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German Pages 253 Year 1998
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 770
Die Übertragung von Hoheitsrechten Zur Auslegung der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG
Von
Thomas Flint
Duncker & Humblot · Berlin
THOMAS FLINT
Die Übertragung von Hoheitsrechten
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 770
Die Übertragung von Hoheitsrechten Zur Auslegung der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG
Von
Thomas Flint
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Flint, Thomas: Die Übertragung von Hoheitsrechten : zur Auslegung der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG / von Thomas Flint. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 770) Zugl.: Berlin, Humboldt-Uni v., Diss., 1998 ISBN 3-428-09601-0
Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09601-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde i m Wintersemester 1997/98 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung sind bis zum A p r i l 1998 berücksichtigt. Ich danke Herrn Prof. Dr. Bernhard Schlink für die vielfältige Förderung, die ich in den vergangenen Jahren von i h m erfahren habe. Herrn Prof. Dr. I n g o l f Pernice gebührt Dank für die Erstattung des Zweitgutachtens. Ich danke auch der Studienstiftung des deutschen Volkes, deren finanzielle und ideelle Unterstützung erst die nötige Freiheit und Konzentration ermöglichte. Berlin, M a i 1998
Thomas Flint
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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Erster Teil
Die Entwicklung der Auslegung und Anwendung des Art. 24 Abs. 1 GG A. Die Entstehung der herrschenden Lehre B; Die weitere Entwicklung I. Die Entwicklung in der Staatsrechtslehre von 1957 bis 1967 II. Die Rechtsprechung des BVerfG und die sie begleitende Literatur C. Die Maastricht-Debatte, der Übergang zu Art. 23 GG und die Kritik der herrschenden Meinung
15 38 38 46 70
Zweiter Teil
Die Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten A. Methodologische Vorbemerkungen 85 B. Die Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten 89 I. Hoheitsrechte 89 1. Der Begriff „Hoheitsrechte" - Grammatische, historische, genetische und systematische Implikationen 89 2. Der eigene Zugriff 100 3. Zusammenfassung 111 II. Übertragen 112 1. Der Begriff „übertragen" - Grammatische und genetische Implikationen . 112 2. Die juristische Konstruktion von Übertragungsvorgängen 115 3. Zusammenfassung 122 III. Die Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten 122 1. Historischer, genetischer und systematischer Befund 122 2. Der eigene Zugriff 135 3. Zusammenfassung 141 C. Die Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten 142 I. Die Konstruktion 142 1. Der Bund 142 2. Die zwischenstaatlichen Einrichtungen - Die Europäische Union 144 3. Übertragung von Hoheitsrechten durch Gesetz 145
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Inhaltsverzeichnis 4. Die idealtypische Beschreibung des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten a) Die völkerrechtliche Seite b) Die staatsrechtliche Seite II. Die Stimmigkeit der Konstruktion 1. Die Anwendung der Konstruktion auf die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union a) Grundzüge der europäischen Rechtsordnung und ihrer Hoheitsgewalt b) Die Erklärungsleistung der Übertragungskonstruktion 2. Die Stimmigkeit der Konstruktion im übrigen
151 151 152 156 156 156 162 175
Dritter Teil
Die Anwendung der Übertragungskonstruktion A. Die Schrankenproblematik I. Beschränkung des deutschen Gesetzgebers bei der Gewaltbegründung 1. Das Vertragsgesetz (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG) als maßgeblicher Ansatzpunkt 2. Der Inhalt der Schranken II. Schranken der europäischen Hoheitsgewalt bei der Gewaltausübung? B. Die gerichtliche Kontrolle der europäischen Hoheitsgewalt I. Der EuGH II. Das BVerfG 1. Primäres Europarecht 2. Sekundäres Europarecht C. Grenzprobleme: Vertragsänderung - Vertragsbeendigung - Austritt I. Gemeinschaftliche Vertragsänderung II. Gemeinschaftliche Vertragsbeendigung III. Austritt (Einseitiger Rücktritt vom Vertrag) IV. Rückabwicklung von Übertragungsvorgängen
181 181 181 183 186 187 187 191 191 193 197 197 198 199 201
Schlußbetrachtung
203
Literaturverzeichnis
205
Sachwortregister
249
Abkürzungsverzeichnis * AfP AktG AöR AVR AWD BayVBl. BB BGHZ BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG CMLR DB ders. dies. DÖV DP Drucks. DV DVB1. EAG EAGV EGKS EGKSV EGV EJIL EMRK EPL EuGH EuGRZ
Archiv für Presserecht Aktiengesetz Archiv des öffentlichen Rechts Archiv des Völkerrechts Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters Bayerische Verwaltungsblätter Der Betriebs-Berater Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Drucksachen des Deutschen Bundestages Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Common Market Law Review Der Betrieb derselbe dieselbe / dieselben Die öffentliche Verwaltung Deutsche Partei Drucksache Die Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Atomgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft European Journal of International Law Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten European Public Law Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift
* Aufgeführt finden sich die Abkürzungen, die nicht im Literaturverzeichnis erläutert werden.
10 EuR EUV EuZW EVG EWG EWGV EWS GmbHG GYIL JA JIR JöR JuS JZ KritV lit. NJ NJW NVwZ RdA RIW RIW/AWD Rn. Rs. RuP Slg. StenProt. ThürVBl. verb. VerwArch vgl. WRV WVK ZaöRV ZfA ZfRV ZParl ZRP
Abkürzungsverzeichnis Europarecht Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Verteidigungsgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung German Yearbook of International Law Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch für internationales Recht Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Schulung Juristenzeitung Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft littera Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Recht der Arbeit Recht der internationalen Wirtschaft Recht der internationalen Wirtschaft / Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters Randnummer (auch Plural) Rechtssache (auch Plural) Recht und Politik Sammlung Stenographisches Protokoll Thüringer Verwaltungsblätter verbundene Verwaltungsarchiv vergleiche Verfassung des Deutschen Reichs (Weimarer Reichsverfassung) Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und Europarecht Zeitschrift für Parlaments fragen Zeitschrift für Rechtspolitik
Die Antwort kann nur die Art und Weise geben, in der Art. 24 ausgelegt wird. H. P. Ipsen, WDStRL 1960, S. 96 (Aussprache)
Einleitung Die Staatsrechtswissenschaft der Gegenwart führt keine Auseinandersetzungen um den tatbestandlichen Gehalt der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG - die Übertragung von Hoheitsrechten durch Gesetz auf zwischenstaatliche Einrichtungen bzw. die Europäische Union. Als Konsens gilt, was das BVerfG 1974 im Solange I-Beschluß formulierte: „Art. 24 GG ermächtigt nicht eigentlich zur Übertragung von Hoheitsrechten, sondern öffnet die nationale Rechtsordnung (in der angegebenen Begrenzung) derart, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen wird." 1
An dieser, „weit jenseits des Wortlauts befindlichen Dogmatik" der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG 2 wurde und wird nicht mehr gerüttelt; nur vereinzelt finden sich kritische oder auch nur anfragende Stimmen. Vielmehr schwenkten Staatsrechtslehre und Rechtsprechung des BVerfG auf die Behandlung der Schranken der so verstandenen Übertragungsermächtigung über. In Entgegensetzung zu dieser Herangehensweise wird mit der vorliegenden Arbeit der Versuch unternommen, eine dem klassischen Auslegungskanon und insbesondere der Bindung an den Wortlaut verpflichtete Konstruktion der Übertragungsermächtigungen aus Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG zu entwickeln. Anlaß dazu besteht um so mehr, als der verfassungsändernde Gesetzgeber 1992 mit Art. 23 Abs. 1 Satz 2, teilweise auch mit Art. 24 Abs. 1 a und Art. 88 Satz 2 GG den Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 GG wiederholt und so die Vorstellungen von Hoheitsrechten und von deren Übertragung aufrecht
1 2
BVerfGE 37, 271/280. So A. Randelzhofer, M/D, GG, Art. 241 Rn. 42.
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Einleitung
erhalten hat. Ein Abgehen von dem semantischen Gehalt dieser Vorschriften und der durch ihn transportierten Vorstellungen, wie es sich in den Formulierungen des BVerfG und von A. Randelzhofer andeutet, ist nur vertretbar, wenn sich der ernst genommene sprachliche Gehalt der Texte rechtskonstruktiv nicht durchhalten läßt, zumal die einschlägigen Rechtsanwendungsprobleme nicht sachgerecht zu lösen vermag. Zu untersuchen ist, ob sich unter Anwendung der klassischen Auslegungsmethoden eine Übertragungskonstruktion entwickeln läßt, die Entstehung, Struktur und Wirkung der europäischen Rechtsordnung und ihrer Hoheitsgewalt erklärt und die auch im übrigen mit der durch das Grundgesetz aufgerichteten deutschen Verfassungsordnung in Einklang steht. Die Arbeit wird zunächst die Entwicklung der Auslegung und Anwendung des Art. 24 Abs. 1 GG vom Inkrafttreten des Grundgesetzes bis zur durch den Maastricht-Vertrag ausgelösten verfassungsrechtlichen Debatte sowie diese Debatte selbst in ihren Hauptlinien nachzeichnen (Erster Teil). In dieser Darstellung gilt es aufzuzeigen, wie die herrschende Dogmatik entstand, wie die Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift sich von der Tatbestandsbestimmung auf die Folgenproblematik verlagerte (Α., Β.). 3 Mit der kritischen Nachzeichnung der Maastricht-Debatte soll zudem gezeigt werden, warum der hier unternommene Versuch einer dogmatischen Konstruktion der Übertragung von Hoheitsrechten angesichts der bestehenden Dogmatik für erforderlich gehalten wird (C.). Die Maastricht-Debatte bildet somit die Zäsur zwischen dem ersten und zweiten Teil der Arbeit - bis dahin der deskriptive erste Teil, danach der eigene Entwurf im zweiten Teil. Der eigene Entwurf stellt nicht mehr die einzelnen anderen Ansätze dar, die nach Maastricht vertreten worden sind, und er setzt sich auch nicht im einzelnen mit ihnen auseinander. Er ist letztlich im ganzen eine Auseinandersetzung mit den anderen Ansätzen, da diese, anders als jener, nicht vom Wortlaut ausgehen und über die durch den Normtext „Übertragung von Hoheitsrechten" angesprochenen Strukturen schnell hinweggehen. Der eigene Entwurf will gerade zeigen, ob nicht auch unter Anknüpfung an den Wortlaut und der durch ihn transportierten Vorstellungen sich Ergebnisse begründen lassen, die der Eigenart der Rechtsbeziehungen zwischen dem Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften gerecht werden.
3 Ausgeklammert bleibt in dieser Darstellung die Problematik des Vorrangs von europäischem vor deutschem Recht. Dies deshalb, weil der Vorrang sowohl direkt aus dem Gemeinschaftsrecht, aus den Regelungen des Gemeinschaftsrechts in Verbindung mit dem deutschen Recht als auch allein aus dem deutschen Recht abgeleitet worden ist. Mit anderen Worten hätte eine Aufnahme auch dieser Problematik in den darstellenden Teil die Grenzen des auszuwertenden Materials gesprengt.
Einleitung Der deskriptive erste Teil will somit den Boden bereiten für den zweiten Teil der Arbeit, der eine Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten zu entwickeln bestimmt ist. Mit dieser Übertragungskonstruktion gilt es sich dann im dritten Teil den bekannten Rechtsanwendungsproblemen zu stellen. Es geht der vorliegenden Arbeit daher nicht in erster Linie um eine Beschreibung des Verhältnisses Deutschlands zur europäischen Hoheitsgewalt, sondern darum, ob und wie mit der durch Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG bereitgestellten Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten dieses Verhältnis beschrieben und bearbeitet werden kann. Die Problematik dieser Herangehensweise wird nicht verkannt: Die Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG haben mehr als nur die verfassungsrechtliche, innerstaatliche Seite. Sie verbinden die deutsche mit der europäischen Rechtsordnung. Die daraus resultierende mehrschichtige Wirkungsweise der Normen ist in Rechnung zu stellen. Doch kann sie nicht zum Anlaß genommen werden, auf den verfassungsrechtsdogmatischen Aspekt vorschnell zu verzichten. Dies insbesondere deshalb nicht, weil auf absehbare Zeit jeder Integrationsfortschritt, der sich als eine Erweiterung der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union darstellt, nur über eine Mitwirkung der Mitgliedstaaten zu erreichen ist. Damit aber bleibt für die deutsche Mitwirkung die Frage nach dem Tatbestand und den Rechtsfolgen einer Übertragung von Hoheitsrechten aufgeworfen.
Erster Teil
Die Entwicklung der Auslegung und Anwendung des Art. 24 Abs. 1 GG A. Die Entstehung der herrschenden Lehre Seine erste umfassende Bearbeitung findet Art. 24 Abs. 1 GG durch Κ. H. Klein. Die 1952 erschienene und von H. Mosler
angeregte Arbeit wendet sich
zunächst dem Begriff „Hoheitsrechte" zu und versucht, dessen Bedeutung aus seiner geschichtlichen Entwicklung, 1 seiner Beziehung zur Staatsgewalt und zum Staatszweck heraus zu bestimmen. Als Ergebnis dieser Analyse verwendet Κ. H. Klein i m weiteren folgenden Begriff: „Hoheitsrechte sind die dem jeweiligen Gegenstande nach bezeichneten (materiellen) Befugnisse des Staates, den in ihm zusammengeschlossenen Personen oder Personenverbänden das zur Erreichung des Gemeinschafiszweckes notwendige Verhalten zu befehlen und mit Zwang durchzusetzen." 2 Die Hoheitsrechte bestimmt Κ Η. Klein
mithin als einzelne Herrschafts-
rechte des Staates, die Bestandteile seiner einheitlichen Staatsgewalt (suprema potestas) seien und die i m Staatszweck die Begrenzung ihres Umfanges fänden. Aus dieser Begrenzung folgert er als Schranke für die Übertragung von Hoheitsrechten: „Wenn ... Grenzen und Ausdehnung der Befugnisse des Staates durch den Gemeinschaftszweck umrissen werden, so können auch nur Rechte mit diesem inneren Gehalte übertragen werden. Das heißt: es kann eine Übertragung von Hoheitsrechten nur an einen Gewaltenträger mit gleicher Grundkonzeption erfolgen. Denn eine Übertragung an einen Gewaltenträger, welcher nicht bereit oder in der Lage ist, die Grundrechte in gleichem Umfange wie der Übertragende zu garantieren, käme einer Verweigerung dieser Grundrechte gegenüber den Staatsbürgern gleich. Die Bundes-
1
Treffend bemerkt Κ. H. Klein, Übertragung, S. 11, zur Begriffsgeschichte: „Hoheitsrechte und Regalien sind in der Staatslehre so häufig wiederkehrende Begriffe, daß das Fehlen anerkannter Definitionen überrascht." 2 Κ Η. Klein, Übertragung, S. 22.
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung republik könnte eine solche Übertragung wegen der absoluten Garantie des Art. 79 Abs. 3 GG gar nicht vornehmen." 3
Diese Begriffsbestimmung hat durch die zeitgenössische Staatsrechtslehre breite Zustimmung erfahren und auch der Ansatz, Schranken mit Blick auf den Übertragungsempfänger zu formulieren und Art. 79 Abs. 3 GG in diesem Zusammenhang ins Spiel zu bringen, fand zahlreiche Nachfolger. Mit Blick auf den Begriff „übertragen" gelangt Κ H. Klein dann zu der Auffassung, daß Art. 24 Abs. 1 GG das Recht zu viel weitergehenden Verfügungen über Hoheitsrechte einschließe, als es die übrigen Bestimmungen über die Regelung auswärtiger Angelegenheiten in Art. 32, 59 und 73 Nr. 1 GG gewähren. Deshalb sei Art. 24 Abs. 1 GG bei der Verfassunggebung auch regelungsbedürftig gewesen und also anwendbare Norm, während Art. 24 Abs. 2 GG Proklamation sei und gestatte, was schon die Art. 32, 59 und 73 Nr. 1 GG erlauben. Zur Begründung dieser Auffassung argumentiert Κ H. Klein zunächst grammatisch-systematisch: Art. 24 Abs. 1 GG enthalte im Wortlaut mit der Vollmacht, Hoheitsrechte zu übertragen, die gegenüber Abs. 2 weitergehende Vorschrift, denn diese enthalte nur die Befugnis, in die Beschränkung der Hoheitsrechte einzuwilligen. Da eine vertragliche Weggabe bzw. Übertragung von Hoheitsrechten sich entweder nur als echte, endgültige Verfügung oder aber als vorübergehende Übertragung zur Ausübung denken lasse, seien im Art. 24 GG von seiner Systematik her offensichtlich beide Formen einer Übertragung vorgesehen. Art. 24 GG gestatte in seinem Abs. 1 die endgültige Abtretung von Hoheitsrechten durch einfaches Gesetz und darin liege seine über die Art. 32, 59 und 73 Nr. 1 GG hinausgehende, eigene Bedeutung.4 Art. 24 Abs. 1 GG gestatte zudem die Übertragung zur Ausübung, Abs. 2 dagegen nur diese.5 Dieses Auslegungsergebnis sucht Κ Η. Klein mit einem Blick auf die Entstehungsgeschichte zu bestätigen. Weil eine echte Abtretung durch einfaches Gesetz aufgrund des Art. 24 Abs. 1 GG den Wirkungsbereich des Grundgesetzes verkleinere, stelle sie eine Verfassungsänderung dar: Der Bund verliere durch sie endgültig einen Teil seiner Staatsgewalt. Insofern sei Art. 24 Abs. 1 GG eine vorweggenommene Verfassungsänderung und genau dies habe auch der Parlamentarische Rat gesehen.6
3
Κ H. Klein, Übertragung, S. 22. Κ. Κ Klein, Übertragung, S. 27 f. 5 Maßgebliches Abgrenzungskriterium zwischen diesen Alternativen ist für Κ. H. Klein, ob sich der Hoheitsrechte endgültig, also ohne rechtliche oder tatsächliche Kündigungsmöglichkeit begeben werde, oder ob die Ausübung von Hoheitsrechten nur vorübergehend, also mit rechtlicher und tatsächlicher Kündigungsmöglichkeit übertragen werde; Übertragung, S. 27 f. 6 Κ H. Klein, Übertragung, S. 28 f. 4
Α. Entstehung
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Diese Begriffsbestimmung klingt für heutige Ohren vertraut, soweit es u m den verfassungsändernden Charakter einer Übertragung von Hoheitsrechten geht. Anderes gilt m i t B l i c k auf das Verständnis des Art. 24 Abs. 1 G G als Ermächtigung zur endgültigen Abtretung von Hoheitsrechten. Κ. H.
Klein
selbst hielt denn auch bereits eine Verteidigung seiner Begriffsbestimmung gegen die einschlägigen herrschenden staatstheoretischen und staatsrechtlichen Anschauungen für erforderlich. 7 Diese erachteten eine echte Abtretung von Hoheitsrechten m i t dem Wesen der Staatsgewalt für unvereinbar, w e i l an die Stelle einer durch Abtretung aufgehobenen Staatsgewalt notwendig eine andere, neue trete, die nicht durch die Abtretung geschaffen worden sei. D e m gibt Κ. H. Klein zu, daß sich nicht behaupten lasse, die Gewalt einer zwischenstaatlichen Einrichtung werde durch die Abtretung geschaffen und deren Gewalt sei keine andere als die abgetretene. Doch lasse sich ebenso nicht leugnen, „daß die Entstehung einer neuen Staatsgewalt davon abhängt, daß die künftigen Glieder ... sich ihrer Gewalt im gleichen Umfange begeben. Dieser Begebungsakt schafft zwar die neue Staatsgewalt nicht, aber er läßt ihre Schöpfung in genau dem Rahmen zu, in dem sich die Begebung hält. Das Weichen zugunsten der nachfolgenden Staatsgewalt muß auch endgültig sein, wenn es überhaupt die Bildung einer neuen Staatsgewalt ermöglichen soll. Zwischen einer Begebung von Hoheitsrechten in ganz bestimmtem Umfange zugunsten eines ganz bestimmten zukünftigen Trägers und einer Abtretung besteht deshalb kein Unterschied." 8 Κ Η. Klein geht auch bereits der Frage nach, ob die v o m Verfassunggeber m i t Art. 24 Abs. 1 G G antizipierte Möglichkeit von einfachgesetzlichen Verfassungsänderungen jede mit einer echten Abtretung von Hoheitsrechten ver-
7
Κ. H. Klein wählt für diese Verteidigung nicht die zwischenstaatlichen Einrichtungen, sondern die Bildung von Bundesstaaten durch den Zusammenschluß mehrerer selbständiger Staaten als Beispiel. Dies ist folgerichtig, denn die herrschenden Anschauungen kommen selbst aus der Bundesstaatsdiskussion und der Vertrag über die Gründung der EGKS - als der bis dahin einzigen zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG - war zwar schon geschlossen, das Vertragsgesetz aber noch nicht erlassen worden und der Vertrag also nicht in Kraft getreten. Doch lassen sich Kleins Ausführungen zur Abtretung von Hoheitsrechten der Gliedstaaten an einen Bund und der Gesamtgewalt, die der Bundesstaat an ihre Stelle setzt, in Beziehung setzen zur Abtretung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten an eine nicht staatliche Institution völkerrechtlichen Ursprungs und der daraus entstehenden Hoheitsgewalt. 8 Κ ΗKlein, Übertragung, S. 32. Weiter führt Klein aus, daß sich das verbindende Glied zwischen der Begebung von Hoheitsrechten und der Entstehung der nachfolgenden Staatsgewalt, die Schöpfung der neuen Staatsgewalt, juristisch nicht fassen lasse; eine juristische Erklärung für die Entstehung des Staates gebe es nicht (S. 32). Diese Bemerkung mag zwar auf den Bundesstaat zutreffen, nicht aber auf zwischenstaatliche Einrichtungen; sie sind nicht-staatliche Institutionen völkerrechtsvertraglichen Ursprungs (so auch Klein, S. 29). 2 Flint
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
bundene Verfassungsänderung ermögliche, insbesondere, ob diese Verfassungsänderung auch das Bund-Länder-Verhältnis zu ergreifen vermag. Dann würde Art. 24 Abs. 1 GG eine Durchbrechung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern gestatten und die bundesstaatliche Struktur keine Rückwirkung auf die Befugnis des Bundes zu Hoheitsrechtsübertragungen haben. Κ H. Klein lehnt dies nach Ausführungen zur staatsrechtlichen Struktur von Bundesstaat und zwischenstaatlicher Einrichtung ab.9 Es „entsteht neben Bund und Ländern eine neue Teilordnung. Das hat zur Folge, daß das Parlament der Bundesrepublik Hoheitsrechte an diese zwischenstaatliche Gemeinschaft nicht als Gesetzgeber des Gesamtstaates abtritt, sondern als Gesetzgeber der Teilordnung Bund. Daraus wiederum folgt, daß die im Art. 24 Abs. 1 vorweggenommene Verfassungsänderung nur den Tatbestand dieser Abtretung an zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt deckt und daß die Bestimmung, welche Hoheitsrechte im einzelnen abgetreten werden können, sich nach den übrigen Normen des Grundgesetzes richtet. ... Welche Rechte der Bund nach seinem Verhältnis zu den Ländern übertragen kann, ergibt sich aus den Art. 32, 59 und den Bestimmungen des VII. Abschnittes des Grundgesetzes." 10
Weil also Art. 24 Abs. 1 GG keine Kompetenznorm sei, bleibe das bundesstaatliche Kompetenzgefüge in vollem Umfang anwendbar: Die bundesstaatliche Struktur des Grundgesetzes begrenze die Befugnis des Bundes zur Übertragung von Hoheitsrechten der Länder. Es gelte hier der Satz, daß „nur übertragen werden kann, was vorhanden ist." 11 Mit diesem Ergebnis wird Κ Η. Klein in der weiteren Entwicklung weitgehend allein bleiben. Die Erstreckung der Übertragungsermächtigung des Bundes auf die Länderrechte wird - vornehmlich aus „integrationspolitischen" Gründen - zum Allgemeingut. 12 Auch insgesamt hat Κ Η. Klein für die weitere Beschäftigung mit der Übertragung von Hoheitsrechten zwar insoweit einen Grund gelegt, als nun offen lag, welche Einzelfragen der Behandlung bedurften. Seine inhaltliche Ausrichtung aber konnte sich schon nicht im Rahmen der nachfolgenden Auseinandersetzungen der Staatsrechtslehre im „Kampf um den Wehrbeitrag" durchsetzen.
9 Bei seinen Ausführungen geht Κ Η. Klein, Übertragung, S. 46 ff. - insoweit H. Kelsen, Staatslehre, S. 198 ff., 208 f., folgend, ihn aber unrichtig zitierend - vom Drei-Stufen-Modell aus. 10 Κ. H. Klein, Übertragung, S. 49. 11 Κ. H. Klein,, Übertragung, S. 60. 12 Anderer Auffassung bereits H. Nawiasky, der wie Κ Η. Klein vom dreigliedrigen Bundesstaatsbegriff ausgeht: „Zweifellos handelt es sich bei Art. 24, wo von den internationalen Beziehungen des Bundes die Rede ist, um den Gesamtstaat, und es wäre hier wirklich am Platz gewesen, den Ausdruck Bundesrepublik' zu gebrauchen. Denn die Übertragung von Hoheitsrechten ... kann doch unmöglich dadurch begrenzt sein, daß Zuständigkeiten der deutschen Länder in Frage stehen" (Grundgedanken, S. 37).
Α. Entstehung
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Unter dem Titel „Der Kampf um den Wehrbeitrag" firmieren die Auseinandersetzungen der Jahre 1952/53 um den sog. Pleven-Plan. Dieser sah die Bildung einer europäischen Armee unter einheitlichem Oberbefehl und die Einbeziehung eines deutschen Kontingents vor und führte zur Ausarbeitung des Vertrages über die EVG nach dem Modell des EGKSV. 13 Die Auseinandersetzung in der Staatsrechtslehre rankte sich um drei Punkte: Zum einen ging es um die Zulässigkeit eines von Abgeordneten des Bundestages vor dem BVerfG eingeleiteten „vorbeugenden" Normenkontrollverfahrens, 14 zum anderen im Rahmen eines Gutachtenverfahrens 15 um die Fragen, ob das Grundgesetz eine übertragungsfähige - Wehrhoheit enthält oder diese erst durch Verfassungsänderung geschaffen werden muß sowie ob Hoheitsrechte einer vorhandenen Wehrhoheit gemäß Art. 24 GG an die EVG durch einfaches Gesetz übertragen werden können oder ob es dazu einer Verfassungsänderung bedarf. Für eine Darstellung der Auslegungs- und Anwendungsgeschichte des Art. 24 Abs. 1 GG ist insbesondere der Meinungsstreit zur letzten Frage von Interesse; nach Κ H. Kleins Arbeit findet hier die Behandlung des Art. 24 Abs. 1 GG durch die Staatsrechtslehre - eingebettet allerdings in einen scharfen politischen Streit ihren frühen Höhepunkt. Durch sie erfährt die Auslegung des Art. 24 Abs. 1 GG eine Richtung, die das Entstehen der herrschenden Lehre bewirken und den weiteren, weithin schrankenorientierten Umgang mit Art. 24 Abs. 1 GG prägen wird. Doch auch die Debatte um das Vorhandensein von „Hoheiten" und der Notwendigkeit ihrer verfassungstextlichen Konstituierung ist von Interesse; sie hat insbesondere zum Verständnis des Begriffs „Hoheitsrechte" einen engen Bezug. Daß die Beiträge im „Kampf um den Wehrbeitrag" prägend für die weitere Entwicklung wurden, ist insbesondere der Konstellation im Verfassungsstreit geschuldet. Während die Regierungsgutachter - in Anerkennung der Problematik einer fehlenden klaren Regelung der Wehrhoheit im Grundgesetz - darum bemüht waren, die Voraussetzungen für das Vorhandensein von Hoheitsrechten gering zu halten sowie insbesondere die Anforderungen aus dem Begriff „übertragen" zu senken, um so die Tragweite bzw. Geltung des Satzes nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet bestreiten zu können, versuchten die Gutachter der Gegenseite, auf diesen Satz zu rekurrieren und daneben weitere 13 Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vom 27. Mai 1952 (BGBl. I I 1954 S. 343) und Gesetz betreffend den Vertrag vom 27. Mai 1952 über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und betreffend den Vertrag vom 27. Mai 1952 zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vom 28. März 1954 (BGBl. I I S. 342). 14 BVerfGE 1, 396; siehe auch BVerfGE 2, 143. 15 BVerfGE 2, 79.
