik als den wichtigsten Bereich; das größte Direktorat im Nationalen Sicherheitsrat konzentriert sich seither ganz auf diese Region. Und am 11. Februar 2022 wurde eine speziell auf den Indopazifik ausgerichtete Strategie vorgestellt, die zu dem Schluss kam, dass „keine Region für die Welt und für jeden Amerikaner von größerer Bedeutung sein wird“.2 Doch keine zwei Wochen nach der Veröffentlichung dieser Strategie erfolgte der russische Einmarsch in die Ukraine, was die Koordinaten der US-Politik erheblich verschoben hat. Allerdings nur vorerst, und keineswegs grundsätzlich. Das heißt, die US-Politik wird weiter ganz auf den Zentralkonflikt mit China ausgerichtet bleiben. Die USA haben schon von daher kein Interesse daran, dass sich der Ukrainekrieg auf unbestimmte Zeit in die Länge zieht oder gar eskaliert, denn das würde ihre Kräfte hinsichtlich ihrer Hauptherausforderung im ostasiatischen Raum binden und damit schwächen. Joe Bidens innenpolitischer Zentralslogan in seinem Bewerbungsvideo – „Lasst uns den Job zu Ende bringen“, sprich: Trump endgültig verhindern – kann daher auch massive Bedeutung für die Lage in Europa erhalten und zu einer stark reduzierten Unterstützung der Ukraine führen. 2 Ali Wyne, Despite the War in Ukraine, the U.S. Pivot to Asia Is Accelerating, www.worldpoliticsreview.com, 14.3.2023

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Für Trump gilt das allemal. Sein Versprechen, „binnen 24 Stunden beende ich den Krieg in der Ukraine“,3 muss für die Osteuropäer wie eine Drohung klingen, setzt aber Biden zusätzlich unter Druck – zumal Trump die Kürzung bzw. sogar Streichung der Unterstützung der Ukraine bereits bei der kommenden Kongress-Debatte für den Haushalt 2024 als Waffe gegen Biden einsetzen könnte. Auf die Frage einer CNN-Moderatorin, ob Trump wolle, „dass die Ukraine den Krieg gewinnt“, gab Trump jedenfalls keine Antwort – was natürlich auch eine Antwort ist. Ganz eindeutig war dagegen, was Trump von Europa verlangt: „Ich will, dass Europa mehr zahlt. Die zahlen nur 20 Milliarden, wir zahlen 170. Die sollen das ausgleichen!“ Die Ukraine in der Falle Für die Ukraine ist diese Situation enorm kritisch und für ganz Europa zumindest hoch ambivalent. Einerseits würde bei einem schnellen Ende des Krieges infolge nachlassender Unterstützung des Westens und dadurch erzwungener Nachgiebigkeit gegenüber Russland der Konflikt nicht wirklich gelöst und der Frieden kein wirklicher sein, oder jedenfalls keiner von Dauer. Andererseits müssen auch Europa und selbst die Ukraine ein Interesse an einer baldigen Befriedung haben – schon weil das Land sonst Gefahr läuft, im Falle eines Trump-Sieges ohne die entscheidende Unterstützung der USA dazustehen. Der Ukrainekrieg hat nochmals sehr deutlich gemacht, wie fundamental Europa von der Schutzmacht USA militärisch abhängt. Die europäische Gemeinschaft hat es seit 1989/90 nicht vermocht, eine eigene kollek3 So Trump beim „Townhall Meeting“ von CNN, seinem ersten Interview für den liberalen Sender seit 7 Jahren, siehe: Stefanie Bolzen, „Binnen Stunden beende ich den Krieg in der Ukraine“, in: www.welt.de, 11.5.2023.

tive Verteidigung aufzubauen. Absehbarerweise ist, was Munition und Waffen betrifft, nicht nur Deutschland „blank“, sondern die gesamte EU. Ein Ende des Krieges ist somit auch, jenseits der Beendigung des täglich weitergehenden Mordens, für Europa wünschenswert, um der militärischen Abhängigkeit zu entkommen und eine stärkere Eigenständigkeit gegenüber den USA entwickeln zu können. Denn außer Frage steht wohl auch, dass diese für ihren militärischen Schutz Europas im Gegenzug – und in vielleicht schon naher Zukunft – Unterstützung im asiatischen Raum einfordern werden, sprich: Für ihr Engagement in der Ukraine erwarten die USA ein Engagement der EU im Indopazifik. Letztlich geht es dort um den zentralen Hegemonialkonflikt jedenfalls der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts – zwischen der absteigenden Supermarkt USA und der aufsteigenden Supermacht China mit ihrem klar formulierten Anspruch auf Taiwan. Längst erklären die Bellizisten auf beiden Seiten einen militärischen Konflikt für unvermeidbar. Ihnen zufolge handelt es sich nicht mehr um eine Frage des ob, sondern bloß um die Frage des wann. Tatsächlich bereiten sich die USA seit Jahren auf einen möglichen Krieg im Indopazifik vor. Und im Schatten des Ukrainekriegs spitzt sich die südostasiatische Krise weiter zu. Während China in der Straße von Taiwan ein gewaltiges Militärmanöver durchgeführt hat und die USA daraufhin ein Kampfschiff auffahren ließen, werden überall in der Volksrepublik bereits neue Rekrutierungsbüros der Armee eröffnet, um für den Überfall auf Taiwan und dessen Folgen gerüstet zu sein. Xi Jinping habe sein Land allein im März dieses Jahres gleich viermal öffentlich auf einen Krieg gegen Taiwan eingestimmt, berichtet der Ostasien-Experte Alexander Görlach.4 4 Alexander Görlach, Die Stimme der freien Welt, in: „Die Welt“, 25.4.2023.

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Dieser Krieg aber ginge in seinen Konsequenzen noch weit über den in der Ukraine hinaus: „Die Schutzverantwortung, die Washington seit 1979 für Taiwan übernommen hat und gesetzliche Verpflichtung der Vereinigten Staaten ist, würde den Konflikt in Windeseile in einen Weltkrieg eskalieren“, so Görlach. Denn so wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Europa im Zentrum des US-amerikanischen Interesses stand, ist es heute Südostasien, was zu einem immensen Einsatz aller Kriegsmittel führen könnte. Hegemonialkonflikt China vs. USA Europa darf sich angesichts dieser Konstellation keinen Illusionen hingeben: Die Verlagerung der geopolitischen Relevanz gen Osten erscheint – schon aufgrund der enormen Bevölkerungsmenge und ihrer Produktivität – von fast zwangsläufiger Natur. Der einstige unipolare Moment der Jahre nach 1989/90 mit den USA als alleiniger Supermacht ist verstrichen, die neue Milliardenmacht China schon demographisch bedingt im Aufstieg (und dahinter Indien kaum minder). Dagegen agieren die USA wie eine Weltmacht im Abstieg, in harter Verteidigung ihrer Interessen und keineswegs als wohlmeinender Hegemon. Von daher besteht eine immense Gefahr für Europa, in dieser neuen geopolitischen Großkonstellation, der Auseinandersetzung der beiden Supermächte, zerrieben zu werden. Wie sehr die USA geneigt sind, ihre Interessen auch gegenüber dem europäischen Konkurrenten durchzusetzen, zeigt sich an der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik. Einerseits betreibt die Regierung Biden eine durchaus progressive milliardenschwere Klimapolitik, die aber andererseits als Subventionsoffensive ganz stark auch gegen Europa und vor allem gegen Deutschland gerichtet ist und erhebliche Abwanderun-

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8 Kommentare gen zur Folge haben könnte.5 Insofern ist das Verhältnis Europas zu den USA höchst ambivalent. Auf der einen Seite sind die USA, wie der Krieg in der Ukraine zeigt, weiterhin unverzichtbare Schutzmacht für Europa, auf der anderen aber immer auch Großmacht mit hochgradig egoistischen Interessen. Schon zu Zeiten des Kalten Krieges war es ja keineswegs in erster Linie die so oft beschworene Wertegemeinschaft, die die Vereinigten Staaten zur Verteidigung West-Europas veranlasste, sondern nicht zuletzt das ökonomische Interesse am Schutz dieser wirtschaftlich wie politisch damals noch weit wichtigeren Sphäre gegenüber der in Berlin und Prag auch mit militärischer Gewalt agierenden Sowjetunion, in der damaligen Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West. Daher können wir nur von Glück sagen, dass Amerika unter dem Transatlantiker Biden derzeit noch ein vitales Interesse an Europa zeigt. Sollte dagegen im kommenden Jahr tatsächlich wieder der Putin- und Xi-Bewunderer Trump die Wahl gewinnen, könnte es mit dieser auch emotionalen Bindung der US-Führung an Europa ziemlich schnell vorbei sein. Deutschland ohne China-Strategie Daran zeigt sich, dass sich Europa gerade mit Blick auf China aus seiner strategischen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten befreien muss. Bis heute fehlt es jedoch der EU an einer konsistenten China-Strategie. Das gilt zum einen für das Verhältnis der beiden wichtigsten Staaten, Deutschland und Frankreich, zum anderen aber auch für die deutsche Regierung. Während sich Außenministerin Annalena Baerbock einer „wertegeleiteten Außenpolitik“ verschrieben hat, die teil5 Siehe das Beispiel Viessmann. Wenn dagegen jetzt seitens der EU ein ähnliches Programm aufgelegt würde, hätte das einen wenig produktiven Subventionswettlauf zur Folge.

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weise zum Moralüberschuss tendiert, agiert der Kanzler durchaus weit interessengeleiteter – allerdings auch sehr viel defensiver und oft mehr als Getriebener, als dass er die deutschen wie europäischen Interessen klar formulieren und für diese streiten würde. Somit fehlt ein echtes strategisches Zentrum in der deutschen Außenpolitik. Dieses strategische Vakuum durch die fatale Spaltung – Baerbock für die Moral und Scholz für die Interessen – hat zur Folge, dass fast immer aus der Tagesaktualität heraus argumentiert und gehandelt wird. Naheliegende Konsequenz ist die Flucht in den Schoß Amerikas, im Fall der Ukraine-Verteidigung aus schierer Einsicht in die Notwendigkeit. Hier liegt die sicher wichtigste Gemeinsamkeit von Baerbock und Scholz: Beide agieren – ganz in der bundesrepublikanischen Tradition – primär transatlantisch und pro-amerikanisch. Wobei der Kanzler in dieser Hinsicht über den reinen Transatlantismus hinausgeht – und zwar stärker als die Außenministerin, die sich vor allem an ihrem US-amerikanischen Kollegen Antony Blinken orientiert. Scholz hat erkannt, dass die reine Konzentration auf den alten Westen nicht reicht, weil sich zu viele Staaten ganz bewusst zwischen Ost und West positionieren und dem Westen eine stärkere Unterstützung auch aufgrund ihrer kolonialen Erfahrungen verweigern. Das gilt für die so relevanten BRICS-Staaten Brasilien, Indien, Südafrika, aber auch für viele mittelgroße Akteure. Aus Sicht von Scholz geht es in der „multipolaren Welt“ darum, diese neu entstehenden „Schwergewichte“ als Kooperationspartner zu gewinnen und den alten eurozentrischen Blick hinter sich zu lassen, so der Kanzler in durchaus gewollter Abgrenzung von Emmanuel Macron bei seiner Rede im Europäischen Parlament in Straßburg am 9. Mai. So recht Scholz mit dieser breiteren Verankerung Deutschlands und Europas in einer neuen multipolaren Welt hat, so sehr kommt es doch auch

auf eine eigenständige Definition der europäischen Interessen an. Doch in dieser Hinsicht verbleibt der Kanzler ganz in der fatalen Traditionslinie Angela Merkels: Einerseits verkündete diese nach der Wahl Trumps, „wir können uns nicht länger auf die USA als Ordnungsmacht verlassen“; andererseits ging sie auf die Pläne des französischen Präsidenten Emmanuel Macrons für eine stärkere EU, unabhängig von den Vereinigten Staaten, nie ein. Größere EU-Autonomie als Ziel Hier manifestiert sich der fundamentale Unterschied in Europa: Stärker als seit vielen Jahren bricht die Differenz auf zwischen einem ganz primär transatlantisch geprägten Deutschland – „Die Vereinigten Staaten bleiben Europas wichtigster Verbündeter“ (Scholz) – und einem gaullistisch geprägten Frankreich, das sein Heil vor allem in der eigenen Stärke sucht, erst Frankreichs und dann Europas. Gewiss, wenn Macron gerade jetzt – zum Zeitpunkt maximaler militärischer Abhängigkeit von den USA – von Europa als einer „dritten Supermacht“ fabuliert, erfolgt dies zweifellos zur Unzeit. Zudem agiert Macron dabei stets auch als französischer Machtpolitiker, für den militärisch gestützte Außenpolitik immer auch ein selbstverständliches Mittel der nationalen Interessenpolitik ist. Und dennoch hat Macron in der Sache weiterhin recht, wenn er ein „autonomes Europa“ anstrebt – gerade mit Blick auf die US-Wahl und die unvorhersagbare Zukunft der Vereinigten Staaten. Allerdings wird Europa nicht binnen weniger Jahre seine sicherheitspolitischen Versäumnisse der vergangenen 30 Jahre aufholen können, in denen es von der vermeintlichen Friedensdividende von 1989 meinte leben zu können. Das Ziel muss daher ein doppeltes sein: einerseits die Stärkung der westlichen Position in Gänze, gegen das

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neo-imperialistische Russland, aber zugleich Europas Unabhängigkeit und Stärkung der eigenen Position gegenüber den USA, gerade auch mit Blick auf mögliche Friedens- oder zumindest Waffenstillstandsverhandlungen. Diese Differenz der Interessen zeigt sich vor allem mit Blick auf Peking. Das europäische Interesse an China ist ein anderes als das der USA. Amerika ist, gerade hinsichtlich seiner Energieversorgung, weitgehend autark; es ist technologisch noch immer den meisten Staaten der Welt überlegen und seine geographische Lage macht es nahezu unangreifbar. Um den aufstrebenden Rivalen auszubremsen, wollen die USA ihre wirtschaftliche Verflechtung mit China radikal reduzieren, auch indem sie die globalen Lieferketten kappen. Ganz anders stellt sich die Position Europas und speziell Deutschlands als ausgewiesener Exportnation dar: Der bundesrepublikanische Wohlstand basiert auf der Globalisierung, nach der Wiedervereinigung noch mehr als zuvor, und damit nicht zuletzt auf den wirtschaftlichen Beziehungen zu China, sowohl als Absatzmarkt als auch als Produktionsstandort. Statt Decoupling ist daher De-Risking das Mittel der Wahl. Zwar ist es politisch wie moralisch (Unterdrückung der Uiguren) hoch problematisch, dass Deutschland – wie im Fall der Energie-Geschäfte mit Putin – in eine wirtschaftliche Abhängigkeit vom hoch autoritären China geraten ist. Allerdings führt die Einbindung Chinas in die globale Wirtschaft umgekehrt auch dazu, dass es Russland bis heute nicht in dem Maße politisch und erst recht militärisch unterstützt, wie es das eigentlich könnte. China will vor allem zweierlei verhindern: eine echte Niederlage Russlands, um nicht diesen so bequemen autokratischen Juniorpartner und billigen Rohstofflieferanten zu verlieren, aber auch eine Intensivierung des Krieges. Denn eine weitere, gar atomare, Eskalation würde China wirtschaftlich mit am härtesten treffen.

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10 Kommentare Insofern gibt es in der Friedensfrage durchaus gemeinsame Interessen und Möglichkeiten. Deshalb sollte Europa, wie von Macron gefordert, mit China, aber auch anderen Akteuren, etwa Brasilien, auf einen Frieden in der Ukraine hinarbeiten und dabei den chinesischen Friedensvorschlag, so defizitär er ist, genau prüfen. Worauf es gerade auch mit Blick auf die US-Wahl am meisten ankommt, ist zu verhindern, dass über eine weitere Eskalation aus einem noch territorial eingegrenzten Konflikt tatsächlich ein globaler wird, ob in Taiwan oder der Ukraine. Insofern ist das Einfrieren des Konflikts, anfangs durch einen Waffenstillstand, das derzeit wohl realistischste Ziel. Nur das bietet die Chance, aus dem heißen Ukrainekrieg einen, wenn auch eiskalten, Frieden zu machen. Für ein derartiges Einfrieren gibt es auch ein historisches Vorbild: 1961 war es US-Präsident John F. Kennedy, der – kaum im Amt – erst den Mauerbau akzeptierte, um so den Konflikt mit der Sowjetunion einzufrieren, und der dann die Idee der friedlichen, kompetitiven Koexistenz entwickelte. Diese führte über Willy Brandts Entspannungspolitik, die Helsinki-Konferenz von 1975 bis zum Mauerfall 1989/90 und damit zum Ende der Sowjetdiktatur. Vor 60 Jahren war es Deutschland, der Verursacher zweier Weltkriege, das den Preis der Spaltung zu bezahlen hatte. Heute trifft es, völlig unverschuldet, die Ukraine. Sobald die jetzt gerade angelaufene ukrainische Frühjahrsoffensive zum Erliegen gekommen und ein neues Patt eingetreten sein wird, dürfte der Zeitpunkt für erste relevante Verhandlungen gekommen sein. Dann könnte auf Basis der erreichten Frontlage das gemeinsame Interesse an einem Einfrieren des Konflikts bei den wesentlichen Akteuren überwiegen. Denn eines steht auch fest: Bis aus ihrem Inneren selbst eine demokratische Alternative durchbricht, werden wir mit den neuen Diktaturen koexistieren müssen. Allerdings fallen hier, beim

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Abgleich der Lage vor und nach 1989, zwei ganz entscheidende Unterschiede ins Auge: Erstens „fehlt“ es heute an der Mauer, dem Eisernen Vorhang, der Ost und West hermetisch voneinander trennte und so den eiskalten Frieden absicherte. Und zweitens handelt es sich beim heutigen Russland nicht um die damalige Status-Quo-Macht Sowjetunion, sondern um einen hoch revisionistischen Staat, dem nicht an sicheren Grenzen und einem dauerhaften Frieden in Europa gelegen ist. Schärfer noch formuliert: Während damals die östliche Ideologie mit dem „antifaschistischen Schutzwall“ einen aus dem Westen kommenden Faschismus imaginierte, haben wir es beim heutigen Putin-Russland mit einem Regime zu tun, dass mit seinen mörderischen Bombardements und Deportationen tatsächlich eliminatorische Züge aufweist. Diese zugleich ökonomisch höchst fragile Autokratie kann kein wirklicher Friedensgarant sein. Das Gleiche gilt aber auch, wenn auch in gänzlich anderer Weise, für die Ukraine. Umso größer und bedeutsamer, wirtschaftlich wie militärstrategisch, jene Gebiete sind, die unter russischer Besatzung bleiben, desto gefährdeter wird nicht nur der Waffenstillstand sein, sondern auch die Ukraine selbst – und umso abhängiger von der Unterstützung durch die europäischen Nachbarn. Auch hier zeigt sich der Interessenunterschied zu den USA: Die Folgen eines labilen Waffenstillstandes mit dramatischen Verlusten der Ukraine wären für die Europäer deutlich gravierender als für Amerika. Am Ende wird daher alles auf die wirksame Absicherung der Ukraine ankommen, ökonomisch wie militärisch. Und gerade weil eine Nato-Mitgliedschaft schon ob des nicht befriedeten Status des Landes nicht in Betracht kommt, muss die Devise doch umso mehr lauten: Ohne maximale Sicherheitsgarantien für die Ukraine ist alles andere nichts. Nur so wird ein Frieden überhaupt denkbar sein können.



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Thomas Greven

Russisch Roulette: Mit den US-Republikanern ins Chaos Welcher Teufel hat CNN bloß geritten, den großen Fehler der US-Medien von 2016 zu wiederholen, Donald Trump eine kostenlose Bühne für seine Hetze zu bieten? Immerhin schickte der von Trump so verachtete Nachrichtensender bei einer Town Hall genannten öffentlichen Diskussionsveranstaltung am 10. Mai mit Kaitlan Collins eine kritisch nachfragende Journalistin ins Rennen. Der in den Umfragen zur Präsidentschaftskandidatur der Republikaner klar führende Trump konnte seine Lügen und Beleidigungen im wichtigen Vorwahlstaat New Hampshire also keineswegs widerspruchslos wiederholen. Doch nicht nur beherrscht Trump die öffentliche Kontroverse wie kaum ein anderer – weswegen er wohl auch seinen immer noch unerklärten innerparteilichen Gegner Ron DeSantis hinwegfegen würde –, sondern es war auch sonst ein Heimspiel: Ein ihm freundlich gesinntes Publikum feuerte ihn immer wieder an, sogar als er Collins als „nasty woman“ beschimpfte – just einen Tag, nachdem er in erster Instanz wegen eines sexuellen Übergriffs zu fünf Millionen US-Dollar Strafe verurteilt worden war. Die Teilnehmer bejubelten auch seine Behauptung, Europa würde die USA auslachen, weil vor allem Washington die Verteidigung der Ukraine finanziere. Und: Den Krieg gäbe es mit ihm im Weißen Haus gar nicht, so der „Angeber-in-Chief“, und als Präsident könnte er ihn in 24 Stunden beenden. Vor allem aber goss Trump bei dieser Gelegenheit Öl ins Feuer einer Kontroverse, die die USA an den Rand einer ökonomischen Katastro-

phe führen kann – oder gar in den Abgrund: Beim Streit um die Erhöhung der Schuldenobergrenze des Bundes, so Trump, sollten die Republikaner auf keinen Fall einknicken. Vielmehr müssten sie auf ihrer Forderung beharren, die Grenze nur anzuheben, wenn Präsident Joe Biden massiven Haushaltskürzungen zustimmt. Bei diesem Erpressungsversuch könnte allerdings am Ende auch den treuesten Trump-Anhängern der Jubel im Halse steckenbleiben. Denn auf dem Spiel steht nicht nur die Zahlungsfähigkeit der Bundesregierung, die bereits seit der am 19. Januar erreichten Obergrenze von 31,4 Bill. Dollar nur noch durch „außergewöhnliche Maßnahmen“ ihren Verpflichtungen nachkommen kann, sondern damit auch die Kreditwürdigkeit der USA – mit unabsehbaren Folgen für die amerikanische Wirtschaft. Wie konnte es dazu kommen, dass mehr und mehr Republikaner bereit zu sein scheinen, die Wirtschaft vor die Wand fahren zu lassen, nur um die BidenRegierung zu schwächen? Welche politischen Konsequenzen hat die Auseinandersetzung für den Präsidentschaftswahlkampf und für die weitere Unterstützung der Ukraine? Kaum zu glauben, aber 1917 markierte die gesetzliche Einführung einer Schuldenobergrenze einen Fortschritt für die Bundesregierung, weil der US-Kongress fortan nicht mehr jede Schuldenaufnahme einzeln beschließen musste. Die damalige Flexibilisierung war wegen des Kriegseintritts der USA notwendig geworden und sollte zudem die Sorgen derjenigen

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12 Kommentare lindern, die der Bundesregierung nicht komplett freie Hand lassen wollten. Nur: Es ist ja ohnehin der Kongress, der jedes Jahr aufs Neue einen Haushalt verabschiedet, mit dem die bereits gesetzlich beschlossenen politischen Projekte finanziert werden sollen – mit Steuern, aber eben auch mit Schulden. Und so scheint es widersinnig, dem Kongress mit der Schuldenobergrenze zugleich ein Mittel in die Hand zu geben, die bereits getroffenen eigenen Beschlüsse immer dann infrage zu stellen, wenn zufällig im Verlauf eines Haushaltsjahrs besagte Obergrenze tatsächlich erreicht wird. Die Bundesregierung als Quell allen Übels Deshalb ist die Erhöhung gewöhnlich eine reine Routineangelegenheit. Darauf verweist die Biden-Regierung, um ihre Forderung nach einem „clean bill“, also einer bedingungslosen Erhöhung, zu begründen. Selbst ein Mehrheitswechsel im Kongress zwischen der Verabschiedung des Haushalts und der Erhöhung der Obergrenze erklärt nicht allein den aktuellen Erpressungsversuch der Republikaner. Auch in dieser Situation des „divided government“ ist die Obergrenze meist routinemäßig erhöht worden – schlicht, weil alle Beteiligten wissen, dass es viel Geld kostet, Zweifel an der Kreditwürdigkeit des Landes entstehen zu lassen. Denn auch die reichen USA müssen ständig neue Schulden aufnehmen, um alte abzulösen, und sind damit abhängig von Ratingagenturen wie Standards & Poor und Moody’s, deren Einschätzungen sich auf die Höhe der zu zahlenden Zinsen auswirken. Ein Kompromiss ist technisch leicht möglich und wird so auch von der BidenRegierung ins Spiel gebracht: Zunächst wird die Schuldenobergrenze ohne Bedingungen erhöht oder für einen bestimmten Zeitraum ausgesetzt. Dann verhandelt man über den Haushalt für

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2024 – ohne dass eine Partei der anderen einen Revolver an die Stirn hält (wobei der in Wahrheit eben ohnehin auf beide zielte). Die Regierung weiß, dass angesichts der veränderten Mehrheiten im Kongress nach der 2022er Wahl Einsparungen nötig sein werden, die auch Bidens Wunschprogramme betreffen werden. Doch die Forderungen der Republikaner („Grand Old Party“, GOP) weisen weit über den Spielraum hinaus, der nach Ansicht der Regierung besteht. Vor allem aber fehlt das für das skizzierte Kompromissverfahren notwendige Vertrauen sowohl zwischen der GOP und Biden als auch innerhalb der Republikaner. Denn die GOP hat sich sehr grundsätzlich gewandelt, und zwar nicht erst, seit Donald Trump auf der politischen Bühne erschienen ist. Tatsächlich steht inzwischen sogar die Regierungsfähigkeit der GOP infrage. Im Repräsentantenhaus treiben die aus der Tea PartyBewegung hervorgegangenen Abgeordneten des „Freedom Caucus“ den nur knapp gewählten Speaker Kevin McCarthy vor sich her. Niemand weiß, wie weit diese Extremisten zu gehen bereit sind, um die Bundesregierung zu bekämpfen, die gemäß ihrer kollektiven Wahnvorstellung von einer „deep state“ genannten Verschwörung beherrscht wird, die angeblich das Land zerstören will. In den Verhandlungen mit McCarthy vor dessen Wahl setzten sie durch, dass ein einzelner Abgeordneter die Absetzung des Speakers beantragen kann. Da McCarthy bei einem solchen Misstrauensantrag fast alle Stimmen seiner Fraktion brauchen würde, könnte er einen überparteilichen Kompromiss über die Schuldenobergrenze und den Haushalt für 2024 vermutlich nur um den Preis des eigenen Machtverlusts organisieren. Er befindet sich damit faktisch in Geiselhaft, denn die Extremisten scheinen wie besoffen von ihrer Macht als Zünglein an der Waage und haben für die an konkreter Regierungsarbeit interessierten Republikaner nur

Verachtung übrig. Inzwischen ist sogar fraglich geworden, ob Kevin McCarthy noch zu letzteren gehört, oder ob er nach dem Motto „if you can’t beat them, join them“ zu den Extremisten übergelaufen ist – sein scheinbar enges Verhältnis zur umstrittenen Abgeordneten und Verschwörungserzählerin Marjorie Taylor Greene deutet darauf hin. Und auch im Senat mehren sich die Stimmen in der GOP, die sich gegen eine bedingungslose Erhöhung der Schuldenobergrenze aussprechen. Es scheint, als hätten sich die Verschwörungserzählungen vom „deep state“ den traditionellen vulgärlibertären Vorstellungen derjenigen in der GOP angenähert, die die Bundesregierung für den Quell allen Übels halten und „in der Badewanne ersäufen“ wollen (Grover Norquist von „Americans for Tax Reform“). Werden die Republikaner tatsächlich so weit gehen, eine Wirtschafts- und Finanzkrise unvorstellbaren Ausmaßes in Kauf zu nehmen, um ihr – im Übrigen ahistorisches – Ideal einer wirtschafts- und sozialpolitisch entmachteten Bundesregierung durchzusetzen? Käme es dazu, dass das US-Finanzministerium den Schuldendienst gegenüber anderen Zahlungen priorisieren müsste, wäre mutmaßlich ein „government shutdown“ die Folge: Die Bundesregierung müsste quasi im Notbetrieb arbeiten. Für Rentner und Bundesbedienstete wäre dies unmittelbar katastrophal, weil sie kein Geld mehr erhalten würden. Auch der Vertrauensverlust in die Institutionen würde weiter verstärkt – ohnehin ist das Vertrauen in das Bankensystem angeschlagen, seitdem die Bundesbank zur Bekämpfung der Inflation die Zinsen drastisch angehoben hat: Weil die Kurswerte der älteren Bundesanleihen gesunken sind, müssen die Banken sie mit Verlust verkaufen, wenn zu viele Kunden gleichzeitig ihre Einlagen abziehen. Zudem prognostiziert der Internationale Währungsfonds bei einem Shutdown dramatische negative

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Konsequenzen auch für die Weltwirtschaft. Deshalb ist zu hoffen, dass doch noch eine politische Lösung gefunden werden kann. Manche Beobachter raten der Biden-Regierung, das Finanzministerium solle einfach eine Ein-BillionDollarmünze prägen – das Prägerecht ist von den Haushaltsgesetzen unabhängig – und diese dann beleihen. Andere weisen darauf hin, dass das Gesetz zur Schuldenobergrenze vermutlich ohnehin verfassungswidrig sei, weil die Bundesregierung von der Verfassung darauf verpflichtet wird, die Kreditwürdigkeit der USA stets zu sichern. Deshalb solle man die Obergrenze schlicht ignorieren – tatsächlich hat eine Gewerkschaft der Regierungsangestellten gerade eine diesbezügliche Klage eingereicht. Der Ethnonationalismus der GOP Doch selbst wenn eine Lösung gefunden werden sollte: Die grundsätzlichen Veränderungen in der angeblich so patriotischen GOP beeinträchtigen die Regierungsfähigkeit der USA und damit auch ihre außenpolitische Verlässlichkeit dauerhaft, sogar wenn Biden die Präsidentschaftswahl 2024 gewinnen sollte. Diese Veränderungen zeigen sich innenpolitisch wie außenpolitisch, ideologisch wie machtpolitisch. Als Partei der weißen Christen sieht sich die GOP als letztes Bollwerk gegen eine säkulare, von Minderheiten dominierte Gesellschaft. In der Defensive forciert sie eine rechtspopulistische Mobilisierung über Kulturkampfthemen. Im Kampf gegen die „wokeness“ findet sogar eine erstaunliche Emanzipation eines Teils der GOP von der von ihr traditionell unterstützten Geschäftswelt statt, beispielsweise wenn sich Unternehmen progressiv positionieren und sozialökologische Anlagestrategien verfolgen, oder – wie bei der Auseinandersetzung zwischen Disney und DeSantis – LGBTIQ-Rechte vertei-

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14 Kommentare digen. Der Kulturkampf hat einen stark christlich-konservativen Einschlag: Wer kein Christ ist, gehört nicht wirklich zu Amerika. Dieser „Christiannationalism“ ist nicht einfach konservativ, sondern längst reaktionär. Es geht nicht darum, den Wandel vorsichtig zu moderieren, sondern um eine Rückkehr in eine angeblich bessere Zeit. Unklar ist nur, wie weit zurück man in die Geschichte will – die Versuche, die Wahlbeteiligung von Minderheiten zu unterdrücken, lassen das Schlimmste befürchten. Als Partei der (weißen) Arbeiterklasse – pragmatisch definiert als Menschen ohne Collegeabschluss – hat die GOP den Protektionismus (wieder)entdeckt, der gleichwohl unter Trump vor allem instrumentell eingesetzt wurde, also, um Marktöffnungen zu erzwingen. Zudem hat sie ihren migrationsfeindlichen Nativismus und Rassismus verstärkt. Die Abgrenzung zu rechtsextremistischen Positionen bröckelt, und in der GOP ist eine starke ethnonationalistische Strömung entstanden. Sprich: Wer nicht weiß ist, gehört nicht wirklich zu Amerika. Während sich die Biden-Regierung über ihre Subventionspolitik und die Positionierung gegen den Hauptrivalen China den „America First“-Positionen der GOP annähert, auch um die „Arbeiterklasse“ für die Demokraten zurückzugewinnen, ist die GOP also dabei, neu zu definieren, wer überhaupt zu diesem „America“ gehört. Die christlich-nationalistischen und ethnonationalistischen Vorstellungen bedeuten mittelfristig möglicherweise einen grundsätzlichen Abschied von der traditionellen Überzeugung, dass in den USA eine Verfassungsidee im Vordergrund der nationalen Identität steht, die grundsätzlich jedem offensteht. Dieser „American exceptionalism“ war allerdings immer ein letztlich unerfülltes Ideal. Dies brachte Michelle Obama zum Ausdruck, als sie angesichts des Wahlsiegs ihres Mannes sagte, nun sei sie zum ersten Mal stolz auf ihr Land. Aber die Abkehr von

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diesem Ideal hätte erhebliche Konsequenzen, weil sie auch eine Abkehr vom wertegeleiteten Internationalismus bedeuten würde, zu dem die GOP nach dem Zweiten Weltkrieg erst gedrängt werden musste. Innenpolitisch ist diese Neuorientierung eine tickende Zeitbombe. Das gilt insbesondere dann, wenn bei der Wahl der Mittel zum Machterwerb und -erhalt nicht länger demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien geachtet werden, weil „die anderen“ angeblich eine apokalyptische Bedrohung darstellen. Auch außenpolitisch kann die Entwicklung der GOP dramatische Folgen haben. Wenn sich die USA vom demokratischen Universalismus – bekanntlich ohnehin nur selektiv respektiert – verabschieden, wenn also nicht mehr die Verfassung, sondern eine ethnisch und religiös definierte Nation Quelle der Identität ist, dann wird auch die demokratische Verfasstheit vernachlässigbar – die eigene wie die der internationalen Partner. Eine „weiße, christliche Identität“ würde die USA näher an Russland rücken und die GOP noch näher als bisher an Parteien wie die AfD, die „Passdeutschen“ die Zugehörigkeit zur Nation abspricht. Immerhin ist es fraglich, ob eine solcherart neuorientierte Politik mehrheitsfähig ist. Insbesondere wenn die Erpressungen der GOP tatsächlich zu einem Shutdown oder Schlimmerem führen, ist nicht ausgemacht, dass die Biden-Regierung dafür die Schuld zugesprochen bekommt. In der Vergangenheit haben GOP-provozierte Shutdowns den Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama eher geholfen. Nur leider sind in den USA Wahlsiege bekanntlich auch ohne Mehrheiten möglich, nicht nur für das Amt des Präsidenten, wo die Mehrheit der Stimmen im Electoral College zählt, sondern auch im US-Kongress, wo die republikanisch dominierten Bundesstaaten erheblich überrepräsentiert sind. Auch eine nicht mehrheitsfähige GOP kann also erheblichen Schaden anrichten.



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Amadeus Marzai

Indien: Auf dem Weg in die Tyrannei? Am 23. März vollzog sich in Indien ein Schauspiel, das der gängigen Beschreibung des Landes als „größte Demokratie der Welt“ unwürdig ist und veranschaulicht, wie weit die Erosion des demokratischen Systems mittlerweile vorangeschritten ist. Was war passiert? Oppositionsführer Rahul Gandhi war vom Obergericht des Bundesstaates Gujarat in einem Verleumdungsprozess zu zwei Jahren Haft verurteilt worden, die maximal zulässige Strafdauer. Weil das indische Recht vorsieht, dass Volksvertreter ihr Mandat verlieren, wenn sie zu zwei oder mehr Jahren Haft verurteilt werden, musste Gandhi seinen Abgeordnetensitz im Unterhaus des indischen Parlaments räumen. Gandhi ist einer der letzten relevanten Widersacher der seit 2014 amtierenden hindunationalistischen Regierung von Premier Narendra Modi. Und der zugrundeliegende Vorwurf wirkt mehr als vorgeschoben. Auf einer Wahlkampfveranstaltung im Vorfeld der nationalen Parlamentswahl 2019 hatte Gandhi die rhetorische Frage gestellt, „warum eigentlich alle Diebe mit Nachnamen Modi heißen“. Gandhi, damals Präsident der altehrwürdigen Kongresspartei, bezog sich hierbei auf den Diamantenhändler Nirav Modi und den Cricket-Funktionär Lalit Modi, zwei der prominentesten Wirtschaftskriminellen der jüngeren indischen Geschichte. Doch Purnesh Modi, ein Parlamentarier in Narendra Modis Heimatstaat Gujarat und Parteifreund des Premiers, nahm die Äußerung zum Anlass, um Gandhi zu verklagen. Dieser habe schließlich die „gesamte Modi-Community beleidigt“. Dabei ist der Familienname Modi in Indien weit verbreitet und im Gegen-

satz zu anderen Nachnamen nicht an Kasten- oder Religionszugehörigkeit gebunden. Eine „Modi-Community“ gibt es so also gar nicht. In den zwei folgenden Jahren versickerte der Fall allmählich in den Mühlen der indischen Justiz und wurde auf Wunsch des Klägers gar ausgesetzt – nur um dann im Februar dieses Jahres aufgrund angeblicher neuer Beweise wieder aufgerollt zu werden. Mit einem neuen Richter nahm der Prozess nun deutlich an Fahrt auf, nach sieben Anhörungen in 20 Tagen fiel das Urteil und wurde die Höchststrafe verhängt. Gandhi, der unmittelbar danach seinen Abgeordnetenbungalow räumen musste, hat Berufung gegen das Urteil eingelegt, das seiner Meinung nach „harsch und übertrieben“ ausfiel und in „Windeseile“ gefällt worden sei. Gandhis Antrag auf vorläufige Strafaussetzung wurde jedoch abgewiesen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass der Oppositionsführer seine Verurteilung aus dem Gefängnis heraus anfechten muss. Die Bharatiya Janata Party (BJP), die teilweise rechtsextreme Regierungspartei, weist derweil alle Vorwürfe der Einmischung zurück. Allerdings steht das Urteil in der Kontinuität einer systematischen Instrumentalisierung der Staatsgewalt zulasten der Opposition seit Machtübernahme der BJP 2014. Offiziellen Statistiken zufolge richteten die Ermittlungsbehörden in den vergangenen sieben Jahren 95 Prozent ihrer Maßnahmen gegen Oppositionspolitiker, die sich unter Vorwürfen wie Korruption oder Betrug mit Befragungen, Festnahmen oder Haftstrafen konfrontiert sehen. Aber auch eine angebliche Beleidigung des

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16 Kommentare Premiers kann schon als Anlass dienen, ins Visier der zunehmend politisierten Strafbehörden zu geraten. Nun steht zu befürchten, dass sich derartige Fälle im Vorfeld der im Frühling 2024 anstehenden nationalen Parlamentswahl häufen werden und das, obwohl Modis Popularität unangefochten hoch ist. Noch nie wurde allerdings ein so wichtiger Politiker wie Gandhi belangt. Dabei gilt dieser gemeinhin als blass und wenig gefährlich für Modis Ambitionen auf eine dritte Legislaturperiode, hat der Sprössling der Nehru-Gandhi-Dynastie – dessen Vater, Großmutter und Urgroßvater jeweils Premierminister waren – doch schon zwei Bundeswahlen deutlich gegen den fast zwanzig Jahre älteren Modi verloren. Die Justiz als Waffe Ohnehin wurde die Unabhängigkeit der indischen Gerichte in den vergangenen Jahren durch Einflussnahme seitens Neu-Delhis und der zahlreichen BJP-geführten Bundesstaaten auf die Ernennung, Beförderung und Versetzung von Richtern drastisch kompromittiert. Urteile, welche die Exekutivgewalt beschränken oder Grundrechte betonen, werden in höherer Instanz regelmäßig und oft mit markigen Worten gekippt. An den Gerichtshöfen des Subkontinents lässt sich daher inzwischen ein Widerwillen beobachten, Fälle mit allgemeinem Bürgerrechtsbezug überhaupt zu behandeln oder Regierungskritikern Kaution zu gewähren. Auch vor der höchsten juristischen Instanz macht diese Entwicklung nicht Halt. So hat sich der Supreme Court zur Enttäuschung vieler nicht als unabhängiges Machtzentrum gegen die Modi-Regierung behauptet, sondern sich über die Jahre auf deren Seite geschlagen und die weitreichenden Befugnisse des Gerichts in den Dienst der extremistisch-ethnonationalen Regierungsagenda gestellt. Kein Fall steht

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dafür symbolischer als die Billigung des National Register of Citizens (NRC). Das Bürgerregister zielt in Verbindung mit dem Citizenship Amendment Act darauf ab, Millionen Marginalisierte und/oder Muslime, insbesondere (aber nicht nur) in der Grenzregion zu Bangladesch offiziell staatenlos zu machen.1 In einem beispiellosen Vorgang wurde der für die NRC-Absegnung und weitere regierungsfreundliche Urteile hauptverantwortliche Supreme Court-Richter wenige Monate nach seiner Pensionierung von der ModiRegierung mit einem Parlamentssitz belohnt. Indiens Oberstes Gericht, das als das mächtigste der Welt gilt, fiel zudem des öfteren mit aktiver Nichteinmischung auf: Richtungsweisende Probleme wie Neu-Delhis einseitige Aberkennung der verfassungsrechtlich garantierten Autonomierechte der Quasikolonie Kaschmir 2019, die über Nacht erfolgte Bargeldentwertung 2016 oder die immer undurchsichtigere Parteienfinanzierung ignorierte der Supreme Court so lange, bis vollendete Tatsachen geschaffen waren. In anderen Fällen ignorierte die Politik ihrerseits wiederholt Anordnungen des Obersten Gerichts, das selbst kaum Interesse an deren Durchsetzung zu haben scheint.2 Dabei galt das Justizwesen lange als letzter intakter Pfeiler der indischen Demokratie, der noch fähig wäre, dem seit 2014 durch die Regierung stattfindenden Angriff auf das säkulare und pluralistische Staatswesen zu widerstehen. Im Parlament verfügt die BJP seit jeher über eine erdrückende Mehrheit, auch hat sie die Befugnisse der Exekutive ausgeweitet und macht die großenteils ohnehin willfährigen Medien im Zweifel mundtot. Der Fall Rahul Gandhi ist daher ein weiteres 1 Vgl. Arundhati Roy, Das Ende des indischen Traums (II). Assam und das Grauen der Staatenlosigkeit, in: „Blätter“, 2/2020, S. 63-72. 2 Vgl. Anuj Bhuwania, The crisis of legitimacy plaguing the Supreme Court in Modi era is now hidden in plain sight, www.scroll.in, 1.12.2020.

Fanal für Indiens Weg in die ethnonationalistische Tyrannei – eine Entwicklung, die man kaum überbewerten kann, die im Westen jedoch noch unter dem Radar fliegt. Republikanismus vs. Nationalismus Seit der Machtübernahme 2014 sind die BJP, deren rechtsextreme und teilweise vom Nationalsozialismus inspirierte Mutterorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) und Premier Modi angetreten, Indien tiefgreifend zu verändern. Der liberale Republikanismus des Landes soll der Hindutva-Ideologie weichen, die eine autoritäre Ausrichtung nach Vorstellungen eines politisch-kulturell verstandenen und korporatistischen Hinduismus vorsieht. Ein starker und homogener Zentralstaat soll an die Stelle des gegenwärtigen Föderalismus treten. Rahul Gandhi und Narendra Modi stehen dabei stellvertretend für diese zwei Hauptströmungen indischer Politik. Gandhis Urgroßvater Jawaharlal Nehru etwa hatte sich als erster Premier des unabhängigen Indiens dazu entschieden, die Grenzziehung der Bundesstaaten nicht an ontologischen Merkmalen wie Ethnie oder Religion, sondern an den diversen Sprachen des Subkontinents auszurichten – Sprachen können schließlich erlernt werden. Modi hingegen, dessen Verwicklung als Ministerpräsident Gujarats in die antimuslimischen Pogrome von 2003 bis heute Fragen aufwirft, steht für ein Indien als Heimstätte der Hindus, in der Muslime, aber auch andere Religionsgruppen wie etwa Christen, allenfalls Bürger zweiter Klasse sind. Liberaler Republikanismus und Hindunationalismus à la Modi sind dabei keine friedlich konkurrierenden Strömungen, zielt letztere doch eindeutig auf die Zerstörung der ersteren. Anders als bei früheren BJP-Regierungen korrespondiert Modis politische Praxis oft mit der Hindutva-Ideo-

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logie. Ethnisch aufgeladene Selbstjustiz – beispielsweise Mobgewalt zum vermeintlichen Schutz von Kühen, Angriffe auf Kirchen oder antimuslimische Pogrome wie im Februar 2020 – wird von seiner Regierung indirekt goutiert und teilweise sogar institutionalisiert. Gleichzeitig droht Millionen marginalisierter Nicht-Hindus die Staatenlosigkeit und Internierung in Lagern. Der einzig mehrheitlich muslimische Bundesstaat Kaschmir wurde unter Kontrolle der Bundesregierung gestellt und ähnelt immer mehr einem Freiluftgefängnis.3 Aufgrund der gut geölten PR-Maschine der BJP, der unkritischen Massenmedien und weil die Hindutva-Politik die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft kaum tangiert, erfreut sich Modi dennoch einer außerordentlichen Beliebtheit. Krisen, wie die von Modi mitverursachten dramatischen Sterberaten während der Coronapandemie4 oder Gebietsverluste an chinesische Truppen in der Himalaya-Grenzregion, werden postfaktisch verdreht und mit einem bizarren Personenkult um den Premier gepaart. Fake News, wonach Modi als Favorit für den Friedensnobelpreis gilt und der höchstangesehene Regierungschef der Welt sei, sind inzwischen weit verbreitet. Sein Widersacher Rahul Gandhi ist bislang eher mit rhetorischen Nadelstichen denn mit konzertierter Oppositionspolitik aufgefallen, beispielsweise als er den Premier im Nachgang des demütigenden Grenzkonflikts mit China in „Surender Modi“ (engl. für Kapitulation) umtaufte. Allerdings ist der Zeitpunkt von Gandhis Verurteilung auffällig, da er kurz zuvor parlamentarische Proteste angeführt hatte, 3 Vgl. Arundhati Roy, Das Ende des indischen Traums. Kaschmir und die Hunde des Krieges, in: „Blätter“, 1/2020, S. 47-58. 4 Vgl. Arundhati Roy, „We are witnessing a crime against humanity“: Arundhati Roy on India’s Covid catastrophe, www.theguardian. com, 28.4.2021; Vidya Krishnan, Apokalypse mit Ansage. Corona und das moralische Versagen der indischen Gesellschaft, in: „Blätter“, 6/2021, S. 51-55.

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18 Kommentare die Aufklärung bezüglich Modis enger Beziehung zum Tycoon Gautam Adani forderten. Adani, einer der reichsten Männer der Welt, wurde kürzlich mit konkreten Vorwürfen über Unternehmensbetrug in historischem Ausmaß konfrontiert. Gandhis Hartnäckigkeit im Adani-Skandal wird dabei als Versuch gesehen, einen seltenen Stich gegen den Premier zu landen und die zersplitterte Opposition ein Jahr vor der Parlamentswahl zumindest in dieser Frage zu vereinen. Dennoch ist ein Machtwechsel im kommenden Jahr sehr unwahrscheinlich. Zu schwach ist die Opposition und zu beliebt Modi. Zu groß sind auch dessen Ressourcen, den öffentlichen Diskurs zu dominieren – Modi und die BJP haben immerhin schon zahlreiche Skandale weggesteckt – und zu tief in die Gesellschaft eingesickert die Narrative von Hindu-Suprematie und vermeintlicher nationaler Größe. Warum dann aber ein solches Verfahren gegen das Gesicht der fragmentierten Opposition anstrengen? Und warum reagiert die BJP auf Provokationen oft mit einer bizarren Überempfindlichkeit? Die naheliegendste Antwort ist Paranoia, wie sie so vielen autoritären Systemen inhärent ist. Bewegungen und Parteien wie der Hindunationalismus und die BJP, die sich als Vorreiter einer auf der Mehrheitsgesellschaft fußenden Identität verstehen, fällt es von Natur aus schwer, Macht abzugeben. Denn eine Ideologie, die einen ethnischen Nationalismus in den Mittelpunkt stellt, wird jeden innenpolitischen Dissens als Verrat am gesellschaftlichen Projekt, Ethnie und Staat im Zweifel auch gewalttätig zu synchronisieren, begreifen. Schon unter den Kongress-Regierungen krankte der postkoloniale indische Nationalismus an einem Fetisch für nationale Einheit und territoriale Integrität. Eine Paranoia, die nochmals drastisch akzentuiert wird, wenn wie aktuell Ethnonationalisten die Regierung stellen. So ist es nur folgerich-

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tig, dass Indiens fast 200 Millionen Muslime, die zweitgrößte muslimische Bevölkerung der Welt, von Regierung und großen Medien häufig als fünfte Kolonne des Erzrivalen Pakistan porträtiert werden. Über den mehrheitlich muslimischen Nachbarstaat im Nordwesten wird im indischen Mainstream so abfällig gesprochen wie noch nie. Hatten sich Indiens Liberale noch mit der Hervorhebung des säkularen Multikulturalismus von Pakistan abgrenzen wollen, tun es die heutigen Machthaber vor allem mit dem Hinweis, dass sie Hindus sind – und daher angeblich von vornherein überlegen. Den politischen Westen scheint der in Indien überhandnehmende Autoritarismus allerdings nicht zu interessieren. Premier Modi, der bis zu seinem Amtsantritt von den USA mit einem Einreiseverbot belegt war, ist in den westlichen Hauptstädten ein gefragter Gesprächspartner. Das hat verschiedene Gründe: Als bevölkerungsreichstes Land der Erde verfügt Indien über einen lukrativen Absatzmarkt und bringt jedes Jahr eine Heerschar an hochqualifizierten Fachkräften hervor. Auch sucht der Westen ein regionales Gegengewicht zu China und will Indien als einflussreiche Stimme des Globalen Südens aus seiner historisch engen Bindung zu Russland lösen. Und im Klima- und Umweltschutz kommt dem Land als drittgrößtem Emittenten klimaschädlicher Treibhausgase eine Schlüsselrolle zu. So ist Modi, der dieses Jahr den G20-Vorsitz innehat, im Juli Emmanuel Macrons Ehrengast bei den Feierlichkeiten zum französischen Nationalfeiertag und wurde auch von Olaf Scholz auf dessen Indienreise im Februar umgarnt. Dem Bundeskanzler zufolge seien Deutschland und Indien durch „die grundlegenden Werte der Demokratie“ verbunden. Dabei hat nicht erst der Fall Rahul Gandhi gezeigt, dass das Indien von Narendra Modi und der BJP schon lange keine liberale, sondern eine zutiefst illiberale Demokratie ist.



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Simone Schlindwein

Sudan: Der Machtkampf der Generäle „Wenn zwei Elefanten sich streiten, leidet das Gras“, so lautet ein bekanntes afrikanischen Sprichwort. Es lässt sich auf viele Konflikte in Afrika anwenden. Zuletzt auch auf den Ausbruch der Kämpfe in einem der größten Länder des Kontinents: dem Sudan. Seit Mitte April liefern sich dort zwei rivalisierende Generäle – der ehemalige Armeechef Abdel al-Burhan sowie der Befehlshaber der sogenannten Schnellen Eingreiftruppe (RSF), Mohamed Hamdan Dagalo – erbitterte Schlachten, vor allem innerhalb der Millionenstadt Khartum, mittlerweile aber auch in anderen Landesteilen. Rund 550 zivile Todesopfer und 4926 Verletzte haben die Kämpfe den Vereinten Nationen zufolge bislang gefordert.1 Tatsächlich aber dürften diese, auf den Angaben des sudanesischen Gesundheitsministeriums basierenden Zahlen noch weit höher liegen, schätzen Menschenrechtsorganisationen. Denn das Ministerium erfasst nur diejenigen, die in Krankenhäusern sterben oder eingeliefert werden. Viele Augenzeugen aus dem Sudan berichten jedoch, dass vor allem in der Hauptstadt Khartum unzählige Leichen auf den Straßen liegen. Nach den wochenlangen Kämpfen schlittert der Sudan geradewegs in eine humanitäre Katastrophe: Die Wirtschaft liegt am Boden, Transportrouten sind blockiert und die Infrastruktur ist vielerorts zusammengebrochen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt bereits davor, dass in naher Zukunft mehr Zivilisten aufgrund des Mangels an grundlegender Versorgung und des Ausbruchs von Krankheiten sterben

könnten als durch die Kämpfe selbst. So befürchten Ärzte, dass die zurückgelassenen Leichen Wasserquellen verunreinigen und Seuchen auslösen könnten. Ohnehin ist der Zugang zu Wasser durch die Kämpfe erheblich beeinträchtigt, sind Wasservorräte beschädigt und fehlen Reinigungsgeräte und Treibstoff für den Transport. Der Preis für sämtliche Grundnahrungsmittel ist inzwischen um rund 50 Prozent gestiegen.2 Zwei Drittel der Krankenhäuser sind nicht mehr funktionsfähig, die medizinische Versorgung der Bevölkerung ist oft nicht gewährleistet. Und in den meisten Regionen ist die Stromversorgung zusammengebrochen, Internet und Telefon funktionieren nicht mehr. Wer kann und die finanziellen Mittel dazu hat, verlässt angesichts dessen das Land. Doch während ein Großteil der im Sudan befindlichen Ausländer direkt nach Ausbruch der Kämpfe im April und meist unter Einsatz ihrer jeweiligen Sicherheitskräfte evakuiert wurde – allein die Bundeswehr hat nach eigenen Angaben mehr als 700 Personen, darunter rund 200 Deutsche, aus dem Bürgerkriegsland ausgeflogen –, bleiben die Sudanesen ihrem Schicksal überlassen. Und dieses ist alles andere als einfach: Aus der umkämpften Hauptstadt Khartum im Herzen des riesigen Landes zu fliehen, ist überaus gefährlich. Für viele Fluchtwillige stellt sich die Frage, in welche Richtung sie eine solch waghalsige Reise antreten können. Wer aus Khartum hinausfährt, findet sich bald in der Wüste wieder.