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
bundesstaatliche und grundrechtliche - Schranken des Art. 24 Abs. 1 GG zu formulieren; diese wurden dann auch von den Regierungsgutachtern konzediert. Insgesamt entstand daraus im Gefolge des „Wehrstreits" eine Lehre, für die „übertragen" nicht „traiisferre" hieß und die ihr Hauptaugenmerk auf die Problematik der Schranken einer Übertragung von Hoheitsrechten legte. Paradebeispiel für die Begründung dieser Entwicklung ist das Gutachten von E. Kaufmann. Nach der eingehend begründeten Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland das Recht der Wehrhoheit bereits innehabe,16 unternimmt es E. Kaufmann, den Leitbegriff „übertragen" näher zu bestimmen, und er kommt zu dem Ergebnis, daß es sich nicht um eine „Transferierung von Hoheitsrechten" handele, „sondern um ein Betrauen, eine Ausstattung mit Hoheitsrechten". Deshalb könne der Satz nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet keine Anwendung finden. 17 Zur Begründung führt er an, daß eine internationale Organisation kein Bündel von verschiedenen („transferierten") nationalen Hoheitsrechten ausübe, sondern eigene („konferierte") inter- oder supranationale Hoheitsrechte. Diese seien gegenüber jenen ein aliud. 18 Ansatzpunkt für dieses Argument ist, daß das deutsche Wort „übertragen" eine doppelte Bedeutung habe, es sowohl „transférer" bzw. „transfer" wie „conférer" bzw. „confer" bedeuten könne. E. Kaufmann begründet seine Wahl der Bedeutung „confer" damit, daß die Wirkung nationaler (= zu transferierender) Hoheitsrechte ihre Grenze an den Grenzen des staatlichen Hoheitsgebietes habe, während es das Wesen der (= konferierten) Hoheitsrechte internationaler Instanzen sei, über die einzelnen nationalen Hoheitsgebiete hinaus ihre Wirksamkeit auf die aller beteiligten Staaten entfalten und also Grenzen überspringen zu können. 19 Aus dem so möglich gewordenen Ausschluß von nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet folge: „Ist dem so, so steht nichts dem entgegen, daß ein Staat, der rechtlich oder tatsächlich gehindert ist, gewisse ihm an sich zustehende Hoheitsrechte auszuüben, ein internationales Organ oder eine internationale Organisation beauftragt, diese Hoheitsrechte für sein Gebiet auszuüben. ... Es geht nur darum, einer zwischenstaatlichen Einrichtung Hoheitsrechte einzuräumen, die an sich grundsätzlich zur nationalen Souveränität gehören." 20
16
E. Kaufmann, Wehrbeitrag II, S. 45 ff. und S. 795 ff. E. Kaufmann, Wehrbeitrag II, S. 55. 18 E. Kaufmann,, Wehrbeitrag II, S. 54. 19 E. Kaufmann, Wehrbeitrag II, S. 54 f. 20 E. Kaufmann, Wehrbeitrag II, S. 55. Und dazu gehörten alle Rechte, die die Fülle der einheitlichen Staatsgewalt ausmachen, ohne daß es ihrer „Konstituierung" bedürfe (S. 786 ff. und insbesondere S. 795). 17
Α. Entstehung
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Bindungen will E. Kaufmann der so bestimmten „Übertragung" in zweierlei Hinsicht auferlegen: Sowohl Art. 26 Abs. 1 GG als auch die Grundrechte seien zu beachten. Der Bund könne sich in einem Vertrag nur zu einem Verhalten gegenüber seinen Angehörigen und Bewohnern verpflichten, das im Einklang mit den Grundrechten stehe.21 Auch die zwischenstaatliche Einrichtung könne die Hoheitsrechte, mit denen sie ausgestattet ist, nicht frei ausüben. Vielmehr gebe es „einen allgemeinen internationalen Standard für die politischen Freiheiten und die Grundrechte der Individuen, den auch internationale Organe bei der Ausübung der ihnen verliehenen Hoheitsrechte nicht unterschreiten dürfen." 22 Ebenso wie E. Kaufmann anerkennt U. Scheuner das Vorhandensein einer Wehrhoheit und stellt sie zur Verfügung des einfachen Gesetzgebers.23 Die dagegen stehende Auffassung R. Smends von der Notwendigkeit besonderer verfassungsrechtlicher Ermächtigung für die Übernahme neuer Staatsaufgaben 24 sieht U. Scheuner im Widerspruch zu den grundsätzlichen modernen Einsichten in die einheitliche und umfassende Staatsgewalt stehen.25 Es sei fest gegründete deutsche Verfassungstradition, „daß ein souveräner Staat aus der Fülle seiner Staatsgewalt die Befugnis in sich trägt, auch neue Aufgaben zu übernehmen und nicht in der Verfassung geregelte Fragen zu entscheiden ... ohne erst einer besonderen Verfassungsermächtigung zu bedürfen". 26 Zumindest genüge das Vorliegen einer erkennbaren Stellungnahme der Verfassung,
21
E. Kaufmann, Wehrbeitrag II, S. 59 f. E. Kaufmann,, Wehrbeitrag II, S. 60. 23 U. Scheuner, Wehrbeitrag II, S. 97 ff. 24 Für R. Smend ist der verfassungsrechtliche Erwerb, die konkrete verfassungsrechtliche Herstellung eines Hoheitsrechts durch seine Aufnahme in den Verfassungstext die Voraussetzung für seine mögliche Überführung in eine internationale Eingliederung. Diese Herstellung sei „ein durch Art. 24 nicht gedeckter staatsrechtlicher Vorgang von verfassungsänderndem Charakter" und könne nicht durch diesen ersetzt werden (Wehrbeitrag II, S. 566). 25 U. Scheuner, Wehrbeitrag II, S. 119 ff. Eine ähnliche Kritik gegenüber R. Smend findet sich bei R. Thoma, Wehrbeitrag II, S. 166 f.: Hoheitsrechte seien „nicht Elemente einer limitierten Staatshoheitssumme, sondern Ausstrahlungen der ihrem Begriff und Wesen nach allumfassenden Hoheitsgewalt des modernen Staates ... Das bedeutet nicht, daß ein Staat in jedem Zeitpunkt seiner Existenz von allen Ausstrahlungen seiner allumfassenden Hoheit Gebrauch macht oder auch nur alle organisiert und reguliert ... Aber aus dieser Einsicht folgt umgekehrt auch nicht, daß es in der Bundesrepublik Deutschland unstatthaft sei, dem Art. 24 die Bedeutung zuzusprechen, die seine Gestalter ihm geben wollten: nämlich die in seinen Bereich fallenden »Ergreifungen 4, Organisierung und Regulierungen bisher ruhender Hoheitsrechte zu erleichtem und in diesem Falle die an sich erforderliche förmliche Verfassungsänderung entbehrlich zu machen ..." 26 U. Scheuner, Wehrbeitrag II, S. 124. 22
22
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
wenn auch in lückenhafter und allgemeiner Form; einer ausdrücklichen und vollständigen Verfassungsregelung bedürfe es nicht. Mit diesem Befund widmet sich U. Scheuner der Erörterung des Art. 24 GG. Als dessen entstehungsgeschichtlichen Grundgedanken arbeitet er zunächst die Befreiung von etwa notwendigen verfassungsändernden Formen heraus. Dieser Grundgedanke des Art. 24 GG werde durch seine Stellung im Verfassungssystem unterstrichen, denn im Grundgesetz stehe der Artikel an „bemerkenswerter Stelle". „Der Umstand, daß er Aufnahme in dem Abschnitt ,Bund und Länder' gefunden hat, zeigt, daß die in ihm dem Bunde übertragene Verfügungsgewalt als Teil, und zwar als spezieller Bestandteil gegenüber anderen allgemeinen Vorschriften (Art. 30, 70 GG) der Gesamtordnung Bund - Länder zu gelten hat." 27
Wegen dieser systematischen Stellung gewinne Art. 24 GG den Rang eines grundlegenden Verfassungsprinzips, das als lex specialis zu den in den späteren Abschnitten getroffenen Zuständigkeitsverteilungen wirke. 28 Zum anschließend näher untersuchten Begriff „übertragen" führt U. Scheuner aus, er bezeichne den Vorgang bei der Errichtung zwischenstaatlicher Einrichtungen nicht genau. „Die Hoheitsrechte werden ihnen im Grunde nicht übertragen, sondern ihnen wird eine internationale Befugnis zur Regelung bestimmter Fragen, unter Umständen sogar in der Form unmittelbaren Zugriffs gegen Einzelpersonen der Mitglieder, eingeräumt. Diese Befugnisse sind, da staatliche Rechte nicht völkerrechtlich übertragen werden können, internationale Befugnisse, also ihrem Wesen nach verschieden von den staatlichen, die sie ersetzen." 29
Eine Übertragung in diesem Sinne liege immer dann vor, wenn an Stelle des einzelnen Staates auf gewissen Sachgebieten oder im Rahmen einzelner Kompetenzen internationale Organe zu handeln befugt seien. „In diesem Falle werden also nicht eigentlich ... Hoheitsrechte übertragen, sondern der Staat verzichtet auf Ausübung seiner Hoheit auf bestimmten Gebieten zu Gunsten der internationalen Organisation." 30
27
U. Scheuner, Wehrbeitrag II, S. 137 f. U. Scheuner, Wehrbeitrag II, S. 138. 29 U. Scheuner, Wehrbeitrag II, S. 139. 30 U. Scheuner, Wehrbeitrag II, S. 139. Vom Begriff „Hoheitsrechte" sieht Scheuner alle (formellen) Staatsfunktionen erfaßt; es könnten Sachgebiete aus dem Bereich der Gesetzgebung als auch aus denen der Verwaltung und Rechtspflege Übertragungsgegenstand sein. 28
Α. Entstehung
23
Mit diesem Wechsel vom Wortlaut „Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen" zum Verständnis „auf Ausübung eigener Hoheit zu Gunsten der Befugnisse der internationalen Organisation verzichten" ist der Grund für die weitere Entwicklung gelegt, ist die Konsensformel bereits gefunden; von Κ. H. Kleins Verständnis des tatbestandlichen Gehalts der Übertragungsermächtigung als „endgültiger Abtretung von Hoheitsrechten" ist nichts mehr übrig. Die Übertragung von Hoheitsrechten in der Form des Verzichts auf eigene Hoheitsausübung ist für U. Scheuner ein völkerrechtlicher Akt, das Gesetz im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG dagegen die innerstaatlich erforderliche Form, um die Zustimmung und Transformation des völkerrechtlichen Akts herbeizuführen. Dieses Gesetz sei einfaches Gesetz, auch wenn die Folgen der Einrichtung der internationalen Organisation die bestehende Zuständigkeitsordnung der Abschnitte I V - X durchbrächen. Art. 24 GG habe die Funktion, diese Verfassungsabweichungen im Text des Grundgesetzes zu sanktionieren. „Er erfüllt damit die Voraussetzung des Art. 79 Abs. 1. Soweit also unter Art. 24 Abs. 1 fallende Verträge Abweichungen von der normalen Zuständigkeitsordnung enthalten, bedarf es keiner Textänderung der Verfassung. Diese Abweichungen sind durch Art. 24 als einer generellen Bestimmung vorweggenommen." 31
Die durch Art. 24 Abs. 1 GG gewährte Befreiung von einzelnen Schranken der Verfassungsänderung beziehe sich jedoch nur auf Abweichungen von der grundgesetzlichen Zuständigkeitsordnung. Nur soweit der Bund in Zuständigkeiten der Länder eingreife oder besondere konstituierte Zuständigkeiten einzelner Bundes- oder Länderorgane berühre, greife sie ein. 32 Weder dürften die in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Grundlagen der freiheitlichen demokratischen Ordnung berührt werden, noch ermächtige Art. 24 Abs. 1 GG zur Beiseitesetzung grundrechtlicher Schranken. Ebenso werde man die eigentlichen Fundamente der verfassungsrechtlichen Ordnung, also des Verhältnisses von Bund und Ländern, des organisatorischen Aufbaus, als der Veränderung entzogen betrachten müssen. „Entscheidend ist der Zweck des Art. 24: Beim Aufbau zwischenstaatlicher Einrichtungen soll der Bund ... nicht im einzelnen an die bestehende Zuständigkeitsverteilung gebunden sein. Er soll in der Lage sein, ganze Sachbereiche und Kompetenzgruppen zu übertragen, auch wo damit die Länder oder bestehende Zuständigkeitsvorschriften betroffen werden." 33
31 32 33
U. Scheuner, Wehrbeitrag II, S. 140. U. Scheuner, Wehrbeitrag II, S. 141. U. Scheuner, Wehrbeitrag II, S. 143.
24
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
Die in den vorgestellten Beiträgen der Regierungsgutachter vertretenen Auffassungen riefen bei der Gegenseite scharfe Kritik hervor. So hat E. Menzel gegen die zur Umgehung der Tragweite des Satzes nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet geeignete These, für die übertragungsfähigen Hoheitsrechte käme es auf ihre verfassungsrechtliche Positivierung nicht an, ausgeführt, nach allgemeinem Sprachgebrauch könne man „nur das übertragen, was man im Besitz hat." 34 Im Besitz habe der Staat nach allgemeinen völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Grundsätzen - als Ausfluß seiner Souveränität - zwar zahlreiche Hoheitsrechte. Dies heiße jedoch nur, daß er über sie nach eigenem Ermessen verfügen, insbesondere entscheiden könne, ob er von ihnen Gebrauch machen, sie also in Anspruch nehmen wolle oder nicht. Erst diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung ermögliche das Transferieren von Hoheitsrechten und sei deshalb notwendig vorab zu treffen. Sie bedeute, „daß der Staat sich zunächst in verfassungsrechtlich gehöriger Form erklärt, ob er ein solches Hoheitsrecht in Anspruch nimmt. Entscheidet er sich negativ oder läßt er die Entscheidung offen, so kommt auch keine Übertragung zustande. Erst ein realisiertes' Hoheitsrecht kann Gegenstand einer solchen Transferierung sein. Solange die innerstaatliche Entscheidung zur Ausübung dieses Rechts nicht getroffen ist, würde nur ein leerer Rahmen und damit ein rechtliches Nichts übertragen werden. Es gilt auch hier der alte Rechtsgrundsatz, daß niemand mehr Rechte übertragen kann als er selbst besitzt (,nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet')." 35
Der allgemeine Sprachgebrauch findet nach E. Menzel somit in dem juristischen seine Entsprechung: Nur im Besitz befindliche Rechte könnten übertragen werden. „Im Besitz" des Staates seien aber Hoheitsrechte nur dann, wenn der Staat sie in seinen verfassungsrechtlichen Willen 3 6 aufgenommen habe. Auch E. Forsthoff bestreitet die von E. Kaufmann, U. Scheuner und R. Thoma vertretene Auffassung, der Bundesrepublik komme die Wehrhoheit ohne ausdrückliche verfassungsrechtliche Regelung zu. Der von den genannten Autoren an der Gegenauffassung, daß die Verfassung eines gewaltenteilenden Rechtsstaats grundsätzlich nur normativ ausgewiesene Hoheitsrechte kenne, geübten Kritik, es handele sich um die Wiederbelebung der Theorie von den
34
E. Menzel, Wehrbeitrag I, S. 293. E. Menzel, Wehrbeitrag I, S. 294. 36 Diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung unterstellt E. Menzel den allgemeinen verfassungsrechtlichen Normen, nicht etwa nehme auch sie an der Privilegierung des Art. 24 Abs. 1 GG - einfaches Gesetz - teil. Nur die Übertragung, nicht aber die zu ihrer Vornahme notwendige „verfassungsrechtliche Realisierung" eines Hoheitsrechts unterfalle dem Tatbestand des Art. 24 Abs. 1 GG (Wehrbeitrag I, S. 294). Dies trifft sich mit der Auffassung von R. Smend, der in diesem Zusammenhang von der „Herstellung des Hoheitsrechts" spricht (Wehrbeitrag II, S. 566). 35
Α. Entstehung
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einzelnen staatlichen Hoheitsrechten, 37 hält E. Forsthoff entgegen, daß es sich hierbei um die Betonung eines tragenden Strukturelements der rechtsstaatlichen Verfassung in ihrem positiv-rechtlichen Bestand handele. „Es ergibt sich also aus der positiven Rechtsordnung des Verfassungsstaates, daß in ihm nur solche Hoheitsrechte anerkannt werden können, die von der Verfassung bestätigt und geregelt sind. Eine solche Positivierung ist nicht schon dann anzunehmen, wenn die Verfassung ein Hoheitsrecht lediglich erwähnt, sondern es muß gefordert werden, daß die verfassungsmäßige Normierung auch vollzugsreif ist." 3 8
Nach dieser Grundlegung untersucht E. Forsthoff den Art. 24 GG im einzelnen. Seine Ausgangsthese ist, „daß die Anwendung dieser Norm eine doppelte Beziehung zur Verfassungsänderung hat." 39 Das Grundgesetz stehe wie jede Verfassung unter der Anforderung der Einheitlichkeit und Geschlossenheit; daraus folge die Notwendigkeit, „daß alle im örtlichen Geltungsbereich der Verfassung wahrgenommenen hoheitlichen Funktionen von der Verfassung ergriffen werden." 40 „Die Übertragung von Hoheitsrechten auf außerstaatliche Instanzen quoad substantiam, nicht nur quoad usum, durchbricht dieses von der Verfassung aufgerichtete System der Organisation und Kontrolle, indem es diese Hoheitsrechte aus diesem System endgültig ausgliedert." 41
Schon deshalb sei die Übertragung von Hoheitsrechten in jedem Falle eine Verfassungsänderung. Sie habe aber eine weitere Beziehung zur Verfassungsänderung, weil Art. 24 Abs. 1 GG den „Bund", also die Organe, die für ihn zu handeln berufen seien, zu Hoheitsrechtsübertragungen ermächtige. „Da der Verfassungsstaat seinen Organen nur rechtlich begrenzte Zuständigkeiten einräumen kann ..., muß auch die Funktion dieser Organe im Rahmen des Art. 24 GG begrenzt sein. Die streitige Frage ist die, ob diese Begrenzung sich aus dem übrigen Inhalt der Verfassung ergibt, ob sie also die gleiche ist, der die Organe bei ihrem sonstigen Handeln unterworfen sind, oder ob die Verfassung sie in Art. 24 GG von sonstigen Verfassungsbindungen mindestens in einem gewissen Umfang freistellt." 42
Diese doppelte Beziehung sei von den meisten Autoren nicht richtig erkannt oder aber nicht hinreichend beachtet worden. Für E. Forsthoff liegt ihre Auflösung auf der Hand. Sie könne nur dahin gehen, „daß sich die in Art. 24 GG 37
So dezidiert E. Kaufmann, Wehrbeitrag II, S. 794 f. E. Forsthoff, Wehrbeitrag II, S. 320. 39 E. Forsthoff, Wehrbeitrag II, S. 329. 40 E. Forsthoff, Wehrbeitrag II, S. 330. 41 E. Forsthoff, Wehrbeitrag II, S. 330. Damit ist klar, daß Forsthoff fem Begriff der „Übertragung" auch die Auslegung als endgültige Abtretung abgewinnt. 42 E. Forsthoff, Wehrbeitrag II, S. 330 unter Bezugnahme auf Κ. H. Klein, Übertragung, S. 28 f., 57. 38
26
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
enthaltene Ermächtigung zur Verfassungsänderung auf die Übertragung von Hoheitsrechten beschränkt, nicht aber auf die Kompetenzüberschreitung erstreckt." 43 Jede andere Interpretation führe zu unhaltbaren Ergebnissen, insbesondere würde Art. 79 GG insoweit außer Kraft gesetzt sein, als dann verfassungsändernde Gesetze als einfache Gesetze und ohne Änderung des Verfassungswortlauts ergehen könnten. Zwar wäre es dem Verfassunggeber möglich gewesen, eine Durchbrechung des Art. 79 GG anzuordnen, dafür bedürfte es aber einer evidenten grundgesetzlichen Grundlage. Diese sei in Art. 24 Abs. 1 GG nur insoweit enthalten, als überhaupt Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden könnten. Für die Zulässigkeit der Überschreitung verfassungsmäßig festgelegter Kompetenzen biete Art. 24 GG jedoch keinen Anhalt. Der gegenteilige Standpunkt finde im Wortlaut keine Stütze. Der Versuch, über Art. 24 GG einen zweiten Verfassungsgesetzgeber einzuführen, verändere das System der Verfassung von Grund auf und sei mit der Logik ihrer Institutionen unvereinbar. 44 Diesen Gedanken hat T. Maunz weiter ausgebaut, indem er zunächst den Regierungsgutachtern konzedierte, daß das Gesetz im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG das einfache Gesetz sei, um sogleich festzuhalten, daß selbst dann die Übertragungsermächtigung Schranken unterliege, deren Durchbrechung - wenn überhaupt zulässig - in jedem Falle eines verfassungsändernden Gesetzes bedürfte. 45 Als diese Schranken benennt er die Unantastbarkeiten des Art. 79 Abs. 3 GG, den Art. 24 Abs. 2 GG, andere Fundamentalsätze der Verfassung sowie die Grundrechte. Für Art. 79 Abs. 3 GG liege dies auf der Hand: „Da Art. 79 Abs. 3 GG sogar Grenzen für den Verfassungsgesetzgeber aufstellt, ist die Annahme auszuschließen, daß das Grundgesetz auf zwischenstaatlicher Ebene Verletzungen des Art. 79 Abs. 3 hinzunehmen bereit wäre und obendrein den einfachen Gesetzgeber hierzu ermächtigt habe." 46
Auch Art. 24 Abs. 2 GG begrenze als spezielle und engere Vorschrift den Abs. 1 ; soweit es sich um die Einordnung in Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit handele, sei nur eine Beschränkung der Hoheitsrechte gestattet, nicht aber eine Übertragung, eine Weggabe, oder ein Verzicht auf die Ausübung, der einer Übertragung gleichkäme.47
43
E. Forsthoff, Wehrbeitrag II, S. 330; wieder unter Bezugnahme auf Κ. H. Klein, Übertragung, S. 57: „Art. 24 GG ist keine Kompetenznorm." 44 E. Forsthoff, Wehrbeitrag II, S. 331 ff. 45 T. Maunz, Wehrbeitrag II, S. 595. 46 T. Maunz, Wehrbeitrag II, S. 597. 47 T. Maunz, Wehrbeitrag II, S. 597 f.
Α. Entstehung
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T. Maunz sieht die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG weiterhin durch andere Fundamentalsätze der Verfassung - wie die Art. 30, 70, 83 GG - beschränkt. So könne Art. 24 Abs. 1 GG nicht dazu dienen, „um Hoheitsrechte auf den Bund zu ,übertragen', die ihm nach dem Zuständigkeitskatalog der Art. 72-75 GG und nach der ZuständigkeitsVerteilung des Art. 30 GG nicht zustehen."48 Da nach Art. 1 Abs. 3 GG die Grundrechte zudem auch den Gesetzgeber binden, dürfe der einfache Gesetzgeber nicht von ihnen abweichen, es sei denn aufgrund eines ausdrücklichen, gerade dieses eine Grundrecht betreffenden konkreten Vorbehalts. Weil Art. 24 Abs. 1 GG keinen entsprechenden Vorbehalt enthalte, sind auch die Grundrechte stärker als der in Art. 24 GG beschrittene Weg zur Internationalisierung durch den einfachen Gesetzgeber. 49 T. Maunz kommt so zu dem Ergebnis, daß selbst bei unterstelltem einfachen Gesetz dieses nicht genüge und es einer Qualifizierung bedürfte, wenn es gelte, die Art. 24 Abs. 1 GG immanenten Schranken im Verfahren des Art. 79 GG aus dem Weg zu räumen. Gegen die Auslegung des „Übertragens" von Hoheitsrechten durch die Regierungsgutachter ist dann F. Klein vorgegangen. Nach einer systematischen, weitgehend die Ergebnisse von Κ Η. Klein 50 berücksichtigenden Abgrenzung der Abs. 1 und 2 des Art. 24 GG 5 1 geht F. Klein auf die Bestimmung des Begriffs „übertragen" ein. Hier prüft er die „confer-Theorie", wie sie E. Kaufmann vertreten hat, auf ihre „Richtigkeit" nach, um anschließend seinen Begriff der Übertragung von Hoheitsrechten zu entwickeln. Nach dieser Theorie sei „übertragen" nicht als „übertragen" („transferieren"), sondern als „anvertrauen", „betrauen", „ausstatten", „einräumen" oder „verleihen" („konferieren"), auch als „Verzicht" auf eigene Hoheitsrechtsausübung zu verstehen. Schon die sprachlichen Erwägungen der Anhänger der „confer-Theorie" vermögen F. Klein je-
48
T. Maunz, Wehrbeitrag II, S. 598. T. Maunz, Wehrbeitrag II, S. 599. 50 Κ Η; Klein, Übertragung. 51 F. Klein, Wehrbeitrag II, S. 486 f.: Danach ist Abs. 1 die weiterführende, Abs. 2 die engere Bestimmung. Mithin könne der Besitzstand an Hoheitsrechten in zweierlei Art und Weise gemindert oder geschmälert werden, „einmal in der stärkeren Form der echten Übertragung (,Abtretung') von Hoheitsrechten, d. h. also in der Weise, daß sich der betreffende Träger eines Teiles oder aller seiner Hoheitsrechte endgültig, weil für immer entäußert; zum anderen in der schwächeren Form der bloßen Übertragung zur Ausübung, d. h. also in der Weise, daß sich der betreffende Träger nicht für immer und damit nicht endgültig, sondern nur vorübergehend und vorläufig der Ausübung eines Teiles oder aller seiner Hoheitsrechte begibt." Art. 24 Abs. 1 GG gestatte beide Formen der Minderung oder Schmälerung deutscher Hoheitsrechte, da hier „Übertragung" als Oberbegriff für den entsprechenden Vorgang sowohl des Abs. 1 als auch des Abs. 2 verwendet werde; Abs. 2 gestatte nur die Übertragung zur Ausübung. 49
28
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
doch nicht zu überzeugen. Sie seien ein bloßes Wortspiel, da man ebenso wie übertragen auch nur anvertrauen könne, worüber zu verfügen man befugt sei. 5 2 A u c h werde „übertragen" nicht allein gegen „anvertrauen" vertauscht, sondern zudem mit dem B e g r i f f „konstituieren". I m Ergebnis entstehe der Zirkelschluß, daß aus der W i r k u n g ein Vorliegen der Voraussetzungen bewiesen werde. „Es mag sein, daß ,Hoheitsrechte 4 oder Kompetenzen, die einer zwischenstaatlichen Einrichtung zu eigenem Recht übertragen oder anvertraut werden, sich dadurch wandeln, also von ihrem innerstaatlichen Ursprung abgelöst und zu supranationalen Befugnissen werden. Aber diese insoweit konstitutive Wirkung des Aktes, des Übertragens, läßt doch keinerlei Rückschluß darauf zu, welche Kompetenz der Akteur, der Übertragende, gehabt haben muß, um diese Wirkung zu erzeugen. ... Daß dieser Übergang als Internationalisierung einen Wandel, keine Erweiterung der Befugnisse zur Folge haben kann, also die zwischenstaatliche Einrichtung dadurch möglicherweise Kompetenzen zu eigenem Recht erwirbt, steht nicht im Widerspruch dazu, daß ihr Rechtserwerb ein abgeleiteter bleibt und zur Voraussetzung hat, daß die beteiligten Staaten Befugnisse, wie sie sie der zwischenstaatlichen Einrichtung gewähren wollen, zuvor in ihren eigenen Verfassungen konstituiert hatten." 53 Diese Ansicht vertritt auch H. Kraus: „Ebenso wenig ermächtigt Art. 24 GG natürlich zur Disposition über verfassungsrechtlich überhaupt nicht vorgesehene Hoheitsrechte. Niemand kann über ein Recht verfügen, das er nicht besitzt." 54 H. Kraus bleibt bei dieser kompetentiellen Begrenzung des Umfanges der Übertragungsbefugnis nicht stehen. Zwar anerkennt er, daß Art. 24 G G eine den Art. 79 G G einschränkende Sondervorschrift darstelle, soweit durch einfaches Gesetz deutschen Behörden verfassungsrechtlich zugeteilte Hoheitsfunktionen 5 5 an überstaatliche Einrichtungen übertragen werden könnten. D o c h
52 Ähnlich auch Κ Loewenstein, Wehrbeitrag II, S. 385 f.: Die von E. Kaufmann vorgenommene Wortlautauslegung, „das Wort »übertragen 4 bedeute nicht ,transferieren 4 oder delegieren', sondern ,anvertrauen 4 oder ,betrauen mit 4 , wirkt nicht nur gekünstelt, sondern auch als ein Eingeständnis, es handle sich deshalb um keinen ,Transfer 4, weil es nichts zu ,transferieren 4 gibt. Ähnlich schwach ist die Verbalinterpretation, daß mit ,übertragen 4 eigentlich gar nicht,übertragen 4 , sondern »verzichten4 gemeint ist. ... Nicht weniger abwegig ist die Argumentation, ,das Hoheitsrecht der Gemeinschaft ist ein neugeschaffenes Recht4. Dies ist nichts anderes als eine Spielart des mystischen ,Zuwachses4 einer innerstaatlich nicht vorhandenen Zuständigkeit aus der Sphäre des Überstaatlichen" 53 F. Klein, Wehrbeitrag II, S. 471 f. gibt hier Auszüge aus einem Schriftsatz der SPD-Bundestagsfraktion vom 18.10.1952 wieder; dieser ist abgedruckt in Wehrbeitrag II, S. 244 ff. 54 H. Kraus, Wehrbeitrag II, S. 837 f. 55 Dabei definiert H. Kraus Hoheitsrechte als „Zuständigkeiten zur Ausübung obrigkeitlicher Funktionen44 (Wehrbeitrag II, S. 836).
Α. Entstehung
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erwerbe die internationale Institution durch Übertragung von innerstaatlichen Hoheitsrechten lediglich die Zuständigkeit, nunmehr diese innerstaatlichen Hoheitsrechte wahrzunehmen. Dann aber sei die Zuständigkeit der zwischenstaatlichen Einrichtung nicht nur durch den Umfang der ihr übertragenen H o heitsrechte begrenzt, sondern auch inhaltlich gebunden: „Bei Gelegenheit der Delegation innerstaatlicher Kompetenzen an internationale Instanzen können keine Zuständigkeitserweiterungen gegenüber Verfassungsbestimmungen durch einfaches Gesetz wirksam vereinbart werden. Soweit das GG innerstaatlicher Hoheitsbetätigung Grenzen zieht, bleiben diese auch für internationale Instanzen maßgeblich." 56 H. Kraus n i m m t somit in formeller wie materieller Hinsicht eine enge B i n dung der Übertragungsbefugnis des Bundes an. Zusammengefaßt fordert er, daß die Verfassung der zwischenstaatlichen Einrichtung m i t der des Grundgesetzes „strukturell kongruent" sein müsse. 5 7 Dieses Erfordernis „struktureller Kongruenz" enthalte eine Beschränkung der Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG, die sich an das Homogenitätsprinzip bundesstaatlicher Verfassungen anlehne. 5 8 Den „ K a m p f u m den Wehrbeitrag" hat das B V e r f G nie inhaltlich entschieden, vielmehr wurde die verfassungsrechtliche Problematik, nachdem die Adenauer-Regierung bei den Wahlen 1953 die entsprechende Mehrheit erhalten hatte, durch Einfügung der Art. 79 Abs. 1 Satz 2 und Art. 142 a G G „gelöst",
56 H. Kraus, Wehrbeitrag II, S. 837. Als Beispiel nennt H. Kraus die vorbehaltlosen Grundrechtsbestimmungen: „Absicht des Art. 24 GG ist es nie und nimmer gewesen, zu ermöglichen, daß mit der Abtretung von Hoheitsrechten an internationale Institutionen Eingriffe in Grundrechtsbestimmungen verbunden werden dürfen" (S. 837). Ein innerstaatliche Grenze bilde auch die bundesstaatliche Kompetenzstruktur (Wehrbeitrag II, S. 545). 57 H. Kraus, Wehrbeitrag II, S. 550 ff. Soweit ersichtlich, taucht dieser Begriff hier erstmalig auf; dazu H. Kruse, FS Kraus 1954, S. 113. 58 H. Kraus nimmt diese Bindungen der Übertragungsermächtigung auf der Grundlage einer klaren Erkenntnis der Wirkung von Hoheitsrechtsübertragungen vor. Doch formulierte er diese nicht in aller Deutlichkeit in seinen Äußerungen zum Wehrstreit, sondern bereits 1950: „Beschränkung von Hoheitsrechten heißt Abgabe von Stücken innerstaatlicher Herrschergewalt, bedeutet die Zustimmung zu innerstaatlich unmittelbar verbindlicher Befehlserteilung durch fremde überstaatliche Autorität, sei es in Form von Gesetzen oder Verwaltungsakten oder auch Urteilssprüchen. Ein Hoheitsrecht ist abgegeben, wenn Sprüche eines internationalen Gerichts ohne deutschen Durchführungsbefehl innerstaatlich verbindlich sind, wenn außerdeutsche Verwaltungsbehörden Verwaltungsakte direkt in den innerstaatlichen deutschen Bereich hinein erlassen können, ..., wenn nicht deutsche Rechtsetzungsorgane innerstaatlich unmittelbar verbindliches Recht schaffen dürfen"; Auswärtige Stellung, S. 22.
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
ohne daß es auf die Auslegung des Art. 24 Abs. 1 GG ankam. 59 Dennoch: Das Gutachtenverfahren wirkte prägend für die weitere Auslegung und Anwendung des Art. 24 Abs. 1 GG. Denn wie sich zeigen wird, verlagerte sich nach dem „Kampf um den Wehrbeitrag" der Schwerpunkt der staatsrechtlichen Behandlung des Art. 24 Abs. 1 GG zunehmend von der Tatbestandsbestimmung auf die Bewältigung der Rechtsprobleme aus der Anwendung der Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten in dem Verständnis, das sich durchgesetzt hatte. Durchgesetzt hatte sich aber die Tatbestandsbestimmung, die „Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen" als „auf die Ausübung eigener Hoheit zu Gunsten der Befugnisse internationaler Organisationen verzichten" las. So „siegte" die Auslegungsrichtung des Gutachtenverfahrens, die auch auf der Seite der politischen Sieger im „Kampf um den Wehrbeitrag" stand, angereichert jedoch um immer weitere Schrankenkonstruktionen. Beide Hauptentwicklungslinien der Auslegungs- und Anwendungsgeschichte des Art. 24 Abs. 1 GG, das Entfernen der Dogmatik vom Wortlaut und der Zugriff auf die Begründung von Schranken, finden sich mithin früh angelegt. Dies macht auch die 12. Staatsrechtslehrertagung deutlich. Im Oktober 1953 befaßte sie sich unter der Überschrift „Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik" unter anderem mit Art. 24 GG. Die Tagung fiel in eine Zeit, in der der „Kampf um den Wehrbeitrag" noch nicht beendet war und konnte sich von den Nachwirkungen des „Gutachtenkriegs" 60 auch nicht vollständig befreien. Doch wurden in den Berichten von W. Grewe und E. Menzel Gesichtspunkte ange-
sprochen, die Ergebnisse des „Wehrstreits" aufgriffen und fortentwickelten. So beschreibt W. Grewe den Art. 24 Abs. 1 GG als eine „Verfassungsbestimmung, die einen spezifisch modernen Bestandteil der auswärtigen Gewalt konstituiert, nämlich eine besonders geartete Integrationsgewalt, die neben die normale treaty-making power tritt. Eine solche Integrationsgewalt ist nur die technisch-verfassungsrechtliche Konsequenz der Tatsache, daß sich die zwischenstaatlichen Beziehungen differenziert haben und daß wir in eine Zeit eintreten, in der es zwischen den bundesstaatlichen Bund-Länder-Beziehungen und den internationalen Beziehungen zwischen souveränen Staaten im Sinne des traditionellen Völkerrechts eine dritte, besonders geartete Kategorie von Beziehungen zwischen den Mit59 Zu diesen Verfassungsänderungen siehe H. Ehmke, AöR 1953/54, 410 ff. und die konzise Darstellung bei A. Roßnagel, Änderungen des Grundgesetzes, S. 98 ff. Art. 142 a GG, aufgehoben durch Gesetz vom 24. Juni 1968, lautete: „Die Bestimmungen dieses Grundgesetzes stehen dem Abschluß und dem Inkraftsetzen der am 26. und 27. Mai 1952 in Bonn und Paris unterzeichneten Verträge (Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten und Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft) mit ihren Zusatz- und Nebenabkommen, insbesondere dem Protokoll vom 26. Juli 1952, nicht entgegen." 60 So W. Grewe, VVDStRL 1954, S. 143.