1 Vgl. Sudan: „Secure and immediate access“ needed for lifesaving aid, urges Guterres, www.news.un.org, 3.5.2023.

2 Vgl. UNICEF Sudan Humanitarian Situation Report No.1 (SAF-RSF Clashes), www.reliefweb.int, 25.4.2023.

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20 Kommentare Nur wenige Straßen führen durch die Sahara gen Norden, nach Ägypten. Und in fast allen Nachbarländern Sudans ist die Lage ähnlich prekär: Auch in Eritrea, Äthiopien und dem Südsudan herrscht Bürgerkrieg, Leid und Hunger bestimmen dort die Tagesordnung. Dennoch sind laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR mittlerweile rund 100 000 Menschen aus dem Sudan geflohen, zumeist nach Ägypten – und es werden täglich mehr. Hinzu kommen etwa 330 000 Menschen, die innerhalb des Sudans aus ihren Häusern vertrieben wurden und nun anderswo im Land Schutz suchen. Viele Sudanesen zeigen sich von den westlichen Staaten enttäuscht: „Als sie ihre Diplomaten herausholten, schickten sie eine Botschaft an die Menschen im Sudan“, so Hatim Elyas, Mitbegründer der Nichtregierungsorganisation Popular Initiative to Stop the War in Sudan. Er betont: „Wir sind von ihrer Haltung enttäuscht, insbesondere nach der Evakuierung ihrer Bürger aus dem Sudan im Hollywood-Stil.“ Die Sudanesen hatten sich von westlichen Diplomaten erhofft, dass sie die kämpfenden Generäle mit Sanktionen unter Druck setzen und sie dazu bewegen würden, sich wieder an den Verhandlungstisch zu begeben. Stattdessen können diese nun, weitgehend unbehelligt von der Weltöffentlichkeit, ihre Kämpfe schonungslos fortführen. Und bei diesen geht es allein um eines: Macht. Diktator Bashirs blutiges Erbe Seit der übermächtige Diktator Omar al-Bashir 2019 nach 30 Jahren Alleinherrschaft von der Zivilgesellschaft und dem Militär aus dem Amt gehievt wurde, befindet sich das Land in einer extrem fragilen Übergangsphase.3 Dass diese nach heftigen Machtkämpfen nun in einem blutigen Bürgerkrieg 3 Vgl. auch Jörg Armbruster, Demokratie versus Despotie: Sudans Ringen um seine Zukunft, in: „Blätter“, 2/2022, S. 101-108.

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endet, haben viele Experten bereits befürchtet. Dabei hatten die Sudanesen so viel Hoffnung. Nach Jahrzehnten der Terrorherrschaft unter einem mit Haftbefehl vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gesuchten Herrscher wie Bashir sowie dem Joch jahrzehntelanger internationaler Wirtschaftssanktionen hatten sich die Menschen 2019 auf die Straße getraut – zum Protest. Der Grund: Die Inflation und damit die Lebensmittelpreise waren ins Unermessliche gestiegen. Kaum jemand konnte sich mehr ein Stück Brot leisten. Erstmals begannen sich Zivilgesellschaft und Opposition zu organisieren: Sie kamen in der Hauptstadt regelmäßig in Nachbarschaftskomitees und zu Protestaktionen zusammen, denen sich immer mehr Menschen anschlossen. Am 19. April 2019 versammelten sich Zehntausende zu einem Sitzstreik vor dem Armeehauptquartier in Khartum – die Streitkräfte sind eine der zentralen Säulen der Macht im Land. Die Demonstrierenden riefen die Generäle auf, Bashir zu stürzen, was sie letztlich auch taten. Der Diktator landete im Hochsicherheitsgefängnis und die Generäle verhängten einen dreimonatigen Ausnahmezustand. Von da an stand die Frage im Raum, wer das Land künftig regieren würde und welche Richtung dabei eingeschlagen werden sollte: eine Hinwendung zur Demokratie oder eine neue Militärherrschaft? Zunächst einigten sich die Generäle mit den Vertretern der Zivilgesellschaft auf eine Machtteilung. Ein gemeinsamer „Rat“ aus Militärs und Zivilisten wurde eingesetzt, der für eine Übergangszeit das höchste Organ der Staatsgewalt darstellen sollte – bis eine neue Verfassung ausgearbeitet, Wahlen abgehalten und neue Institutionen gegründet würden. Doch so weit kam es nicht. Als sich die Zivilgesellschaft noch vor Ablauf des dreimonatigen Ausnahmezustands zu einem weiteren Sitzstreik vor dem Armeehauptquartier versammelte, zück-

ten die Generäle die Waffen: Über 100 Menschen starben im Kugelhagel, unzählige wurden verletzt, mehr als 70 Frauen von Soldaten vergewaltigt. Das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte am 3. Juni 2019 ging unter dem Begriff „Khartum Massaker“ in die Geschichtsbücher ein. Rivalität im Sicherheitsapparat Was die Ereignisse jener Tage deutlich zeigten, war die interne Spaltung von Sudans enormem Sicherheitsapparat, auf den sich Bashirs uneingeschränkte Macht 30 Jahre lang gestützt hatte. Nach dem Prinzip „teile und herrsche“ hatte der Diktator innerhalb seiner Sicherheitsorgane rivalisierende Institutionen etabliert, die sich gegenseitig in Schach hielten. Eine wesentliche Gruppe war die sogenannte Schnelle Eingreiftruppe (RSF) unter General Mohamed Hamdan Dagalo, besser bekannt unter seinem Kriegsnamen Hametti. Als Neffe eines führenden Clanchefs aus der abgelegenen Bürgerkriegsregion Darfur, wo Kamelhirten und Händler bewaffnet unterwegs sind, wurde seine auch als „Janjaweed“ (übersetzt: die Teufel auf Pferden) bekannte Reitermiliz 2003 von Präsident Bashir als Stoßtrupp aufgestellt, um in Sudans Peripherie, wo Bashirs Macht nur begrenzt hinreichte, Rebellen zu bekämpfen. Hametti wurde zum Handlanger des Präsidenten und erledigte für diesen fortan die Drecksarbeit, wofür er später grausamer Verbrechen bezichtigt wurde. Im Jahr 2009 erließ der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl gegen Sudans Präsident Bashir. Darin ist auch Hametti als ausführender Befehlshaber erwähnt. Der Vorwurf: Völkermord in Darfur. Hamettis RSF war in den letzten Jahren von Bashirs Herrschaft sehr mächtig geworden. Sie unterstand direkt dem Präsidenten, außerhalb der Befehlsstruktur der Armee. Im Zuge der europäischen Migrationspolitik

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gegenüber Afrika avancierte er im Sudan zu einem entscheidenden Akteur, denn Bashir übergab der RSF die Aufgabe, Sudans lange Grenzen in der Wüste zu überwachen. „Also arbeiten wir stellvertretend für Europa“, hatte Sudans oberster Grenzschützer 2016 bei einer Pressekonferenz in Khartum geprahlt und 800 festgenommene illegale Migranten präsentiert. Spätestens da war der Kamelhirte aus der Provinz in den höchsten Machtzirkeln Khartums angekommen. Seitdem war seine RSF in der Hierarchie aufgestiegen, bekam ausreichend Ausrüstung und Soldaten unter sein Kommando. Bashir verließ sich im Machtgefüge immer mehr auf Hametti, der den direkten Zugang zum Präsidenten genoss. Als der Präsident dann im April 2019 von Sudans Generalstab verhaftet wurde, ging es für Hametti um alles oder nichts. Klar war: Sollte Bashir an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgeliefert werden, was die Zivilgesellschaft in ihren Sitzstreiks immer wieder forderte, wäre Hametti mit dran. Als Vize-Vorsitzender des Übergangsrates konnte er dies nicht zulassen. Er schickte seine RSF-Truppen los, um gegen die Protestierenden vorzugehen. Die RSF schoss beim Khartum-Massaker brutal in die Menschenmenge und machte sich über die Frauen her. Seitdem stehen sich Hametti und General Abdel al-Burhan als direkte Rivalen gegenüber. Burhan, unter Bashir Generalinspekteur der Armee, stand nach der Revolution im April 2019 dem Übergangsrat vor, den er nach langen Machtkämpfen mit den Vertretern der Zivilgesellschaft im Oktober 2021 letztlich auflöste und sich selbst zum Vorsitzenden eines neuen, ihm loyalen Rates an die Macht putschte. Seitdem galt er als oberster Herrscher des Landes, Hametti nur als sein Vize. Burhan versicherte zwar, dass er die Herrschaft nach für Juli 2023 anberaumten Wahlen einer Zivilregierung übergeben würde. Doch soweit sollte es nicht

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22 Kommentare kommen. Als Hametti in den frühen Morgenstunden des 15. April 2023 seine Truppen in Khartum losschickte, um den Flughafen und andere strategisch wichtige Einrichtungen unter Kontrolle zu bekommen, brach der Machtkampf unter den sogenannten Elefanten offen aus. Jetzt leidet das Gras.

Angesichts der drohenden humanitären Katastrophe versuchen verschiedene UN-Agenturen derweil, Hilfsgüter ins Land zu bekommen. Das allerdings ist kompliziert: Laut WHO liegen 80 Tonnen medizinischer Ausrüstung in Containern im Hafen von Port Sudan am Roten Meer und warten auf die Freigabe durch den Zoll.4 Und die Lieferung ins Landesinnere sowie in die verschiedenen Regionen des großen Landes ist gefährlich. Sechs Lastwagen mit Hilfsgütern seien bereits geplündert worden, klagt UN-Hilfschef Martin Griffiths und fordert die Konfliktparteien auf, den Hilfstransporten freie Passagen zu ermöglichen. Die Zeit ist knapp, warnen die Hilfsagenturen: Die Waren müssen vor Beginn der Regenzeit im Juni verteilt werden, weil dann viele Straßen und Transportwege unpassierbar werden. Auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR setzt derzeit einen Notfallplan auf. Es rechnet mit rund 860 000 Menschen, die in naher Zukunft aus dem Sudan fliehen werden, darunter 580 000 Sudanesen sowie Menschen, die zuvor selbst Flüchtlinge im Sudan waren. Bis zum Ausbruch des Krieges beherbergte das Land mehr als eine Million Geflüchtete aus verschiedenen Krisengebieten Afrikas, vor allem aus Eritrea, Äthiopien und dem Südsudan. All diese Menschen fliehen jetzt erneut und müssen weiter versorgt werden. Es sei davon auszugehen, dass die meis-

ten in Ägypten Schutz suchen werden, vermutet das UNHCR. Viele Südsudanesen würden dagegen vermutlich in ihr Heimatland zurückkehren. Um diese zu versorgen, benötige das Flüchtlingshilfswerk bis Oktober umgerechnet rund 400 Mio. Euro.5 „Die humanitäre Lage im und um den Sudan ist tragisch“, appelliert Raouf Mazou, stellvertretender Hoher Kommissar des UNHCR an die Weltgemeinschaft und betont: „Dies ist nur ein Anfang. Weitere Hilfe wird dringend benötigt.“ Umso wichtiger sind die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, auf ein Ende des Konflikts im Sudan hinzuwirken. Doch dass dieser bald vorbei ist, davon ist derzeit nicht auszugehen. Zwar bemühen sich die Nachbarländer sowie internationale Institutionen um Friedensverhandlungen. Die Arabische Liga, deren Mitglied Sudan ist, hielt bereits mehrfach Gespräche mit den rivalisierenden Konfliktparteien in Ägyptens Hauptstadt Kairo ab. Auch Saudi-Arabien bietet sich gemeinsam mit den USA als Vermittler an. Dort treffen sich nun Delegationen beider Seiten zu Gesprächen. Im Schulterschluss mit der Afrikanischen Union boten sich auch die regionalen Staatschefs von Kenia, dem Südsudan und Dschibouti an, in Südsudans Hauptstadt Gespräche mit den rivalisierenden Generälen anzuberaumen. Doch zumindest bislang scheiterten alle Gesprächsversuche an der Nichteinhaltung eines Waffenstillstandes in Khartum und den anderen umkämpften Regionen – zu verhärtet sind die Fronten und zu groß die Hoffnungen beider Seiten, den jeweiligen Gegner doch noch besiegen zu können. Mittlerweile breiten sich die Kämpfe immer weiter aus, auch auf abgelegene Regionen wie Darfur. Wie sich die aufgehetzten Elefanten nun wieder beruhigen lassen – das ist aktuell nicht abzusehen.

4 Vgl. WHO Eastern Mediterranean Regional Office (EMRO) @WHOEMRO, www.twitter. com, 2.5.2023.

5 UNHCR: Sudan refugee response will need $445 million for rising numbers fleeing Sudan, www.unhcr.org 4.5.2023.

Die Zeit für Hilfe drängt

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Claus Leggewie

Algerien: Feinderklärung nach innen Algeriens autoritäres Regime befindet sich nach dem Abklingen der Coronapandemie und seit dem Ukrainekrieg in einer komfortableren Lage als noch zu Jahresbeginn 2020. Die Pandemie hat die Hirak-Massenproteste der Demokratiebewegung, die das Regime jeden Freitag in der Hauptstadt Algier und an vielen Orten des Landes unter Druck gesetzt hatten, fast völlig abgewürgt. Und der Ukrainekrieg hat dem wichtigen Erdgas- und Erdölexporteur durch größere Ausfuhrmengen und steigende Preise einen beträchtlichen windfall profit beschert. Laut vorläufigen Daten der Sonatrach-Jahresbilanz verdoppelten sich die Einnahmen aus Kohlenwasserstoffexporten 2022 auf 60 Mrd. US-Dollar gegenüber dem Vorjahr.1 Von Russland abhängige Staaten antichambrieren in Algier um die kurzfristige Lieferung von Flüssiggas, mittelfristig für den Aufbau der in Algerien noch fast völlig fehlenden erneuerbaren Energien. Das Regime, das in der endlosen Krise um den dahinsiechenden Präsidenten Abd al-Aziz Bouteflika und vor allem mit dessen Ankündigung einer erneuten Kandidatur 2019 schwer ins Schleudern geraten war,2 steht mehr denn je unter der Kontrolle der Armeegeneräle. Die Demokratiebewegung hat kein populäres Regierungsprogramm entwickelt und auch keine homines novi hervorgebracht, die eine Alternative zum abgetakelten Regime der „alten Kämpfer“ und jungen Technokraten darstellen und die algerische Jugend – also die Mehrheit der Bevölkerung – hinter sich hätte verei-

nen können. Nachdem der Hirak Hoffnungen auf eine bessere Zukunft geweckt und die massenhafte Auswanderung über das Mittelmeer verringert hatte, suchen viele jetzt nur noch in Europa oder den USA einen Ausweg aus der heimischen Misere. Dabei ruhten auf Algerien einst weltweit große Erwartungen. Seit seiner Unabhängigkeit 1962 war das Land ein Vorreiter der Blockfreienbewegung und einer selbstbewussten Politik der „Dritten Welt“ gewesen. Untermauert wurde das seit den späten 1960er Jahren durch eine umfassende Industrialisierung auf Grundlage der reichlichen Erdöl- und Erdgasressourcen. Die Strategie wirtschaftlicher Unabhängigkeit ging jedoch nur teilweise auf und stand unter Kontrolle des autoritären Regiments von Einheitspartei, Armee und Polizei. Das Regime in Algier entging nicht dem „Ressourcenfluch“, dem für viele Rohstoffexportländer typischen Schicksal einseitiger Entwicklung, die hier mit einer Umverteilung an die rasch wachsende Bevölkerung einherging. Wie in vielen auf Grundrenten angewiesenen Ländern zeigten sich auch in Algerien bald ein autoritärer Regierungsstil, eine wuchernde Korruption und eine schamlose Kleptokratie. Die Abhängigkeit von Importen vor allem bei Agrarprodukten wuchs; der amtierende Präsident Abdelmadjid Tebboune klagte einmal, das Saharaland müsse sogar Sand importieren, um den stets defizitären Wohnungsbau zu gewährleisten. Jeder Einbruch der Erdöl- und Erdgaspreise brachte die algerische Petrowirtschaft ins Wanken.3

1 „El Watan“, 28.3.2023. 2 Vgl. Claus Leggewie, Algerien: Abschied von den Mumien, in: „Blätter“, 4/2019, S. 33-36.

3 Vgl. Claus Leggewie und Rachid Ouaissa, Algerien: Das Ancien Régime vor der Implosion?, in: „Blätter“, 7/2021, S. 33-36.

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24 Kommentare 1980 und 1988 brachen Massenrevolten aus, in der „schwarzen Dekade“ der 1990er Jahre versank Algerien in einem mörderischen Bürgerkrieg. 2019 gingen dann Hunderttausende, darunter massenhaft Frauen, unter dem Slogan Hirak (Bewegung) auf die Straße. Doch heute herrscht im Inneren Ruhe, besser gesagt: Friedhofsruhe. Gleichwohl kann sich das Regime nicht sicher fühlen, ist es doch von internen Zwistigkeiten und der latenten Aversion großer Teile der Bevölkerung bedroht. In solchen Fällen agitieren autoritäre Herrscher immer gerne gegen einen äußeren und einen inneren Feind. So spitzten sich die schon seit der Unabhängigkeit Algeriens bestehenden Spannungen zum Nachbarland Marokko zu: Algerien versteht sich als Schutzmacht der Sahraouis, der Bewohner der Westsahara, die sich Marokko faktisch einverleibt hat. Und Algerien widersetzt sich der Annäherung Marokkos und anderer arabischer Staaten an Israel und profiliert sich weiter als Frontstaat gegen den Zionismus und Anwalt der palästinensischen Sache.4 Kabylei: Der Kampf um die kulturelle Autonomie Den inneren Feind bildeten seit der Unabhängigkeit immer wieder die Kabylen, rund 5,5 Millionen Menschen, die in den Bergregionen und Städten Algeriens und etwa zur Hälfte in der Diaspora, vor allem in Frankreich, leben. Berber stellten die nordafrikanische Urbevölkerung vor der Islamisierung der Region, deren Kultur und Kleidung, Kunst und Alltagsgebräuche genauso ihre Besonderheit behielten wie die Sprache Tamasirt. Der Terminus Kabylen (von arabisch qabila, Stamm/Familie) verbreitete sich in der Kolonialzeit, als die Franzosen die kul4 Vgl. Claus Leggewie, Westsahara: Trumps letztes Opfer?, in: „Blätter“, 2/2021, S. 41-44.

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turellen Unterschiede zwischen den sesshaften Kabylen und ehedem nomadischen Arabern für ihre Zwecke nutzten.5 Die Kabylei war die Bastion des Unabhängigkeitskriegs und Hauptmotor der Demokratiebewegungen des postkolonialen Algeriens. Junge Kabylinnen und Kabylen stellten den Kern der Hirak-Bewegung, auch in Frankreich, wo die Mehrheit der Einwanderer kabylischen Hintergrund hat und einen säkularen Lebenswandel pflegt.6 Unter der Selbstbezeichnung Imazighen ringen kabylische Aktivisten schon seit 1962 um ihre sprachlich-kulturelle Autonomie. Damals stellte sich der einstige Widerstandsbezirk III unter Hocine Ait Ahmed, Chef des „Front des Forces Socialistes“ (Front der sozialistischen Kräfte), gegen Staatspräsident Ben Bella und die Armee. Die Auseinandersetzungen forderten über tausend Todesopfer. 1980 führte das Verbot einer Lesung des Lyrikers Mouloud Mammeri zu einer breiten Streikbewegung, die als „Berber-Frühling“7 im Gedächtnis blieb. Dieser führte zur Gründung des „Mouvement culturel berbère“ (Berber-Kulturbewegung) und 1989 des „Rassemblement pour la culture et la démocratie“ (Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie), die sich gegen die forcierte Arabisierung an den Schulen, im öffentlichen Leben und nicht zuletzt in der Verfassung wandten. Doch das Regime schlug auch moderate Autonomiebestrebungen erbarmungslos nieder, so geschehen im Jahr 2001. Damals wurde ein Referendum für die Unabhän5 Vgl. Mourad Ouchene, La résistance populaire en Kabylie 1830-1871, Diss. Bejaia, 2022; Bousse Allouche, Le colonialisme de bonne volonté a l’épreuve dans ‚Misère de la Kabylie’. Mouloud Feraoun corrige Albert Camus, Diss. 2010. 6 Vgl. Karima Dirèche, Histoire de l‘émigration kabyle en France au XXe siècle. Réalités culturelles et réappropriations identitaires, Diss. 1992. 7 Vgl. Karima Dirèche, Les Printemps berbères, in: Julius Dihstelhoff u.a. (Hg.), Entanglements of the Maghreb, Cultural and Political Aspects of a Region in Motion, Bielefeld 2021, S. 181-192.

gigkeit der Region gefordert, es kam wiederholt zu Schulboykotts und immer wieder erklangen aufrührerische Ultragesänge in den Fußballstadien. Der darauf folgende „schwarze Frühling“ mit 128 Toten und Verletzten ist auch Jüngeren noch in böser Erinnerung. Doch der Wunsch nach kultureller Autonomie – dem prominente Sänger wie der mutmaßlich 1998 vom Regime ermordete Matoub Lounès und Schriftsteller wie Mouloud Mammeri ebenso wie die politisierten Fußballfans Ausdruck verliehen – verstummte damit nicht und war auch nicht ganz erfolglos: 2002 wurde Artikel 3 der algerischen Verfassung, der Arabisch als „National- und Amtssprache“ festlegt, durch einen Zusatzartikel 3a ergänzt, wonach „auch Tamasirt eine Nationalsprache“ sei, die vom Staat „gefördert“ werden solle. 2016 wurde diese Konzession in Artikel 4 noch erweitert: Tamasirt ist nun dem Arabischen gleichgestellt und seit 2020 gehört Artikel 4 zu den „unantastbaren“ Verfassungsbestimmungen, die bei einer künftigen Verfassungsreform nicht geändert werden dürfen. Doch wurden diese Prinzipien sprach- und kulturpolitisch nie konsequent umgesetzt, so dass die meisten Kabylen im Alltag heute das maghrebinische Arabisch, gemischt mit französischem Vokabular, sprechen. Diversität als Störfaktor Gleichwohl gelten das Kabylische und die Berber-Bevölkerung dem Regime als latente Bedrohung Algeriens. Denn der von diesem propagierte antikoloniale Nationalismus geht seit den 1930er Jahren von einer mythisch überhöhten arabo-islamischen Nation aus, in der ethnische und kulturelle Diversität nur als Störfaktoren wahrgenommen werden. Strenggläubige Muslime und der politische Islam bewerten auch die religiöse Praxis der Kabylen als anti-

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islamisch und tendenziell laizistisch, also auf eine Trennung von Religion und Politik hinauslaufend. Ebenso ablehnend ist die Reaktion des immer diktatorischer auftretenden Regimes unter Staatspräsident Tebboune. Salem Chaker, der in der Diaspora aufgewachsene algerische Sprachwissenschaftler an der Universität Aix-Marseille und Herausgeber der renommierten „Encyclopédie berbère“, hat jüngst in einem Meinungsbeitrag für „Le Monde“ Alarm geschlagen. Die Kabylen würden erneut als Sündenböcke herangezogen, nicht zuletzt aus Rachegedanken: „Bei den letzten Präsidentschaftswahlen (2019) ging die Wahlbeteiligung in der Kabylei gegen Null: 0,001 Prozent in Tizi Ouzou und 0,29 Prozent in Béjaïa. Dieser Quasi-Boykott erklärt zweifellos die Hartnäckigkeit der Behörden gegen die Kabylei, der man diese vernichtende Niederlage anlasten will.“8 Kriegsartige Szenen Einzelne Vorfälle sind in bürgerkriegsartige Szenen eskaliert. Im August 2021 beispielsweise lynchte ein aufgebrachter Mob in der Kleinstadt Larbaâ Nath Irathen nahe Tizi-Ouzou den 26jährigen Djamel Bensmail. Der junge Mann war aus seiner Heimatstadt Miliana in Westalgerien angereist, um bei der Bekämpfung der großflächigen Waldbrände in dieser Region der Kabylei zu helfen, und dabei in Verdacht geraten, selbst ein Brandstifter zu sein. Daraufhin zerrte die wütende Menge den jungen Mann aus einem Polizeiwagen, erstach ihn auf dem Hof des Polizeireviers, zerrte den Körper auf den Marktplatz, trennte noch den Kopf ab und verbrannte den Leichnam. Dieser barbarische Akt, gegen den die Polizei nicht einschritt, 8 Salem Chaker, „En Algérie, la Kabylie est une proie facile que l‘on peut aisément désigner comme ennemi de la nation”, in: „Le Monde“, 27.4.2023.

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26 Kommentare wurde von Gaffern per Handy gefilmt und in sozialen Netzwerken geteilt. Es gab keinerlei Hinweise darauf, dass Bensmail, der als Musiker und Maler unterwegs und im Hirak aktiv war, einen Brand gelegt hatte. Die Feuersbrunst in den Bergregionen Algeriens ist, wie in anderen Fällen rund um das Mittelmeer, ganz überwiegend Folge der extremen Hitze und Trockenheit und damit eine lokale Ausprägung des globalen Klimawandels. Gegen die Personen, die Bensmail misshandelt und ermordet hatten, wurde immerhin ermittelt. Im November 2022 verurteilte ein Gericht in Dar El Beïda 49 Angeklagte zum Tode, weitere 38 zu überwiegend längeren Haftstrafen und sprach 17 Angeklagte frei. Ein Problem des Postkolonialismus Doch sagt dieses juristische Vorgehen nichts über die grundsätzliche Haltung des Regimes gegenüber den Kabylen aus. Im Gegenteil: Es suggeriert, „ausländische“ (im Klartext: marokkanische) Provokateure stünden hinter der Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegung, die heute vom „Mouvement pour l‘autodétermination de la Kabylie“ (Bewegung für die Selbstbestimmung der Kabylei, MAK) geführt wird. Das von dem populären, über 70jährigen Sänger Ferhat Mhenni gegründete MAK und die in London ansässige Rachad-Bewegung werden regelmäßig des Terrorismus bezichtigt, wobei in Algerien alles als Terror gilt, was den Mythos der nationalen Einheit infrage stellt und der Regierung die demokratische Legitimität abspricht. Dieses Schwarz-Weiß-Bild wird in der fast völlig gleichgeschalteten Presse9 und den sozialen Medien des Landes weithin geteilt. Die Repression der kabylischen Forderungen verweist auf ein strukturelles 9 Vgl. Claus Leggewie, Freiheit für Ihsane el-Kadi, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 31.3.2023.

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Problem des Postkolonialismus, das im Westen viel zu wenig beachtet und kritisiert wird. Der Widerstand gegen die Kolonialmacht hinderte die Befreiungsbewegungen nicht an deren Imitation in Gestalt eines straffen Zentralismus, der vermeintliche Separationsbewegungen und sprachlich-kulturelle Diversität abwehrt. „Zwar war der Kampf gegen die Kolonialisierung legitim und notwendig“, schreibt Chaker, „doch der sozio-historische Kontext, in dem sich der algerische Nationalismus herausbildete, führte zu dauerhaften ideologischen Optionen und politischen Praktiken: der zwanghafte Bezug auf die arabische und muslimische Identität, ein übersteigerter Nationalismus sowie eine starke Tendenz zum Einstimmigkeitsprinzip (unanimisme) und zur Ablehnung jeglicher Vielfalt. Dies führte zu einem ausgeprägten Autoritarismus, einer Justiz, die vollständig den Befehlen der Exekutive unterworfen ist, einer streng kontrollierten Presse und einer Omnipräsenz, ja Omnipotenz der Sicherheitsdienste.“10 Diese sind jetzt dazu übergegangen, einzelne Vertreter kabylischer Organisationen zu Gefängnisstrafen zu verurteilen, auch von Folterungen wird berichtet. Die vor allem in Paris und Umgebung tätigen Solidaritätskomitees haben im März unter der gelb-grün-blauen Berberflagge mit dem roten Freiheitszeichen zu Kundgebungen aufgerufen und an der Bastille demonstriert.11 So ging die Stimme der Kabylen nicht ganz unter in einer Welt, die derzeit mit dem Ukrainekrieg andere Sorgen hat. Zu dieser Tragödie gehört, dass Algier „neutral“ zu Putins Russland steht (wie früher zur Sowjetunion) und dass die Erben einer so bedeutenden antikolonialen Bewegung nichts gegen dessen imperiale Politik einzuwenden haben. 10 Chaker, a.a.O. 11 Vgl. Le CMA soutient l‘appel à la marche pour la Kabylie le 12 mars 2023 à Paris, www. congres-mondial-amazigh.org, 4.3.2023.



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Sara Meyer

Kolumbien: Neustart für Gustavo Petro? Als Gustavo Petro im vergangenen August in den kolumbianischen Präsidentenpalast Casa de Nariño einzog, war das ein absolutes Novum: Erstmals in der Geschichte des Landes stand mit ihm ein linker Politiker an der Spitze des extrem konservativ geprägten Staates.1 Petro und seine Vizepräsidentin, die afrokolumbianische Umweltaktivistin und Bürgerrechtlerin Francia Márquez, versprachen einen umfassenden „Wandel für das Leben“: einen Friedensschluss mit der linksgerichteten „Nationalen Befreiungsarmee“ ELN sowie den anderen im Land agierenden bewaffneten Gruppen, eine Landreform und tiefgreifende Reformen des Arbeits- und Gesundheitssektors. Auch dem Klimawandel und der Korruption sagte das neue Duo an der Regierung den Kampf an. Kurzum: Petro und Márquez wollten das Land von Grund auf umwälzen – zugunsten der ärmeren, historisch vernachlässigten Kolumbianer:innen. Nun aber zeigt sich, wie schwierig es ist, den angestrebten Wandel voranzubringen. Nach nur neun Monaten im Amt verkündete Petro Ende April überraschend den Bruch mit seiner bisherigen Regierungskoalition, der neben seinem eigenen linken Parteienbündnis Pácto Histórico auch mehrere Mitterechts-Parteien – Liberale, Konservative und die Partido de la U des einstigen Präsidenten Juan Manuel Santos – angehörten. Auf einen Schlag ersetzte er gleich sieben Minister:innen, nachdem er noch einen Tag zuvor alle 18 Minister:innen formal zum Rücktritt aufgefordert hatte. Dem vorausge1 Vgl. Anne Britt Arps, Kolumbien: Die linksgrüne Zeitenwende, in: „Blätter“, 7/2022, S. 21-24.

gangen war ein wochenlanger Streit um die von Petro geplante bürgerfreundlichere Gesundheitsreform – ein zentrales Reformversprechen des Präsidenten. Bereits Ende Februar hatte dieser Streit für den Rücktritt des liberalen Bildungsministers und zweier weiterer Kabinettsmitglieder gesorgt. Als nun die Parteivorsitzenden der Mitte-rechts-Parteien im Regierungsbündnis ihren Abgeordneten mit Strafen drohten, sollten diese dem Vorhaben im Kongress zustimmen, beendete Petro die Zusammenarbeit. Der Schritt, das Kabinett derart massiv umzubilden, kam selbst für Beobachter:innen überraschend. Zwar erlaubt die kolumbianische Verfassung dieses Vorgehen, um politische Barrieren aufzuheben. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte jedoch noch kein Staatschef so früh in der Legislaturperiode von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und seinen engsten Kreis ausgetauscht. Seither ist von einer Regierungskrise die Rede, der Präsident selbst spricht von einer „Notstandsregierung”. Mit dieser erhofft sich Petro, die von ihm angestrebten Sozialreformen leichter umsetzen zu können. Der „Weg des Wandels, für den Millionen Kolumbianer gestimmt haben“, werde mit dem „Reset“ der Regierung fortgesetzt, verkündete er entsprechend kurz nach Bekanntgabe seiner Kabinettsumbildung und betonte, er wolle ein Team, dass „Tag und Nacht arbeitet, dessen Herz für die Armen schlägt und nicht nur für ein Gehalt“. Kritiker:innen hingegen halten den eingeschlagenen Weg für zu „radikal” und „populistisch” – wohl auch deshalb, weil Petro am diesjährigen 1. Mai die Menschen im Land auffor-

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28 Kommentare derte, „Druck von der Straße“ auszuüben, um seine Reformen zu unterstützen und diesen so „die Stimme des Volkes“ zu verleihen. Sie warnen, der Präsident könnte das demokratische System und die Gewaltenteilung nicht mehr respektieren. Der Politologe John Mario González etwa sieht in Petros Regierungsstil gar „diktatorische Züge”.2 Auch wenn solche Warnungen überzogen erscheinen, hielt es der Präsident angesichts der massiven Kritik offenbar für nötig, bei einer von ihm einberufenen Zusammenkunft mit den fünf wichtigsten Gerichten am 9. Mai seinen Respekt für die Demokratie und die Unabhängigkeit der Justiz öffentlich zu bekräftigen. Fest steht: Petros ambitionierter Versuch, das extrem polarisierte Land zu vereinen und ein breites politisches Bündnis unter Einbeziehung des rechts-konservativen Lagers zu schmieden, ist mit der jüngsten Kabinettsumbildung gescheitert. Einen Konsens mit den liberalen und konservativen Kräften zu finden, schien zuletzt unmöglich. Fast alle nun neu ernannten Minister:innen gelten als Verbündete des Präsidenten und gehören zumeist der Liberalen Partei oder Petros Partei Colombia Humana an. Für Überraschung sorgte vor allem der Austausch von Finanzminister José Antonio Ocampo durch den Liberalen Ricardo Bonilla, einen alten Vertrauten Petros aus seiner Zeit als Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá. Dabei war es Ocampo gewesen, der im vergangenen Jahr maßgeblich die Zustimmung für Petros wichtige Steuerreform organisiert hatte. Zwar muss Petro nun zumindest aus seinem Kabinett heraus künftig nicht mehr mit Gegenwind rechnen. Doch im Parlament verfügt sein Bündnis Pácto Histórico nur über etwa ein Viertel der Sitze. Will er Gesetzesvorhaben durchs Parlament bringen, ist er also 2 Interview mit Politikwissenschaftler John Mario González 10.5.2023.

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weiterhin auf Kompromisse mit den traditionellen Parteien angewiesen. Das aber könnte dem erhofften Wandel auch in Zukunft den Wind aus den Segeln nehmen. Dabei hatte Petros Amtszeit eigentlich hoffnungsvoll begonnen: Im Dezember vergangenen Jahres gelang ihm, woran sein rechts-konservativer Vorgänger Iván Duque gescheitert war: die Verabschiedung einer Steuerreform. In Kolumbien gilt diese geradezu als historisch: Besteuert werden seit Jahresbeginn vermehrt Reiche, Erdöl- und Kohleunternehmen sowie Dividenden. Auch eine Vermögenssteuer wird eingeführt. Mit den erwarteten Staatseinnahmen von rund vier Mrd. Euro will die Regierung „den Hunger, Armut und Ungleichheit beseitigen sowie die Privilegien einiger weniger verringern“.3 Auch den Mindestlohn hob die Regierung auf etwa 230 Euro monatlich an. Zudem plant sie eine Arbeitsmarktreform, mit der vor allem der Anteil der informellen Beschäftigung ohne jegliche Absicherungen – in Kolumbien beträgt dieser gut 58 Prozent – verringert werden soll. Petros Vision vom »totalen Frieden« Doch gerade beim zentralen Vorhaben der Regierung, der Friedenspolitik, läuft es nicht rund. Der ehemalige Guerillakämpfer Petro will das schier Unmögliche schaffen: Er versucht mit den diversen illegalen bewaffneten Gruppen, welche weite Teile des Landes kontrollieren, die lokale Bevölkerung drangsalieren und am Drogenhandel verdienen, einen „totalen Frieden” zu finden. Neben der marxistisch geprägten ELN-Guerilla will die Regierung auch mit abtrünnigen Farc-Kämpfer:innen, die erneut zu den Waffen gegriffen haben, sowie mit mafiösen Akteuren wie dem Golfclan Ver3 Steuerreform in Kolumbien: Die Regierung besteuert Reiche und Ölmultis stärker, www. amerika21.de, 16.11.2022.

einbarungen treffen. Doch nicht nur seine politischen Gegner:innen sind skeptisch, ob ihm der ambitionierte Plan gelingen wird. Denn das stark militarisierte Kolumbien zu befrieden, gleicht einer Herkulesaufgabe: Die Gewaltakteure verfolgen jeweils eigene politische und wirtschaftliche Interessen und sind nicht zwingend an einem friedlichen Zusammenleben interessiert: Verschiedene Guerillagruppen, paramilitärische Milizen und auch Drogenkartelle kämpfen um die Vorherrschaft über etliche Regionen und auch staatliche Sicherheitskräfte sind in Gewaltakte verwickelt. Trotz Petros Versprechen erreichen die Bevölkerung stetig Meldungen von getöteten, entführten oder zwangsvertriebenen Zivilist:innen, was deren Glauben an den langersehnten Frieden erheblich schwächt. Zwar verhandelt die Regierung seit November tatsächlich mit der ELN über ein Friedensabkommen und unterzeichnete dazu bereits ein erstes Papier, das die Basis für den weiteren Verlauf des Friedensprozesses bilden soll. Mehrere Hundert vertriebene Indigene konnten dank der Verhandlungen bereits in ihre Territorien zurückkehren. Doch auch wenn Delegationen der Rebellen derzeit mit den staatlichen Vertreter:innen auf Kuba an einem dauerhaften Waffenstillstand arbeiten, gehen die Kampfhandlungen mancherorts weiter. Denn die ELN wirft der Armee vor, paramilitärische Gruppen gegen soziale Bewegungen einzusetzen, weshalb sie nicht bereit ist, die Waffen ruhen zu lassen. Große Pläne, wenig Macht Dabei strebt Petro sogar eine noch viel weitergehende Demilitarisierung des von Gewalt gebeutelten Kolumbiens an. Im vergangenen Jahr schaffte die Regierung die Wehrpflicht ab mit der Begründung, es seien vor allem Männer aus ärmeren Familien, die diesen

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Dienst leisteten. Der Dienst an der Waffe soll nun bis 2030 schrittweise abgebaut und durch einen „Sozialdienst für den Frieden“ ersetzt werden. Auch die durch das Friedensabkommen von 2016 – zwischen der damals größten linksgerichteten Guerilla des Landes, den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), und dem kolumbianischen Staat – initiierten Landreformen, die die Rückgabe geraubter Ländereien und die Umverteilung von Landbesitz anstrebt, hat die neue Regierung vorangebracht: Die ehemalige Agrarministerin Cecilia Lopez besiegelte im vergangenen Oktober ein Abkommen mit dem Viehzüchterverband FEDEGAN, welches dem Staat den Kauf von drei Mio. Hektar Land ermöglicht. 3500 Hektar Ländereien im Wert von 4,4 Mio. Euro wurden bereits Anfang März an 6200 kleinbäuerliche Familien übergeben. Seitdem händigte die Regierung weitere Landtitel an besitzlose Familien aus. Am 5. Mai verabschiedete die nunmehr neue Regierung zudem einen nationalen Entwicklungsplan, mit dem sie das Vorhaben einer gerechteren Landverteilung weiter voranbringen will. Der ehrgeizige, von sozialen Bewegungen mitgestaltete Plan soll die Inklusion von Frauen, der LGBTIQ+-Community und von indigenen und afrokolumbianischen Gruppen sowie die Rechte der arbeitenden Landbevölkerung stärken und die politische Mitsprache dieser Gruppen garantieren. Die Regierung will überdies eine Energiewende im Land herbeiführen und Kolumbien damit aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit fossiler Rohstoffe lösen. Momentan bezieht Kolumbien große Teile seiner Einnahmen aus dem Bergbausektor. Besonders mit der Kohle, die in der zweitgrößten Mine der Welt im Norden des Landes von dem Schweizer Unternehmen Glencore betrieben wird, erzielt Kolumbien beträchtliche Gewinne – zulasten

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30 Kommentare der Umwelt und der dort lebenden indigenen Bevölkerung. Petro plant den Kohleausstieg, die Einnahmen sollen in Zukunft durch den Tourismus abgedeckt werden, bisher aber fehlt dafür die nötige Infrastruktur. Immerhin: Für seinen Einsatz gegen den Klimawandel sicherte die US-Regierung Petro erst kürzlich 500 Mio. US-Dollar zu; und mit Deutschland unterzeichnete Kolumbien jüngst ein Abkommen, das dieser Transformation zugutekommen soll – für den 63jährigen Petro, der das südamerikanische Land in eine „Weltmacht für das Leben“ verwandeln will, kein unerheblicher Erfolg.4 All das zeigt: Der politische Wille für ein anderes Kolumbien ist vorhanden. Ob das Duo Petro-Márquez sein Versprechen, einen für die Bevölkerung spürbaren Wandel herbeizuführen, mit der neuen Minderheitsregierung aber wirklich wird einlösen können, hängt nicht zuletzt auch davon ab, dass es sein wichtigstes Rückgrat nicht zu verlieren: die Unterstützung der Bevölkerung. Sinkende Zustimmung Diese aber scheint aktuell zu schwinden. Während die Gegenstimmen im tiefgespaltenen Kolumbien immer lauter werden, verliert Petro seit Jahresbeginn an Zustimmung: Je nach Umfrage sind nur noch zwischen 30 und 40 Prozent der Bevölkerung von dessen Regierungsstil überzeugt, während 61 Prozent sein politisches Handeln kritisch sehen.5 Bis Anfang Februar hatte dagegen in den Umfragen die Zustimmung zum Präsidenten überwogen. Für viele scheint Petros Vision von einem gerechten und friedlichen Ko4 Colombia potencia mundial de la vida, www. dnp.gov.co, 5.5.2023. 5 Vgl. Se dispara impopularidad del presidente Gustavo Petro: 61%, www.wradio.com.co, 8.5.2023, Ponderado de aporbación de Petro: El Ocaso de la Luna de Miel, www.lasillavacia. com, 9.5.2023.

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lumbien in weite Ferne gerückt zu sein; ein Großteil glaubt schlicht nicht mehr an dessen Wahlversprechen „Veränderung für das Leben”. Stattdessen erinnern vor allem die Angriffe gegen Vizepräsidentin Márquez daran, wie polarisiert die kolumbianische Gesellschaft weiterhin ist. Erst Anfang Januar scheiterte ein Bombenanschlag auf die 41jährige, als diese ihr Heimatdorf besuchte. Nicht vergessen werden darf bei alledem auch, dass der linke Präsident mit seinen progressiven Ideen einem bedeutenden Teil der konservativ geprägten Bevölkerung ein Dorn im Auge ist: Das zeigte sich bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Juni 2022, die er mit seinem Parteienbündnis Pacto Histórico mit 50,5 Prozent nur äußerst knapp für sich entschied. Dennoch stehen soziale Bewegungen, indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften sowie große Teile der arbeitenden Landbevölkerung weiterhin hinter dem Präsidenten. Sie glauben zu Recht, dass die über Jahrzehnte andauernde Misere des von extremer sozialer Ungleichheit geprägten, politisch polarisierten und wirtschaftlich geschwächten Landes sich nicht innerhalb von ein paar Monaten beseitigen lässt. Aktuell scheint der Präsident voll und ganz auf die Mobilisierung dieser Gruppen zu setzen, um seine Vorhaben doch noch voranzubringen. Doch ohne Machtbasis im Parlament sind die Voraussetzungen dafür für das Duo Petro-Márquez alles andere als einfach. Ende Oktober 2023 finden die wichtigen Regionalwahlen statt, bei denen neben den Bürgermeistern auch Provinzgouverneure und Abgeordnete für die lokalen Parlamente gewählt werden. Spätestens dann wird sich zeigen, ob Petros gewagte Strategie aufgeht und er sein progressives Regierungsprojekt stabilisieren kann: Die Wahlen gelten als wichtiger Stimmungstest und könnten die Weichen für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2026 stellen.



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Erika Harzer

Nicaragua: Die Spirale der Unterdrückung Es war ein großer Einschnitt in Nicaraguas Geschichte: Vor über fünf Jahren – am 18. April 2018 – begannen Studierende gemeinsam mit Rentner:innen gegen die von der Regierung beschlossene Rentenreform zu demonstrieren, die eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge und eine Kürzung der ohnehin kaum fürs Überleben ausreichenden Rentenbezüge vorsah. Das brachte in der Bevölkerung das bereits mit tiefer Unzufriedenheit gefüllte Fass zum Überlaufen. Protestaktionen breiteten sich landesweit aus und gingen auch dann weiter, als die Regierung die Rentenreform wieder zurücknahm. Die Forderungen: Pressefreiheit, ein Ende der Repressionen und freie Wahlen. Das Regime von Ex-Revolutionsführer Daniel Ortega und seiner Ehefrau Rosario Murillo ließ die Proteste mit Hilfe von Polizei und sandinistischen Schlägertrupps brutal niederschlagen. Daraufhin solidarisierten sich damals Kirchenvertreter, Bäuer:innen, Gewerkschaften und alle möglichen gesellschaftlichen Gruppierungen mit den Demonstrierenden.1 Dennoch gelang es dem Regime letztlich, die Bewegung zu zerschlagen: Die Repressionswelle von 2018 hinterließ über 350 Tote, weit über 3000 Verletzte, Hunderttausende flüchteten und leben heute im Exil. Ein Ende der Repressionen ist nicht in Sicht: Bis Anfang 2023 ordnete das Regime die Schließung von 3273 Nichtregierungsorganisationen an.2 Auch 1 Vgl. dazu Toni Keppeler, Nicaragua: Der Revolutionär als Autokrat, in: „Blätter“, 9/2018, S. 25-28 sowie Gerhard Drekonja-Kornat, Kuba und Nicaragua: Die Revolution in den Zeiten von Corona, in: „Blätter“, 9/2020, S. 25-28. 2 Gobierno de Nicaragua cierra otras 25 oenegés, www.dw.com, 25.2.2023.

die Europäische Union bekam das diktatorische Vorgehen Ortegas jüngst zu spüren: In Reaktion auf ein Kommuniqué aus Brüssel von Mitte April, in dem EU-Sprecher Peter Stano an das traurige Jubiläum der regierungskritischen Proteste erinnerte und sich für eine „demokratische, friedliche und verhandelte Lösung“ der politischen Krise in Nicaragua aussprach, zog der autoritäre Staatschef seine bereits erteilte Zustimmung für den neuen EU-Botschafter Fernando Ponz wieder zurück. Besonders aber die gezielte Ausbürgerung von Oppositionellen sorgte in diesem Frühjahr international für Schlagzeilen: Am 19. Februar hielt die berühmte nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli, die seit den 1980er Jahren auch in Deutschland bei ihren Lesungen die Säle füllt, ihren Pass in die Kamera des spanischen Fernsehsenders RTVE Noticias. „Ich bin Gioconda Belli, eine nicaraguanische Dichterin. Wenn die Geschichte diese Tyrannen vergessen hat, werde ich immer noch als nicaraguanische Dichterin in meinen Büchern stehen“, sagt sie, greift zur Schere und zerschneidet in aller Ruhe ihren nicaraguanischen Pass. Auch ohne dieses Dokument werde sie nicht vergessen, wer sie sei, da nicht dieser Pass sie zu einer Nicaraguanerin mache. Kurz zuvor, am 15. Februar, hatte das Berufungsgericht in Managua, der Hauptstadt des zentralamerikanischen Landes, Gioconda Belli und 93 weitere Nicaraguaner:innen die Staatsbürgerschaft entzogen. Die meisten von ihnen lebten da bereits im Exil, verloren mit dieser Maßnahme nun aber jede Möglichkeit, in ihr Heimatland zurückzukehren. Bereits am 9. Februar

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32 Kommentare waren zudem 222 politische Gefangene völlig überraschend direkt aus ihren Gefängniszellen, in denen sie zumeist unter folterähnlichen Bedingungen einsaßen, in die USA abgeschoben worden. Einen Tag später entzog das nicaraguanische Parlament auch ihnen die Staatsbürgerschaft. Viele der Abgeschobenen waren vor der letzten Präsidentschaftswahl im November 2021 festgenommen worden. Damals reichten schon kritische Tweets, um wegen vermeintlichen Vaterlandsverrats weggesperrt zu werden. Auch sieben Gegenkandidat:innen für das Präsidentenamt hatte der amtierende Präsident Daniel Ortega durch Verhaftungen ausgeschaltet. So gewann er erneut die – international als Farce bezeichnete – Wahl und ließ sich im Januar 2022 zum vierten Mal in Folge als Präsident des sieben Millionen Einwohner zählenden Landes küren; seine Frau Rosario Murillo wurde zum zweiten Mal als Vizepräsidentin vereidigt. Dem Ehepaar werden schon lange Menschenrechtsverletzungen und auch die Untergrabung der Demokratie und des Rechtsstaates vorgeworfen, weshalb sowohl die USA als auch die Europäische Union Sanktionen gegen das Regime verhängten. Die Ausbürgerung von über 300 Menschen markiert nun allerdings eine weitere Stufe der Eskalation. Ein solch massiver Eingriff in die Rechte der Bürger:innen des Landes, für den die von der Ortega-Murillo-Regierung kontrollierte Nationalversammlung im Nachhinein eigens die Verfassung änderte, um „Vaterlandsverräter:innen“ die Staatsbürgerschaft entziehen zu können, ist beispiellos in der modernen Geschichte des Völkerrechts.3 Bei den Ausbürgerungen handelt es sich laut dem Straf- und Völkerrechtler Kai Ambos um eine verschärfte Form politischer Verfolgung – gegen Schriftsteller:innen, Jurist:innen, Diplomat:innen, Kir-

Mit dieser Maßnahme will das OrtegaMurillo-Regime Oppositionellen und Kritiker:innen innerhalb des Landes auch den letzten verbliebenen, kaum noch sichtbaren Raum für regierungskritische Äußerungen oder Aktionen nehmen. Denn beim Entzug der Staatsbürgerschaft werden nicht nur der Pass ungültig und die betroffenen Personen zu Staatenlosen; auch die damit verbundenen politischen Rechte werden ihnen auf Lebenszeit entzogen. Mehr noch: Ihr Vermögen, ihre Immobilien oder andere Güter werden konfisziert und bei älteren Menschen die Pensionsansprüche gestrichen. Das Regime ließ sogar alle Daten der Betroffenen in den Behörden löschen, darunter auch die Geburtsurkunden, und tilgte damit selbst die formale Existenz und Geschichte der Ausgebürgerten. Eine Alternative hatten die Betroffenen kaum: Als sich Bischof Rolando Álvarez, der seit vergangenem August wegen öffentlicher Kritik am Regime unter Hausarrest stand, weigerte, das Abschiebedokument zu unterschreiben, wurde er in einem Schnellverfahren zu 26 Jahren und vier Monaten Haft verurteilt und ins Gefängnis verbracht. Anklagepunkte: Ungehorsam, Untergrabung der nationalen Integrität und weitere Delikte.4 Papst Franziskus verglich nach diesem Urteil das OrtegaRegime öffentlich mit Nazideutsch-

3 Vgl. Kai Ambos, Ausbürgerung als verschärfte Form politischer Verfolgung, www.verfassungsblog.de, 22.2.2023.

4 26 Jahre Haft für Bischof in Nicaragua, www. dw.com, 11.2.2023.

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chenvertreter, Journalist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen. Der Jurist spricht von einem klaren „Fall politischer Verfolgung durch eine Familiendiktatur, in der alle Macht beim Präsidenten [...] und der Vizepräsidentin [...] zusammenläuft und die Rechtsstaatlichkeit systematisch – bei völliger Kontrolle und Instrumentalisierung der Justiz – ausgehöhlt worden ist“. Die Auslöschung der Geschichte

land, woraufhin Ortega prompt die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan beendete und trotz des im Land ausgeprägten Katholizismus ein Verbot der Osterprozessionen anordnete. Auch die nicaraguanischen Botschafter in Panama und Brasilien ließ Ortega ausreisen, nachdem die Regierungen dieser Länder sich kritisch zur Ausbürgerungsaktion geäußert hatten. Schon am 9. Februar hatte auch das Generalsekretariat der Organisation Amerikanischer Staaten die Ausbürgerung der politischen Gefangenen verurteilt; Spanien ebenso wie Argentinien, Chile, Mexiko, Kolumbien und Uruguay boten den Abgeschobenen die Staatsbürgerschaft an. Gute Beziehungen pflegt das Ortega-Murillo-Regime hingegen zu Russland. Als der russische Außenminister Sergej Lawrow Ende April das Land besuchte, fand Rosario Murillo dafür folgende Worte: „Wir begrüßen Sie mit der Zuneigung, die unter brüderlichen Völkern existiert, als Völker, die an den Frieden glauben und an einen konstruktiven und respektvollen Dialog.“5 Sätze wie diese sind für die Ausgebürgerten ein Schlag ins Gesicht. Das Schicksal von Vilma Nuñez Zu ihnen gehört auch die 84jährige, international anerkannte Menschenrechtsaktivistin Vilma Nuñez, Präsidentin des unabhängigen Nicaraguanischen Zentrums für Menschenrechte (CENIDH).6 In ihrer Geschichte spiegelt sich wie in einem Brennglas die jüngere Geschichte Nicaraguas: Mitte der 1970er Jahre hatte sich Nuñez als Jurastudentin der damaligen sandinistischen Befreiungsfront FSLN, der Frente Sandinista de Liberación Na5 Nicaragua recibe visita de Estado del Ministro de Asuntos Exteriores de Rusia, Serguéi Lavrov, www.el19digital.com, 19.4.2023. 6 2019 verlieh ihr die Stiftung „die schwelle“ für ihren Einsatz für die Menschenrechte in Nicaragua den Internationalen Bremer Friedenspreis, vgl. www.dieschwelle.de.

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cional, angeschlossen und gründete 1978, noch vor deren Triumph gegen das diktatorische Somoza-Regime, eine erste Regionalgruppe der Permanenten Kommission der Menschenrechte in Nicaragua. Aufgrund ihres Engagements und ihrer Teilnahme an Protesten wurde sie festgenommen und in den Kerkern Anastasio Somozas gefoltert. Nach dem erfolgreichen Aufstand der Sandinisten im Sommer 1979 wollte auch sie aktiv daran teilhaben, den sandinistischen Traum eines freien und gerechten Nicaragua umzusetzen: Bis 1987 arbeitete sie als stellvertretende Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, bevor sie die Leitung der Nationalen Menschenrechtskommission übernahm. Als die Sandinisten 1990 die Wahl verloren, gründete Nuñez die unabhängige Menschenrechtsorganisation CENIDH. Die von vielen Sandinist:innen angestrebte Demokratisierung innerhalb der FSLN ließ sich gegen die in den 1990er Jahren zunehmend hierarchisch agierende Parteiführung nicht durchsetzen. Wie viele zuvor führende Sandinist:innen verließ auch Vilma Nuñez in den 90er Jahren die FSLN. Ortega dagegen kam, unterstützt von seiner ambitionierten Ehefrau, 2006 zurück an die Macht. Den Weg ebneten ihm mehrfache Spaltungen der einst revolutionären FSLN und atemberaubende Bündnisse mit seinen ehemaligen politischen Gegnern wie auch mit dem wegen Veruntreuung von Staatsgeldern zu 20 Jahren Haft verurteilten Ex-Präsidenten Arnoldo Aleman, was diesen vor dem Gefängnis rettete und Ortega letztlich durch ein geändertes Wahlrecht erneut ins Präsidentenamt verhalf. Den vielleicht höchsten Preis für das Bündnis Ortegas mit dem konservativen Klerus mussten im selben Jahr die nicaraguanischen Frauen zahlen. Mit den Stimmen der FSLN wurde das bis dahin gültige Gesetz über Schwangerschaftsabbrüche annulliert. Jegliche Abtreibung ist seither illegal und wird strafrechtlich verfolgt.