Α. Entstehung
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gliedstaaten einer internationalen Staatengemeinschaft mit supranationalen Organen gibt. Der Verschmelzungsprozeß, in den die Mitgliedstaaten einer solchen Gemeinschaft eintreten, bringt verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Probleme besonderer Art hervor, denen Art. 24 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen bestimmt ist." 61
Sieht W. Grewe damit die staatsrechtliche Behandlung des Art. 24 Abs. 1 GG von vornherein an die diesen beeinflussenden völkerrechtlichen Faktoren gekoppelt, so geht E. Menzel noch einen Schritt weiter und fragt nach den Rückwirkungen der Integrationsvorgänge auf die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik und daraus resultierenden Grenzen der Integrationsgewalt. Diese Vorgänge bewirkten die Errichtung einer neuen politisch-organisatorischen Einheit und bedeuteten damit letztlich die Zustimmung zu einem Verlöschen der alten staatlichen Lebensform. Solange dies auf dem Weg des „functional approach" 62 geschehe, genüge Art. 24 Abs. 1 GG als verfassungsrechtliche Legitimierung der Teilnahme an der europäischen Integration. Werde aber - wie im Satzungsvorschlag für die Europäische Gemeinschaft - der Kern der Staatlichkeit der Mitglieder getroffen und inhaltlich ein Versprechen zur Selbstaufgabe zugunsten einer neuen politischen Einheit gegeben, scheide Art. 24 Abs. 1 GG aus: Diese Bestimmung sehe nur die Übertragung einzelner Hoheitsrechte, nicht aber den Verzicht auf die Eigenstaatlichkeit vor. Für diesen könne die Legitimationsgrundlage nicht auf der verfassungsrechtlichen, sondern nur auf der integrationsrechtlichen Ebene gesucht werden. 63 Dieser Ausflug auf die integrationsrechtliche Ebene kann von E. Menzel unternommen werden, weil die Reichweite der verfassungsrechtlichen Ebene, also des Art. 24 Abs. 1 GG, bereits als festgestellt gilt. Daß der Tatbestand der Übertragung von Hoheitsrechten kaum noch ein behandeltes Problem ist, weil seine Auslegung bereits als geleistet gilt, es der Lehre vielmehr um die Bearbeitung der Folgen einer Betätigung der Integrationsgewalt auf verfassungsrechtlicher wie integrationsrechtlicher Ebene geht, dafür steht auch ihre Beschäftigung mit der durch Gründung und Existenz der EGKS entstandenen Rechtslage.64
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W. Grewe, VVDStRL 1954, S. 143 f. Soweit ersichtlich, taucht hier zum ersten Mal der Begriff der Integrationsgewalt auf. 62 D. h. die Vollziehung der Integration im Wege stufen- und bereichsweiser Zusammengliederung durch Errichtung von Teilgemeinschaften, wie ζ. B. die Montan-Union oder die EVG; VVDStRL 1954, S. 211. 63 E. Menzel, VVDStRL 1954, S. 215 f. Menzel führt hier das vorgeschlagene Parlament einer Europäischen Gemeinschaft als einen jenseits des Verfassungsrechts entstehenden europäischen pouvoir constituant an (S. 216). 64 Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951 (BGBl. 1952 II S. 447) und Gesetz betreffend den Vertrag vom 18. April 1951 über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
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Symptomatisch hierfür ist H. Moslers Beitrag zur Wehberg-Festschrift 1956, in dem er den erreichten Stand der Auslegung des Tatbestands der Übertragung von Hoheitsrechten kommentarlos formuliert und sich i m übrigen unter dem Thema „Internationale Organisationen und Staatsverfassung" der Frage zuwendet, welche Auswirkungen die Befugnisse internationaler Organisationen auf die nationale Verfassungsstruktur haben. 6 5 H. Mosler
formuliert:
„Die in Art. 24 des Grundgesetzes vorgesehene ,Übertragung von Hoheitsrechten4 bezeichnet den Vorgang nur ungenau. Es handelt sich um a) die vertragliche Verpflichtung, gewisse in der eigenen Staatsgewalt aktuell ausgeübte oder potentiell enthaltene Funktionen nicht auszuüben, b) ihre nach Maßgabe des Vertrages wirksame Delegation an die in Durchführung des Vertrages errichtete, der Völkerrechtsordnung angehörende Gemeinschaft, und c) die Ausfüllung des so geschaffenen kompetenzfreien Raumes innerhalb der Mitgliedstaaten durch die eigene Zuständigkeit der Gemeinschaft, die in dem als Satzung dienenden konstituierenden Vertrag festgelegt ist." 6 6 Symptomatisch ist es auch, wenn H. Mosler
festhält, daß der B u n d nach
Art. 24 Abs. 1 G G auch Hoheitsrechte der Länder zu übertragen befugt sei und m i t der Inanspruchnahme dieser Befugnis eine Situation entstehen könne, in der „die Länder als staatsähnliche Verbände mit begrenzter Konstitutionsgewalt, eigener Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gefährdet sind. Die absolute, der Verfassungsänderung entzogene Garantie der bundesstaatlichen Gliederung wird unter dieser Voraussetzung die Kompensation durch Beteiligung der Länder an der Ausübung der staatlichen Mitgliedschaftsrechte zu einer verfassungsrechtlichen Notwendigkeit machen." 67
vom 29. April 1952 (BGBl. I I S. 445). Der Vertrag ist am 23. Juli 1952 in Kraft getreten gemäß Bekanntmachung vom 14. Oktober 1952 (BGBl. I I S. 978). 65 Zu diesem Themenwechsel führt Κ Mosler, FS Wehberg 1956, S. 274, aus: „Der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft hat in der Bundesrepublik zu einem Verfassungsstreit über die Grenzen der Überlassung von Staatsgewalt zugunsten einer Gemeinschaftsorganisation und über die Wahrung der individuellen Grundrechtssphäre ihr gegenüber geführt. Diese Auseinandersetzungen betrafen die staatsrechtlichen Voraussetzungen, die gegeben sein oder geschaffen werden müssen, damit Verträge über die Errichtung von Gemeinschaften abgeschlossen werden können, die anstelle der nach der allgemeinen Kompetenzverteilung zuständigen Staatsorgane auf Grund einer autonomen Willensbildung tätig werden können. Hinter diesem in erster Linie akuten, die Herbeiführung der Verbindlichkeit betreffendem Problem, trat ein anderes zurück, das nicht zum Austrag gelangte, aber Interesse genug verdient, um einer Erörterung wert zu sein: Die mittelbare Auswirkung der Befugnisse internationaler Organisationen auf die Verfassungsstruktur." 66
H. Mosler, FS Wehberg 1956, S. 294. H. Mosler, FS Wehberg 1956, S. 299. Der Kompensationsgedanke hat denn auch später weithin die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der europäischen Integration auf die bundesstaatliche Ordnung beherrscht. 67
Α. Entstehung
33
Es wird also nicht hergeleitet, warum der Bund Hoheitsrechte der Länder übertragen kann, sondern diese Auffassung nur und gleich hinsichtlich ihrer Folgen und deren Kompensation behandelt. Der Verzicht auf die nähere Ausführung der Frage nach dem Entstehungstatbestand der EGKS vom Standpunkt der deutschen Rechtsordnung, von Art. 24 Abs. 1 GG aus und nach dem Gehalt des Art. 24 Abs. 1 GG in diesem Zusammenhang, kennzeichnet weitgehend auch den Beitrag H.-J. Schlochauers zur Wehberg-Festschrift. Doch nimmt er im Rahmen seiner Abhandlung zur Frage der Rechtsnatur der EGKS eine von H. Mosler abweichende Bestimmung des Art. 24 Abs. 1 GG vor. Zunächst referiert H.-J. Schlochauer, daß die Verringerung der Hoheitsbefugnisse der an der EGKS beteiligten Staaten als „transfert de competénce" bezeichnet worden sei, 68 um so diesen Vorgang gegen eine „Aufgabe von Hoheitsrechten" abgrenzen zu können, die deshalb nicht vorläge, weil die auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages frei getroffene Regelung nach den Normen des Völkergewohnheitsrechts über die Auflösung von Staats Verträgen rücknehmbar sei. 69 Dem tritt H.-J\ Schlochauer entgegen. „Dieser Umstand vermag an der Rechtslage nichts zu ändern, daß die MontanunionStaaten auf einem Teilgebiet ihrer innerstaatlichen Zuständigkeiten Rechtsetzungsund Verwaltungsfunktionen aufgegeben haben. Sie haben nicht etwa nur eine Relegation4 eigener Befugnisse vereinbart; dies würde den Willen der Staaten voraussetzen, auf einem internationalrechtlich geordneten Gebiet die , summa potestas4 zu behalten. 4470
Er führt dann zum Tatbestand des Art. 24 Abs. 1 GG aus: „Während Art. 24, I I die - schon über Art. 59 mögliche - »Beschränkung4 formell der Bundesrepublik verbleibender Hoheitsrechte bei ihrer Einordnung in kollektive Sicherheitssysteme oder zwischenstaatliche Organisationen internationaler Rechtsform vorsieht, ermächtigt Art. 24,1 zu der einen Rechtsverzicht der Bundesrepublik bedingenden ,Übertragung 4 von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen. 4 ' 71
-Nach dem Gesamtgehalt des Grundgesetzes dürfe diese Übertragung von Hoheitsrechten, dieser - wohl dinglich gemeinte - Rechtsverzicht aber nicht die als unabänderlich garantierten Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung (Art. 79 Abs. 3 GG) berühren sowie nur an Einrichtungen erfolgen, die mit den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik in „struktureller Kon68
H.-J. Schlochauer, FS Wehberg 1956, S. 365 unter Hinweis auf P. Reuter, La Communauté Européenne du Charbon et de Γ Acier, S. 97. 69 H.-J. Schlochauer, FS Wehberg 1956, S. 365 unter Hinweis auf/?. Bindschedler, Rechtsfragen, S. 74. 70 H.-J. Schlochauer, FS Wehberg 1956, S. 365. 71 H.-J. Schlochauer, FS Wehberg 1956, S. 367. 3 Flint
34
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
gruenz" stünden und daher eine Befolgung der Grundsätze der Gewaltenteilung, der Bindung an das Recht sowie des Rechtsschutzes gewährleisteten. 72 H.-J. Schlochauer hat damit dem Begriff „übertragen" unter Anknüpfung an durch ihn transportierte dingliche Vorstellungen insoweit ein von der herrschenden Lehre abweichendes Verständnis zugeschrieben, als er mehr als nur einen Verzicht auf eigene Hoheitsausübung formulierte; doch die konsequente Durchbildung dieser Auffassung hat er unterlassen, und mit dem Rekurs auf Art. 79 Abs. 3 GG und der Vorstellung einer „strukturellen Kongruenz" befindet er sich im übrigen ganz auf der Linie der aus dem „Wehrstreit" hervorgegangenen herrschenden Lehre. Dies trifft auch auf die noch vor Errichtung der EWG und EAG 1957 erschienene Kommentierung des Art. 24 Abs. 1 GG durch F. Klein zu. Er bezeichnet Art. 24 Abs. 1 GG zunächst als eine Ermächtigung, die mit keinerlei ausdrücklichen Einschränkungen versehen sei. Doch folge aus der Erkenntnis, daß die Ermächtigung mißbraucht werden könne, daß es gleichwohl nötig sei, Schranken gegen einen Mißbrauch aufzurichten. Mit Blick auf die folgenden näheren Bestimmungen des Art. 24 Abs. 1 GG hält er bereits hier fest, daß Schranken sich jedenfalls in bezug auf die „zwischenstaatliche Einrichtung" ergäben. 73 Mit diesem Einstieg in seine Kommentierung zeigt F. Klein, daß er sich in den Bahnen der bis dato zu Art. 24 Abs. 1 GG entwickelten Argumentationsstränge hält. Dem entsprechen weithin auch die Aussagen zu den Tatbestandsmerkmalen des Art. 24 Abs. 1 GG. Einer näheren Bearbeitung unterwirft F. Klein zunächst den Begriff „Bund". Unter ihm sei die Bundesrepublik zu verstehen. 74 Den Begriff der Hoheitsrechte definiert F. Klein nicht selbst, sondern übernimmt die - „auch von anderen gebilligte" - Begriffsbestimmung Κ. H. Kleins? 5 Aus der Tatsache, daß in Abs. 1 von Hoheitsrechten die Rede ist, folgert er, daß stets nur einzelne Hoheitsrechte, nicht aber die gesamte Staatsgewalt oder ganze Komplexe derselben übertragen werden dürften. Mit Blick auf die Reichweite der Übertragungsermächtigung setzt er fort:
72
H.-J. Schlochauer, FS Wehberg 1956, S. 367. F. Klein, M/K, GG, Art. 24 Anm. I I I 1, S. 659 f. 74 F. Klein, M/K, GG, Art. 24 Anm. I I I 2, S. 660 unter Verweis auf seine Kommentierung des Art. 20 Anm. I I I 2, 3 a, S. 588 f., wo er sich für eine zweigliedrige Bundesstaatskonstruktion unter Hinweis auf die sprachlich ungenaue Durchführung des Grundgesetzes ausspricht. 75 F. Klein, M/K, GG, Art. 24 Anm. I I I 3, S. 660 unter Verweis auf Κ Η. Klein, Übertragung, S. 22. 73
Α. Entstehung
35
„Da ... unter ,BuncT im Sinne dieses Absatzes die Bundesrepublik zu verstehen ist, darf der Bund auch reine Landesmaterien auf dem Wege über seine ausschließliche Zuständigkeit in auswärtigen Angelegenheiten an sich ziehen und übertragen. Der Bund darf also nicht nur seine eigenen Hoheitsrechte, sondern auch solche der Länder übertragen." 76 Zur Formulierung des Art. 24 Abs. 1 GG, daß Hoheitsrechte „durch Gesetz" übertragen werden, führt F. Klein aus, daß dieser Satz nicht wörtlich genommen werden dürfe; verfassungsrechtlich könne der Bund nicht durch bloßes Gesetz, sondern nur durch einen m i t fremden Staaten geschlossenen und v o m Bundespräsidenten ratifizierten
Staatsvertrag unter Beachtung des Art. 59
Abs. 2 Satz 1 G G Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertra77
gen. „,Gesetz' im Sinne des Abs. 1 ist das einfache Gesetz, wie sich als Wille des Grundgesetzgebers aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift eindeutig ergibt ... Der Abs. 1 ... enthält mit einer einzigen, allerdings bedeutsamen Ausnahme nichts, was nicht auch ohne ihn Rechtens wäre. Diese Ausnahme ist aber nicht die in aller Regel schon wegen Art. 59 Abs. 2 erforderliche Gesetzesform der »Übertragung', sondern das Ermöglichen der Übertragung durch einfaches Gesetz, obwohl die Übertragung als solche eine Verfassungsänderung (Einschränkung der Staatsgewalt!) bedeutet. Das , einfache Gesetz' gilt aber nur für die Übertragung als solche, die sonst unabhängig vom sachlichen Gehalt des jeweils übertragenen Rechtes eine Verfassungsänderung wäre." 78 Den B e g r i f f „zwischenstaatliche Einrichtung" bestimmt F. Klein
als Ober-
begriff für die internationale ( = zwischenstaatliche i m alten Sinne) und die supranationale Einrichtung. 7 9 A n diesem B e g r i f f macht er „das i m Grundgesetz implicite enthaltene Prinzip struktureller Kongruenz" fest, das dem in Art. 28 Abs. 1 und 3 G G niedergelegten Homogenitätsprinzip entspreche und fordere, daß das Staatengemeinschaftsrecht der zwischenstaatlichen Einrichtung i n den wesentlichen Strukturprinzipien dem Grundgesetz kongruent sei. 8 0 Erst abschließend widmet sich F. Klein dem B e g r i f f „übertragen". „,Übertragen' von Hoheitsrechten im Sinne des Abs. 1 bedeutet ebenso wie das Einwilligen in Beschränkungen von Hoheitsrechten im Sinne des Abs. 2 eine Minderung 76
F. Klein, M/K, GG, Art. 24 Anm. I I I 3, S. 661. F. Klein, M/K, GG, Art. 24 Anm. I I I 4 a, S. 661. 78 F. Klein, M/K, GG, Art. 24 Anm. I I I 4 b, S. 662. 79 F. Klein, M/K, GG, Art. 24 Anm. I I I 5 e, S. 664. 80 F. Klein, M/K, GG, Art. 24 Anm. I I I 5 d, S. 663 f. Als Beispiel führt er an, daß der sogar gegen eine Verfassungsänderung gesicherte Grundsatz der Gewaltenteilung nicht auf dem Umweg über Art. 24 GG aufgehoben werde dürfe; überhaupt sei die Begrenzung der Übertragbarkeit von Hoheitsrechten durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 und 20 GG allgemein anerkannt (S. 663). 77
36
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung oder Schmälerung deutscher Hoheitsrechte, jedoch nicht nur ein (bloßes) ,Betrauen 4 oder ,Ausstatten' zwischenstaatlicher Einrichtungen mit Hoheitsrechten, ein »Anvertrauen 4, »Einräumen4 oder ,Verleihen 4 solcher an derartige Einrichtungen, sondern und damit anders als nach Abs. 2 - ein Übertragen im engeren Sinne = Abtreten; dies kann in den Formen des Verzichts auf Hoheitsrechte und der Einschränkung von Hoheitsrechten durch Übernahme konnexer Verpflichtungen ohne Kündigungsmöglichkeit oder mit längerer Befristung vor sich gehen. 4481
Mit seiner Auslegung des Art. 24 Abs. 1 GG ordnet sich F. Klein - trotz verbaler Abweichungen, insbesondere hinsichtlich des Übertragungsbegriffs in den erreichten Stand der Lehre ein. Die Schrankenproblematik überwiegt die Tatbestandsbestimmung, die Übertragung von Länderhoheitsrechten durch den Bund wird gebilligt und Art. 79 Abs. 3 GG wie das Prinzip struktureller Kongruenz werden als Übertragungsgrenzen formuliert. Der aus dem „Wehrstreit" hervorgegangenen Auslegung des Begriffs „übertragen" wird kein dogmatisch durchgebildetes Modell entgegengesetzt, denn die Bedeutungszuschreibung „abtreten" wird über diese Zuschreibung hinaus für die Auslegung nicht relevant und trägt so letztlich nichts aus. Die bisher dargestellte Auslegungsgeschichte des Art. 24 Abs. 1 GG zeigt, daß sich früh eine wortlautferne Auffassung vom tatbestandlichen Gehalt der Vorschrift etablieren konnte und daß die Lehre im weiteren ihr Hauptbetätigungsfeld in der Begründung von Schranken der Übertragungsermächtigung sah. Angesichts der häufig beschworenen Neuheit einer Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten im deutschen Verfassungsrecht ist das ein nicht selbstverständlicher Befund. Diese Entwicklung hat mehrere Gründe. Zum einen wurden mit dem häufigen Rückgriff auf die Argumente der verfassungsrechtlichen Neuheit des Art. 24 Abs. 1 GG, 8 2 insbesondere aber auf seine sprachliche Mißglücktheit 83 und entstehungsgeschichtliche Sorgfaltlosigkeit 84 die dogmatischen Strukturen dieser Bestimmung vernachlässigt, wurde auf den Einsatz des klassischen Auslegungskanons zu ihrer Fixierung weithin verzich-
81 F. Klein, M/K, GG, Art. 24 Anm. I I I 6, S. 665. Weiter heißt es dort: „Abs. 1 stellt demgemäß eine Durchbrechung des Satzes von der Unteilbarkeit der Staatsgewalt und der daraus folgenden Unveräußerlichkeit von Hoheitsrechten dar. 44 In Abgrenzung zu dieser Auslegung heißt es bei Art. 24 Abs. 2: „ , I n die Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen 4 bedeutet zwar auch - ebenso wie das »Übertragen 4 im Sinne des Abs. 1 - eine Minderung oder Schmälerung deutscher Hoheitsrechte, jedoch - anders als nach Abs. 1 - nur ein Übertragen im weiteren Sinne = Übertragen zur Ausübung, ζ. B. als Einschränkung von Hoheitsrechten durch Übernahme konnexer Verpflichtungen mit Kündigungsmöglichkeit oder kürzerer Befristung 44 (Anm. I V 2 b, S. 665). 82 So etwa F. Klein, M/K, GG, Art. 24 Anm. I I 1, S. 656. 83 So etwa Κ Kraus, Wehrbeitrag II, S. 540. 84 So etwa Κ Kruse, FS Kraus 1954, S. 114.
Α. Entstehung
37
tet. Zum anderen wandte die Staatsrechtslehre sich vermehrt den durch die Übertragung von Hoheitsrechten entstandenen internationalen Organisationen und den durch sie veranlaßten Rechtsanwendungsproblemen zu. Die Wirkungen des Rechts internationaler Organisationen im innerstaatlichen Bereich mußten erklärt werden; Schranken der Begründung zwischenstaatlicher Rechtsordnungen und Schranken der Einwirkung zwischenstaatlichen Rechts in die nationale Rechtsordnung galt es zu formulieren. Diese Gründe bedingen einander: Der defizitären Beschäftigung mit der dogmatischen Struktur des Art. 24 Abs. 1 GG stehen die zahlreichen Versuche zur Bewältigung der durch die Anwendung dieser Vorschrift in der Staatspraxis entstandenen Rechtsprobleme zur Seite. Statt offensiv die Gestaltung der internationalen Einordnung Deutschlands verfassungsrechtlich zu begleiten, vermochte die Staatsrechtslehre so nur defensiv auf die Folgen der Anwendung der Übertragungsermächtigung hinzuweisen und diese zu beklagen.85 Dieser Sachverhalt zieht sich wie ein roter Faden durch die weitere Entwicklung der Auslegung und Anwendung des Art. 24 Abs. 1 GG. Die Weichen waren also früh gestellt. Als es 1957 zur Gründung der EWG und EAG kam, hatte sich in der deutschen Staatsrechtslehre eine herrschende Meinung zur Bestimmung des Tatbestands der Übertragung von Hoheitsrechten herausgebildet. Ihr zufolge ermächtigt Art. 24 Abs. 1 GG nicht zur Übertragung von Hoheitsrechten, sondern zum Verzicht auf die Ausübung staatlicher Hoheit zu Gunsten der Befugnisse internationaler Organisationen. Die Lehre hat sich dann im weiteren fast ausschließlich - abgesehen von Verfestigungen und Bestätigungen des Übertragungsbegriffs der herrschenden Meinung - mit den Folgen einer „Übertragung von Hoheitsrechten", d. h. ihren Wirkungen und Schranken, beschäftigt.
85
Exemplarisch dazu G. Erler. „Ich glaube, es ist heute sehr deutlich geworden, daß wir in einer Opfersituation stehen. Wir haben uns durch Art. 24 GG entschlossen, ein Opfer zugunsten internationaler Einrichtungen und zu Lasten unseres staatlichen Einheitsgefüges zu bringen, und wir sehen uns heute den Auswirkungen dieses Entschlusses gegenüber.... Wir müssen in dieser Spannung leben, wir müssen diese Spannung deuten und begreifen. Aus diesem Grunde habe ich versucht, nicht starre Grenzen aufzustellen, sondern äußerste Rückzugslinien des Staates zu finden und zu sichern"; VVDStRL 1960, S. 110 f. (Schlußwort zur Aussprache). Anders aber Η. P. Ipsen: „Die Antwort kann nur die Art und Weise geben, in der Art. 24 ausgelegt wird"; VVDStRL 1960, S. 96 (Aussprache).
38
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
B. Die weitere Entwicklung I. Die Entwicklung in der Staatsrechtslehre von 1957 bis 1967 Im Oktober 1959 widmete sich die Erlanger Staatsrechtslehrertagung dem Beratungsgegenstand „Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften". Sie geriet - zwei Jahre nach Errichtung der EWG und EAG 8 6 - zu einer Bestandsaufnahme der mit dem Verhältnis dieser Einrichtungen zur grundgesetzlichen Ordnung verbundenen Problematik, insbesondere der Frage nach der Geltung des Grundrechtskataloges des Grundgesetzes gegenüber Äußerungen internationaler Gemeinschaftsgewalt. Die nahezu klassisch gewordene Fragestellung, wie sich die innerstaatlich garantierten Grundrechte zur Gewalt der zwischenstaatlichen Einrichtungen verhalten, findet hier ausführliche und in den vorgeschlagenen Konfliktlösungen auch kontroverse Behandlung.87 G. Erler beginnt seinen Bericht mit Ausführungen zur Herkunft und zum Rechtscharakter der öffentlichen Gewalt der drei europäischen Gemeinschaften. Danach komme die Kraft, durch die das Gemeinschaftsrecht gilt, aus der Entscheidung des Art. 24 GG. Hier lehnt G. Erler die Vorstellung, Deutschland verzichte mit Art. 24 Abs. 1 GG auf die Geschlossenheit der einheitlichen Staatsgewalt, ab. Vielmehr würde lediglich auf bestimmte nach Gegenstand, Ziel und Mittel genau umrissene Einzelbefugnisse eines geschlossenen hoheitlichen Betätigungsbereiches verzichtet und entsprechenden Betätigungen der europäischen Ebene Raum gegeben.88 „Sie (die Mitgliedstaaten) haben die Ausübung dieser Einzelbefugnisse auf ihrem Gebiet den Organen der Gemeinschaft eingeräumt und damit für diese aus völkerrechtlichem Titel mit konstituierender Wirkung eine gemeinschaftliche Hoheitsgewalt geschaffen. In den somit von den Einzelstaaten durch den Verzicht einer Eigenbetätigung freigegebenen Raum treten nunmehr die Rechtsakte der Gemeinschaft regelnd auf." 89
86
Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25. März 1957 (BGBl. I I S. 766 und 1014) und Gesetz zu den Verträgen vom 25. März 1957 zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft vom 27. Juli 1957 (BGBl. I I S. 753). Die Verträge sind am 1. Januar 1958 in Kraft getreten gemäß Bekanntmachung vom 27. Dezember 1957 (BGBl. I I 1958 S. 1). 87 Zu dieser und anderen Kontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre mit Blick auf die europäische Integration H. P. Ipsen, FS Börner 1992, S. 163 ff. 88 G. Erler, VVDStRL 1960, S. 19 f. 89 G. Erler, VVDStRL 1960, S. 22.
Β. Weitere Entwicklung
39
Davon ausgehend wendet sich G. Erler der Frage zu, ob der Bürger den Schutz des Grundgesetzes auch gegenüber Äußerungen der öffentlichen Gewalt internationaler Staatengemeinschaften genießt. „Die Frage kann nur aus dem eigenständigen Rechtssystem der Gemeinschaft beantwortet werden; sie ist scharf zu scheiden von dem Problem, ob die einzelnen Staaten vermöge ihrer Verfassung befugt waren, ein so strukturiertes eigenständiges Rechtssystem einer internationalen Gemeinschaft zu begründen und ihr Hoheitsgewalt im eigenen Staate anzuvertrauen." 90
Nach ihrem Rechtssystem seien die Gemeinschaftsorgane allein an das Vertragsrecht der Gemeinschaft gebunden, nicht an das Recht der Mitgliedstaaten und auch nicht an deren völkerrechtliche Verpflichtungen. 91 Der von einem Rechtsetzungs-, Verwaltungs- oder Rechtsprechungsakt der Gemeinschafisorgane betroffene Deutsche könne nicht vor einem Gericht rügen, daß dieser Akt zwar dem Gemeinschaftsrecht entsprochen habe, nicht aber den Grundentscheidungen des Grundgesetzes. „Wenn im vorliegenden Falle der deutsche Staat sich zugunsten einer internationalen Gemeinschaft aus der bisher in Anspruch genommenen Regelung eines gegenständlich bestimmten Lebensbereiches zurückgezogen hat, so hat er sich insofern auch der gerichtlichen Kontrolle der auf diesem Gebiete nunmehr gesetzten Gemeinschaftsakte öffentlicher Gewalt begeben und seine Gerichtsbarkeit beschränkt, was ihm nach Art. 24 I GG erlaubt war. Es ist logisch und systematisch nicht möglich, die eigenständige hoheitliche Regelung einer internationalen Gemeinschaft anzuvertrauen, die gerichtliche Kontrolle dieser Regelung aber dem Gebietsstaat selbst vorzubehalten." 92
Die damit beschriebene Problematik löst G. Erler mit der Erwägung, daß die Ermächtigung des Gesetzgebers zur Übertragung von Hoheitsrechten durch die Voraussetzung der Homogenität der internationalen Einrichtungen mit der Bundesrepublik in ihrer rechtsstaatlichen Struktur beschränkt sei. Daraus ergebe sich für den Bürger, der durch einen Akt öffentlicher Gewalt internationaler Gemeinschaften beschwert sei, die Möglichkeit, im Wege der Verfassungsbeschwerde die Verbindlichkeit dieses Aktes in der Bundesrepublik anzugreifen. Denn in diesem Falle ginge es nicht um eine Klage gegen eine fehlerhafte Anwendung der Gemeinschaftsstatuten durch Gemeinschaftsorgane, sondern gegen die verfassungswidrige Schaffung dieser Statuten selbst durch das Zustimmungsgesetz. Erforderlich wäre der Nachweis, daß das Zustimmungsgesetz, in dem die Bundesrepublik die internationale Gemeinschaft zur Ausübung von Akten öffentlicher Gewalt in ihrem Bereich ermächtigte, verfassungswidrig
90 91 92
G. Erler, VVDStRL 1960, S. 33. G. Erler, VVDStRL 1960, S. 34. G. Erler, VVDStRL 1960, S. 36 f.
40
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
sei, weil eine solche Einräumung mangels Homogenität zwischen Bundesrepublik und internationaler Einrichtung gegen das Grundgesetz verstoße. 93 G. Erler formuliert hier in aller Klarheit das Programm, wie der Schrankenproblematik vom Standpunkt der herrschenden Lehre aus konstruktiv beizukommen ist. Anders W. Thieme. Er behandelt in seinem Mitbericht das Problem der Kollision von Grundgesetz und öffentlicher Gewalt zwischenstaatlicher Einrichtungen unter der Fragestellung: Wem haben die innerstaatlichen Organe im Konfliktfall zwischen dem Grundgesetz und dem Gemeinschaftsrecht den Vorrang zu geben? Entscheidend für die Beantwortung der Frage nach der innerstaatlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts sei der Grad der von den Mitgliedern gewollten und ermöglichten Selbständigkeit. Nach ihrer Untersuchung kommt W. Thieme zu dem Ergebnis, daß den Gemeinschaften nicht soviel an Selbständigkeit eingeräumt worden sei, daß das Gemeinschaftsrecht „mit dinglicher Wirkung" Vorrang gegenüber nationalem Verfassungsrecht erlangt hätte. Es hätten im Falle der Kollision die Gemeinschaftsorgane dem Gemeinschaftsrecht, die innerstaatlichen Organe aber dem Grundgesetz den Vorrang zu geben.94 Mit diesem Ansatz entwickelt W. Thieme neben den Aussagen im Bericht G. Erlers einen zweiten Strang der Bearbeitung der Schrankenproblematik. Nicht das Zustimmungsgesetz ist der Ansatzpunkt zur Konfliktlösung, sondern das Gemeinschaftshandeln im Einzelfall. Die mangelnde Strenge dieses Ansatzes ist leicht zu erkennen und führte denn auch die ihn verfolgenden Autoren in eine Fülle von Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten gesehen und neue Lösungsansätze für die Schrankenproblematik formuliert zu haben, ist das Verdienst der Kieler Staatsrechtslehrertagung vom Oktober 1964 („Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften"). Sie begründete die „Kieler Welle". 95
93
G. Erler, VVDStRL 1960, S. 39. Zur näheren Bestimmung des Homogenitätsgebots führt er aus, daß es jedenfalls die in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG und das Wert- und Anspruchssystem der Grundrechtsbestimmungen in seiner Kernformulierung des Art. 1 GG umfasse (S. 40 f.). Das Homogenitätsgebot fordere aber hinsichtlich des Strukturaufbaus keine Artgleichheit der Organe und hinsichtlich der Grundrechtsbindung nicht die Verbindlichkeit der Grundrechte im Umfange und mit der Schutzfunktion des Grundgesetzes. Artähnlichkeit der Organe könne nur verlangt werden, wo es sich um die Ausübung artähnlicher und wirkungsverwandter Funktionen handele, Artähnlichkeit der Grundrechte nur hinsichtlich des auch für das verfassungsändernde Gesetz unantastbaren Kernbestandes (S. 46). 94 W. Thieme, VVDStRL 1960, S. 73 ff. 95 So H. P. Ipsen, VVDStRL 1966, S. 128 (Aussprache). Zu der mit diesem Schlagwort bezeichneten Entwicklung U. Scheuner, VVDStRL 1966, S. 106 (Aussprache): „Die beiden Vorträge stehen in einer gewissen Fortentwicklung zu den Verhandlungen,
Β. Weitere Entwicklung
41
1 Η. Kaiser untersucht in seinem Bericht die Wirklichkeit und Möglichkeit demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur auf der Ebene der internationalen Gemeinschaften. Methodisch wegleitend ist für ihn die Überzeugung, daß die nationalstaatlich ausgeprägten Begriffe, Institutionen und Maßstäbe der Demokratie und des Rechtsstaats nicht unmittelbar auf die Rechtsordnung internationaler Gemeinschaften übertragen werden könnten. 9 6 Das Gebot der Homogenität struktureller und materieller Fundamentalentscheidungen sei nicht erfüllbar. Die Lösung der Schrankenproblematik sieht er vielmehr i n der Vorstellung der Rechtsfigur eines zweiten Verfassungsgebers, der in Art. 24 Abs. 1 G G instituiert sei. „Er kann natürlich nicht für sich, sondern nur in Gemeinschaft mit den Verfassungsgebern anderer Mitgliedstaaten in den entsprechenden Formen, in erster Linie also durch das Mittel des völkerrechtlichen Vertrages, handeln. Es ist die Anwendung des Art. 24 GG und des ihm entsprechenden formellen oder materiellen Verfassungsrechts anderer Staaten, aus der jeweils ein internationaler Verfassungsgeber erwächst. Er hat auf der jeweiligen Homogenitätsgrundlage und ihr gemäß bisher im europäischen und atlantischen Bereich spezielle Zweckgemeinschaften unterschiedlichen Integrationsgrades und mit dementsprechend verschiedenartiger öffentlicher Gewalt geschaffen.... Die Konstituierung einer internationalen Gemeinschaft der bezeichneten Art ist Verfassungsgebung. Wie es einer Konstituante entspricht und in Art. 24 GG vorgesehen ist, handelt der deutsche Verfassungsgeber hier mit einfacher Mehrheit: er verfügt dabei, indem er der Zielsetzung des Art. 24 GG folgt, über alle Befugnisse eines Verfassungsgebers. Es ist eine mögliche, aber, wie mir scheint, nicht unbedingt notwendige Folge, daß durch den Übertragungsakt die Ausübung öffentli-
die wir vor einigen Jahren in Erlangen führten. Während nach der damaligen Themenstellung der Blick noch sehr stark auf das Grundgesetz gerichtet war und im Mittelpunkt die Frage stand, ob die europäischen Verträge nicht ein Abweichen von den Grundsätzen des Grundgesetzes darstellen, sind die beiden Referate heute über diesen Ansatzpunkt mit vollem Recht hinweggegangen und haben versucht, die europäischen Gemeinschaften aus sich selbst heraus zu verstehen und ihre Beziehung zu den einzelnen Staaten nicht nur aus dem Blickwinkel der nationalen Rechtsordnung aus zu würdigen." Ebenso H. Bülck,, VVDStRL 1966, S. 120 (Aussprache): „Es scheint fast eine zeitliche Vernunft in dem Umstände zu liegen, daß die heutigen Referate, wenn auch in verschiedenem Grade, Positionen bezogen haben, die zum Teil weit über jene hinausgehen, welche vor 5 Jahren auf der Erlanger Tagung unserer Vereinigung eingenommen worden sind. Während damals, in der ersten Planstufe der EWG, der Vorrang demokratischrechtsstaatlicher Begriffe nationaler Tradition betont und im wesentlichen strukturelle Kongruenz staatlicher und überstaatlicher Rechtsformen gefordert wurde, scheinen heute einige Thesen in das Gegenteil umgeschlagen zu sein, indem sie den Vorrang überstaatlicher Strukturen und Funktionen behaupten." 96 J. Κ Kaiser, VVDStRL 1966, S. 2.