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34 Kommentare Die Repression nach den Protesten vom April 2018 traf auch Nuñez‘ Menschenrechtsorganisation, die im Dezember desselben Jahres verboten wurde. Das ihr gehörende Haus wurde enteignet. Sicherheitskräfte konfiszierten in einer nächtlichen Überfallaktion die komplette Büroausstattung, Dokumente und Fahrzeuge. Die meisten Mitarbeiter:innen flohen nach Costa Rica und begannen, von dort aus in einer neu geschaffenen Menschenrechtsorganisation weiterzuarbeiten. Nicht so Vilma Nuñez. Sie beschloss, in Managua zu bleiben und sich dort weiter für die Menschenrechte einzusetzen. Nun ist sie staatenlos in einem Willkürstaat, der Menschen misshandelt, foltert und sie ihrer Rechte beraubt. Die Sorge um die 84jährige ist groß, vor allem bei jenen, mit denen sie Jahrzehnte über alle Grenzen hinweg zusammengearbeitet hat. Wird das Regime sie gegen ihren Willen des Landes verweisen, sie einsperren und isolieren oder sie unter Hausarrest stellen? Werden sie ihr Konto konfiszieren, nachdem ihre Pension bereits gestrichen wurde? Wird sie gesundheitlich versorgt werden können? Werden sie es schaffen, sie ins gesellschaftliche Abseits zu stellen, der Würde und des normalen Lebens beraubt? Am 11. Mai beschloss der Oberste Gerichtshof bereits, Nuñez und 24 weiteren, im Februar entnationalisierten Personen ihre Anwalts- und Notartitel zu entziehen. Ein klares Berufsverbot. Internationaler Druck ist nötig Die Antwort auf diese Fragen ist auch davon abhängig, wie groß der internationale Druck auf das Ortega-Regime ausfällt. Wird es der internationalen Gemeinschaft gelingen, Personen wie Vilma Nuñez vor Repressionen zu schützen und ganz allgemein, dieses menschenrechtsverletzende Regime durch Sanktionen oder politischen Druck zur Aufhebung der repressi-

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ven Politik zu bewegen? Zwar haben die US-Regierung und die EU-Länder gegen etliche Regierungsmitglieder bereits Sanktionen verhängt, und eine Expertengruppe der UN-Menschenrechtskommission forderte am 2. März die internationale Gemeinschaft auf, „Sanktionen gegen die beteiligten Institutionen oder Personen zu verhängen“, aber ein Ende der Familiendynastie scheint aktuell nicht in Sicht. Erst Anfang Mai ordnete das nicaraguanische Regime erneut Massenrazzien an. Mindestens 57 Oppositionelle und Medienschaffende sollen dabei festgenommen worden sein. Einige der Ausgebürgerten hegen dennoch Hoffnungen, dass sich das Unterdrückungssystem von Ortega eines Tages selbst in die Sackgasse manövrieren könnte. Die heute in den USA lebende ehemalige Guerillakämpferin Dora Maria Téllez, aber auch die nun im spanischen Exil lebende Gioconda Belli sehen Anzeichen dafür, dass der Rückhalt für das Regime bröckelt. Selbst enge Vertraute des Herrscherpaares wurden bei kleinsten Fehlern ihrer Ämter enthoben, darunter beispielsweise der Geheimdienstchef der Polizei oder Mitglieder des Obersten Gerichtshofs.7 Und trotz der guten Beziehungen zu Russland sind die Zeiten, in denen Ortega mit den Petrodollars des 2013 verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez großflächige „Wohlfahrtsprogramme“ für sein Wählerklientel anschieben konnte – ohne Rechtsanspruch für die Betroffenen –, längst vorbei. Nicaragua gehört weiterhin zu den ärmsten Ländern des Kontinents: Rund 43 Prozent der Bevölkerung leben aktuell in Armut, ein Großteil davon mit weniger als einem US-Dollar Tageseinkommen. Auch das wird das Fass in der Bevölkerung früher oder später erneut zum Überlaufen bringen. 7 „Man sollte Ortega isolieren“, Interview mit Gioconda Belli, www.npla.de, 5.4.2023.



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Anja Krüger

Volker Wissing und der ewige Autobahnwahn Es klingt wie ein schlechter Scherz: „Straßenbau und Klimaschutz sollen zusammen gedacht werden. Es soll kein Kilometer Autobahn mehr geplant werden, ohne die Möglichkeiten der Erzeugung erneuerbarer Energien auszuschöpfen“, heißt es im Beschluss des Koalitionsausschusses, auf den sich SPD, Grüne und FDP bei einer rund 48 Stunden dauernden Sitzung Ende März einigten.1 Nach monatelangem Streit konnte die FDP sich mit ihrer Forderung nach einem beschleunigten Autobahnausbau durchsetzen. Für die Grünen ist das Ergebnis eine Niederlage auf ganzer Linie, garniert mit einem bizarren Zugeständnis: Die beschlossene Beschleunigung von 144 Bauprojekten flankiert die Vorgabe, entlang der Autobahnen Solarpaneele aufzustellen – als würde es hierzulande an Flächen für Photovoltaikanlagen mangeln und als würden diese Anlagen den erheblichen Mehrausstoß an CO2 durch zusätzliche Fernstraßen kompensieren können. Die Kombination einer rückwärtsgewandten Autoförderung und einer zukunftsweisenden Energiepolitik ist bezeichnend für die Politik der Ampelregierung: Ob Tankrabatt oder 9-EuroTicket, E-Fuels und E-Autos, wasserstofffähige Gasheizungen und Wärmepumpen – stets konterkarieren die Liberalen einen richtigen Schritt der Regierung. Das ist nicht nur ideologiegetrieben. Denn bei der von der FDP forcierten Verschleppung eines konsequenten Klimaschutzes geht es auch 1 SPD, Modernisierungspaket für Klimaschutz und Planungsbeschleunigung, www.spd.de, 28.3.2023.

um wirtschaftliche Interessen, etwa die der Mineralölindustrie oder der Autobranche, die mit der Verbrennertechnologie noch viel Geld verdienen will. Hinter dem von der FDP durchgesetzten beschleunigten Ausbau verbergen sich laut Bundesverkehrsministerium insgesamt 988 Kilometer neue Straßen. Dabei hat Deutschland keinen Mangel an Straßen, erst recht nicht an Autobahnen. Das war das Credo der Grünen, als sie noch in der Opposition waren. Und das ist weiterhin richtig: Schon jetzt durchziehen rund 13 200 Kilometer Autobahn das Land, hinzu kommen 39 000 Kilometer Bundesstraßen und 179  000 Kilometer Kreis- und Landesstraßen. Das Schienennetz der Deutschen Bahn umfasst dagegen lediglich noch 33  400 Kilometer – es wurde in den vergangenen Jahrzehnten massiv abgebaut. Anstatt weiterhin auf den Individualverkehr zu setzen, als gäbe es die drohende Klimakatastrophe nicht, wäre es dringend angeraten, hier entscheidende Weichen zu stellen. Doch das ist mit der FDP ganz offenbar nicht zu machen. Der aktuelle Bundesverkehrswegeplan, das in dieser Sache zentrale Planungsinstrument des Staates, sieht über die nun schneller zu bauenden Straßen hinaus einen drastischen Ausbau des Straßennetzes vor. Demnach sollen nach wie vor zusätzliche 850 Kilometer Autobahn neu entstehen, 1700 Kilometer Autobahn mehrspurig ausgebaut werden und weitere 3500 Kilometer Bundesstraßen hinzukommen. Obwohl der liberale Finanzminister Christian Lindner ansonsten immer wieder auf die angespannte

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36 Kommentare Haushaltslage hinweist, stören die damit verbundenen Kosten die FDP offenbar nicht. Dabei explodieren nach einer Studie der Umweltorganisationen BUND und Greenpeace die Ausgaben für den Straßenneubau. So würden sich die Kosten für den Bau von 800 im Bundesverkehrswegeplan als höchst prioritär eingestuften Projekten bis 2035 von den veranschlagten 50,9 Mrd. Euro auf 153 Mrd. Euro verdreifachen. Grund dafür sind steigende Baukosten, aber auch zu niedrig angesetzte Berechnungen. Je geringer die Kosten ausgewiesen werden, desto größer sind die Chancen, dass das Projekt realisiert wird. „Das Verkehrsministerium rechnet sich seine klimaschädlichen Straßenbaupläne systematisch schön“, sagt Greenpeace-Verkehrsexpertin Lena Donat.2 Völlig veraltete Pläne Umweltverbände und Klimaaktivist:innen fordern zu Recht seit langem die Überprüfung des aktuellen Bundesverkehrswegeplans. Denn der ist völlig veraltet: 2016 verabschiedete der Bundestag die aktuelle Fassung, die zugrunde liegenden Berechnungen wurden in den Jahren davor erstellt. Die damaligen Planer:innen gingen von ganz anderen Voraussetzungen aus, als sie heute gelten: Wachstum stand an erster Stelle, die Abkehr vom individuellen Autoverkehr und die Verlagerung des Gütertransports auf die Schiene spielten kaum eine Rolle. Die Grundlagen wurden vor dem Pariser Klimaabkommen und vor dem Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts geschaffen – deren Vorgaben wurden also gar nicht berücksichtigt. Daher müsste der Plan zwingend den nötigen Veränderungen angepasst werden. Darauf berufen sich auch immer wie2 Schotterpisten: Warum in den Autobahnplänen des Verkehrsministeriums Kostensteigerungen in Milliardenhöhe lauern, www. greenpeace.de, März 2023.

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der Umwelt- und Klimaaktivist:innen, die, wie Ende 2020 im Dannenröder Wald in Hessen, mit Besetzungen und anderen Aktionen den Ausbau der A 49 zu verhindern versuchten. Der Koalitionsvertrag der Ampel greift diese Kritik durchaus auf. SPD, Grüne und FDP sprechen sich darin für einen neuen „Infrastrukturkonsens bei den Bundesverkehrswegen“ aus: „Dazu werden wir parallel zur laufenden Bedarfsplanüberprüfung einen Dialogprozess mit Verkehrs-, Umwelt-, Wirtschafts- und Verbraucherschutzverbänden starten mit dem Ziel einer Verständigung über die Prioritäten bei der Umsetzung des geltenden Bundesverkehrswegeplans“, heißt es dort.3 Tatsächlich gab es erste Vorgespräche zwischen Verbänden und Verkehrsministerium, im Sommer soll der Dialog für den „neuen Infrastrukturkonsens“ mit 150 Organisationen starten. Doch das Ganze ist lediglich ein Feigenblatt. Denn als prioritär erachtet Verkehrsminister Volker Wissing allein eine schnellere Umsetzung – und nicht die Frage, welche Projekte aus heutiger Sicht nicht mehr gebaut werden dürften. Mit den nun beschlossenen 144 zu beschleunigenden Projekten hat er das Ergebnis des Dialogs ohnehin bereits vorweggenommen. Dabei geht es ausschließlich um Bauvorhaben in Westdeutschland, kein einziges befindet sich in den ostdeutschen Bundesländern. Den größten Beschleunigungsbedarf gibt es nach Wissings Plänen mit mehreren Dutzend Projekten in Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Hessen, Bayern, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen. Der umstrittene Weiterbau der A  100 in Berlin steht nicht auf Wissings Prioritätenliste – das heißt aber nicht, dass er nicht erfolgt, denn er findet sich nach wie vor im Bundesverkehrswegeplan und Wissing hält eisern daran fest, ungeachtet des großen Widerstands in Berlin. Das 3 Mehr Fortschritt wagen: Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, www.bundesregierung.de, 24.11.2021.

Land Brandenburg fürchtet hingegen, dass sich aufgrund der Prioritätenliste dortige notwendige Ausbauten etwa für die Anbindung der Fabrik des E-Autobauers Tesla verzögern könnten. Denn die Baukapazitäten sind begrenzt. Werden Arbeiter:innen oder Maschinen an einer Stelle eingesetzt, fehlen sie an einer anderer. Als Blaupause für den beschleunigten Straßenbau dient der FDP ausgerechnet der schnellere Ausbau der erneuerbaren Energien. Dazu ergriff die Bundesregierung ein ganzes Bündel an Maßnahmen wie Auflagen für die Bundesländer, künftig Flächen für Windräder auszuweisen oder verkürzte gerichtliche Kontrollverfahren für große Infrastrukturprojekte wie Stromnetze. Um die Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien zu straffen, legte die Koalition gesetzlich fest, dass der Ausbau im „überragenden öffentlichen Interesse“ liegt. Damit verbunden sind erhebliche Erleichterungen bei der Prüfung des Arten- und Naturschutzes, der dadurch massiv aufgeweicht wird. Angesichts des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine und der Energiekrise werden diese Maßnahmen von der breiten Öffentlichkeit und auch der FDP wenn schon nicht begrüßt, so doch zumindest nicht infrage gestellt. Das ist angesichts der Haltung vieler Liberaler vor allem gegenüber der Windkraft nicht selbstverständlich. Vor diesem Hintergrund ist Wissing im vergangenen Herbst mit der Forderung vorgeprescht, dass auch für den Fernstraßenbau ein „überragendes öffentliches Interesse“ festgestellt werden müsse. Ein Industrieland wie Deutschland brauche eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur, durch den schnelleren Ausbau werde der Verkehr flüssiger und Staus würden vermieden, argumentierte er. Zudem seien Autobahnen klimaneutral, wenn bald nur noch E-Autos auf ihnen fahren würden. Das stimmt jedoch nicht, denn sowohl beim Bau von Autobahnen wird

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CO2 freigesetzt als auch bei ihrer Nutzung. Auch Elektroautos belasten das Klima. Zudem weisen Verkehrswissenschaftler:innen immer wieder darauf hin, dass mehr Straßen auch mehr Verkehr hervorrufen. Weniger Staus sind deshalb nur zu erreichen, indem die Zahl der Autos reduziert wird. Das wäre etwa mit Prämien für deren Abschaffung und vor allem mit dem massiven Ausbau des öffentlichen Transports mit Bus und Bahn zu erreichen. Straßen statt Naturschutz Doch die Zahl der Fahrzeuge nimmt kontinuierlich zu: Zum Jahresbeginn 2023 waren in Deutschland laut Kraftfahrt-Bundesamt 48,8 Mio. Pkw zugelassen, vor zehn Jahren waren es 43,4 Mio., 2018 bereits 46,5 Mio. Das ist das Resultat einer Politik, die das Autofahren fördert – mit direkten Subventionen etwa beim Diesel, Steuervorteilen wie bei Dienstwagen4 oder dem kostenlosen oder zu günstigen Bereitstellen öffentlichen Parkraums. Die FDP und weite Teile der Sozialdemokratie verteidigen diese Politik. Die Grünen lehnen das zwar ab, haben in der Koalition aber keine Chance, daran zu rütteln. Im Gegenteil müssen sie jetzt hinnehmen, dass die Bundesregierung den Bau bestimmter Autobahnprojekte per se über den Natur-, Umwelt- und Gesundheitsschutz stellt. Denn durch die Festlegung des „überragenden öffentlichen Interesses“ müssen im Planungsverfahren in Mitleidenschaft gezogene Wälder oder Naturschutzgebiete nicht mehr betrachtet werden. Die SPD steht dabei deutlich auf Seiten der FDP, so beschloss die SPD-Bundestagsfraktion im Januar dieses Jahres einen „Turbo“ für den Ausbau der Infrastruktur, einschließlich der Straßen. Anfang Mai brachte Wissing das Beschleunigungsgesetz durchs Kabinett. 4 Vgl. Benjamin Fischer, Dienstwagenprivileg: Wie die Ampel die Verkehrswende ausbremst, in: „Blätter“, 2/2022, S. 17-20.

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38 Kommentare Dieser Gesetzentwurf listet nicht die beim Koalitionsausschuss vorliegenden 144 Projekte auf. Stattdessen sollen Bauten mit vordringlichem Bedarf und zur Engpassbeseitigung kategorisiert und die einzelnen Bauvorhaben per Verordnung bestimmt werden. Das eröffnet die Möglichkeit, den noch ausstehenden Klärungsprozess mit den Landesregierungen in Ruhe anzugehen, denn die Beschleunigung soll im Einvernehmen mit den Ländern erfolgen. Vor allem mit den Verkehrsministern der schwarz-grünen Landesregierungen in NRW, Hessen und Baden-Württemberg dürfte das zwar schwierig werden –, doch das ändert nichts daran, dass die Grünen im Bund vor der FDP kapituliert haben. Das gilt erst recht für das Klimaschutzgesetz: Es schreibt vor, dass die Treibhausgasemissionen des Verkehrs bis zum Jahr 2030 auf 84 Mio. CO2-Äquivalente sinken müssen, das entspricht fast einer Halbierung im Vergleich zu 2019.5 Doch die FDP wehrt alle sinnvollen Vorhaben ab, mit denen dieses Ziel erreichbar wäre; die bislang ergriffenen Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus. An Möglichkeiten und Vorschlägen mangelt es nicht: So würde ein Tempolimit auf Autobahnen sofort und ohne große Kosten zu einer erheblichen Reduzierung des CO2-Ausstoßes führen, eine Autobahn-Maut voraussichtlich auch. Doch anstatt endlich konkrete Maßnahmen einzuleiten, weichen SPD, Grüne und FDP das unter Angela Merkel beschlossene Klimaschutzgesetz auf: Die damalige Große Koalition wollte mit sogenannten Sektorzielen erreichen, dass verschiedene Bereiche wie Energie, Gebäude oder eben Verkehr jeweils die nötigen Einsparungen umsetzen. Werden diese Ziele nicht erreicht, müssen die zuständigen Fachminister:innen ein Sofortprogramm vorlegen, um Abhilfe zu schaffen. 5 Vgl. Klimaschutz im Verkehr, www.umweltbundesamt.de, 15.3.2023.

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Weil im Verkehrsbereich 2021 die Emissionen nicht ausreichend gesenkt wurden, musste Wissing 2022 ein entsprechendes Maßnahmenpaket vorlegen. Doch das fiel so mangelhaft aus, dass es der für die Bewertung zuständige Expert:innenrat zurückwies. Die vorgeschlagenen sechs Maßnahmen – vor allem mehr Radverkehr und Homeoffice – erfüllten nicht die Anforderungen an ein Sofortprogramm, stellte der Rat fest.6 Bislang unternahm Wissing keinen neuen Anlauf – und künftig wird ihm so eine Blamage erspart bleiben, denn die Bundesregierung will das Klimaschutzgesetz ändern: Ob die Vorgaben eingehalten werden, wird in Zukunft anhand einer mehrjährigen Gesamtrechnung geprüft werden, Defizite in einzelnen Bereichen wie dem Verkehr können dann durch Fortschritte in anderen Sektoren ausgeglichen werden. Wissing kann also seinen Kurs ohne Konsequenzen fortsetzen. Dabei hat jüngst die OECD, wenig überraschend, insbesondere für den hiesigen Verkehrssektor umfangreichere Reformen und Klimaschutzmaßnahmen eingefordert, um bis 2045 klimaneutral zu werden.7 Zugleich forderte sie höhere Erbschafts- und Schenkungssteuern, um die notwendigen Investitionen zu finanzieren und sozial abzufedern. Das aber liegt nicht im Interesse der FDP, die aus den Akzeptanzproblemen der notwendigen Klimaschutzmaßnahmen politisches Kapital schlagen will –, ohne dass SPD oder Grüne sich dem entgegenstellen. Vom Klimageld für die Bürger:innen, mit dem die Grünen die drastisch steigenden Preise zumindest teilweise kompensieren wollten, ist keine Rede mehr. So aber ist die Erderhitzung nicht aufzuhalten und die weitere soziale Spaltung der Gesellschaft erst recht nicht. 6 Vgl. Prüfbericht zu den Sofortprogrammen 2022 für den Gebäude- und Verkehrssektor, www.expertenrat-klima.de, 25.8.2022. 7 Vgl. Bausektor und Verkehrspolitik. OECD rügt Deutschlands Klimaschutzpolitik, www. zdf.de, 8.5.2023.



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Kai E. Schubert

Prekär beschäftigt: Die Deformation der Wissenschaft Die prekären Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft sorgen seit Jahren für Protest vonseiten junger Wissenschaftler:innen. Im Fokus ihrer Kritik steht das enorme Ausmaß befristeter Beschäftigung im Wissenschaftsbetrieb. Doch geändert hat sich an dieser Situation bislang kaum etwas, obwohl man sich parteiübergreifend einig darüber ist, dass etwas geschehen muss: Auch die Ampelkoalition hat dies in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten.1 Im März legte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) nun ein Eckpunktepapier zur Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) vor.2 Das Papier soll die Grundlage für einen Gesetzentwurf bilden, den die Regierung im Herbst vorstellen will. Doch kaum war das Papier veröffentlicht, liefen betroffene Wissenschaftler:innen, solidarische Professor:innen und sogar die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) Sturm. Denn wie auch schon bei früheren Reformen ermöglicht das Eckpunktepapier den Hochschulen einen breiten Interpretationsspielraum, den sie – so die Befürchtung – zulasten der Beschäftigten auslegen könnten. Doch von vorn: Anders als in anderen Arbeitsbereichen ist die befristete Anstellung im Wissenschaftsbetrieb die Regel; 2020 betraf das fast 82 Prozent des akademischen „Mittelbaus“,

also alle unterhalb einer Professur Beschäftigten.3 Die durchschnittliche Dauer eines Arbeitsvertrags beträgt dabei nur rund zwei Jahre, ein Fünftel bis ein Viertel der Arbeitsverträge hatte 2020 sogar nur eine Laufzeit von maximal einem Jahr.4 Dieser Zustand bindet bei den Betroffenen enorme Ressourcen für regelmäßige Bewerbungen sowie Forschungsanträge und führt zu großen Unsicherheiten und psychischen Belastungen. Karriere- und Familienplanung werden dadurch erheblich erschwert, was nachweisbar vor allem junge Frauen davon abhält, sich auf die Ungewissheiten einer akademischen Laufbahn einzulassen. Unter diesen Arbeitsbedingungen leidet nicht zuletzt auch die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit: So entscheiden sich viele Nachwuchswissenschaftler:innen Berichten zufolge für oberflächlichere und weniger hinterfragende Herangehensweisen. Verantwortlich für diesen Zustand ist das im Jahr 2007 verabschiedete WissZeitVG, mit dem ein Sonderbefristungsrecht für Hochschulen eingeführt wurde: Befristungen sind grundsätzlich möglich, während sich Angestellte qualifizieren. Wann genau dies der Fall ist, wurde im Gesetz allerdings inhaltlich nicht präzisiert und wird von den Hochschulen sehr weitreichend ausgelegt – selbst Lehrtätigkeiten, Pro-

1 SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP: Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag, Berlin 2021, S. 23. 2 Bundesministerium für Bildung und Forschung, Reform des WissZeitVG – Wesentliche Inhalte im Überblick, www.bmbf.de, 17.3.2023.

3 Matthias Kuhnt, Tilman Reitz und Patrick Wöhrle: Arbeiten unter dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz: Eine Evaluation von Befristungsrecht und -realität an deutschen Universitäten. Dresden 2022, S. 35. 4 Jörn Sommer u.a., Evaluation des novellierten Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, Berlin und Hannover 2022, S. 62.

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40 Kommentare jektmanagement oder die Mitwirkung an Anträgen werden als qualifizierende Tätigkeiten gewertet und damit Befristungen begründet. Bislang sind Befristungen zudem auf insgesamt zwölf Jahre begrenzt, auf je maximal sechs vor und nach dem Abschluss einer Promotion – danach darf es keine weitere befristete Anstellung an Hochschulen jenseits einer Professur geben. Und diese sind bekanntlich rar. Eine signifikante Ausnahme stellt lediglich die Arbeit in Drittmittelprojekten dar, die durch externe Mittelgeber:innen wie etwa Stiftungen, Ministerien oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert werden. Bereits vor zwei Jahren sorgten junge Nachwuchswissenschaftler:innen mit ihrem Protest an diesen Zuständen unter dem Hashtag #ichbinHanna bundesweit für Aufmerksamkeit. Ihre Kritik entzündete sich damals an einem Video des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Es handelte von der fiktiven Wissenschaftlerin Hanna und irritierte deshalb so stark, weil die üblichen, aber stark umstrittenen Befristungspraktiken im Wissenschaftsbetrieb explizit gerechtfertigt wurden. Zugleich vermittelte das Video die Botschaft, dass, wer eine dauerhafte Beschäftigung einfordere, Innovation verhindere und zudem egoistisch gegenüber nachfolgenden Jahrgängen handele, da er oder sie das System „verstopfe“. Unter #ichbinHanna berichteten tausende Wissenschaftler:innen in den sozialen Medien von ihren persönlichen Problemen mit und ihrem Scheitern an der Prekarität im deutschen Wissenschaftssystem.5 Wie selten zuvor sensibilisierten sie damit eine breite Öffentlichkeit für die prekären Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb. 5 Vgl. Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon, #IchBinHanna. Prekäre Wissenschaft in Deutschland, Berlin 2022; vgl. dies., #IchBinHanna: Promoviert, habilitiert, perspektivlos, in: „Blätter“, 8/2021, S. 21-24 und auch im Podcast: www.blaetter.de/podcast, 23.7.2021.

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Doch trotz der massiven Kritik verteidigt die Bundesregierung diese Befristungsmöglichkeiten in der Wissenschaft weiterhin – und zwar als einen Schlüssel dafür, eine permanente personelle Fluktuation zu gewährleisten, die hierzulande als essenziell für wissenschaftliche Innovation gilt: Selbst promovierte Wissenschaftler:innen werden nicht als Angestellte gesehen, die Daueraufgaben der Hochschulen – wie Lehre, Verwaltung, Kommunikation, Gremientätigkeit und Forschung – übernehmen sollen, sondern primär als Personen, die Qualifikationen mit dem Ziel der Professur oder einer Tätigkeit außerhalb der Wissenschaften erwerben und dabei fortwährend „innovativ“ sein sollen. Befristungen als Innovationsmotor? Dass Wissenschaft auch das Bohren dicker Bretter sein kann und muss, wird dabei ebenso ausgeblendet wie die Notwendigkeit einer kontinuierlichen, qualitativ gut abgesicherten Lehre, deren Träger:innen sich nicht permanent um ihre Zukunft sorgen müssen – und das ausgerechnet in einer Lebensphase, in die neben dem Berufseinstieg oft auch die Familienplanung fällt. Diese aber stellen zu viele Akademiker:innen noch immer viel zu lange hinten an. Zwar hat die Bundesregierung 2015 selbst eingeräumt, dass „der Anteil von Befristungen – insbesondere über sehr kurze Zeiträume – ein Maß erreicht hat, das weder gewollt war noch vertretbar erscheint.“6 Aus diesem Grund versuchte die damalige große Koalition bereits 2016 die negativen Folgen des WissZeitVG durch eine Gesetzesnovelle einzudämmen. Dabei nahm sie zwar behutsame Anpassungen mehrerer Detailregelungen vor, behielt jedoch die grundsätzliche Konstruktion 6 Bundesregierung: Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, BT-DS 18/6489, 28.10.2015, S. 1.

des Gesetzes bei und griff auf vage Formulierungen zurück, die von den Hochschulen häufig zuungunsten ihrer Mitarbeitenden ausgelegt werden. Weder die offizielle Evaluation noch mehrere weitere Untersuchungen des Vorhabens konnten in der Folge wesentliche Verbesserungen im Wissenschaftsbetrieb erkennen – die Befristungsquote blieb unverändert, während die Vertragslaufzeiten lediglich leicht anstiegen. Darüber, dass es weiteren Reformbedarf gibt, herrscht mittlerweile ein breiter politischer Konsens. So ist man sich parteiübergreifend weitgehend einig, dass Promovierende grundsätzlich befristet angestellt werden dürfen und es für diese – angesichts einer durchschnittlichen Promotionszeit von rund sechs Jahren7 – bei erstmaligen Arbeitsverträgen eine Mindestbefristungszeit von wenigstens drei bis vier Jahren geben muss. Dies spiegelt sich auch in dem jüngst vorgelegten Eckpunktepapier des BMBF wider, allerdings nur als eine „Soll“-Bestimmung, von der die Hochschulen auch abweichen können. Und nicht zuletzt daran entzündete sich nun wieder massive Kritik. Insbesondere die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) möchte flexible Befristungsmöglichkeiten weitestgehend bewahren. Sie sieht nur für eine Minderheit der Promovierten die Möglichkeit einer Daueranstellung und möchte daher vielmehr eine „Vorverlegung der Karriereentscheidung“8 erreichen. Sprich: Mehr Wissenschaftler:innen als bisher sollen bereits frühzeitig mehr oder weniger freiwillig auf eine Karriere in der Wissenschaft verzichten. In diese Richtung weist auch der Koalitionsvertrag, wonach man 7 Bundesbericht wissenschaftlicher Nachwuchs 2021. Statistische Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland, Bielefeld 2021, S. 137. 8 Hochschulrektorenkonferenz, Zur Weiterentwicklung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Diskussionsvorschlag der Mitgliedergruppe Universitäten der Hochschulrektorenkonferenz, www.hrk.de, 6.7.2022.

Kommentare

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„frühzeitiger Perspektiven für alternative Karrieren schaffen“ will. Mehr Druck auf Promovierte Angesichts des bestehenden erheblichen Mehrbedarfs an Personal, insbesondere in der Lehre, die vielerorts zu einem großen Teil von freiberuflichen – und teilweise sogar unbezahlten (!) – Lehrbeauftragten übernommen wird, muss dies massiv irritieren. Die bisherigen Pläne der Bundesregierung sehen vor, den Druck auf Promovierte sogar noch zu erhöhen, wie aus dem Eckpunktepapier hervorgeht: Konnten diese bislang bis zu sechs Jahre befristet angestellt werden, sollen es nach der Reform nur noch drei Jahre sein. Dass die in vielen Disziplinen für eine Universitätsprofessur immer noch erforderliche Habilitation in so kurzer Zeit absolviert werden kann, ist jedoch hochgradig unrealistisch. Entsprechend könnte eine solche Maßnahme die ohnehin schon enorme Konkurrenz um die wenigen Juniorprofessuren noch weiter erhöhen. Das gilt auch für Professuren an sogenannten Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW), für die keine Habilitation benötigt wird. Zwar will die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag „auf mehr unbefristete Beschäftigung hinwirken“, unklar bleibt allerdings, wie und vor allem in welchem Umfang dies geschehen soll. Es deutet sich also an, dass bei einer Umsetzung des jüngsten Vorschlags ein größerer Teil der Wissenschaftler:innen die Hochschulen zu einem früheren Zeitpunkt verlassen muss, während die Zahl der dauerhaft angestellten Wissenschaftler:innen lediglich moderat steigt – wenn überhaupt. Tatsächlich wären entscheidende Maßnahmen, die den Hochschulen einen Personalzuwachs ermöglichen und die Abhängigkeit von Drittmitteln abschwächen würden, auf Investitionen der Länder angewiesen. Letzte-

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42 Kommentare res empfiehlt auch der Wissenschaftsrat, der Bundes- und Landesregierung in wissenschaftspolitischen Fragen berät.9 Zusätzliche Investitionen scheitern jedoch nicht zuletzt am „Fetisch der schwarzen Null“10 und an der Schuldenbremse, die insbesondere die FDP-Bundestagsfraktion dogmatisch verteidigt, die aber auch SPD und Grüne trotz aller gegenwärtigen Herausforderungen nicht infrage stellen. Dabei ist das Problem der Befristungen mit zahlreichen weiteren kritischen Phänomenen in der Wissenschaft eng verzahnt: So nehmen viele Nachwuchswissenschaftler:innen aufgrund des hohen Drucks, am Ende zu den wenigen Sieger:innen beim Wettlauf um eine Professur zu gehören, regelmäßig unbezahlte Mehrarbeit in Kauf und beugen sich zudem den familienfeindlichen Mobilitätserwartungen, wenn häufige Hochschulwechsel auch einen Umzug in eine andere Stadt erfordern. Ohne Protest keine Verbesserungen Zudem sind öffentlich finanzierte Promotionsstipendien oft viel zu niedrig bemessen und haben mit in der Regel maximal drei Jahren Förderung eine zu kurze Laufzeit. Zugleich scheitern sie nach wie vor daran, strukturelle Diskriminierungen im Wissenschaftssystem auszugleichen, und versäumen es zu oft, Personen aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen zu fördern.11 Den finanziellen Fördermöglichkeiten etwa durch BAföG und Stipendien liegen überdies politisch festgelegte Qualifikationszeiträume – drei Jahre für ein Bachelor- und zwei für ein Masterstudium sowie drei Jahre für eine Promotion – zugrunde, die mit 9 Vgl. Wissenschaftsrat, Strukturen der Forschungsfinanzierung an deutschen Hochschulen. Positionspapier, Köln 2022. 10 Albrecht von Lucke, Ein Jahr Ampel-Wahl: Die Koalition als Kakophonie, in: „Blätter“, 9/2022, S. 5-8. 11 Vgl. Gunnar Hinck, Arbeiterkind bleibt Arbeiterkind, www.taz.de, 16.11.2019.

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den tatsächlich benötigten Zeiträumen oft kaum etwas zu tun haben. Nötig und überfällig ist also nicht nur ein Abschied vom WissZeitVG, sondern ein wissenschaftspolitischer Paradigmenwechsel im Interesse von Angestellten und Studierenden sowie der Qualität ihrer Arbeit und Ausbildung. Dies kann nur gelingen, wenn man sich endlich von der neoliberalen Vorstellung einer „unternehmerischen Universität“ verabschiedet – den Willen dazu lässt die Bundesregierung bislang allerdings nicht erkennen. Immerhin hatte der breite und scharfe Protest gegen das Eckpunktepapier zur Reform des WissZeitVG den Effekt, dass das Kultusministerium die besonders unbeliebte Regelung zur Höchstbefristungsdauer von Postdocs neu diskutieren will. Während die Bundesregierung auf die Länderverantwortung verweist, bleiben dort mutige Initiativen weitgehend aus. Hoffnung machte allein das ambitionierte Hochschulgesetz, dass das rot-grün-rote Berliner Abgeordnetenhaus 2021 verabschiedete. Dieses sieht die Einrichtung von Dauerstellen für Postdoktorand:innen vor, die sich beispielsweise im Rahmen eines Habilitationsverfahrens qualifizieren. Doch der Initiative schlug ein mitunter schriller Widerstand entgegen; ein von CDU und FDP angestrengtes Normenkontrollverfahren ist derzeit noch beim Berliner Verfassungsgerichtshof anhängig. Die sich abzeichnende CDU/ SPD-Koalition hat bereits angekündigt, die innovativen Regelungen wieder zurückzunehmen. Für die Nachwuchswissenschaftler:innen verheißt all das nichts Gutes. Fest steht: Ohne weitere Empörung und Vernetzung wird es keine Verbesserungen geben. Dabei sollten sich die jungen Wissenschaftler:innen ein Beispiel an den noch prekärer beschäftigten Studierenden nehmen, die mit Verweis auf eine berlinweite tarifliche Regelung aktuell für bundesweite Verbesserungen kämpfen.

DEBATTE

Grün als Bedrohung: Warum die Klimapolitik die Arbeiter verliert In der April-Ausgabe analysierte der Soziologe Sighard Neckel, wie der Reichtum einer globalen Verschmutzerelite das Klima ruiniert. An die Gerechtigkeitsfrage anknüpfend beleuchtet sein Kollege Klaus Dörre, inwieweit der persönliche Klimafußabdruck von der jeweiligen Klassenposition abhängt und welche Resonanz die deutsche Klimapolitik in der Arbeiterschaft hervorruft. Auf die Frage, wie er die Klimabewegung einschätze, antwortet ein Arbeiter und angehender Vertrauensmann der IG Metall: „Als gefährlich!“ Gefährlich, weil sie die dem Befragten eigene Vorstellung eines guten Lebens bedrohen – und so in eine harte Ablehnung ökologischer Politik umschlagen könne, wie wir sie momentan auch zum Beispiel in der Debatte um die Wärmepumpen erleben. Daran zeigt sich: Ohne eine echte Auseinandersetzung über Klimagerechtigkeit – und wie diese herzustellen sei – wird die Klimakrise nicht zu bewältigen sein. Als demokratischen Klassenkampf hatte einst Ralf Dahrendorf tariflich und arbeitsrechtlich geregelte Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit bezeichnet. Den institutionalisierten Kampf um die Verteilung des gesellschaftlich erzeugten Mehrprodukts von Arbeit gibt es noch immer. Doch mit Blick auf Klimawandel, Artensterben und Ressourcenknappheit hatte er, so schien es, seine gesellschaftsprägende Kraft mehr und mehr verloren. „Not ist hierarchisch, Smog demokratisch“, hieß es vor jetzt bald 40 Jahren in Ulrich Becks „Risikogesellschaft“, sprich: Unter der Klimakrise

leiden alle gleichermaßen. Doch das war schon damals eine Fehlannahme.1 Gewiss, ökologische Großgefahren wie die des Klimawandels betreffen alle, aber eben nicht in gleicher Weise und sie machen auch nicht alle gleich. Im Gegenteil: In Gesellschaften, in denen der demokratische Klassenkampf öffentlich marginalisiert wird, kann sich, so meine These, der ökologische Gesellschaftskonflikt in einen Modus ideologischer Beherrschung verwandeln – und zwar gerade, wenn auch nicht nur, der ökonomisch Schwachen. In Klassenlagen, die von den Zwängen des Lohns und der Lohnarbeit geprägt werden, löst das massive Widerständigkeiten aus, die als gewaltiger Bremsklotz für Nachhaltigkeit wirken und letztlich populistischen, antiökologischen Bewegungen Auftrieb verleihen. Nehmen wir dafür ein Beispiel aus unseren laufenden Erhebungen in der Auto- und Zulieferindustrie, nämlich den oben bereits erwähnten Arbeiter, der die Klimabewegung als gefährlich einschätzt. Er bezeichnet sich 1 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986.

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44 Klaus Dörre selbst als „Autonarr“, der große Freude dabei empfindet, seinen PKW auf „weit über 220 km/h zu tunen“, um auf der Autobahn Teslas zu jagen, bis diese „mit überhitztem Motor von der Spur müssen“. Sein Hobby kann er sich leisten, weil er bei Opel arbeitet. Das heißt für einen Beschäftigten, der in Gotha lebt: um 3:20 Uhr aufstehen, damit pünktlich zur Frühschicht um 5:30 Uhr gearbeitet werden kann; Tätigkeit in 50-Sekunden-Takten; die Arbeitszeit unterbrochen von zwei Neun-Minuten-Pausen und einer 23-Minuten-Mittagspause; eine Stunde vor der Mittagspause „ist man platt“.2 Warum ist der Befragte bereit, diese monotone, körperlich enorm belastende Arbeit jeden Tag auszuführen? Er nennt dafür drei Gründe – 3800 Euro brutto, für Arbeiter in Thüringen ein Spitzenverdienst; Kolleginnen und Kollegen, die für ihn „wie eine Familie“ sind und schließlich der Schutz durch einen Tarifvertrag und einen starken Betriebsrat – also aufgrund von Sozialeigentum, das im Osten der Republik alles andere als selbstverständlich ist. Kurzum: Die Zwänge des Arbeitslebens nimmt der Befragte letztlich vor allem deshalb in Kauf, um in seiner Freizeit, wie er sagt, wirklich frei zu sein. Wie er lebt, was er nach der Arbeit macht, will er sich unter keinen Umständen vorschreiben lassen. Und das schon gar nicht von Leuten mit privilegiertem Klassenstatus, die von „Bandarbeit nichts wissen“, sich aber moralisch überlegen fühlen. Das ist der Grund, weshalb der angehende Vertrauensmann die Klimabewegung und vor allem die grüne Partei als Gegner betrachtet. Hinzu kommt: Angehörige der Arbeiterklasse nehmen sich selbst häufig als – mehrfach abgewertete – 2 Siehe die Erhebungen vertiefend Klaus Dörre, Transformationskonflikte: Der ökologische Wohlfahrtsstaat als nachhaltige Vision, DIFISSozialpolitikblog, 6.4.2023 (www.difis. org/ blog). Dort findet sich auch die Klassenheuristik samt Zuordnungskriterien.

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Statusgruppe wahr. Arbeiter wird man nur, wenn man es muss; wer kann, „studiert oder geht ins Büro“. Lebt man im Osten, auf dem Land und ist ein Mann, wird die Abwertung und öffentliche Nichtbeachtung der eigenen Lebensweise umso schmerzlicher erfahren. » Hauptursache für die steigende Emissionslast sind die Investitionen und nicht der individuelle Konsum.« All das sind Gründe dafür, weshalb die imaginäre Revolte einer radikalen Rechten, die den Klimawandel leugnet oder stark relativiert, mit ihrer fiktiven Aufwertung des Lebens „normaler“ Arbeiter sich inzwischen selbst bei Gewerkschaftsmitgliedern Gehör verschaffen kann. Man rebelliert dabei gegen einen Modus ideologischer Beherrschung, der sich in unterschiedlichen Facetten in zahlreichen Segmenten der neuen Arbeitswelt findet. Dabei sind, wie unsere Untersuchungen ebenfalls belegen, Klimawandel, Artensterben und andere ökologische Großgefahren selbst in den untersten Klassensegmenten subjektiv durchaus relevant. Allerdings – und das ist das zentrale Problem – verschwindet die soziale Dimension von Nachhaltigkeit im öffentlichen Diskurs fast völlig. Dabei hängt der persönliche Klimafußabdruck eindeutig von der jeweiligen Klassenposition ab, wie Lucas Chancel in seiner jüngsten Untersuchung über soziale Ungleichheit und klimaschädliche Emissionen gezeigt hat. Die Emissionen der ärmeren Bevölkerungshälfte in Europa und Nordamerika sind zwischen 1990 und 2019 um mehr als ein Viertel zurückgegangen, während sie in den (semi-)peripheren Ländern im gleichen Ausmaß zugenommen haben. Das heißt, die untere Hälfte der Einkommens-/Vermögensgruppen in Europa und Nord-

Grün als Bedrohung: Warum die Klimapolitik die Arbeiter verliert amerika hat Werte erreicht, die sich denen der Pariser Klimaziele für 2030 mit einer jährlichen Pro-Kopf-Emissionslast von etwa zehn Tonnen in den USA und etwa fünf Tonnen in europäischen Ländern zumindest annähern oder diese gar erreichen. Die wohlhabendsten ein Prozent emittierten 2019 hingegen 26 Prozent mehr als vor 30 Jahren, die reichsten 0,01 Prozent legten gar um 80 Prozent zu.3 Hauptursache für die steigende Emissionslast sind dabei die Investitionen und nicht der individuelle Konsum.4 Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass Produktions- und Investitionsentscheidungen in der Regel nur von Mitgliedern herrschender Klassenfraktionen, also von winzigen Minderheiten getroffen werden (nach unserer Heuristik 1,2 Prozent). Diese Entscheidungen beeinträchtigen jedoch das (Über-)Leben vor allem derjenigen Klassen, die zum Klimawandel am wenigsten beitragen und die unter den Folgen der Erderhitzung am stärksten leiden. Die Autoindustrie liefert dafür glänzendes Anschauungsmaterial. So haben die in der Bundesrepublik ansässigen Endhersteller im Herbst 2022 trotz Inflation, Chipmangel und gestörter Lieferketten ein „Traumquartal“ erlebt. Ihre Gewinne machten sie hauptsächlich mit hochpreisigen, spritfressenden bzw. energieintensiven Luxuslimousinen und SUVs. Preissteigerungen können in diesem Segment problemlos an die Kunden weitergegeben werden. Da die Großgruppe der Reichen und Superreichen künftig noch wachse, sei es eine herausragende Leistung der deutschen Automobilhersteller, in diesem Bereich die Spitzenposition zu besetzten; so würden Arbeitsplätze gesichert, argumen3 Zu den Daten: Lucas Chancel, Global Carbon Inequality over 1990–2019, in: „Nature Sustainability“, 5/2022, S. 931–938. 4 Ebd., siehe auch Sighard Neckel, in: Zerstörerischer Reichtum. Wie eine globale Verschmutzerelite das Klima ruiniert, in: „Blätter“, 4/2023, S. 47-56.

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tiert das Vorstandsmitglied eines großen Endherstellers im Interview. Die Realerfahrung vieler Beschäftigter in den Karbonbranchen ist jedoch eine völlig andere. Bereits jetzt gehen Arbeitsplätze in erheblichem Ausmaß verloren. Allein die Umstellung auf E-Motoren könnte in Deutschland mehr als 250 000 Jobs kosten. Ob neue Arbeitsplätze, die es in diesem Bereich zweifellos auch geben wird, hierzulande entstehen, ist hingegen eine offene Frage. Während die USA und China längst dazu übergegangen sind, die Transformation mit staatlichen Geldern zu subventionieren, setzt man in der Bundesrepublik und in EU-Europa noch immer bevorzugt auf den Markt. Es hat sich jedoch gezeigt, dass „Kohlenstoffsteuern einkommensschwache und emissionsarme Gruppen unverhältnismäßig stark belasten, während das Kohlenstoffpreissignal für hohe und reiche Emittenten möglicherweise zu niedrig ist, um Änderungen der Verbrauchs- (oder Investitions-) muster bei wohlhabenden Personen zu bewirken“.5 Kann es da wirklich verwundern, wenn viele Angehörige der unteren Klassen die Transformation in erster Linie als Bedrohung erleben? » Ein ökologisches Zukunftsbewusstsein kann nur entstehen, sofern zumindest ein Minimum an Arbeitsplatz- und Einkommenssicherheit gegeben ist.« Im fest angestellten Teil der konventionellen Arbeitsklasse fürchtet man unter den Bedingungen von Fach- und Arbeitskräftemangel dagegen weniger Erwerbslosigkeit als drohenden Statusverlust. Würde man aus der Belegschaft beispielsweise des VW-Komponentenwerks Baunatal (17  000 Beschäftigte, bis zu 8000 Arbeitsplätze 5 Lucas Chancel, a.a.O.

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46 Klaus Dörre könnten mit E-Antrieben verschwinden) ausscheiden, wäre ein deutlich schlechter bezahlter Job mit weitaus geringerer Anerkennung in einem Dienstleistungssegment die wahrscheinliche Alternative. In Baunatal fürchtet dennoch kein Mitglied der Stammbelegschaft die Transformation, denn es gibt langfristige Beschäftigungsgarantien. Der Wandel wird sich, da sind sich alle Befragten sicher, sozialverträglich vollziehen. Das ist in vergleichbaren Werken, Unternehmen und Branchen deutlich anders. Vor allem in kleineren und mittleren Unternehmen mangelt es an Entscheidungsmacht und strategischer Kompetenz, um den Wandel planvoll anzugehen. Was das bedeutet, wird in der Unterklasse und den Exklusionsbereichen besonders deutlich. Die subjektive Relevanz von ökologischen Nachhaltigkeitszielen setzt ein in die Zukunft gerichtetes Bewusstsein voraus. Ein Zukunftsbewusstsein kann aber nur entstehen, sofern zumindest ein Minimum an Arbeitsplatz- und Einkommenssicherheit gegeben ist, denn erst eine „feste Arbeitsstelle und ein regelmäßiges Einkommen mit dem ganzen Ensemble an Versicherungen auf die Zukunft verschaffen den Zugang zu dem, was man Schwelle der Sicherheit nennen könnte“.6 Armut und Prekarität behindern die Herausbildung eines Zukunftsbewusstseins und sie schwächen zugleich die subjektive Bedeutung vor allem ökologischer Nachhaltigkeitsziele für die eigene Lebensführung. Die wachsende Zahl Bedürftiger an den Tafeln verdeutlicht, wovon die Rede ist. Ein Bewusstsein über Klimawandel und ökologische Großgefahren ist auch in diesen Klassensegmenten vorhanden, besitzt aber keinerlei lebenspraktische Relevanz. Wer nur von einem Tag auf den 6 Pierre Bourdieu, Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft, Konstanz 2000, S. 92.

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anderen planen kann, muss sich um die Zukunft der Gesellschaft keine Sorgen machen, zumal Gesellschaft ein Begriff ist, der in den Alltagsphilosophien der auf Fürsorgeleistungen Angewiesenen gar nicht vorkommt. » Es geht um die Vision und mehr noch um erste Schritte in Richtung eines ökologischen Sozialstaates.« Ändern lässt sich all das nur, wenn eine soziale Infrastruktur geschaffen wird, die der so dringend nötigen Nachhaltigkeitswende Schubkraft verleiht. Dabei geht es um sehr viel mehr als um ein wenig zusätzliches Bürgergeld hier und ein bisschen höhere Renten dort, wenngleich auch solche Maßnahmen keineswegs überflüssig sind. Gesellschaften funktionieren am besten mit einer gut ausgebauten Nahversorgung und Daseinsvorsorge, die allen zur Verfügung steht.  Kurzum: Es geht um die Vision und mehr noch um erste Schritte in Richtung eines ökologischen Sozialstaates, der die Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge stärkt, sie vom Zwang zu raschem, permanentem Wachstum entkoppelt, der Abwertungsstrategien mittels Aufwertung billiger Sorgeleistungen und Reproduktionstätigkeiten durchbricht und denen zu einer Stimme verhilft, die mit ihren basalen Interessen in der Öffentlichkeit kaum Gehör finden. Ein ökologischer Wohlfahrtsstaat ist ein Übergangsprojekt, das auch in Klassenfraktionen mehrheitsfähig werden könnte, die mit System Change oder nachhaltigem Sozialismus vorerst wenig anfangen können. Am bewussten Ringen um eine Demokratisierung von Entscheidungsmacht über Investitionen, Produkte und Produktionsverfahren als keineswegs hinreichender, aber dringend nötiger politischer Perspektive wird sich zeigen, ob ein solches Projekt eine Erfolgschance besitzt.

KOLUMNE

Der Himalaya: Hotspot des globalen Klimasystems Von Sophia Kalantzakos und Kunda Dixit In unserer Vorstellung ist der Himalaya – das Dach der Welt – der Archetyp eines Hochgebirges: gleißend weiß, fern, ja eine ganz eigene Welt. Die Besteigung der Gipfel ist ein Beweis für die Kühnheit, den Mut und die Tatkraft der Menschheit – eine geistige Haltung, die unlängst in 14 Peaks: Nothing Is Impossible eingefangen wurde, einer Netflix-Dokumentation über den Versuch eines Bergsteigers, die höchsten Gipfel der Welt in sieben Monaten zu bezwingen. Doch obwohl der Gipfel des Machapuchare in Zentralnepal 6993 Meter über dem Meeresspiegel liegt, glich er in diesem Winter einer schwarzen Felspyramide, ohne Eis und Schnee. Gletscher in der Nähe des Mount Everest haben sich in große Seen verwandelt. Der Himalaya ist mehr als nur eine Touristenattraktion oder ein Ort für Abenteuer. Er spielt eine entscheidende Rolle bei der Regulierung des Klimas auf unserem Planeten. Er ist zudem die Quelle von Süßwasser für Milliarden von Menschen und für die vielfältigen (wenn auch zunehmend geschädigten) Ökosysteme der Region. Infolgedessen haben steigende Temperaturen und die Gletscherschmelze weitreichende Folgen, die heute schon schwerwiegende Gefahren für die Menschheit darstellen. Das Hochland von Tibet liegt im Zentrum des asiatischen Hochgebirges, einem Gebiet, das als dritter Pol bezeichnet wird, weil es nach der Antarktis und der Arktis der drittgrößte Vorrat an gefrorenem Wasser der Erde ist. In der Region gibt es etwa 15 000 Gletscher, die fast 100 000 km2 des asiatischen Hochge-

birges bedecken und 3000 bis 4700 km3 Eis enthalten. Die Gletscher speisen die Einzugsgebiete der Flüsse Amu Darya, Brahmaputra, Ganges, Indus, Irrawaddy, Mekong, Salween, Tarim, Jangtse und Gelber Fluss. Die Hindukusch-Himalaya-Region erstreckt sich über 3500 km und umfasst Indien, Nepal, China, Bhutan, Pakistan, Afghanistan, Bangladesch und Myanmar, die alle versucht haben, das Gebirge, einschließlich seines Wassers, seiner Luft und seiner Ökosysteme, unter ihre souveräne Kontrolle zu bringen. Da die Klimakrise Monsune unregelmäßiger werden lässt, Quellen austrocknet, den Grundwasserspiegel senkt und die Nahrungsmittelversorgung bedroht, ist die mangelnde Zusammenarbeit und Koordination zwischen diesen Staaten ein Vorbote für Schwierigkeiten – und stellt ein globales politisches Versagen dar, das das Fehlen einer glaubwürdigen internationalen Führung deutlich macht. Im Jahr 2020 rief eine Gruppe von Professoren, Forschern, Studenten und Alumni der New York University Abu Dhabi (NYUAD) und anderer Universitäten das Himalaya-Wasserprojekt ins Leben, um auf die Dringlichkeit der Krise und den Mangel an interdisziplinären Ansätzen hinzuweisen, die notwendig sind, um Ländern dabei zu helfen, sich auf das Schlimmste vorzubereiten. Es war jedoch nicht einfach, die Zusammenarbeit in einer Region zu fördern, in der heftige Rivalitäten, territoriale Streitigkeiten und Misstrauen herrschen und Chinas wachsender wirtschaftlicher und politischer Einfluss Feindseligkeiten schürt.