42
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung eher Gewalt in den Gemeinschaften den Grundsätzen des Art. 20 GG entzogen wird." 9 7
Diese verfassunggebende Gewalt werde durch den die Gemeinschaften konstituierenden Akt aber nicht konsumiert. Vielmehr seien die „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten" (Art. 137 EWGV) weiterhin Inhaber des in den Gemeinschaften gegebenen „pouvoir constituant". 98 Mit diesem Lösungsansatz schafft es J. H. Kaiser, die Schrankenproblematik auf eine andere Ebene zu heben: Die Begründung der Gemeinschaften ist als Akt verfassunggebender Gewalt zwar von verfassungsrechtlichen Schranken befreit, weil aber die Völker weiterhin Inhaber des „pouvoir constituant" seien und deren Verfassungswille eine dem Bundesstaat analoge Konstruktion trage, könnten durch erneute Betätigung dieser Gewalt Änderungen der Konstruktion erreicht werden, die erkannte Schrankenprobleme aufzulösen vermöchten. Solche Probleme sieht J. H. Kaiser insbesondere im Rechtsstaatsbereich, es sei deshalb „der Beruf unserer Zeit, einen europäischen Rechtsstaat zu schaffen." 99 Anders als J. H. Kaiser, dessen Schwerpunkt auf der Untersuchung der Struktur der internationalen Gemeinschaften lag, behandelt P. Badura in seinem Bericht die Auswirkung des Organhandelns der internationalen Gemeinschaften auf das Verfassungsleben der Mitgliedstaaten, insbesondere auf die demokratische und rechtsstaatliche Verfassungsstruktur der Bundesrepublik. Dem Phänomen der öffentlichen Gewalt internationaler Staatengemeinschaften gegenüber betont P. Badura zunächst, daß die Postulate von Demokratie und Rechtsstaat auch auf nichtstaatliche Gebilde und Aktivitäten Anwendung zu finden haben. „Das ist nicht selbstverständlich. Denn die Ausbildung dieser Ideen ist im Rahmen der Nationalstaaten erfolgt, und sie zielen auf die Bestimmung, Kontrolle und Begrenzung nationalstaatlich verfaßter Herrschaft. Doch in dem Maße, wie die Ausübung öffentlicher Gewalt internationalisiert wird, nichtstaatliche und nichtnationale Herrschaft an Raum gewinnt, internationalisiert sich auch die Verfassungsentwicklung und müssen die Ideen von Demokratie und Rechtsstaat ihren staatlichen und nationalen Entstehungsgrund überschreiten. Diese Ideen, für die staatliche Vergesellschaftungsform gebildet, verkörpern einen Anspruch, der jeglicher Organisationsform zivilisierter Vergesellschaftung gegenüber erhoben ist. Deshalb muß auch die europäische Wirtschafts- und Militärverwaltung, weil und soweit sie öffentliche Gewalt auszuüben imstande ist, vor den Postulaten von Demokratie und Rechtsstaat bestehen können." 100
97
J. H. Kaiser, VVDStRL 1966, S. 17 f. J. H. Kaiser, VVDStRL 1966, S. 19. 99 J. H. Kaiser, VVDStRL 1966, S. 28. 100 P. Badura, VVDStRL 1966, S. 37 f. 98
Β. Weitere Entwicklung
43
Anschließend wendet sich P. Badura der Frage zu, wie die Bindung internationaler öffentlicher Gewalt an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewährleistet werden könne. Die Herrschaftsgewalt einer internationalen Rechtsgemeinschaft werde aufgrund einer selbständigen Rechtsordnung und ohne Bindung an die nationalen Rechts- und Verfassungsordnungen ausgeübt.101 Gebunden sei aber die Schaffung dieser Gewalt. Zwar könne Art. 24 Abs. 1 GG für die Bestimmung dieser Bindung nicht aktiviert werden. Die Bedeutung des Art. 24 Abs. 1 GG beschränke sich darauf, die Verfassungsänderung, die die Gründung der Europäischen Gemeinschaften darstelle und die ungewöhnlicherweise durch eine Ausübung der auswärtigen Gewalt bewirkt werde, durch einfaches Gesetz zuzulassen.102 Für die Beantwortung der Frage, ob die nationale Staatsgewalt eine derartige öffentliche Gewalt begründen durfte, habe Art. 24 Abs. 1 GG keine unmittelbare Bedeutung. Wortlaut und Sinngehalt der Norm ließen es nicht zu, sie als Grundlage einer verfassungsdurchbrechenden Integrationsgewalt zu deuten, die eine unübersehbare und inhaltlich nicht deutlich feststellbare Nebenverfassung zugunsten zwischenstaatlicher Einrichtungen hervorbringen könnte. 103 Das BVerfG könne aber über das Zustimmungsgesetz das Gemeinschaftsrecht verfassungsrechtlich überprüfen, denn Rechtsgrundlage der internationalen Gemeinschaften und ihres Rechts seien die völkerrechtlichen Verträge. „Das BVerfG entscheidet dabei nicht über den Rechtsbestand des primären oder sekundären Gemeinschaftsrechts, sondern nur darüber, ob derartiges Recht durch die Vertragsschließende Gewalt geschaffen bzw. ermöglicht werden durfte." 104
101
Ρ Badura, VVDStRL 1966, S. 59. P. Badura, VVDStRL 1966, S. 64 f. 103 P. Badura, VVDStRL 1966, S. 67. 104 P. Badura, VVDStRL 1966, S. 68. Diese Ausführungen sucht Badura noch einmal in seinem Schlußwort zur Aussprache (S. 141) zu präzisieren: „Nach der in meinem Vortrag vertretenen Auffassung hat der Art. 24 Abs. 1 nur die Bedeutung, daß er eine Verfassungsänderung durch einfaches Gesetz zuläßt. Der Gegenstand dieser Verfassungsänderung ist nicht der materielle Inhalt der Verfassung, sondern lediglich der Umstand, daß nunmehr nach diesem Vorgang nicht mehr eine einheitliche Staatsgewalt auf einem Territorium ausgeübt wird. Die Gründung einer supranationalen öffentlichen Gewalt ist ein verfassungsrechtlicher Vorgang, d. h. ohne Art. 24 Abs. 1 bedürfte es einer entsprechenden Verfassungsänderung, weil der europäische Verfassungsbegriff, wie er sich in den westeuropäischen Verfassungen niedergeschlagen hat, von einer einheitlichen Staatsgewalt ausgeht. Der Art. 24 Abs. 1 hat also nach meiner Auffassung nicht die Bedeutung, daß er materiellrechtliche Durchbrechungen der Verfassung zuläßt, um so, wie ich mich ausdrückte, eine ,Nebenverfassung 4 hervorzurufen. Es kann sich bei der Beurteilung der Europäischen Gemeinschaften und des ihnen zugrundeliegenden primären Gemeinschaftsrechts allein darum handeln, daß das GG in seinem vollen Umfang auf diesen Tatbestand angewandt wird, aber eben angewandt wird mit Einsicht in 102
44
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
Das Bild, das die Staatsrechtslehre nach der Kieler Tagung abgibt, ist gekennzeichnet von weitgehender Übereinstimmung zur Bedeutung des Art. 24 Abs. 1 GG für die Entstehung zwischenstaatlicher Hoheitsgewalt und zur Notwendigkeit der Begründung von Schranken für diese Hoheitsgewalt, aber auch von weitgehenden Meinungsverschiedenheiten zur Begründung einzelner Schranken wie auch zur Bedeutung des Art. 24 Abs. 1 GG für diese Begründung. Was der Lehre fehlte, war ein Begriff, der die verschiedenen vertretenen Bedeutungen und Wirkungen des Art. 24 Abs. 1 GG zu bündeln vermochte, und der so als Aufhänger und Rechtfertigung für einen breiteren, weniger konstruktiven Aufwand erfordernden Lösungsansatz dienen konnte. Diesen Begriff gab K. Vogel der Lehre mit der „Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit" an die Hand. Seine gleichnamige Abhandlung aus dem Jahr 1964 stellt einen Meilenstein der Auslegungs- und Anwendungsgeschichte des Art. 24 Abs. 1 GG dar. Obwohl sie der Sache nach dem bis dahin erreichten Auslegungsstand keine wirklich neuen Erkenntnisse hinzufügte, wirkte sie prägend; die Entscheidung für eine internationale Zusammenarbeit (auch: Entscheidung für die „offene Staatlichkeit") wurde fortan zu einem maßgeblichen Topos im Rahmen der Interpretation des Art. 24 Abs. 1 GG. K. Vogel sucht die „eigentliche staatsrechtliche Tragweite und Bedeutung der Vorschrift" nachzuzeichnen, deren Ergebnisse sich mit den herkömmlichen Kategorien staatsrechtlicher Theorien nicht mehr erklären ließen. Von entscheidender Bedeutung sei dabei der zeitgeschichtliche Anlaß: Er lasse den Art. 24 Abs. 1 GG als Reaktion auf eine Politik der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Abkapselung und zugleich der fast ausschließlichen Wahrung nationaler Eigeninteressen verstehen, auf eine Politik, die K. Vogel zusammenfassend als „(übersteigerten) Nationalismus'" bezeichnet.105 Auch diese Politik hätte ihren Ausdruck in der staats- und völkerrechtstheoretischen Dogmatik der Zeit gefunden; Formeln wie die von der Undurchdringlichkeit und Geschlossenheit des Staates oder der strengen dualistischen Unterscheidung des Völkerrechts vom innerstaatlichen Recht kündeten davon. 106 Und so finde auch die den Nationalismus überwindende, gegenwärtige Politik mit ihrer augenfälligen Kooperationstendenz ihren Ausdruck im Recht - davon eben künde etwa Art. 24 Abs. 1 GG. Diese Politik und dieses Recht illustriere den ideengeschichtlichen Vorgang, in dessen Angesicht man sich befinde, daß nämlich der
die Tatsache, daß es sich hier um die Ausübung der Auswärtigen Gewalt handelt, daß also ein anderer Tatbestand vorliegt, als wenn die Kontrolle innerstaatlichen Handelns in Frage stünde." 105 K. Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 10 f. 106 K. Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 18 ff.
Β. Weitere Entwicklung
45
konkrete B e g r i f f des „Staates" selber sich gewandelt habe. 1 0 7 Diese Wandlung v o m als „geschlossen" gedachten Staat zum Staat, der sich einer internationalen Ordnung rechtlich ein- und unterzuordnen bereit ist ( v o m „geschlossenen" zum „einordnenden" Staat), führe zur Notwendigkeit der Entscheidung eines Staates für oder gegen eine solche Einordnung. 1 0 8 Diese Entscheidung habe materiellen Verfassungsrang, 1 0 9 sie lasse den Staat als einen entweder „geschlossenen" oder „offenen" Staat auftreten und bezeichnen. 1 1 0 „Der Art. 24 Abs. 1 ist damit also in der Tat eine Verfassungsbestimmung, die ... für das Verständnis des Grundgesetzes und seiner Verfassungsordnung von ganz zentraler Bedeutung sein muß: schon diese Bestimmung für sich allein bringt die Entscheidung des Grundgesetzes für eine ,offene 4 Staatlichkeit der Bundesrepublik unmißverständlich zum Ausdruck - für eine ,Einordnung 4 in eine »internationale Gemeinschaft 4 der Staaten, die nicht erst mit einer ,Übertragung von Hoheitsrechten 4 erstmalig vollzogen, sondern die bereits im Verfahren des Art. 24 Abs. 1 GG vorausgesetzt wird. 4 4 1 1 1 Dieses Ergebnis unterlegt K. Vogel mit systematischen Erwägungen, indem er die Art. 25 und Art. 26 G G sowie die Präambel des Grundgesetzes heranzieht und zu der Folgerung kommt, „daß das Grundgesetz in der Tat in allen diesen Bestimmungen eine umfassende Verfassungsentscheidung für eine ,offene 4 Staatlichkeit in dem vorbezeichneten Sinne, d. h. für eine grundsätzliche Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland zu einer Zusammenarbeit mit anderen Staaten sowie für deren gliedschaftliche Einordnung in eine organisch gefügte ,internationale Gemeinschaft 4 der Staaten getroffen hat. ... Man wird die rechtliche Bedeutung dieser Verfassungsentscheidung, da sie, wie gezeigt, in einer grundsätzlichen Frage die konkrete Existenzform der Bundesrepublik Deutschland als Staat betrifft, um nichts geringer zu veranschlagen haben als diejenige Entscheidung für einen demokratischen, sozialen und föderalistischen Rechtsstaat in den Art. 20 und 28 GG; sie steht dabei insbesondere der Verfassungsentscheidung für einen ,Sozialstaat4 nahe, bei der es ja ebenfalls nicht um eine Frage der Verteilung staatlicher Macht, sondern um eine inhaltliche Ausrichtung der gesetzgebenden, verwaltenden und richterlichen Tätigkeit geht. 44112 Der gefeierte B e g r i f f der offenen Staatlichkeit gab der Staatsrechtslehre zwar einen bereitwillig aufgenommenen Argumentationsansatz an die Hand, auch er vermochte aber nicht zu überdecken, daß eine konsentierte Lösung der Schrankenproblematik, zumal auf der Grundlage einer dem semantischen Ge-
107 108 109 110 111 112
K. K. K. K. K. K.
Vogel, Vogel, Vogel, Vogel, Vogel, Vogel,
Verfassungsentscheidung, Verfassungsentscheidung, Verfassungsentscheidung, Verfassungsentscheidung, Verfassungsentscheidung, Verfassungsentscheidung,
S. 23 f. S. 24 ff. S. 30. S. 33. S. 35 f. S. 42 f.
46
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
halt der Übertragungsvorschrift verpflichteten Tatbestandsbestimmung, weiterhin fehlte. Das BVerfG hatte sich daher, als 1967 die ersten Fälle mit Bezug zu Art. 24 Abs. 1 GG vor seine Schranken kamen, mit einer der umstrittensten Fragen der Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes auseinanderzusetzen. In dieser Situation konnte eine konsistente, alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung kaum erwartet werden.
II. Die Rechtsprechung des BVerfG und die sie begleitende Literatur Die Befassung des BVerfG mit Rechtsproblemen im Zusammenhang mit der europäischen Integration beginnt 1967. 113 In einem Beschluß des 2. Senats vom 5. Juli 1967 114 wird eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG in einem Fall, in dem die Entscheidungserheblichkeit des zur Prüfung gestellten deutschen Gesetzes von der Auslegung von Recht der EWG abhing, als unzulässig zurückgewiesen, weil das streitgegenständliche Gemeinschaftsrecht vom vorlegenden Gericht offensichtlich falsch ausgelegt worden war. Doch deutet das BVerfG hinsichtlich seiner Prüfungskompetenz an, daß gegen die Ansicht des vorlegenden Gerichts, das nationale Gericht sei kompetent, über Normenkollisionen des nationalen Rechts mit Normen des Gemeinschaftsrechts zu befinden, keine Bedenken bestünden.115 In einem zweiten Beschluß aus dem Jahre 1967 - jetzt des 1. Senats vom 18. Oktober 1967 116 - kommt das BVerfG ebenfalls nicht über die Zulässigkeitsprüfung hinaus. Als unzulässig verworfen werden Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen Verordnungen der EWG, weil mit diesen Verordnungen keine Akte deutscher öffentlicher Gewalt vorlägen, über die allein dem Gericht eine Prüfungskompetenz zustehe. Doch läßt sich das BVerfG in diesem Beschluß auf den Rechtscharakter der EWG und der Verordnungen der EWG ein. „Die Verordnungen des Rates und der Kommission sind Akte einer besonderen, durch den Vertrag geschaffenen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten deutlich geschiedenen ,supranationalen 4 öffentlichen Gewalt. Die Organe der EWG üben Hoheitsrechte aus, deren sich die Mitgliedstaaten zugunsten der von ihnen gegründeten
113 Zusammenfassende Rechtsprechungsberichte bieten auch R. Stettner, AöR 1986, 359 ff. und 537 ff.; W. Zeidler, FS Simon 1987, S. 727 ff.; H. Steinberger, FS Doehring 1989, S. 951 ff.; J. Kokott, EPL 1996, 237 ff. und413 ff.; E. Pfrang, Verhältnis, S. 31 ff. 114 BVerfGE 22, 134; besprochen von H. P. Ipsen, EuR 1967, 358 ff.; G. Meier, NJW 1967, 2109 f.; J. A. Frowein, CMLR 1967/1968, 484. 1,5 BVerfGE 22, 134/146. 116 BVerfGE 22, 293. Diese Entscheidung findet sich besprochen von H. P. Ipsen, EuR 1968, 137 ff.; W. Wengler, JZ 1968, 100 ff.; U. Immenga, NJW 1968, 1036 f.; G. Meier, DVB1. 1968, 467 ff.; J. A. Frowein, CMLR 1967/1968, 484 ff.
Β. Weitere Entwicklung
47
Gemeinschaft entäußert haben. Die Gemeinschaft ist selbst kein Staat, auch kein Bundesstaat. Sie ist eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art, eine zwischenstaatliche Einrichtung 4 im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG, auf die die Bundesrepublik Deutschland - wie die übrigen Mitgliedstaaten - bestimmte Hoheitsrechte ,übertragen 4 hat.' 4117
Mit diesen knappen, wenig deutlichen Bemerkungen zum Entstehungsvorgang der Gemeinschaft befindet sich das Gericht im wesentlichen auf der Linie der Deutungen, die dieser durch die Lehre gefunden hatte. Das Gericht setzt sich mit dieser Lehre aber nicht auseinander, sondern zitiert lediglich Entscheidungen des EuGH; dieser aber betrachtet den Entstehungsvorgang und Rechtscharakter der Gemeinschaft nur aus gemeinschaftsrechtlicher, nicht auch aus national-verfassungsrechtlicher Perspektive. In der abschließenden Passage des Beschlusses äußert sich das Gericht dann erneut zur Frage seiner Prüfungskompetenz. „Die Entscheidung beschränkt sich auf den Ausspruch, daß das Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar mit der Verfassungsbeschwerde gegen Verordnungen des Rates und der Kommission der EWG angerufen werden kann. Nicht entschieden ist damit, ob und in welchem Umfang das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines zulässigerweise bei ihm anhängig gemachten Verfahrens Gemeinschaftsrecht an den Grundrechtsnormen des Grundgesetzes messen kann - eine Frage, die ersichtlich von der Entscheidung der weitergreifenden Vorfrage abhängt, ob und in welchem Sinne von einer Bindung der Organe der EWG an die Grundrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland gesprochen werden kann oder - anders gewendet - ob und in welchem Maße die Bundesrepublik Deutschland bei der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 Abs. 1 GG die Gemeinschaftsorgane von solcher Bindung freistellen konnte." 118
Hier scheint die spätere Rechtsprechung des BVerfG zur Grundrechtsgeltung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht bereits als Problemstellung auf; an dieser Passage entzündete sich denn auch die Debatte in der Literatur. So hält zum Beispiel G. Zieger ihr entgegen, daß sie an den Realitäten der bereits bestehenden und praktizierten Grundrechtsbindung der Gemeinschaften vorbeigehe und auf ein nationales Kontrollverfahren rekurriere, daß zur Lösung des Grundrechtsproblems ernsthaft nichts beitrage. 119 Demgegenüber unterstreicht G. Gorny in seiner eingehenden Untersuchung des Verhältnisses der Bundesgrundrechte zum Gemeinschaftsrecht noch einmal den bislang erreichten Meinungsstand, daß zwar Art. 24 Abs. 1 GG auch insoweit zu Verfassungsdurchbrechungen ermächtige, als das primäre und sekundäre Gemeinschaftsrecht den
117 118 119
BVerfGE 22,293/296. BVerfGE 22,293/298 f. G. Zieger, Grundrechtsproblem, S. 14 ff., 47 ff.
48
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
Grundrechten vorzugehen vermöchte, daß Art. 79 Abs. 3 GG aber einen unverbrüchlichen Kernbereich der Grundrechtsgeltung als Durchbrechungsschranke gegenüber dem Gemeinschaftsrecht enthalte. 120 Er befürwortet die Notwendigkeit einer nationalen Verfassungskontrolle gegenüber diesem grundrechtsrelevanten Recht der Gemeinschaften und sieht das BVerfG als zur Ausübung dieser Kontrolle berufen an. 121 Auf diese Position schien sich die Lehre weithin einigen zu können; von den „Staatsrechtlern" gefordert, von „Europarechtlern" mehr konzediert. Ehe das BVerfG die ihm angetragene Berufung aber annahm und seinen Teil zur Lösung des Grundrechtsproblems beitrug, unternahmen H. P. Ipsen und vor allem A. Ruppert den Versuch, die Vorstellungen der herrschenden Lehre vom Entstehungsvorgang der europäischen Hoheitsgewalt noch einmal theoretisch zu fundieren. A. Rupperts von H. P. Ipsen betreute Dissertation beginnt mit Ausführungen zum Regelungsgegenstand des Art. 24 Abs. 1 GG, der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, und hier mit dem Begriff der Hoheitsrechte und hält fest, daß dieser heute angemessen nur von der Staatsgewalt her erfaßt werden könne. 122 „Da Staatsgewalt eine, wenn auch umfassende Befugnis des Staates ist, kann sie nicht als Summe von Einzelrechten aufgefaßt werden. Summiert werden können höchstens die jeweils in Organen aktualisierten Befugnisse. Das Ergebnis wäre aber alles andere als die Staatsgewalt. Denn die konkreten Befugnisse sind bloß ihre Derivate. Definitorische Freiheit erlaubt nun ohne weiteres, die Bezeichnung ,Hoheitsrechte 4 insoweit zu verwenden. Dem widerspricht aber Sprachgebrauch und Zweckmäßigkeit. Allgemein nämlich werden die Hoheitsrechte der Staatsgewalt essentiell zugeordnet. Für die konkreten Befugnisse finden sich überdies andere Bezeichnungen, ... Die Befugnisse des Staates, Gewalt und Zwang zu üben, Gesetze zu erlassen, Subventionen zu gewähren, können nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, von dem Art. 24 I kaum hat abweichen wollen, nicht als Hoheitsrechte bezeichnet werden. Angemessener Ansatzpunkt ist vielmehr die Aufgabenseite: Hoheitsrechte müssen dann vorläufig bestimmt werden als die Befugnisse des Staates, aus der umfassenden Staatsgewalt heraus auf bestimmten Sachgebieten tätig zu werden." 123
Mit diesen Begriffskonturen wendet sich A. Ruppert den Begriffen der zwischenstaatlichen Einrichtungen und der Übertragung zu und führt zu ersterem aus, daß vom Wortlaut die Organisationsformen erfaßt würden, bei denen es
120 121 122 123
G. Gorny, Verbindlichkeit, S. 133. G. Gorny, Verbindlichkeit, S. 164 ff.; ähnlich auch M Zuleeg, Recht, S. 159 ff. A. Ruppert, Integrationsgewalt, S. 25. A. Ruppert, Integrationsgewalt, S. 55 f.
Β. Weitere Entwicklung
49
zumindest bei einem „zwischen den Staaten" verbleibe. 1 2 4 B e i einem Abgleich dieser Organisationsformen m i t dem Hoheitsrechtsbegriff verblieben zwei, „deren Ausstattung mit der Bezeichnung ,Hoheitsrechte 4 angemessen, wenn auch in einem Fall ohne Erkenntnisfunktion umrissen wären: transnationale Organisationen mit Gliedzuständigkeiten und supranationale Organisationen. Supranationale Organisationen erwecken zwar vom Begriff »zwischenstaatliche Einrichtungen 4 her gewisse Bedenken, weil sie sich allzu sehr vom völkerrechtlichen Organisationstyp entfernen, entsprechen jedoch dem Begriff,Hoheitsrechte 4 am besten von allen Organisationsformen, weil sie allein ex defmitionem echte originäre Hoheitsbefugnisse innehaben. Die transnationalen Organisationen mit Gliedzuständigkeiten mögen mehr dem Terminus ,zwischenstaatlich4 entsprechen, ihre exakte Ausstattung wird jedoch mit dem W o r t , Hoheitsrechte 4 nicht exakt bezeichnet. 44125 Der Begriff „Übertragung" beinhalte dem objektiven Sprachsinn nach notwendig zwei Momente: die Änderung der subjektiven Zuordnung eines Gegenstandes und die Identität des übertragenen Gegenstandes vor und nach dem Übertragungsakt. 1 2 6 „Soweit Gegenstand der in Art. 24 I gemeinten Übertragung Hoheitsrechte oder Zuständigkeiten sind, trifft nach allem diese Bezeichnung den gemeinten Vorgang in keinem Falle exakt, da beide Gegenstände strukturell betrachtet unübertragbar sind. Daraus folgt nun nicht, daß in Art. 24 I ein ganz anderer Gegenstand mit der Bezeichnung ,Hoheitsrechte 4 gemeint ist. Denn immerhin hat der Terminus ,Übertragung4 für die beiden untersuchten Gegenstände hinsichtlich bestimmter Vorgänge eine vertretbare Bezeichnungsfunktion. ... Darum können aus dem Wort »Übertragung 4 keine endgültigen Schlußfolgerungen für den Regelungsgegenstand des Art. 24 I gezogen werden, außer der, daß eine echte Übertragung keinesfalls in Betracht kommt. 4 4 1 2 7 So geht A. Ruppert i m weiteren von den möglichen Übertragungsgegenständen aus und prüft jeweils, wie für diese der m i t „Übertragung" bezeichnete Vorgang beschaffen sein kann. „Art. 24 I meint ... mit der Übertragung von Hoheitsrechten an zwischenstaatliche Einrichtungen sowohl die Vorgänge, die für eine Ausstattung von Organisationen mit Gliedzuständigkeiten nötig sind, als auch die Maßnahmen, die auf der staatlichen Seite für eine Hoheitsschaffung oder gegenüber einer bestehenden Hoheit erforderlich sind, soweit sie nicht eine Transformation darstellen. Damit verbleiben: Gestaltung der staatlichen Zuständigkeitsordnung auf Gliedzuständigkeiten hin für die
124 125 126 127
4 Flint
A. A. A. A.
Ruppert, Ruppert, Ruppert, Ruppert,
Integrationsgewalt, Integrationsgewalt, Integrationsgewalt, Integrationsgewalt,
S. 80 f. S. 83. S. 94 f. S. 99.
50
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung transnationalen Organisationen und die drei Verzichtsarten für die supranationalen Gebilde." 128
Kernstück der diesem Regelungsgegenstand gegenüber getroffenen Regelung des Art. 24 Abs. 1 GG sei, daß die Übertragung von Hoheitsrechten „durch Gesetz" geschehen könne. Funktion des Gesetzes sei für den Fall der Übertragung von Hoheitsrechten in der Form der Gewaltschöpfung mit entsprechenden staatlichen Anpassungen, daß das Gesetz jene innerstaatlichen Anpassungen an die originäre, neue Gewalt in Gestalt von Ausschließlichkeits-, Hoheits- bzw. Souveränitätsverzieht vollziehe, 129 für den Fall der Übertragung von Hoheitsrechten in der Form der Gewaltableitung, daß das Gesetz die Kompetenzzuweisung an die neue Einrichtung treffe, die Ableitung bzw. Ausstattung also vornehme. 130 Mit diesen Grundlegungen wendet sich A. Ruppert den Grenzen der Integrationsgewalt zu und beginnt die Untersuchung vom Begriff der Hoheitsrechte her. Ein Grenzproblem sei hier, ob nach Art. 24 Abs. 1 GG übertragen werden könne, wenn die entsprechenden Hoheiten oder Hoheitsrechte noch nicht aktualisiert seien. Für die Gewaltableitung stelle sich daher die Frage, ob, bevor eine transnationale Gliedzuständigkeit eingeräumt werde, eine entsprechende Zuständigkeit bereits bestehen müsse. A. Ruppert verneint dies, weil im Verfassungsstaat des Grundgesetzes zwar die Organe nur auf der Verfassung unmit-
128
A. Ruppert, Integrationsgewalt, S. 185. Dabei meint Gestaltung der staatlichen Zuständigkeitsordnung die Vornahme von Akten der Organisationsgewalt, durch die der transnationalen Organisation Zuständigkeiten zugewiesen werden, d. h. Delegationen oder Umorganisationen (S. 101, 107 ff.). Die drei Verzichtsarten sind: Ausschließlichkeitsverzicht, d. h. der Staat verschafft der fremden originären Hoheit dadurch in seinem Bereich Geltung, daß er sie - in bestimmten Grenzen - anerkennt und so auf seine aktuelle Ausschließlichkeit verzichtet (S. 118 ff.); Souveränitätsverzicht, d.h. der Staat verschafft der fremden originären Hoheit intern dadurch höhere Geltung als seinen eigenen Akten, daß er diese Hoheit - in bestimmten Grenzen - als höherrangig anerkennt und so auf seine aktuelle Souveränität verzichtet (S. 128 f.); Hoheitsverzicht, d. h. der Staat verhindert eine Kollision mit der fremden originären Hoheit dadurch, daß er die entsprechenden Zuständigkeiten seiner Organe beseitigt und so auf seine aktuelle Hoheit verzichtet (S. 129 ff.). 129 A. Ruppert, Integrationsgewalt, S. 205 ff. 130 A. Ruppert, Integrationsgewalt, S. 207 ff. Ruppert sieht die Schwierigkeit, beide Übertragungsarten voneinander abzugrenzen und löst sie pragmatisch: Weil die Grenzziehung zwischen trans- und supranationalen Organisationen scheitern müsse, passe der Gesetzgeber sich diesen Schwierigkeiten am besten dadurch an, daß er die Übertragungsmaßnahme so ausgestalte, daß sie für beide Entwicklungen die innerstaatlichen Voraussetzungen gewährleiste. Entsprechendes gelte für den Gesetzesausleger: Beide Formen müßten als vom Gesetzgeber gewollt angenommen werden (Integrationsgewalt, S. 210 ff.).
Β. Weitere Entwicklung
51
telbar oder mittelbar beruhende Zuständigkeiten auszuüben befugt seien, es also einer entsprechenden Aktualisierung bedürfte, jedoch eine Änderung der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsordnung auch durch Neuaktualisierung von Zuständigkeiten uno actu mit deren Übertragung zulässig sei. Für die Gewaltschöpfungen sei dieses Problem ohnehin nicht relevant; hier komme es auf Aktualisierung nicht an. 131 Hauptproblem vom Begriff der zwischenstaatlichen Einrichtungen her sei, welchen Anforderungen die Einrichtung mit Rücksicht auf den internen Bereich der Bundesrepublik unterliegt, ob also der Übertragungsgesetzgeber nur solche Einrichtungen ausstatten dürfe, die strukturell und normativ Gewähr dafür böten, daß der Schutz der von ihren Maßnahmen Betroffenen gegenüber dem staatlichen Zustand nicht verkürzt werde. 132 Hier beantwortet A. Ruppert die Frage, ob dem Übertragungsgesetzgeber über die Vornahme der mit der Übertragung verbundenen notwendigen Maßnahmen hinaus weitere Verfassungsänderungen gestattet seien. Er führt aus, daß dies bis zur Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG möglich sei; die in Art. 24 Abs. 1 GG enthaltene Entscheidung für den offenen Staat zeige die Bereitschaft an, für überstaatliche Formen internationaler Zusammenarbeit Opfer zu bringen. Auch Η. P. Ipsen hebt in seinen Ausführungen auf den Topos der Verfassungsentscheidung ab. Danach stellt Art. 24 Abs. 1 GG eine Verfassungsentscheidung vom Rang einer Staatszielbestimmung dar und auch das Übertragungsgesetz habe Verfassungsrang, d. h. es könne auf einem neben Art. 79 GG geregelten Weg die Verfassung ändern und durchbrechen. Art. 24 Abs. 1 GG sei ein Integrationshebel, der mit dem geringeren Aufwand des einfachen Gesetzes die gesteigerte Wirkung der Verfassungsänderung ermögliche. 133 Η. P. Ipsen arbeitet dann sowohl die unterschiedliche Funktion der Gesetze nach Art. 24 Abs. 1 und Art. 59 Abs. 2 GG als auch seine die weitere Entwicklung insbesondere im Bereich der „Europarechtler" prägende Lehre vom Gesamtakt staatlicher Integrationsgewalt heraus. „Art. 24 I hat den Bund ... auf das Rechtsinstrument des Gesetzes und eben nicht des Vertragsschlusses verwiesen. Das geschieht in jenem Verfassungszusammenhang, in dem es um die existentielle Eigen-Öffhung der Staatlichkeit selbst geht. Das Grundgesetz hat damit eindeutig das Staatsgesetz als Erzeugungsakt für die zu errichtende Einrichtung bereitgestellt. Die ,Zwischenstaatlichkeit4, die Internationalität, die Mehr-Staatlichkeit und Plural-Mitgliedschaft dieser Einrichtung bedurfte selbstverständlich zu ihrer Entstehung außer der gesetzlichen Staatsentscheidung des deutschen Mitbegründers gleichgerichteter und übereinstimmender Rechtsakte der ande-
131 132 133
A. Ruppert, Integrationsgewalt, S. 254 ff. A. Ruppert, Integrationsgewalt, S. 295 ff. Η. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 52 ff.
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung ren Mit-Errichter. ... Das aber konnte Art. 24 I seinerseits außer Betracht lassen. Denn das hierfür erforderliche Rechtsinstrumentarium stellte Art. 59 GG bereit. Daß sein Abs. I I . . . die Zustimmung der Legislative ,in der Form eines Bundesgesetzes4, also ebenfalls ein Staatsgesetz wie ein in Art. 24 I gefordertes, vorsieht, verwandelt das Errichtungsgesetz des Art. 24 I indes nicht in ein übliches Zustimmungsgesetz i.S. des Art. 59 I I - und dies auch nicht, wenn beide Gesetzesakte von den gesetzgebenden Körperschaften buchstäblich ,uno actu* beschlossen werden. Im Sinne des Art. 59 I I ist dieses eine Gesetz der aus Verfassungsgründen der Gewaltenteilung stattfindende Sanktionsakt der ersten Gewalt zum Vertragsschluß als Rechtsanwendung eben des Art. 24 I. Im Telos des Art. 24 I ist dasselbe Gesetz dagegen nicht Rechtsanwendung, sondern Rechtserzeugungsakt." 134
Der Vertragsschluß sei als Gesamtakt staatlicher Integrationsgewalt zu begreifen: Die Staaten hätten ihren übereinstimmenden Willen, nebeneinander stehend, zu einem Gesamtwillen verschmolzen und damit Rechtswirkungen außer sich selbst erzeugt. „Aus der Rechtsfigur des ,Gesamtaktes4 entlehnt diese Kennzeichnung die gleichgerichtete Zielsetzung der Gründerstaaten, die sich nicht obligatorisch in ihrer Willenseinigung erschöpft. In der Aufgabenstellung der Gemeinschaften, ihrer Verfassung und ihrer Ausstattung ist ihre Schöpfung auf eine Rechtsordnung gerichtet, die außerhalb der Staaten existiert und ihnen gegenüber selbständig wirkt. Nach deutschem Verfassungsrecht hat sich die staatliche Teilnahme an diesem Gesamtakt vollzogen durch den Erlaß des in Art. 24 I GG vorgesehenen Gesetzes. Kraft dieses Gesetzes ist der Ausschließlichkeitsanspruch der Staatshoheit im Rahmen der Gemeinschaftsaufgaben aufgegeben, die binnenstaatliche Wirksamkeit der Gemeinschaftshoheit zugelassen worden. Daß dasselbe Gesetz zugleich eine Funktion als Zustimmungsgesetz i.S. des Art. 59 I I GG erfüllt, entspricht der durch das Völkerrecht bedingten Rechtstechnik internationalen Vertragsschlusses und der verfassungsrechtlich hierfür aus Gründen der Gewaltenteilung vorbehaltenen Mitwirkung der ersten Gewalt. Diese seine Funktion ist von jener der gesetzlichen ,Öffnung' der Staatlichkeit zu unterscheiden. Das Gesetz hat für die Gemeinschaftsverfassung nicht die Funktion der Inkorporierung oder der Erteilung des Anwendungsbefehls im Sinne des Art. 59 II. Es empfängt seine spezifische Wirkung für die Gemeinschaftsverfassung, für die nationale Verfassungsordnung und die Binnenrechtsordnung vielmehr aus Art. 24 I. Der gesetzliche Vollzug der in Art. 24 I liegenden Verfassungsentscheidung ist es, der den Vorgang rechtlich prägt." 135
In seiner berühmten sog. Solange I-Entscheidung nimmt dann das BVerfG nach einem Intermezzo im Jahre 1971 136 - die ihm von der Lehre zugeschrie134
Κ P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 60. H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 61 f. Kritisch zu dieser Gesamtaktlehre aus österreichischer Sicht auf die deutschen Verhältnisse H. F. Köck, Gesamtakt. 136 BVerfGE 31, 145. Der 2. Senat führt hier in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen ein Urteil des BFH aus, daß durch die Ratifizierung des EWGV in Obereinstimmung mit Art. 24 Abs. 1 GG eine eigenständige Rechtsordnung entstanden sei, die 135
Β. Weitere Entwicklung
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bene Berufung zur nationalen Verfassungskontrolle gegenüber dem grundrechtsrelevanten Gemeinschaftsrecht an; jedoch ohne daß sich in den Entscheidungsgründen ein Rückgriff auf die Äußerungen und Ergebnisse der Lehre zur Lösung des Grundrechtsproblems 137 oder ihren Versuchen zur theoretischen Fundierung des Art. 24 Abs. 1 GG erkennen ließe. In dem Beschluß vom 29. Mai 1974 138 kommt die Mehrheit des 2. Senats zu dem Ergebnis, daß das BVerfG im Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG zur verfassungsrechtlichen Überprüfung sekundären Gemeinschaftsrechts an den Grundrechten des Grundgesetzes zuständig sei. 139 Vorgelegt worden waren zwei Verordnungen der EWG, die vom vorlegenden Gericht als mit Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG unvereinbar angesehen wurden. Zur Frage des Verhältnisses zwischen den Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes und den Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts der EWG, deren Vollzug in der Hand von Verwaltungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland liegt, führt die Senatsmehrheit zunächst mit Blick auf den Entstehungsvorgang der Gemeinschaft aus: „Art. 24 spricht von der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen. Das kann nicht wörtlich genommen werden." 140
in den deutschen Rechtsraum hineinwirke und von den deutschen Gerichten anzuwenden sei. Art. 24 Abs. 1 GG erlaube dabei auch, daß Hoheitsakte der durch Übertragung von Hoheitsrechten geschaffenen Gemeinschaftsorgane vom ursprünglich ausschließlichen Hoheitsträger anerkannt würden. Die Entscheidung daraus entstehender Normenkonflikte zwischen innerstaatlichen Normen einfachen Rechts mit vorrangigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts sei der umfassenden Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der zuständigen Gerichte überlassen, nicht aber sei das BVerfG zuständig; BVerfGE 31, 145/173 ff. Diese Entscheidung findet sich besprochen von G. Meier, NJW 1971, 2122 f.; B. Sommer, DVB1. 1972, 273 f.; Η P. Ipsen, EuR 1972, 57 ff.; A. Bleckmann, ZaöRV 1972, 591 ff. 137 Zum Stand der Lehre zur Grundrechtsproblematik zwischen BVerfGE 31, 145 und BVerfGE 37,271 E. Benda/E. Klein, DVB1. 1974, 389 ff. 138 BVerfGE 37, 271. Besprechungen finden sich bei G. Meier, NJW 1974, 1704 f.; Η Η Rupp, NJW 1974, 2153 ff.; R. Riegel, NJW 1974, 2176 f.; Η Golsong, EuGRZ 1974, 17 f.; E. Bülow, EuGRZ 1974, 19 f.; J.-V. Louis, EuGRZ 1974, 20 f.; C. Pesta lozza, DVB1. 1974, 716 ff.; U. Engels , A WD 1974, 553 ff.; H P. Ipsen, EuR 1975, 1 ff.; M. Hilf ZaöRV 1975, 51 ff.; E. Klein, ZaöRV 1975, 67 ff.; A. Bleckmann, ZaöRV 1975, 79 ff.; U. Scheuner, AöR 1975, 30 ff.; H.-U. Erichsen, VerwArch 1975, 177 ff.; M. Zuleeg, DÖV 1975, 44 ff.; H Schwaiger, RIW/AWD 1975, 190 ff.; Κ Feige, JZ 1975, 476 ff.; D. Schumacher, DB 1975, 677 ff.; R. Riegel, BayVBl. 1976, 353 ff.; T. Maunz, BayVBl. 1976, 360 f.; B. Börner, NJW 1976,2041 ff. 139 BVerfGE 37, 271/285. 140 BVerfGE 37, 271/279.