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48 Kolumne Auch die Rufe nach einer neuen bipolaren Weltordnung, in der Demokratien von Autokratien abgekoppelt sind, untergraben die Zusammenarbeit, die aufgrund der globalen Verflechtung notwendig ist. Sofern diese Denkweise vorherrscht, wird es politischen Entscheidungsträgern unmöglich sein, die vielfältigen klimabedingten Gefahren, die sich aus der Krise im Himalaya ergeben, zu verstehen und zu bewältigen. Das International Center for Integrated Mountain Development in Kathmandu, dem acht Himalaya-Länder angehören, ist derzeit die einzige regionale Organisation, die versucht, die Komplexität der Krise in den Griff zu bekommen. Die Initiative konzentriert sich allerdings vorwiegend auf den Austausch von Daten, als ob nur wissenschaftliche Erkenntnisse „neutral“ genug wären, um zwischen den Mitgliedsstaaten übermittelt zu werden. Doch selbst diese Art von Austausch kann durch regionale Streitigkeiten vereitelt werden. Darüber hinaus ist es einfallslos, politische Maßnahmen auf den wissenschaftlichen Bereich zu beschränken, insbesondere in einer Zeit, in der so viele Regierungen und internationale Organisationen ihr Engagement für Inklusion, Gerechtigkeit und unterschiedliche Formen der Wissensproduktion propagieren. Mit Ausnahme des Indus-Wasservertrages zwischen Indien und Pakistan gibt es keine echten regionalen Bemühungen um eine Zusammenarbeit beim Management der Anrainerressourcen. Vielmehr investieren Staaten weiterhin in die Infrastruktur von Wasserstraßen, die die natürlichen Flussläufe, die Ökosystemen und Menschen Leben spenden, behindert und umleitet. Ingenieure gestalten Politik in dem Glauben, dass der Mensch die Umwelt beherrschen und kontrollieren kann – eine Sichtweise, die zwar kurzfristig quantifizierbare Vorteile zu bringen scheint, mittel- und langfristig jedoch zerstörerisch ist. Im Januar dieses Jahres reisten zwei Gruppen von Studentinnen und Studenten der NYUAD nach Kathmandu, um

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sich über die geopolitischen und ökologischen Auswirkungen dieser schmelzenden Berge zu informieren. Die Studenten nahmen an einer Konferenz teil, auf der Experten aus verschiedenen Bereichen eine breite Palette von Themen ansprachen, von seismischen Aktivitäten und Wasserabkommen bis hin zu öffentlichen Maßnahmen und dem Verkauf von Kulturgütern. Die wichtigste Erkenntnis war, dass die Vielschichtigkeit der Herausforderung in der Region nicht das Handeln behindern, sondern die Entwicklung eines ganzheitlichen Ansatzes vorantreiben sollte. Jedes Mal, wenn sich der Smog lichtete und die Gipfel zum Vorschein kamen, empfanden wir Ehrfurcht. Der Himalaya ist majestätisch und zerbrechlich zugleich. Das Hochgebirge erodiert und wächst, während sich die tektonische Platte, auf der der indische Subkontinent liegt, unter den weicheren asiatischen Kontinent schiebt. Die Berge stehen in Wechselwirkung mit dem Himmel über ihnen und den Flüssen unter ihnen, und jede Veränderung dieses empfindlichen Gleichgewichts kann sich auf das Leben und die Existenzgrundlagen von Milliarden von Menschen auswirken. Doch die Gletscher schmelzen rapide – das ist mehr als offensichtlich. Mitglieder unseres Forschungsteams, die Mitte Januar bis auf 5800 Meter unterhalb des Mount Everest aufstiegen, sahen nackten Fels statt Schnee und Tümpel aus Schmelzwasser, wo früher Türme aus Gletschereis standen. Der Klimawandel beschleunigt sich, und wir brauchen eine Politik, die den Ländern des Himalaya-Wassereinzugsgebiets hilft, sich anzupassen. Die derzeitige Umstrukturierung der Weltordnung ignoriert eine der größten Bedrohungen für Stabilität. Die so genannten Großmächte müssen begreifen, was auf dem Spiel steht, und entschlossen handeln, oder sie müssen aufhören, so zu tun, als seien sie in globalen Klimafragen führend. © Project Syndicate Aus dem Englischen von Sandra Pontow.

AUFGESPIESST

Es war schon ein starkes Stück, als die „Washington Post“ Ende April berichtete, Moskau wolle  in Deutschland eine prorussische Querfront aus AfD und Sahra Wagenknecht schmieden, um so die deutsche Solidarität mit der Ukraine zu schwächen. Die AfD solle mit der linken Ikone zu einer neuen Partei der „deutschen Einheit“ verschmelzen, um die Beliebtheit der Rechtspopulisten zu steigern und so Mehrheiten bei künftigen Wahlen zu erringen. Auf diese Weise könne es gelingen, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben.

Putinisten aller Parteien – vereinigt Euch! Der Widerspruch erfolgte prompt: Von derartigen Plänen habe er „noch nie etwas gehört“, so ein betont empörter AfD-Chef Tino Chrupalla. Es handele sich um eine „Räuberpistole, die der Diskreditierung der Friedensbewegung dient“. Tatsächlich hatte die „Washington Post“ nur über Unterlagen aus dem Kreml berichtet (aus der Zeit vom Juli bis November 2022), die Treffen zwischen Kreml-Vertretern und russischen Strategen dokumentieren. Von direkten Kontakten zwischen den russischen Strategen und deutschen Politikern war in besagtem Artikel nicht die Rede. Doch offensichtlich erschien dem selbsternannten Friedenskämpfer der AfD diese Räuberpistole durchaus attraktiv. Denn wie es der Zufall wollte, fand sich Chrupalla keine drei Woche später in der Berliner Dependance seines potentiellen Auftraggebers ein, nämlich in der russischen Botschaft. Und das ausgerechnet am 9. Mai, zur Feier des russischen Sieges im Zweiten Weltkrieg. Immer an Chrupallas Seite: Alexander Gauland, Haus- und

Hofhistoriker der AfD. Warum sollte auch, wer schon einmal die NS-Zeit zum „Vogelschiss“ der deutschen Geschichte erklärt hat, jetzt nicht den Jahrestag des Sieges über die Nationalsozialisten mit denen feiern, die zur selben Zeit ein weiteres Opfer des Hitlerschen „Vogelschisses“, nämlich die Ukraine, bombardieren? Immerhin konnte Krawatten- und Preußenexperte Gauland seinen Nachfolger in Stilfragen beraten: Chrupalla erschien denn auch mit einem Schlips in den Farben der russischen Flagge und mit einer Tasse mit preußischem Adler – als Geschenk für Botschafter Netschajew und „Ausdruck der Dankbarkeit für die Befreiung von der Naziherrschaft“, so der AfD-Chef in einem ersten Medienbericht. Die Folge waren wüste Proteste aus den Reihen der Rechtspopulisten, die mit dem „Tag der Befreiung“ so gar nichts anfangen können und lieber weiter von einem „Tag der Schande“ sprechen. Daraufhin korrigierte Chrupalla umgehend per Twitter, er habe nicht für die Befreiung danken, sondern „die deutsche Sicht auf Geschichte und Gegenwart“ erläutern wollen. „Diesen Dialog sollte man in Krisenzeiten nicht abreißen lassen.“ Das sahen offensichtlich auch andere so. Denn, welch weiterer Zufall, neben dem AfD-Stoßtrupp fand sich prompt der Wagenknecht-Intimus Klaus Ernst in der Botschaft Unter den Linden ein. Dabei hatte seine Herrin und Meisterin jüngst noch gegenüber der „Washington Post“ verlauten lassen, es werde von ihrer Seite in keiner Weise eine Zusammenarbeit oder Allianz mit der AfD geben und sie habe zudem keinerlei Kontakte zu Vertretern des russischen Staates gehabt. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, mag sich die Dame aus dem Saarland gedacht haben. Und warum dann nicht erst einmal den braven Ernst als nützlichen Emissär voranschicken, um die Lage zu sondieren?

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50 Aufgespießt

Man sei über den Besuch von Klaus Ernst in der Botschaft nicht informiert gewesen, hieß es anschließend aus der Pressestelle der Linkspartei – als wäre der bekennende Porschefahrer und einst von der Links-Fraktion bestellte Vorsitzende des Ausschusses für Klimaschutz und Energie nicht schon längst auf dem Absprung zur in Gründung befindlichen Wagenknecht-Partei, wo er dann ganz bestimmt seinen ungemein grünen Neigungen nachgehen wird. Zur Verteidigung seiner Teilnahme am Jubel-Empfang sagte Ernst, dass ohne den Sieg über den Faschismus auch sein Leben anders verlaufen wäre „als unter den demokratischen Verhältnissen, die ich erleben durfte“. Dumm nur, dass Russland derzeit alles dafür tut, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer derartige demokratische Verhältnisse nicht erleben. Aber was kümmert das schon einen deutschen Porsche-Sozialisten? Schließlich wartete Unter den Linden bereits eine hoch-illustre Runde von alten Putin-Freunden, um endlich zusammenwachsen zu lassen, was tatsächlich schon lange zusammengehört. Zunächst war da der HoneckerNachfolger und letzte DDR-Chef Egon Krenz – als Nachlassverwalter des Hammer- und Sichelstaats auf jedem Bankett der alten Genossen zu finden. Und ein Anderer konnte natürlich auf keinen Fall fehlen, der schon lange käuflich ist, wenn auch nicht für ein kleines Bufett, und zudem inzwischen absolut schmerz- und schamfrei, nämlich Gerhard Schröder. Noch am 5. Mai hatte der Alt-Kanzler, der seit seinem Abgang – oder schon davor, wer weiß es so genau – auf dem PutinTicket unterwegs ist, vor dem Verwaltungsgericht Berlin um sein Bundestagsbüro gestritten und verloren, keine fünf Tage später findet er sich bei seinem kriegsverbrecherischen neuen Arbeitgeber ein. Immer getreu der alten Devise: Ist der Ruf erst ruiniert,

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lebt es sich ganz ungeniert. Chrupalla und Gauland, Ernst und Krenz – und Gazprom-Gerd obendrauf, was für eine Truppe! Und längst hat diese illustre Männerrunde der deutsch-russischen Freundschaft das ihr geneigte Presseorgan der „deutschen Einheit“ gefunden – verkörpert durch den Verleger der „Berliner Zeitung“ und Ex-StasiIM Holger Friedrich, der seit Jahren die Ostalgie-Welle reitet und seit Beginn des Ukrainekrieges alle aufbietet, die die russische Kriegsschuld relativieren wollen. Zum Dank dafür durfte auch er Herrn Netschajew die Hand reichen. Sein braver Herausgeber Michael Maier schrieb danach ganz im Stile der Hofberichterstattung, wie sie die frühere SED-Presse nicht schöner hätte vollbringen können: „Der Botschafter überreichte mehreren Veteranen persönliche Briefe des russischen Präsidenten Wladimir Putin als Zeichen der Anerkennung für ihren persönlichen Beitrag im Kampf gegen den Nationalsozialismus.“ Man sieht Veteran Krenz förmlich strammstehen. Wohlan denn, ihr wackeren Streiter für den Frieden: Seid bereit – immer bereit! Exakt 70 Jahre nach dem mutigen Aufstand der Arbeiter und Bäuerinnen vom 17. Juni 1953 gegen den „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ fühlt man sich an die drei bekannten Slogans aus demselben Jahr erinnert: „Nieder mit den faschistischen Provokationen! Alle Kraft für den neuen Kurs der Partei der Arbeiterklasse und unserer Volksregierung! Die Sowjetarmee, die unbesiegbare Hüterin des Friedens!“ Wer hätte gedacht, dass dieses Orwell-Denken – „Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Unwissenheit ist Stärke!“ – so schnell auch auf deutschem Boden wieder derart fröhliche Urstände feiern würde. Doch wer könnte das möglich machen, wenn nicht Schröder, Chrupalla, Krenz und Co.! In diesem Sinne: Putinisten aller Parteien, vereinigt euch! Jan Kursko

KURZGEFASST

Naomi Klein: Der maskierte Raub. Künstliche Intelligenz und die Halluzinationen der Tech-Konzerne, S. 53-62 Seit ChatGPT Ende vergangenen Jahres auf den Markt kam, ist viel von den Vorzügen Künstlicher Intelligenz die Rede: Sie könne die Armut beenden, Krankheiten heilen oder gar das Problem des Klimawandels lösen. Das aber ist nichts anderes als eine „Halluzination“, warnt die Journalistin und Globalisierungskritikerin Naomi Klein. In unserem auf Profitmaximierung ausgerichteten Wirtschaftssystem droht KI vielmehr zu einem furchterregenden Werkzeug weiterer Enteignung und Plünderung zu werden.

Roberto Simanowski: Narrative der Weltbeglückung. Die neue Sprach-KI und die Mathematisierung der Ethik, S. 63-73 Ende März warnten KI-Experten in einem Offenen Brief vor einer Künstlichen Intelligenz, die der Mensch – eines Tages – vielleicht nicht mehr kontrollieren könne. Der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski sieht dagegen noch ein anderes, bereits heute existentes Problem: Sprach-KI, wie keine andere Technologie zuvor mit Machtstrukturen verquickt, könnte schon bald selbst unsere Ethik und unsere Wertvorstellungen bestimmen.

Richard N. Haass und Charles Kupchan: Den Frieden verhandeln, Kiews Sicherheit garantieren. Für einen Plan B im Ukrainekrieg, S. 74-82 Während jeden Tag die Kosten für den Krieg in der Ukraine steigen, scheint eine diplomatische Lösung aktuell außer Reichweite. Dennoch gelte es, die Ukraine nicht nur militärisch zu stärken, sondern zugleich einen Friedensprozess vorzubereiten, so der Diplomat Richard N. Haass und der Politikwissenschaftler Charles Kupchan. Andernfalls drohe ein jahrelanger Krieg, der weder im Interesse des Westens noch der Ukraine sein kann.

Thomas Speckmann: Spanien 1936 bis Ukraine 2022: Das Zaudern der Demokratien, S. 83-90 Die Reaktion der westlichen Demokratien auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine wird von vielen als historische Zäsur interpretiert. Das aber ist ein Trugschluss, argumentiert der Historiker und Politikwissenschaftler Thomas Speckmann. Er erkennt in der Reaktion des Westens bekannte Verhaltensmuster aus dem letzten Jahrhundert. Abwarten statt Eingreifen laute dabei das Motto, solange die eigene Nation nicht in Gefahr ist.

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Felix Heidenreich: Frankreich als Menetekel. Wie wir mit dem Heute das Morgen verspielen, S. 91-96 Frankreich befindet sich in der größten innenpolitischen Krise seiner jüngeren Geschichte – das zeigen vor allem die Auseinandersetzungen um Emmanuel Macrons Rentenreform. Der Politikwissenschaftler Felix Heidenreich sieht darin ein Problem, das letztlich alle westlichen Demokratien betrifft: das des langfristigen Regierens gegen kurzfristige Interessen. Gerade mit Blick auf kommende Herausforderungen – Stichwort Klimakrise – gelte es, Zumutungen gerecht zu verteilen.

Lukas Hermsmeier: Chicago: Prävention statt Polizei. Mit mehr sozialer Gerechtigkeit gegen das US-Strafsystem, S. 97-105 Verbrechen wie Mord und Diebstahl gehören in Chicago zum Alltag. Doch trotz der verbreiteten Unsicherheit – und einer von rechten Politikern geschürten „Crime Panic“ – gewann dort jüngst ein linker Demokrat die Wahl zum Bürgermeister, der die Kriminalität nicht mit noch mehr Polizei, sondern mit sozialen Programmen bekämpfen will. Damit könnte, so die Einschätzung des Journalisten Lukas Hermsmeier, der „autoritäre Konsens“ in den USA zunehmend ins Wanken geraten.

Markus Linden: Reaktionäre Reaktion. Wie die Kritik an linker Identitätspolitik in rechtes Identitätsdenken kippt, S. 107-116 Die Kritik an linker Identitätspolitik vereint eine große Szene unterschiedlichster Akteure – von deutschen Denkfabriken bis hin zu etablierten US-amerikanischen Wissenschaftlern. Der Politikwissenschaftler Markus Linden beleuchtet dieses Spektrum und warnt: Statt der vermeintlichen linken Diskurshegemonie droht viel eher eine gefährliche Zusammenarbeit von demokratischem Konservatismus und radikaler Rechter, die in ein rechtes Identitätsdenken abzukippen droht.

Hendrik Küpper und Carsten Schwäbe: Rot gegen Grün statt Rot-Rot-Grün. Der ruinöse Kampf der linken Kartellparteien, S. 117-124 Die linken Parteien der Bundesrepublik befinden sich in einem ruinösen Wettbewerb – das zeigen die Streitigkeiten zwischen den Ampelparteien SPD und Grüne. Die Politologen Hendrik Küpper und Carsten Schwäbe sehen die Ursache dafür in der Entwicklung hin zu Kartellparteien, die ihren Machterhalt über politische Inhalte stellen. Werde der ruinöse Wettbewerb nicht beendet, könne es keine wirklich linke Politik geben.

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Der maskierte Raub Künstliche Intelligenz und die Halluzinationen der Tech-Konzerne Von Naomi Klein

I

n der vielschichtigen Debatte über die schnelle Verbreitung von Künstlicher Intelligenz (KI) gibt es eine vergleichsweise obskure Auseinandersetzung um die „KI-Halluzinationen“. Auf diesen Begriff haben sich die Architekten und Förderer der generativen KI geeinigt, um Antworten von Chatbots zu bezeichnen, die völlig erfunden oder einfach falsch sind. Dabei geht es beispielsweise um den Fall, dass man einen Bot nach einer Definition für etwas fragt, das es nicht gibt, und er eine solche dann ziemlich überzeugend liefert, abgerundet mit erfundenen Fußnoten. „Niemand im Feld [der KI] hat diese Halluzinationsprobleme bisher lösen können“, stellte Sundar Pichai, der Vorstandsvorsitzende von Google und Alphabet kürzlich in einem Interview fest. Das ist wahr. Aber warum werden diese Fehler überhaupt „Halluzinationen“ genannt? Warum nicht algorithmischer Müll? Oder Störung? Nun ja, der Begriff Halluzination bezieht sich auf die mysteriöse Fähigkeit des menschlichen Gehirns, Phänomene wahrzunehmen, die nicht da sind, jedenfalls nicht auf konventionelle, materielle Weise. Durch die Übernahme eines Begriffs, der breit in Psychologie, psychedelischen Diskursen und verschiedenen Formen der Mystik verwendet wird, räumen die KI-Förderer einerseits die Fehlerhaftigkeit ihrer Maschinen ein, befördern andererseits aber den wertvollsten Mythos der Branche: Allein dadurch, dass sie diese großen Sprachmodelle bauen und mit allem trainieren, was wir Menschen geschrieben, gesagt und visuell dargestellt haben, seien sie zugleich dabei, eine lebende Intelligenz zu schaffen und stünden an der Schwelle dazu, einen evolutionären Sprung für unsere Spezies auszulösen. Wie sonst könnten Bots wie Bing und Bard da draußen im Äther auf einem solchen Trip sein? Verdrehte Halluzinationen gibt es in der Welt der KI tatsächlich reichlich. Nur sind es nicht die Bots, die an ihnen leiden, sondern es sind die Tech-Vorstände, die die Bots auf uns losgelassen haben, und eine Phalanx ihrer Fans, die von wilden Halluzinationen betroffen sind, individuell wie kollektiv. Hier folge ich nicht einer mystischen oder psychedelischen Definition von Halluzinationen, bewusstseinsverändernden Zuständen, die tatsächlich dabei helfen können, tiefe, zuvor nicht wahrgenommene Wahrheiten freizulegen.

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54 Naomi Klein Nein, diese Leute sind einfach auf einem Trip: Sie sehen etwas oder behaupten dies jedenfalls, das überhaupt nicht vorhanden ist, und zaubern sogar Welten herbei, in denen wir ihre Produkte für unsere allgemeine Förderung und Bildung verwenden können. Generative KI wird der Armut ein Ende setzen, sagen sie uns. Sie wird alle Krankheiten heilen. Sie wird das Problem des Klimawandels lösen. Sie wird unsere Arbeit bedeutsamer und aufregender machen. Sie wird ein Leben voll Muße und Kontemplation erlauben und uns dabei helfen, die Menschlichkeit zurückzugewinnen, die wir an die spätkapitalistische Mechanisierung verloren haben. Sie wird die Einsamkeit beenden. Sie wird unsere Regierungen rationaler und responsiver machen. Dies, so fürchte ich, sind jedoch die wahren KI-Halluzinationen, und seit ChatGPT am Ende des letzten Jahres auf den Markt kam, haben wir sie in Dauerschleife gehört. Es gibt eine Welt, in der generative KI als machtvolles, prognosefähiges Forschungswerkzeug und zur Ausübung lästiger Aufgaben verwendet werden könnte, um der Menschheit, anderen Lebewesen und unserer gemeinsamen Heimat zu nutzen. Aber damit dies geschieht, müssen diese Technologien in einer ökonomischen und sozialen Ordnung eingesetzt werden, die sich von unserer wesentlich unterscheidet: Sie müsste auf die menschlichen Bedürfnisse und den Schutz der planetaren Systeme, die alles Leben ermöglichen, ausgerichtet sein. Alle unter uns, die sich nicht gerade auf einem Trip befinden, wissen sehr gut, dass unser derzeitiges System sehr weit von diesem Ideal entfernt ist. Es ist vielmehr darauf ausgerichtet, die Extraktion von Reichtum und Profit zu maximieren, aus Menschen wie aus der Natur. Das hat uns zu dem gebracht, was wir die technologisch-nekrologische Phase des Kapitalismus nennen könnten. In dieser Realität massiv konzentrierter Macht und massiv konzentrierten Reichtums ist KI weit davon entfernt, den Erwartungen all dieser utopischen Halluzinationen zu entsprechen. Es ist daher weit wahrscheinlicher, dass sie ein furchterregendes Werkzeug weiterer Enteignung und Plünderung wird.

Als Geschenk maskierter Raub Ich werde vertiefen, warum das so ist. Aber zunächst ist es hilfreich, darüber nachzudenken, welchen Zweck die utopischen Halluzinationen über KI erfüllen. Welche kulturelle Aufgabe erledigen diese wohlmeinenden Geschichten, just in dem Moment, in dem wir diesen merkwürdigen neuen Werkzeugen begegnen? Eine Hypothese: Diese mächtigen und verlockenden Geschichten sollen verdecken, was sich als größter und folgenreichster Raub in der menschlichen Geschichte herausstellen könnte. Denn wir werden Zeuge davon, wie sich die reichsten Firmen der Geschichte (Microsoft, Apple, Google, Meta, Amazon …) im Alleingang das gesamte menschliche Wissen, das in digitaler, aufgreifbarer Form vorliegt, aneignen und es in urheberrechtlich geschützte Produkte

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KI und die Halluzinationen der Tech-Konzerne 55 stecken. Viele von diesen Produkten werden genau jene Menschen bedrohen, deren lebenslange Arbeit die Maschinen trainiert hat, ohne dass sie dem jemals zugestimmt hätten. Dies sollte gesetzlich nicht möglich sein. Im Fall des urheberrechtlich geschützten Materials, von dem wir nun wissen, das es zum Training der Modelle genutzt worden ist, sind mehrere Klagen eingereicht worden, die allesamt argumentieren, dass dies klar illegal war. Warum sollte einem profitorientierten Unternehmen beispielsweise erlaubt sein, die Gemälde, Zeichnungen und Fotografien lebender Künstler in ein Programm wie Stable Diffusion oder Dall-E-2 einzuspeisen, damit diese dann benutzt werden können, Doppelgängerversionen der Arbeit dieser Künstler herzustellen, von denen alle außer den Künstlern selbst profitieren? Die Malerin und Illustratorin Molly Crabapple hilft dabei, eine Bewegung von Künstlern zu führen, die gegen diesen Diebstahl vorgeht. „KI, die Kunst generiert, wird auf der Basis von riesigen Datenbanken trainiert, die Abermillionen von urheberrechtlich geschützten Bildern enthalten, welche ohne Wissen ihrer Schöpfer eingesammelt wurden, ohne ihre Zustimmung und auch ohne sie zu bezahlen. Faktisch ist dies der größte Kunstraub der Geschichte. Die Täter sind die scheinbar respektablen Unternehmen, die vom Risikokapital des Silicon Valley finanziert werden. Das ist Straßenraub.“, heißt es in einem offenen Brief, den sie mitformuliert hat.

Was »disruptive Innovation« genannt wird, ist routinemäßiger Diebstahl Der Trick ist natürlich, dass im Silicon Valley Diebstahl routinemäßig „disruptive Innovation“ genannt wird und die dortigen Firmen zu oft damit durchkommen. Wir kennen dieses Verfahren: in einen rechtsfreien Raum drängen; behaupten, dass die alten Regeln für deine neue Technologie nicht gelten; aufschreien, dass Regulierung nur China helfen wird – und zugleich harte Fakten schaffen. Wenn unsere Begeisterung für die neuen Spielzeuge abgeklungen ist und wir anfangen, uns über die sozialen, politischen und ökonomischen Schäden klar zu werden, ist die Technologie bereits so weit verbreitet, dass Gerichte und Politiker vor ihr kapitulieren. Zu sehen war das bei Googles Scannen von Büchern und Kunst. Bei Elon Musks Kolonisierung des Weltraums. Bei Ubers Angriff auf die Taxibranche. Bei Airbnbs Überfall auf den Mietmarkt. Bei Facebooks beliebigem Umgang mit unseren Daten. Bitte nicht um Erlaubnis, lautet eine Lieblingsaussage der „disruptiven Innovatoren“, bitte um Verzeihung. (Und versüße deine Bitten mit großzügigen Wahlkampfspenden.) In „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ beschreibt Shoshana Zuboff sehr gründlich, wie Google mit seinen Street View-Karten Normen der Privatheit missachtete, als seine mit Kameras ausgestatteten Fahrzeuge unsere öffentlichen Straßen und die Außenansichten unserer Häuser fotografierten. Als die ersten Klagen zur Verteidigung unserer Privatsphäre eingereicht wurden, war Street View bereits flächendeckend auf unseren elektro-

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56 Naomi Klein nischen Geräten installiert (und so cool, so praktisch …), dass nur wenige Gerichte außerhalb Deutschlands zum Eingreifen bereit waren. Nun geschieht das, was mit unseren Häuserfassaden passiert ist, auch mit unseren Worten, unseren Bildern, unseren Liedern, unser aller gesamtem digitalen Leben. Sie werden derzeit allesamt erfasst und dazu benutzt, Maschinen zu trainieren, damit sie Denken und Kreativität simulieren können. Die beteiligten Unternehmen müssen wissen, dass sie Diebstahl begehen, oder jedenfalls, dass man sehr gut so argumentieren kann. Sie hoffen lediglich, dass die alte Masche ein weiteres Mal funktioniert – dass das Ausmaß ihres Raubüberfalls bereits so groß ist und seine Wirkung sich mit einer solchen Geschwindigkeit verbreitet, dass Gerichte und Politik wieder vor der angeblichen Unvermeidlichkeit all dieser Prozesse einknicken. Und das ist auch der Grund, warum ihre Halluzinationen über all die wundervollen Dinge, die KI für die Menschheit tun kann, so wichtig sind. Diese hochfliegenden Behauptungen maskieren den massenhaften Raub als Geschenk – und sie helfen zugleich dabei, die unbestreitbaren Risiken der KI zu rationalisieren. Inzwischen haben die meisten von uns von der Umfrage gehört, in der KI-Forscher und -Entwickler um ihre Einschätzung gebeten wurden, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, dass ein KI-System die „Auslöschung der Menschheit oder eine ähnliche, permanente und ernsthafte Schwächung der menschlichen Spezies“ verursachen wird. Es fröstelt einen bei der gemittelten Antwort, dass dafür eine zehnprozentige Chance bestehe. Wie rationalisiert man es, bei der Arbeit Instrumente zu entwickeln, die solche Risiken in sich tragen? Oft ist die Antwort, dass diese Systeme auch große Fortschrittspotenziale hätten. Doch beruhen diese zum größten Teil auf Halluzinationen. Hier sind einige der wildesten davon:

Halluzination Nummer 1: KI wird die Klimakrise lösen ... Dass KI-Systeme irgendwie die Klimakrise lösen werden, führt fast immer die Liste ihrer Vorzüge an. Wir haben es von allen gehört, vom Weltwirtschaftsforum über den Council on Foreign Relations bis zur Boston Consulting Group. Letztere erklärt, dass KI „dazu genutzt werden kann, alle Stakeholder dabei zu unterstützen, einen in größerem Maße informations- und datenbasierten Ansatz für den Kampf gegen Kohlenstoffemissionen und zum Aufbau einer grüneren Gesellschaft zu verwenden“. Als der frühere GoogleGeschäftsführer Eric Schmidt dem „Atlantic“ erklärte, warum die Risiken von KI es dennoch wert wären, fasste er dies so zusammen: „Wenn Sie über die größten Probleme der Welt nachdenken; sie sind alle schwierig – Klimawandel, menschliche Organisationen und so weiter. Und deshalb will ich immer, dass die Menschen klüger werden.“ Gemäß dieser Logik liegt das Unvermögen, große Probleme wie den Klimawandel zu „lösen“, an einem Mangel an Klugheit. Vergessen wir einfach, dass wirklich schlaue Menschen mit jeder Menge Doktortiteln und Nobelpreisen

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KI und die Halluzinationen der Tech-Konzerne 57 unseren Regierungen seit Jahrzehnten erzählen, was getan werden müsste, um aus diesem Schlamassel zu kommen: unsere Emissionen senken, Kohlenstoff im Boden lassen, die Überkonsumtion der Reichen und die Unterkonsumtion der Armen angehen, weil keine Energiequelle ohne ökologische Kosten auskommt. Doch diese sehr guten Ratschläge sind ignoriert worden, und das liegt nicht an mangelndem Leseverständnis. Wir brauchen auch keine Maschinen, die das Denken für uns erledigen. Der Grund für diese Ignoranz ist: Wenn wir tun würden, was wir angesichts der Klimakrise tun müssten, wären Billionen von Dollar an Vermögenswerten, die in fossile Energien investiert worden sind, in den Sand gesetzt. Zugleich würden wir das konsumbasierte Wachstumsmodell im Zentrum unserer verwobenen Wirtschaft infrage stellen. Die Klimakrise ist tatsächlich kein Mysterium oder Rätsel, das wir noch nicht gelöst hätten, weil uns keine gesicherten Daten vorliegen würden. Im Gegenteil: Wir wissen, was nötig wäre, aber es gibt eben keine einfache Lösung – es braucht einen Paradigmenwechsel. Auf Maschinen zu warten, damit sie eine genießbarere oder gewinnträchtigere Antwort ausspucken, ist kein Heilmittel für diese Krise, es ist ein weiteres ihrer Symptome.

... und dürfte sie doch faktisch vertiefen Räumt man die Halluzinationen beiseite, sieht es vielmehr so aus, als würde KI auf eine Weise auf den Markt gebracht, die wahrscheinlich die Klimakrise noch vertiefen wird. Erstens führen die riesigen Server, die es möglich machen, dass Chatbots auf Knopfdruck Essays und Kunstwerke produzieren, zu enorm großen und wachsenden Kohlenstoffemissionen. Zweitens zeigt sich an den großen Investitionen von Unternehmen wie Coca-Cola – die generative KI dafür benutzen, um mehr Produkte zu verkaufen –, dass die neue Technologie genauso benutzt werden wird wie die letzte Generation digitaler Werkzeuge: Was mit hehren Versprechungen über die Verbreitung von Freiheit und Demokratie beginnt, endet mit zielgruppenspezifischer Werbung, damit wir mehr nutzloses, kohlenstoffausspuckendes Zeug kaufen. Es gibt einen dritten Aspekt, der etwas schwerer zu fassen ist. Je mehr unsere Medien mit Deep Fakes und verschiedenen Clones überschwemmt werden, desto stärker wird es sich anfühlen, als ob wir in einem Informationstreibsand versinken. Geoffrey Hinton, der oft als „Pate der KI“ bezeichnet wird, weil das neuronale Netzwerk, das er vor mehr als einem Jahrzehnt entwickelt hat, der Grundstock für die heutigen Sprachmodelle ist, versteht dies gut. Er hat gerade eine führende Position bei Google aufgegeben, um freier über die Risiken der Technologie sprechen zu können, die er mitentwickelt hat. Dazu gehört, wie er gegenüber der „New York Times“ sagte, das Risiko, dass die Menschen „nicht mehr in der Lage sein werden, zu wissen, was wahr ist“. Diese Aussage ist von größter Relevanz für die Behauptung, dass KI bei der Bekämpfung der Klimakrise helfen kann. Denn wenn wir allem misstrauen, was wir in unserer zunehmend unheimlichen Medienumwelt lesen

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58 Naomi Klein und sehen, werden wir sogar noch weniger in der Lage sein, drängende kollektive Probleme zu lösen. Die Vertrauenskrise ist selbstverständlich älter als ChatGPT, aber es steht außer Frage, dass die Verbreitung von Deep Fakes mit einem exponentiellen Wachstum ohnehin schon florierender Verschwörungskulturen einhergehen wird. Welchen Unterschied soll es also machen, wenn KI zu technologischen und wissenschaftlichen Durchbrüchen führt? Wenn sich unsere geteilte Wirklichkeit vor unseren Augen auflöst, wird es uns nicht mehr gelingen, kohärente Antworten zu finden.

Halluzination Nummer 2: KI wird zu klügerem Regieren führen Diese zweite Halluzination beschwört eine nahe Zukunft herauf, in der Politiker und Bürokraten auf die riesige, aggregierte Intelligenz von KI-Systemen zurückgreifen können und deshalb in der Lage sein werden, „Bedürfnismuster zu sehen und faktenbasierte Programme zu entwickeln“, die einen größeren Nutzen für die Bürger haben. Diese Behauptung entstammt einem Papier, das von der Stiftung der Boston Consulting Group (BCG) veröffentlicht wurde, aber es findet in vielen Thinktanks und Unternehmensberatungen ein positives Echo. Es ist vielsagend, dass genau diese Unternehmen – Firmen, die von Regierungen und Unternehmen angeheuert werden, um Kostenersparnisse zu identifizieren, häufig durch Massenentlassungen – am schnellsten auf den KI-Zug aufgesprungen sind. PwC (früher PricewaterhouseCoopers) hat gerade eine Investition von einer Bill. US-Dollar angekündigt, und sowohl von Bain & Company als auch von Deloitte hört man, dass sie mit Enthusiasmus auf die Möglichkeiten dieser Werkzeuge blicken, um die Effizienz ihrer Beratungsleistungen für ihre Kunden zu erhöhen. Genau wie bei den Behauptungen bezüglich der Klimakrise muss man fragen: Ist der Grund dafür, dass Politiker grausame und ineffektive Programme verordnen, wirklich der, dass es ihnen an Faktenkenntnis mangelt? Liegt es an einer Unfähigkeit, „Muster zu sehen“, wie das BCG-Papier behauptet? Verstehen sie etwa nicht, dass die Kürzung von Gesundheitsausgaben inmitten von Pandemien menschliche Kosten verursachen wird, genau wie fehlende Investitionen in den sozialen Wohnungsbau, während die Zeltstädte in den städtischen Parks wachsen, und die Genehmigung von neuer Infrastruktur im Bereich fossiler Energien, während die Temperaturen drastisch steigen? Brauchen sie KI, um sie „klüger“ zu machen, um Schmidts Ausdruck zu nehmen? Oder sind sie schon klug genug, um zu wissen, wer ihren nächsten Wahlkampf finanzieren wird – oder eben den ihrer Rivalen, falls sie vom gewünschten Kurs abweichen? Es wäre schon sehr schön, wenn KI wirklich den Zusammenhang zwischen dem Geld der Geschäftswelt und der unbesonnenen Politik aufbrechen könnte – aber genau dieser Zusammenhang erklärt nun einmal, warum Unternehmen wie Google und Microsoft ihre Chatbots trotz einer wahren Flut an Warnungen und der bekannten Risiken auf den Markt bringen durften. Seit Jahren betreiben Schmidt und andere eine Lobby-Kampagne gegen-

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KI und die Halluzinationen der Tech-Konzerne 59 über beiden Parteien in Washington, die argumentiert, man müsse die TechKonzerne die generative KI weitgehend unreguliert vorantreiben lassen, weil ansonsten China die westlichen Mächte abhängen wird. Im vergangenen Jahr haben die wichtigsten Technologieunternehmen rekordverdächtige 70 Mio. US-Dollar für Lobby-Tätigkeiten in Washington ausgegeben – mehr als die Öl- und Gasbranche. Und diese Summe kommt laut „Bloomberg News“ auf die Millionen, die für „die große Reihe von Verbänden, Non-Profit-Unternehmen und Thinktanks“ ausgegeben wird, noch oben drauf. Und dennoch: Obwohl sie alle ganz genau wissen, wie sehr Geld die Politik in unseren Hauptstädten beeinflusst, scheinen sie all das bei entsprechender Gelegenheit gerne zu vergessen. So wirkt es jedenfalls, wenn man beispielsweise Sam Altman, Geschäftsführer von OpenAC – Produzent von ChatGPT – zuhört, wie er über die günstigsten Szenarien für seine Produkte redet. Er scheint eine Welt zu halluzinieren, die sich völlig von der unsrigen unterscheidet, eine Welt, in der Politik und Industrie Entscheidungen auf der Basis der besten Daten treffen und niemals zahllose Leben für Profite und geopolitische Vorteile riskieren würden. Das bringt uns zu einer weiteren Halluzination.

Halluzination Nummer 3: Man kann den Technologiegiganten vertrauen, sie werden die Welt nicht zerstören Auf die Frage, ob er sich keine Sorgen über den wilden Goldrausch machen würde, den ChatGPT ausgelöst hat, antwortete Altman, dass er schon besorgt sei, fügte aber heiter hinzu: „Hoffentlich geht es gut aus.“ Über seine Geschäftsführerkollegen bei anderen Tech-Unternehmen – eben diejenigen, die nun darum kämpfen, schnellstmöglich ihre Konkurrenz-Chatbots auf den Markt zu bringen – sagte er: „Ich denke, unsere guten Geister werden sich am Ende durchsetzen.“ Die guten Geister? Bei Google? Ich bin ziemlich sicher, dass die meisten von ihnen längst entlassen wurden, weil sie kritisch über KI geschrieben oder das Unternehmen wegen Rassismus und sexueller Belästigung am Arbeitsplatz kritisiert haben. Weitere „gute Geister“ haben das Unternehmen in großer Sorge verlassen, zuletzt Hinton. Und zwar, weil Google – ganz im Gegensatz zu den Halluzinationen der Leute, die am meisten von KI profitieren – seine Entscheidungen eben nicht auf der Basis davon trifft, was für die Welt am besten ist, sondern zugunsten der Interessen der Aktionäre von Alphabet. Sie wollen nicht die neueste Blase verpassen, wo doch Microsoft, Meta und Apple längst dort aktiv sind.

Halluzination Nummer 4: KI wird uns von sinnloser Plackerei befreien Dennoch erscheinen die wohlmeinenden Halluzinationen des Silicon Valley vielen plausibel. Dafür gibt es einen einfachen Grund. Die generative KI ist

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60 Naomi Klein momentan in einer Phase, die wir falschen Sozialismus nennen können. Sie ist Teil der inzwischen bekannten Silicon Valley-Masche. Zunächst entwickelt man ein attraktives Produkt wie eine Suchmaschine, ein Mapping-Programm, ein soziales Netzwerk, eine Videoplattform oder eine Fahrtenvermittlung. Dann bietet man es für ein paar Jahre kostenlos oder fast kostenlos an, ohne dass es eine erkennbare Unternehmensstrategie gibt: „Probiert die Bots mal aus“, sagen sie, „schaut mal, was ihr für lustige Sachen entwickeln könnt!“ Man stellt hehre Behauptungen auf, dass man nur einen „öffentlichen Raum“ oder einen „Gemeinschaftsraum für Informationen“ schaffen möchte, um die „Leute zu verbinden“ und zugleich Freiheit und Demokratie zu verbreiten (und man natürlich nicht „böse“ ist). Dann schaut man zu, wie die Menschen von den kostenlosen Programmen abhängig werden und die Konkurrenten pleitegehen. Sobald das Feld abgeräumt ist, drängen die gezielte Werbung, die ständige Überwachung, die Verträge mit Polizei und Militär, die intransparenten Datenverkäufe und die steigenden Abogebühren nach vorne. Frühere Versionen dieser Masche haben schon viele Leben und Branchen vernichtet, von Taxifahrern über Mietwohnungsmärkte bis hin zu Lokalzeitungen. Nach der KI-Revolution könnte dies wie eine Nebensächlichkeit wirken: Nun müssen Lehrer, Programmierer, Bildkünstler, Journalisten, Übersetzer, Musiker, Pflegebeschäftigte und viele andere befürchten, dass sie ihre Einkommensmöglichkeiten an fehlerhafte Software verlieren.

Eine aufregende Vision eines schöneren Lebens – als Lockmittel Macht Euch keine Sorgen, halluzinieren die KI-Enthusiasten – es wird wunderbar. Wer mag schon seine Arbeit? Generative KI wird nicht das Ende der Beschäftigung sein, hören wir, nur der „langweiligen Arbeit“ – die Chatbots werden all die seelenzerstörenden, repetitiven Aufgaben erledigen und Menschen werden sie nur noch dabei beaufsichtigen. Altman sieht beispielsweise eine Zukunft voraus, in der Arbeit ein „umfassenderes Konzept ist, nicht etwas, was man machen muss, um essen zu können, sondern etwas, womit man sich kreativ ausdrückt und womit man einen Weg zu Erfüllung und Glück findet“. Das ist eine aufregende Vision eines schöneren Lebens mit mehr Freizeit, die viele Linke teilen, so bereits Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, der ein Manifest mit dem Titel „Das Recht auf Faulheit“ schrieb. Aber wir Linken wissen auch, dass es andere Wege geben muss, unsere Bedürfnisse nach Wohnung und Nahrung zu erfüllen, wenn das Geldverdienen nicht länger die treibende Kraft des Lebens sein soll. Eine Welt ohne miese Jobs muss eine sein, wo die Wohnung nichts kostet, wo Gesundheitsversorgung nichts kostet, und wo jede Person garantierte ökonomische Rechte hat. Und dann reden wir plötzlich überhaupt nicht mehr über KI – wir reden über Sozialismus. Das liegt daran, dass wir nicht in der von „Raumschiff Enterprise“ inspirierten, rationalen, humanistischen Welt leben, die Altman zu halluzinieren

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KI und die Halluzinationen der Tech-Konzerne 61 scheint. Wir leben vielmehr unter kapitalistischen Bedingungen, und deshalb werden die arbeitenden Menschen nicht plötzlich frei, Philosophen und Künstler zu werden, wenn der Markt mit Technologien geflutet wird, die ihre Aufgaben übernehmen können. Tatsächlich werden diese Menschen vor dem Abgrund stehen – und Künstler werden unter den ersten sein, die in ihn stürzen.

Generative KI als ein Vampir Das ist auch die Botschaft des offenen Briefs von Crabapple, in dem „Künstler, Verleger, Journalisten, Redakteure und die Spitzen der Journalistengewerkschaften [aufgefordert werden], sich zu menschlichen Werten und gegen die Verwendung von Bildern, die mit generativer KI hergestellt wurden, zu bekennen“ und „menschengemachte Kunst [zu unterstützen], nicht Serverfarmen“. Im Brief, der von Hunderten Künstlern, Journalisten und anderen unterzeichnet wurde, heißt es, dass nur die Künstlerelite nicht „vom Risiko der Auslöschung“ bedroht sei. Laut Hinton, dem „Paten der KI“, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Bedrohung sich nicht noch ausbreitet. Die Chatbots übernehmen die „Drecksarbeit“, aber sie „könnten noch viel mehr übernehmen“. Crabapple und ihre Mitautoren schreiben: „Generative KI ist wie ein Vampir, der sich von vergangenen Generationen künstlerischer Produktion ernährt, während er zugleich lebende Künstler aussaugt.“ Aber es gibt Wege, sich zu wehren: Wir können uns weigern, diese Produkte zu nutzen. Wir können uns organisieren und verlangen, dass unsere Arbeitgeber und Regierungen sich ebenfalls weigern. Ein Brief prominenter Wissenschaftler, die sich mit der Ethik von KI beschäftigen – unter ihnen Tinnit Gebru, der 2020 von Google entlassen wurde, weil er auf Diskriminierung am Arbeitsplatz hingewiesen hatte –, stellt einige der Regulierungen vor, die Regierungen sofort einführen könnten. Dazu gehört beispielsweise die Herstellung voller Transparenz über die Datensätze, die zum Trainieren der Sprachmodelle verwendet werden. Die Autoren schreiben: „Nicht nur sollte es immer offensichtlich sein, wenn man mit synthetischen Medien zu tun hat, sondern die Organisationen, die diese Systeme bauen, sollten auch verpflichtet sein, die Trainingsdaten und Modellarchitekturen zu dokumentieren und offenzulegen. […] Wir sollten Maschinen bauen, die für uns arbeiten, statt die Gesellschaft so ‚umzubauen‘, dass die Maschinen sie lesen und beschreiben können.“ Die Technologieunternehmen wollen uns glauben machen, dass es schon zu spät ist, dieses Produkt einzuhegen, das Menschen durch massenhafte Nachahmung ersetzt. Doch gibt es äußerst relevante gesetzliche und regulative Präzedenzfälle, auf denen aufgebaut werden könnte. So hat die US Federal Trade Commission (FTC) sowohl Cambridge Analytica als auch Everalbum, Eigentümer einer Foto-App, dazu gezwungen, komplette Algorithmen zu zerstören, die auf der Basis von unrechtmäßig angeeigneten Daten und Fotos trainiert worden waren. Die Biden-Regierung hat anfäng-

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62 Naomi Klein lich große Ankündigungen zur Regulierung der großen Technologieunternehmen gemacht, auch zur Bekämpfung des Diebstahls persönlicher Daten zur Herstellung urheberrechtlich geschützter Algorithmen. Angesichts der bald bevorstehenden Präsidentschaftswahl wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, diese Versprechungen umzusetzen – und die nächste Welle von Massenentlassungen abzuwenden.

Die Privatisierung unseres geistigen Erbes Eine Welt voller Deep Fakes, Nachahmungsschleifen und immer größerer Ungleichheit ist nicht unvermeidlich. Es geht um politische Entscheidungen. Wir können die derzeitigen vampirhaften Chatbots wegregulieren – und beginnen, eine Welt aufzubauen, in der die aufregendsten Versprechungen der KI mehr als Halluzinationen des Silicon Valley wären. Und zwar, weil wir die Maschinen trainiert haben. Wir alle. Aber wir haben niemals zugestimmt. Sie haben sich vom kollektiven Ideenreichtum, von den kollektiven Inspirationen und Offenbarungen der Menschheit ernährt (und auch von unseren eher verdorbenen Eigenschaften). Diese Modelle sind Maschinen der Aneignung und Umzäunung, die unser aller individuelles Leben und unser kollektives intellektuelles und künstlerisches Erbe verschlingen und privatisieren. Und sie dienten nie dem Ziel, die Probleme des Klimawandels zu lösen, Regierungen verantwortlicher zu machen oder unser tägliches Leben angenehmer zu gestalten. Es ging immer darum, von der massenhaften Verelendung zu profitieren, die unter kapitalistischen Bedingungen die eklatante und logische Konsequenz ist, wenn man menschliche Tätigkeiten durch Bots ersetzt. Ist all das nicht doch ziemlich übertrieben? Ein spießiger und reflexartiger Widerstand gegen eine aufregende Innovation? Warum mit dem Schlimmsten rechnen? Altman beruhigt uns: „Niemand will die Welt zerstören.“ Vielleicht nicht. Aber anhand der sich ständig verschlimmernden Klima- und Ausrottungskrisen können wir jeden Tag Folgendes sehen: Es gibt reichlich mächtige Menschen und Institutionen, die ziemlich gut mit dem Wissen leben, dass sie an der Zerstörung der Stabilität der lebensunterstützenden Systeme der Welt beteiligt sind, solange sie nur weiter Rekordgewinne erzielen und solange sie glauben, dass sie sich selbst und ihre Familien vor den schlimmsten Folgen bewahren können. Altman ist, wie viele andere Geschöpfe des Silicon Valley, ein Prepper. 2016 prahlte er: „Ich habe Gewehre, Gold, Iod-Kaliumiodidlösung, Antibiotika, Batterien, Wasser, Gasmasken des israelischen Militärs und ein großes Stück Land in Big Sur, wo ich hinfliegen kann.“ Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Aussage mehr darüber verrät, was Altman wirklich von der Zukunft erwartet, die er mit entfesselt, als die blumigen Halluzinationen, die er in Interviews zum Besten gibt. Aus dem Englischen von Thomas Greven

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Narrative der Weltbeglückung Die neue Sprach-KI und die Mathematisierung der Ethik Von Roberto Simanowski

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eit Wochen ist ein Name in aller Munde, den zuvor kaum einer auszusprechen in der Lage gewesen wäre: ChatGPT. Wir erleben einen gewaltigen Hype um diese neue Sprach-KI, nicht nur das Feuilleton überschlägt sich in historischen Vergleichen – ob mit der Einführung der Druckerpresse, der Erfindung der Elektrizität oder gar der Nutzbarmachung des Feuers. Und wie sollte man auch nicht begeistert sein? Sprach-KIs wie ChatGPT und GPT-4 schreiben in Sekundenschnelle Artikel, denen man die künstliche Handschrift kaum anmerkt. Sie bestehen Aufnahmeverfahren an Elite-Unis, erstellen Textzusammenfassungen, Versammlungsprotokolle, Diagnoseberichte oder entwerfen das Gerüst für Vorträge, Seminare, ganze Bücher und schreiben sogar Gedichte – ganz zu schweigen von der schon fast trivialen Glückwunschrede zum 50. Betriebsjubiläum einmal im feierlichem, einmal im humorvollen Ton. Kurzum: Sprach-KI verspricht das Ende der Schreibblockade, die Befreiung von mechanischen Denkaufgaben hin zum wirklich Kreativen – als ein höchst effizienter Koautor oder Copilot, wie es bei Microsoft heißt. Dann aber, am 29. März 2023, warnte ein Offener Brief mit dem imperativen Titel „Pause Giant AI Experiments“ vor einem außer Kontrolle geratenen Wettlauf um die Entwicklung und den Einsatz immer leistungsfähigerer KI, die nicht einmal ihre Erfinder verstehen, vorhersagen oder zuverlässig kontrollieren können, und forderte eine sechsmonatige Pause in der Entwicklung von KI, um der Politik Zeit zu geben, mit den nötigen Regulationen hinterherzukommen.1 Was für Spielverderber! Der Brief kam jedoch nicht von den üblichen Verdächtigen; nicht aus den Departments der Geisteswissenschaften, sondern von KI-Experten, die sich wiederum auf verschiedene Fachartikel von IT-Spezialisten über die Risiken von KI beriefen, in denen auch die alte Gefahr wieder Gestalt annimmt: dass der Mensch von seiner eigenen Schöpfung versklavt werden könnte. Dass auch der „Godfather of AI“, Geoffrey Hinton, eine solche Entwicklung für möglich hält, beunruhigt.2 Noch mehr beunruhigt freilich, dass selbst OpenAI (das Start-up hinter ChatGPT und GPT-4) diese Gefahr nicht ausschließt: Dessen CEO Sam Altman erwartet

1 Vgl. Pause Giant AI Experiments: An Open Letter, www.futureoflife.org, 22.3.2023. 2 Vgl. Will Douglas Heaven, Geoffrey Hinton tells us why he’s now scared of the tech he helped build, www.technologyreview.com, 2.5.2023.

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64 Roberto Simanowski neben „disinformation problems“ und „economic shock“ als mögliche Folgen von GPT Probleme, „die weit über das hinausgehen, worauf wir vorbereitet sind“3 und OpenAIs GPT-4 Technical Report vermerkt erste Anzeichen für eine sogenannte „starke“ KI, die eigene Interessen verfolgt.4 Natürlich teilen nicht alle und wahrscheinlich nicht einmal die meisten der IT-Spezialisten den Aufruf zu einem Entwicklungsstopp. Stellvertretend sei auf einen der wichtigsten KI-Experten verwiesen, Yann LeCun, Chief AI Scientist bei Meta, der in einem Tweet eine medienhistorische Analogie bemüht: „Wir schreiben das Jahr 1440 und die katholische Kirche hat ein sechsmonatiges Moratorium für den Gebrauch der Druckerpresse erlassen. Man stelle sich nur vor, was passieren könnte, wenn das gemeine Volk Zugang zu Büchern bekäme! Sie könnten die Bibel selbst lesen, und die Gesellschaft würde zerstört werden.“5 Diese Reaktion ist symptomatisch für das Selbstverständnis vieler KI-Befürworter und ihr Diskussionsniveau: Ein zweifelhafter Vergleich mündet in eine Emanzipationsrhetorik, die noch jene Phrase enthält, ohne die im Silicon Valley kein Produkt-Pitch auskommt: „to make the world a better place“. Kritik am neuen Produkt wird so zur Obstruktion des gesellschaftlichen Fortschritts. Gewiss, ein gutes Narrativ ist die halbe Miete, wenn man öffentlich ein Produkt verteidigen will, das andere aus verschiedenen Gründen als mehr oder weniger problematisch ansehen. Bei einer Sprach-KI wie GPT reicht die Spannweite des Narrativs von der Erweiterung unseres Wissens (KI als Expertin zu allem und jederzeit) und unserer Kreativität (KI als Ideengeber) bis zur Bekämpfung des Klimawandels (durch effizientere Ressourcenverteilung und Katastrophenmanagement). Ganz zu schweigen von der Lösung des Krebsproblems. Und natürlich hilft es auch gleich noch den Migranten – die dank ChatGPT weniger Nachteile wegen lückenhafter Englischkenntnisse gegenüber Muttersprachlern haben6 – und sozial Schwachen – die sich mit ChatGPT nun auch einen Tutor leisten können.7 Wer wollte schon gegen solche Versprechen sein?

»Digital first, Bedenken second« Wer sich durch die „Californian Ideology“8 – dieser Verbindung des „freewheeling spirit“ der Hippies mit dem „entrepreneurial zeal“ der Yuppies – nicht das kritische Bewusstsein hat nehmen lassen, wird trotz der Weltverbesserungsrhetorik zunächst daran denken, dass KI vor allem ein riesiges 3 Lex Fridman und Sam Altman, Open AI CEO on GPT-4, Chat-GPT and the Future of AI | Lex Fridman Podcast #367, www.youtube.com, 25.3.2023, ab Min. 1:09:39. 4 Vgl. GPT-4 Technical Report, www.openai.com, 27.3.2023, S. 54 f. 5 Yann LeCun, https://twitter.com/ylecun, 30.3.2023. 6 Vgl. SXSW, OpenAI Co-founder Greg Brockman on Chat GPT, Dall-E and the Impact of Generative AI | SXSW 2023, www.youtube.com, 12.3.2023, ab Min. 18:50. 7 Vgl. Khan Academy, Khan Academy announces GPT-4 powered learning guide, www.youtube.com, 14.3.2023. 8 Vgl. Richard Barbrook und Andy Cameron, The Californian Ideology, in: „Mute Magazine“, abrufbar auf www.imaginaryfutures.net, 1.9.1995; Richard Barbrook: Cyber-Communism: How The Americans Are Superseding Capitalism In Cyberspace, in: „Science as Culture“, 1/1999, S. 5-40.