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung Das Gericht stimmt dann m i t der Linie der herrschenden Lehre überein,
wenn es weiter formuliert: „Art. 24 GG ermächtigt nicht eigentlich zur Übertragung von Hoheitsrechten, sondern öffnet die nationale Rechtsordnung (in der angegebenen Begrenzung) derart, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen wird." 1 4 1 Z u den Begrenzungen dieses Öffnungsvorganges heißt es: „Art. 24 GG muß wie jede Verfassungsbestimmung ähnlich grundsätzlicher Art im Kontext der Gesamtverfassung verstanden und ausgelegt werden. Das heißt, er eröffnet nicht den Weg, die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtung zu ändern. Gewiß können die zuständigen Gemeinschaftsorgane Recht setzen, das die deutschen zuständigen Verfassungsorgane nach dem Recht des Grundgesetzes nicht setzen könnten und das gleichwohl unmittelbar in der Bundesrepublik Deutschland gilt und anzuwenden ist. Aber Art. 24 GG begrenzt diese Möglichkeit, indem an ihm eine Änderung des Vertrags scheitert, die die Identität der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in die sie konstituierenden Strukturen aufheben würde. Und dasselbe würde für Regelungen des sekundären Gemeinschaftsrechts gelten, die aufgrund einer entsprechenden Interpretation des geltenden Vertrags getroffen und in derselben Weise die dem Grundgesetz wesentlichen Strukturen berühren würden." 142 A u c h damit befindet sich das B V e r f G auf der Linie der herrschenden Lehre. Der entscheidende Unterschied zu ihr findet sich demgegenüber i n der i m Rechtsfolgenbereich dieser Schrankenbestimmung i n Ansehung des Gemeinschaftsrechts angenommenen Prüfungskompetenz des Gerichts. Insbesondere auf diesem Konfliktfeld spielt sich die weitere Auslegungs- und Anwendungsgeschichte ab. Eine die Gemeinschaftsrechtsordnung begrenzende wesentliche
Struktur,
„ e i n unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist der Grundrechtsteil des Grundgesetzes." Ihn zu relativieren gestatte Art. 24 Abs. 1
141 BVerfGE 37, 271/280. Mit dieser Formulierung hat das Gericht den wortlautfernen Stand der herrschenden Dogmatik für die Zukunft zementiert. Sie wird zum Standard-Zitat in Literatur und Rechtsprechung, wenn es um die Bestimmung des Art. 24 Abs. 1 GG geht. Die teilweise abweichenden Aussagen des Gerichts in der PershingEntscheidung (BVerfGE 68, 1/89 ff.) bleiben ein Ausreißer; außerhalb des in dieser Entscheidung gegebenen besonderen Zusammenhanges finden sie keine nochmalige Aufnahme. 142 BVerfGE 37, 271/279 f.
Β. Weitere Entwicklung
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GG nicht vorbehaltlos und dieser Vorbehalt gelte, solange eine Rechtsgewißheit, daß die Gemeinschaft einen dem Grundgesetz adäquaten Grundrechtsstandard garantiere, nicht erreicht sei. Für diese Rechtsgewißheit aber verlangt das Gericht einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist. 143 Im Falle einer Kollision von Gemeinschaftsrecht mit den grundgesetzlichen Grundrechtsgarantien setze sich „solange" die Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes durch und entscheide das BVerfG im Normenkontrollverfahren, daß eine solche gemeinschaftsrechtliche Vorschrift von den Behörden oder Gerichten der Bundesrepublik nicht angewendet werden darf. 144 Keine näheren Ausführungen trifft die Senatsmehrheit zu der Frage, wann Adäquanz materiell erreicht ist, ob etwa der Maßstab des gesamten grundgesetzlichen Grundrechtskataloges, des Art. 19 Abs. 2 oder des Art. 79 Abs. 3 GG gilt. Im Ergebnis lehnt das Gericht im vorgelegten Fall eine Grundrechtsverletzung ab. 145 Harsche Kritik bringt diesen Ausführungen bereits die abweichende Meinung der Richter Rupp, Hirsch und Wand entgegen.146 Nach ihnen können Rechtsvorschriften, die von Gemeinschaftsorganen aufgrund der übertragenen Kompetenzen erlassen worden sind, nicht auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechtsnormen des Grundgesetzes geprüft werden. Der Kollisionsfall sei vielmehr mit Blick auf Art. 24 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz zum EWGV zu lösen. „Art. 24 Abs. 1 GG besagt bei sachgerechter Auslegung nicht nur, daß die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt zulässig ist, sondern auch, daß die Hoheitsakte der zwischenstaatlichen Einrichtungen von der Bundesrepublik Deutschland anzuerkennen sind. Das schließt es von vornherein aus, sie nationaler Kontrolle zu unterwerfen. Denn darauf hat die Bundesrepublik Deutschland durch den Beitritt zur EWG, ihre Zustimmung zur Errichtung von Gemeinschaftsorganen und ihre Mitwirkung an der Begründung autonomer Hoheitsgewalt gerade verzichtet." 147
Der Einwand der Senatsmehrheit, daß Art. 24 Abs. 1 GG nicht auch den Weg eröffne, die Grundstruktur der Verfassung zu ändern, gehe fehl, denn zwar sei die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG nicht schrankenlos, doch seien mit Blick auf die Realität der Gemeinschaftsrechtsordnung die Schrankenvoraussetzungen erfüllt.
143 144 145 146 147
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
37, 271/280. 37, 271/281 f. 37,271/288 ff. 37,271/291 ff. 37,271/295.
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung „Die Auslegung des Art. 24 Abs. 1 GG aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassung ergibt, daß der Verzicht auf die Ausübung von Hoheitsgewalt in bestimmten Bereichen und die Duldung der Ausübung von Hoheitsgewalt durch Organe einer überstaatlichen Gemeinschaft dann - und nur dann - zulässig ist, wenn die öffentliche Gewalt der überstaatlichen Gemeinschaft nach ihrer Rechtsordnung den gleichen Bindungen unterliegt, wie sie sich für den Bereich des innerstaatlichen Rechts aus den fundamentalen und unabdingbaren Prinzipien des Grundgesetzes ergeben; dazu gehört insbesondere der Schutz des Kernbestandes der Grundrechte. Diese Voraussetzung ist bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erfüllt." 1 4 8
Dem BVerfG komme deshalb nicht die Kompetenz zu, Vorschriften des Gemeinschaftsrechts am Maßstab des Grundgesetzes, insbesondere seines Grundrechtsteiles zu prüfen, um danach die Frage ihrer Gültigkeit bzw. Anwendbarkeit zu beantworten. Die gegenteilige Auffassung der Senatsmehrheit sei ein unzulässiger Eingriff in die dem EuGH vorbehaltene Kompetenz, deren Anerkennung Art. 24 Abs. 1 GG gebiete. 149 Damit stehen die dissentierenden Richter hinsichtlich des Verständnisses des Art. 24 Abs. 1 GG als durch bestimmte Prinzipien des Grundgesetzes beschränkte Ermächtigung zum Verzicht auf die Ausübung eigener Hoheitsgewalt und zur Duldung der Ausübung fremder Hoheitsgewalt in einer Linie mit der Senatsmehrheit; Dissens besteht mit Blick auf die Prüfungskompetenz des BVerfG gegenüber dem Gemeinschaftsrecht. Ganz überwiegend kritisch wurde die Solange I-Entscheidung auch von der Lehre aufgenommen. 150 Repräsentativ ist insoweit G. Meier, der den Beschluß als „doppelten Rechtsbruch" qualifiziert: Verletzt sei zum einen deutsches Verfassungsrecht, weil entgegen Art. 100 Abs. 1 GG, der nur Emanationen deutscher öffentlicher Gewalt zum Gegenstand des Normenkontrollverfahrens mache, das Gericht Rechtsakte der Gemeinschaft dem Verfahren des Art. 100 Abs. 1 GG unterstellt habe. Verletzt seien darüber hinaus auch tragende Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, weil das BVerfG mit der Bereitschaft, Gemeinschaftsrecht im Geltungsbereich des Grundgesetzes für unanwendbar zu erklären, eine Rechtsprechungsgewalt für sich in Anspruch genommen habe, die ihm die Gemeinschafts Verfassung untersage.151 Quintessenz dieser überwiegend kritischen Aufnahme der Solange I-Entscheidung durch die Lehre - und damit Forderung an die weitere Rechtsprechungsentwicklung - ist die Erkenntnis, daß es zwar möglich sei, daß sich aus
148
BVerfGE 37, 271/296. BVerfGE 37, 271/299. 150 Siehe - neben der oben nachgewiesenen unmittelbaren Anmerkungsliteratur E.-W. Fuß, Grundrechtsschutz, S. 154 ff; 1 A. Frowein, FG BVerfG 1976, S. 187 ff; Κ Claudi , Bindung, S. 197. 151 G. Meier , NJW 1974, 1704 f. 149
Β. Weitere Entwicklung
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den Grenzen des Art. 24 Abs. 1 G G Auswirkungen auf die Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes zum E W G V ergeben, es aber dem Charakter des Gemeinschaftsrechts widerspreche, wenn i h m der Durchgriff verweigert wird, w e i l nationales Verfassungsrecht i m Einzelfall entgegensteht. 152 Was sich in der K r i t i k der Lehre an der Solange I-Entscheidung jedoch nicht i n gleicher Deutlichkeit findet, ist der Umstand, daß die Entscheidung auch als eine Folge der Rezeption der von der Lehre entwickelten Tatbestandsbestimmung des Art. 24 Abs. 1 G G verstanden werden k a n n . 1 5 3 Die K r i t i k blieb nicht ohne Wirkung. Zunächst unternahm das B V e r f G zwei Annäherungen an seine Kritiker, die die harte Linie des Solange I-Beschlusses gegenüber der Gemeinschaftsrechtsordnung und insbesondere dem E u G H auf-
152
So J. A. Frowein, FG BVerfG 1976, S. 193. So heißt es bei J. A. Frowein, FG BVerfG 1976, S. 204: „Das Bundesverfassungsgericht ist der Meinung, daß aus dem nicht adäquaten Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht die Maßgeblichkeit der deutschen Grundrechte bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht im deutschen Rechtsraum folge. Das schließt sich unmittelbar an die Interpretation des Art. 24 GG an, wonach diese Norm nicht eigentlich zur Übertragung von Hoheitsrechten ermächtige, sondern die nationale Rechtsordnung in der angegebenen Begrenzung für das Gemeinschaftsrecht öfihe. Diesem Bild entspricht es, daß bei Überschreitung der Grenzen das Gemeinschaftsrecht keinen Einlaß finden kann." Dies ist aber die Interpretation auch der herrschenden Lehre. Diese zieht nur überwiegend andere Konsequenzen für die bundesverfassungsgerichtliche Prüfungskompetenz; typisches Beispiel hierfür ist gerade die abweichende Meinung zum Solange I-Beschluß. Typisch ist auch das Bild, das A. Bleckmann, ZaöRV 1975, 81 f., in seiner Anmerkung zeichnet: „Der Geltungsanspruch des Europäischen Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Rechtsbereich mit Vorrang vor allem nationalen Recht trifft auf den ,Souveränitätspanzer 4 der nationalen Rechtsordnung. Innerstaatlich gilt danach grundsätzlich nur das Recht, welches vom nationalen Gesetzgeber gesetzt oder anerkannt worden ist. Dieser Souveränitätsanspruch wird nun durch Art. 24 Abs. 1 GG teilweise beseitigt. ... Bildlich gesprochen öffnet Art. 24 Abs. 1 GG in dem Souveränitätspanzer der Bundesrepublik Deutschland eine Lücke, in die das Europäische Gemeinschaftsrecht mit seinem eigenen Geltungs- und Vorranganspruch einströmen kann. Zieht nun das Grundgesetz dieser Funktion des Art. 24 Abs. 1 GG eine Grenze durch die Grundrechte oder den Kern der Grundrechte, wird diese Bresche verengt (,öffnet die nationale Rechtsordnung in der angegebenen Begrenzung 44) und kann nur das europäische Recht in den deutschen Rechtsraum einströmen, das mit den Grundrechten oder dem Kern der Grundrechte übereinstimmt. Sobald diese Grenze durch die Einführung eines europäischen Grundrechtskatalogs beseitigt wird, erweitert sich die Bresche: die europäische Rechtsordnung kann auch einströmen, wenn sie gegen die Grundrechte verstößt; sie hat - wie vorher - im innerstaatlichen Rechtsraum Rang über der Verfassung und geht den einzelnen Grundrechten vor. 44 Zu diesem Bild später noch einmal ders., FS Doehring 1989, S. 74 ff. 153
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
weichten. In einem Beschluß vom 8. Juni 1977 154 weist der 2. Senat Verfassungsbeschwerden gegen eine deutsche Verordnung als unbegründet zurück und vermerkt in seiner Begründung, daß Entscheidungen des EuGH über Gültigkeit, Auslegung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht, soweit diese Entscheidungen im Rahmen des Ausgangsverfahrens getroffen sind, auch das BVerfG binden. 155 Und in einem Beschluß des 2. Senats vom 25. Juli 1979 156 allgemein als sog. Vielleicht-Beschluß gehandelt - wird eine Richtervorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG als unzulässig abgelehnt, die vom BVerfG die Prüfung der Anwendbarkeit von primärem Gemeinschaftsrecht in einer vom EuGH getroffenen, bestimmten Auslegung verlangte. Hierzu wird ausgeführt: „ I m Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ist eine Prüfung, ob der Anwendung von Vorschriften des EWG-Vertrages Normen oder Grundsätze des Grundgesetzes entgegenstehen, nur statthaft, wenn insoweit das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag Prüfungsgegenstand ist. ... Die Unanwendbarkeit primären Gemeinschaftsrechts aus Gründen entgegenstehenden Bundesverfassungsrechts ist nicht ohne - gegebenenfalls teilweise - Unvereinbarkeit des Zustimmungsgesetzes mit dem Grundgesetz denkbar." 157
Den Abschluß dieser Entscheidung bildet dann die „Vielleicht-Klausel": „Der Senat läßt offen, ob und gegebenenfalls inwieweit - etwa angesichts mittlerweile eingetretener politischer und rechtlicher Entwicklungen im europäischen Bereich - für künftige Vorlagen von Normen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts die Grundsätze des Beschlusses vom 29. Mai 1974 (BVerfGE 37, 271 ff.) weiterhin uneingeschränkt Geltung beanspruchen können. Rechtssätze, die der EuGH im Rahmen einer Vorabentscheidung nach Art. 177 Abs. 1 a) EWGV bei der Auslegung des Vertrages als Vertragsinhalt feststellt, stehen, unbeschadet der Bindungswirkung einer Vorabentscheidung, grundsätzlich nicht auf der Stufe des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts, sondern sind dem primären Gemeinschaftsrecht zuzurechnen." 158
Mit diesem Beschluß hat das BVerfG seine 1974 behauptete Kontrollkompetenz gegenüber dem Gemeinschaftsrecht zwar nicht aufgegeben, es hat sie aber klar auf das sekundäre Gemeinschaftsrecht begrenzt und auch insoweit zu erkennen gegeben, daß es die Grundsätze der Solange I-Entscheidung in Frage zu stellen bereit ist. 1 5 9
154
BVerfGE 45, 142; besprochen von Η. Ρ. Ipsen, EuR 1978, 151 ff. BVerfGE 45, 142/162. 156 BVerfGE 52, 187. Diese Entscheidung wird besprochen von H.-W. Rengeling,, EG-Magazin 11/12-1979, 29 f.; Η. P. Ipsen, EuR 1980, 71 ff.; C Tomuschat, NJW 1980,2611 ff.; V Fastenrath, DVB1. 1981,490 f.; AL Sachs, NJW 1982,465 ff. 157 BVerfGE 52, 187/199. 158 BVerfGE 52, 187/202 f. 159 So Η. P. Ipsen, EuR 1980, 73 f.; auch C Tomuschat, NJW 1980,2614. 155
Β. Weitere Entwicklung
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Mithin lagen zu diesem Zeitpunkt zwischen der herrschenden Lehre und der Rechtsprechung des BVerfG mit Blick auf die Frage der Prüfungskompetenz nicht Welten, sondern bestanden allenfalls graduelle Unterschiede. Den Stand der herrschenden Lehre hatte 1981 C. Tomuschat zusammengefaßt. Seine Kommentierung ist zweifellos die Kommentierung der späten Bundesrepublik. Sie arbeitet die zeitlich vor ihr liegenden Beschäftigungen mit Art. 24 Abs. 1 GG auf, gewichtet sie und kommt zu einer den erreichten Entwicklungsstand gültig zusammenfassenden und doch eigenständigen Erläuterung dieser Vorschrift. Ausgehend von K. Vogels These einer Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für die offene Staatlichkeit 160 leitet C. Tomuschat aus Art. 24 GG zwei rechtliche Konsequenzen ab: Art. 24 GG sei zum einen als Ermächtigung aufzufassen, die in ihm näher beschriebenen Handlungen vorzunehmen, 161 zum anderen verpflichte er als Staatszielbestimmung sämtliche Staatsorgane, bei ihren Entscheidungen den Gedanken der internationalen Kooperation im Auge zu behalten. 162 Als Wesensmerkmal der „Übertragung von Hoheitsrechten" und damit als die Einzelfragen zu Tatbestand, Schranken und Wirkungen determinierendes Merkmal stellt C. Tomuschat den Durchgriffseffekt der durch sie geschaffenen Einrichtungen heraus. Er sei die raison d'être dieser Vorschrift. „Ermöglicht werden soll, daß zwischenstaatliche Einrichtungen unmittelbare hoheitliche Rechtsbeziehungen zum Einzelbürger begründen - sei es durch rechtsetzende, ausfuhrende oder rechtsprechende Akte - oder daß sie staatlichen Behörden gleich welcher Art unmittelbar wirksame Rechtsbefehle erteilen. ... Art. 24 Abs. 1 GG weicht bewußt von der Prämisse moderner Staatlichkeit ab, daß grundsätzlich jede Ausübung hoheitlicher Gewalt innerhalb der deutschen Grenzen der Staatsgewalt der Bundesrepublik zugerechnet werden müsse. ... Art. 24 Abs. 1 GG soll hingegen den ganz andersartigen Sachverhalt abdecken, daß gerade der deutsche Staatsbürger hinsichtlich eines bestimmten Lebensbereiches einer außerstaatlichen Hoheitsgewalt ausgeliefert' wird. Dieser Durchgriffseffekt stellt das ausschlaggebende Kriterium dar." 1 6 3
C. Tomuschat hält fest, daß, um den Durchgriffseffekt zu ermöglichen, „Übertragung" nicht dinglich verstanden werden müsse; sie bedeute einen Verzicht, selbständig tätig zu werden, soweit die Befugnisse der zwischenstaatlichen Einrichtung reichten.
160
K. Vogel, Verfassungsentscheidung. C. Tomuschat, BoK, Art. 24 Rn. 4. Regelungsbedürftig sei aber nur die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG gewesen; nur sie ginge über die normale Ausübung der Vertragschlußgewalt nach Art. 32 Abs. 1, 59 Abs. 2 GG hinaus. 162 C Tomuschat, BoK, Art. 24 Rn. 5. 163 C Tomuschat, BoK, Art. 24 Rn. 8, 74. 161
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung „Die Bundesrepublik überläßt vielmehr die in dem in Frage stehenden Vertrag durch die Zuweisung von Handlungsermächtigungen abgegrenzten Tätigkeitsfelder der zwischenstaatlichen Einrichtung (Verzicht) und nimmt (Anerkennung) die Emanationen der fremden Hoheitsgewalt als unmittelbar verbindliche Regelung innerhalb ihres eigenen Kompetenzraumes hin." 1 6 4 Schranken der Übertragung von Hoheitsrechten sieht C. Tomuschat in zwei-
erlei Richtung. Zunächst gälten für sie die speziellen Schranken außenpolitischen Handelns, wie sie das Grundgesetz in den Rechtsgedanken der Präambel und der Art. 9 Abs. 2, 24 Abs. 2, 26 G G verankert habe. Die Integrationsgewalt unterliege aber auch Art. 79 Abs. 3 GG. „Da es bei der Gründung einer zwischenstaatlichen Einrichtung nach Art. 24 Abs. 1 GG stets darum geht, daß im Verhältnis zum Bürger an Stelle deutscher Hoheitsgewalt die Hoheitsgewalt eines völkerrechtlichen Staatenzusammenschlusses tritt, darf insgesamt die Rechtsstellung des Bürgers nach dem supranationalen Rechtsregime nicht ungünstiger sein, soweit nicht integrationspolitische Erfordernisse eine abweichende Lösung erfordern. Art. 79 Abs. 3 GG ist in jedem Falle zu beachten." 165 Dies hindere die Bundesrepublik zum einen daran, eine Kooperation m i t Staaten zu begründen, die sich nicht den durch Art. 79 Abs. 3 G G abgesicherten Grundsätzen verpflichtet fühlten, zum anderen sei sie verpflichtet, bei der Gründung einer zwischenstaatlichen Einrichtung deren Grundlagen und Strukturen von vornherein so auszugestalten, daß Divergenzen allenfalls innerhalb einer gewissen Spielbreite vertretbarer Auslegungen der Grundprinzipien einer freiheitlich-rechtsstaatlichen
Ordnung möglich seien.
„Allein schon aus Art. 79 Abs. 3 GG ergibt sich, daß eine Homogenität der Wertvorstellungen bestehen muß. Die ihrer Kernsubstanz nach auf Freiheitlichkeit, auf Rechts- und Sozialstaatlichkeit ausgerichtete Verfassung der Bundesrepublik gestattet es nicht, den Bürger einer Hoheitsgewalt auszuliefern, die sich solchen Zielen nicht verpflichtet weiß." 1 6 6 Überprüft werden könnten diese Schranken des Übertragungsgesetzes nach Art. 24 Abs. 1 G G in den allgemein vorgesehenen Kontrollverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 4 a; 100 Abs. 1 GG). Diese Kompetenz zur Verfassungskontrolle 164
C Tomuschat, BoK, Art. 24 Rn. 18 f. C. Tomuschat, BoK, Art. 24 Rn. 49 f. Zwar sieht Tomuschat, daß Art. 79 Abs. 3 GG unmittelbar nur auf die Verfassungsänderung gemünzt ist, doch sei zumindest seine analoge Anwendung geboten: Wenn die Grundsätze der Art. 1 und 20 GG vom Verfassunggeber für derart essentiell erachtet worden sind, daß sie nicht einmal im Wege der Verfassungsänderung angetastet werden dürfen, so müsse dies um so mehr für ein einfaches Gesetz gelten, das eine internationale Kooperation bezwecke, die ihre Legitimation nicht schon in sich selbst trage, sondern diese nur aus der Verfolgung solcher Ziele, wie sie in den Art. 1 und 20 GG niedergelegt sind, empfangen könne; BoK, Art. 24 Rn. 51. 166 C. Tomuschat, BoK, Art. 24 Rn. 52 ff. 165
Β. Weitere Entwicklung
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entfalle auch dann nicht, wenn die zwischenstaatliche Einrichtung ihre Tätigkeit bereits aufgenommen habe und der Vertrag damit zur Konstitutionsbasis geworden sei. Doch könne der Spruch des BVerfG immer nur eine Aussage über die Rechtslage nach deutschem Verfassungsrecht enthalten; die Wirkung der Entscheidung gegenüber den Vertragspartnern der Bundesrepublik bestimme sich dagegen nach völkerrechtlichen Grundsätzen. Nicht überprüft werden könnten die Sekundärrechtsakte einer zwischenstaatlichen Einrichtung; hier gehe es um deren Autonomie, die ihre verfassungsrechtliche Wurzel in Art. 24 Abs. 1 GG habe. 167 Das BVerfG sah sich dann im Jahre 1981 erneut mit Rechtsfragen im Umfeld des Art. 24 Abs. 1 GG konfrontiert. Zwar ging es bei ihnen nicht um das europäische Gemeinschaftsrecht, sondern um die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte für Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der Europäischen Organisation zur Sicherung der Luftfahrt (Eurocontrol) - einer zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG. Der 2. Senat des Gerichts nutzte die Verfahren aber zu weiteren Absetzbewegungen von der durch den Solange I-Beschluß begründeten harten Rechtsprechungslinie und näherte sich so den von C. Tomuschat in seiner Kommentierung ausgeführten Grundlinien an. 168 So hält er mit Blick auf die Kontrollkompetenz deutscher Gerichte fest, daß sich aus Sinn und Zweck der Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG ergebe, daß der Rechtsschutz gegen Akte zwischenstaatlicher Einrichtungen durch deutsche Gerichte nicht von Verfassungs wegen gewährleistet sei. 169 „Dabei mag in diesem Zusammenhang dahinstehen, inwieweit die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG durch die Grundprinzipien der Verfassung begrenzt ist. Sie erleidet jedenfalls auch angesichts der Rechtsschutzgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG nicht eine absolute Begrenzung dahin, daß gegen Handlungen der zwischenstaatlichen Einrichtung in jedem Fall der Rechtsschutz durch innerstaatliche (deutsche) Gerichte gewährleistet sein müßte." 170
Ferner komme es in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob die „Übertragung" von Hoheitsrechten auf die zwischenstaatliche Einrichtung sowie deren rechtliche und organisatorische Ausgestaltung im einzelnen nach Maßgabe des deutschen Verfassungsrechts gültig sei, wenn nur die Einrichtung durch einen wirksamen völkerrechtlichen Akt geschaffen worden sei und sie
167
C. Tomuschat, BoK, Art. 24 Rn. 92 ff. BVerfGE 58, 1; 59, 63. Besprechungen finden sich bei J. A. Frowein, EuGRZ 1982, 179 ff.; L Grämlich,, JZ 1982, 149 ff. und DÖV 1982, 407 ff.; Τ Stein, ZaöRV 1982, 596 ff.; I Schwarze, EuGRZ 1983, 117 ff.; A. Greifeid, CMLR 1983, 87 ff. 169 BVerfGE 58, 1/27 f. 170 BVerfGE 58, 1/28. 168
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
sich bei dem streitgegenständlichen Verhalten nicht völlig von ihrer völkerrechtlichen Kompetenzgrundlage gelöst habe. 171 „Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht eine subsidiäre 4 Gerichtsbarkeit deutscher Gerichte für den Fall, daß die Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die zwischenstaatliche Einrichtung nach innerstaatlichem Recht - formell oder materiell - fehlerhaft sein sollte. 44172
Abstriche des BVerfG von der bisherigen Linie seiner Rechtsprechung lassen sich auch dort erkennen, wo es nur von „Grundprinzipien der Verfassung 44,173 „fundamentalen Rechtsgrundsätzen" 174 bzw. „rechtsstaatlichen Mindestanforderungen des Grundgesetzes" 175 spricht, die der Übertragungsermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG eine Grenze zu setzen vermöchten. Diese Eurocontrol-Beschlüsse des BVerfG fanden durch die Literatur eine freundliche Aufnahme. So fügen sie sich etwa für J. Schwarze in eine Kette von Entscheidungen des BVerfG ein, die von dem durch starke nationale Grundrechtsvorbehalte geprägten Solange-Beschluß über eine zögernde Modifizierung zu einem Rechtsprechungswandel im Sinne einer größeren Rücksichtnahme auf die spezifischen Erfordernisse der Integration geführt habe. Doch sieht er auch, daß sich den gerichtlichen Ausführungen zu Art. 19 Abs. 4 GG nicht entnehmen lasse, inwieweit das Gericht zukünftig davon absehen werde, Akte des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts im Verfahren des Art. 100 Abs. 1 GG an deutschen Grundrechtsnormen zu prüfen. Auf diese Kompetenz habe das Gericht in den Beschlüssen nicht ausdrücklich verzichtet; aber die in ihnen angestellten Erwägungen und der Zusammenhang mit dem Vielleicht-Beschluß gäben zu der Vermutung Anlaß, daß das Gericht eine Prüfungs- und Verwerfungskompetenz hinsichtlich sekundären Gemeinschaftsrechts in Zukunft nicht mehr in Anspruch nehmen werde. 176 Es dauerte dann aber doch noch einmal 5 Jahre, bis der 2. Senat des BVerfG mit dem Beschluß vom 22. Oktober 1986 - dem sog. Solange II-Beschluß wieder zur Problematik der Grundrechtsgeltung gegenüber dem abgeleiteten europäischen Gemeinschaftsrecht und einer entsprechenden bundesverfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz Stellung nahm. 177 Und er tat dies auch
171
BVerfGE 58, 1/29; 59, 63/85. BVerfGE 58, 1/30. 173 BVerfGE 58, 1/30; 59, 63/86. 174 BVerfGE 58, 1/40; 59, 63/91. 175 BVerfGE 59, 63/91. 176 J. Schwarze, EuGRZ 1983, 117 f. 177 BVerfGE 73, 339. Entscheidungsrezensionen finden sich bei H. P. Ipsen, EuR 1987, 1 ff.; M. Hilf, EuGRZ 1987, 1 ff.; H. H Rupp, JZ 1987, 241 f.; C. Vedder, NJW 1987, 526 ff.; J. Scherer, JA 1987, 483 ff.; P. Kalbe, RIW 1987, 455 ff.; Κ E. Heinz, 172
Β. Weitere Entwicklung
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nicht in jeder Beziehung so, wie es die zwischen 1974 und 1986 ergangenen Entscheidungen die Lehre weithin haben erwarten lassen; 1 7 8 angedeutet hatte sich die Entwicklung zu Solange I I jedoch bereits in einem Beschluß des V o r prüfungsausschusses v o m 14. Februar 1983. 1 7 9 In dem Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des B V e r w G , die ein Unterlassen des Bewirkens einer neuerlichen Vorlage an den E u G H rügte und die den Ausspruch der Nichtanwendbarkeit von
EWG-
Verordnungen für den Geltungsbereich des Grundgesetzes begehrte, kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, daß die Verfassungsbeschwerde zwar zulässig, aber unbegründet ist. Dabei bejaht das Gericht - i m Rahmen der Ausführungen zu einer erneuten Vorlagepflicht an den E u G H - die bisher nicht entschiedene Frage, ob der E u G H gesetzlicher Richter i m Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG i s t . 1 8 0 „Der Gerichtshof ist kein Organ der Bundesrepublik Deutschland sondern ein gemeinsames Organ der Europäischen Gemeinschaften. Die funktionelle Verschränkung der Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaften mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedsstaaten zusammen mit dem Umstand, daß die Gemeinschaftsverträge kraft der durch die Zustimmungsgesetze gemäß Art. 24 Abs. 1, 59 Abs. 2 Satz 1 GG erteilten Rechtsanwendungsbefehle und das auf vertraglicher Grundlage erlassene abgeleitete Gemeinschaftsrecht Teil der innerstaatlich geltenden Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland und von ihren Gerichten zu beachten, auszulegen und anzuwenden sind, qualifizieren den Gerichtshof als gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, soweit ihm durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen darin enthaltene Rechtsprechungsfiinktionen aufgetragen sind." 181 Die Betonung der Zustimmungsgesetze zeigt die Richtung des Beschlusses und ihre letztliche Fixierung in der neuen „Solange-Formel" bereits an: Das BVerfG nimmt die Ausübung einer Kontrollkompetenz gegen Emanationen der gemeinschaftlichen Hoheitsgewalt einstweilen und unter Bedingungen zurück; es beschränkt sich auf die Prüfling der Verfassungsmäßigkeit der Zustimmungsgesetze. Deutlich w i r d dies, wenn das Gericht die Unzulässigkeit der Rüge, die Vorabentscheidung des E u G H und die Verordnungen in der Auslegung des E u G H hätten i m Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht angewen-
DÖV 1987, 851 ff.; T. Stein, ZaöRV 1987, 279 ff; ders. 9 FS Zeidler 1987, S. 1711 ff; U. Maidowski, JuS 1988, 114 ff ; J. A. Frowein, CMLR 1988, 201 ff. 178 Dazu näher J. Scherer, JA 1987, 485. 179 BVerfG, NJW 1983, 1258 f.; dazu R. Streinz, Grundrechtsschutz, S. 67 f. 180 BVerfGE 73,339/366. 181 BVerfGE 73, 339/367 f. In diesen Ausführungen wie auch an weiteren Stellen der Begründung (etwa S. 372 f.) betont das Gericht die Maßstäblichkeit der Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen.