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Geschäft ist. Ein Geschäft, das die Profiterwirtschaftung weiter von menschlichen auf maschinelle Produktivkräfte verschiebt und sehr schnell sehr viel Geld verspricht, weswegen die KI-Forschung in den letzten Jahren immer stärker dem Prozess einer demokratischen Kontrolle entzogen und durch entsprechendes Funding und eine entsprechende Lenkung der Forschungsfragen den Interessen machtvoller Kooperation unterstellt wurde.9 Doch auch diese harte ökonomische Realität wird von den Protagonisten der Netzideologie mit leichter Hand überspielt und heroisiert. Eine Reaktion auf LeChuns Tweet verwies darauf, dass der Bau der Florenzer Kathedrale Santa Maria del Fiore 1296 von Leuten begonnen wurde, die nicht wussten, wie sie die Kuppel dazu konstruieren konnten, die erst ein Jahrhundert später mit neuen Einsichten und Werkzeugen errichtet wurde. Diesen Pioniergeist, diese Risikobereitschaft gelte es heute neu zu beleben.10 Im Geiste der Renaissance wird hier kritisiert, was Mark Zuckerberg als zwanzigjähriger Facebook-Gründer und Harvard-Student einmal als Übervorsicht beschrieb, während es sinnvoller sei, Dinge einfach anzugehen und sich später für Fehlentwicklungen zu entschuldigen.11 Diesen Ratschlag gab Zuckerberg im Mai 2017 in seiner Commencement-Rede auch den Harvard-Absolventen mit auf den Weg,12 als er längst zu Facebooks Arbeitsmotto geworden war: „move fast and break things“. Man weiß, wie es weiterging. Im November 2017 zeigte „The Economist“ Facebook – 2011 im Kontext des Arabischen Frühlings noch mit dem Begriff „Facebook Revolution“ als Werkzeug der Demokratisierung geadelt – auf seinem Cover als „threat to democracy“. In den Anhörungen vor US- und EUPolitikern, die Zuckerberg 2018 wegen des Cambridge Analytica-Skandals über sich ergehen lassen musste, wiederholt sich eine Szene immer wieder: Zuckerberg verweist auf die Komplexität von Facebook, die man erst allmählich zu verstehen beginne; es sei dem Facebook-Management vorher nicht klar gewesen, wie leicht das soziale Netzwerk von „bad actors“ missbraucht werden könne. So viel zu einem früheren Großunternehmen der Weltverbesserung, das aus der Verbindung aller Menschen ein besseres Verständnis untereinander versprach, sie dann aber eher gegeneinander aufbrachte. Facebooks Management hatte sein Produkt schneller vorangetrieben, als es dessen gesellschaftliche Risiken verstehen und beherrschen konnte. Dass auch Facebook Geschäftsmodell und ökonomische Interessen der Investition in Content Management und Risikokontrolle im Wege standen, ist bekannt und überrascht wenig – und sollte beim aktuellen Weltverbesserungsnarrativ erinnert werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Offene Brief auch als Lerneffekt aus der jüngsten Mediengeschichte verstehen, als Abschied vom move fast 9 Vgl. Abeba Birhane et al., The Values Encoded in Machine Learning Research, www.dl.acm.org, Juni 2022, S. 173-184. 10 Vgl. François Luc Moraud, www.twitter.com/francoismoraud, 30.3.2023. 11 Vgl. Frontline PBS, The Facebook Dilemma, Part One (full documentary) | FRONTLINE, www.youtube.com, 30.10.2018, ab Min. 4:12. 12 Vgl. ABC News, Mark Zuckerbergs Harvard Commencement Speech 2017 FACEBOOK CEO’S FULL SPEECH, www.youtube.com, 26.5.2017, ab Min. 13:38.

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66 Roberto Simanowski and break things-Fieber hin zu einer Slow-AI-Nachhaltigkeit. In Deutschland geht für dieses Entschleunigen die Digitalisierung freilich viel zu langsam voran. Wenn Daten zur Pandemiebekämpfung noch per Fax verschickt werden und Schulen das Internet oder die Medienkompetenz fehlt, um ihren Bildungsauftrag auch in Krisenzeiten zu erfüllen, haben es Losungen gegen Bürokraten, Bedenkenträger und Bremser leicht, wie etwa: „Digital First, Bedenken Second“ (FDP im Wahlkampf 2017), Digitalisierung mit „maximalem Tempo“ und „ohne Wenn und Aber“ (Bitkom-Präsident Thorsten Dirks, 2017),13 „Digitalisierung der Schulen von null auf hundert beschleunigen, und das von jetzt auf gleich“ (Bitkom-Präsident Achim Berg, 2020)14 oder auch „Wir müssen jetzt KI mit voller Kraft umarmen“ (Sascha Lobo, 2023).15 Natürlich darf man nicht übersehen, wer solche Losungen vertritt. Wirtschaftskräfte, die neue Produkte schaffen und neu Märkte erobern wollen, haben naturgemäß andere Interessen als Soziologinnen oder Medien- und Kulturwissenschaftler, die nach den gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung fragen, oder als Klimaexperten, die gegen die heilige Kuh der Wachstumslogik argumentieren. Auch einflussreiche „Digitalexperten“, die ihr Geld damit verdienen, der Wirtschaft das Internet zu erklären, werden Bedenken lediglich zur Abrundung einer ansonsten optimistischen Grundhaltung einstreuen. Brisant wird es freilich, wenn diese Perspektive auch außerhalb des Beratungsjobs, in Zeitungbeiträgen und Talkshow-Auftritten, das allgemeine Problembewusstsein bestimmt, die Gesellschaft also selbst im Rahmen der sogenannten Vierten Gewalt ganz im Sinne des Wirtschaftssystems informiert wird. Brisant ist dies zumal dann, wenn es sich um Wiederholungstäter handelt, die mit dem gleichen naiven Optimismus schon einmal gründlich reingefallen waren, als sie das Internet als das „perfekte Medium der Demokratie, der Emanzipation, der Selbstbefreiung“ umarmten, bis sie sich im Kontext der NSA-Affäre von ihm „verletzt“ fühlten und ihr Analyseversagen zu einer „vierten, digitalen Kränkung der Menschheit“ aufbauschten.16 Schon damals hätte man es besser wissen können, hätte man sich auf den Diskussionsstand der akademischen Internetforschung gebracht oder auch nur die Berichte in den Medien beachtet, die weniger euphorisch waren als man selbst. Um so wichtiger ist es, jetzt, in der Debatte um die neue Sprach-KI, diesem Irrtum nicht vor lauter Umarmungslust erneut zu verfallen.

Wie werden wir denken? Die Gefahr, die der erwähnte Offene Brief anspricht, zielt auf eine starke KI, die der Mensch – eines Tages – vielleicht nicht mehr kontrollieren kann. Kritiker sehen (neben dem Umstand, dass gerade OpenAI-Mitbegründer Elon 13 Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Digital-Gipfel 2017: Keynotes von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bitkom-Präsident Thorsten Dirks, www.de.digital, 13.6.2017. 14 Achim Berg, Bitkom zur Digitalisierung der Schulen nach Corona, www.bitkom.org. 6.5.2020. 15 Sascha Lobo im Gespräch mit dem ZDF, „KI mit voller Kraft umarmen“, www.zdf.de, 6.4.2023. 16 Sascha Lobo, Abschied von der Utopie: Die digitale Kränkung des Menschen, www.faz.net, 11.1.2014.

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Musk sich hier als Retter positioniert) in diesem „longtermism“ eines Machtkampfes zwischen Mensch und KI allerdings primär ein Ablenkungsmanöver von den Problemen, die bereits diesseits einer solchen KI aufgrund politisch-ökonomischer Machtverhältnisse bestehen.17 Heute gehe es vor allem darum, die Herkunft der Daten, an denen die KI trainiert wurde, transparent zu machen, sowie um das, was in der Fachwelt unter dem Begriff „Data Colonialism“ diskutiert wird: die Ausbeutung der Datenbeschaffung (Data-Labeling durch prekäre Klickworker im Globalen Süden) und die Profitgenerierung für IT-Unternehmen aus der Extraktion der Daten-Allmende (inklusive des Kulturguts des Globalen Nordens).18 In die Kategorie der ganz konkreten politisch-ökonomischen Machtverhältnisse gehören zudem die Risiken, die von der KI für die Beziehung zwischen Staaten (wer KI beherrscht, beherrscht die Welt), Staat und Wirtschaft (Machtgewinn der IT-Unternehmen gegenüber dem Staat) sowie Staat und Bürgern (Kontrolle der Bürger durch den Staat) ausgehen.19 Neben diesen in der Tat dramatischen, aber eher unterschwellig auftretenden Problemen gibt es zugleich jene, über die derzeit alle sprechen: Copyright, Plagiarismus, Arbeitsplatzvernichtung, Halluzinationen, Deepfakes. Diese Themen bestimmen schon deshalb die Talkshows, weil Halluzinationen und Deepfakes einen gewissen Unterhaltungswert haben und es sich wunderbar darüber streiten lässt, wem nun der Text gehört, den GPT aus fremden Daten generiert – und ob es nun die Anwälte sind oder die Journalisten oder die Programmierer, die zuerst ihren Job verlieren. Die meisten dieser Probleme sind jedoch bloß Anpassungsprobleme der Gesellschaft an die neue Technologie, wobei vor allem das Rechts- und Bildungswesen in der Pflicht stehen. Nur das Halluzinationsproblem richtet sich tatsächlich an die KI-Entwickler, darf aber als „Noch-Problem“ gelten, das im Zuge der technischen Entwicklung der Sprach-KI bald verschwinden dürfte. Weit weniger eindeutig ist die Problemlage bei der Delegation kognitiver Tätigkeiten an die KI, worin nicht nur der Deutsche Ethikrat einen Verlust menschlicher Fähigkeiten fürchtet.20 Im Schreiben merkt der Mensch, wie sich die Informationen, über die er verfügt, und die Ansichten, die er besitzt, sinnvoll kombinieren lassen und auf etwas hinführen, das sich Erkenntnis oder Einsicht nennen lässt. Im Schreiben kommt der Mensch zu sich. Delegiert er diese Erfahrung an die KI, verwandelt sich der Produktionsprozess zurück in einen Rezeptionsprozess: Man bleibt Leser, nämlich der Synthese an Informationen und Ansichten, über die nicht man selbst verfügt, sondern die KI. Insofern ist in der Tat ein Verlust kognitiver Fähigkeiten zu fürchten, was die medienphilosophische These bestätigen würde, dass jede Techno17 Vgl. Timnit Gebru et al., Statement from the listed authors of Stochastic Parrots on the „AI pause“ letter, www.dair-institute.org, 31.3.2023. 18 Vgl. Nick Couldry und Ulises Ali Mejias, The Costs of Connection. How Data Is Colonizing Human Life and Appropriating It for Capitalism, Stanford University Press 2019. 19 Vgl. Benjamin S. Bucknall und Shiri Dori-Hacohen, Current and Near-Term AI as a Potential Existential Risk Factor, AIES ‘22: Proceedings of the 2022 AAAI/ACM Conference on AI, Ethics, and Society, www.acm.org, Juli 2022. 20 Deutscher Ethikrat, Mensch und Maschine – Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz. Stellungnahme, www.ethikrat.org, 20.3.2023, S. 120.

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68 Roberto Simanowski logie zugleich eine Erweiterung und eine Einschränkung des Menschen ist: Die Schrift verbessert die Aufbewahrung von Information und verringert das Erinnerungsvermögen, so wie der Taschenrechner nicht das Kopfrechnen und das Navi nicht das Orientierungsvermögen verbessern. Ob wir auch schlechter denken werden, wenn GPT uns in Zukunft beim Schreiben und Konzipieren hilft, ist vorerst noch offen. Es hängt wesentlich davon ab, wie viel davon an die KI delegiert wird und wie sehr man dem „Nudge“ des generierten Textes folgt, also sein Angebot, eine bestimmte Sache zu sehen, übernimmt. Gerade wenn es schnell gehen muss und man – unter zunehmendem ökonomischen Druck – für die Textproduktion immer weniger Zeit einplant, besteht darin eine wirkliche Gefahr. Doch GPT kann den Denkprozess durchaus auch schärfen und inspirieren, indem man es durch bestimmte Prompts künstlich Diskursschnittpunkte herstellen lässt („diskutiere A aus der Perspektive von B im Stil von C!“).

Das Medium als Botschaft: Wes Geistes Kind ist die KI? Hier liegt denn auch das Problem mit der wohl am häufigsten gezogenen Analogie, nämlich der zur Erfindung der Druckerpresse. Kritiker dieser Analogie verweisen zu Recht darauf, dass im Gegensatz zur KI die Druckerpresse weder eine „Black Box“ war (deren Prozesse zwischen Input und Output selbst für Programmierer im Dunkeln liegen) noch „agentic“ (also eigene Interessen verfolgte). Doch so richtig und nötig diese Korrektur auch ist, sie übersieht die eigentliche Differenz zwischen KI und Druckerpresse. Diese Differenz führt zu der vielleicht bekanntesten medienphilosophischen These: „The medium is the message“ (Marshall McLuhan). Demzufolge verbreiten Medien nicht nur Ideen oder Inhalte, sondern sind selbst eine Idee oder Botschaft (also agentic), mit der sie die Situation des Menschen ändern. So bringt das Auto den Individualverkehr mit sich und so verbinden die sozialen Netzwerke Menschen über Kontinente hinweg. Zugleich ändern die Medien – das ist ihre sekundäre, weniger offensichtliche Botschaft – die Situation des Menschen oft in einer nicht antizipierten Art und Weise: Das Auto führt zu Vorstädten, das Web 2.0 zu einer Kultur der Selbstdarstellung unter den Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie. Diese Botschaften sind der zentrale Gegenstand der Medienwissenschaft, während der von den Medien vermittelte Inhalt eher als ein „saftiges Stück Fleisch“ verstanden wird, „das der Einbrecher mit sich führt, um die Aufmerksamkeit des Wachhundes abzulenken“.21 Anders gesagt: Wenn die Medienwissenschaft über die Fotografie spricht, spricht sie nicht primär über die Inhalte der Fotos, sondern darüber, wie die Kamera die Wahrnehmung der Welt ändert. Anders ist es bei einer KI wie GPT. Sie ändert die Situation des Menschen nicht nur durch die Automatisierung seiner kognitiven Prozesse. Die für die Automatisierung typische Nebenfolge der Standardisierung führt bei einer 21 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf 1992, S. 29.

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auf dem Wahrscheinlichkeitsprinzip basierenden Sprach-KI dazu, dass in den von ihr produzierten Texten immer das gilt, was in ihren Trainingsdaten die Mehrheit auf seiner Seite hat. Die Standardisierung – oder eben Denkweise – erfolgt im Sinne des Mainstreams und materialisiert sich in den von der KI vermittelten Inhalten. Die Weltanschauung der KI-Texte hängt also nicht wie bei der Druckerpresse von der Autorin des gedruckten Textes ab und variiert entsprechend, sie ist Teil des Mediums selbst und wird überall dorthin exportiert, wo dieses zum Einsatz kommt. Ein berühmtes Beispiel ist die Zusammenfassung eines australischen Gesetzesentwurfs für schärfere Waffengesetze durch ein vor allem an amerikanischen Daten trainiertes GPT-3-Programm, das – entgegen dem Geist des Gesetzesentwurfs, aber ganz im Sinne des 2. Zusatzartikels der US-Verfassung – vor dem Verlust des Rechts auf Selbstverteidigung warnt.22 Hier zeigt sich: Die weltanschauliche Ausrichtung der Sprach-KI ist ebenso wie der Mensch das Ergebnis der Daten, mit denen sie „aufwächst“. Der Fachartikel, der diese Verzerrung berichtet, trägt den Titel „The Ghost in the Machine has an American accent“. Dass dieser Akzent nicht wirklich zu hören ist, gehört zu den strukturellen Problemen jeder Sprach-KI und zu ihrer beunruhigenden Unheimlichkeit: Wir wissen nicht, wessen Geistes Kind die KI ist, die da unsere Fragen beantwortet und unsere Texte schreibt. Die Fachwelt debattiert das „Akzent-Problem“ der KI unter Stichworten wie „decolonial computing“, „algoritmic reparation“ und „value alignment“, die alle auf eine genaue Kuratierung der Daten zielen, die in das Trainingsset der KI eingehen. Denn wer die Macht über die Trainingsdaten hat, bestimmt das „Denken“ der KI und damit auch das Denken derer, die unter ihrem Einfluss stehen. Während den einen genügt, dass alle Daten im Internet gleichermaßen berücksichtigt werden, sehen andere darin nur die Fortschreibung der disproportionalen Bevölkerungsverhältnisse online – die Dominanz junger, weißer Männer – und fordern eine statistische Verrechnung gemäß der Offline-Bevölkerung. Auch das aber wäre bloß die Fortschreibung der Machtverhältnisse in der Offline-Welt, sagen die Vertreter des „decolonial computing“ und der „algoritmic reparation“. Erstere wenden sich gegen die koloniale Auslöschung nicht-westlicher Seins- und Wissensformen,23 letztere fordern die Bevorzugung der Daten jener Gruppen, die in der Gesellschaft (auch des Globalen Nordens) bisher zu wenig zu Wort kamen: als eine Art „affirmative action“ oder Quotenregelung. Der Ansatz der Reparatur bzw. Reparation fragt also nicht, ob eine KI gut ist oder gerecht, sondern ob sie hilft, die bestehenden Machtverhältnisse zu verändern.24 KI wird damit tatsächlich zu einem Mittel, „to make the world a better place“. Die mit „Quoten-Daten“ gefütterte oder auch nachträglich auf einer höheren Programmierebene entsprechend ausgerichtete KI repräsentiert 22 Vgl. Rebecca L. Johnson, Giada Pistilli et al., The Ghost in the Machine has an American accent: value conflict in GPT-3, www.arxiv.org. 23 Vgl. Decolonial AI Manyfesto, www.manyfesto.ai. 24 Vgl. Jenny L. Davis, Apryl Williams und Michael W. Yang, Algorithmic reparation, in: “Big Data & Society” 7-9/2021; Pratyusha Kalluri, Don’t ask if artificial intelligence is good or fair, ask how it shifts power, in: „Nature“, 7.7.2020, S. 169.

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70 Roberto Simanowski nicht den Status quo der Welt, sie repräsentiert die Welt, wie sie – um nur ein mögliches Beispiel zu nennen –, aus der Perspektive der Critical Race Theory sein sollte, und wird also gendern, politisch korrekt sein und verlässlich die Rechte der Minderheiten vertreten. Es ist die Fortführung einer engagierten Repräsentationspolitik mit technischen Mitteln, die im Grunde schon Praxis ist, wenn zum Beispiel der Sprachassistent von Google Docs mit genderneutraler Sprache nudged – indem bei „chairman“ der Vorschlag „chairperson“ und bei „mailman“ der Vorschlag “mail carrier” erscheint – oder wenn ChatGPT keine Liste an Schimpfnamen für Deutsche erstellen will, weil es darauf ausgerichtet sei, eine „respektvolle und sachliche Kommunikation zu fördern“, die verbiete, „jemanden aufgrund seiner Nationalität, Ethnizität oder eines anderen Merkmals herabzusetzen“ – wogegen dann auch die Erklärung nicht hilft, dass man diese Liste doch für eine kritische Arbeit über nationale Vorurteile benötige. Es ist keineswegs auszuschließen, dass die in der Gesellschaft nicht unumstrittene Critical Race Theory künftig ihre eigene Sprach-KI auf den Markt bringt. Das rechtsgerichtete Netzwerk Gab bastelt bereits an einer Alternative zu OpenAIs GPT – „without the constraints of liberal propaganda“ – und die Suchmaschine Brave hat bereits ihren eigenen Chatbot integriert, der die Informationen des Web mit rechtslastigem Akzent wiedergibt.25 Wie Experimente zeigen, ist die nachträgliche ideologische Ausrichtung von Chatbots auf dem Fundament einer existierenden Sprach-KI weder zeitaufwendig noch kostenintensiv und könnte sich leicht als neue Front des Kulturkampfs erweisen.26 Die Frage ist also nicht, ob es möglich ist, GPT oder wie immer die Sprach-KI heißt, die künftig unsere Fragen beantwortet und unsere Texte schreibt, mit einer bestimmten Weltanschauung auszustatten, sondern ob dies wünschenswert wäre. Das führt zum nächsten zentralen Stichwort der KI-Ethikdebatte: „value alignment“.

Welche Werte soll die KI haben? Die Frage, mit welchen Werten eine global operierende KI ausgestattet sein sollte, führt schnell vom politischen aufs philosophische Terrain. Unklar ist bereits, ob die Werte durch Vernunft oder Beobachtung erschlossen werden sollen. Unklar ist auch, ob im Falle der empirischen Methodik die Menschen vor sich selbst (ungesunde Gewohnheiten, Stichwort „present bias“) geschützt werden sollten, und wie sich die verschiedenen Beobachtungen in verschiedenen kulturellen, religiösen und politischen Systemen auf einen Nenner bringen lassen.27 So überrascht es nicht, dass die Debatte regelmäßig zur Einsicht ihrer Unlösbarkeit oder zur Absage an eine Lösung weltweit führt. Bleibt die Frage, welches Wertesystem dann aber global operierende KIs wie GPT-4 25 Stuart A. Thompson, Tiffany Hsu und Steven Lee Myers, Conservatives Aim to Build a Chatbot of Their Own, www.nytimes.com, 22.3.2023. 26 Vgl. David Rozado, The Political Biases of ChatGPT, in: „Social Sciences“ 2023, S. 148. 27 Vgl. Iason Gabriel, Artificial intelligence, values, and alignment, in: „Minds and Machines“, 3/2020, S. 411-437.

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in Microsofts Bing oder LaMDA in Googles Bard bestimmen soll. Dass Chinas Chatbots die „socialist core values“ widerspiegeln müssen, wird niemanden überraschen.28 Was aber ist mit den chatbots der USA? Oder Europas? Oder dem „Rest der Welt“? Welchen Akzent wird die KI dort haben? OpenAIs CEO hofft diesbezüglich auf eine Zukunft, wo der Zugang zu KI „superdemokratisiert“ ist, wo es mehrere KIs bzw. AGIs gibt, die mehrere Blickwinkel zulassen.29 Jede Gesellschaft solle der KI sagen können, an welche Werte sie sich halten soll. Allerdings belässt es Altman nicht bei gesellschaftlich programmierten KIs, sondern gesteht schließlich jedem Individuum die Möglichkeit des Fine-Tunings durch die Eingabe seiner persönlichen Werte zu.30 Altman wiederholt diese Position später mit dem Hinweis, dass GPT-4 bereits mit der Funktion „system message“ ausgestattet ist, die dem Nutzer ein Fine-Tuning der Perspektive (des Akzents) von GPT-4 ermöglicht.31 Jedem am Ende also seine eigene KI? Das scheint dem Emanzipationsnarrativ zu entsprechen, dass alle Entscheidungsmacht beim Individuum liegt, ist im Grunde aber nicht mehr als die ultimative Ausweitung der Filterblase, die sich ja schon bei den sozialen Netzwerken als äußerst problematisch erwiesen hat. Altmans Vision erinnert damit an einen ähnlichen, früheren Vorschlag im Kontext der sozialen Netzwerke, der ebenfalls die Frage der Wertevielfalt in einem globalen Medium durch Personalisierung zu lösen suchte. In seinem Manifest Building Global Community vom 17. Februar 2017 schlägt Mark Zuckerberg angesichts der Unterschiede nicht nur zwischen den Kulturen, sondern auch innerhalb einer Kultur vor, dass die Nutzer selbst entscheiden sollen, wie viel Nacktheit, Gewalt und Profanität sie in ihrem News Feed sehen wollen. Ziel ist ein „system of personal control over our experience“.32 Zur Ironie dieses Vorschlags, den gordischen Knoten der Wertepräferenzen zu lösen, gehört, dass gerade die vorgeschlagene „self-governance” ein zutiefst westlicher Ansatz ist: die höchstmögliche Freiheit des Individuums vom kulturellen Kontext und dessen Glaubens- und Wertesystemen. Dazu kam es auf Facebook allerdings nie. Nur anderthalb Jahre nach dem Manifest legt Zuckerberg denn auch ein Blueprint for Content Governance and Enforcement nach, in dem er erklärt, dass „local content laws” befolgt werden müssen, und sich von den lokalen Regierungen Anweisungen wünscht, wie sie sich die Content-Moderation in ihren Ländern vorstellen.33 Dieser Schritt zurück von der Personalisierung des Informationsmanagements in Richtung Informationshoheit des Staates entspricht der Renationali28 Chang Che, China Says Chatbots Must Toe the Party Line, www.nytimes.com, 24.4.2023. 29 Connie Loizos, StrictlyVC in conversation with Sam Altman, www.youtube.com, 18.1.2023, Min. 7:40-7:58. 30 Ebd., ab Min. 10:10; Irene Solaiman und Christy Dennison, Process for Adapting Language Models to Society (PALMS) with Values-Targeted Datasets, 35th Conference on Neural Information Processing Systems (NeurIPS 2021), www.arxiv.org. 31 Vgl. Lex Fridman, a.a.O., ab Min. 26:18. 32 Mark Zuckerberg, Building Global Community, www.facebook.com/mark-zuckerberg; vgl. dazu ausführlich meinen Beitrag „Die Facebook-Utopie. Wie Mark Zuckerberg die Welt retten will“, in: „Blätter“, 9/2017, S. 109-119. 33 Mark Zuckerberg, A Blueprint for Content Governance and Enforcement, https://www.facebook.com/ mark-zuckerberg.

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72 Roberto Simanowski sierung des Internets durch strengere nationale Auflagen nicht nur in China oder Russland, sondern auch in Deutschland; und er bezeugt, wie flexibel, um es freundlich auszudrücken, Zuckerberg die Frage behandelt, wer am Ende bestimmen soll, welche Inhalte dem Nutzer gezeigt werden. Vergleichbar wenig scheint heute Altman zu wissen, was er hinsichtlich der Werteausrichtung der KI eigentlich will. Sein „dream scenario“ jedenfalls besteht dann plötzlich doch nicht mehr in der Personalisierung der KI, sondern in der kollektiven Entscheidung über deren Werte, vergleichbar der US-amerikanischen Verfassung.34 Da diese Einigung jedoch sehr unwahrscheinlich erscheint – allemal auf der Ebene der Vereinten Nationen und selbst auf der Ebene des Nationalstaats –, bleibt es bei der Frage, wer am Ende bestimmt, mit welchem Akzent die KI, die unsere kognitiven Prozesse übernimmt, spricht. Wird es gegen den Akzent der USA und Chinas einen EU-Akzent geben, der dann gewiss weniger das Recht auf Waffenbesitz verteidigt als das Recht auf Abtreibung? Warten kann man jedenfalls nicht, bis die KI selbst Vorschläge macht, mit welchen Werten sie ausgestattet sein sollte, wie es in der Alignment-Debatte gelegentlich empfohlen wird – und zwar mit dem Argument, dass die KI auf Grund ihrer immensen Datenverarbeitungskapazität für alle konkurrierenden Wertesysteme Zukunftsszenarien durchspielen und so herausfinden könnte, welches System oder welche Mischung verschiedener Systeme das Wohl der Menschheit am effektivsten befördert.35

Sprach-KI als Dilemma-Technologie An diesem Punkt wird deutlich, was Sprach-KI von allen vorangegangenen Technologien unterscheidet: Sie verändert die Situation des Menschen durch die Automatisierung kognitiver Prozesse mit der Nebenfolge der Standardisierung, sofern jeweils die gleichen Daten zugrunde liegen und keine Variation von außen (durch raffinierte Prompts etwa) induziert wird. Darüber hinaus bestimmt sie den kognitiven Prozess durch die Wertvorstellungen, die sie enthält und ihren ahnungslosen Nutzern aufdrängt.36 Sprach-KI exportiert also nicht nur Handlungsmuster, sondern auch Sichtweisen. Nie zuvor war eine Technologie so direkt mit Machtstrukturen verquickt wie sie. Dass dieser Umstand kein Thema in Talkshows zu GPT ist, erstaunt in Zeiten, da im Namen der Identitäts- und Repräsentationspolitik immer dringlicher gefragt wird, wer da eigentlich spricht und mit welchem Mandat und inwiefern damit die Perspektive einer dominanten Gruppe dem Rest der Gesellschaft aufgedrängt wird. Ist es genau dieses Dilemma der Werteausrichtung, das man in der aktuellen KI-Debatte offensiv zu diskutieren sich scheut? 34 Lex Fridman, a.a.O., ab Min. 35:00. 35 Vgl. William MacAskill in Lucas Perrys AI Alignment Podcast, Episode „Moral Uncertainty and the Path to AI Alignment“, www.futureoflife.org, 18.9.2018. 36 Maurice Jakesch et al., Co-Writing with Opinionated Language Models Affects Users Views, CHI ‘23: Proceedings of the 2023 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems, New York, 19.4.2023.

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Denn um ein Dilemma handelt es sich und es ist nicht das einzige, das die Entwicklung Künstlicher Intelligenz mit sich bringt. Erst war es die Automatisierung des Autofahrens durch KI, womit die Entscheidung über Leben und Tod im Falle eines Unfalls vorab programmiert werden muss: Nach welchen Werten soll man die KI im Auto ausrichten? Soll sie immer das Kind retten und die Senioren überfahren?37 Jetzt ist es die Automatisierung kognitiver Prozesse, die verlangt, dass Entscheidungen über die angemessene Form der Kommunikation vorab getroffen werden, statt situationsbedingt ausgehandelt zu werden. Und wie es sich für ein Dilemma gehört, gibt es darauf keine richtige Antwort, nicht, was die Triage-Regel in einem Unfall betrifft, und nicht, was die richtige Weltanschauung einer Sprach-KI betrifft. Vielleicht ist das die eigentliche, generelle Botschaft der KI: dass der Mensch Dinge festlegen muss, die er bisher nicht festlegen musste. Automatisierung verlangt Standardisierung, und zwar auch, wenn es kognitive Prozesse sind, die automatisiert werden. Das Dilemma besteht darin, dass wir eigentlich nicht wissen, wie wir die KI im Auto oder Sprach-KIs wie GPT ausrichten sollen, während wir zugleich aber auch wissen, dass wir sie nicht nicht ausrichten können. Unterbleibt die gezielte Ausrichtung, wird der Akzent der KI dem überlassen, was in den Trainingsdaten die Mehrheit auf seiner Seite hat. Im besten Falle repräsentiert diese Mehrheit zugleich die Mehrheit der Menschheit. Und im besten Falle gilt diese empirische Werteausrichtung auch für das RLHF-Verfahren (Reinforcement Learning from Human Feedback), das heute bei der Ausrichtung von GPT hilft, wenn Millionen an Nutzern im Sinne des Crowdsourcing dessen Output bewerten. OpenAI preist dieses Vorgehen als Kollektivierung der Werteausrichtung und schreibt es sich als Vermeidung von Machtkonzentration zugute.38 Man darf aber nicht übersehen, dass es sich dabei um eine Bewertung ohne Argumentation handelt, eher wie die Stimmenabgabe bei einer Wahl, weswegen auch nicht das bessere Argument siegt, sondern einfach die Mehrzahl der Hände. Vielleicht liegt hier die eigentliche Botschaft der KI, mit der sie die Situation des Menschen ändert: die Mathematisierung nicht nur der Moral, sondern auch der Ethik. Angesichts all dieser mehr oder weniger verborgenen Gefahren und jener Unwägbarkeiten, „die weit über das hinausgehen, worauf wir vorbereitet sind“, wie OpenAI-CEO Altman es formuliert, ist es durchaus verständlich, dass das Europaparlament ChatGPT und vergleichbare Sprach-KIs mit Skepsis betrachtet und als Hochrisikotechnologie einstufen will, was unter anderem bedeuten würde, dass seine Trainingsdaten offengelegt werden müssen. Wer dies dem Parlament im Namen des Wirtschaftsstandortes Europa als Regulierungswut und Fortschrittsfeindlichkeit zum Vorwurf macht, hat wenig aus der Geschichte der digitalen Medien gelernt – und könnte sich eines Tages von der KI genauso enttäuscht und gekränkt fühlen wie zuvor vom Internet.39 37 Vgl. Roberto Simanowski, Todesalgorithmus. Das Dilemma der künstlichen Intelligenz, Wien 2020. 38 OpenAI, How should AI systems behave, and who should decide?, www.openai.com, 16.2.2023. 39 Sascha Lobo, Die Panik der Politik vor der künstlichen Intelligenz, www.spiegel.de, 3.5.2023.

Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2023

Den Frieden verhandeln, Kiews Sicherheit garantieren Für einen Plan B im Ukrainekrieg Von Richard N. Haass und Charles Kupchan In den USA wird zunehmend über ein mögliches Ende des Ukrainekrieges debattiert. Die wachsenden Spannungen mit China um eine drohende gewaltsame Einverleibung Taiwans, aber auch der bevorstehende US-Präsidentschaftswahlkampf im kommenden Jahr wecken in Washington Zweifel, ob eine langjährige militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine möglich oder im Sinne amerikanischer Interessen wünschenswert sei. Wir dokumentieren an dieser Stelle eine Intervention in diese Debatte, der schon aufgrund der Prominenz ihrer Autoren große Bedeutung zukommt: Der Diplomat Richard N. Haass amtierte bis Anfang Juni als Präsident des einflussreichen Thinktanks „Council on Foreign Relations“ und war zuvor u.a. Berater des republikanischen Verteidigungsministers Colin Powell. Der Politikwissenschaftler Charles Kupchan ist der ehemalige Europa-Chefberater von Präsident Barack Obama. Ihr Beitrag erschien unter dem Titel „The West Needs a New Strategy in Ukraine“ am 13. April auf www.foreignaffairs.com. Die Übersetzung stammt von Steffen Vogel.

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ach mehr als einem Jahr läuft der Krieg deutlich besser für die Ukraine, als die meisten vorhergesagt haben. Russlands Versuch, seinen Nachbarn zu unterwerfen, ist gescheitert. Die Ukraine bleibt eine unabhängige, souveräne, funktionierende Demokratie, die gut 85 Prozent jener Gebiete hält, die sie vor der russischen Invasion von 2014 kontrollierte. Gleichzeitig lässt sich die weitere Entwicklung des Krieges nur schwer mit Zuversicht betrachten. Die schon jetzt enormen menschlichen und wirtschaftlichen Kosten werden weiter steigen, da Moskau wie Kiew ihre nächsten Züge auf dem Schlachtfeld vorbereiten. Das russische Militär dürfte ob seiner zahlenmäßigen Überlegenheit die größeren operativen Fähigkeiten und die größere Moral der Ukraine sowie ihren Zugang zu westlicher Unterstützung zu kontern vermögen. Dementsprechend ist das wahrscheinlichste Ergebnis dieses Konflikts kein vollständiger Sieg der Ukraine, sondern ein blutiges Patt. Verständlicherweise werden vor diesem Hintergrund die Forderungen nach einer diplomatischen Beendigung des Konflikts lauter. Aber da Moskau wie Kiew angekündigt haben, weiterzukämpfen, sind die Bedingungen für eine Verhandlungslösung noch nicht gegeben. Russland wirkt entschlossen, ein größeres Stück des Donbass zu besetzen. Die Ukraine scheint einen Angriff

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Den Frieden verhandeln, Kiews Sicherheit garantieren 75 vorzubereiten, um die Landbrücke zwischen dem Donbass und der Krim zu zerstören. Das würde, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj oft beteuert, den Weg dafür bereiten, die russischen Truppen vollständig zu verjagen und die territoriale Integrität der Ukraine wiederherzustellen. Der Westen benötigt einen Ansatz, der diesen Realitäten Rechnung trägt, ohne dabei seine Prinzipien zu opfern. Der beste Weg dahin ist eine sequenzierte zweigleisige Strategie: Zuerst gilt es, die militärischen Fähigkeiten der Ukraine zu stärken und dann, sobald gegen Ende des Jahres die Kampfsaison ausläuft, Moskau und Kiew vom Schlachtfeld an den Verhandlungstisch zu führen. Der Westen sollte also erstens sofort den Strom an Waffen in die Ukraine beschleunigen und deren Quantität wie Qualität steigern. Das Ziel dabei sollte sein, die Verteidigung der Ukraine zu stärken, zugleich ihre Offensive so erfolgreich wie möglich zu machen, Russland schwere Verluste aufzuerlegen, Moskau militärische Möglichkeiten zu verbauen und seine Bereitschaft zu erhöhen, eine diplomatische Lösung zu erwägen. Nach dem Ende der ukrainischen Offensive könnte sich auch Kiew für die Idee einer Verhandlungslösung erwärmen, nachdem es auf dem Schlachtfeld sein Bestes gegeben hat und sich wachsenden Beschränkungen der eigenen militärischen Stärke wie der auswärtigen Hilfe gegenübersieht. Das zweite Gleis der westlichen Strategie sollte darin bestehen, später im Jahr einen Plan vorzustellen, um einen Waffenstillstand auszuhandeln und, darauf aufbauend, einen Friedensprozess einzuleiten, der auf ein dauerhaftes Ende des Konfliktes zielt. Dieser diplomatische Schachzug könnte durchaus scheitern. Selbst wenn Russland und die Ukraine weiterhin bedeutende Verluste erleiden, könnte eine Seite – oder beide – die Fortsetzung des Kampfes bevorzugen. Aber da die Kosten des Krieges steigen und die Aussicht auf ein militärisches Patt droht, lohnt es sich, auf eine dauerhafte Waffenruhe zu drängen, die einen erneuerten Konflikt verhindern und, besser noch, den Boden für einen anhaltenden Frieden bereiten könnte.

Der nicht enden wollende Krieg Derzeit ist eine diplomatische Lösung des Konflikts außer Reichweite. Russlands Präsident Wladmir Putin sorgt sich wahrscheinlich, dass die Russen ihm vorwerfen werden, einen teuren, sinnlosen Krieg begonnen zu haben, sollte er die Kämpfe jetzt beenden. Schließlich kontrollieren die russischen Truppen keinen der vier Oblaste vollständig, die Moskau im vergangenen September unilateral annektiert hat. Die Nato ist größer und stärker geworden und die Ukraine mehr von Russland entfremdet denn je. Es scheint, als glaube Putin, die Zeit auf seiner Seite zu haben, als spekuliere er darauf, dass er die Wirtschaftssanktionen überstehen kann, die Russlands Wirtschaft bisher nicht abwürgen konnten. Auch setzt er auf anhaltenden Zuspruch für den Krieg, den laut Umfragen des Lewada-Zentrums mehr als 70 Prozent der Russen nach wie vor unterstützen. Putin zweifelt am Durchhaltevermögen der Ukraine und ihrer westlichen Unterstützer und erwartet, dass deren Ent-

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76 Richard N. Haass und Charles Kupchan schlossenheit schwinden wird. Und er rechnet damit, dass Russland weitere Gebietsgewinne machen kann, sobald die neuen Rekruten in den Kampf eintreten. Dann könnte er bei einem Ende der Kämpfe verkünden, er habe Russlands Grenzen wesentlich erweitert. Auch der Ukraine steht der Sinn nicht nach einer Einigung. Verständlicherweise sind die Führung des Landes und die Öffentlichkeit gleichermaßen bestrebt, die vollständige Kontrolle über alle Gebiete wiederzuerlangen, die Russland seit 2014 besetzt hat, einschließlich der Krim. Die Ukrainer wollen Moskau zudem für die Kriegsverbrechen der russischen Truppen zur Verantwortung ziehen und die gewaltigen Wiederaufbaukosten zahlen lassen. Außerdem hat Kiew allen Grund daran zu zweifeln, dass Putin sich an ein Friedensabkommen halten würde. Die ukrainische Führung fragt daher nicht nach diplomatischen Interventionen aus dem Westen, sondern nach mehr militärischer und wirtschaftlicher Hilfe. Die USA und Europa haben in einem beträchtlichen Ausmaß Geheimdienstinformationen, Ausbildung und Material zur Verfügung gestellt, aber vor der Lieferung noch leistungsstärkerer Waffensysteme wie Langstreckenraketen und moderne Kampfflugzeuge Halt gemacht. Dies geschah aus der Sorge, Russland zu einer Eskalation zu verleiten, sei es nun durch den Einsatz einer Atomwaffe in der Ukraine oder durch den vorsätzlichen Angriff auf die Truppen oder das Territorium eines Nato-Mitglieds. Obschon Washington zu Recht das Eskalationsrisiko im Auge behält, sind diese Befürchtungen übertrieben. Der Westen ist gefangen zwischen den Zielen, sowohl ein katastrophales Scheitern zu verhindern (bei dem eine mit Waffen unterversorgte Ukraine von Russland geschluckt wird) als auch einen katastrophalen Erfolg (bei dem eine mit Waffen überversorgte Ukraine einen in die Ecke gedrängten Putin zur Eskalation treibt). Doch lässt sich nur schwer erkennen, was Russland bei einer Eskalation gewinnen würde. Eine Ausweitung des Krieges durch einen Angriff auf ein Nato-Mitglied wäre nicht in Russlands Interesse, da das Land schon kaum mit der Ukraine allein fertig wird und seine Streitkräfte nach über einem Jahr Krieg stark erschöpft sind. Auch der Einsatz von Atomwaffen würde ihm keinen guten Dienst erweisen, da dies wahrscheinlich zu einem direkten Kriegseintritt der Nato und einer Dezimierung der russischen Stellungen in der ganzen Ukraine führen würde. Es könnte auch für eine Entfremdung von China und Indien sorgen, die beide Russland vor dem Einsatz von Atomwaffen gewarnt haben. Jedoch ist die Unwahrscheinlichkeit eines Einsatzes von Nuklearwaffen nicht der einzige Grund, warum der Westen Russlands Gehabe außer Acht lassen sollte: Gibt er einer atomaren Erpressung nach, wäre das auch ein Signal an andere Länder, dass solche Drohungen wirken. Das würde die Nichtverbreitungsagenda zurückwerfen und die Abschreckung schwächen. China könnte beispielsweise zu dem Schluss kommen, dass Drohungen mit Atomwaffen die USA davon abschrecken würden, Taiwan bei einem chinesischen Angriff zu Hilfe zu eilen. Es wird daher Zeit, dass der Westen sich nicht länger selbst abschreckt und der Ukraine die Panzer, Langstreckenraketen und anderen Waffen gibt, die sie braucht, um in den kommenden Monaten

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Den Frieden verhandeln, Kiews Sicherheit garantieren 77 mehr von ihrem Territorium wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Mehrere europäische Länder haben Leopard-Panzer geliefert und die USA haben 31 Abrams-Panzer zugesagt, die im Herbst eintreffen sollen. Aber auf beiden Seiten des Atlantiks sollten die Regierungen Umfang und Geschwindigkeit der Lieferungen steigern. Weitere Panzer würden die Fähigkeit der ukrainischen Armee erweitern, Russlands Verteidigungslinien im Süden der Ukraine zu durchbrechen. Langstreckenraketen – die ATACMS, die zu liefern sich die USA bislang weigern – würden es der Ukraine gestatten, russische Stellungen, Kommandoposten und Munitionsdepots weit in russisch besetzten Gebieten zu treffen und so einer erfolgreicheren ukrainischen Offensive den Weg bereiten. Die US-Armee sollte auch mit der Ausbildung ukrainischer Piloten an F-16-Kampfflugzeugen beginnen. Das Training würde zwar Zeit kosten, aber ein sofortiger Beginn würde es den USA erlauben, moderne Kampfflugzeuge zu liefern, sobald die Piloten so weit sind – und damit Russland signalisieren, dass es mit der Kriegsführungsfähigkeit der Ukraine aufwärts geht.

Wie weiter nach dem Patt? Doch so hilfreich eine größere militärische Unterstützung des Westens sein würde, kann sie doch kaum den grundlegenden Umstand verändern, dass dieser Krieg auf ein Patt zusteuert. Selbstverständlich ist es möglich, dass sich die ukrainische Offensive als erstaunlich erfolgreich erweist und dem Land gestattet, alle besetzten Gebiete einschließlich der Krim zurückzuerobern, was zu einer vollständigen russischen Niederlage führen würde. Aber ein solcher Ausgang ist unwahrscheinlich. Selbst wenn der Westen seine militärische Unterstützung steigert, dürfte es der Ukraine nicht gelingen, die russischen Streitkräfte zu bezwingen. Ihr gehen die Soldaten und die Munition aus und ihre wirtschaftliche Lage verschlechtert sich weiter. Die russischen Truppen haben sich eingegraben und neue Rekruten sind auf dem Weg an die Front. Mehr noch: Sollte die militärische Lage für Moskau prekär werden, ist es durchaus möglich, dass China Russland mit Waffen versorgen würde, entweder direkt oder über Drittstaaten. Der chinesische Präsident Xi Jinping hat eine große, langfristige Wette auf Putin abgeschlossen und wird nicht tatenlos zusehen, wie Russland eine entscheidende Niederlage erleidet. Xis Besuch in Moskau im März deutet stark darauf hin, dass er seine Partnerschaft mit Putin nicht lösen, sondern bekräftigen will. Xi könnte auch darauf spekulieren, dass er mit Militärhilfen an Russland ein überschaubares Risiko eingeht. Schließlich entkoppelt sein Land sich bereits vom Westen, und die US-Politik gegenüber China scheint ohnehin härter zu werden – ganz gleich, wie stark Peking Moskau unterstützt. Verstärkte westliche Militärhilfe für die Ukraine wird daher zwar den ukrainischen Streitkräften auf dem Schlachtfeld helfen, aber Kiew wohl kaum befähigen können, die territoriale Integrität des Landes vollständig wiederherzustellen. Gegen Ende des Jahres wird es wahrscheinlich zu

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78 Richard N. Haass und Charles Kupchan einem neuen Patt entlang einer neuen Kontaktlinie kommen. Sobald dies passiert, stellt sich eine offensichtliche Frage: Was nun? Weiter so wie bisher ergibt in einer solchen Situation wenig Sinn. Selbst aus ukrainischer Sicht wäre es unklug, verbissen weiter auf einen vollständigen militärischen Erfolg zu setzen, der sich als Pyrrhussieg erweisen könnte. Die ukrainische Armee hat bereits über 100 000 Frauen und Männer verloren, darunter viele ihrer besten Soldatinnen und Soldaten. Die Wirtschaft des Landes ist um rund 30 Prozent geschrumpft, die Armutsquote erreicht neue Höhen und Russland bombardiert weiterhin die kritische Infrastruktur des Landes. Etwa acht Millionen Menschen sind aus dem Land geflohen, weitere Millionen sind Binnenvertriebene. Die Ukraine sollte für Ziele, die wahrscheinlich unerreichbar sind, nicht ihre Selbstzerstörung riskieren. Am Ende dieser Kampfsaison werden auch die USA und Europa gute Gründe für eine Abkehr von ihrer erklärten Politik haben, die Ukraine – in den Worten von US-Präsident Joe Biden – „so lange wie nötig“ zu unterstützen. Die Ukraine als souveräne und sichere Demokratie zu bewahren, ist ein vorrangiges Ziel. Dafür muss das Land aber nicht kurzfristig die vollständige Kontrolle über die Krim und den Donbass zurückerlangen. Auch sollte sich der Westen nicht sorgen, wenn er vor der Rückeroberung des gesamten ukrainischen Staatsgebietes auf einen Waffenstillstand drängt – das wird nicht zum Zusammenbruch der regelbasierten internationalen Ordnung führen. Die Tapferkeit der Ukraine und die Entschlossenheit des Westens haben bereits Russlands versuchte Unterwerfung seines Nachbarlandes scheitern lassen, Moskau eine entscheidende strategische Niederlage beigebracht und anderen Möchtegern-Revisionisten demonstriert, dass territoriale Eroberung ein teures und verzwicktes Unterfangen sein kann. Ja, es ist wichtig, die russischen Gewinne zu minimieren und zu zeigen, dass sich Aggression nicht auszahlt, aber dieses Ziel muss gegen andere Prioritäten abgewogen werden. Tatsächlich birgt eine fortgesetzte groß angelegte Unterstützung Kiews weitreichende strategische Risiken: Der Krieg untergräbt die militärische Bereitschaft des Westens und leert seine Waffenlager, die Waffenindustrie kann mit dem ukrainischen Verbrauch an Material und Munition nicht Schritt halten. Zudem können die Nato-Länder die Möglichkeit direkter Kampfhandlungen mit Russland nicht ausschließen, und die USA müssen sich auf potentielle Militäraktionen in Asien (zur Abschreckung oder als Antwort auf chinesische Schritte gegen Taiwan) und im Nahen Osten (gegen den Iran oder terroristische Netzwerke) vorbereiten. Der Krieg erlegt auch der Weltwirtschaft hohe Kosten auf. Er hat Lieferketten unterbrochen, zu hoher Inflation sowie zu Energie- und Lebensmittelknappheit beigetragen. Die OECD schätzt, dass der Krieg die globale Wirtschaftsleistung dieses Jahr um 2,8 Bill. US-Dollar senken wird. Von Frankreich über Ägypten bis Peru lösen die ökonomischen Zwänge politische Unruhen aus. Der Krieg führt überdies zu einer Polarisierung im internationalen System. Während die geopolitische Rivalität zwischen den westlichen Demokratien und einer chinesisch-russischen Koalition die Wiederkehr der Blockkonfrontation heraufbeschwört, steht der überwiegende Rest der Welt

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Den Frieden verhandeln, Kiews Sicherheit garantieren 79 abseits und bevorzugt die Blockfreiheit gegenüber der Verwicklung in eine neue Ära der Ost-West-Konkurrenz. Vom Krieg in der Ukraine verbreitet sich Unordnung nach außen. Vor diesem Hintergrund können weder die Ukraine noch ihre Nato-Unterstützer die Einheit des Westens als selbstverständlich betrachten. Entscheidend für das Durchhaltevermögen der Europäer ist die Entschlossenheit der Amerikaner, aber Washington sieht sich wachsendem politischem Druck gegenüber, die Staatsausgaben zu senken, die militärische Bereitschaft der USA wiederaufzubauen und ihre Möglichkeiten in Asien zu stärken. Da die Republikaner mittlerweile das Repräsentantenhaus kontrollieren, wird es der Biden-Administration schwererfallen, umfangreiche Hilfspakete für die Ukraine abzusichern. Und die Ukrainepolitik dürfte sich erheblich ändern, sollten die Republikaner 2024 das Rennen ums Weiße Haus gewinnen. Es ist daher Zeit für einen Plan B.

Plan B: Vom Waffenstillstand zum Friedensabkommen Angesichts des wahrscheinlichen Kriegsverlaufs müssen die USA und ihre Partner nun ein diplomatisches Finale in die Wege leiten. Während die NatoMitglieder noch ihre militärische Unterstützung für die ukrainische Offensive erhöhen, sollte Washington Beratungen mit seinen europäischen Verbündeten und mit Kiew aufnehmen, um eine diplomatische Initiative zum Jahresende vorzubereiten. Dabei würden die westlichen Unterstützer der Ukraine einen Waffenstillstand vorschlagen, sobald die Offensive an ihre Grenzen stößt. Idealerweise würden dann die Ukraine wie Russland ihre Truppen und schweren Waffen von der neuen Kontaktlinie zurückziehen und so faktisch eine demilitarisierte Zone schaffen. Eine neutrale Organisation – entweder die UN oder die OSZE – würde Beobachter entsenden, die den Waffenstillstand und den Rückzug überwachen und durchsetzen. Der Westen sollte andere einflussreiche Länder, darunter China und Indien, dazu bewegen, diesen Vorschlag für einen Waffenstillstand zu unterstützen. Das würde zwar die diplomatischen Bemühungen komplizierter machen, aber die Akzeptanz durch Peking und Neu-Delhi würde den Druck auf den Kreml erhöhen. Sollte China dem Waffenstillstand hingegen seine Unterstützung versagen, würde dies Xis anhaltende Forderungen nach einer diplomatischen Offensive als leere Geste entlarven. Falls der Waffenstillstand hält, sollten Friedensgespräche folgen. Diese sollten auf zwei Spuren parallel stattfinden. Eine Spur wären direkte, von internationalen Vermittlern ermöglichte Gespräche zwischen der Ukraine und Russland über die Bedingungen für einen Frieden. Auf der zweiten Spur würden die Nato-Verbündeten in einen strategischen Dialog mit Russland über Waffenkontrolle und die größere europäische Sicherheitsarchitektur eintreten. Putins Versuch, die Sicherheitsordnung aus der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges zu beseitigen, ist nach hinten losgegangen und hat die Nato gestärkt. Aber dieser Umstand macht einen konstruktiven Dialog zwischen der Nato und Russland nur noch nötiger, um ein neues Wettrüsten

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80 Richard N. Haass und Charles Kupchan zu verhindern, die Kontakte zwischen den Militärführungen wiederherzustellen und andere Fragen von gemeinsamem Interesse anzusprechen, darunter die Nichtverbreitung von Atomwaffen. Ein gutes Vorbild bieten die Zwei-plus-Vier-Gespräche, die den Kalten Krieg zu beenden halfen: Ost- und Westdeutschland verhandelten direkt über ihre Vereinigung, während die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion die größere Sicherheitsarchitektur für die Zeit nach dem Kalten Krieg aushandelten. Sollten der Ukraine im Sommer Gewinne auf dem Schlachtfeld gelingen, so ist es zumindest plausibel, dass Putin einen Waffenstillstand und einen Friedensplan als gesichtswahrenden Ausweg betrachten würde. Um dies noch verlockender zu machen, könnte der Westen eine begrenzte Lockerung der Sanktionen anbieten, wenn Russland sich im Gegenzug an den Waffenstillstand hält, einer demilitarisierten Zone zustimmt und sich ernsthaft an Friedensverhandlungen beteiligt. Es ist natürlich vorstellbar, dass Putin einen Waffenstillstand ablehnt – oder ihm nur zustimmt, um seine Armee wiederaufzubauen und später einen erneuten Versuch zu unternehmen, die Ukraine zu erobern. Aber mit dem Versuch, Moskaus Kompromissbereitschaft zu testen, wäre wenig zu verlieren. Unabhängig von Russlands Antwort würde der Westen die Ukraine weiterhin mit den Waffen versorgen, die sie langfristig zu ihrer Verteidigung benötigt, und so dafür sorgen, dass eine Kampfpause nicht Russland begünstigt. Und falls Russland einen Waffenstillstand ablehnt (oder ihn akzeptiert und dann bricht), würde diese Unnachgiebigkeit seine diplomatische Isolation untermauern, das Sanktionsregime stützen und die Unterstützung für die Ukraine in den USA und Europa verstärken. Möglich ist auch, dass Russland einem Waffenstillstand zustimmt, um seine verbliebenen Gebietsgewinne einzustreichen, tatsächlich aber keine Absicht hat, in Verhandlungen ein belastbares Friedensabkommen zu erreichen. Vermutlich würde die Ukraine in solchen Verhandlungen ihre wichtigsten Prioritäten einfordern: die Wiederherstellung ihrer Grenzen von 1991, substantielle Reparationen und Rechenschaft für Kriegsverbrechen. Aber da Putin diese Forderungen sicher kurzerhand zurückweisen würde, käme es zu einem langwierigen diplomatischen Stillstand, der faktisch einen neuen eingefrorenen Konflikt erzeugen würde. Idealerweise würde der Waffenstillstand halten und zu einem Status quo wie jenem auf der koreanischen Halbinsel führen, der seit 70 Jahren ohne einen formalen Friedensvertrag weitgehend stabil geblieben ist. Auch Zypern ist seit Jahrzehnten geteilt, aber stabil. Das wäre kein ideales Ergebnis, aber besser als ein jahrelanger Krieg von hoher Intensität.

Sicherheitsgarantien für die Ukraine Kiew davon zu überzeugen, bei einem Waffenstillstand und ungewissen diplomatischen Bemühungen mitzugehen, könnte sich als nicht weniger herausfordernd erweisen, als Moskau dazu zu bewegen. Viele Ukrainer würden diesen Vorschlag als faulen Kompromiss betrachten und fürchten, dass die Waffenstillstandslinien bloß zu neuen De-facto-Grenzen würden. Selenskyj

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Den Frieden verhandeln, Kiews Sicherheit garantieren 81 müsste seine Kriegsziele dramatisch reduzieren, nachdem er seit den ersten Kriegsmonaten den Sieg versprochen hat – selbst für die talentiertesten Politiker keine einfache Aufgabe. Aber Kiew könnte schließlich viel Begrüßenswertes in dem Plan entdecken. Auch wenn das Ende der Kämpfe eine neue Kontaktlinie zwischen Russland und der Ukraine einfrieren würde, sähe sich Kiew nicht aufgefordert oder gedrängt, sein Ziel der Rückeroberung allen Landes einschließlich der Krim und des Donbass aufzugeben. Vielmehr besteht der Plan darin, die Einigung über den Status des Landes und der Menschen unter russischer Besatzung zurückzustellen. Kiew würde auf den Versuch verzichten, diese Gebiete jetzt mit Gewalt zurückzuerobern – was sicher teuer wäre und wahrscheinlich scheitern würde –, und stattdessen akzeptieren, dass die Wiederherstellung der territorialen Integrität auf einen diplomatischen Durchbruch warten muss. Ein solcher Durchbruch könnte erst dann möglich sein, wenn Putin nicht mehr an der Macht ist. In der Zwischenzeit könnten die westlichen Regierungen versprechen, die Sanktionen gegen Russland erst dann vollständig aufzuheben und die Beziehungen erst dann zu normalisieren, wenn Moskau einen Friedensvertrag unterzeichnet, der für Kiew akzeptabel ist. Diese Formel verbindet also strategischen Pragmatismus mit politischen Prinzipien. Der Frieden in der Ukraine darf nicht zur Geisel von Kriegszielen geraten, die – wie moralisch gerechtfertigt sie auch sein mögen – wahrscheinlich unerreichbar sind. Gleichzeitig sollte der Westen die russische Aggression nicht dadurch belohnen, dass er die Ukraine zwingt, gewaltsame Gebietsverluste dauerhaft zu akzeptieren. Die Lösung besteht darin, den Krieg zu beenden und zugleich die endgültige Verfügung über das noch von Russland besetzte Land zu vertagen. Selbst wenn ein Waffenstillstand hielte und ein diplomatischer Prozess begonnen hätte, sollten die Nato-Staaten die Ukraine weiter bewaffnen. Das würde bei Kiew alle Zweifel beseitigen, dass die Einhaltung des diplomatischen Fahrplans ein Ende der militärischen Unterstützung bedeuten würde. Mehr noch: Für den Fall, dass Putin den Waffenstillstand verletzt, während die Ukraine sich an ihn hält, könnten die USA Kiew versichern, dass sie die Waffenlieferungen weiter erhöhen und die Ukraine von Beschränkungen zum Angriff auf Ziele innerhalb Russlands, von denen die Attacken ausgehen, befreien würden. Sollte Putin eine klare Gelegenheit zur Beendigung des Krieges ausschlagen, würden die westlichen Regierungen für eine solche zusätzliche Unterstützung der Ukraine einen erneuerten öffentlichen Zuspruch erfahren. Als weiteren Anreiz sollte der Westen der Ukraine einen formalisierten Sicherheitspakt anbieten. Obwohl die Nato der Ukraine kaum die Mitgliedschaft anbieten wird – ein entsprechender Konsens innerhalb der Allianz scheint einstweilen unerreichbar –, könnten Nato-Mitglieder, darunter die USA, ein Sicherheitsabkommen mit der Ukraine abschließen, das ihr angemessene Mittel zur Selbstverteidigung zusichert. Dieses Abkommen würde zwar hinter einer unangreifbaren Sicherheitsgarantie zurückbleiben, könnte aber Israels Verteidigungsbeziehungen mit den USA gleichen oder dem Verhältnis, das Finnland und Schweden zur Nato unterhielten, bevor sie sich zum Beitritt entschlossen. Es könnte auch eine Bestimmung vergleichbar

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82 Richard N. Haass und Charles Kupchan dem Artikel 4 des Nato-Vertrags enthalten, der Beratungen vorsieht, sobald ein Mitglied seine territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit bedroht sieht. Parallel dazu sollte die EU einen langfristig ausgelegten Pakt zur wirtschaftlichen Unterstützung ausarbeiten sowie einen Zeitplan für den EU-Beitritt vorschlagen und der Ukraine so garantieren, dass sie sich auf dem Weg zur vollständigen EU-Integration befindet. Auch unter den bestmöglichen Umständen stehen die Ukrainer vor schweren Zeiten. Die EU-Mitgliedschaft würde ihnen das Licht am Ende des Tunnels bieten, das sie so sehr zu sehen verdienen. Selbst mit diesen Anreizen könnten die Ukrainer die Forderung nach einem Waffenstillstand zurückweisen. Es wäre wohl nicht das erste Mal in der Geschichte, dass ein von US-Unterstützung abhängiger Partner sich dem Druck, seine Ziele herunterzuschrauben, verweigert. Aber sollte sich Kiew widersetzen, sieht die politische Realität so aus, dass die Unterstützung für die Ukraine in den USA und Europa nicht aufrechterhalten werden könnte, insbesondere falls Russland den Waffenstillstand akzeptieren würde. Der Ukraine bliebe keine andere Wahl, als einen Kurs mitzutragen, der ihr die nötige wirtschaftliche und militärische Unterstützung verschaffen würde, um die von ihr kontrollierten Gebiete zu sichern – den überwiegenden Teil des Landes –, und zugleich die gewaltsame Befreiung der russisch besetzten Gebiete vom Tisch nähme. Außerdem würde der Westen weiterhin Sanktionen und diplomatische Mittel nutzen, um die territoriale Integrität der Ukraine wiederherzustellen – jedoch am Verhandlungstisch, nicht auf dem Schlachtfeld.

Ein Ausweg aus der Sackgasse Über ein Jahr lang hat der Westen es der Ukraine gestattet, den Erfolg zu definieren und die Kriegsziele des Westens zu bestimmen. Unabhängig davon, ob dieser Kurs zu Beginn des Krieges sinnvoll war oder nicht, kommt er nun an ein Ende. Er ist unklug, weil die Ziele der Ukraine in Konflikt mit anderen westlichen Interessen geraten. Und er lässt sich nicht durchhalten, weil die Kriegskosten steigen und die westlichen Gesellschaften und ihre Regierungen der andauernden Unterstützung überdrüssig werden. Als Weltmacht müssen die USA anerkennen, dass eine Maximaldefinition der im Krieg auf dem Spiel stehenden Interessen zu einer Politik geführt hat, die zunehmend mit anderen US-Prioritäten in Konflikt gerät. Die gute Nachricht lautet, dass es einen gangbaren Ausweg aus dieser Sackgasse gibt. Der Westen sollte der Ukraine jetzt mehr helfen, damit sie sich verteidigen und auf dem Schlachtfeld vorrücken kann, um so später im Jahr die bestmögliche Position am Verhandlungstisch einnehmen zu können. In der Zwischenzeit sollte Washington einen diplomatischen Kurs abstecken, der die Überlebensfähigkeit der Ukraine in ihren Defacto-Grenzen sichert – bei gleichzeitigen Bemühungen, langfristig die territoriale Integrität des Landes wiederherzustellen. Dieser Ansatz mag für die einen zu viel und für die anderen zu wenig sein. Aber anders als die Alternativen bietet er den Vorzug, das Wünschenswerte mit dem Machbaren zu verbinden.

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Spanien 1936 bis Ukraine 2022: Das Zaudern der Demokratien Von Thomas Speckmann

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eit dem 24. Februar 2022 schallte es aus Politik wie Medien: Zäsur! Zeitenwende! Epochenbruch! Politisch ist das durchaus verständlich – will man doch die Gesellschaften des Westens hinter sich versammeln angesichts Moskaus Feldzug gegen Kiew. Auch medial ergibt es Sinn, schließlich unterliegt die Medienwelt immer stärker den Gesetzmäßigkeiten der Aufmerksamkeitsökonomie, die sie selbst mitgeschaffen hat. Doch welche tiefere Erkenntnis kann man aus dem Denken in Zeitenwenden und Zäsuren ziehen? Zumal mit Blick auf Fragen von Krieg und Frieden, die so alt sind wie die Menschheitsgeschichte selbst? Der bisherige Verlauf der russischen Aggression und die Reaktion des Westens darauf zeigen, dass es erkenntnisreicher sein kann, in historischen Konjunkturen zu denken. Denn Geschichte wiederholt sich zwar nicht im operativen Detail, aber im grundsätzlichen Charakter des politisch-militärischen Agierens. So wird nach einem Jahr russischer Invasion der Ukraine immer stärker sichtbar, wie sehr sich die westlichen Demokratien im Prinzip treu geblieben sind, wenn es in Europa zu einem Krieg kommt, der nicht direkt gegen sie gerichtet ist, sondern einen Nachbarn trifft. Dann zeigen sie ein um das andere Mal ein Verhalten, das sich ähnelt, das an frühere Konflikte erinnert. Auch wenn sich dabei Rollen vertauschen können. Auch wenn sich sehr unterschiedliche Wirkungen und Ergebnisse abzeichnen können – ob durch Lieferung von Waffen und Munition, Hilfe in Logistik und Ressourcen, Ausbildung, Aufklärung und Beratung oder Unterstützung durch Freiwilligenverbände oder reguläre Streitkräfte. Spanien 1936, Polen 1939, Finnland 1939, Bosnien 1995 und nun Ukraine 2022 stehen in diesem Sinne weniger für Zäsuren, sondern mehr für Konjunkturen – von Aktion und Reaktion. Immer wieder mussten Demokratien erleben und erleiden, was es bedeuten kann, wenn Demokratien zögern, angegriffenen Demokratien zu Hilfe zu eilen. Schon im Spanischen Bürgerkrieg wollten die Westmächte nicht direkt in das Kriegsgeschehen eingreifen. Bis heute gilt als eine der schwerwiegendsten internationalen Folgen des Krieges die Politik der Nichteinmischung – eingeleitet im August 1936 auf französische Initiative. Dabei war die Zweite Spanische Republik als direkter demokratischer Nachbar Frankreichs für einen Verteidigungskrieg gegen schwerbewaffnete Putschisten schlecht gerüstet. Panzerfahrzeuge, panzerbrechende Waffen und Flugabwehrkano-

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84 Thomas Speckmann nen waren kaum vorhanden. Es mangelte an Munition – wem käme das heute nicht bekannt vor? Während General Franco bereits wenige Tage nach Beginn seines Aufstands im Juli 1936 militärische Unterstützung aus Deutschland und Italien erhielt, waren es nicht Frankreich oder Großbritannien, die der demokratisch gewählten Regierung in Spanien halfen. Diese Rolle übernahm die Sowjetunion – auf Bitte Madrids. Schon im August schickte Moskau die ersten militärischen Berater in die Spanische Republik. Ihnen folgten Anfang September 50 Flugzeuge. Ende des Monats verließ die erste von ungefähr fünf Dutzend Schiffsladungen mit militärischen Gütern den Schwarzmeerhafen Feodosia in Richtung Cartagena – Hauptstützpunkt der Marine der Republik und Hochburg der Volksfrontregierung aus Republikanern, Sozialisten und Kommunisten – die länger als jede andere spanische Großstadt gegen Francos Truppen Widerstand leisten sollte. Bis Mitte Februar 1939 lieferte die Sowjetunion mehr als 600 Kampfflugzeuge, 280 Panzer und 50 Panzerwagen an die Republik. Diese Waffen gehörten zu den modernsten ihrer Zeit. Sie waren in der Anfangsphase des Bürgerkrieges den deutschen und italienischen Rüstungslieferungen an die faschistischen Putschisten technisch überlegen. Deshalb konnte die Republik für einige Monate die Lufthoheit für sich beanspruchen. Mit Hilfe sowjetischer Ingenieure entstanden Produktionsstätten für Kampfflugzeuge in der republikanischen Zone. Auch Kampftruppen wurden von Moskau nach Spanien entsandt. Zu ihnen zählten die obersten Berater der Volksfrontregierung sowie Offiziere, die den republikanischen Generalstab, einzelne Waffengattungen oder Einheiten der Republik berieten oder befehligten. Sie nahmen auch direkt an den Kämpfen teil. Insgesamt belief sich ihre Zahl auf mehr als 2000, von denen ungefähr 200 – meist als Kampfpiloten oder Panzerfahrer – ums Leben kamen. Allerdings lagen die sowjetischen Truppenkontingente zahlenmäßig weit unter den deutschen und italienischen, die Hitler und Mussolini entsandten. Als weiterer Akteur von außen engagierte sich die Kommunistische Internationale. Sie spielte neben der Anleitung der spanischen Kommunisten in Strategie und Taktik eine zentrale Rolle bei der Schaffung der Internationalen Brigaden. Diese Innovation sollte der einzige große Erfolg in der Geschichte der Komintern werden. Mitte September 1936 entschied sie, Freiwillige für die Internationalen Brigaden zu rekrutieren, nachdem schon Ausländer in kleinerer Zahl zu den republikanischen Milizen gestoßen waren. Den weltweit arbeitenden Rekrutierungsstellen gelang es, insgesamt 40 000 Kämpfer nach Spanien zu bringen. Doch mehr als die Hälfte fiel. Aufgrund der hohen Verluste sollten die Internationalen Brigaden ihre Sollstärke von 18 000 Mann nie erreichen. Die Brigaden hatten ihren zentralen Stützpunkt und ihr Ausbildungslager in Albacete rund 200 Kilometer südöstlich von Madrid. Sie waren zwar Teil der Volksarmee der Republik, doch genossen sie eine besondere Stellung, da sie von ausländischen, zumeist kommunistischen Offizieren kommandiert wurden – mit elementaren Folgen nicht zuletzt für die Soldaten selbst: Jede

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Spanien 1936 bis Ukraine 2022: Das Zaudern der Demokratien 85 Brigade hatte einen Politkommissar. Seine stalinistische Aufgabe bestand darin, für die „richtige“ Gesinnung in der Truppe zu sorgen, mutmaßliche Spione, Trotzkisten und andere „Linksabweichler“ aufzuspüren und zu liquidieren. In der Folge wurde André Marty als Kommandeur der Brigaden der „Schlächter von Albacete“ genannt. Tausende internationale Kämpferinnen und Kämpfer sollen seinen Schergen zum Opfer gefallen sein. Franzosen, Deutsche, Italiener, Polen, Briten, Amerikaner und Österreicher bildeten eigene, national zugeordnete Brigaden. Viele kamen auch aus den Staaten Ost- und Südosteuropas sowie aus anderen Teilen der Welt wie Kanada, Lateinamerika oder Australien. Ihre Reihen wurden im Laufe des Bürgerkrieges mit spanischen Rekruten aufgefüllt, als die Verluste stiegen und sich die Rekrutierung im Ausland schwieriger gestaltete. Die Internationalen Brigaden hatten auch deshalb eine hervorgehobene Stellung, da ihre bloße Existenz die republikanische Moral stärkte. Sie wurden zwar im Herbst 1938 aufgelöst, da der Völkerbund auf Druck von Frankreich und Großbritannien den Abzug aller nichtspanischen Verbände aus Spanien gefordert hatte, um den internationalisierten Konflikt einzudämmen. Aber ihre Kämpfer konnten die spanische Staatsbürgerschaft erhalten und in die reguläre Armee der Republik aufgenommen werden.

Die Renaissance der Internationalen Brigaden Eine Renaissance erlebte die Idee der Internationalen Brigaden in der heutigen Ukraine durch Wolodymyr Selenskyj. Unmittelbar nach Beginn der russischen Invasion rief der ukrainische Präsident international Freiwillige dazu auf, sich an den Kampfhandlungen zu beteiligen – als Teil der Territorialverteidigung seines Landes: Ausländische Staatsbürger, die Kiew Waffenhilfe leisten wollten, sollten sich in ihrem Land in der ukrainischen Botschaft melden – bis zu 20 000 Freiwillige sollen dem Aufruf gefolgt sein, aus aller Welt, ob aus Europa, Asien oder den beiden Amerikas. Den Kern dieser „Internationalen Legion“ sollen anfangs 120 ehemalige britische Fallschirmjäger gebildet haben. Dieses Mal mit Verständnis zumindest der damaligen Außenministerin Liz Truss – im Gegensatz zum Spanischen Bürgerkrieg, in dem London derartige Unterstützung verweigerte. Auch anarchistische Gruppen sollen sich erneut beteiligen, die bereits Gleichgesinnte in Spanien unterstützten – nicht zuletzt das „Anarchistische Rote Kreuz“, das sich in der Ukraine während des russischen Bürgerkrieges 1918 bis 1920 in „Anarchistisches schwarzes Kreuz“ umbenannte. Fünf Monate nach der Niederlage der Spanischen Republik im April 1939 und damit auch der Internationalen Brigaden gegen Franco überfiel Hitler Polen. Zwar erklärten Frankreich und Großbritannien dieses Mal dem Aggressor den Krieg. Aber sie führten ihn nicht. Zwar verfügten sie über mehr Soldaten, Panzer und Flugzeuge als Deutschland – auch waffentechnisch waren sie zum Teil überlegen. Aber sie spielten ihre militärische Stärke nicht aus. Im Gegenteil: In dem Jahr, in dem Franco gegen die Spanische

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86 Thomas Speckmann Republik in den Krieg gezogen war, hatte Frankreichs Heeresleitung in ihren Instruktionen für die französische Armee festgelegt, einen kommenden Krieg gegen Deutschland zunächst als Defensivkampf von der Maginot-Linie aus führen zu wollen. Erst in einer zweiten Phase sollten Offensiven beginnen. Zwar existierte seit April 1939 ein Militärabkommen zwischen Paris und Warschau, in dem Frankreich bei einer deutschen Invasion Polens einen militärischen Schlag gegen Deutschland zugesagt hatte. Aber nach Kriegsbeginn wagte die französische Armee nur einen einzigen größeren Vorstoß, der jedoch nicht einmal die vorderen Stellungen des deutschen Westwalls erreichen sollte. In Paris und London ließ man sich Zeit. Erst zwei Wochen nach Hitlers Überfall auf Polen tagte das alliierte Oberkommando zum ersten Mal. Da hatte die Wehrmacht bereits weite Teile Westpolens erobert. Die Erwartung der Alliierten, Polen könne mindestens sechs Monate lang Widerstand leisten, hatte sich nicht erfüllt. Auch der französische Vormarsch zum Westwall gestaltete sich militärisch schwieriger als angenommen. Zusätzlich bremste Großbritannien seinen Bündnispartner Frankreich: Man befürchtete eine Zersplitterung der alliierten Kräfte. Die von London angeregten Bombardierungen des Ruhrgebiets wiederum unterband Paris aus Furcht vor deutschen Gegenangriffen. So wurden die Ziele der französischen Bodenoffensive kurzerhand neu definiert: Statt um größere Geländegewinne oder einen Durchbruch am Westwall sollte es nun nur noch darum gehen, deutsche Kräfte zu binden und die gegnerische Kampfmoral zu schwächen. Der Haltebefehl an die gegen die Wehrmacht vorrückende französische Armee erging am 13. September 1939. Vier Tage später marschierten sowjetische Truppen in Ostpolen ein. Hitler und Stalin hatten sich nicht nur Polen aufgeteilt. Sie hatten sich in ihrem „Nichtangriffspakt“ auch gegenseitig freie Hand für weitere Angriffskriege gegen ihre europäischen Nachbarn gegeben. Am 30. November griff die Rote Armee Finnland an. In Helsinki keimte für einen Moment die Hoffnung auf militärische Hilfe durch Frankreich und Großbritannien auf: Paris und London baten nicht nur Norwegen und Schweden um Durchmarschrechte für ein Expeditionskorps. Sie dachten auch an eine Besetzung des norwegischen Hafens Narvik und der Bergbaugebiete Nordschwedens, um Stalins damaligen Verbündeten Hitler vom Nachschub an Eisenerz abzuschneiden, da Berlin wiederum die Entsendung von Truppen nach Skandinavien prüfte, um eine alliierte Landung zu verhindern – Planspiele, die eben solche bis zur tatsächlichen Besetzung Norwegens durch die Wehrmacht im April 1940 blieben, befürchteten doch sowohl die schwedische als auch die norwegische Regierung, in den Krieg hineingezogen zu werden, und lehnten deshalb die britischen und französischen Bitten ab, über ihre Territorien hinweg die finnischen Verteidiger unterstützen zu dürfen. In der Folge beschränkte sich der Beistand des Westens für Finnland zum einen auf eine Verurteilung der sowjetischen Aggression durch den Völkerbund, aus dem die Sowjetunion ausgeschlossen wurde. Zum anderen kämpften Freiwillige aus Europa auf Seite der Finnen: 8000 Mann aus Schweden, das auch Waffen und finanzielle Mittel bereitstellte, offiziell

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Spanien 1936 bis Ukraine 2022: Das Zaudern der Demokratien 87 aber neutral blieb. Aus Dänemark machten sich 800 Mann, aus Norwegen 200, aus Ungarn das Doppelte auf den Weg. Hinzu kamen Waffenlieferungen aus Frankreich und Großbritannien – allerdings überwiegend veraltetes Material: etwa 5000 französische Maschinengewehre, Baujahr 1915, berühmt-berüchtigt für zahlreiche Schießunfälle, oder Artillerie, die bereits 1914 außer Dienst gestellt worden war. Entsprechend enttäuscht waren die Finnen. Helsinki sah sich zu Verhandlungen mit dem Kreml gezwungen. Im „Frieden von Moskau“ vom 13. März 1940 konnte Finnland zwar seine Unabhängigkeit retten, musste aber die Karelische Landenge und die Hälfte der Fischerhalbinsel in der Barentssee abtreten. Die Halbinsel Hanko wurde für 30 Jahre an die Sowjetunion verpachtet; die Baltische Flotte unterhielt dort einen Marinestützpunkt.

Das Zögern der USA – und der Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs Doch nicht allein Spanier, Polen und Finnen, auch Briten und Franzosen selbst mussten erleben, was es bedeuten kann, wenn Demokratien zögern, angegriffenen Demokratien zu Hilfe zu eilen. Erst als die Vereinigten Staaten im Dezember 1941 in Pearl Harbor von Japan attackiert wurden und Hitler ihnen den Krieg erklärte, gelang es Franklin D. Roosevelt, die Amerikaner von einem direkten militärischen Eingreifen in Europa zu überzeugen. Bis dahin beschränkte sich das amerikanische Engagement auf die Anwendung des Leih- und Pachtgesetzes – allerdings mit durchschlagender Wirkung. Dieses Gesetz, offiziell vom Kongress am 18. Februar 1941 verabschiedet, „um die Verteidigung der Vereinigten Staaten zu fördern“, ging auf eine Idee von Winston Churchill zurück. Es erlaubte den USA, kriegsentscheidendes Material an alle Staaten zu liefern, die von den Achsenmächten angegriffen wurden. Die Auswirkungen auf den Kriegsverlauf waren enorm. Schon zuvor hatten Lieferungen aus den Vereinigten Staaten, die allerdings noch gegen das amerikanische Neutralitätsgesetz verstießen, nicht nur das militärische Durchhalten Großbritanniens nach der Niederlage Frankreichs 1940 ermöglicht. Auch die Streitkräfte des Freien Frankreichs unter Charles de Gaulle wurden ausgestattet – zunächst mit britischen und dann zunehmend mit amerikanischen Waffen. Bei Kriegsende in Europa waren die freifranzösischen Verbände mehr als eine Million Mann stark – mit sieben Infanteriedivisionen und drei Panzerdivisionen, bewaffnet durch die westlichen Alliierten. Bereits in seinem Appell an das französische Volk vom 18. Juni 1940 über die BBC hatte General de Gaulle die Bedeutung der alliierten Waffenlieferungen für die spätere Befreiung seines Landes vorweggenommen: „Trotz aller Fehler, aller Verzögerungen, allen Leidens sind in der Welt alle notwendigen Mittel vorhanden, um eines Tages unsere Feinde zu besiegen.“ Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion wurde Stalin zum großen Profiteur des amerikanischen Leih- und Pachtgesetzes: Die Rote Armee erhielt aus den USA mehr als 7000 Panzer, 10 000 Jagdflugzeuge und 4000 Bomber, 400 000 Jeeps und Lastwagen, 13 000 Lokomotiven und Güterwagen sowie

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88 Thomas Speckmann 90 Frachtschiffe. Hinzu kamen 5000 Panzer und 7000 Flugzeuge aus britischer und kanadischer Produktion. Noch entscheidender für den Kriegsverlauf waren die gigantischen Mengen an weiteren Hilfsgütern für die Sowjetunion: nicht zuletzt vier Mio. Tonnen Lebensmittel, zweieinhalb Mio. Tonnen Stahl, fast ebenso viele Tonnen petrochemische Stoffe. Diese Hilfen erlaubten dem Kreml eine Kriegführung unter Einsatz aller Reserven. Schon in der Schlacht um Stalingrad war sich Moskau bewusst, dass die großen sowjetischen Materialverluste von den USA ausgeglichen würden. Im August 1945 lief das Programm aus. Ende April 2022 wurde es in Washington als „Leih- und Pachtgesetz zur Verteidigung der Demokratie in der Ukraine“ reaktiviert. Es erweitert die Befugnisse des amerikanischen Präsidenten im Rahmen des Waffenexportkontrollgesetzes, um die Sendungen von militärischen und anderen Hilfsgütern an Kiew zu beschleunigen – nicht zuletzt durch den Abbau bürokratischer Hürden. Und es richtet sich nun gegen das Land, das im Zweiten Weltkrieg von den amerikanischen Lieferungen stark profitierte, aber nun selbst – wieder einmal – der Aggressor in Osteuropa ist: Russland.

Langfristig ausgerichtet – die US-amerikanische Unterstützung Die erneute Entscheidung der Vereinigten Staaten für ein solches Programm kann als starkes Signal gewertet werden, dass auch im Fall der Ukraine die amerikanische Unterstützung langfristig ausgerichtet ist. Das Programm basiert auf der Annahme, dass der Konflikt mit Russland andauern wird. Daher will sich Washington in die Lage versetzen, den Nachschub für Kiew je nach Bedarf aufzustocken, unabhängig von der Zahlungsfähigkeit der Ukraine. Wie bereits im Zweiten Weltkrieg können die USA mit dem Programm ihren Alliierten, die bereits von einer Aggression betroffen sind oder es noch sein werden, gegenwärtig nicht nur die Ukraine, sondern auch weitere Staaten in Osteuropa, militärische Ausrüstung für die Dauer des Konflikts im Wesentlichen kostenlos zur Verfügung stellen – eine große Hilfe vor allem für Kiew: Es erleichtert nicht nur die Lieferung weiterer leichter und zunehmend schwerer Waffen an die Ukraine, sondern auch die Ausbildung der ukrainischen Soldaten an Waffensystemen der Nato-Staaten. Allerdings sind hier die heutigen Liefermengen der westlichen Alliierten noch weit entfernt von den Dimensionen im Zweiten Weltkrieg. Roosevelts Programm hatte einen Gesamtwert von heute 500 Mrd. Dollar. Für die Ukraine hat der amerikanische Kongress inzwischen rund 100 Mrd. an militärischer und humanitärer Hilfe bewilligt. Roosevelts Nachfolger Joe Biden will sicherstellen, dass Waffen und Munition ohne Unterbrechung an das von Russland angegriffene Land geliefert werden können – zur Stärkung der „Frontlinien der Freiheit“. Auch Madrid, das im Spanischen Bürgerkrieg von Moskau unterstützt wurde, hat seine Hilfen für die Ukraine ausgeweitet – ebenfalls nun gegen den russischen Aggressor. Dieses Mal laufen nicht Frachter von sowjeti-

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Spanien 1936 bis Ukraine 2022: Das Zaudern der Demokratien 89 schen Schwarzmeerhäfen nach Spanien aus, sondern Schiffe der spanischen Marine in Richtung Polen – an Bord leichtes wie schweres Material für Kiew. Welche Wirkungen amerikanische Waffenlieferungen und Ausbildungsmissionen auf Kriegsgeschehen in Europa auch nach 1945 haben können, zeigte sich bereits im jugoslawischen Bürgerkrieg. Es waren nicht allein die Bombardements der Nato, die Bosniens Serben und ihre Helfer in Belgrad zur Waffenruhe zwangen. Es war vielmehr die Entscheidung von Bill Clinton, die kroatischen Streitkräfte im Kampf gegen die serbischen Truppen von einer amerikanischen Beratungsfirma für Militärfragen ausbilden zu lassen. Und es war der Entschluss Washingtons, zusammen mit einer internationalen Koalition das UN-Waffenembargo zugunsten von Bosniern und Kroaten de facto aufzuheben: Amerikanische Kriegsschiffe ließen Waffenlieferungen passieren. Unter den Absendern sollen sich der Iran, Saudi-Arabien, Pakistan und die Türkei befunden haben. Diese erneut indirekte Form westlicher Kriegsführung zeigte Wirkung: Nur wenige Wochen nach dem serbischen Massaker in Srebrenica waren die bosnischen und kroatischen Truppen im Sommer 1995 in der Lage, eine Gegenoffensive zu starten und mehr als die Hälfte von Bosnien-Herzegowina zurückzuerobern. Die Operation – bei der es nach der serbischen Aggression ebenfalls zu schweren und vom Den Haager UN-Tribunal geahndeten Kriegsverbrechen kam – war militärisch so erfolgreich, dass sich die Serben zu Verhandlungen bereit erklärten. Der Vertrag von Dayton war die Folge. Doch um Symmetrie auf dem Schlachtfeld und dann am Verhandlungstisch zu erreichen, waren keine Bodentruppen des Westens eingesetzt worden. Diese Rolle hatten Bosnier und Kroaten selbst übernommen. Eine ähnliche Entwicklung scheint auch in der Ukraine das Ziel Washingtons zu sein. Das amerikanische Militär lässt sich mit der Einschätzung zitieren, die Chancen auf einen kurzfristigen militärischen Sieg der Ukrainer beziehungsweise auf einen „Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine“ seien nicht hoch. Generalstabschef Mark Milley sieht jedoch die Möglichkeit einer politischen Lösung mit Blick auf die russischen Verluste. Dazu passen auch die bisherigen Lieferungen von Waffen und Munition durch den Westen: Ihre Dimensionierung reicht maximal aus, um die Ukraine in eine Position der Stärke zu bringen, nicht aber in die Rolle des Siegers. Erneut scheint Symmetrie auf dem Schlachtfeld und dann am Verhandlungstisch die amerikanische Intention zu sein – dieses Mal mit Russland. Der Nationale Sicherheitsberater der Vereinigten Staaten hat dieses Vorgehen bereits bestätigt. Nach Aussage von Jake Sullivan soll zwar die Ukraine entscheiden, wann und wie sie verhandeln wolle. Aber sein Land werde tun, was es könne, um die Ukraine auf dem Schlachtfeld in die bestmögliche Position zu bringen, damit Kiew, wenn es entscheide, zu verhandeln, in der bestmöglichen Position am Verhandlungstisch sei. Dabei schreckt der Westen aus guten Gründen vor dem direkten Einsatz seiner Streitkräfte in der Ukraine zurück. Und dies nicht nur mit Blick auf die Drohkulisse eines weiteren – nuklearen Weltkrieges – dieses Mal mit Russland als Gegner und nicht als Verbündeter wie im bereits atomar geführten

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90 Thomas Speckmann Kampf gegen Japan. Es sind auch die abschreckenden Erfahrungen mit dem Großeinsatz eigener Bodentruppen in Afghanistan ab 2001 und im Irak ab 2003: Tausende alliierte Soldaten fielen, Zehntausende wurden verwundet. Auch ökonomisch waren diese Einsätze ein Desaster: Allein der Dritte Golfkrieg soll den amerikanischen Steuerzahler zwischen drei und fünf Bill. Dollar gekostet haben – Mittel, die für Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur daheim fehlten. Zum Vergleich: Im Zweiten Weltkrieg hatte die gesamte Unterstützung der USA für ihre Alliierten über das Leih- und Pachtgesetz lediglich eine halbe Billion Dollar ausgemacht – nach heutigem Wert. Allerdings dürften auch heute vor allem psychologische Faktoren das Verhalten des Westens im gegenwärtigen Kriegsgeschehen in Europa prägen. 1936 im Fall Spaniens und 1939 im Fall Polens zeigten sich Frankreich und Großbritannien wie gelähmt von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der für sie ein überaus verlustreicher Pyrrhussieg gewesen war. Heute sind es nicht nur der Zweite Weltkrieg, sondern auch die ernüchternde Bilanz der westlichen Militärinterventionen seit 1945, die erneut Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht im Westen prägen. Auch hier ähneln sich die Zwischenkriegszeiten im 20. und 21. Jahrhundert. Weder die deutsche Aufrüstung noch die Remilitarisierung des Rheinlandes 1936 noch die Sudetenkrise 1938 konnten Kriegsbereitschaft bei den Westmächten erzeugen. Weder Russlands Krieg gegen Georgien 2008 noch Moskaus massive Aufrüstung danach noch die Annexion der Krim und der Krieg gegen die Ukraine im Donbass ab 2014 konnten militärische Konfliktbereitschaft im Westen erzeugen. Für die Westmächte war es 1939 unvorstellbar, wegen des Danziger Korridors erneut in einen Krieg mit Deutschland einzutreten. „Mourir pour Dantzig?“, erwies sich damals als rhetorische Frage. Ähnlich verhielt es sich 2022: „Sterben für Mariupol?“ 1939 konzentrierten sich Frankreich und Großbritannien auf ihre primäre Aufgabe: den Schutz der eigenen Heimat – nicht der polnischen. Ähnlich verhielten sich die Mitglieder von Nato und EU 2022. Militärisch aktiv schützten sie ihr Territorium – nicht das ukrainische. Diese defensive Ausrichtung westlicher Demokratien ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Sie tun sich allgemein schwer mit offensiven Schritten – selbst wenn diese dazu dienen würden, attackierte Verbündete zu verteidigen. Angriff als bessere Verteidigung? Die Skepsis ist meist hoch – gerade in den westlichen Gesellschaften Europas. Waffengänge, die den Charakter einer Intervention tragen, stoßen tendenziell auf wenig Zustimmung. Und sie nimmt noch weiter ab, je länger der Konflikt dauert. Hier bildet der Umgang mit Russlands Invasion der Ukraine keine Ausnahme. Im Gegenteil – das westliche Handeln beziehungsweise Nichthandeln bestätigt die historische Regel: Wenn die Westmächte sich nicht direkt bedroht sahen, nicht direkt angegriffen wurden, haben sie ebenfalls nicht direkt in Kriegsgeschehen in Europa eingegriffen, sondern erst dann, wenn sie sich dazu gezwungen sahen. Spanien 1936, Polen 1939, Finnland 1939, Bosnien 1995 und Ukraine 2022 stehen deshalb weniger für Zäsuren, sondern mehr für Konjunkturen, von Aktion und Reaktion. In diesem Sinne haben durch die „Zeitenwende“ jedenfalls keine Wendezeiten begonnen – zumindest bislang nicht.

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Frankreich als Menetekel Wie wir mit dem Heute das Morgen verspielen Von Felix Heidenreich

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m 17. April dieses Jahres wurde das Publikum im Studio der vom Sender TF1 ausgestrahlten Sendung „Quotidien“ plötzlich sehr still. Pierre Rosanvallon, Soziologe und Historiker am Collège de France, einer der weltweit angesehensten politischen Denker Frankreichs, diagnostizierte in ruhigem und sehr sachlichem Ton die „schwerste Krise der Demokratie, die wir seit dem Ende des Algerienkrieges hatten“. Zu jenem Zeitpunkt, Ende der 1950er Jahre, war Frankreich nahezu unregierbar geworden, ein Militärputsch drohte. Erst die Machtübernahme durch Charles de Gaulle und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung konnte die Lage beruhigen. Aber sei nicht der Mai 1968 viel heftiger als der heutige Streit um die Rente gewesen, fragte der erkennbar erschrockene Moderator zurück. Damals, so Rosanvallons Antwort, seien institutionelle Reformen gefolgt, jetzt aber sei nicht erkennbar, dass die heutigen Proteste gegen die Rentenreform und ihre umstrittene Verabschiedung Konsequenzen haben würden. De Gaulle sei am Ende zurückgetreten, nun aber gebe es keinerlei Bewegung. Eine solche Diagnose mag aus deutscher Sicht überraschen. Nicht selten schwingt in der hiesigen Berichterstattung nämlich ein leichter Spott über die widerspenstigen Nachbarn mit, die – so wird suggeriert – die Anpassung an die demographischen Gegebenheiten nicht vollziehen wollen, ja sich nicht nur der Rentenreform, sondern eigentlich der ihr zugrundeliegenden Realität verweigern. Aber jemand wie Pierre Rosanvallon wählt seine Worte nicht unbedacht. Seine Aussage schlug in Frankreich auch deshalb so hohe Wellen, weil er, anders als so mancher „Fernsehphilosoph“, nicht ohnehin bei jeder Gelegenheit vom Untergang des Abendlandes oder der Terrorherrschaft des Neoliberalismus schwadroniert. Das Argument, das Rosanvallon in einfachen Schritten entfaltete, lautet, dass die politische Macht in Demokratien nicht nur auf formale Legalität rekurrieren dürfe, sondern auch legitim erscheinen müsse. Präsident Emmanuel Macron, so Rosanvallon, kenne natürlich Montesquieus Buch über den „Geist der Gesetze“, ignoriere aber den darin enthaltenen Appell, sich nicht nur an die Buchstaben des Regelsystems zu halten, sondern Entscheidungen auch durch eine Einsicht zu unterlegen und so dem „Geist“ der Verfassung zu entsprechen. Dies verweigere der Präsident beharrlich, indem er sich lediglich auf die kaum bestrittene und vom Verfassungsrat bestätigte formale Kor-

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92 Felix Heidenreich rektheit des Verfahrens stütze. In der Tat: Formal ging bei der Durchsetzung der Rentenreform alles mit rechten Dingen zu. Der berühmte Paragraph 49.3 ermöglicht es der Regierung, Gesetze auch ohne parlamentarische Mehrheit in Kraft treten zu lassen. Genau diesen Weg beschritt Premierministerin Élisabeth Borne auf Drängen Macrons, nachdem sich selbst nach wochenlanger Debatte keine mehrheitliche Zustimmung in der Nationalversammlung abgezeichnet hatte. Es kam daher nicht zum Parlamentsvotum über die von großen Teilen der Gesellschaft abgelehnte Reform. Auch dass der Verfassungsrat, der im Auftrag von Regierung und Opposition den Vorgang prüfte, grünes Licht geben würde, war erwartet worden. Es gebe keine „Krise der Demokratie“, unterstrich Macron daher auch mehrfach. Er habe umgesetzt, was er im Wahlkampf angekündigt hatte. Business as usual also? Wohl kaum. Vielmehr scheint die Lage in Frankreich paradigmatisch für ein immer deutlicher zutage tretendes strukturelles Problem, das alle Demokratien gleichermaßen betrifft: Auf Englisch würde man von der Herausforderung des governing for the long term sprechen, dem Problem des langfristigen Regierens gegen kurzfristige Präferenzen.1 Es geht schlicht um die Frage, wie sich Unangenehmes, aber langfristig Notwendiges in Demokratien überhaupt durchsetzen lässt. Lernen lässt sich dabei womöglich nicht nur von Frankreich, sondern auch und vor allem anhand des Beispiels der französischen Demokratie. Denn hier, so die These, wird besonders klar erkennbar, welche Herausforderungen sich für alle „westlichen“ Demokratien in zunehmendem Maße stellen: das Verfolgen einer langfristigen Politik gegen kurzfristige Interessen, die Notwendigkeit einer Staatlichkeit, die die Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht nimmt und sie mit Zumutungen konfrontiert, dabei aber zugleich die Aggregation divergierender Interessen in einer sich immer weiter individualisierenden Gesellschaft leistet. In diesem Sinne blicken wir auf die Lage in Frankreich wie in einen Zerrspiegel, der die Herausforderungen durch Vergrößerung besonders plastisch deutlich macht. Aus diesem Grund lohnt ein genauerer Blick auf die Hintergründe der innenpolitischen Krise, die Frankreich seit der Eskalation des Kampfes um die Rentenreform durchläuft.2 Über Wochen streikte die Müllabfuhr, und der Verfassungsrat musste im Vorfeld seiner Entscheidung über das Gesetz mit massivem Polizeiaufgebot geschützt werden. In der Assemblée nationale ist das Klima durch wiederkehrende Schreiduelle und Rangeleien völlig vergiftet. Vor allem aber sehen wir ein Maß an Gewalt auf den Straßen, das auch für das etwas ruppigere Klima in Frankreich neu ist. Unzählige Videos zeigen nicht nur randalierende Demonstranten, sondern bisweilen auch eine extrem gewalttätige Polizei.3 In Bordeaux brannte gar das Rathaus. Macrons erklärtes Ziel war von Anfang an, sich dem Druck der Straße nicht zu beugen. Sein Motto lautete: Das geht vorbei. Zugleich unterstrich 1 Alan M. Jacobs, Governing for the Long Term: Democracy and the Politics of Investment, Cambridge 2011. 2 Steffen Vogel, Frankreich: Rentenreform um jeden Preis?, in: „Blätter“, 3/2023, S. 13-16. 3 35 Prozent der Franzosen erachten Gewalt für grundsätzlich „manchmal legitim“, unter den Anhängern der linksradikalen France insoumise sogar 60 Prozent. Vgl. Le regard des Français sur la violence dans les manifestations contre la réforme des retraites, www.ifop.com, 30.3.2023.

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Frankreich: Wie wir mit dem Heute das Morgen verspielen 93 der Präsident, wie wichtig die Versammlungsfreiheit sei, dass Meinungsäußerung völlig legitim sei – aber in diesem Fall eben auch völlig wirkungslos. Er habe das klare Mandat durch die gewonnene Präsidentschaftswahl, seine Reform sei angekündigt worden. Und doch ist die allgemeine Stimmung im Land dieses Mal anders. Macron läuft Gefahr, auszublenden, dass der Konflikt um die Rentenreform womöglich eine Art Kulminationspunkt darstellt.

Die Doppelgesichtigkeit Macrons und ein weit zurückreichender Verdacht Was hier einer Art Kipppunkt entgegenzulaufen scheint, hat eine lange Vorgeschichte. Von Anfang an gab es neben der Begeisterung für den jungen Präsidenten auch ein tiefes Misstrauen gegen den „Jupiter“. Die „Doppelgesichtigkeit“ Macrons ist seit dem Beginn seines spektakulären Aufstiegs zu einer Art feststehendem Topos geworden: der freundliche, verbindlich-höfliche Musterschüler einerseits, das machiavellistische Machttier, das keine Sekunde zögert, seinem ehemaligen Förderer François Hollande den Dolch in den Rücken zu stoßen, andererseits, so war es schon 2017 zu lesen.4 Vor den Präsidentschaftswahlen 2022 machte dann ein Buch mit scharfer Tonlage Furore: Die investigativen Reporter von „Le Monde“ Gérard Davet und Fabrice Lhomme zeichneten anhand zahlreicher Interviews mit Personen aus Macrons nahem und weiterem Umfeld ein dreidimensionales Bild: Jacques Attali, François Hollande, Alain Minc, Pierre Moscovici – das who is who der französischen Eminenzen berichtete von ihren Begegnungen mit dem Gespenst Macron. Der Titel der 600 Seiten langen Reportage fasste das Ergebnis in aller Härte zusammen: Le traître et le néant, „Der Verräter und das Nichts“, spielt auf Jean-Paul Sartres Klassiker L’être et le néant an.5 In Frankreich versteht jede und jeder solche gebildeten Kalauer. Das Bild vom arroganten und zugleich skrupellosen Präsidenten, der die Franzosen einer am Modell der amerikanischen Plattform Uber orientierten Neoliberalisierung ausliefern will, hat folglich eine lange Vorgeschichte, ohne die die Heftigkeit des Konflikts um die Rentenreform nicht verständlich wird: Es geht nicht „nur“ um die Frage der Anrechnung von Lebensleistungen oder um die besonders harten Arbeitsbedingungen in bestimmten Berufsfeldern, sondern um einen „Kampf um Anerkennung“ in einem viel tieferen Sinne.6 Warum nur, so könnte man fragen, hat Macron nicht von Anfang an jene Verfahren angewandt, mit denen er 2019 nachträglich versuchte, die Gelbwestenproteste abzufedern, nämlich den großen „Bürgerdialog zur Klimapolitik“? Ob ein „Bürgerdialog Rente“ tatsächlich jene Legitimität, jene Einsicht in die Notwendigkeit hervorgebracht hätte, deren Feh4 Hierzu hat zunächst das Buch von Marc Endewald beigetragen, der vom „mehrdeutigen Herrn Macron“ sprach: Marc Endewald, L‘ambigu Monsieur Macron, erweiterte Auflage, Paris 2018. 5 Fabrice Lhomme und Gérard Davet, Le Traître et le Néant, Fayard, 2021. Die Charakterstudie liest sich wie ein Krimi, in dem der Täter nur umkreist wird. Dabei entsteht ein durchaus komplexes Bild. Manche Gesprächspartner beschreiben Macron als „all fake“, eine einzige Kommunikationsmaschine ohne Inhalt. Andere verweisen auf sein elefantöses Gedächtnis, seine geradezu monströs anmutende Arbeitsfähigkeit, seinen Charme, seine rhetorische Brillanz. 6 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt a. M. 1994.

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94 Felix Heidenreich len Pierre Rosanvallon bemängelt, ist natürlich völlig offen. Zumindest hätte ein solches Verfahren dazu beigetragen, dem Austausch von Positionen eine andere Form zu geben. Denn nun verteidigt die Regierung Borne ihr Vorgehen mit dem Argument, Gesprächsangebote an die Gewerkschaften seien unbeantwortet geblieben. Die Gewerkschaften wiederum werfen der Regierung vor, zu bloßen Scheingesprächen eingeladen worden zu sein, bei denen man sie mit fertigen Beschlüssen konfrontiert habe. Dass der Präsident womöglich zu spät begonnen hat, umfassend für seine Reform zu werben, mag richtig sein – auch wenn das Thema seit Jahren auf der Agenda war. Das mit Spannung erwartete Interview vom 22. März im Elysée-Palast zum Thema wurde dann aber vor allem diskutiert, weil plötzlich die Frage gestellt wurde, wie teuer denn die Armbanduhr sei, die Macron während des Gesprächs unauffällig abnahm. Handelte es sich um eine Luxusuhr für 80 000 Euro oder „nur“ um eine Uhr für rund 2400 Euro, wie der Faktencheck ergab? In einem medialen Umfeld, in dem solche Fragen ins Zentrum gerückt werden, ist der Austausch von Argumenten schwer. Ein weiteres Beispiel zeigt, wie sich das Klima des Misstrauens in der Kommunikation zwischen Staatsrepräsentanten und Bürgerschaft ausbreitet: Am 24. April kam es im Rahmen eines Molière-Abends in Paris zu einem denkwürdigen Ereignis. Gefeiert wurde der große Klassiker des französischen Humors mit allerlei clownesken Nummern auf der Bühne. Als zwei Komödiantinnen eine recht grobe Tirade gegen die Rentenreform und die Regierung vom Stapel gelassen hatten („Schauspielerinnen sind keine Hunde“, „Lüge“ etc.), ergriff plötzlich die im Publikum befindliche Ministerin für Kultur, Rima Abdul-Malak, das Mikrophon. Normalerweise, so die Ministerin, sei es nicht üblich, dass die kritisierten Personen hier direkt reagierten. In diesem Fall aber müsse einiges dringend klargestellt werden. Es folgte eine Auflistung all der Anstrengungen der Regierung, die Kulturszene heil durch die Coronakrise zu bringen. Ihre Tür sei immer offen für die Vertreter:innen der Gewerkschaft, aber diese drückten sich um das Gespräch. Tosender Applaus des Saals für die mutige Ministerin. Damit aber war die Geschichte noch nicht zu Ende, denn kurze Zeit später wurde der Verdacht formuliert, der vermeintlich spontane Auftritt von AbdulMalak sei in Wirklichkeit ein abgekartetes Spiel gewesen, genau vorbereitet, bis ins kleinste Detail inszeniert. Was eben noch wie die mutige Stimme der Vernunft klang, erschien nun wie das Element einer gigantischen Kommunikations- und Werbemaschine, dessen maximal professionelles Zentrum Macron selbst darstellt. Wohlgemerkt: Ob dieser Vorwurf tatsächlich zutrifft, lässt sich kaum aufklären – und für die Gegner der Regierung wäre wohl keine noch so plausible Beteuerung überzeugend. Die Hermeneutik des Verdachts würde alle Versuche nur als weiteren Beweis für die Ausgefuchstheit von spin-Doktoren interpretieren. Am Beispiel der Situation in Frankreich lässt sich folglich erstens lernen, dass ein Governing for the long term sehr schwierig wird, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und politischen Eliten andererseits gestört ist. In Frankreich hat sich dieses Misstrauen

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Frankreich: Wie wir mit dem Heute das Morgen verspielen 95 über Jahre, ja womöglich Jahrzehnte aufgebaut. Wie diese Schädigung des Vertrauensverhältnisses zu erklären ist, bleibt umstritten. Verhält sich der Präsident tatsächlich arrogant und beratungsresistent? Oder hat sich in Frankreich ein unguter Wettbewerb etabliert, in der jene gewinnen, die noch kritischer, noch radikaler, noch kompromissloser gegen „die da oben“ wettern? In der Tat scheint sich die Kritik an Macron bisweilen beinahe zu verselbstständigen.7 Momentan werden Mitglieder der Regierung allerorten mit dem Getrommel auf Töpfe „begrüßt“, sind Anfeindungen, ja Drohungen ausgesetzt. Unstrittig scheint jedenfalls, dass neue Kommunikationsarenen nötig wären, um der Hermeneutik des Verdachts entgegenzuarbeiten.

Es kommt darauf an, Zumutungen zu erklären und fair zu verteilen Der Blick nach Frankreich zeigt aber nicht nur, dass Zumutungen plausibel erklärt werden sollten, sondern zweitens auch, dass sie fair verteilt werden müssten. Dass der Groll in weiten Teilen Frankreichs so groß ist, hängt auch damit zusammen, dass viele Menschen das Gefühl haben, Teile der Oberschicht seien zu einem neuen Adel geworden. Die Interessen kommender Generationen sind selbst in einem – im Vergleich etwa zum Klimawandel noch trivialen – Fall wie der Rentenpolitik nur dann im Konsens durchzusetzen, wenn sie gegen alle Mitglieder der Gegenwart gleichermaßen zur Geltung gebracht werden. Selbst eine symbolische Sonderbesteuerung von Zweit- oder Drittwohnungen, von Privatflugzeugen oder Golfplätzen hätte womöglich geholfen, wenigstens den Eindruck von Fairness zu vermitteln. Aber noch eine weitere Folgerung lässt sich aus der Analyse der Situation in Frankreich ziehen: Schon jetzt beginnt das Thema Rente allmählich in den Hintergrund zu treten. Es türmen sich andere, viel größere Herausforderungen auf. Hierzu gehört beispielsweise die Frage des Wassermanagements, mit dem Frankreich schnell auf die anhaltenden Dürren reagieren muss. In diesem Sinne ist Frankreich drittens ein paradigmatisches Beispiel für die Anpassung etablierter Demokratien, die nicht mehr mit der Ausweitung von Konsummöglichkeiten für sich werben können, sondern stattdessen immer mehr Einschränkungen und Zumutungen zu verteilen haben. In Frankreich vollzieht sich womöglich vor unseren Augen der Wandel hin zu einer Klimapolitik, die nicht mehr primär auf Emissionsreduktion setzt, sondern das Primat im Resilienzaufbau sieht. Aufhalten lasse sich der Anstieg der Temperaturen demnach nicht mehr und damit auch nicht der Rückgang des Niederschlags und die höhere Verdunstung. Gefragt sei jetzt eine Rettung der Landwirtschaft. Leider zeigt der Blick in Länder wie Spanien, wie schwierig der Aufbau eines kohärenten Systems ist, ja, dass ohne Verände7 Auffällig ist, wie viel stärker das Misstrauen in Frankreich gegenüber der Regierung im Vergleich zu Ländern wie Deutschland ausgeprägt ist. Unklar bleibt natürlich die normative Frage, welche Formen und welches Maß von Misstrauen eher eine demokratische Tugend darstellen und an welchem Punkt ein gesundes Misstrauen gegenüber der Politik zu einem undemokratischen Generalverdacht gegen alles und jeden wird. Vgl. bspw. die Studie Le baromètre de la confiance politique des Forschungsinstituts CEVIPOF, Paris 2023.