64
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
det werden dürfen, feststellt; eine entsprechende Vorlage der Verordnungen an das BVerfG durch das BVerwG wäre unzulässig gewesen.182 Zur Begründung wird ausgeführt, daß die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG zwar nicht ohne verfassungsrechtliche Grenzen sei. Als ein die Ermächtigung begrenzendes, unverzichtbares, zum GrundgefÜge der geltenden Verfassung gehörendes Essentiale werden aber hier „die Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrundeliegen", bestimmt. Dies ist deutlich enger als die Formulierung im Solange I-Beschluß („der Grundrechtsteil des Grundgesetzes"). Und so gelingt es dem Gericht denn auch im weiteren, von den Hürden des Solange I-Beschlusses für die innerstaatliche Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts wegzukommen, die zwischenzeitlichen Absetzbewegungen also fortzusetzen. Es hält zum einen fest: „Sofern und soweit mithin einer zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG Hoheitsgewalt eingeräumt wird, die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland den Wesensgehalt der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte zu beeinträchtigen in der Lage ist, muß, wenn damit der nach Maßgabe des Grundgesetzes bestehende Rechtsschutz entfallen soll, statt dessen eine Grundrechtsgeltung gewährleistet sein, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkommt." 1 8 3
Hat das Gericht damit die materiellen Anforderungen an einen gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz gegenüber den noch 1974 verlangten („Adäquanz") herunter gesetzt, so führt es zum anderen zu den formellen Anforderungen aus, daß ein parlamentarisch beschlossener Grundrechtskatalog nicht mehr verlangt werde. „Nach Auffassung des erkennenden Senats ist mittlerweile im Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaften ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen, das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im wesentlichen gleichzuachten ist. Alle Hauptorgane der Gemeinschaft haben sich seither in rechtserheblicher Form dazu bekannt, daß sie sich in Ausübung ihrer Befugnisse und im Verfolg der Ziele der Gemeinschaft von der Achtung vor den Grundrechten, wie sie insbesondere aus den Verfassungen der Mitgliedsstaaten und der Europäischen Menschenrechtskonvention hervorgehen, als Rechtspflicht leiten lassen werden. Es bestehen keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, daß der erreichte gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsstandard nicht hinreichend gefestigt und lediglich vorübergehender Natur sei." 1 8 4
Durch diese normative Verklammerung der in den Verfassungen der Mitgliedstaaten und in der EMRK enthaltenen Grundrechtsverbürgungen mit den 182 183 184
BVerfGE 73, 339/374. BVerfGE 73, 339/376. BVerfGE 73, 339/378.
Β. Weitere Entwicklung
65
allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts sei der Sache nach dem Erfordernis eines von einem Parlament beschlossenen Grundrechtskatalogs Genüge getan. 185 Im Ergebnis kommt der 2. Senat des BVerfG somit dahin, daß zwar der Wesensgehalt der Grundrechte und zumal der Menschenrechte unabdingbar sei und auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft Bestand habe, daß er dies aber auf der Gemeinschaftsebene für mittlerweile zureichend generell gewährleistet halte. 186 Und so hält er abschließend - in der neuen „SolangeFormel" - fest: „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes prüfen; entsprechende Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG sind somit unzulässig." 187
Damit bestätigt das BVerfG seine bisherige Auffassung, daß ihm eine entsprechende Gerichtsbarkeit - außerhalb der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Zustimmungsgesetze - zusteht. Solange sich aber nicht zeigt, daß der EuGH die Grundrechte „schlechthin und generell nicht anzuerkennen oder zu schützen bereit und in der Lage und daß damit das vom Grundgesetz geforderte Maß an Grundrechtsschutz auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts generell und offenkundig unterschritten" ist, wird es sie nicht ausüben.188 Wie der Solange I-Beschluß ganz überwiegend kritisch beurteilt worden ist, findet der Solange II-Beschluß ganz überwiegend zustimmende Aufnahme durch die Literatur. 189 Gesprochen wird von der Lösung der Grundrechtspro185
BVerfGE 73, 339/384. BVerfGE 73, 339/386. 187 BVerfGE 73, 339/387. 188 BVerfGE 73, 339/387. 189 Zur Entwicklungslinie von Solange I zu Solange I I gehört es auch, wenn ein Kritiker der Entscheidung von 1974 und zustimmender Rezensent von 1986 wie H. P. Ipsen schreibt: „Rückschauend betrachtet kann der Solange- und Vielleicht-Judikatur unseres Verfassungsgerichts das Verdienst nicht abgesprochen werden, durch ihre Kritik und Impulse das Grundrechtsbewußtsein der Gemeinschaft geweckt und befördert zu haben, und zwar mit dem Erfolg, daß das Konkordanz-Resultat dieses Beschlusses schließlich ermöglicht wurde"; EuR 1987, 5. 186
5 Flint
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
blematik, die vollen Beifall verdiene, 1 9 0 auch von einem grundrechtspolitischen K o m p r o m i ß . 1 9 1 Gefragt w i r d aber auch: W i e lange noch Solange? 1 9 2 U n d kritisch beleuchtet w i r d die dogmatische Schwäche des Arguments, der SolangeVorbehalt könne nunmehr so formuliert werden, w e i l „mittlerweile" ein ausreichender Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene erreicht s e i ; 1 9 3 das sei letztlich ein tatsächlicher Umstand, keine rechtsdogmatische E r w ä g u n g . 1 9 4 I n der Tat ist der Vorbehalt bundesverfassungsgerichtlicher
Prüfungskompetenz
gegenüber dem abgeleiteten Gemeinschaftsrecht nach seinem tatsächlichen Entwicklungsstand die von der Entscheidung offen gelassene Tür; die rechtliche Zulässigkeit der Überprüfung von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht bleibt Auffassung des BVerfG. Sie fordert die weitere Behandlung der Frage nach den Kontrollkompetenzen des B V e r f G i m U m f e l d der Anwendung der Übertragungsermächtigung des Art. 24 Abs. 1 G G . 1 9 5
190
H. P. Ipsen, EuR 1987, 1. J. Scherer, JA 1987, 483. 192 M. Hilf, EuGRZ 1987,1. 193 Eine Untersuchung der Tragfähigkeit dieses Arguments bei H. Gersdorf, AöR 1994,400 ff. 194 So T. Stein, FS Zeidler 1987, S. 1719 f. 195 So auch R. Streinz, Grundrechtsschutz, S. 41 f., 150 f. Umfassend findet sich diese Frage im Nachgang des Solange II-Beschlusses behandelt durch Streinz selbst: ders., Grundrechtsschutz und ders., Entscheidungsprozeß. Eine andere Frage trägt Κ. T. Rauser, Übertragung, an den Art. 24 Abs. 1 GG heran: Ermächtigt diese Vorschrift auch zur Übertragung von Hoheitsrechten auf ausländische Staaten? Seine Ausführungen wollen aber nicht nur diese Frage beantworten (insoweit werden sie hier nicht referiert), sondern auch der Forderung nach mehr Dogmatik für das sich mit staatsgrenzenüberschreitender Zusammenarbeit befassende Verfassungsrecht nachkommen (S. 5). Zu erreichen sucht Rauser dies durch eine Neubestimmung des Tatbestands von Art. 24 Abs. 1 GG, in der er zwei Fallgruppen herausarbeitet. Mit Bezug auf die kompetentiellen Vorgaben des Grundgesetzes im Bereich der auswärtigen Gewalt heißt es bei ihm, daß sich die Neubestimmung des Art. 24 Abs. 1 GG einerseits in dieses System einfügen und dazu klare Abgrenzungskriterien an die Hand geben müsse - 1. Fallgruppe - , sie aber gleichzeitig den im Einzelfall bestehenden Bedenken gegenüber zu starren Kompetenzregeln gerecht zu werden versuchen sollte - 2. Fallgruppe - (S. 48 f.). Die erste Fallgruppe sieht den Kern des Tatbestands in der Durchgriffs Wirkung (S. 74 f.). Die zweite erweitert den Tatbestand mit Hilfe der Wesentlichkeitstheorie: „Ebenfalls muß von einer Übertragung von Hoheitsrechten dann ausgegangen werden, wenn dem Übertragungsakt die Ermächtigung zu schlicht-hoheitlichem Handeln innewohnt, das die vorhersehbare Gefahr von faktischen Grundrechtseingriffen birgt, wobei die im Einzelfall vorzunehmende Bewertung der notwendigen Relevanz dieser Gefahr nach den Parametern Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung, Art und Schwere des drohenden Eingriffs, Bedeutung des gefährdeten Rechtsguts vorzunehmen ist" (S. 109). Die eigenständige dogmatische Leistungsfähigkeit dieser Fallgruppe bleibt fraglich; insbesondere bleibt offen, ob sich ihr Gehalt nicht bereits der anerkannten Durchgriffswirkung zuordnen 191
Β. Weitere Entwicklung
67
So nimmt es nicht wunder, daß bald nach der Entscheidung des BVerfG vom 22. Oktober 1986 angesichts „neuerer Entwicklungen" 196 nach „Solange III" gerufen wurde. 197 Insbesondere hatte die zwischenzeitlich ergangene Entscheidung des 2. Senats des BVerfG vom 8. April 1987 198 zwar die Kette „integrationsfreundlicher" Entscheidungen fortgesetzt; dies jedoch, ohne die in weiten Teilen der Literatur erhobene Kritik am fortbestehenden Solange-Vorbehalt in irgend einer Art und Weise aufzunehmen. Vielmehr wurde dieser Vorbehalt kurz bestätigt 199 und die streitgegenständliche Rechtsfindung des EuGH in materiellrechtlicher wie in methodischer Hinsicht einer genauen Nachprüfung unterzogen. 200 Dies hat zu der Situation geführt, daß Teile der Literatur unter Berufung auf den fortbestehenden Vorbehalt neue Entscheidungen des BVerfG anmahnten, andere aber die Notwendigkeit einer erneuten Rechtsprechungstätigkeit bzw. einer Rechtsprechungskorrektur des Gerichts ablehnten. 201 Auf dem Höhepunkt dieser Kontroverse beschäftigte sich auf ihrer 50. Tagung die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer im Oktober 1990 mit dem Beratungsgegenstand „Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft". 202 Hier attestierte H. Steinberger den Gemeinschaften die zuläßt. Eine Änderung der bislang ermittelten Traditionslinie der Auslegung des Art. 24 Abs. 1 GG wird von Rauser jedenfalls nicht bewirkt, wohl auch nicht bezweckt. 196 Zu diesen Entwicklungen zählt M. Herdegen, EuGRZ 1989, 309 ff., die grundrechtliche Problematik der Richtlinienvorschläge der Kommission zur europäischen Asylrechtskoordinierung und zur Tabakwerbung, die staatsorganisationsrechtliche Problematik des Kommunalwahlrechts für EG-Ausländer und des Richtlinienvorschlags zur Rundfunktätigkeit; ebenso Äußerungen des BVerfG in in diesen Zusammenhängen stattgefundenen Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes (BVerfGE 80, 74 mit Anmerkung von G. Memminger, DÖV 1989, 846 ff.; BVerfG, EuR 1989, 270 ff. mit Anmerkung von G. Nicolaysen, EuR 1989, 215 ff.). Diese Entwicklungen hätten den durch den Solange II-Beschluß begründeten Optimismus auf eine harte Probe gestellt und deutlich gemacht, daß der grundsätzliche Konsens über die Öffnung der deutschen Rechtsordnung im Integrationsinteresse unterhalb einer hohen Abstraktionsebene brüchig sei (309). 197 So ausdrücklich R. Scholz, NJW 1990, 941 ff. 198 BVerfGE 75,223. Anmerkungen von M. Hilf EuR 1988, 1 ff. und H H Rupp, JZ 1988, 194 ff.; breiter angelegt auch bei M. Kloepfer, JZ 1988, 1089 ff. 199 BVerfGE 75, 223/235. 200 Dazu U. Maidowski, JuS 1988, 117. Siehe auch BVerfGE 85, 191/204. 201 Siehe die Kontroverse zwischen Κ H Friauf 7 R. Scholz, Europarecht und Grundgesetz sowie R. Scholz, NJW 1990, 941 ff., einerseits; U. Everling, EuR 1990, 195 ff. und C. Tomuschat, EuR 1990, 340 ff., andererseits. Aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive C.-D. Ehi ermann y EuR-Beihefl 1/1991, 27 ff. 202 Berichte von H Steinberger, VVDStRL 1991, S. 9 ff.; E Klein, VVDStRL 1991, S. 56 ff.; D. Thürer, VVDStRL 1991, S. 97 ff. Siehe auch R. Streinz, DVB1. 1990, 949 ff.; /. Pernice, NJW 1990,2409 ff.
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
nehmende Rezeption verfassungsstaatlicher Prinzipien in das Gemeinschaftsrecht 203 und E. Klein führte aus, daß das BVerfG in seinem Solange II-Beschluß die zutreffende prozessuale Folgerung aus der Erkenntnis gezogen habe, daß die Grundrechte des Grundgesetzes als Maßstabsnormen gegenüber dem Gemeinschaftsrecht nicht bzw. nur insoweit zu Verfügung stehen, als der nach Art. 24 Abs. 1 GG grundsätzlich mögliche Verzicht auf die Vorherrschaft des eigenen Verfassungsrechts die Erlaubnisgrenzen dieser Vorschrift überschreite. Den Forderungen nach „Solange III" erteilte er damit eine Absage. 204 Die dargestellte Kontroverse in der Literatur gipfelte nicht in einer weiteren Entscheidung des BVerfG. Vielmehr wurde sie mit der Beratung und dem Abschluß des Maastricht-Vertrages in eine Kontroverse um die Frage, ob die deutsche Teilnahme an der Entwicklung der Europäischen Union aufgrund des Art. 24 Abs. 1 GG vonstatten gehen kann oder aber es einer neuen grundgesetzlichen Integrationsermächtigung bedarf, abgeändert; die bisher zentrale Grundrechtsproblematik ging in dieser weiteren Fragestellung auf. Die letzte dem Art. 24 Abs. 1 GG gewidmete größere Darstellung vor Einfügung des neugefaßten Art. 23 GG in das Grundgesetz gibt H. Mosler. Sein Beitrag für das „Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland" erschien genau 40 Jahre, nachdem Κ. Κ Klein die von ihm angeregte Arbeit „Die Übertragung von Hoheitsrechten" (1952) vorgelegt hatte. Hier findet sich die Auslegungs- und Anwendungsgeschichte des Art. 24 Abs. 1 GG in ihrem Endergebnis festgehalten. H. Mosler beginnt ganz klassisch mit der durch Art. 24 Abs. 1 GG getroffenen Verfassungsentscheidung, nach der Substanzverluste der deutschen Souveränität zugunsten internationaler Einrichtungen ins Auge gefaßt würden und sogar erwünscht seien; hierzu biete der Art. 24 Abs. 1 GG ein vereinfachtes Verfahren an, das von wichtigen verfassungsrechtlichen Hürden dispensiere. 205 Sein Anwendungsprogramm werde durch die Begriffe „Integration", „Supranationalität" und „Durchgriffseffekt" bezeichnet; wesentliches Auslegungsund Abgrenzungskriterium des Art. 24 Abs. 1 GG sei aber allein der Eingriff der Organisation in den deutschen Rechtsraum, d. h. die besondere Beziehung des autonomen Handelns eines auf völkerrechtlichen Vertrag beruhenden Zusammenschlusses zu der zurückgenommenen Zuständigkeit der nationalen Organe der Mitgliedstaaten. 206
203 204 205 206
Κ Steinberger, VVDStRL 1991, S. 11 f. E. Klein, VVDStRL 1991, S. 80 ff. H. Mosler, HdbStR VII, S. 600. H; Mosler, HdbStR VII, S. 609 f.
Β. Weitere Entwicklung
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Gegenstand der Übertragung seien Hoheitsrechte; ihre Gesamtheit mache die Staatsgewalt aus. Damit wäre klargestellt, daß keine Ermächtigung zur Übertragung der Souveränität des Staates an einen von den Bundesrepublik Deutschland unabhängigen Träger erteilt sei: „Die Grenze ist die Frage nach der Souveränität." 207
Der Begriff der Hoheitsrechte erfasse sowohl einzelne, abgegrenzte Befugnisse, als auch solche, die zur Ausübung eines breiten Funktionsbereichs erforderlich seien; unerheblich sei, ob die entsprechende Tätigkeit bisher im staatlichen Rahmen bereits ausgeübt worden sei oder nur potentiell zur Ausübung der Staatsgewalt gehört habe. 208 „Art. 24 Abs. 1 GG bezieht sich auf Hoheitsrechte, die in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt worden sind oder nach dem Grundgesetz potentiell ausübungsfähig sind. Es ist deshalb unerheblich, welchem Träger sie nach der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung zustehen. Auch Hoheitsrechte der Länder und anderer öffentlich-rechtlicher Verbände fallen darunter." 209
Die zwischenstaatlichen Einrichtungen bestimmt H. Mosler als von Staaten durch Vertrag begründete internationale Organisationen; zwischenstaatliche Einrichtungen im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG seien aber nur solche, denen auch Hoheitskompetenzen übertragen sind. 210 Die Übertragung selbst sei ein komplexer Vorgang, der in der Wechselbeziehung von Staats- und Völkerrecht gesehen werden müsse. Im Außenverhältnis geschehe sie nach den allgemeinen Bestimmungen über die auswärtige Gewalt (Art. 59 GG), im Innenverhältnis erfolge die Zustimmung durch ein Bundesgesetz nach Art. 24 Abs. 1 GG; insgesamt führe die Übertragung im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG zur Öffnung der nationalen Rechtsordnung durch Rücknahme des eigenen ausschließlichen Herrschaftsanspruchs und durch Anerkennung eines Rechts aus anderer Quelle. Die vom Verfassunggeber getroffene fundamentale Entscheidung zur Erleichterung internationaler Zusammenschlüsse zwinge weiter zu der Folgerung, daß ein einfaches Bundesgesetz genüge, wenn Hoheitsrechte übertragen werden sollen. Durch einfaches Gesetz könnten also - bis zur Grenze der Aufgabe der „Fülle der Staatsgewalt" und der übertragungsfesten Grundsätze 211 - Änderun-
207
H. Mosler, HdbStR VII, S. 615. H. Mosler, HdbStR VII, S. 617. 209 H. Mosler , HdbStR VII, S. 618. 210 H; Mosler , HdbStR VII, S. 619. 211 Zu diesen Grundsätzen führt H. Mosler, HdbStR VII, S. 634 ff., aus: Art. 24 Abs. 1 GG finde seine Schranken an den wesentlichen Prinzipien des Grundgesetzes, weshalb ein gewisser Grad an Homogenität der Mitgliedstaaten einer zwischenstaatlichen Einrichtung, welche das Verbot der Preisgabe wesentlicher Prinzipien des Grundgesetzes einschließe, als unerläßlich angesehen werde. Die wesentlichen, d. h. unver208
70
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
gen grundgesetzlicher Kompetenzbestimmungen und materiell-rechtlicher Normen bewirkt werden, ohne daß dies aus dem Text des Grundgesetzes ersichtlich sei. Dieses Gesetz sei auch zugleich Prüfungsmaßstab, um die Übertragung von Hoheitsrechten verfassungsrechtlich zu kontrollieren. Die „Übertragung", d. h. die Definition der übertragenen Rechte und des Integrationsprogramms, mtlßten deshalb im Gesetz so genau wie möglich bestimmt werden. 212
C. Die Maastricht-Debatte, der Übergang zu Art. 23 GG und die Kritik der herrschenden Meinung Die Maastricht-Debatte nahm ihren Ausgang bei der Debatte um „Solange III". Vor Erlaß der Maastricht-Entscheidung des BVerfG am 12. Oktober 1993 finden sich schwerpunktmäßig solche Arbeiten, die noch einmal grundsätzlich einzelne Probleme des Verhältnisses der beiden Rechtsordnungen aus verfassungsrechtlicher Perspektive anzugehen versuchen, sowie solche, die sich mit den verfassungsrechtlichen Fragen der Schaffung einer Europäischen Union beschäftigen und dabei auch erste Stellungnahmen zur Einfügung des Art. 23 GG in das Grundgesetz abgeben. Das Angehen von Grundsatzproblemen, etwa mit Blick auf die Fragen nach der Grundrechtsbindung der deutschen Mitglieder des EG-Ministerrates 213 oder nach der Rolle des BVerfG als Hüter der verfassungsrechtlichen Integrationsschranken in Deutschland,214 findet dabei weithin unter Ausblendung des Art. 24 Abs. 1 GG statt; aktiviert werden andere, außerhalb von Art. 24 Abs. 1 GG liegende rechtsdogmatische Gesichtspunkte. Exemplarisch sind Ausführungen von T. Schilling in seinem Beitrag zu Stand und künftiger Entwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzstruktur: Die deutsche Mitgliedschaft in der Gemeinschaft beruhe auf Art. 24 Abs. 1 GG, wonach der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf eine zwischenstaatliche Einrichtung übertragen darf; auf die genaue Bedeutung dieses vielerörterten Begriffes komme es hier nicht O« 215
an. Wird in den vorstehend genannten Arbeiten unter Verzicht auf nähere Ausführungen zu Art. 24 Abs. 1 GG, doch unter Heranziehung anderer rechtsdogmatischer Gesichtspunkte und Konstruktionen argumentiert, so finden sich in
zichtbaren Prinzipien seien die der Verfassungsänderung entzogenen Bestimmungen des Art. 79 Abs. 3 GG. 212 H: Mosler, HdbStR VII, S. 629 ff. 213 M Heintzen, Staat 1992, 367 ff. 214 P. M. Huber, AöR 1991, 210 ff. 215 T. Schilling, AöR 1991, 34.
C. Maastricht-Debatte und Kritik
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der Auseinandersetzung um die verfassungsrechtlichen Fragen der Schaffung einer Europäischen Union zahlreiche Arbeiten, die ihre Argumentation von vornherein auf dogmatikferne Erwägungen stützen. Prominente und repräsentative Beispiele sind W. v. Simson und J. Schwarze, die von folgenden Fragestellungen ausgehen: „Was muß die Gemeinschaft an staatlichen Eigenheiten in ununterschiedener Einheit in sich aufnehmen, um ihren Aufgaben gerecht zu werden; was kann sie darüber hinaus vereinheitlichen, ohne die Substanz ihrer Mitgliedstaaten anzugreifen; was endlich muß sie bei den Staaten in unterschiedener Vielfältigkeit bestehen lassen, wenn sie sich tief genug gründen will, um in den Anfechtungen der Zukunft und in der streitvermeidenden Duldsamkeit bestehen zu können, auf die ein derartiges Gebilde angewiesen ist?" 2 1 6
Unter der Überschrift des Bewegungsspielraums nationaler Verfassungsansprüche gegenüber überstaatlichen, integrationspolitischen Zwangsläufigkeiten formulieren sie dann Aussagen wie die, daß der Mitgliedstaat in den Gemeinschaften nicht bleiben könne, wer er ist. 2 1 7 Es gehe um sachgemäße Abstimmung und Zuordnung von nationalem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht, es müsse - im Sinne praktischer Konkordanz - das angemessene gegenseitige Verhältnis bestimmt werden. Dabei seien die aus der Öffnung der deutschen Staatlichkeit gegenüber der europäischen Integration sich ergebenden Rückschlüsse zu beachten.218 Die integrationspolitischen Zwangsläufigkeiten und die überstaatliche Bedingtheit des Staates, das Gebot praktischer Konkordanz und die Entscheidung für die offene Staatlichkeit, sie sollen die Bearbeitung des nationalen Verfassungsrechts dirigieren. Die angenommene Reichweite der Entscheidung für die internationale Zusammenarbeit, für die offene Staatlichkeit, präjudiziell so die Beantwortung der Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der europäischen Integration, nicht aber bestimmen dogmatische Konstruktionen des nationalen Verfassungsrechts, hier des Vorgangs einer Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 24 Abs. 1 GG, dann auch des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, über Art und Weise wie Umfang der Beteiligung an der europäischen Integration. Als Ausnahme von dieser „Konstruktionsarmut" mag die Bearbeitung des Verhältnisses der Übertragungsermächtigung zu Art. 79 Abs. 3 GG gelten. Doch hängen hier die Ergebnisse weithin davon ab, wie der europäische Integrationsstand sowie dessen Übereinstimmung mit dem Leitbild der offenen
216
W. v. Simson/J. Schwarze, Integration, S. 7. W. v. Simson / J. Schwarze, Integration, S. 9; ähnlich in anderen Zusammenhängen: S. 31, 60 f., 73 f., 77 f. 218 J. Schwarze, JZ 1993, 591 f. 217
72
Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
Staatlichkeit bewertet wird. Auch für diese Bewertung spielt aber eine Konstruktion der Übertragungsermächtigung keine Rolle. Diese Herangehensweise ist auch der überwiegenden Anzahl literarischer Stellungnahmen zur Einfügung des Art. 23 GG eigen. Weisen erste Reaktionen - wohl mit Blick auf die anstehende Entscheidung des BVerfG über Verfassungsbeschwerden gegen die Vertragsgesetze zur Europäischen Union - im Ton auch ungewöhnlich scharfe, polemische Züge auf, 219 sind sie in der Sache und Methode doch traditionell. Beispiel sind die Überlegungen von C. Kirchner und J. Haas, die bei der Formulierung verfassungsrechtlicher Grenzen für die Übertragung von Hoheitsrechten ausführen, daß die Verfassung einer Integrationsgemeinschaft nie das getreue Abbild der Verfassungen der Mitgliedstaaten sein könne, eine Forderung nach struktureller Kongruenz somit der Entscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit zuwiderlaufe, andererseits aber es der Staatsauffassung des Grundgesetzes nicht gleichgültig sein könne, ob sich in ihrem Staatsgebiet eine andere, supranationale Gewalt entwickelt, die sich nicht wenigstens im Kern an die Grundprinzipien hält, die das Grundgesetz selbst entfalte und für Bund und Länder verbindlich mache. 220 Auf dieser Grundlage werden dann einzelne Grenzen erarbeitet, der Entwicklungsstand der Gemeinschaften an ihnen gemessen und es wird resümiert, daß die Gemeinschaften für eine weitere Vergemeinschaftung wichtiger Politikbereiche durch Übertragung von Hoheitsrechten nicht hinreichend ausgestaltet seien. Es seien - insbesondere mit Blick auf das Demokratie- und das Gewaltenteilungsprinzip - deutliche Schranken für eine schnelle Weiterentwicklung sichtbar geworden. 221 Beispielhaft ist es für den Dogmatikverzicht der Debatte auch, wenn derartigen Stellungnahmen entgegengehalten wird, sie würden nicht berücksichtigen, daß die Präambel, die Deutschland als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa sieht und die Übertragungsermächtigungen, die dem Gesetzgeber die Teilnahme an dem hierzu erforderlichen Gesamtakt europäischer Verfassunggebung ermöglichen, auf eine integrationsoffene Auslegung deuten, die über eine internationale Zusammenarbeit hinausgeht.222 Mit dem am 12. Oktober 1993 verkündeten Urteil beendete der 2. Senat des BVerfG dann die Debatte um die Zulässigkeit der Schaffung einer Europäischen Union und auch alle Spekulationen, ob das Gericht Maastricht „kippen"
219
Siehe insbesondere Κ. A. Schachtschneider / A. Emmerich-Fritsche / T. C. W. Beyer, JZ 1993, 751, mit ihrem Aufruf zum Widerstand nach Art. 20 Abs. 4 GG. 220 C. Kirchner / J. Haas, JZ 1993, 763. 221 C. Kirchner / J. Haas, JZ 1993, 771. 222 /. Pernice, DV 1993,472.
C. Maastricht-Debatte und Kritik
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würde. 223 So konnte das Urteil mit dem Ruf begrüßt werden: „Karlsruhe locuta - Maastricht in Kraft". 2 2 4 Eine dogmatisch klare, methodisch nachvollziehbare Argumentation läßt sich aus den Urteilsgründen jedoch nicht herauslesen. So finden sich zur Entstehungsgrundlage und Wirkungsweise der europäischen Einrichtungen nur verstreut in den Entscheidungsgründen Ausführungen und auch diese nur in wechselnden Formulierungen. Diese Ausführungen gehen vom völkerrechtlichen, zwischenstaatlichen Charakter des „Staatenverbundes der Europäischen Union" aus, 225 dem Hoheitsgewalt nur insoweit zukomme, wie sie sich aus mitgliedstaatlichen Legitimationsakten ableiten lasse. Deutlich wird zwischen supranationalem und intergouvernementalem Tätigwerden getrennt. 226 Für die Legitimationsakte mit Blick auf das mit Durchgriffswirkung auftretende Tätigwerden der europäischen Organe wird Bezug auf Art. 23 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1 GG genommen. Sie ermächtigten dazu, Aufgaben und Befugnis-
223 BVerfGE 89, 155. Besprochen findet sich das Urteil bei l Pernice, EuZW 1993, 649; C Ο. Lenz, NJW 1993, 3038 f.; E. Steindorff, EWS 1993, 341 ff.; V. Götz, JZ 1993, 1081 ff.; C. Tomuschat, EuGRZ 1993, 489 ff.; A. Bleckmann / S. U. Pieper, RIW 1993, 969 ff.; U. Häde, BB 1993, 2457 ff.; B.-O. Bryde, Maastricht-Urteil; H H Klein, Verfassungsgerichtssprechung; S. Hölscheidt / T. Schotten, Von Maastricht nach Karlsruhe, S. 92 ff.; H H Rupp, Maastricht und Karlsruhe, S. 101 ff.; M. Zuleeg, JZ 1994, 1 ff.; J. Schwarze, NJ 1994, 1 ff.; A. Weber, JZ 1994, 53 ff.; Κ. M. Meesen, NJW 1994, 549 ff.; C. Tietje, JuS 1994, 197 ff.; M. Schröder, DVB1. 1994, 316 ff.; H. P. Ipsen, EuR 1994, 1 ff.; Κ Α. Schachtschneider, RuP 1994, 1 ff.; J. A. Frowein, ZaöRV 1994, 1 ff.; D. König, ZaöRV 1994, 17 ff.; W. Schroeder, ZfRV 1994, 143 ff.; R. Streinz, EuZW 1994, 329 ff.; M Winkler, NVwZ 1994,450 ff.; U. Penski, ZRP 1994, 192 ff.; L. Incesu, RuP 1994, 70 ff.; S. Hobe / Β. Wiegand, ThürVBl. 1994, 204 ff.; B. Kahl, Staat 1994, 241 ff.; U. Everling, integration 1994, 165 ff.; M Commichau, JA 1994, 600 ff.; R. Wittkowski, BayVBl. 1994, 359 ff.; J. Wieland, EJIL 1994, 259 ff.; M. Herdegen, CMLR 1994, 235 ff.; P. Kirchhof, Maastricht-Urteil, S. 11 ff.; H Steinberger, Maastricht-Urteil, S. 25 ff.; L Winkelmann, Maastricht-Urteil; Κ Hailbronner, GYIL 1994, 93 ff.; S Hobe, GYIL 1994, 113 ff.; H.-D. Horn, DVB1. 1995, 89 ff.; H-J. Cremer, EuR 1995, 21 ff.; ders., Staat 1995, 268 ff.; N. MacCormick, JZ 1995, 797 ff.; M. Fromont, JZ 1995, 800 ff.; Κ Kruis, Urteil, S. 125 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Staatlichkeit, S. 75 ff.; A. Weber, FS Benda 1995, S. 421 ff.; E. Klein, GS Grabitz 1995, S. 271 ff.; H Steinberger, FS Bernhardt 1995, S. 1313 ff.; P. Lerche, FS Heymanns Verlag 1995, S. 409 ff.; J. H H Weiler, FS Everling 1995, S. 1651 ff. und JöR 1996, 91 ff.; M. H Weigandt, NJ 1996, 113 ff.; E. Koch, FS Mestmäcker 1996, S. 397 ff. 224 /. Pernice, EuZW 1993, 649. 225 BVerfGE 89, 155/184 f. 226 BVerfGE 89, 155/190: „Die Kompetenzen und Befugnisse, die der Europäischen Union und den ihr zugehörigen Gemeinschaften eingeräumt sind, bleiben, soweit sie durch Wahrnehmung von Hoheitsrechten ausgeübt werden,..."
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
se aufzugeben, sie zu verlagern, der Europäischen Union bzw. ihren Gemeinschaften die eigenständige Wahrnehmung von Hoheitsbefugnissen, von Hoheitsrechten bis zur Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG einzuräumen. 227 Diese Ermächtigungen dürften die deutsche Rechtsordnung dann filr die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit von Recht der Europäischen Gemeinschaften öffnen, wenn die zur Wahrnehmung übertragenen Rechte und das beabsichtigte Integrationsprogramm hinreichend bestimmbar festgelegt sind. „Steht nicht fest, in welchem Umfang und Ausmaß der deutsche Gesetzgeber der Verlagerung der Ausübung von Hoheitsrechten zugestimmt hat, so wird die Inanspruchnahme nicht benannter Aufgaben und Befugnisse durch die Europäischen Gemeinschaften ermöglicht. Dies käme einer Generalermächtigung gleich und wäre damit eine Entäußerung, gegen die Art. 38 GG schützt." 228
Rechtsfolge der Öffnung der Rechtsordnung sei die Bindung an Entscheidungen der europäischen Einrichtungen. 229 Zur Entstehungsgrundlage und Wirkungsweise der europäischen Einrichtungen heißt es dann mit Blick auf die Europäische Union zusammenfassend: „Die Bundesrepublik Deutschland ist somit auch nach dem Inkrafttreten des UnionsVertrages Mitglied in einem Staaten verbünd, dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableitet und im deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich wirken kann. Deutschland ist einer der ,Herren der Verträge 4, die ihre Gebundenheit an den ,auf unbegrenzte Zeit 4 geschlossenen Unions-Vertrag (Art. Q EUV) mit dem Willen zur langfristigen Mitgliedschaft begründet haben, diese Zugehörigkeit aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder aufheben könnten. Geltung und Anwendung von Europarecht in Deutschland hängen von dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes ab. 442 3 0
Eine Auseinandersetzung mit der Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten findet, wie schon in der früheren Rechtsprechung des BVerfG, nicht statt. Ihren Schwerpunkt setzt die gerichtliche Urteilsbegründung vielmehr auf die Beantwortung der Frage, wie es um die Bindung an das Europarecht steht, wenn die europäischen Organe den Bereich ihrer Hoheitsbefugnisse, das Integrationsprogramm verlassen. Dieser Konstellation widmet es sich einmal im Hinblick auf die Grundrechtsproblematik. Hierzu führt es aus:
227
BVerfGE BVerfGE 229 BVerfGE 230 BVerfGE mit Blick auf die 228
89, 155/172, 182 f. 89, 155/187. 89, 155/182 f. 89, 155/190; für die Möglichkeit einer Lösung aus der Gemeinschaft Währungsunion auch S. 204.