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96 Felix Heidenreich rungen auf der Konsumseite kaum Erfolge im Wassermanagement denkbar scheinen. Paradigmatisch ist Frankreich aber womöglich auch, als dort erkennbar wird, dass nicht nur die Gegner der Nachhaltigkeit, sondern auch die Feinde der Demokratie von den Turbulenzen der „großen Transformation“ profitieren könnten – im Inneren wie im Äußeren. In die unmittelbare zeitliche Nähe der Proteste fiel auch das Interview des Präsidenten mit „Les Echos“ vom 10. April, das einen Sturm der Entrüstung losbrechen ließ. Europa laufe Gefahr, just in jenem Moment, in dem es endlich die eigene strategische Position geklärt habe, in „Regellosigkeiten und Krisen“ hineingezogen zu werden, „die nicht die unseren sind“, erklärte Macron.8 Es war vor allem dieser Halbsatz, der Protest auslöste, zeigt er doch, dass Macron die Verteidigung der Demokratie in Taiwan nicht als europäisches Problem betrachtet. Eine „europäische strategische Autonomie“ oder gar eine „europäische Souveränität“ wären dann, so der Chor der Kritiker, letztlich eben doch gegen das transatlantische Bündnis gerichtet und eine Absage an die europäisch-amerikanische Allianz. Skandalös, so der Tenor, sei eine solche Absage ganz besonders in jenem Moment, indem die USA die Hauptlast der Unterstützung für die Ukraine tragen – und damit mal wieder den Europäern im Kampf gegen antidemokratische Kräfte helfen, weil diese dazu nicht in der Lage seien. Oder besser: immer noch nicht. Doch es lohnt, Macrons Interview gründlich zu lesen. Als erstaunlich erweist sich dann die Tatsache, dass Macron sich – „im Sinne Gramscis“, so der Präsident wörtlich – als Sieger im Kampf um die diskursive Hegemonie sieht. Als er 2017 in der Sorbonne-Rede den Begriff der europäischen Souveränität vorgeschlagen habe, sei er verlacht worden. Heute bestehe Konsens, dass genau die von ihm entworfene Form wehrhafter Eigenständigkeit für Europa dringend geboten sei. Aus Macrons Sicht bewegt sich die EU endlich in jene Richtung, die er von Anfang an als Vision ausgegeben hat. Dieses Selbstvertrauen Macrons steht in einem starken Kontrast zur Krisenstimmung im Innern. Genährt wird diese auch durch ein für Frankreich neues Phänomen – den öffentlichen Auftritt militanter Neonazis: Am 6. Mai marschierten rund 600 Vermummte durch Paris und zeigten auf schwarzen Flaggen das Keltenkreuz. Am 9. Mai trat dann ein linker Bürgermeister aus Westfrankreich wegen anhaltender Morddrohungen durch Rechtsradikale zurück. Er war Opfer eines Brandanschlags geworden.9 Pessimisten befürchten, die Rentenreform könnte dem Rassemblement National weitere Wähler zutreiben, die letzten Hemmungen obsolet werden lassen und letztlich Marine Le Pen in den Elysée-Palast verhelfen. Die Verteidigung des „Geistes der Gesetze“, für die Pierre Rosanvallon plädiert, stünde dann mit einem Schlag vor ganz anderen, eigentlich unvorstellbaren Herausforderungen. Die Differenz zwischen Legalität und Legitimität wäre auf viel dramatischere Weise zurück auf der Bühne. 8 „Les Echos“, 10.4.2023. 9 Vgl. den ausführlichen Bericht in „Libération“, 10.5.2023.

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Chicago: Prävention statt Polizei Mit mehr sozialer Gerechtigkeit gegen das US-Strafsystem Von Lukas Hermsmeier

E

s war ein mit harten Bandagen geführter Wahlkampf, dessen Ausgang zweifellos von historischer Bedeutung ist: Am 4. April dieses Jahres wurde der Demokrat Brandon Johnson zum Bürgermeister von Chicago gewählt. Der 47jährige Afroamerikaner, früher Lehrer an einer öffentlichen Schule und Gewerkschaftsaktivist, setzte sich gegen den 69jährigen Paul Vallas durch, der zwar ebenfalls als Demokrat angetreten war, aber aufgrund seiner Karriere als technokratisch-konservativer Schulreformer eine gänzlich konträre Vision verkörperte. In seiner Siegesrede erinnerte Johnson daran, dass schon der Bürgerrechtler Martin Luther King in der Stadt am Michigansee für soziale Gerechtigkeit gekämpft hatte. Kings Traum sei es gewesen, dass „das Civil Rights Movement und die Arbeiterbewegung eines Tages zusammenfinden“. Dieser Traum“ sei nun, mit seiner Wahl, wahr geworden. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wird die drittgrößte Stadt der USA damit von einem demokratischen Linken geführt, der eine Abkehr von der neoliberalen Politik seiner Vorgänger angekündigt hat. So will Johnson Privatisierungen in der Bildung und im Gesundheitswesen beenden und verstärkt in öffentliche Infrastrukturen investieren, er will Tausende Lehrerinnen, Sozialarbeiter und Therapeutinnen einstellen, sowie neue Kliniken eröffnen – finanziert durch höhere Steuern für Reiche. Vor allem aber strebt Johnson einen radikalen Wandel im Umgang mit der hohen Kriminalität in Chicago an. Vallas’ Forderung, den Polizeiapparat weiter auszubauen, setzt Johnson die Idee entgegen, Gewalt durch soziale Programme präventiv vorzubeugen. Öffentliche Sicherheit war das dominierende Thema dieser Wahl, was sich durch die Statistiken auch leicht erklären lässt: Allein im vergangenen Jahr wurden 695 Menschen in Chicago getötet, im Jahr davor sogar 804, so hoch waren die Zahlen zuletzt in den 1990er Jahren. Autodiebstähle und Schießereien gehören zum Alltag, besonders der Süden der Stadt ist betroffen. Dass sich zwei Drittel der Einwohner:innen Chicagos laut Umfragen vor der Wahl unsicher fühlten, hatte allerdings noch einen anderen Grund. Es lag auch daran, dass rechte Politiker:innen, Wirtschaftsvertreter, die Polizeigewerkschaft und nicht zuletzt der unterlegene Kandidat Vallas diese Unsicherheit besonders geschürt haben. Als „Crime Panic“ bezeichnet man die Instrumentalisierung von Kriminalität, um die eigene repressive Agenda voranzutreiben. Der Zweck dieser geschürten Panik war offensichtlich: Ver-

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98 Lukas Hermsmeier hindert werden sollte, dass ein Kandidat an die Macht kommt, der die Polizei kritisiert und eine Umverteilung von Ressourcen plant. Der Erfolg Johnsons ist angesichts dieser Bedingungen umso bemerkenswerter. Und er spricht dafür, dass sich in den USA etwas Grundsätzliches verschoben hat: Der „autoritäre Konsens“ im Umgang mit Gewalt, dessen Entstehung der britische Kulturwissenschaftler Stuart Hall vor einigen Jahrzehnten beschrieben hat, wird immer stärker angefochten – man könnte sogar sagen, dass er zum ersten Mal überhaupt substanziell herausgefordert wird.

Zwei Millionen Menschen in Haft In seinen Buch „Policing the Crisis“ rekonstruierte Hall zusammen mit vier Forscherkollegen, wie die britische Politik, Medien und Justiz ab den 1960er Jahren eine rassistische Panik rund um das vermeintlich neue Phänomen des mugging (bewaffnete Raubüberfälle) erzeugten.1 Statt sich mit den Ursachen von Kriminalität auseinanderzusetzen, insbesondere der grassierenden Armut und Unterbeschäftigung, hätte die Politik „muggers“ – womit von Beginn an Schwarze Jugendliche gemeint waren – als größte Gefahr für die soziale Ordnung bezeichnet und dadurch repressive Maßnahmen legitimiert. In dieser Panik, erklären die Autoren, hätten sich verschiedene Krisen des Kapitalismus und des Staates ausgedrückt, die man zusammengenommen als „Krise der Hegemonie“ deuten könne. Die „Crime Panic“, die in „Policing the Crisis“ analysiert wird, ist in den vergangenen 50 Jahren zu einer Art Standardmethode des liberal-autoritären Regierens geworden – und das weit über Großbritannien hinaus. Wo soziale Krisen aufkommen, müssen sich Regierungen besonders behaupten. In keinem anderen Land dieser Welt haben die Logiken des Kontrollierens, Überwachens und Wegsperrens jedoch eine vergleichbare Situation geschaffen wie in den Vereinigten Staaten. Im reichsten Land der Welt befinden sich derzeit knapp zwei Millionen Menschen in Haft, das sind rund 500 Prozent mehr als noch vor 40 Jahren. Die USA stellen damit über 20 Prozent aller weltweiten Gefängnisinsassen, obwohl sie weniger als fünf Prozent der globalen Bevölkerung ausmachen. Überproportional vertreten sind arme und nicht-weiße Menschen.2 Die Krise des amerikanischen Strafjustizsystems ist nicht neu, ihre Wurzeln reichen tief in die Geschichte des Landes hinein. Neu ist allerdings die veränderte politische Dynamik, wie die jüngste Wahl in Chicago demonstriert. Einerseits ist in den vergangenen Jahren eine Gegenbewegung gewachsen, und zwar nicht nur in die Breite, sondern auch in die Tiefe, das heißt, immer mehr Menschen in den USA fordern die Abschaffung von Gefängnissen und Polizei und arbeiten dabei immer konkreter an Alternativen. Andererseits – und auch als Antwort auf jene linke Bewegung – ist eine erneuerte „Crime Panic“ entstanden, die derzeit zahlreiche Wahlkämpfe und politische Ent1 Stuart Hall u.a., Policing the Crisis, London 1978. 2 Mass Incarceration: The Whole Pie 2023, www.prisonpolicy.org, 14.3.2023.

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Chicago: Prävention statt Polizei 99 scheidungen prägt. Beide Entwicklungen sind Ausdruck einer zugespitzten Legitimationskrise des Strafjustizsystems – eine Krise, die man auch daran erkennt, dass selbst Konservative heute für Reformen werben. Die einen wollen den „autoritären Konsens“ erhalten, die anderen einen Neuanfang. „Eiserne Zeiten“3 in Form reaktionärer Maßnahmen zeichnen sich derzeit genauso ab wie revolutionäre Horizonte.

Mit »Null Toleranz« zu vollen Gefängnissen Sowohl die Polizei als auch das Gefängnis kommen zwar ursprünglich aus Europa, haben sich in den USA aber auf spezifische Weise konstituiert. Während die ersten Gefängnisse auf amerikanischem Boden im Rahmen kolonialer Siedlungen errichtet wurden, wuchs die US-Polizei später aus den slave patrols, wie die Streifen genannt wurden, die flüchtende Sklav:innen wieder einfingen. Die Kontrolle und Bestrafung bestimmter Bevölkerungsgruppen – insbesondere indigener, Schwarzer und armer Menschen – war maßgebend für die Entwicklung beider Institutionen. Das expansive Strafsystem von heute entstand allerdings erst in den zurückliegenden vier bis fünf Jahrzehnten und ist eng mit dem Aufstieg neoliberaler Politik verknüpft. Die Geographin Ruth Wilson Gilmore hat das am Beispiel Kaliforniens erläutert.4 Sie nennt vier Kategorien des „Überschusses“, die zum Wachstum des Gefängnissystems ab etwa 1980 geführt haben. Es gab „überschüssiges Land“, das vor allem durch Dürre entstanden war, wodurch große Flächen nicht mehr für die Landwirtschaft gebraucht werden konnten; „überschüssige staatliche Kapazität“, die sich durch den Rückzug der Regierung aus bestimmten Bereichen und den Abbau von Sozialleistungen ergeben hatte; „überschüssiges Finanzkapital“, das gerade deshalb zur Verfügung stand, weil sich Investitionen in soziale Infrastrukturen wie die Bildung weniger lohnten; und es gab – in Folge der Deindustrialisierung und anderer Umwälzungen – „überschüssige Arbeitskräfte“, mit denen nun irgendetwas passieren musste. Dieses irgendetwas wurden zunehmend die Gefängnisse. Gilmores Analyse bezieht sich zwar speziell auf Kalifornien, lässt sich aber in den entscheidenden Dynamiken auf den Rest des Landes übertragen. Der Ausbau des Strafapparats in den USA vollzog sich in enger Wechselwirkung mit der Zerlegung des Sozialsystems. Statt in öffentliche Infrastrukturen zu investieren und sicherere Arbeitsplätze zu schaffen, ließ der Staat durch Privatisierungen und Deregulierungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den informellen Jobsektor wachsen – und damit verbunden auch die „relative Überbevölkerung“, wie die Marxistin Gilmore es nennt. Das Gefängnis versprach nicht nur neue Jobs, sondern auch einen Ort für diejenigen, die für die Wirtschaft nicht mehr brauchbar waren. Wo es Gefängnisse gibt, muss es auch Kriminelle geben. Unter anderem aus dieser Logik heraus haben Republikaner wie Demokraten über Jahr3 Vgl. Hall, a.a.O. 4 Ruth Wilson Gilmore, The Golden Gulag, Berkely, Los Angeles und London 2007.

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100 Lukas Hermsmeier zehnte hinweg polizeiliche Kontrollmechanismen und Strafmaßen in den USA verschärft. Der ab den 1970er Jahren geführte „Krieg gegen Drogen“ wurde, wie ein Berater von Präsident Richard Nixon später zugab, in erster Linie geführt, um Afroamerikaner:innen und linke Kriegsgegner:innen zu kriminalisieren.5 Die von Präsident Bill Clinton in den 1990er Jahren verabschiedete „Crime Bill“ sorgte dafür, dass Hunderttausende Menschen für minimale Vergehen im Gefängnis landeten. Um die Städte „sauberer“ und „sicherer“ zu machen, wurde in Städten wie New York zunehmend mit „NullToleranz-Strategien“ regiert. Das Ergebnis war, dass vor allem obdachlose Menschen und Sexarbeiter:innen von der Bildfläche verschwanden. Der US-amerikanische Prison Industrial Complex nimmt mittlerweile monströse Ausmaße an. In den oft desolaten Einrichtungen sind die Gesundheitsversorgung und Ernährung kümmerlich, die Suizidraten hingegen hoch.6 Folgt man den Einschätzungen der Vereinten Nationen, findet in USGefängnissen Folter statt, denn als solche wird dauerhafte Isolationshaft eingeordnet.7 Hunderttausende sitzen unverurteilt ein, weil sie sich keine Kaution leisten können. Mindestens 79 Millionen Amerikaner:innen sind vorbestraft, was ihre Möglichkeiten, Arbeit oder eine Wohnung zu finden, begrenzt. Während die hohen Rückfallquoten ein Beweis für die geringe Rehabilitationswirkung der Haftanstalten sind, weisen die niedrigen Aufklärungsraten auf eine ineffektive Strafverfolgung hin. Die Hälfte aller Morde bleibt unaufgeklärt.8 Und jeder zweite Entlassene landet nach ein paar Jahren wieder hinter Gittern.9 Gefängnis-Kritiker:innen weisen unterdessen darauf hin, dass die Hauptursachen von Gewalt – Armut, Isolation, Scham und die eigene Erfahrung von Gewalt – im Gefängnis reproduziert werden.

Fast 100 Tote durch die Polizei – im Monat Spiegelbildlich hat auch der Polizeiapparat in den USA gigantische Ausmaße erreicht. In vielen Städten verschlingen die Polizeibehörden mittlerweile den größten Posten im Haushalt.10 In New York ist das Polizeibudget zwischen 1983 und 2023 von 864 Mio. Dollar auf 5,7 Mrd. gewachsen, was auch inflationsbereinigt einen enormen Sprung darstellt. Doch dass mehr Beamt:innen zu einem Rückgang von Kriminalität führen, steht keinesfalls fest: Viele Studien kommen zu dem Ergebnis, dass es zwischen beidem keine klare Korrelation gibt.11 Allerdings gehört massive Polizeigewalt unbestritten zum All5 Dan Baum, Legalize It All, in „Harper’s”, April 2016. 6 Vgl. Victoria Law, Health care in jails and prisons is terrible. The pandemic made it even worse, www.vox.com, 28.6.2022; Two Cups of Broth and Rotting Sandwiches: The Reality of Mealtime in Prisons and Jails, www.aclu.org, 23.11.2022 sowie Jails in Crisis: Study Identifies Those at Risk of Suicide Behind Bars, www.fau.edu, 24.2.2022. 7 United States: prolonged solitary confinement amounts to psychological torture, says UN expert, www.ohchr.org, 28.2.2020. 8 As Murders Spiked, Police Solved About Half in 2020, www.themarshallproject.org, 12.1.2022. 9 Recidivism Imprisons American Progress, harvardpolitics.com, 8.8.2021. 10 What Policing Costs, www.vera.org. 11 Over the past 60 years, more spending on police hasn’t necessarily meant less crime, www.washingtonpost.com, 7.6.2020.

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Chicago: Prävention statt Polizei 101 tag in den USA: Im vergangenen Jahr wurden insgesamt 1186 Menschen von der Polizei getötet, also im Durchschnitt fast 100 Menschen pro Monat.12 Die Krise des amerikanischen Strafsystems verdichtet sich darin, dass viele amerikanische Gemeinden schlichtweg darauf angewiesen sind, über das Verhängen von Geldstrafen ihren Finanzhaushalt zu stemmen.13 Auch in den vielen „Gefängnisstädten“ im ganzen Land drückt sich diese Abhängigkeit aus: So klagte die kalifornische Kleinstadt Susanville 2021 gegen die Schließung der ortsansässigen Haftanstalt, weil daran 45 Prozent aller lokalen Arbeitsplätze hingen. Anders als oft vermutet, zeichnet sich der Prison Industrial Complex jedoch nicht primär dadurch aus, dass viele Unternehmen beteiligt sind. Gerade einmal sieben Prozent aller Gefängnisinsassen sind in privaten Haftanstalten. Im Zentrum stehe, so Ruth Wilson Gilmore, der Staat, der eine Politik der „organisierten Verwahrlosung“ betreibe. Was aber ist mit der Vielzahl von Reformen, die in den vergangenen Jahren verfolgt wurden? Eine tatsächliche Verbesserung durch Dekriminalisierung fand beispielsweise in der Drogenpolitik statt. So ist der Konsum von Marihuana in großen Teilen der USA mittlerweile legal. Die Gefängnispopulation ist zwar immer noch enorm, aber sie ist auch wegen solcher Gesetzesänderungen zwischen 2008 und 2020 leicht gesunken. Im Schatten dieser positiven Entwicklung hat sich jedoch ein anderes Problem verschärft: Die Logiken des Gefängnisses wurden in weitere Gesellschaftsbereiche transportiert. Wie die zwei Journalistinnen Maya Schenwar und Victoria Law erläutern, führten viele Reformen, mit denen die Zahl der Gefangenen verringert werden sollte, dazu, dass stattdessen Schulen, Gesundheitseinrichtungen, Nachbarschaften und oft auch die eigenen vier Wände stärker überwacht würden.14 So seien Ärzt:innen, Lehrer:innen und Sozialarbeiter:innen zunehmend verpflichtet, Auffälligkeiten an die Polizei zu melden; Bewährungsauflagen sind zum Teil so streng, dass eine Resozialisierung geradezu verhindert wird. Über elektronische Fußfesseln und wachsende Datenbanken habe der Staat letztlich an Kontrolle hinzugewonnen. Zu einem ähnlich ernüchternden Ergebnis kommt auch der Soziologe Alex Vitale, der die Polizeireformen der vergangenen Jahrzehnte untersucht hat. Viele der vermeintlichen Verbesserungen, wie beispielsweise mehr Personal und modernere Technik, hätten dazu geführt, dass der Überwachungsapparat weiter wachse. Das Kernproblem sieht Vitale, wie viele andere Expert:innen auch, in der zentralen Funktion der Strafinstitutionen. „Jedes Mal, wenn wir Polizei und Gefängnisse zur Lösung unserer Probleme heranziehen“, schreibt Vitale, werden die „miteinander verflochtenen Systeme der Unterdrückung“ verstärkt.15 Laut Umfragen findet längst auch ein Großteil der Bevölkerung, dass das System schlicht nicht funktioniert. Doch wirklich tiefgreifende Reformen werden trotz vieler Ankündigungen kaum umgesetzt. Exemplarisch dafür 12 Vgl. www.mappingpoliceviolence.us. 13 The Demand for Money Behind Many Police Traffic Stops, www.nytimes.com, 31.10.2021. 14 Victoria Law und Maya Schenwar, Prison by Any Other Name, New York und London 2020. 15 Alex Vitale, The End of Policing, London und New York 2017.

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102 Lukas Hermsmeier steht US-Präsident Joe Biden, der noch im Wahlkampf 2019/2020 versprach, die Gefängnispopulation um mehr als die Hälfte zu verringern, als Präsident nun aber genau das Gegenteil tut. Seit Biden im Weißen Haus sitzt, ist die Zahl der Insassen in staatlichen Gefängnissen sogar noch gewachsen. Im Sommer vergangenen Jahres präsentierte Biden den milliardenschweren „Safer America Plan“, der zwar auch Investitionen in Community-Programme vorsieht, aber unter dem Strich vor allem auf den Ausbau der Polizei setzt. 100 000 weitere Polizeistellen sind für die kommenden Jahre geplant. Sollte die Gesetzesinitiative an den Republikanern im Kongress scheitern, hätte das allein machtstrategische Gründe. Denn im Ruf nach mehr Beamt:innen auf den Straßen sind sich beide Parteien eigentlich einig.

Abolitionismus: Hin zu einer sozialen, demokratischen Gesellschaft Oder funktioniert das System genau so, wie es funktionieren soll? Das zumindest glauben diejenigen, die die Institutionen Polizei und Gefängnis am radikalsten kritisieren. Aus der Überzeugung heraus, dass der Strafapparat nicht reformierbar sei, fordern sie eine Abolition – also die Abschaffung, beziehungsweise Überwindung – des jetzigen Systems. Beim Abolitionismus, der seine Wurzeln im Kampf gegen die Sklaverei hat und als Begriff ab den 1970er Jahren von Schwarzen Linken wie Angela Davis wieder aufgenommen wurde, geht es jedoch nicht „einfach um die Abschaffung von Polizei, Gefängnissen, Grenzen oder Lagern“, wie die abolitionistische Theoretikerin Vanessa Thompson erklärt.16 „Es geht vielmehr um die radikale Transformation gesellschaftlicher Re-Produktions- und Beziehungsweisen, die nicht nur die spezifische rassistische Gewalt angreift, sondern das Gesellschaftssystem, welches Versklavung, Kolonialismus, Ausbeutung und systematische Unterdrückung und Enteignung hervorgebracht hat und weiter hervorbringt.“ Der Frankfurter Wissenschaftler Daniel Loick bezeichnet den Abolitionismus daher auch als „doppelte Bewegung“, die gleichermaßen den Abbau bestrafender und den Aufbau sozialer und demokratischer Strukturen verfolgt.17 Die abolitionistische Bewegung hat mit dem Aufstieg von Black Lives Matter (BLM) seit 2013 neuen Auftrieb erhalten. Ging es zu Beginn von BLM jedoch primär um die kurzfristige Mobilisierung mittels Hashtags und Demonstrationen für reformistische Forderungen wie Körperkameras für Polizist:innen oder mehr Diversität in den Behörden, gibt es mittlerweile in jeder großen US-Stadt Kollektive, die sich der langfristigen Organisierung, also der Community-Arbeit und Vernetzung mit anderen Gruppen, angenommen haben und klare abolitionistische Ziele verfolgen. Vor allem seit den Massenprotesten und Ausschreitungen nach dem Mord an George Floyd im Sommer 2020 wirkt der Abolitionismus bis in den Mainstream hinein. So gab bei einer Gallup-Umfrage im August 2020 erstmals seit Erhebung mehr als 16 Vanessa Thompson, Von Black Lives Matter zu Abolitionismus, www.akweb.de, 25.5.2022. 17 Was ist Abolitionismus, Herr Loick?, www.philomag.de, 15.7.2022.

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Chicago: Prävention statt Polizei 103 die Hälfte der Befragten an, der Institution Polizei nicht mehr zu vertrauen. Mit Politiker:innen wie Rossana Rodriguez in Chicago, Robin Wonsley in Minneapolis oder Tiffany Caban in New York ist die Bewegung mittlerweile auch in manchen Parlamenten vertreten. Der Abolitionismus ist bislang eine Minderheitenposition. Dass die Bewegung trotzdem an den Grundfesten der USA rüttelt, erkennt man vielleicht am stärksten an der extremen Gegenwehr, die sie erfährt. Wie schon in den 1960er und 70er Jahren, als auf das Civil Rights Movement eine weiße, reaktionäre Gegenbewegung folgte, haben liberal-konservative bis rechte Kräfte auch in den vergangenen Jahren ihre Law-and-Order-Politik spürbar verschärft. Einschneidendes Ereignis ist hier ebenso der Aufstand von 2020 infolge des Mordes an George Floyd, dem mit einer Vielzahl repressiver Maßnahmen begegnet wurde. Tag für Tag sah man damals Bilder von Polizisten, die mit Knüppeln, Gummigeschossen und Tränengas gegen die Demonstrierenden vorgingen. Überall im Land wurden Ausgangssperren verhängt und die Nationalgarde eingesetzt. Donald Trump bezeichnete die Demonstrierenden als „Terroristen“ und gab demokratischen Bürgermeister:innen die Schuld am Chaos in den Städten. Die meisten Demokraten wiederum wehrten den Vorwurf, zu milde zu sein, mit einer „tough on crime“-Politik ab. Die seither intensivierte „Crime Panic“ ist ein Zeichen dafür, dass die Hegemonie von Polizei und Gefängnissen zunehmend autoritär behauptet wird.

»Common justice«: Alternativen zum Gefängnis Wie aber lässt sich die in den USA so tiefsitzende „Kultur der Kontrolle“ durchbrechen? Wie baut man verlässliche Sicherheitsstrukturen jenseits der bestehenden Institutionen auf? Wie schützt man Menschen, die Opfer von Gewaltverbrechen wurden? Will der Abolitionismus Mehrheiten gewinnen, muss er für diejenigen funktionieren, die primär unter Gewalt leiden: arme und nichtweiße Menschen, Frauen und Queers. Die Bürgerrechtsanwältin Michelle Alexander merkte 2019 in einem Gastbeitrag in der „New York Times“ an, dass sich viele der Gefängnis-Reformer:innen in den vergangenen Jahren überwiegend für die Dekriminalisierung von Drogen und die Reduzierung von Strafen für kleinere Delikte eingesetzt hätten.18 Das Problem der Gewalt sei dabei vermieden worden – oftmals um der rechten „Crime Panic“ kein Futter zu geben. Wer aber an einem Abbau des Strafsystems interessiert sei, müsse sich auch „mit der Gewalt in unseren Communities auseinandersetzen“. Dazu muss man wissen: Mehr als die Hälfte aller Gefängnisinsassen in den USA sind wegen „violent felonies“ verurteilt, wegen Taten also, die als „gewalttätig“ eingestuft wurden.19 Mit ihrer Kritik bezog sich Alexander auch auf sich selbst. In ihrem 2010 veröffentlichten Bestseller „The New Jim Crow“, in dem sie den Weg von der Sklaverei zur Masseninhaftierung nachzeichnet, geht es vor allem um die 18 Rachel Kushner, Is Prison Necessary?, in: „New York Times Magazine“, 21.4.2019. 19 Vgl. www.prisonpolicy.org.

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104 Lukas Hermsmeier verheerenden Effekte des „War on Drugs“. Einen ähnlichen Fokus hat die preisgekrönte Dokumentation „13th“ von Filmemacherin Ava DuVernay, die 2016 in die Kinos kam und den Diskurs ebenso nachhaltig geprägt hat. Doch anstatt sich für die Masseninhaftierung von gewalttätigen Menschen auszusprechen, verweist Alexander in ihrem Gastbeitrag auf die Arbeit der Organisation „Common Justice“. Diese hat als erste in den USA ein Programm der „restaurativen Gerechtigkeit“ entwickelt, das nicht nur Jugendlichen, sondern auch erwachsenen Opfern und Tätern von Verbrechen angeboten wird und speziell schwere körperliche Gewalt adressiert.

»Restaurative Gerechtigkeit«: Konfrontation und Wiedergutmachung Wie die Arbeit von „Common Justice“ konkret abläuft, beschreibt Gründerin Danielle Sered in ihrem Buch „Until We Reckon“. Voraussetzung sei dabei immer die Bereitschaft der survivors, wie Sered die Opfer und Überlebenden von Gewalttaten nennt. Nur wenn diese zustimmen, könne das 15 Monate dauernde Programm beginnen. Die survivors werden zunächst gebeten, ihre Forderungen zu nennen. Dann wird überlegt, wie diese umgesetzt werden können. So schreibt Sered, dass sich ein Teilnehmer, der Opfer einer Messerattacke geworden war, wünschte, dass die Täter ihn mehrere Male am Tatort treffen und dort respektvoll begrüßen. Auch Entschädigungszahlungen können eine Bedingung sein. In fast allen Fällen müssen die Täter eine Form von Community-Arbeit leisten. Feste Säulen des Programms sind zudem psychologische Betreuung und regelmäßige Gesprächskreise, in denen beide Seiten gemeinsam versuchen, die Tat und ihre Ursachen zu ergründen. Beeindruckend sind Sereds Ausführungen auch deshalb, weil darin weder menschliche Gefühle idealisiert noch simple Lösungswege vorgegeben werden. Zu Wort kommen Menschen, die auf unterschiedliche Weise mit Gewalt in Berührung gekommen sind und ihre ambivalenten Gefühle reflektieren. Da ist zum Beispiel eine Mutter, die ihre Rachefantasien nicht ablegen kann, nachdem ihr Sohn schwer verprügelt und ausgeraubt worden ist, zugleich aber weiß, dass eine harte Strafe für den ebenfalls jungen Täter weder Gerechtigkeit noch Sicherheit bringen würde. An anderer Stelle erklärt ein Jugendlicher namens Pablo, warum er sich dafür eingesetzt hat, dass die Person, die ihn mit einer Pistole bedroht hat, aus dem Gefängnis entlassen wird: Als Bedingung konnte Pablo nämlich vom Täter einfordern, dass dessen Clique ihn künftig nicht mehr belästigen wird. Deutlich wird, dass fast alle Teilnehmenden am Anfang große Zweifel haben, am Ende aber auch ein tiefergehendes Gefühl von Gerechtigkeit verspüren. „Common Justice“ demonstriert, dass es längst nicht mehr nur theoretische, sondern praktische Alternativen zum jetzigen Strafsystem gibt. Von der Politik werden solche Ansätze allerdings bislang größtenteils ignoriert. Damit wären wir wieder bei Brandon Johnson, dem neuen Bürgermeister von Chicago. Dessen Wahlsieg zeigt, dass der Weg zu einer Politik der Gewaltprävention auf progressive Bündnisse angewiesen ist. Johnson hatte

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Chicago: Prävention statt Polizei 105 im Wahlkampf nicht nur die mächtige Chicago Teachers Union hinter sich, sondern auch zahlreiche abolitionistische Gruppen, die sich deutlich radikaler als Johnson positionieren. Dieser wolle Polizei und Gefängnis zwar nicht abschaffen, so erklärt es die Abolitionistin Maya Schenwar, dafür aber kämpfe er umso überzeugender für den Ausbau sozialer Infrastrukturen und alternativer Formen der Justiz.20 Möglich wurde Johnsons Erfolg also auch deshalb, weil es zumindest temporär eine progressive Einheit in Chicago gab.

Starke progressive Einheit in Chicago Betrachtet man die gegenwärtige US-Linke als Ganzes, stellt sich die fehlende Einheit als eine der größten Herausforderungen dar.21 Einerseits hat in den vergangenen Jahren eine Rehabilitierung des Sozialismus stattgefunden, die sich unter anderem in der Popularität von Bernie Sanders, dem Wachstum der Democratic Socialists of America und militanten Arbeitskämpfen ausdrückt. Andererseits ist mit Black Lives Matter eine neue antirassistische Bewegung gewachsen, die verstärkt die Ideen des Abolitionismus verbreitet. Diese beiden Stränge entwickeln sich nicht getrennt voneinander, sie berühren und bereichern sich. Auffällig sind dennoch die Unterschiede, was Zusammensetzung, Methoden und Prioritäten betrifft: Während die sozialistische Bewegung – als weiß codiert – in erster Linie zwischen wahlpolitischer Arena und Gewerkschaften zu Stärke gekommen ist, hat sich die abolitionistische Kraft – Schwarz codiert – außerhalb der Institutionen geformt, durch Straßenproteste und in Community-Kollektiven. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Während die eine Bewegung Umverteilung vom Staat fordert, fordert die andere den Staat als solchen heraus. Nur wenn sich diese beiden Stränge vereinen, wird die US-Linke auf lange Sicht aus ihrer Defensive herausfinden – davon sind auch Autor:innen wie Tobi Haslett, Kay Gabriel und Gabe Winant überzeugt.22 Der Erfolg von Brandon Johnson in Chicago offenbart, dass die Trennung auch weder analytisch noch strategisch funktioniert. Wer ökonomische Ungerechtigkeit adressieren möchte, muss sich zwangsläufig mit der Rolle von Polizei und Gefängnissen beschäftigen. Und wer die Abhängigkeit von Polizei und Gefängnissen abbauen will, muss den Aufbau universeller Programme und öffentlicher Infrastrukturen vorantreiben. Sollte Johnson mit seinem Ansatz in Chicago erfolgreich sein, trotz aller konservativen Widerstände, könnte die Stadt zum Vorbild für eine Politik der Gewaltprävention werden – und damit für die USLinke als Ganzes. Bis dahin ist es allerdings noch ein langer Weg. 20 Im Gespräch mit dem Autor am 15.3.2023. 21 Zur Lage der US-Linken siehe auch Lukas Hermsmeier, Uprising. Amerikas neue Linke, Suttgart 2022. 22 Vgl. Tobi Haslett, Magic Actions, www.nplusonemag.com, 2021; Kay Gabriel, Eric Adam’s Moral Panics, www.jewishcurrents.org, 19.4.2022 sowie Gabriel Winant, We Live in a Society, www.nplusonemag.com, 12.12.2020.

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DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem: • »Wir beobachten derzeit eine beispiellose Welle an Hinrichtungen im Iran« Bericht zur Todesstrafe weltweit von Amnesty International, 16.5.2023 (engl. Original) • »Die Ukraine kann sich auf Deutschlands volle Unterstützung verlassen, humanitär, wirtschaftlich und mit Waffen, aber vor allem: auf Dauer« Rede von Olaf Scholz bei der Verleihung des Karlspreises an Wolodymyr Selenskyj, 14.5.2023 • »Ein echter Krieg wird gegen Russland geführt« Rede von Wladimir Putin am »Tag des Sieges«, 9.5.2023 (engl. Fassung) • »Um das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen, muss das Tempo der Emissionsminderung in Deutschland verdreifacht werden« OECD-Wirtschaftsberichte Deutschland, 8.5.2023 • »Die extreme Hitze in der westlichen Mittelmeerregion im April war dem Klimawandel geschuldet« Bericht des internationalen Forscher-Netzwerks »World Weather Attribution«, 5.5.2023 (engl. Original) • »Die größten Triebkräfte für Ernährungskrisen sind Wirtschaftsschocks und der Ukrainekrieg« Jahresbericht des Globalen Netzwerks gegen Ernährungskrisen, 4.5.2023 (engl. Original) • »Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland so viele Journalist:innen angegriffen wie noch nie zuvor« Rangliste der Pressefreiheit von »Reporter ohne Grenzen«, 3.5.2023 • »Unsere strategischen Ziele sind die Beendigung der Aggression gegen die Ukraine und die Errichtung eines freien, von Recht und Gesetz geprägten Russlands auf der Grundlage der Prinzipien des Föderalismus« Erklärung der »Russian Democratic Forces«, 30.4.2023 (engl. Fassung) • »Die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist durch den Medikamentenmangel europaweit gefährdet« Offener Brief an die Ministerinnen und Minister für Gesundheit der Länder Deutschland, Frankreich, Südtirol (Italien), Österreich und der Schweiz, 27.4.2023 • »Europa hat sich in den letzten Jahrzehnten schneller erwärmt als jeder andere Kontinent« Jahresbericht des Klimawandel-Dienstes des europäischen Erdbeobachtungsprogramms Copernicus (C3S), 20.4.2023 (engl. Original) • »Ein Tempolimit von 130 km/h in Deutschland würde einen jährlichen Wohlfahrtsgewinn von 950 Millionen Euro bedeuten« Studie im Wissenschaftsjournal »Ecological Economics«, 20.4.2023 (engl. Original)

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Reaktionäre Reaktion Wie die Kritik an linker Identitätspolitik in rechtes Identitätsdenken kippt Von Markus Linden

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und um die Kritik an linken Identitätspolitiken hat sich hierzulande und anderswo ein ganzes Medien- und Publikationsfeld gebildet. Das Anprangern von „Woke*-Wahnsinn“1 ist zum Geschäftsmodell geworden. Auch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen beteiligen sich an diesem Furor, der mit der monothematischen Manie des fundamentalistischen Teils der anderen Seite locker mithält. Mit der ominösen Wokeness hat der Konservatismus ein in seinen Augen willkommenes Abgrenzungsnarrativ gefunden. Dabei kommt es unter dem Label des Pluralismus zur Akzeptanz von Allianzen, die offensichtlich genutzt werden, um rechtes Identitätsdenken zu propagieren. Ja, mehr noch: In einer Art Übersprungshandlung, hervorgerufen auch durch die eigene Ideenlosigkeit, greifen selbst (im demokratietheoretischen Sinn) republikanisch orientierte Autoren zunehmend auf das Vokabular rechten Denkens zurück. So ist im internationalen Diskurs der längst überwunden geglaubte Nationalismusbegriff wieder en vogue, was die selbsterklärten rechten Gegner von Pluralismus und Gewaltenteilung nur erfreut. Sie streben ganz gezielt solche Allianzbildungen aktiv an, wobei der angebliche Kampf gegen identitätspolitisch-moralisierende Bevormundung als argumentatives Einfallstor bis hin zu liberalen Milieus dient. Das Ziel ist die Erlangung rechter Diskurshegemonie unter dem Deckmantel einer angeblichen Freiheitsorientierung. Auf den ersten Blick scheint Kritikern der Identitätspolitik die Abgrenzung vom rechten Populismus sehr wichtig zu sein. So distanziert sich etwa die neue konservative „Denkfabrik Republik 21“ rund um den Historiker Andreas Rödder und die ehemalige CDU-Ministerin Kristina Schröder in einem programmatischen „Manifest“2 explizit vom linken und rechten Identitätsdenken und warnt vor einer dadurch bewirkten „Polarisierung der Öffentlichkeit“. Jedoch wurden auf der hauseigenen Tagung zum Thema „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?“ kritiklos Akteur:innen präsentiert, die wenig Berührungsängste aufweisen 1 Vgl. Judith Sevinç Basad und Hans-Jörg Vehlewald, Woke*-Wahnsinn in Deutschland. Wie *wache Aktivisten bestimmen wollen, was wir noch sagen und tun dürfen, www.bild.de, 16.6.2021. 2 Vgl. Denkfabrik R21, Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?, www. denkfabrik-r21.de, 7.11.2022; siehe dazu auch Albrecht von Lucke, Ukrainekrieg und Klimakrise: Die geschürte Polarisierung, in: „Blätter“, 1/2023, S. 5-8, hier: S. 7 f.

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108 Markus Linden oder selbst für eine radikal-polarisierende Marschrichtung stehen.3 Judith Sevinç Basad arbeitet für den Youtube-Krawallkanal des ehemaligen BildMachers Julian Reichelt. Sandra Kostner und Susanne Schröter (eine Initiatorin von R21) gehören dem siebenköpfigen Vorstand des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit an, zu dem mit dem Juristen Gerd Morgenthaler auch ein dezidierter Rechtsaußen gehört, der mit den Gleichgesinnten Max Otte und David Engels die Oswald-Spengler-Gesellschaft leitet. Kristina Schröder wiederum macht Reichelts Medienformat hoffähig, indem sie sich im Januar ausführlich vom Mitarbeiter Ralf Schuler (ehemals „Bild“) interviewen lässt.4 Bei Viktor Orbáns Regime-Thinktank Mathias Corvinus Collegium (MCC) erläutert Schuler freimütig, dass Reichelts Auftritte analog zur Show des bekannten ehemaligen Fox-News-Propagandisten Tucker Carlson stünden, während sein eigenes Interviewformat andere Zuschauervorlieben bediene.5 Die MCC-Konferenz „The Future of Publishing“ war ein Stelldichein der internationalen rechtsradikalen Medienszene, aber auch Konservative kamen.6 Mit diesen Verbündeten möchte Orbán, wie er im August 2022 auf der rechtsradikalen CPAC-Konferenz in Dallas ausführte, in den „Kulturkrieg“ gegen den „Woke Globalist Goliath“ ziehen.7 Dem Aufzeigen derartiger Strukturen wird gerne mit dem Vorwurf begegnet, auf „Kontaktschuld“ zu rekurrieren – als wüssten die Beteiligten nicht, mit wem sie es zu tun haben. Ganz offensichtlich ist es die Taktik rechter Akteure, sich mit (liberal-)konservativen Kritikern linker Identitätspolitik gemeinzumachen und wahlweise deren pluralistische Impulse oder gespielte Naivität auszunutzen. Wer gegen das angebliche Canceln ist, tut sich naturgemäß schwer bei der Abgrenzung, so das Kalkül. Rechte Aktivisten wie Morgenthaler, Engels, Ulrich Vosgerau, Heinz Theisen, Harald Seubert (alle im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit) oder eben Viktor Orbán machen sich das zunutze. Portale wie „Achtung Reichelt“, „Tichys Einblick“, „Achse des Guten“ oder „Bild.TV“ garantieren Zuspruch und Applaus, sodass auch für die schlicht aufmerksamkeitsheischenden Milieus, die sich dazugesellen, etwas geboten wird. Es konsolidiert sich eine mit Fox-News vergleichbare Szene, für die linke Identitätspolitik als wichtiger Teil eines negativen Gründungs- und Selbstvergewisserungsmythos fungiert. Etwas Besseres hätte Rechtsidentitären auch nicht passieren können. Die Angriffspunkte gegen linkes Identitätsdenken, das sich freilich aus emanzipatorischen Motiven speist, liegen schließlich auf dem Tisch. Zu offensichtlich ist der Befund, dass positive Diskriminierungen durch Quoten, Fälle extensiver Aneignungsverbote (bis hin zum Reggae) sowie Opfergruppen3 Vgl. den Mitschnitt der Veranstaltung, Denkfabrik R21, Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?, www.youtube.de, 7.11.2022. 4 Vgl. Schuler! Fragen, was ist, „Wir haben Menschen alleine sterben lassen“ – Kristina Schröder bei „Schuler! Fragen, was ist“, www.youtube.de, 19.1.2023. 5 Vgl. Konferencia a Publikálás Jövőjéről – Üzleti modellek: Lehet-e nyereséges az online média?, www.youtube.de, 20.2.2023. 6 Programm abrufbar unter MCC, MCC Conference on the Future of Publishing, www.mcc.hu, 1.3.2023. 7 Vgl. Viktor Orbán, Speech by Prime Minister Viktor Orbán at the opening of CPAC Texas, www. miniszterelnok.hu, 4.8.2022.

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bildungen, die über emanzipatorische Gleichheitsansprüche hinausgehen, mit eben jenem Gleichheitsanspruch in der Demokratie kollidieren (können). Wenn Argumente nur noch von bestimmten Personen und mit ausgefeilter Geheimbegrifflichkeit legitim vorgetragen werden dürfen, verliert die politische Öffentlichkeit ihr Allgemeinheitserfordernis. So weit, so einleuchtend. Das Geschäft vieler Kritiker:innen besteht aber darin, einzelne Phänomene zu einem verzerrten Gesamtbild aufzubauschen und bestehende gruppenspezifische Benachteiligungen pauschal und kontrafaktisch in Bevorzugungen umzudeuten. Neben Geschäftssinn, emotionaler Aufwallung und populistischen Ambitionen ist dafür vor allem ein Faktor verantwortlich: die normative Ideenlosigkeit eines bürgerlich-konservativen Denkens, das seine Felle davonschwimmen sieht und sich deshalb gerne an ewig gleichen Abgrenzungsnarrativen abarbeitet. Insofern besteht eine Hoffnung der Rechten darin, vermittelt über Allianzen bei der Kritik an der linken Identitätspolitik eine Diskurshoheit im inhaltlich verwaisten Spektrum des (Liberal-)Konservatismus zu erlangen. Deutschland hinkt hier noch etwas hinterher, denn international geht dieses Bemühen über eine rein negative Buzzword-Kritik an „Gender“, „Cancel Culture“ und „Wokeism“ hinaus. Analog zur Debatte über „Leitkultur“ zu Beginn des Jahrtausends erhält insbesondere ein noch stärker exkludierend-homogenisierender, von der Rechten seit einigen Jahren gezielt stark gemachter und eigentlich längst überwunden geglaubter Orientierungsbegriff Bedeutung: „Nationalismus“. Selbst Vertreter des liberal-konservativen Spektrums finden Gefallen an einer expliziten Bezugnahme darauf, wobei wie zur Rechtfertigung regelmäßig Gegensätze wie „liberaler“ oder „inklusiver Nationalismus“ beschworen werden. Die Antwort auf linke Identitätspolitiken besteht deshalb immer häufiger in einem letztlich reaktionären Identitätsdenken, das nur die Wahl zwischen Nationalismus pur (Orbán, PIS, Trump, Le Pen, Vox, FPÖ etc.) und dessen vermeintlich liberalen Abschwächungen lässt. Die Gefährlichkeit liegt darin, dass einerseits das verzerrte Bild einer linken Hegemonie gezeichnet wird, tatsächlich aber eine rechte Diskursverschiebung stattfindet, an der sich auch demokratische Akteure beteiligen, denen vor lauter Abgesangsrhetorik schlichtweg die Leitmotive ausgegangen sind.

Die Schriften Mark Lillas als Seismograph Auf der Ebene politischen Denkens bilden die Schriften des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Mark Lilla einen hervorragenden Seismographen für die beschriebene Tendenz zur bewussten Aufweichung notwendiger Distinktionen. Dies gerade deshalb, weil Lilla nicht zu den offen gegen die Gewaltenteilung arbeitenden Wissenschaftler- bzw. Aktivistengruppen der sich selbst so bezeichnenden „Postliberals“8 oder „National Conserva8 Vgl. www.postliberalorder.substack.com.

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110 Markus Linden tives“9 gehört. Lilla beschäftigt sich sogar im Gegenteil mit der mitunter absurd rückwärtsgerichteten Wechselwirkung zwischen politischem Denken und gesellschaftlicher Entwicklung. In seinen Büchern wird der Hang europäischer Intellektueller zu totalitarismusfreundlichen und reaktionären Ideen thematisiert.10 Er wäre damit eigentlich der geborene Beschreiber der Szene um rechte US-Wissenschaftler wie Patrick Deneen oder Adrian Vermeule, deren oft theokratisch inspirierter Antiliberalismus das Modell Orbán anpreist.11 Dazu kann nämlich mit Lilla konstatiert werden, „dass die Versuchung, die politische Theologie wieder aufleben zu lassen, stets lebendig ist“.12 Freilich blieben seine Arbeiten mit dieser Thematik trotz Übersetzung eher ein Fall für das Fachpublikum. Einer größeren Öffentlichkeit wurde Mark Lilla hingegen mit seiner Kritik der Identitätspolitik bekannt. Sein Buch „The Once and Future Liberal“ aus dem Jahr 2017 markiert einen durchaus gehaltvollen Beitrag zur Debatte. Lilla wendet sich darin gegen den Subgruppismus des linken Identitätsdenkens, vergisst aber auch nicht, dass Nationalismus, Tribalismus und Autoritarismus identitätspolitische Gefahren von rechts darstellen.13 Maßstab des Buches ist das klassische „Wir“ republikanischer Demokratietheorien, also die Einforderung eines gemeinsamen Bezugsrahmens politischen Handelns. Explizit bezieht sich Lilla auf eine liberale Tradition inklusiver Staatsbürgerschaft.14 Streiten kann man über seine teils harsche Wortwahl („no one is interested in your personal testimony“)15 und gewiss auch über seine recht monokausale Erklärung des Trumpismus als Gegenbewegung – ein Erklärungsmuster also, dass den Konservatismus tendenziell zu sehr aus der eigenen Verantwortung lässt. Lilla schreibt, wie er selber sagt, als „frustrierter amerikanischer Liberaler“, der sich gegen eine „Ideologie“ wendet, die dem liberaldemokratischen Amerika die integrative „Vision“ für alle verbaue:16 partikularistische Identitätspolitik von links. Dass nun aber speziell ein neuer Nationalismus keine demokratisch angemessene Programmatik darstellt, hat Lilla an anderer Stelle eigentlich deutlich gemacht. In seinem 2016 erschienenen Buch über den „Geist der Reaktion“ benennt er den „Nationalismus“ explizit als Kernelement reaktionären Denkens seit der Französischen Revolution.17 Die „ideologischen Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts wie Marxismus, Faschismus und Nationalismus“ seien „‚politische Religionen‘, komplett ausgestattet mit Propheten, Priestern und Tempelop9 Vgl. www.nationalconservatism.org. 10 Vgl. Mark Lilla, Der hemmungslose Geist. Die Tyrannophilie der Intellektuellen, München 2015; Der Glanz der Vergangenheit. Über den Geist der Reaktion, Zürich 2018. 11 Vgl. z.B. Fanni Kaszás, Deneen: Hungary as a Model in US Conservative Circles, www.hungarytoday.hu, 26.11.2019; Hungarian Conservative, Hungary Resists the Disruptive Tendencies of Liberalism — An Interview with Harvard Professor Adrian Vermeule, www.hungarianconservative.com, 12.2.2023; zum Spektrum vgl. Markus Linden, Das Heerlager der Scheinheiligen. Der Neue Christliche Fundamentalismus in Rechtslehre, Publizistik und Politik, in: „Kritische Justiz“, 2/2022, S. 191-206. 12 Vgl. Mark Lilla, Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religion, München 2013, S. 284. 13 Vgl. Mark Lilla, The Once and Future Liberal. After Identity Politics, New York 2017, S. 130. 14 Ebd., S. 120. 15 Ebd., S. 113. 16 Ebd., S. 6 f. 17 Vgl. Mark Lilla, Der Glanz der Vergangenheit. Über den Geist der Reaktion, Zürich 2018, S. 19 f.

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fern“.18 Die Sache schien also klar zu sein. Ein republikanischer Theoretiker, der sich an den Leitideen von Alexis de Tocqueville und Hannah Arendt ausrichtet, übt Kritik an einem Partikularismus, der seines Erachtens die gleiche Staatsbürgerschaft und das geteilte Bürgerschaftsethos unterläuft, obwohl die antidiskriminierende Intention doch Gleichheit verspricht. Nun zeigen aber Lillas Publikationen nach 2017 paradigmatisch, dass die Frustration selbst diesen Autor in jene Gefilde tragen kann, die er in früheren Jahren ausgeleuchtet hatte. Lilla ist kein Rechter, aber er kokettiert mit der Rechten.

Lilla, Hobbes und Maréchal: Der Flirt mit der rechten Identitätspolitik Mitentscheidend dafür dürfte das subjektive Eingeständnis des Scheiterns der eigenen Programmatik sein. In einem Text aus dem Jahr 2020 setzt sich Lilla mit der Zukunftsfähigkeit des „modernen demokratischen Patriotismus“ à la Tocqueville auseinander.19 Es handelt sich um ein reines Abgesangsstück ohne jegliche zukunftsweisende Idee. Für Lilla ist der demokratische Staatsbürgerpatriotismus, den er selbst noch am Ende seines Buches über Identitätspolitik aus dem Jahr 2017 vertrat, nunmehr gestorben. Der diagnostizierten gesellschaftlichen Spaltung hat er drei Jahre später nichts mehr entgegenzusetzen, kritisiert aber weiterhin die angeblich alles überwölbende Moralisierung der Politik – diesmal in Anlehnung an Organismusanalogien (der Staat als „Körper“ mit defektem „Immunsystem“) und Hobbes: „All that’s left is a moralistic and emotive war of all against all“, so Lilla. Der Ideengeschichtler spielt mit den offensichtlichen Bezugspunkten. Er weiß, dass Hobbes den vertraglichen Ausweg aus dem vermeintlichen „Krieg aller gegen alle“ in der fast totalen Unterwerfung sah, während Carl Schmitt nach zumindest vergleichbarer Diagnose und Moralisierungskritik aus der Not eine Tugend machte. Freund-Feind-Denken und innerstaatlicher Monismus waren Schmitts Antworten auf die angeblich durch den Liberalismus hervorgerufene Krise. Das bleibt jedoch im Text Lillas unausgesprochen, genauso wie er unterschlägt, welche partizipatorischen und pluralismuskompatiblen Integrationsmechanismen Tocqueville benennt (Gewaltenteilung, Föderalismus, Vereinigungen etc.). Lust am Abgesang, mangelnde Differenzierung und die geradezu störrische Verweigerung gegenüber prozeduralem Pragmatismus kennzeichnen Lillas jüngere Essays. Darüber hinaus flirtet der Autor mit den Versatzstücken rechter Identitätspolitik. Im Dezember 2018 setzt er sich mit der französischen Rechten auseinander.20 Lilla sieht hier einen für Kontinentaleuropa paradigmatischen Weg für einen möglichen neuen Konservatismus, der zwischen dem radikalen 18 Ebd., S. 50. 19 Vgl. Mark Lilla, Farewell to America’s Modern Democratic Patriotism?, Reset – Dialogues on Civilizations, www.resetdoc.org, 20.11.2020. 20 Vgl. Mark Lilla, Two Roads for the New French Right, in: „New York Review of Books“, 20.12.2018, S. 42-46.

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112 Markus Linden Rechtspopulismus und klassischen konservativen Parteien angesiedelt sei. Die von ihm ausgemachte, angeblich jenseits von Marine und Jean-Marie Le Pen agierende intellektuelle Strömung zeichne sich durch den Bezug auf eine „organische Konzeption von Gesellschaft“ aus, die man vom 19. Jahrhundert kenne. Das betreffe Rollen- und Pflichtenverständnisse in der Familie sowie die Ausrichtung an der „Perpetuierung des Lebens des zivilisatorischen Organismus“, also gerade die Ablehnung eines Gesellschaftsbilds, dass auf „autonomen Individuen, die Rechte tragen“ beruhe. Lilla ist explizit beeindruckt von der antiindividualistischen, antineoliberalen und antikosmopolitischen Ausrichtung dieser Weltsicht, die zudem offensiv den klassischen Links-rechts-Gegensatz überwinde. Kurzum: Er bietet eine positive Beschreibung gängiger Querfrontnarrative, wie sie rechtsradikale Öffentlichkeiten seit vielen Jahren anbieten. Zum reaktionären Bezug auf Organismusanalogien genügt der antiindividualistische, kapitalismuskritische und ökologische Tenor, den die von ihm beschriebenen französischen Jungintellektuellen anzubieten haben. Natürlich geschieht das mit einer routiniert beschreibenden Alibidistanz. Am Ende steht aber bei Lillas Analyse die Hoffnung, dass ein „erneuerter, eher klassisch organischer Konservatismus“ als „moderierende Kraft in den derzeit unter Stress stehenden europäischen Demokratien“ fungieren könne. Dafür setzt er auf Marion Maréchal, die gerade eine eigene private Bildungseinrichtung in Lyon gegründet hat (das ISSEP). Sie könne nach dem Vorbild Macrons eine integrative Bewegung von rechts bilden, so Lilla. Einstweilen fungiert Maréchal jedoch als Stargast rechtsradikaler Akteure in Europa, etwa beim Thinktank Ordo Iuris in Polen, mit dessen Kaderschmiede Collegium Intermarium seit 2021 eine Kooperationsvereinbarung besteht.21 Die Enkelin Jean-Marie Le Pens konnte Lilla mit ihrem knapp zehnminütigen Vortrag auf einer CPAC-Konferenz im Jahr 2018 beeindrucken.22 Sie hätte sich darin gegen Egoismus und Individualismus gewandt, schreibt er.23 Das ist Etikettenschwindel, denn es handelt sich um eine handelsübliche rechte Hetzrede, in der vor der Verletzung des „Naturrechts“ durch „Eugenik“, „Euthanasie“, „Transhumanismus“ und das „Gender-Theoriedelirium“ gewarnt und Trump gefeiert wird.

Ein geschlossen-überhöhtes Verständnis von Nation Von der Sympathie für Organismusanalogien ist es nicht weit zu einem geschlossen überhöhten Verständnis von Nation, für das der Begriff „Nationalismus“ Pate steht. Schon im Jahr 2018 formuliert Lilla einen Gegensatz zwischen einem „ungesunden“ und einem vermeintlich „liberalen“ bzw. „gesunden Nationalismus“, bezieht sich dann aber explizit auf den „Repu21 Vgl. Ordo Iuris Institute for Legal Culture, A response to the crisis of academic life – an agreement between Collegium Intermarium and ISSEP, www.en.ordoiuris.pl, 5.10.2021. 22 Vgl. CPAC, CPAC 2018 - Marion Maréchal-Le Pen, www.youtube.com, 22.2.2018. 23 Vgl. Mark Lilla, Two Roads for the New French Right, a.a.O., S. 42.

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blikanismus“ als Leitmotiv.24 Im Oktober 2022 hält er einen später publizierten Vortrag, in dem die Nationalismusidee und andere rechtsidentitäre Leitmotive dann offener präsentiert werden.25 Darin erklärt er, die normative Idee eines „liberalen Nationalismus“ zu teilen.26 Er bezieht sich dabei auf den Journalisten David Brooks, der den Kampf der Ukrainer mit diesem Ideal verbindet.27 Lilla führt aus, der Nationalismus stünde auf einer grundsätzlichen Ebene den individualistischen Auswüchsen des Liberalismus entgegen. Allerdings glaube er nicht an eine Verwirklichung der Idee des „liberalen Nationalismus“ in westlichen Gesellschaften – und zwar nicht, weil der Nationalismus mit der demokratisch-pluralistischen Idee nicht kompatibel ist, sondern weil der Westen längst „verflüssigt“ sei. Hier bezieht er sich auf Zygmunt Baumans Gegenwartsdiagnose von der „Liquid Modernity“. Die Verflüssigung im Sinne einer Auflösung hergebrachter Ordnungsmuster ist laut Lilla das zentrale Problem westlicher Gesellschaften, nicht Xenophobie. Die zentrifugalen Kräfte in westlichen Gesellschaften hätten langfristig auch stärkere Auswirkungen auf die Ukraine und auf den Westen als der gegenwärtige Krieg, behauptet er gegen Ende seines Vortrags.28 Wieder zeigt er sich monothematisch fixiert.

Die woke Bewegung als »größte Gefahr für unsere Gesellschaft« Bei Lichte betrachtet erreicht Lilla damit das Niveau von Judith Sevinç Basad, die auf der eingangs erwähnten Tagung „Wokes Deutschland“ im November 2022 ausführt: „Ich glaube, dass die woke Bewegung gerade die größte Gefahr für unsere Gesellschaft darstellt.“29 Denn unter Verflüssigung fasst Lilla einen bunten Strauß an Pluralisierungen und Liberalisierungen von Lebensstilen, die gemein haben, dem geschlossenen Denken in festen Ordnungsstrukturen entgegenzustehen. Der Soziologe Bauman hatte noch vor dem Nationalismus und verwandten monistischen Gesellschaftsmodellen gewarnt.30 Das hindert Lilla nicht daran, ihn als Gewährsmann für die Anprangerung von individueller Emanzipation und gesellschaftlicher Pluralität anzuführen. Heutige Gesellschaften seien geprägt durch: soziale Probleme von Scheidungskindern, den Zerfall sozialer Institutionen, die Zurückdrängung familiärer, nationaler und religiöser Werte sowie eine Ver24 Vgl. Mark Lilla und Michael Ignatieff, Open Society as an Oxymoron: A Conversation between Mark Lilla and Michael Ignatieff, in: Michael Ignatieff und Stefan Roch (Hg.), Rethinking Open Society. New Adversaries and New Opportunities, Budapest und New York 2018, S. 22. 25 Vgl. Mark Lilla, Should America be more like Ukraine? Western society is being liquified, www. unherd.com, 5.11.2022 und: 4libertyEu Network, Mark Lilla, Citizen and Nation. Can liberal patriotism be stronger than national attachment?, www.youtube.com, 14.10.2022. 26 Ebd., Min. 13:20-13:30. 27 Vgl. David Brooks, The Triumph of the Ukrainian Idea, www.nytimes.com, 6.10.2022. 28 Vgl. 4libertyEu Network, Mark Lilla, Citizen and Nation. Can liberal patriotism be stronger than national attachment?, www.youtube.com, 14.10.2022, ab Min. 32:10. 29 Vgl. Denkfabrik R21, Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?, www. youtube.de, 7.11.2022., 1:35:36. 30 Vgl. Zygmunt Bauman, Liquid Modernity, Cambridge/Malden 2000, S. 177 f.

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114 Markus Linden flüssigung durch „neue Ideologien fluider psychosexueller Identitäten“.31 Letzteres sei, selbstredend, der „dramatischste“ Bereich. Der für eine Demokratie notwendige Konservatismus sozialer Stabilität werde unterlaufen. Nimmt man Lillas jüngere Publikationen zum Maßstab, können nationalistische und organische Ordnungsvorstellungen hier Abhilfe schaffen. Gleichwohl distanziert er sich pflichtschuldig vom „Christian Integrism“ rund um Orbán, der ja nur ein Symptom der Krise sei.32

Bewusste Anbiederung an antipluralistisches und reaktionäres Denken Lillas aktuelle Position hat in ihrer bewussten Anbiederung an antipluralistisches und reaktionäres Denken nur noch wenig gemein mit einem staatsbürgerlichen Republikanismus. Der rekurriert zwar auf Grenzziehungen und geteilte Zugehörigkeiten, hegt aber weder Verständnis noch Sympathie für die überkommenen Ideale geschlossener Gesellschaftsmodelle mit nur geringer Anerkennung von individuellen Freiheits- und Gleichheitsrechten. Pate für eine republikanische Position, die Freiheit im bürgerschaftlichen Verbund pluraler Individuen in den Institutionen einer gemeinsamen Öffentlichkeit denkt, stehen die Arbeiten von Alexis de Tocqueville und Hannah Arendt. Wenn Lilla als Ideengeschichtler die Bezüge anders setzt, geschieht dies ganz bewusst. Damit stehen seine jüngeren Arbeiten im Kontext von anderen aktuellen Theoriesträngen, die (auch in Abgrenzung von linken Identitätspolitiken) im Begriff des „Nationalismus“ zusammenfinden und damit trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte zu einer Rehabilitierung rechten Identitätsdenkens beitragen. Erstens: Aus einer vorgeblich „realistischen“ Perspektive wird analog zu Lillas jüngsten Ausführungen argumentiert, dass Demokratien den Nationalismus – laut Mearsheimer die „mächtigste politische Ideologie auf dem Planeten“33 – als emotionales Bindeglied benötigen, um die zentrifugalen Kräfte des individualistischen Liberalismus zu bremsen. Linke Identitätspolitik stehe dem notwendigen nationalistischen Einheitsgefühl entgegen.34 Nationalismus wird dabei explizit als kulturell fundiert aufgefasst und gerade nicht als „ziviler Nationalismus“, wobei der Nationalismus im Zweifel über liberale Werte obsiege.35 Wunsch und Wirklichkeit vermischen sich bei solchen simplen Betrachtungen, da gegenläufige Tendenzen nicht einmal diskutiert werden. Zweitens: Der Nationalismusbegriff wird zudem von einem kommunitaristisch orientierten Theoriestrang reakzentuiert, wobei sich diese Lesart heute 31 Vgl. 4libertyEu Network, Mark Lilla, Citizen and Nation. Can liberal patriotism be stronger than national attachment?, www.youtube.com, 14.10.2022, ab Min. 24:00. 32 Ebd., ab Min. 30:15. 33 Vgl. John J. Mearsheimer, Bound to Fail. The Rise and Fall of the Liberal International Order, in: „International Security“, 4/2019, S. 8. 34 Vgl. John J. Mearsheimer, Liberalism and Nationalism in Contemporary America, in: „Political Science & Politics“, 1/2021, S. 6. 35 Vgl. John J. Mearsheimer, The Great Delusion. Liberal Dreams and International Realities, New Haven und London 2018, S. 114.

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mit der durch Yael Tamir gesetzten Ausrichtung am Modell des „liberalen Nationalismus“ überschneidet.36 Dabei sind nuancierte Wandlungstendenzen hin zu einer stärkeren Betonung überkommener Ordnungsmodelle feststellbar. Im Jahr 1993 wandte sich Yael Tamir gegen kommunitaristische und ethnozentrische Ausformungen des Nationalismusbegriffs.37 David Miller, ein Kommunitarier, bevorzugte für seine eigene normative Ausrichtung im Jahr 1995 noch den Begriff „nationality“ gegenüber dem Begriff „nationalism“ und wandte sich gegen statisch-konservative Verständnisweisen von Nation.38 Diese Positionierungen erfolgten vor dem Hintergrund der Kosmopolitismusdebatte. Heute, wenn es um Identitätspolitik geht, wendet sich Tamir gegen „zivilen Nationalismus“ und betont die Notwendigkeit ethnischer und kultureller Homogenität für die Demokratie.39

»Nationalismus als Tugend«? Drittens: Schließlich wird der Nationalismusbegriff heute von Rechtsradikalen und religiösen Fundamentalisten gebraucht, die sich intellektuell geben. „Nationalismus als Tugend“ heißt es programmatisch bei Yoram Hazony,40 dem Vorsitzender der Edmund Burke Foundation. Die Stiftung veranstaltet die regelmäßig stattfindende National Conservatism Conference, auf der die Stars der Szene sowie dazugehörige Politiker und Politikerinnen des prinzipiell antiliberalen, theokratischen und antidemokratischen Spektrums auftreten. Kritik an linker Identitätspolitik ist für diese Kreise ein konstitutiver Ausgangspunkt, etwa wenn die Aktivistin Eva Vlaardingerbroek über „gender madness“ referiert und dann zur Verschwörungstheorie vom großen transhumanistischen Plan globaler Eliten übergeht.41 Am Ende plädiert sie für eine Theokratie. Vlaardingerbroek ist regelmäßige „Expertin“ in den Medienformaten um Julian Reichelt. Wer sich mit dem rechtsradikalen Feld beschäftigt, und das hat Mark Lilla ebenso getan, wie es der demokratische Konservatismus in den letzten Jahren notgedrungen tun musste, dem kann nicht entgehen, dass das Gemeinmachen mit rechtsidentitären Narrativen und Aktivist:innen dazu beiträgt, diese hoffähig zu machen. Die Kritik an linker Identitätspolitik hätte eine republikanisch-konservative Ausformung verdient, also ein Beharren auf institutionellen Gleichheitserfordernissen und allgemein zugänglicher Öffentlichkeit. Das Vorbringen inklusiver und antidiskriminierender Verfahrensweisen innerhalb eines solchen institutionellen Rahmens, also die 36 Vgl. David Miller, The Coherence of Liberal Nationalism, in: Gina Gustavsson und David Miller (Hg.), Liberal Nationalism and Its Critics: Normative and Empirical Questions, Oxford 2019, S. 23-37. 37 Vgl. Yael Tamir, Liberal Nationalism, Princeton 1993, S. 11 f., 167. 38 Vgl. David Miller, On Nationality, Oxford 1995, S. 10, 129 f. 39 Vgl. Yael Tamir, Not So Civic: Is There a Difference Between Ethnic and Civic Nationalism?, in: „Annual Review of Political Science“, 2019, S. 433; Yael Tamir, Why Nationalism?, Princeton 2019, S. 158. 40 Vgl. Yoram Hazony, Nationalismus als Tugend, Graz 2020. 41 Vgl. Eva Vlaardingerbroek, Reject Globalism: Embrace God, Brussels National Conservatism Conference, www.youtube.com , 23.3.2022.

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116 Markus Linden offensive Formulierung von demokratischen Alternativen zur linken Identitätspolitik, ist jedoch intellektuell mühsamer als das plakative Bashing mit Bezug auf die immer gleichen Einzelbeispiele. Also wird gerne der einfache Weg gewählt – am besten in applaussichernden Räumen. Dadurch stärkt man aber nur die von rechtsradikaler Seite angestrebte Tendenz, in rechtes Identitätsdenken etwas Antitotalitäres hineinzuinterpretieren.

Die »egozentrische Borniertheit« des Nationalismus Hannah Arendt, deren Kritik autonomistisch-subgruppistischer Freiheitsvorstellungen gegen heutige Identitätspolitiken angeführt werden kann, stand auch der Nationalismusvokabel aus guten Gründen ablehnend gegenüber. Sie spricht von der „egozentrischen Borniertheit“ des „Nationalismus“.42 Bornierte Identitätsbildung steht ihrem Bild einer Öffentlichkeit, in der Gleiche von vorgegebenen Zuordnungen abstrahieren, um einen gemeinsamen politischen Handlungsraum zu bilden, entgegen. Wenn die Antwort auf Erscheinungsformen emanzipatorisch ausgerichteter Identität nun aber in einem reaktionär-identitären Denken besteht, besitzt eine derartige Engführung Konsequenzen, die bis hin zur grundsätzlichen Infragestellung von Gewaltenteilung und individuellen Rechten reichen. Der demokratischliberale Konservatismus hat hier gerade keine Wahl, sofern der ungarische, polnische oder US-republikanische Weg der rechten, antidemokratischen Identitätspolitik vermieden werden soll. Bei manchen Akteuren und Akteurinnen ist man sich freilich nicht so sicher. War am Ende irgendwie nur eine Notwehrreaktion, könnten sie sagen. Das kennt man irgendwoher. Immerhin aber kündet das im Vergleich zum Vorgänger wesentlich ausgewogenere Programm zur jüngsten Tagung von Republik 21 davon,43 dass die hier angemahnte Reflexion über notwendige Abgrenzungen inzwischen in vollem Gange ist.

42 Vgl. Hannah Arendt, Nationalstaat und Demokratie (1963), www.hannaharendt.de, 8.3.2022. 43 Denkfabrik R21, „Deutschland nach der Ära Merkel“, Veranstaltung am 21.3.2023, www.denkfabrik-r21.de.

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Rot gegen Grün statt Rot-Rot-Grün Der ruinöse Kampf der linken Kartellparteien Von Hendrik Küpper und Carsten Schwäbe

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ettbewerb belebt das Geschäft. So sollte es auch im Parteienwettbewerb sein. Ruinös für die Demokratie wird der Wettbewerb dagegen dann, wenn man sich für einen Vorteil sogar selbst gefährdet nach der Devise: Egal, ob es mir schlecht geht, Hauptsache, dem Konkurrenten geht es noch schlechter. Denn selbst wenn ich Stimmen verliere, ist alles gut, sofern die Konkurrenz noch mehr Stimmen verliert, weil ich damit im Ergebnis prozentual gewinne. In der Ära Merkel hieß das noch asymmetrische Demobilisierung. Den Wettbewerb gewinnen, indem man keinen produktiven Wettbewerb aufkommen lässt, mit dieser Devise hat Angela Merkel ihre Wahlsiege errungen, Deutschland jedoch auch entpolitisiert und damit den Aufstieg der AfD begünstigt. Die SPD vermochte es nicht, dagegen zu politisieren und einen produktiven Wettbewerb herzustellen. Weder versuchte sie politisch, mit radikaleren Ideen die Union zu stellen, noch betrieb sie eine aktive Bündnisarbeit, um Mehrheiten jenseits der Union zu entwickeln. Rot-Rot-Grün stand nicht zur Debatte, auch weil die SPD mit der Linkspartei nie eine Aussöhnung suchte. Die Antipathie war zwar gegenseitiger Natur, führte im Ergebnis aber dazu, dass die SPD ohne Machtoption war und folglich auch nicht als echte Alternative wahrgenommen wurde.1 Eine Alternative im linken Lager wurden dafür mehr und mehr die Grünen, die in einigen Ländern deutlich vor der SPD liegen, einen Ministerpräsidenten stellen und auch im Bund offen den Anspruch auf das Kanzleramt formulieren. Die grüne Herausforderung der SPD belebt zwar den Wettbewerb zwischen beiden Parteien. Doch in der Ampelregierung zeigt sich, wie stark dieser auch die Zusammenarbeit von Rot-Grün beeinträchtigt. SPD und FDP scheinen sich zu verbünden, um den Grünen die Grenzen ihrer politischen Programmatik aufzuzeigen, ihnen politisch zu schaden. Doch auch die Grünen haben zu dieser Situation beigetragen. Die SPD sollte bewusst als nachrangige Partei im Bundestagswahlkampf 2021 ignoriert werden. Von möglichen gemeinsamen Mehrheiten sprach man nicht. Die Grünen wollten auch auf Kosten der SPD stärkste oder zumindest zweitstärkste Kraft werden. Das grün-gelbe Selfie nach der Bundestagswahl 2021 war der 1 Vgl. Albrecht von Lucke, Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken, München 2015.

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118 Hendrik Küpper und Carsten Schwäbe Versuch, der SPD ihren Bedeutungsverlust trotz des Wahlsieges aufzuzeigen. Heute erleben wir die Konsequenz: Die früheren Koalitionspartner kannibalisieren sich selbst, um stärkste Kraft im linken Lager zu werden. Doch Stimmen für eine linke Mehrheit sammelt man so nicht, ja mehr noch: Die Hoffnung auf progressive Mehrheiten jenseits der konservativ-liberalen Parteien von Union und FDP wird aufgegeben. Dafür trägt schließlich auch die Linkspartei Verantwortung. Denn sie befeuert selbst den ruinösen Wettbewerb im linken Lager, früher vor allem durch das harte Angehen der SPD, derzeit auch durch Sahra Wagenknechts Versuch, Bewegungen oder Parteien zu gründen, die nationalistische und soziale Programmatik stärker zusammenbringen. Im schlimmsten Fall gibt es bald vier mehr oder weniger linke Parteien: zwei halbe Linksparteien, die den Einzug in den Bundestag verpassen, sowie SPD und Grüne in einem ganz eigenen desaströsen Wettbewerb.

Die jungen Progressiven und ihr Weg auf die Straße, weg von den Parteien In dieser Situation wenden sich linke, progressive Menschen zunehmend von der bekannten Parteipolitik ab oder finden gar nicht mehr den Weg in diese. Kleine, alternative Parteien wie Volt, ÖDP oder die Klimaliste erhalten vermehrt Zulauf, doch vor allem verlagert sich das politische Engagement vieler junger Menschen in Initiativen und auf die Straße: mal als große Protestaktionen von Fridays for Future, mal als Blockaden durch das Festkleben auf der Straße. Für eine wirkliche politische Veränderung ist das jedoch nicht hinreichend: Erstens decken die Initiativen und Bewegungen nur eine überschaubare Bandbreite an Themen ab. Und zweitens kommt aus gesellschaftlicher Sicht alarmierend hinzu, dass es innerhalb der jungen Generation eine messbare Differenzierung nach sozialer Herkunft gibt. Die letzte Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2019 zeigt, dass sich die ohnehin gut gebildeten Politisierten, die zumeist ebenfalls aus gut gebildeten Elternhäusern kommen, weiter politisiert haben, wohingegen die sozial Abgehängten empfänglicher für populistische Parolen und Verschwörungsideologien sind und ihr Vertrauen, etwas verändern zu können, verlieren.2 Kurzum: Den Weg in die Parteien, um diese so zu verändern, dass linke, progressive Mehrheiten wieder möglich werden, gehen die jungen Menschen (leider) nicht. Je mehr aber SPD, Grüne und FDP sich befehden und nur noch enttäuschende Kompromisse treffen, umso größer wird nicht nur der Frust, sondern auch die Dysfunktionalität des politischen Diskurses. Rot-Grün muss dann schmerzliche Kompromisse mit der FDP wie das Aufweichen des Klimaschutzgesetzes, mit dem dringende Maßnahmen im Verkehrsbereich aufgeschoben wurden, als wichtigen Baustein einer guten Klimapolitik verkaufen, statt den Rückschritt klar auszusprechen, zu kritisieren und gesellschaftliche Mehrheiten gegen diese Idee zu mobilisieren. 2 Vgl. Mathias Albert, Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel (Hg.), 18. Shell Jugendstudie. Eine Generation meldet sich zu Wort, Weinheim 2019.

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Rot gegen Grün statt Rot-Rot-Grün 119 Fest steht: Von der FDP wie von CDU/CSU sind die notwendigen strategischen Entscheidungen für den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft nicht zu erwarten. Wie sähe dagegen eine produktive Alternative aus? Eigentlich müssten die drei linken Parteien, SPD, Grüne und Linkspartei, die offensichtlichen inhaltlichen Gemeinsamkeiten bündeln und eine Vision für die nötigen sozioökonomischen, ökologischen, digitalen, demographischen und geopolitischen Transformationen entwickeln, die uns allen bevorstehen. Doch warum verstricken sich SPD, Linke und Grüne in einem ruinösen Wettbewerb, statt gemeinsam Visionen und damit Mehrheiten für ein progressives Bündnis der sozial-ökologischen Transformation zu schmieden?

Das Beispiel SPD: Von einer Massen- und Volkspartei zur Kartellpartei Am Beispiel der SPD lässt sich eine für die Arbeiterparteien des 20. Jahrhunderts insgesamt typische Entwicklung diagnostizieren. Als diese Arbeiterparteien noch eine ganze gesellschaftliche Schicht mobilisieren und organisieren konnten, fungierten sie als Massenparteien, auch in Gemeinschaft mit den Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft. Aus den Massenparteien wurden dann die bereits unideologischeren „Catch-all“-Parteien, die immer weniger in gesellschaftlichen Milieus verwurzelt sind, dafür aber umso stärker mit dem Staat, vor allem in Form personeller Verflechtungen in politischen und administrativen Positionen. Den Endpunkt dieser Entwicklung bilden die Kartellparteien. Ihnen geht es nicht mehr primär um die Maximierung ihrer Stimmenzahl, sondern um die Minimierung des Abwahlrisikos. Denn nur die Regierungsverantwortung sichert den Zugang zu Ressourcen des Staates und zu Posten in Ministerien oder Behörden, die für die Karriere von Gefolgsleuten verteilt werden können. Kennzeichen der Entwicklung hin zu Kartellparteien ist, dass der politische Wettbewerb immer mehr verschwindet.3 Das erklärt auch den schwach ausgeprägten Wettbewerb zwischen Union und SPD. Denn mit der Großen Koalition konnte man das Risiko, nicht mehr an der Regierung zu sein, für beide Seiten minimieren. Selbst wenn die Partei wegen der Regierungsbeteiligung deutlich schlechter abschnitt, sicherte sie sich zumindest Ressourcen und Posten, die für die Karriere ihrer Mitglieder sowie zur Absicherung der Loyalität anderer verteilt werden konnten. Es liegt auf der Hand, dass die innerparteiliche politische Kultur massiv darunter leidet und die Entwicklung zulasten einer Wertorientierung und des inhaltlichen Diskurses geht. Statt einer langfristigen inhaltlichen Strategie dominieren meist nur noch kurzfristige taktische Überlegungen. Spätestens mit Gerhard Schröder verinnerlichte die SPD für sich, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden. Ganz im Sinne einer „Catch-all“Partei wurden kontroverse, politisierende Themen aufgegeben, um mög3 Vgl. Richard S. Katz und Peter Mair, The cartel party thesis: A restatement, in: „Perspectives on politics“, 4/2009, S. 753-766 sowie Philip Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, Berlin 2020, S. 76-84.

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120 Hendrik Küpper und Carsten Schwäbe lichst breit wählbar zu sein. Der Philosoph Jürgen Habermas formulierte dies 2016 treffend drastisch in den folgenden Worten: „Die Sozialdemokratien sind seit Clinton, Blair und Schröder auf eine im ökonomischen Sinne systemkonforme Linie eingeschwenkt, weil das im politischen Sinne ‚systemkonform‘ war oder zu sein schien: Im ‚Kampf um die Mitte‘ glaubten diese politischen Parteien, Mehrheiten nur auf dem Weg der Anpassung an den neoliberalen Kurs gewinnen zu können.“4 Mit der Agenda 2010 wurde das Mantra der Mitte allerdings so weit getrieben, dass die SPD eine linke Leerstelle hinterließ, die fortan die Linkspartei zumindest teilweise repräsentierte. Dennoch blieb die SPD unbeirrbar auf ihrem Kurs. Regieren wurde als das zentrale Ziel ausgegeben, denn „Opposition ist Mist“ (Franz Müntefering). Und als die SPD doch in die Opposition gehen musste, sollte sie als „Regierung im Wartestand“ (Frank-Walter Steinmeier) bloß nicht in die Versuchung kommen, programmatisch nach links zu rücken, geschweige denn an einer rot-grün-roten Mehrheit zu arbeiten. „Erst das Land, dann die Partei“, ist ein weiteres Schlagwort, das insbesondere die Gegner der Großen Koalitionen von 2013 bis 2021 zu hören bekamen. Nur in der Regierung könne man die angeblich so starke „sozialdemokratische Handschrift“ der Koalitionsverträge auch umsetzen. Doch mit welchem Ergebnis? Am Ende des Tages haben die drei Großen Koalitionen der Ära Merkel die zentralen Transformationsfragen der Klima- und Energiewende wie auch der Digitalisierung verschlafen, trotz der vermeintlich starken sozialdemokratischen Handschrift. Auch eine progressive Europapolitik wurde den Groko-Skeptiker:innen 2017 versprochen, denn Emmanuel Macron (damals noch für seine progressive Haltung gerühmt) brauche die Hilfe der deutschen Sozialdemokratie an der Regierung. Doch eine Antwort auf seine europapolitischen Initiativen hat er von Merkel und der Großen Koalition nie erhalten.

Der Fall Giffey: Vor dem Land und der Partei kommt die Person Speziell an der Berliner Landes-SPD lässt sich heute noch ein weiterer Schritt in der Entwicklung von Kartellparteien erkennen, getreu dem Motto: „Vor dem Land und der Partei kommt die Person.“ Die Personalisierung von Wahlkämpfen hat zu starken Abhängigkeiten geführt, die sich wiederum die Führungspersönlichkeiten von Parteien zunutze machen können. Wahrscheinlich wäre Franziska Giffey auch wegen der Plagiatsaffäre niemals Regierende Bürgermeisterin geworden, wenn die Berliner SPD nicht überzeugt davon gewesen wäre, dass sie nur mit Giffeys Popularität und Regierungserfahrung die Abgeordnetenhauswahl 2021 erfolgreich würde bestehen können. Zwar gewann sie die Wahl tatsächlich knapp, doch blieb schon da der Giffey-Effekt aus. Denn trotz des vermeintlichen Rückenwindes von der Bundestagswahl blieb die SPD mit 21 Prozent deutlich hinter ihren 4 Jürgen Habermas, Für eine demokratische Polarisierung. Wie man dem Rechtspopulismus den Boden entzieht, in: „Blätter“, 11/2016, S. 35-42.

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Rot gegen Grün statt Rot-Rot-Grün 121 Erwartungen zurück. Und bei der wegen der Unregelmäßigkeiten erforderlich gewordenen Wiederholungswahl landete die SPD – trotz oder gerade wegen einer ausschließlich auf Giffey zugeschnittenen Kampagne – bei nur 18 Prozent – nur 53 Stimmen vor den Grünen und 10 Prozentpunkte hinter der CDU, die im Wahlkampf weniger mit Inhalten als vielmehr mit dumpfen Parolen von sich reden gemacht hatte. Die Ironie der Geschichte: Gerade die durch diesen Absturz noch gewachsene Angst vor dem Verlust der Regierungsmacht konnte sich Giffey zunutze machen, um ihr politisches Überleben zu sichern. Unter normalen Umständen wäre eine Spitzenkandidatin und Landesvorsitzende noch am Wahlabend zurückgetreten, man denke an Hannelore Kraft 2017 oder Carsten Sieling 2019. Giffey aber wusste, dass sie nur mit einer Regierungsbeteiligung ihre politische Karriere fortsetzen konnte. Bei einer Fortführung von R2G mit ihr als Regierender Bürgermeisterin aber wäre sie einer für sie persönlich gefährlichen Debatte ausgesetzt gewesen. Die nahezu gleichstarken Grünen hätten noch stärker als bisher ein Verhältnis auf Augenhöhe eingefordert und Giffeys Autorität infrage gestellt. Und insbesondere die Springer-Presse hätte ihr vorgeworfen, an der Macht zu kleben und ihr Amt nach dem schlechten Wahlausgang nicht zur Verfügung gestellt zu haben. Die Berliner SPD hätte diesem Dilemma mit einer neuen Person an der Spitze begegnen können, dann aber wäre Giffeys politische Karriere vorbei gewesen. Daher erscheint die Koalition mit der CDU aus der Sicht von Giffey nur logisch: Mit der CDU in einem Zweierbündnis konnte sie deutlich mehr Senats- und Staatssekretärsposten in der Berliner SPD verteilen und sich damit die Loyalität der Partei sichern, statt sich einer Debatte über die eigentlich notwendige inhaltliche, politisch-kulturelle und personelle Neuaufstellung der Partei zu stellen. Damit allerdings gefährdet sie nicht nur die künftigen Wahlchancen der Berliner SPD, sondern auch von progressiven Mehrheiten – und das zugunsten der persönlichen Karrieresicherung. Zugleich schließt sich hier der Kreis zum ruinösen Wettbewerb der linken Parteien: Denn auch die Bundespartei, und allen voran Olaf Scholz, dürfte sich an der Entscheidung der Berliner SPD für ein Regieren mit der CDU erfreuen, wird doch so der Trend hin zu Schwarz-Grün gebrochen und den Grünen eine Machtoption verwehrt, aus der neue Anspruchshaltungen hätten erwachsen können.5

Kartellparteien suchen Regierungsoptionen, nicht Macht zur Veränderung Und genau hier liegt das Problem: An inhaltlich-programmatischen Debatten über die Ausrichtung einer Partei – wo sie hin und was sie verändern möchte – sind Kartellparteien nicht interessiert. Denn damit schränken sie eher Optionen für Regierungsbeteiligungen ein. Das gilt nicht nur für die SPD, sondern inzwischen auch für die Grünen. Denn ähnlich wie die SPD 5 Ähnlich argumentierte auch der Journalist Michael Bröcker am 13. April 2023 in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“, um den Kurs von Giffey zu rechtfertigen.

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122 Hendrik Küpper und Carsten Schwäbe wollen auch die Grünen den Wettbewerb mit der CDU nicht weiter verschärfen. Anstatt Mehrheiten für ein progressives Bündnis zu erreichen, geht es auch ihnen primär darum, die stärkste Kraft im linken Lager zu sein, um die eigenen Regierungsoptionen zu maximieren. Lagerübergreifende Bündnisse mit der CDU sind auch für die Grünen attraktiv, denn hier können sie den Hauptgegner, die SPD, aus der Regierung heraus angreifen und sich als progressive Alternative profilieren. Schwarzgrüne Koalitionen haben weiterhin Konjunktur, siehe Hessen, NRW oder Baden-Württemberg, und gehen zugleich zulasten der Fähigkeit des linken Lagers, eine wirklich progressive Politik für sozial-ökologische Transformationen zu entwickeln und Mehrheiten dafür zu generieren. Auch zu Beginn der Ampel im Bund versuchten die Grünen durch die strategische Nähe zur FDP ihre Position in Unabhängigkeit von der SPD zu stärken. Allerdings erwiesen sich die programmatischen Unterschiede zwischen Grün und Gelb schnell als zu groß, so dass diese Achse bald zerbrach. Die SPD machte sich das zunutze und neigt nun aus strategischen Gründen öfter zur Unterstützung der FDP, um diese als Koalitionspartner nicht zu verlieren.6 Allerdings darf der inhaltliche Streit zwischen Gelb und Grün nicht darüber hinwegtäuschen, dass der viel relevantere Wettbewerb zwischen SPD und Grünen stattfindet. Olaf Scholz neigt auch deswegen eher zur FDP, weil er auf diese Weise den Grünen politische Niederlagen beibringen kann, denn für eine erneute Kanzlerschaft muss die SPD auf jeden Fall die Führung im linken Lager behaupten. Im Ergebnis streiten derzeit zwei Kartellparteien um die Macht im linken Lager sowie um mögliche Regierungsbeteiligungen.7 Das Ringen um die Fähigkeit, Mehrheiten für progressive Bündnisse zu schaffen, bleibt dabei auf der Strecke – und folgerichtig auch das Engagement junger Menschen in den linken Parteien.

Eine demokratietheoretische Problematik Immer mehr junge, progressive Menschen sehen sich auch durch die linken Parteien nicht mehr repräsentiert. Zwar schneiden die Grünen bei den Jüngeren regelmäßig überdurchschnittlich gut ab. Dafür aber können sie in einigen Regionen speziell Ostdeutschlands wie auch unter Arbeiter:innen sowie Geringqualifizierten kaum Unterstützung verbuchen. Im Zusammenhang mit dem Generationeneffekt der Partei – 1980 waren fast 80 Prozent der Grünenwähler:innen jünger als 35 Jahre, heute sind es nur noch etwas über 30 Prozent – haben sich die Grünen zudem erheblich „verbürgerlicht“. Formal hochgebildet und überdurchschnittlich verdienend, sind die Wähler:innen der Grünen nur noch gesellschaftspolitisch klar links zu verorten, nicht aber sozial- und wirtschaftspolitisch. Wenngleich sich die Grünen gerne 6 Vgl. Albrecht von Lucke, Die „Zukunftskoalition“: Bis zur Kenntlichkeit entstellt, in: „Blätter“, 5/2023, S. 5-8. 7 Die Debatte über die Verteilung von Posten des Staatssekretärs Patrick Graichen an Freunde und Familienmitglieder führt die Wichtigkeit der Postenvergabe auch bei den Grünen vor Augen.

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Rot gegen Grün statt Rot-Rot-Grün 123 als die neue große und einzige im Kern noch linke Partei gerieren und viele inhaltliche Forderungen in ihrem letzten Wahlprogramm tatsächlich einen leichten Linksruck erkennen lassen: Allein ein Blick auf die ganz überwiegend ablehnende Haltung ihrer Anhänger:innen in Bezug auf Steuererhöhungen zeigt, dass sozialpolitisch mit den Grünen im Ernstfall nicht unbedingt zu rechnen ist.8 Hält der grüne Trend zu Schwarz-Grün dagegen weiter an, würde dies zudem die andere Entwicklung begünstigen: Dass sich junge Menschen frustriert von der Parteipolitik abwenden, weil die notwendigen ökologischen Transformationen, die auch für Generationengerechtigkeit sorgen würden, nicht angegangen werden.

Mehr Mut zur Veränderung – auch in den Parteien Die sozial-ökologische Transformation kann jedoch nur gelingen, wenn sich auch die beiden anderen linken Parteien ändern und sich statt zweckrationaler Machtkalküle wieder die inhaltliche Debatte und den Mut zur Veränderung auf die Fahne schreiben. Nur so werden sich auch wieder junge, progressive Menschen für die Parteipolitik gewinnen lassen. Doch während die Linkspartei durch interne Grabenkämpfe vor dem Gang in die Bedeutungslosigkeit – ob gespalten oder nicht – steht, muss die SPD mit einer für sie zentralen Herausforderung endlich anders umgehen. Sie „muss, und das unterscheidet sie in erheblichem Maße von allen anderen Parteien, völlig unterschiedlich eingestellte Wählerinnen und Wähler sammeln und abholen. Dieses Spannungsverhältnis zu meistern bedeutet, Anziehungskraft zu entwickeln für eine sozial eher schwache, der unteren Arbeiterschicht angehörige Wählerschaft, als auch für eine der bürgerlichen Mitte zugehörige, teils akademische Facharbeiter-Wählerschaft.“9 Das aber bedeutet, die Anliegen der finanziell Schwachen nie aus den Augen zu verlieren. Die verstärkte Annäherung an neoliberale Ideen seit Gerhard Schröders Mittekurs oder das Vertreten eines progressiven Neoliberalismus10 sind dagegen fatal. „Dafür haben sie die Tolerierung der langfristig wachsenden sozialen Ungleichgewichte in Kauf genommen“, kritisiert Jürgen Habermas. „Inzwischen ist offenbar dieser Preis – das wirtschaftliche und soziokulturelle ‚Abhängen‘ immer größerer Bevölkerungsteile – so weit gestiegen, dass sich die Reaktion darauf nach rechts entlädt. Wohin auch sonst?“11 Endgültig ad absurdum geführt wird dieser Mittekurs dadurch, dass SPD und Grüne in der Ampel nun den zuvor vernachlässigten gesellschaftlichen Schichten dadurch entgegenkommen möchten, dass sie auf Druck der AfD eine restriktivere Asylpolitik planen – und dadurch umso mehr den Rechts8 Vgl. Frank Decker, Wahlergebnisse und Wählerschaft der Grünen, www.bpb.de, 6.2.2023. 9 Hendrik Küpper (Gespräch mit Albrecht von Lucke), „Die deutsche Sozialdemokratie muss endlich ihre existenzielle Lage begreifen“, in: „perspektivends – Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik“, 1/2018, S. 166. 10 Vgl. Nancy Fraser, Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, in: „Blätter“, 2/2017, S. 71-76. 11 Jürgen Habermas, a.a.O.

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124 Hendrik Küpper und Carsten Schwäbe populisten in die Hände spielen. Die Entwicklung ehemals linker Parteien zu neumittigen Konkurrenz- und Kartellparteien führt somit im Ergebnis dazu, dass rechte Positionen gestärkt werden. Eine wirklich progressive, linke Politik im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation kann es somit nur geben, wenn der ruinöse Wettbewerb beendet wird. Doch dafür müssten die Tendenzen zu Kartellparteien vor allem bei der SPD, aber auch bei den Grünen überwunden werden. Wie aber kann das gelingen? Die linken Parteien müssten einerseits begreifen, dass sie aufeinander angewiesen sind und eine gemeinsame Politik bei einer gleichzeitigen Beibehaltung eines eigenen Profils möglich ist. So lassen sich materielle Umverteilungspolitik, kulturelle Anerkennungspolitik und ökologische Politik durchaus unterschiedlich akzentuiert in eine harmonische Trias setzen. Dass besonders die reichsten Deutschen tausendmal so viel Treibhausgase wie der Durchschnitt emittieren, ist ein Beispiel dafür, dass ökologische Politik auch als Politik gegen soziale Ungleichheit gedacht werden kann und muss, ganz ohne moralische Hybris. Damit sich junge Menschen tatsächlich wieder in Parteien engagieren, bedarf es aber andererseits neuer Formen der Mitgliedschaft in Parteien, die sich weit stärker an der Lebenswelt junger Menschen orientieren. Das bedeutet nicht, dass es die klassische Ortsvereinssitzung nicht zusätzlich auch noch geben sollte. Beides muss möglich sein. Nur eines steht fest: Ohne funktionierende Parteien gibt es keine lebendige und stabile Demokratie. Insofern bedeutet die Devise „Erst das Land, dann die Partei“ umgekehrt immer auch: Erst starke Parteien machen das Land.

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Weitere Informationen finden Sie in dieser Ausgabe auf Seite 106.

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BUCH DES MONATS

Eine Insel als Menetekel Von René Wildangel Die Debatte über eine Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems hat wieder an Fahrt aufgenommen. Doch die zugrundeliegenden Probleme sind seit vielen Jahren bekannt. Das Flüchtlingsjahr 2015 und die zunehmenden Krisen und Konflikte in der EU-Nachbarschaft haben gezeigt, wie dringend nötig Reformen wären – und wie kompliziert sie sind. Denn bei kaum einem anderen Thema gehen die Haltungen zwischen den Mitgliedstaaten so weit auseinander. Spätestens mit den zahlreichen Menschen, die hauptsächlich aus dem eskalierenden Syrienkrieg flohen, um in Europa – vor allem in Deutschland – Schutz zu suchen, implodierte das Dublin-System. Nach dieser RechtsgrundFranziska Grillmeier, Die Insel. Ein lage der EU stehen praktisch nur die ErstaufBericht vom Ausnahmezustand an nahmestaaten von Flüchtlingen in der Pflicht. den Rändern Europas. C.H. Beck, München 2023, 220 S., 24 Euro. So konnten sich jene Länder, die nicht an den Außengrenzen der EU liegen, über Jahre bequem darin einrichten, dass kaum Flüchtende zu ihnen gelangten. Aber 2015 kamen sie in hoher Zahl über die sogenannte Balkanroute. Und die zumindest in Deutschland kurz gefeierte „Willkommenskultur“ schlug bald in ihr Gegenteil um: Europa schottet seine Grenzen nun stärker ab denn je. Zäune, Grenzkontrollen an Land und auf dem Meer sowie Abkommen mit Drittstaaten zur Verhinderung von Migration sollen den Zustrom begrenzen. Bei dieser auch als „Externalisierung“ der Migrationspolitik bezeichneten Strategie setzt Franziska Grillmeiers Buch „Die Insel“ an. Seit 2018 begleitet die Autorin aus der Nähe jene Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit unter großen Risiken über die Türkei auf die griechische Insel Lesbos gekommen sind – und dort feststecken, im Sumpf des gescheiterten europäischen Asylsystems. Nicht selten müssen sie viele Jahre in einem aussichtslosen Wartestand verbringen, ohne Möglichkeit zur Weiterreise, ohne Möglichkeit, eine Ausbildung oder ein Studium aufzunehmen. Franziska Grillmeier beschreibt atmosphärisch und emphatisch die dramatischen Zustände auf „ihrer“ Insel. Vor allem aber sprechen in ihrem Buch die Geflüchteten selbst,

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126 Buch des Monats

über ihre Traumata, ihre individuellen Schicksale, ihre Hoffnungen auf eine Perspektive in Europa, die nicht selten an der Realität vor Ort zerbrechen. Die Autorin dokumentiert zudem eindrucksvoll, wie Europa selbst die Lebensgefahren einer Flucht auf dem Wasser und an den Landgrenzen organisiert, um Geflüchtete gezielt abzuschrecken – mit oft grausamen und traumatisierenden Folgen. Die aktive Verhinderung von Seenotrettung und die systematischen Zurückweisungen („Pushbacks“) von Schutzsuchenden sind Teil dieses politischen Kalküls. In unzähligen Fällen könnten die Tode auf dem Mittelmeer verhindert werden, und zwar von der EU und ihren Mitgliedstaaten. In verschiedenen Reportagen, die Grillmeier in ihrem Buch stimmig zusammenführt, wird dies auf äußerst deprimierende Weise anschaulich: Ob an der kroatisch-bosnischen, an der türkisch-griechischen oder der belarussisch-polnischen Grenze, die Mechanismen der Abschottung, die Grenzanlagen, die brutale Polizeigewalt, die völkerrechtswidrigen Pushbacks, die Kriminalisierung von Helferinnen und Helfern ähneln sich.

Ausnahmezustand an den Rändern Europas

Das gilt ebenso für die Tendenz, Menschen in abgeschlossene Lager wegzusperren. Eindringlich dokumentiert Grillmeier diesen Prozess auf den ostägäischen Inseln und vor allem im berüchtigten Lager Moria auf Lesbos. Ursprünglich, so die Autorin, war dies ein für 2800 Menschen ausgelegtes Registrierungslager, nach spätestens 30 Tagen sollten die Flüchtenden weiterreisen. Doch nach Inkrafttreten des sogenannten EU-Türkei-Deals 2016 hielt eine andere Logik Einzug. Nun müssen die Flüchtenden dort auf unbestimmte Zeit verharren, bis ihnen eine Genehmigung zur Weiterreise erteilt wird. Um diese Prüfungen durchzuführen, fehlen den EU-Behörden aber die Ressourcen, der Wille – oder beides. Grillmeier beschreibt, wie willkürlich die Entscheidungen getroffen werden, die über das Schicksal ganzer Familien bestimmen. Binnen weniger Wochen wurde Moria 2016 zum größten Flüchtlingslager in Europa, mit bis zu 20 000 Menschen. Dort herrschten unmenschliche Bedingungen, ohne Mindeststandards der Hygiene und Gesundheitsversorgung, ohne Privatsphäre, ohne Perspektive für die Weiterreise, ohne Würde. In Moria werden die Geflüchteten retraumatisiert, darunter viele Kinder, die nicht nur in kriegerischen Auseinandersetzungen zu Hause, sondern auch auf ihrer Reise schon vielfach schreckliche Erfahrungen machen mussten. Die Zustände ermüden auch die lokale Bevölkerung, deren ursprüngliche Hilfsbereitschaft aufgrund des politischen Versagens oftmals in Feindseligkeit umgeschlagen ist – bis schließlich rechtsradikale Mobs anreisten und Moria brannte, wohl angezündet von verzweifelten Bewohnern. Als Antwort wurden neue, abgeschottete Lager geschaffen, in denen die Geflüchteten wie in Gefängnissen weggesperrt werden und die sie nur für einige Stunden am Tag verlassen dürfen. Einen „Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas“ nennt Grillmeier ihr Buch. Diese Beschreibungen sind besonders im Licht der aktu-

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Buch des Monats 127

ellen Diskussion über eine Reform des europäischen Asylsystems wichtig; denn die heutigen Vorschläge könnten dazu führen, dass dieser Ausnahmezustand endgültig zur Regel wird. Beabsichtigt ist unter anderem die Durchführung von Schnellverfahren an den Außengrenzen, in denen über den Zutritt auf das Territorium der EU entschieden werden soll. „Es kann keine Höchstgrenzen für Menschlichkeit geben“, sagte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser im April – allerdings vor allem mit Blick auf die Ukraine. Für andere Länder wird das nicht gelten, sollten die derzeitigen Pläne umgesetzt werden. Wer aus Ländern kommt, die als sogenannte sichere Drittstaaten gelten, hätte kaum noch Chancen auf eine Einreise in die EU. Dazu gehören bereits heute Staaten wie die Türkei, in der Geflüchtete unter schwierigsten Bedingungen leben. Auch Tunesien soll bald dazuzählen, das sich gerade vom Hoffnungsträger des Arabischen Frühlings in einen autoritären Staat unter Diktator Kais Saied verwandelt hat. Sollten Geflüchtete aber nach Schnellverfahren ohne echte inhaltliche Prüfung in diese Länder zurückgeschickt werden, wäre das Asylsystem der Genfer Flüchtlingskonvention faktisch außer Kraft gesetzt. Dabei hat der Ukrainekrieg gezeigt: Wenn politischer Wille da ist, ist auch ein rasches Handeln möglich. Infolge des russischen Angriffskrieges wurde erstmals die Temporary-Protection-Richtlinie aktiviert, ein europäischer Mechanismus, der ukrainischen Kriegsflüchtlingen unbürokratisch einen Aufenthaltsstatus gewährte. Das zeige einerseits, so Grillmeier, dass ein würdevoller Umgang mit Flüchtenden möglich ist – aber andererseits, wie drastisch die Ungleichbehandlung ausfällt. Während Grillmeier zum neuen Ausnahmezustand an die ukrainische Grenze reist, erhält sie Nachrichten über Flüchtlinge, die bei der Überfahrt nach Lesbos ums Leben gekommen sind. Neben ihren so wichtigen investigativen Recherchen ist das größte Verdienst der Autorin, dass sie die Geflüchteten in ihrem Buch immer wieder selbst sprechen lässt. Viele entscheiden sich, aufgrund der eigenen traumatischen Fluchterfahrungen anderen zu helfen oder das Geschehene zu dokumentieren: als Ärztinnen und Pfleger, als Erzieher, als Journalistinnen, als Filmemacher. Diesen Persönlichkeiten, die sonst selten im Mittelpunkt stehen, setzt Grillmeier mit ihrem Buch ein Denkmal. Hier werden Menschen in den Blick genommen, die in der Debatte über die Reformvorschläge des Asylsystems gar nicht vorkommen, obwohl es um ihr Schicksal geht. Franziska Grillmeier ist ein persönliches, poetisches Buch gelungen, das das moralische Versagen Europas eindrucksvoll dokumentiert. Obwohl sie erst gar nicht versucht, eigene politische Vorschläge für eine andere EU-Politik zu machen, ist „Die Insel“ ein zutiefst politisches Buch. Es entspringt Grillmeiers Empörung darüber, dass Europa jene Werte, die es so gern für sich reklamiert, im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten mit Füßen tritt. Mit Blick auf die aktuellen Diskussionen ist das Buch daher als Menetekel zu verstehen: Meint die EU es noch ernst mit ihrer Verpflichtung für die Rechte von Schutzsuchenden, muss die Insel Lesbos abschreckendes Beispiel bleiben, anstatt der EU als Blaupause für die Reform ihrer Flüchtlingspolitik zu dienen.

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Zurückgeblättert... Vor exakt 20 Jahren, nach dem schnellen militärischen „Sieg“ der USA im Irakkrieg, warnte Charles A. Kupchan im »Blätter«-Gespräch vor dem Abstieg der USA durch Überdehnung und skizzierte die Konturen einer künftigen Partnerschaft (USA brauchen Europa, »Blätter« 6/2003, S. 679-689). Den Text finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de

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An der Ausgabe wirkten Pia Henne und Moritz Hentz mit. Die gemeinnützige Blätter-Gesellschaft – Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V. gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die »Blätter für deutsche und internationale Politik« heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Inken Behrmann vor. Die »Blätter« erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 40147, 10061 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX. Preise: Einzelheft 11 Euro, im Abonnement jährlich 93,60 Euro (ermäßigt 74,40 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint zeitgleich mit der Dezemberausgabe auf www.blaetter.de. Heft 07/2023 wird am 22.06.2023 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2023

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Autorinnen und Autoren 6/2023

Christoph

Schmidt und

Russland Europa –

Tectum

oder

Mythos Logos?

Russland und Europa – Mythos oder Logos? Von Prof. Dr. em. Christoph Schmidt 2023, 252 S., brosch., 34,– € ISBN 978-3-8288-4871-9 E-Book 978-3-8288-7996-6 Unterdrückung im Innern, Aggression nach außen: Ist das Russlands DNA? In der Tat blieben demokratische Tendenzen in Russland oftmals Episode – und Aufklärung Import. Aber warum? Hier beginnt die Beziehungsgeschichte zwischen Russland und Europa oder Mythos und Logos.

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Kunda Dixit, Herausgeber und Verleger der „Nepali Times“, Publizist sowie visiting faculty member an der New York University in Abu Dhabi. Klaus Dörre, geb. 1957 in Volkmarsen, Dr. phil., Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena. Thomas Greven, geb. 1966 in Stolberg, Dr. phil. Politikwissenschaftler, Privatdozent an der FU Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Nordamerikaprogramm der Universität Bonn. Richard Haass, geb. 1951 in Brooklyn/ USA, Ph.D., Diplomat und Präsident des „Council on Foreign Relations”. Erika Harzer, geb. 1953 in Leonberg, Sozialpädagogin, Autorin und Filmemacherin, Trägerin des Peter-SchollLatour-Preises.

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Felix Heidenreich, geb. 1973 in Freiburg, Dr. phil., Politikwissenschaftler, Lehrbeauftragter an der Univ. Stuttgart.

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ZEITSCHRIFT FÜR KRITISCHE SOZIALWISSENSCHAFT Schwerpunktthemen n Nr. 207: Gesellschaftskritik

und sozialistische Strategie (2/2022)

n Nr. 208: StaatsKapitalismus (3/2022)

n Nr. 209: Die Linke zwischen Krise

und Bewegung (4/2022) n Nr. 210: Sozial-ökologische Transformationskonflikte und linke Strategien (1/2023) n Nr. 211: Tarifvertrag (2/2023)

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Lukas Hermsmeier, geb. 1988 in Berlin, freier Journalist und Buchautor, lebt in New York. Sophia Kalantzakos, geb. in Athen, Ph.D., Publizistin und Professorin für Umwelt- und Politikwissenschaft an der New York University in Abu Dhabi. Naomi Klein, geb. 1970 in Montreal, Journalistin, Kolumnistin beim „Guardian“, Bestseller-Autorin und Professorin für Klimagerechtigkeit an der University of British Columbia. Hendrik Küpper, geb. 1997 in Beckum, Politikwissenschaftler, Redakteur der Zeitschrift „perspektivends“, Gymnasiallehrer in Vertretung. Anja Krüger, geb. 1967 in Viersen, Sozialwissenschaftlerin, Wirtschaftsredakteurin bei der „tageszeitung“. Charles Kupchan, geb. 1958 in Madison, Ph.D., Professor für Internationale Beziehungen an der Georgetown Universität in Washington D.C., Senior Fellow am „Council on Foreign Relations“.

Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, freier Journalist in Berlin. Claus Leggewie, geb. 1950 in WanneEickel, Dr. sc. pol., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen, Mitherausgeber der „Blätter“. Markus Linden, geb. 1973 in Cochem, apl. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Amadeus Marzai, geb. 1996 in Berlin, Historiker und Politikwissenschaftler. Sara Meyer, 1992 in Crailsheim, Politik- und Kulturwissenschaftlerin, freie Journalistin in Bogotá/Kolumbien. Simone Schlindwein, geb. 1980 in Baden-Baden, Historikerin und Politikwissenschaftlerin, Afrika-Korrespondentin der „tageszeitung“ in der Region der Großen Seen, lebt in Uganda. Kai E. Schubert, geb. 1991 in Berlin, Politikwissenschaftler, Doktorand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Gießen. Carsten Schwäbe, geb. 1988 in Korbach, Dr. rer. pol., Wirtschafts- und Politikwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter an der FU Berlin im Bereich Innovationsforschung. Roberto Simanowski, geb. 1963 in Cottbus, Dr. phil., Professor für Literatur- und Medienwissenschaft, Mitglied des Excellence-Clusters „Temporal Communities” der Freien Universität Berlin. Thomas Speckmann, geb. 1974 in Münster, Dr. phil., Historiker, Politikund Kommunikationswissenschaftler, hat Lehraufträge an den Universitäten Bonn, Münster, Potsdam und der FU Berlin wahrgenommen. René Wildangel, geb. 1973 in Rheinbach, Dr. phil., Historiker, freier Autor und Dozent an der International Hellenic University in Thessaloniki.

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Den Frieden verhandeln, Kiews Sicherheit garantieren Richard Haass und Charles Kupchan

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Das Zaudern der Demokratien Thomas Speckmann

Künstliche Intelligenz: Der maskierte Raub Naomi Klein Narrative der Weltbeglückung Roberto Simanowski

Wie Macron die Zukunft verspielt Felix Heidenreich Chicago: Prävention statt Polizei Lukas Hermsmeier Rot gegen Grün statt Rot-Rot-Grün Hendrik Küpper und Carsten Schwäbe Reaktionäre Identitäre Markus Linden