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„Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet durch seine Zuständigkeit (vgl. BVerfGE 37, 271 [280 ff.]; 73, 339 [376 f.]), daß ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt und dieser dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt. Das Bundesverfassungsgericht sichert so diesen Wesensgehalt auch gegenüber der Gemeinschaftsgewalt (vgl. BVerfGE 73, 339 [386]). Auch Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation betreffen die Grundrechtsberechtigten in Deutschland. Sie berühren damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts, die den Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum Gegenstand haben (Abweichung von BVerfGE 58, 1 [27]). Allerdings übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem ,Kooperationsverhältnis 4 zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards (vgl. BVerfGE 73, 339 [387]) beschränken kann." 2 3 1
Wird hier vom Gericht zunächst ein - in seinem Kontinuitätsanspruch durchaus zweifelhafter - Bezug zu den Solange-Formeln hergestellt, so birgt der zweite Teil eine Neuerung: Aus der Tatsache, daß Akte der europäischen Hoheitsgewalt Grundrechtsberechtigte in Deutschland betreffen, folgert das Gericht, daß diese Akte Gewährleistungen des Grundgesetzes berühren und damit die Aufgaben des BVerfG. Aus der Aufgabe folgt dann die Befugnis zur Entscheidung über die Geltung und Anwendbarkeit von abgeleitetem Europarecht in Deutschland. Die Neuerung enthält insofern eine Überraschung, als aus der Tatsache, daß Akte der europäischen Hoheitsgewalt Grundrechtsberechtigte in Deutschland, wie in allen anderen Mitgliedstaaten, betreffen, auch gefolgert werden kann, daß diese Gewalt durch das sie verfassende Vertragsrecht unter eine effektive Grundrechtsbindung zu stellen ist und nicht gefolgert werden muß, daß die deutsche Grundrechtsordnung auch gegenüber der europäischen Hoheitsgewalt gilt. Von ersterem geht zumal Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG aus, wenn er von einer Mitwirkung Deutschlands in der Europäischen Union spricht, die einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Warum das BVerfG die zweite Folgerung zieht und ein „Kooperationsverhältnis" zum EuGH kreiert, legt es nicht offen. Sein Argument, Aufgabe des BVerfG sei der Grundrechtsschutz in Deutschland und dies nicht nur gegenüber
231
BVerfGE 89, 155/174 f.
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
deutschen Staatsorganen, trägt diese Folgerung jedenfalls nicht; es läßt sich schon vor Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§ 90 ff. BVerfGG nicht halten: Andere als deutsche Staatsorgane sind durch Art. 1 Abs. 3 GG nicht an die deutschen Grundrechte gebunden und nur Behauptungen einer Verletzung dieser Grundrechte sind zulässiger Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde. Die ausdrückliche Aufgabe von anderslautenden Ausführungen in der ersten Eurocontrol-Entscheidung vermag nichts daran zu ändern, daß eine rechtsdogmatische Vermittlung von der tatsächlichen Grundrechtsbetroffenheit zur rechtlichen Geltung der deutschen Grundrechtsordnung fehlt. Der Frage, was gilt, wenn die Vertragsorgane das vertragliche Integrationsprogramm verlassen, geht das Gericht auch mit Blick auf die Kompetenzproblematik nach. Im Anschluß an seine Feststellung, daß die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland und die sich daraus ergebenden Rechte und Pflichten für den Gesetzgeber voraussehbar im Vertrag umschrieben und durch ihn im Zustimmungsgesetz hinreichend bestimmbar normiert worden sein müssen, 232 führt es aus: „Das bedeutet zugleich, das spätere wesentliche Änderungen des im Unions-Vertrag angelegten Integrationsprogramms und seiner Handlungsermächtigungen nicht mehr vom Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag gedeckt sind (vgl. schon BVerfGE 58, 1 [37]; BVerfGE 68, 1 [98 f.]; Mosler in: Handbuch des Staatsrechts, Band V I I [1992], § 175 Rdnr. 60). Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den UnionsVertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrundeliegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte in Deutschland nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen (vgl. BVerfGE 58, 1 [30 f.]; 75,223 [235,242])." 2 3 3
Auch diese Ausführungen des Gerichts lösen Verwunderung aus. Denn es werden die deutschen Staatsorgane in den Bereich divergierender verfassungsund völkerrechtlicher Geltungsansprüche entlassen, ohne daß mitgeteilt würde, wie sie in diesem Konflikt rechtmäßig sollen handeln können. Auch bleibt unklar, in welchem Verfahren das BVerfG seine Prüfung für ausübungsfähig hält und ob das „Kooperationsverhältnis" zum EuGH auch für den Bereich der Auslegung von Kompetenznormen gilt.
232 233
BVerfGE 89, 155/187 f. BVerfGE 89, 155/188; mit Blick auf Art. F Abs. 3 EUV auch S. 195.
C. Maastricht-Debatte und Kritik
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Eine Begründung für den Prüfungsvorbehalt mit Blick auf die Kompetenzproblematik gibt das Gericht noch einmal an anderer Stelle in den Entscheidungsgründen. „Indem die Gründungsverträge den Europäischen Gemeinschaften einerseits in umgrenzten Tatbeständen Hoheitsrechte einräumen, andererseits die Vertragsänderung in einem regelmäßigen und auch in einem vereinfachten Verfahren - regeln, hat diese Unterscheidung auch Bedeutung für die zukünftige Handhabung der Einzelermächtigungen. Wenn eine dynamische Erweiterung der bestehenden Verträge sich bisher auf eine großzügige Handhabung des Art. 235 EWGV im Sinne einer ,Vertragsabrundungskompetenz', auf den Gedanken der inhärenten Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaften (»implied powers') und auf eine Vertragsauslegung im Sinne einer größtmöglichen Ausschöpfung der Gemeinschaftsbefugnisse (,effet utile 4 ) gestützt hat (vgl. Zuleeg in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EWG-Vertrag, 4. Aufl. 1991, Art. 2 Rdnr. 3), so wird in Zukunft bei der Auslegung von Befugnisnormen durch Einrichtungen und Organe der Gemeinschaften zu beachten sein, daß der Unions-Vertrag grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung unterscheidet, seine Auslegung deshalb in ihrem Ergebnis nicht einer Vertragserweiterung gleichkommen darf; eine solche Auslegung von Befugnisnormen würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten." 234
Doch auch diese Begründung löst nicht die angesprochenen Unklarheiten. Zum einen ist die Unterscheidung von Vertragsauslegung und Vertragsänderung dem europäischen Recht keineswegs neu, so daß der Grund für die zeitliche Zäsur des BVerfG („bisher"/„in Zukunft") unaufgedeckt bleibt. Zum anderen aber beantwortet auch diese Begründung nicht, in welchem Verfahren dem BVerfG hier Prüfungskompetenz zusteht. Und offen bleibt auch, wo überhaupt die Trennlinie zwischen Vertragsauslegung und Rechtsfortbildung einerseits und Vertragsänderung bzw. Vertragserweiterung andererseits zu ziehen ist. Das BVerfG trifft schließlich in seiner Urteilsbegründung nicht nur verstreut Aussagen zur Entstehungsgrundlage und Wirkungsweise der europäischen Einrichtungen, formuliert nicht nur Prüflings vorbehalte mit Blick auf Grenzüberschreitungen der Vertragsorgane, es stellt auch Gebote für den Fortgang der europäischen Integration auf. So heißt es, daß der EUV „dem mit der zunehmenden Integrationsdichte einhergehenden Gebot, die Handlungsmöglichkeiten europäischer Organe nicht nur auf Ziele hin zu bestimmen, sondern in ihren Mitteln tatbestandlich zu erfassen, ihre Aufgaben und Befugnisse also gegenständlich zu umgrenzen", genüge. 235 Mag dem im Ergebnis zuzustimmen sein, so ist doch zu fragen, ob anderes auf der Grundlage der grundgesetzlichen
234
BVerfGE 89, 155/210. Zum Zuleeg-Zitat des BVerfG siehe M Zuleegs Erklärung in NJW 1993,3058. 235 BVerfGE 89, 155/209.
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Übertragungsermächtigungen überhaupt geleistet werden könnte, m i t anderen Worten, ob die Erfüllung dieses „Gebots" nicht notwendige Folge einer Übertragung von Hoheitsrechten ist. Das Gericht setzt sich damit nicht auseinander. W i e sich nach erfolgter Übertragung von Hoheitsrechten die fortbestehende verfassungsgerichtliche Kontrollkompetenz gegenüber europäischem Recht soll konstruieren lassen, wie in concreto das „Kooperationsverhältnis" des B V e r f G zum E u G H ausgestaltet sein soll, wie das Problem völkerrechtlich gültiger Verpflichtungen gelöst werden soll, wenn deutsche Organe verfassungsrechtlich zur Mitwirkungsverweigerung verpflichtet sind, auch damit setzt sich das Gericht nicht auseinander. 2 3 6 Eine Bearbeitung der grundgesetzlichen Übertragungsermächtigungen aber muß sich diesen Fragen stellen, hat zumal eine konsistente Konstruktion des Tatbestands und der Rechtsfolgen der Übertragung von Hoheitsrechten anzubieten, w i l l sie die Anbindung an das positivierte Verfassungsrecht aufrecht erhalten. Die Maastricht-Entscheidung fand in der Literatur Z u s t i m m u n g , 2 3 7 sie r i e f aus mehreren Gründen aber auch ablehnende Stellungnahmen h e r v o r . 2 3 8 Jedoch
236
Bezeichnend insoweit die Ausführungen des an der Entscheidung beteiligten Richters H. H. Klein, Verfassungsgerichtssprechung, S. 28: „Über die Verfahren, die dafür bereitstehen, haben wir nun allerdings im Urteil keine Betrachtungen angestellt. Auch nicht darüber, wie bei einer hoffentlich nicht Realität werdenden Divergenz zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht zu verfahren wäre." 237 Siehe nur I. Pernice , EuZW 1993, 649 („kleines Handbuch des europäischen Unionsrechts auf exklusivem Niveau", „wegen der rechtlichen Innovationskraft ... ein bedeutendes Urteil", „verfassungskonforme Auslegung der zentralen Bestimmungen der Unions- bzw. ,Gemeinschaftsverfassung 4", „positiver Beitrag zu einer ausgewogenen Entwicklung einer Union"); V. Götz, JZ 1993,1082 („mit sicherem Zugriff den richtigen verfassungsrechtlichen Ansatz gewählt"), 1086 („einschränkungslos integrationsfreundlich"); Κ Α. Schachtschneider, RuP 1994, 1 („Epochenwechsel"), 9 („Wer einen Integrationalismus zum Leitprinzip seiner Rechtserkenntnisse erhoben hat, muß an dem Urteil verzweifeln, aber der ist auch weit entfernt vom Recht/ 4 ). 238 Mit Bezug auf den Begriff des Staaten Verbundes: P.-C. Miiller-Graff, Diskussionsbeitrag, S. 72 (Suggerierung einer staatlichen Abhängigkeit, „die zwar für die Ebene des Vertragsschlusses normativ zutrifft, aber die überragende Bedeutung der davon ins Werk gesetzten Kräfte für die Entwicklung der konkreten Gestalt ... völlig ausblendete44); mit Bezug auf die Vorstellung des Grundrechtsschutzes in einem „Kooperationsverhältnis 44 zum EuGH: C. Tomuschat, EuGRZ 1993, 495 („BVerfG und EuGH - immer noch kein Friedensschluß"); M. Schröder, DVB1. 1994, 323 („nicht mit Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG abgestimmt44); H.-J. Cremer, Staat 1995, 285 („unmöglich ..., im Rahmen der interpretatorischen Ausdehnung der Wirkkraft der Grundrechte die Organe einer zwischenstaatlichen Einrichtung an Individualrechtsgarantien der Verfassung eines einzelnen Mitgliedstaates zu binden44); mit Bezug auf den Prüfungsvorbehalt hinsichtlich der
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konnte sie in Ergebnis wie Argumentation letztlich nicht überraschen. In einer Reihe von Beiträgen hatte P. Kirchhof, der zuständige Berichterstatter, die Grundzüge der späteren Entscheidung bereits offengelegt. 239 Möglicherweise lassen sich in ihnen Antworten auf die Fragen finden, die ein Lesen der Entscheidungsgründe offen läßt. Zunächst findet sich auch hier die Gegenläufigkeit zweier Prinzipien schon vorausgesetzt: die Unverbrüchlichkeit der nationalen Verfassung und die Supranationalität einer von national verfaßten Staaten abgeleiteten Hoheitsgewalt. Während die Supranationalität dazu führe, „daß die Gemeinschaften Hoheitsgewalt gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und ihren Staatsbürgern ausüben dürfen, ohne dabei an das Grundgesetz gebunden und der das Grundgesetz gewährleistenden Verfassungsgerichtsbarkeit unterworfen zu sein", „verbietet die Ableitung supranationaler Hoheitsgewalt aus einem nationalen Übertragungsakt, in einem Mitgliedstaat einen seinem Verfassungsrecht widersprechenden Hoheitsakt zur Wirkung zu bringen." Abgestimmt werden für P. Kirchhof beide Prinzipien dadurch aufeinander, daß die Disposition über die nationale Verfassung begrenzt sei: Die Grenzen des Übertragungsaktes setze das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht, sie seien vom mitgliedstaatlichen Verfassungsgericht einzufordern; „(i)m übrigen ist die nationale und die europäische Gerichtsbarkeit auf Kooperation angelegt", gehe es also um „Verflechtung", „Zusammenwirken", um eine „Kooperationsaufgabe". 2 4 0 Angesprochen ist damit der Bereich des Sekundärrechts. Zur Entwicklung dieser Lösung heißt es dann näher, daß die Bundesrepublik mit der Übertragung von Hoheitsgewalt am Entstehen einer neuen öffentlichen Gewalt ohne Staatlichkeit mitgewirkt habe, die Recht aus einer autonomen, gegenüber den nationalen Rechtsordnungen verselbständigten Rechtsquelle
Kompetenzauslegung: K M. Meesen, NJW 1994, 553 („widerspricht dem Europarecht", „Verträge ... haben die letztinstanzliche Kontrolle von Zuständigkeitsüberschreitungen auf den EuGH übertragen"); mit Blick auf die Methode der Verfassungsinterpretation: H. P. Ipsen, EuR 1994, 20 (Es „wird die Einbindung des deutschen Staates in die Gemeinschaft zusammen mit anderen Staaten anderer Verfassungsordnungen in einer Art ,Gemeinschafts-Blindheit' nicht berücksichtigt."); J. A. Frowein, ZaöRV 1994, 5 (BVerfG „leugnet damit jetzt im Grunde die Möglichkeit, eine supranationale Hoheitsgewalt, die mit Vorrang gegenüber staatlichem Recht tätig wird, überhaupt zu schaffen."). 239 P. Kirchhof Rechtsschutz, S. 109 ff.; ders., EuR-Beiheft 1/1991, 11 ff.; ders HdbStR VII, S. 855 ff.; ders., ZfA 1992, 459 ff.; ders., Einigung, S. 63 ff. 240 P. Kirchhof Rechtsschutz, S. 109 f.; siehe auch S. 115 ff., wo er die Solange IIFormel als „Kooperationsangebot" des BVerfG an den EuGH, nicht als „Rechtsprechungsverzicht" bezeichnet.
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung
hervorrufen könne. Ein innerstaatlicher Anwendungsvorrang dieses Rechts folge aber allein aus dem dahingehenden innerstaatlichen Anwendungsbefehl, also aus dem Zustimmungsgesetz zu den europäischen Verträgen gemäß Art. 24 Abs. 1, 59 Abs. 2 Satz 1 GG; das Recht der neuen öffentlichen Gewalt sei demnach in Deutschland verbindlich, „weil der deutsche Gesetzgeber in Ausübung seiner Gesetzgebungshoheit Verbindlichkeit angeordnet hat." Dies konnte er aber nur unter Beachtung verfassungsrechtlicher Grenzen. 241 An anderer Stelle formuliert P. Kirchhof: „Europarecht wird zwar von europäischen Organen gesetzt, bildet eine eigenständige Rechtsordnung und wird vom Europäischen Gerichtshof einheitlich für seinen gesamten Anwendungsbereich kontrolliert. Dieses Europarecht ist als solches in der Bundesrepublik Deutschland jedoch unverbindlich. Erst wenn ein deutscher Rechtsanwendungsbefehl das Europarecht in Deutschland für anwendbar erklärt, wird es dort verbindlich. Dieser Anwendungsbefehl aber ist Gegenstand der nationalen verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Das Europarecht erreicht nur über die Brücke des Art. 24 Abs. 1 GG Rechtsverbindlichkeit in Deutschland, an dieser Brücke ist als Kontrollstelle das Bundesverfassungsgericht tätig. Es prüft das Europarecht mit Verbindlichkeit für Deutschland am Maßstab des - europarechtsoffenen - deutschen Verfassungsrechts." 242
Hier deuten sich die Aussagen der Maastricht-Entscheidung des BVerfG bereits an. Doch vermögen die Äußerungen P. Kirchhofs die Anfragen an die dogmatische Begründung dieser Entscheidung nicht zu beantworten. Insbesondere bleibt offen, wie das aus einer eigenständigen Rechtsordnung fließende Recht für jeden Einzelfall in einem vor dem BVerfG zulässigen Verfahren geprüft werden können soll, wenn Vertragsgesetz und Übertragungsgesetz bereits in Kraft sind, die europäische Rechtsordnung also ins Werk gesetzt ist. P. Kirchhofs Argumentationen bieten nur eine Scheinlösung. Schon die Trennung, die sie voraussetzen, existiert nicht: Die Mitwirkung Deutschlands bei der Begründung der neuen öffentlichen Gewalt durch Übertragung von Hoheitsrechten geschieht uno actu mit dem innerstaatlichen Anwendungsbefehl für das neue Recht; Übertragungsgesetz und Vertragsgesetz ergehen zusammen. Der deutsche Gesetzgeber kann nicht mehr nachträglich entscheiden, ob Rechtsakte der neuen öffentlichen Gewalt in Deutschland verbindlich sein sollen. In den Worten P. Kirchhofs\ Handelt es sich bereits um Europarecht, existiert die europäische Rechtsordnung bereits, ist die Brücke des Art. 24 Abs. 1 GG schon überschritten und das BVerfG als Kontrollstelle passiert. 243 241 242 243
P. Kirchhof Rechtsschutz, S. 111 ff. P. Kirchhof ZfA 1992,465. So auch M. Zuleeg, NJW 1997, 1201 f.
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P. Kirchhofs Argumentation bedeutete letztlich, daß vorab keine Übertragung von Hoheitsrechten zur Begründung der europäischen öffentlichen Gewalt stattgefunden hat. Gerade um ihren Tatbestand und ihre Rechtsfolgen, nicht um die Inkorporierung „klassischen" Völkerrechts durch jeweils vollständig verfassungsgebundenen innerstaatlichen Anwendungsbefehl geht es aber hier. P. Kirchhof hat die Maastricht-Entscheidung nicht nur literarisch vorbereitet, er ist auch als ihr Exeget in Erscheinung getreten. 244 In den entsprechenden Ausführungen wird noch einmal deutlich, für wie gering er die Besonderheiten der europäischen Rechtsordnung gegenüber dem „klassischen" Völkerrecht erachtet und in der Folge dann auch zu Ergebnissen kommt, die dem Verhältnis Verfassungsrecht - „klassisches" Völkerrecht weithin entsprechen. So zählt er zu den rechtlichen und tatsächlichen Ausgangsbefunden, die das Europaverfassungsrecht bestimmen, daß sich in der Europäischen Union „unabhängige und souveräne Staaten zusammen(schließen), um einige ihrer Befugnisse und insoweit ihre Souveränität gemeinsam auszuüben." Vereinbart sei „die Begründung von Völkerrechtsverbindlichkeiten unter selbständig bleibenden Staaten." Im Begriff des Staatenverbundes unternehme es das Urteil, „das Besondere, auf die gemeinsame Ausübung staatlicher Befugnisse Gerichtete auszudrücken." 245 Von einer eigenständigen europäischen Rechtsordnung ist hier nicht mehr die Rede. P. Kirchhof kann denn auch die Prüfungsvorbehalte des BVerfG damit begründen, daß es bei einem Streit über den Vertragsinhalt zwischen einem Mitgliedstaat und „den im Vertrag zur Hoheitswahrnehmung ermächtigten europäischen Organen" nicht einleuchtend erscheine, „die Streitentscheidung allein einer Seite der Vertragsberechtigten zu überlassen". 246 Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH für den Grundrechtsschutz gegenüber abgeleitetem Recht in Deutschland entspreche „dem gerade die völkerrechtliche Vereinbarung kennzeichnenden Gebot der Zusammenarbeit und Rücksichtnahme." Für die Kompetenzabgrenzung müsse noch einmal anderes gelten, nämlich der „Grundsatz, daß im Rahmen der Kompetenzordnung Verantwortlichkeiten klar und von vornherein offenbar zugewiesen werden, Abwägungs- und Ausgleichsverfahren also eher im Grundrechtsbereich, nicht aber in der Kompetenzordnung ihren Platz haben." 247 „Dementsprechend werden Kompetenzüberschreitungen europäischer Organe in ständiger Rechtsprechung vorbeugend zurückgewiesen. Würden europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag und damit vom Inhalt des deutschen Zustimmungsgesetzes
244 245 246 247
6 Flint
P. Kirchhof P. Kirchhof P. Kirchhof P. Kirchhof
Maastricht-Urteil, Maastricht-Urteil, Maastricht-Urteil, Maastricht-Urteil,
S. S. S. S.
11 ff. 12 f. 14. 16.
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Erster Teil: Entwicklung der Auslegung und Anwendung nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane dürften diese Rechtsakte in Deutschland nicht anwenden. Das Bundesverfassungsgericht prüft somit, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen." 248 Der R ü c k g r i f f auf die Vorarbeiten und die Urteilsexegese P. Kirchhofs
hel-
fen fur die Suche nach Antworten auf die offenen dogmatischen Fragen, die das Maastricht-Urteil aufwirft, nicht weiter; zumindest dann nicht, wenn man Antworten unter Anbindung an Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 G G und die durch sie transportierte Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten zu finden sucht. Gleiches gilt für die Debatte i n der Literatur nach der Entscheidung. Die L i teratur sieht ihren Schwerpunkt weiterhin i n der Bearbeitung der Schrankenproblematik, die nicht mehr auf die Grundrechte beschränkt ist, sondern Z u l a u f bekommen h a t . 2 4 9 Ihr geht es - neben der Grundrechtsproblematik 2 5 0 - schwerpunktmäßig u m vier Problemkreise: Es w i r d die Sicherung des Föderalismus i n Deutschland gegenüber den Einwirkungen des europäischen Rechts diskut i e r t 2 5 1 und die demokratische Legitimation der europäischen Rechtsordnung hinterfragt, 2 5 2 es werden Ansätze zur Etablierung einer strikteren Kompetenzverteilung zwischen U n i o n und Gemeinschaften einerseits,
248
Mitgliedstaaten
P. Kirchhof Maastricht-Urteil, S. 16 f. Exemplarisch der breite Ansatz bei J. Kokott, AöR 1994,207 ff. 250 P. Kirchhof EuGRZ 1994, 16 ff.; E. Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 93 ff.; J.-P. Schneider, AöR 1994, 294 ff.; E. Pfrang, Verhältnis, S. 54 ff. Ohne Stellungnahme zur Grundrechtsproblematik erging der Beschluß des BVerfG zur Frage der Kennzeichnungspflichten auf Packungen von Tabakerzeugnissen, da das Gericht die Ermächtigungsgrundlage für diese Pflichten im deutschen Recht sah: BVerfGE 95, 173; dazu mit unterschiedlichen Bewertungen T. Stein, EuR 1997, 169 ff., Μ Α. Dauses, EuZW 1997, 705. 251 Noch vor BVerfGE 89, 155: M. Hilf VVDStRL 1994, S. 8 f f , 88 ff.; T. Stein, VVDStRL 1994, S. 27 f f , 92 ff.; M. Schweitzer, VVDStRL 1994, S. 48 f f , 97 ff.; I Pernice, DVB1. 1993, 909 ff. Anschließend BVerfGE 92, 203 mit Anmerkungen von M Zuleeg, JZ 1995, 673 ff.; P. Lerche, AfP 1995, 632 ff.; U. Häde, EuZW 1995, 284 f.; M Pechstein, Jura 1995, 581 ff.; /. Winkelmann, DÖV 1996, 1 ff.; Κ Kruis, FS Knöpfle 1996, S. 161 ff. Zu einzelnen Aspekten der Problematik W. Erbguth, FS Heymanns Verlag 1995, S. 549 ff.; C. Schede, Bundesrat und Europäische Union; M Meißner, Bundesländer; M. Mulert, Bundesländer; M. Paul, Mitwirkung; H.-P. Donoth, Bundesländer; R. Lang, Mitwirkungsrechte. 252 A. Randelzhof er, Demokratiedefizit, S. 39 ff.; D. Grimm, Verfassung; P. M. Huber, Demokratie, S. 105 ff.; C. D. Classen, AöR 1994, 238 ff.; S. Oeter, ZaöRV 1995, 659 ff.; W. Kluth, Legitimation; V. Epping, Staat 1997, 349 ff.; M. Kaufmann, Demokratieprinzip. 249
C. Maastricht-Debatte und Kritik
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andererseits erwogen 253 und es wird die Vorstellung vom Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH beleuchtet.254 Diese Debatte geht vom Stand der herrschenden Meinung zur Auslegung der Übertragungsermächtigungen aus, interpretiert die Aussagen des BVerfG und entwickelt so die Vorstellungen zum Verhältnis von deutschem und europäischem Recht, insbesondere die Schrankendogmatik weiter. Ist die Diskussion insoweit auch in Bewegung, finden sich in ihr mit der Figur des europäischen Verfassungsverbunds 255 auch neue Elemente, einen Neuansatz zur Auslegung des Tatbestands der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG enthält sie nicht und braucht ihn auch von ihrem Standpunkt aus nicht zu enthalten. Dem wird im folgenden zweiten Teil dieser Arbeit der Versuch entgegengestellt, eine Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten zu entwickeln, die der Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten verpflichtet ist und dem Bemühen um eine von Schrankenerwägungen unverstellte Auslegung der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG folgt. Kann mit einer solchen Konstruktion die europäische Rechtsordnung erklärt und können mit ihr die einschlägigen Rechtsanwendungsprobleme im Zusammenhang mit dieser Rechtsordnung sachgerecht gelöst werden, dann gibt es keinen zwingenden Grund, der wortlautfernen Dogmatik der herrschenden Meinung und deren Präferenz für Schrankenerwägungen unter Verzicht auf tatbestandliche Konstruktionsbemühungen zu folgen.
253 Zu entsprechenden Forderungen der Bundesländer J. Schwarze, DVB1. 1995, 1265 ff.; zu den Überlegungen und Vorschlägen der Europäischen Strukturkommission siehe W Weidenfeld, Reform. Für einen nicht auf die Kompetenzverteilung abhebenden Ansatz A. Fur rer, Sperrwirkung, der den Spielraum nationaler Rechtsetzung gegenüber einer Ausweitung der gemeinschaftlichen Kompetenzen unter Rückgriff auf rechts- und integrationspolitische Überlegungen durch Beschränkung der Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts zu schützen sucht. Siehe auch E. Pfrang, Verhältnis, S. 251 ff. 254 R. Zuck, NJW 1994, 978 f.; H. Gersdorf, DVB1. 1994, 674 ff.; T. Oppermann, DVB1. 1994, 901 ff.; M. Heintzen, AöR 1994, 564 ff.; U. Everling, GS Grabitz 1995, S. 57 ff.; I. Pernice, GS Grabitz 1995, S. 523 ff.; ders., EuR 1996, 27 ff.; R. Streinz, FS Heymanns Verlag 1995, S. 663 ff.; T. Stein, FS Everling 1995, S. 1439 ff.; A. Weber, FS Everling 1995, S. 1625 ff.; R. Arnold, Kooperationsverhältnis, S. 273 ff.; W. Frenz, Staat 1995, 586 ff.; D. Grimm, RdA 1996, 66 ff.; G. Hirsch, NJW 1996, 2457 ff.; R. Zuck/C. Lenz, NJW 1997, 1193 ff. 255 Entwickelt insbesondere von I. Pernice, NJW 1990, 2412; ders., HdbStR VIII, S. 246; ders., AöR 1995, 115; ders., EuR 1996, 29 ff.; aufgegriffen durch M. Heintzen, EuR 1997, 16; R. Bieber, Europäisierung, S. 71 ff.; D. H. Scheuing, Europäisierung, S. 106.
Zweiter Teil
Die Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten A. Methodologische Vorbemerkungen Bevor der eigene Entwurf einer Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten entwickelt wird, sind dessen methodologische Grundannahmen offenzulegen. Verfassungsinterpretation erfolgt auf methodologisch schwankendem Grund. Der juristische Methodenpluralismus wie auch die Fragestellungen der Sprachphilosophie, der philosophischen Hermeneutik und des Regelskeptizismus halten Irritationen bereit, die durch die Besonderheiten der Verfassungsinterpretation gegenüber der Gesetzesauslegung nur noch verstärkt werden. Diese Irritationen dürfen nicht zur Unmöglichkeit der Auslegung (Interpretation, Konkretisierung) juristischer Texte führen, verlangen aber eine pragmatische Selbstvergewisserung über die und Offenlegung der eigenen methodologischen Grundannahmen. In Anerkennung der Aussage F. Müllers, daß die einzige überkommene Gesamtkonzeption verfassungsrechtlicher Methodik die des auf C. F. von Gerber und P. Laband zurückgehenden „Gesetzespositivismus" sei,1 wird hier zunächst am klassischen, von F. C. von Savigny beschriebenen2 Auslegungskanon festgehalten.3 Jedenfalls insoweit hat auch die Verfassungsinterpretation festen Boden unter den Füßen.4
1
F. Müller, Arbeitsmethoden des Verfassungsrechts, S. 183. F. C. von Savigny, System I, S. 212 ff. Zur Vorleistung Savigny s für die Gerber/ Labandsche Schule siehe W. Wilhelm, Methodenlehre, S. 44 ff. (insbesondere S. 63 ff.), 157 ff. 3 Eine moderne Beschreibung der logischen Struktur der canones der Auslegung bei R. Alexy, Argumentation, S. 288 ff. Die heutige Formulierung des Auslegungskanons weicht von der Savignys ab und geht über dessen Beschreibung hinaus. 4 Siehe nur C Starck, HdbStR VII, S. 200 f., 203; Κ. Stern, Staatsrecht III/2, S. 1655 ff. und S. 1693 ff. (insbesondere S. 1712 ff.). Dezidiert für ein Festhalten am Kanon im Rahmen eines „grundrechtsbezogenen Positivismus" P. Raisch, Auslegungskanones; dieser Standpunkt eines modernen juristischen Positivismus sei einnehmbar, 2
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Zweiter Teil: Die Konstruktion
Zwar wird auch dies für fragwürdig erachtet,5 doch stellt die Abarbeitung des klassischen Auslegungskanons, welche weiteren Interpretationsmittel über diesen hinaus auch im einzelnen verwendet werden mögen - und insofern ist ein Konsens der Methodenansätze nicht abzusehen - , eine juristische Alltagserfahrung dar. Wenn mit diesem Kanon das Instrumentarium der Arbeit mit Rechtstexten auch nicht abschließend beschrieben ist, so ist eine solche Arbeit ganz ohne Anwendung der klassischen Auslegungsmethoden kaum vorstellbar. 6 Die zur Anwendung kommenden Auslegungselemente sind hier also auf Wortlaut, historische Vorläufer, Entstehungsgeschichte, Systematik und Sinn und Zweck der zu interpretierenden Vorschriften begrenzt. Die Arbeit mit diesen Auslegungselementen vermag der Interpretation einen Grad von Rationalität zu geben, die sie nachvollziehbar und kritisierbar macht. Nicht ausgeschlossen ist damit aber, daß die Entwicklung der Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten weitere Gesichtspunkte an die Verfassungstexte heranführt, die sich nicht dem klassischen Auslegungskanon zuordnen lassen. Textinterpretation ist auch schöpferische Arbeit, „Auslegungstechniken reichern Texte ... mit weiteren Gesichtspunkten an". 7 Doch ist dies jeweils eigens ausgewiesen. Im Rahmen der nachfolgend zu entwickelnden Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten wird zunächst zwischen der durch Auslegung zu leistenden Herausarbeitung der Implikationen der Begriffe „Hoheitsrechte" und „übertragen" sowie der Implikationen der Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten einerseits und dem sich anschließenden eigenen, bereits rechtskonstruktiven Zugriff auf die so konkretisierten Begriffe und die so konkretisierte Vorstellung andererseits unterschieden. Und erst auf der Grundlage des in diesem zweiteiligen Interpretationsvorgang erfaßten Regelungsgehalts des Verfassungstextes und der durch ihn transportierten Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten erfolgt die eigentliche, von den dann nicht mehr zur Verfügung stehenden, weil ausgereizten Auslegungselementen und begriffsdogmatischen Argumenten emanzipierte Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von
weil und „solange eine demokratische, gewaltengeteilte Verfassung mit Rechts- und Sozialstaatsgrundsätzen gilt, durch das Wächteramt des BVerfG dafür sorgend, daß der Gesetzgeber nur mit den Grundrechten verträgliche Gesetze schafft" (S. 17). 5 Dezidiert K. Hesse, Grundzüge, Rn. 55 ff. 6 So letztlich auch K. Hesse selbst, denn sein Verfahren der Konkretisierung von Verfassungsnormen bedarf der Erfassung des im Text der zu konkretisierenden Norm enthaltenen Normprogramms und in diesem Zusammenhang gewinnen die herkömmlichen Auslegungsmethoden ihren Stellenwert (Grundzüge, Rn. 68). 7 G. Roellecke, FS Pawlowski 1996, S. 148; ähnlich auch N. Luhmann, Recht, S. 340: Interpretation als Produktion neuer Texte an Hand alter Texte; Herstellen von mehr Text.
Α. Methodologische Vorbemerkungen
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Hoheitsrechten. Während also im Rahmen der Herausarbeitung der Implikationen der klassische Auslegungskanon abgearbeitet wird, wird mit dem eigenen Zugriff auf die Auslegungsergebnisse bereits dogmatisch-konstruktive Interpretationsarbeit geleistet; es werden dogmatische Konstruktionen an die Auslegungsergebnisse herangeführt und die ausgelegten Verfassungsvorschriften begrifflich-systematisch bearbeitet - dieser Zugriff greift über den klassischen Auslegungskanon hinaus. Die eigentliche Konstruktion schließlich des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten stellt sich in den Kategorien der Methodenlehre als Theoriebildung dar. 8 Nicht ausgeschlossen ist durch die hier dargelegten methodologischen Grundannahmen auch die Verarbeitung der Sachstrukturen der zu interpretierenden Vorschriften, weil „sich rechtswissenschaftlicher Positivismus nicht in reiner Begriffsbildung erschöpft, sondern vielmehr die rechtlich erheblichen sozialen Tatsachen zu fixieren und dann unter allgemeine Begriffe einzuordnen sucht".9 Fließen somit die Völker- und europarechtlichen Rechtsregeln und Sachgesetzlichkeiten in die Interpretation und dogmatische Konstruktion der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG ein, so gebührt den staatsrechtlichen Strukturen dieser Vorschriften im Rahmen der Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten doch der Vorrang; der frühe Blick auf das Völker- und Europarecht neigt dazu, die Sicht auf die staatsrechtlichen Strukturen zu verstellen. Zentrale Bedeutung für die hier angewandte Interpretationsmethodik kommt dem Wortlaut, genauer ausgedrückt dem Wortsinn, d. h. dem semantischen Gehalt der untersuchten Vorschriften zu; dieser ist Ausgangspunkt, Leitfaden und Grenze der Interpretation auch von Verfassungsnormen. Die durch die grammatische Auslegung gewonnenen Ergebnisse, d. h. die möglichen Sinnverständnisse des Wortes, geben den nachfolgenden Auslegungs- und Konstruktionsschritten den Rahmen vor, in dem sie sich halten können und den das Auslegungsergebnis und die dogmatische Konstruktion grundsätzlich nicht überschreiten dürfen. 10 Freilich, weithin anerkannt ist diese Grundposition nur für die Funktion des Wortlauts als Ausgangspunkt und Leitfaden der Auslegung (Indizwirkung). Was seine Grenzfimktion im Rahmen der Auslegung anbelangt, werden, unter 8
Zu den Zusammenhängen von Auslegung, dogmatischer Konstruktion und Theoriebildung siehe K. Larenz, Methodenlehre, S. 441 ff., 449 ff. 9 M. Baldus, Einheit, S. 133. 10 Insoweit im wesentlichen übereinstimmend K. Engisch, Einführung, S. 83 f., 249 f.; B. Schlink, Staat 1980, 91; H.-J. Koch/H. Rüßmann, Begründungslehre, S. 182; K. Larenz, Methodenlehre, S. 320 ff., 343 ff.; F. Müller, Methodik, S. 183 ff.; K. Stern, Staatsrecht III/2, S. 1659 ff., 1666 ff.
88
Zweiter Teil: Die Konstruktion
Aufstellung unterschiedlicher Voraussetzungen im einzelnen, Abweichungen des Auslegungsergebnisses vom Wortlaut zugelassen.11 Begründen läßt sich die Zulässigkeit dieser Abweichungen mit der - unausweichlichen - Vagheit der sprachlichen Fixierung von Gedanken und dem ebenso unausweichlich gegebenen Vorverständnis des Interpreten, ihre Notwendigkeit mit der Kontrolle über die Konsequenzen eines Auslegungsergebnisses für die konkrete Rechtsanwendung. Doch können diese Tendenzen zur Aufweichung der Grenzfunktion zum einen an der zu bewahrenden Festigkeit der Funktion des Wortlauts als Ausgangspunkt und Leitfaden der Auslegung nichts ändern. Zum anderen aber ist auch an der Grenzfunktion so lange festzuhalten, solange sich für ein Abweichen des Auslegungsergebnisses vom Wortlaut nichts Zwingendes ergibt. Die unvermeidbaren Schwierigkeiten der Wortlautauslegung 12 allein können nicht als Grund für die Aufkündigung der Wortlautgrenze herhalten. Solange sich trotz der Vagheiten in Rechtstexten Auslegungsergebnisse erzielen und dogmatische Konstruktionen entwickeln lassen, die einschlägige Rechtsanwendungsprobleme zu lösen vermögen und sich aus dem sprachlichen Gehalt der Texte ableiten lassen, gebührt ihnen und dem Verfahren ihrer Herleitung der Vorrang vor einer Rechtsfindung unter Aufkündigung der Wortlautgrenze. 13 Dafür, daß an der Grenzfunktion des Wortlauts zumindest wie beschrieben festzuhalten ist, spricht nicht nur, daß er das einzig Verbindende für den Pluralismus der Interpretationsmethoden ist, sondern insbesondere, daß das Grundgesetz selbst als eine dem Prinzip der rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung verpflichtete Verfassung vorschnelle bzw. nicht zwingend geforderte Abweichungen der Auslegung von seinem Wortlaut abzuwehren intendiert; nur so kann es seine legitime und legitimierte, die Verfassungswirklichkeit determinierende verfassungsgesetzliche Geltungskraft entfalten. 14 Das Festhalten rechtfertigt sich auch daraus, daß alle weiteren Auslegungselemente und Konstruktionsschritte neue, nicht-normative Gesichtspunkte und Texte an die untersuchten Vorschriften heranführen (historische Vorläufer, Entstehungsgeschichte,
11
Siehe nur die Fallgruppenbildung bei H.-J. Koch / H. Rüßmann, Begründungslehre, S. 191 ff. Ausführliche, die Grenzfunktion im Ergebnis ablehnende Stellungnahme bei O. Depenheuer, Wortlaut. 12 Zu den spezifischen Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Auslegungsarbeit am Wortlaut siehe nur die Ausführungen von H.-J. Koch, Methode, S. 29 ff. 13 Zu einer entsprechenden Argumentationslastregel siehe auch R. Alexy, Argumentation, S. 305. 14 Zu diesem Begründungselement insbesondere F. Müller, Methodik, S. 183, 187 f.; auch B. Schlink, Staat 1980, 94, 98; H.-J. Koch/ H. Rüßmann,, Begründungslehre, S. 179; D. Looschelders / W. Roth, Methodik, S. 21 ff., 66 f.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
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systematische Vorstellungen, Ziele - Zwecke - Wertentscheidungen, rechtsdogmatische Begriffe und Systembildungen). Unter Verpflichtung auf die dargestellte Interpretationsmethodik wird die dogmatische Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten im folgenden geleistet; der dritte Teil wird diese Konstruktion mit den einschlägigen Rechtsanwendungsproblemen konfrontieren. Erst dann kann festgestellt werden, ob der jenseits des Wortlauts liegenden herrschenden Dogmatik zu folgen ist oder aber eine andere Konstruktion präsentiert werden kann.
B. Die Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG werden ersichtlich von zwei Begriffen geprägt, die denn auch ihre Auslegung leiten und zentral für die Entwicklung der dogmatischen Konstruktion sein müssen: der Begriff „Hoheitsrechte" und der Begriff „übertragen". Begriffe raffen Informationen. Sie sind genuin historische Artefakte, Hilfestellungen bei der Wiederaufnahme geschichtlicher Erfahrungen im Umgang mit Rechtsfällen. In Begriffen werden Erfahrungen gespeichert und abrufbar gehalten.15 Demgemäß nehmen die Auslegung der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG und die Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten bei der Analyse der Begriffe „Hoheitsrechte" und „übertragen" ihren Ausgang. Im Ergebnis dieser Analyse sollen die Vorstellungen benannt werden können, die bei der Verwendung der Begriffe in Rechtstexten transportiert zu werden vermögen.
I. Hoheitsrechte 1. Der Begriff „Hoheitsrechte" -Grammatische, historische, genetische und systematische Implikationen Der Begriff „Hoheitsrechte" ist ein dem heutigen allgemeinen Sprachgebrauch weithin unbekannter Begriff. Und auch dem aktuellen besonderen juristischen Sprachgebrauch ist er eher fremd. Im Grundgesetz taucht er außerhalb von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG nur in Art. 24 Abs. 1 a, Abs. 2 GG und in Art. 76 Abs. 2 Satz 5, Abs. 3 Satz 5 GG, die auf Art. 23 und Art. 24
15
N. Luhmann, Recht, S. 384 ff.
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Zweiter Teil: Die Konstruktion
GG verweisen, auf; enthalten ist er auch in Art. 33 Abs. 4 GG, wo von der Ausübung „hoheitsrechtlicher" Befugnisse die Rede ist. Die Herkunft und Bedeutung dieses offenbar historischen Begriffs erhellt im ersten Zugriff ein Blick in das Grimmsche Wörterbuch. Hier wird das „Hoheitsrecht" als ein „recht das aus der höchsten landesherrlichen gewalt herflieszt (vgl. hoheit)" bestimmt, 16 wird „Hoheit" als „die mit der hervorragenden Stellung verbundenen rechte, namentlich die regalien, sowie die hohe gerichtsbarkeit" bezeichnet.17 Hoheitsrechte in dieser Lesart sind also einzelne, unmittelbar aus einer Herrschaftsgewalt (Hoheit) abgeleitete Rechte. Im aktuellen Wörterbuch der Dudenredaktion findet sich unter „Hoheitsrecht" der Eintrag: „einem Staat nach der Verfassung zur Ausübung der Staatsgewalt zustehendes Recht (ζ. B. Gerichtsbarkeit, Finanzgewalt, Wehrhoheit)". 18 Mit dieser Begriffsbestimmung stehen Begriffe in engem Zusammenhang, die als heutige Entsprechung von „Hoheitsrecht" nahe liegen: Aufgabe, Befugnis, Ermächtigung, Kompetenz, Zuständigkeit. Für die Beantwortung der Frage, ob es sich bei diesen Begriffen auch historisch um Entsprechungen handelt, gibt der Blick in das Grimmsche Wörterbuch erste Anhaltspunkte. Es verzeichnet unter „Aufgabe" je „nach Verschiedenheit des aufgebens 1) propositio, problema, pensum, leichte oder schwere aufgabe einer frage, eines räthsels, preises. aufgabe des lebens", 19 unter „Befugnis" die „potestas: die freiheit, die durch keinen entgegengesetzten imperativ eingeschränkt ist, ... facultas moralis", 20 unter „Ermächtigung" die „potestas, Vollmacht". 21 Während sich für den Begriff der Kompetenz kein Eintrag findet, heißt es unter dem Begriff „zuständig": „2) zuständig ist das, worüber man von rechts wegen verfügen kann und was somit zu einem gehört, gleichviel ob personen oder Sachen".22 Dem Grimmschen Hoheitsrechtsbegriff am nächsten kommt danach der Begriff der Befugnis. Die potestas kann als die Herrschaftsgewalt, als die Hoheit verstanden werden, aus der die einzelnen Rechte fließen. Diese Rechte wären dann Bestandteile der einen, umfassenden Befugnis (potestas). Dem Hoheitsrechtsbegriff der Dudenredaktion kommen am nächsten die Grimmschen Begriffsbestimmungen von „zuständig" sowie von „Ermächtigung", wenn auf die Vollmacht abgehoben wird. Ein klares Bild fortwirkenden
16 17 18 19 20 21 22
Grimm, Grimm, Duden, Grimm, Grimm, Grimm, Grimm,
DtWb 10/1710. DtWb 10/1709. Wb 4/1624. DtWb 1/649. DtWb 1/1274. DtWb 3/909. DtWb 32/845.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
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Sprachgebrauchs und synonymer Begriffs Verwendungen ist damit jedoch nicht gegeben. Dem ersten, lexikalischen Einträgen nachgehenden Zugriff ist ein Blick darauf hinzuzufügen, ob bereits früher in juristischen Kontexten mit den aktuell untersuchten Begriffen gearbeitet worden ist und wie mit ihnen gearbeitet wurde. Für die Interpretation der aktuell untersuchten Vorschriften läßt sich mit Hilfe „der Besinnung auf die sachlichen und methodischen Grundlagen der Staatsrechtslehre und der Aufarbeitung ihrer ζ. T. verschütteten Tradition, die es in ihrem reichen Problemgehalt für die Fragestellungen der Gegenwart wissenschaftlich nutzbar zu machen gilt", 2 3 ein vertieftes Begriffsverständnis als Interpretationsgrundlage gewinnen. Das historische Argument vermag es, mögliche Sinnvarianten in dem vom Wortlaut abgesteckten Spielraum inhaltlich zu präzisieren. 24 Der Begriff des Hoheitsrechts war ein zentraler staatsrechtlicher Begriff der Reichspublizistik. 25 Dort verwendet zur Beschreibung der einzeln aufzuzählenden und nachzuweisenden Inhalte der Landeshoheit, wurde er mit der Herausbildung der Vorstellung einer einheitlichen und potentiell allumfassenden Staatsgewalt zum Begriff für deren einzelne Bestandteile und Richtungen. 26 Noch weit bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, teilweise sogar auch noch späte* von der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs, wurde der Begriff „Hoheitsrechte" in diesem Zusammenhang verwendet. Mit zunehmender Verfestigung der Vorstellungen von der Staatsgewalt wurden die „Staatshoheitsrechte" jedoch von dem die Staatsgewalt in anderer Hinsicht näher bezeichnenden
23
E.-W. Böckenförde, Gesetz, S. 8. So auch F. Müller, Methodik, S. 207. Doch ist auch Vorsicht bei der Anwendung des historischen Auslegungselements angebracht; zum einen hinsichtlich der Aufarbeitung der Traditionen selbst, denn die vergangene Rechtsdogmatik läßt sich nur unter Schwierigkeiten rekonstruieren und der Rekonstruktion ist Mißtrauen dahingehend entgegenzubringen, ob sie die Dogmatik des früheren Zeitabschnitts wirklich trifft (dazu sehr klar W. Pauly, Methodenwandel, S. 4 ff.); zum anderen auch mit Blick auf die Bedeutung des historischen Auslegungsergebnisses im Rahmen des Auslegungsvorganges, denn das Heranziehen früherer Regelungen und ihres Verständnisses ist „wegen der engen Verbindung des Verfassungsrechts mit geschichtlich-politischer Entwicklung und mit grundlegenden politischen Umbrüchen ... von einiger Delikatesse" (F. Müller, Methodik, S. 83 f.). 25 E.-W. Böckenförde, Gesetz, S. 53 f. 26 Zur Begriffsentstehung und den Wandlungen in der Begriffsverwendung, auch zur Verbindung mit dem Begriff der Regalien O. Gierke , Sachenrecht, S. 396 ff.; G. Jellinek y Staatslehre, S. 596 ff.; O. Mayer, Verwaltungsrecht I, S. 25 ff.; E.-W. Böckenförde, Gesetz, S. 54; H. Krüger, Staatslehre, S. 823 ff.; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 405 ff.; A. Bleckmann, Völkerrechtslehre, S. 99 ff. 24
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Zweiter Teil: Die Konstruktion
Begriff der Staatsfunktionen verdrängt. Wegen der Eigenschaft der Staatsgewalt, eine potentiell allumfassende zu sein, kam es für ihre nähere Bezeichnung auf die materielle Beschreibung ihrer Substanz (Hoheitsrechte) nicht mehr entscheidend an, wurde die formelle Beschreibung durch die Einrichtungen zur Ausübung und Benutzung der Staatsgewalt (Funktionen, d. h. Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung und ihre Organe) als näherliegend und ausreichend angesehen.27 Klassische Beispiele für die sich im Übergang befindende Verwendung des Hoheitsrechtsbegriffs - von der konstitutiven inhaltlichen Erfassung der einzelnen Titel der Landeshoheit zur Beschreibung der einheitlichen und umfassenden Staatsgewalt - finden sich etwa bei J. L. Klüber, der einerseits noch 1840 eine „zweckmäßige" Übersicht der Staatshoheitsrechte, wenn auch nicht mehr als Einzelbefugnisse, sondern als Ausprägungen und Anwendungsfälle der Staatsgewalt, bietet, 28 andererseits bereits 1803 die Staatshoheitsrechte allgemein und umfassend als „die einzelnen Rechte des Staates, die aus seinem Zwecke fließen", 29 und Staatsgewalt als „das Recht, die Mittel zum Zwecke des Staates zu wählen" 30 definiert. In diese letztere Richtung weist auch Κ F. Eichhorn mit seinem 1821/22 formulierten Satz, daß unter dem Namen „Hoheitsrechte" überhaupt alle Rechte begriffen werden, welche dem Staat als solchem zustehen, welche aus dem Begriff der Staatsgewalt herfließen. 31 Gemeinsam ist den Verwendungen des Hoheitsrechtsbegriffs trotz des aufgezeigten Übergangs der materielle Ansatz; mit ihnen wird Bezug auf Hoheitsinhalte, Bestandteile bzw. Substanz der Staatsgewalt, Rechte des Staates genommen. So erscheinen im Rotteck-Welckerschen Staats-Lexikon von 1847 die Hoheitsrechte - behandelt unter dem Stichwort „Herrenlose Sachen" - als „die nach dem öffentlichen Rechte im Namen des Staats für den gemeinschaftlichen Staatszweck erworbenen und auszuübenden Rechte der Staatsgesell-
27
Siehe E.-W\ Böckenförde, Gesetz, S. 62, 84 f. und auch passim bei Vorstellung der einzelnen Vertreter der Lehre. 28 J. L. Klüber, Öffentliches Recht, S. 5, 110 ff. In seine verschiedene Einteilungen enthaltende Übersicht begreift Klüber, ganz in Übereinstimmung mit den vielfältigen Einteilungsversuchen der Reichspublizisten, die wesentlichen und zufälligen, äußeren und inneren (diese als allgemeine oder besondere, verleihbare oder unverleihbare) sowie die eingeschränkten und uneingeschränkten Staatshoheitsrechte ein. Dabei bestimmt er die wesentlichen Staatshoheitsrechte näher als die schon im Begriff des Staates liegenden, die durch die vorgesetzte Erreichung des Staatszwecks unmittelbar bedingt sind; diese seien die eigentlichen Hoheitsrechte (S. 111). „Alle wahren Hoheitrechte fließen aus der Staatsgewalt" (S. 549). 29 J. L. Klüber, Einleitung, S. 123. 30 J. L. Klüber, Einleitung, S. 1. 31 Κ F. Eichhorn, Staatsrecht, S. 362 f.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
93
schaft und ihrer Regierung." Sie seien „sämmtlich wesentlich für den Staatszweck, denn nur als solche sind sie staatsrechtlich begründbar und der souveränen Regierung anvertraut." 32 Auch bei H. Zöpfl sind die Hoheitsrechte Äußerungen und Inbegriff der Staatsgewalt, sind sie die einzelnen, schon im Begriff der Staatsgewalt liegenden Befugnisse und wird die Staatsgewalt durch den Zweck des Staates begrenzt. 33 Bei Η. A. Zachariä lassen sich die Hoheitsrechte als „Rechte der Staatsgewalt" finden und wird die Staatsgewalt als Urquell aller nur dem Staat als solchem zustehenden Befugnisse bestimmt. 34 H. Schulze, der deutlich den Abschluß des Übergangs in der Begriffsgeschichte und auch den zeitlichen zum Kaiserreich markiert, hält für die einzig wissenschaftliche, wahrhaft fruchtbringende Einteilung der Wirksamkeit der Staatsgewalt nur die nach dem inneren Gehalt ihrer Tätigkeit. Danach unterscheidet er die Funktionen der Staatsgewalt Gesetzgebung, Regierung, Gericht. 35 Mit dieser materiellen Aufladung der Staatsfunktionen wird eine Definition der Hoheitsrechte überflüssig und auch nicht mehr gegeben; die souveräne Staatsgewalt zeichne sich durch die Fülle staatlicher Hoheit und Macht, die Vollständigkeit der Regierungsrechte aus.36 Die formelle Unumschränktheit der Staatsgewalt werde aber materiell durch die sittliche und natürliche Ordnung der Dinge, auch positiv-rechtlich durch Staatsverträge und Staatsgrundgesetze beschränkt. 37 Damit findet sich das Phänomen der Verfassung an die Vorstellung von Hoheitsrechten herangeführt; der Übergang von der Reichspublizistik zur Staatsrechtslehre des Kaiserreichs ist vollzogen. Hauptverwendung des Hoheitsrechtsbegriffs war die der Beschreibung von Inhalt und Umfang, von Richtungen zunächst der Landeshoheit, später der potentiell allumfassenden Staatsgewalt. Die Vorstellung von der potentiell allumfassenden Staatsgewalt macht aber die Bezeichnung von Hoheitsrechten überflüssig; folgerichtig wanderte die Verwendung des Begriffs „Hoheitsrechte" spätestens mit Beginn des Zweiten Reiches denn auch nach und nach von der Staatsrechts- zur allgemeinen Staatslehre ab. Die gedankliche Trennung von einerseits Substanz der Staatsgewalt (Hoheitsrechte) und deren Ausübung und Benutzung durch Staatsfunktionen/Staatsorgane war vollzogen und fand in den Begriffsverwendungen ihren Niederschlag. Doch auch die Staatsrechtslehre des Kaiserreichs brauchte zur Lösung der ihr aufgegebenen Probleme aus der Anwendung der Reichsverfassung, insbe-
32 33 34 35 36 37
C. Welcher, Staats-Lexikon VI, S. 683, 685. H. Zöpfl, Staatsrecht I, S. 93, 760 ff. Η. A. Zachariä, Staatsrecht I, S. 69 f. H. Schulze, Einleitung, S. 174 f. Κ Schulze, Einleitung, S. 168. H. Schulze, Einleitung, S. 163 ff.
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Zweiter Teil: Die Konstruktion
sondere mit Blick auf die Bundesstaatsproblematik, einen Begriffsapparat, mit dem sich staatliches Tätigwerden materiell erfassen ließ. Denn nur so konnte das staatliche Tätigwerden von Reich und Einzelstaaten zueinander in Beziehung gesetzt werden. Der Hoheitsrechtsbegriff war dazu ungeeignet, würde er doch für Reich wie Einzelstaaten die Fülle der Staatsgewalt reklamieren und so zur Lösung der Abgrenzungsprobleme nichts beitragen. Die Reichsstaatsrechtslehre arbeitete deshalb zunehmend mit dem Begriff „Kompetenz". Daneben tauchte jedoch auch immer wieder der Begriff des Hoheitsrechts auf. Dies läßt fragen, wie die Begriffe des Hoheitsrechts und der Kompetenz in der Bundesstaatsdiskussion nach 1871 zueinander standen, denn, wie oben angeführt, liegen Kompetenzen als heutige Entsprechung des Begriffs „Hoheitsrechte" nahe und diesen Begriff gilt es auch unter Ausnutzung des historischen Auslegungselements näher zu bestimmen. Die Durchsicht der einschlägigen Literatur zeigt, daß der Begriff „Hoheitsrechte" hier überwiegend Verwendung fand zur Erklärung des Verhältnisses der Reichsstaats- zur Einzelstaatsgewalt und damit zur Definition des Bundesstaats selbst. Es ging in diesem Kontext also nicht um die konkrete verfassungsrechtliche Aufteilung auszuübender Staatsgewalt auf Reich oder Einzelstaaten, sondern um die Frage der staatstheoretischen Definition des Bundesstaates und seiner Glieder Reich und Einzelstaaten. Diese Definition des Bundesstaates findet auf einer anderen Ebene als dessen verfassungsrechtliche Konkretion statt und entsprechend verhält sich denn auch die überwiegende Verwendung der Begriffe Hoheitsrechte einerseits und Kompetenzen andererseits zueinander. Mit dem Kompetenzbegriff wurde die verfassungsrechtlich Reich- oder Einzelstaaten zur Ausübung zugewiesene Staatsgewalt bezeichnet. Kompetenzen erscheinen so als Aktualisierung, als Konkretisierung von staatstheoretisch gedachter Staatsgewalt auf verfassungsrechtlicher Ebene. Doch schwanken die Verwendungen der Begriffe auch; ein einheitliches Bild läßt sich der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs nicht immer entnehmen. Im Sinne der Trennung von Hoheitsrechten und Kompetenzen lassen sich die Arbeiten von A. Hänel, H. Rosin, G. Jellinek, P. Zorn, E. Kaufmann und P. Laband lesen. Für A. Hänel hängt der Bundesstaatscharakter nicht vom Umfang der zwischen Bundesstaat und Einzelstaaten scharf abzugrenzenden Kompetenzen ab, sondern davon, daß „der Bundesstaat ein Herrschaftsverhältnis von unmittelbarer Wirksamkeit für die Unterthanen entwickelte und mit selbständigen Macht- und Rechtsmitteln ausrüstete", 38 „indem der Bundesstaat aus dem Gesammtzweck, welchen der Einheitsstaat an seinen Bürgern zu erfüllen hat, bestimmte Aufgaben ausscheidet und sich selbst zum Zwecke setzt und
38
A. Hänel, Studien I, S. 40.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
95
indem er die zur Verwirklichung dieser Aufgaben erforderlichen Macht- und Rechtsmittel aus der Gesammtheit der Staatsgewalt, die dem Einheitsstaat über seine Bürger zusteht, als staatliche Hoheitsrechte für sich zu Recht gewinnt und thatsächlich ausübt." 39 In diesen Ausführungen erscheinen Kompetenzen als zu Recht gewonnene und tatsächlich ausgeübte Hoheitsrechte aus der Gesamtheit der Staatsgewalt, bezeichnen Hoheitsrechte potentielle Bestandteile der umfassenden Staatsgewalt, Kompetenzen aber die aktuellen Richtungen staatlicher Tätigkeit, die jeweils Reich oder Einzelstaaten zugewiesen sind. Dieses Begriffsverständnis scheint auch in A. Hänels „Staatsrecht" auf, wenn es dort heißt, zur Auflösung der Bundesstaatsproblematik bedürfe es eines festen, mit allseitiger Geltungskraft ausgerüsteten Plans, der „an erster Stelle die Arbeitsteilung zu bewirken (habe) dadurch, daß er den Wirkungskreis der beiden zur Mitarbeit am Staatszweck berufenen obersten Organisationen gegeneinander abgrenzt." Dieser Grundplan finde seine rechtliche Darstellung in der Kompetenz des Reiches, die „objektivrechtlich der Inbegriff der Rechtssätze, welche die Verteilung und das Zusammenwirken der auf Erreichung der Staatsaufgaben gerichteten Thätigkeiten des Reiches einerseits und der Einzelstaaten andererseits bestimmen", ist und die „subjektivrechtlich der Inbegriff der Rechte und Pflichten des Reiches und der Einzelstaaten, welche durch das zwischen ihnen behufs Erfüllung der Staatsaufgaben gestiftete Gemeinschaftsverhältnis bedingt sind", ist. 40 In seinen weiteren Ausführungen trennt A. Hänel regelmäßig zwischen den rechtlichen Wirkungskreisen, d. h. den Kompetenzen einerseits und der Fülle und Allgemeinheit der Staatsgewalt und des Staatszweckes andererseits. 41 Ganz ähnlich unterscheidet H. Rosin zwischen Kompetenzen und Hoheitsrechten. Während er die beiderseitigen Wirkungskreise des Reichs und der Einzelstaaten in den durch Verfassung und Reichsgesetze bestimmten beiderseitigen Kompetenzen abgegrenzt sieht, sind ihm die Hoheits- bzw. Herrschaftsrechte die dem Reich und den Einzelstaaten zur Erfüllung ihrer Aufgaben in dem ihnen anheimfallenden Wirkungskreise zustehenden Rechte. In der Ausübung der verschiedenen, zu eigenem Recht zustehenden Hoheitsrechte stelle sich die Staatsgewalt, deren einzelne Äußerungen nur die Hoheitsrechte
39
A. Hänel, Studien I, S. 46 f. A. Hänel, Staatsrecht, S. 209 f. 41 A. Hänel, Staatsrecht, S. 217 ff., 228, 797 f.; für den Bereich der auswärtigen Gewalt: S. 533 ff., 537. Doch finden sich ebenso Passagen, in denen diese Trennung nicht vorgenommen wird oder sich jedenfalls nicht klar ergibt (S. 541 ff.). 40
96
Zweiter Teil: Die Konstruktion
sind, von Reich und Einzelstaaten dar. 42 Auch für G. Jellinek ist der Staat das Subjekt von Herrschaftsrechten. 43 Als Konsequenz seiner Souveränität „ergeben sich sämmtliche Hoheitsrechte, d. h. die oberste normirende Thätigkeit des Staates nach allen Richtungen des staatlichen Lebens"; aus ihr ergibt sich auch, „dass der souveräne Staat innerhalb der ihm durch seine Natur gezogenen Grenzen seine Competenzen feststellen kann." 44 Damit läßt sich G. Jellinek so verstehen, daß Hoheitsrechte alle erdenklichen Bestandteile und Richtungen der Staatsgewalt bezeichnen, Kompetenzen aber aktualisierte, festgestellte, verteilte und ausgeübte Hoheitsrechte sind. 45 Dies klingt auch in seiner „Staatslehre" an, wenn er ausführt, daß die potentielle Macht des Staates größer sei als seine aktuelle, da die Staatsgewalt rechtlich eingeschränkte Gewalt sei und diese Einschränkungen unter anderem auf Rechtssätzen beruhten, die die Zuständigkeiten staatlicher Organe bezeichneten. 46 Wie für G. Jellinek liegt für P. Zorn das Wesen des Staates in der Ausübung von Herrschaftsrechten; die Souveränität als oberstes begriffliches Merkmal des Staates bezeichne die unumschränkte Einheit der gesamten Herrschaftsrechte. 47 Die Innehabung dieser Hoheitsrechte, der Sitz der Souveränität entscheide über den staatsrechtlichen Charakter eines Gemeinwesens. Auf die Art der Kompetenzverteilung - zwischen Gliedern des Gemeinwesens wie zwischen ihren Organen - kann es nach P. Zorn nicht ankommen,48 die Feststellung der Kompetenzsphären vermag an der Feststellung des Sitzes der Souveränität und damit der Herrschaftsrechte nicht zu rütteln. 49 Deutlich wird die Scheidung von Hoheitsrechten und Kompetenzen ebenso bei E. Kaufmann. Er konstruiert den Bundesstaat so, daß dieser nur beschränkte und aufgezählte Kompetenzen kennt, daß die staatlichen Kompetenzen, die materiellen Hoheitsrechte, zwischen zwei Arten staatlicher Wesen, der Bundesgewalt und der Einzelstaatsgewalt, verteilt sind; die Verfassung des Bundesstaats müsse jeweils einen bestimmten Komplex von „materiellen Hoheitsrechten" als zur Bundessphäre gehörig bezeichnen.50 Zwar sei der Staat dasjenige souveräne
42
H. Rosin, Hirths Annalen 1883, 274 ff. und 281 f.; zu den Hoheitsrechten zählt Rosin a.a.O. als unmittelbare Funktionen des Staates das Gesetzgebungsrecht und die Verwaltungsrechte. 43 G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 16, 31 f. 44 G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 35. 45 Siehe auch G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 290 f. 46 G. Jellinek, Staatslehre, S. 386 f. 47 P. Zorn, Staatsrecht I, S. 62 f. 48 P. Zorn, Staatsrecht I, S. 75. 49 P. Zorn, Staatsrecht I, S. 112. 50 E. Kaufmann, Auswärtige Gewalt, S. 71, 93.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
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Gemeinwesen, das jedwede Tätigkeit vollführen könne und dürfe, die es im Interesse seines Bestandes und seiner Kultur für notwendig erachtet, doch „aus der für ein souveränes Gemeinwesen prinzipiell bestehenden Zulässigkeit alles zu tun, was das Staatsinteresse erheischt, folgt noch nicht, daß ein konkreter Staat auf Grund seiner momentanen Verfassung alles tun kann und darf." Vielmehr bedürfe im Rechts- und Verfassungsstaat jede Staatshandlung einer gesetzlichen, und diese wieder einer Verfassungsgrundlage, in der bestimmte Organe des Staates gerade zu dieser Handlung oder dieser Art von Handlungen für zuständig erklärt werden. 51 Die Trennung von staatlichen Hoheitsrechten und verfassungsrechtlichen Kompetenzen scheint auch auf, wenn E. Kaufmann ausführt, daß die Reichsverfassung nur Organe mit „aufgezählten" Befugnissen kenne, eine Generalklausel dagegen nicht zu finden sei; neu aufkommende Staatstätigkeiten, die in das bisherige Verteilungsschema der materiellen Hoheitsrechte nicht hineinpaßten, bedürften deshalb einer neuen Verfassungsgrundlage, die nur in der Form des verfassungsändernden Gesetzes gewonnen werden könne. 52 Nicht mit gleicher Deutlichkeit, aber in der Sache gleich bezeichnet P. Laband die dem Reich überwiesenen Machtmittel und die ihm obliegenden Aufgaben als Kompetenz, die Hoheitsrechte aber als dem Staat selbständig zustehende eigene Herrschaftsrechte behufs Durchführung seiner Aufgaben und Pflichten. 53 Die hierin sich ausdrückende Scheidung von Hoheitsrechten und Kompetenzen wird auch deutlich, wenn P. Laband für die Beschreibung des Grundverhältnisses des Bundesstaats von Ober- und Unterstaatsgewalt und deren Hoheitsrechten spricht, andererseits aber formuliert, daß die „Regulierung der Kompetenz, die Verteilung der Funktionen, durch die positiven Bestimmungen der Verfassung und der Reichsgesetze" dieses Grundverhältnis unberührt lasse.54 Die Durchsicht der einschlägigen Literatur der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs hat gezeigt, daß - soweit die Literatur überhaupt eine nähere Behandlung des Themas aufweist 55 - der Gebrauch des Begriffes „Hoheitsrechte" im Sinne 51
E. Kaufmann, Auswärtige Gewalt, S. 130. E. Kaufmann, Auswärtige Gewalt, S. 149 ff. 53 Ρ. Laband, Staatsrecht I, S. 56 f.; entsprechend für die Gliedstaaten: S. 82. 54 P. Laband, Staatsrecht I, S. 59 f., auch S. 63. Doch ist auch bei Laband die Trennung der Begriffe Hoheitsrechte und Kompetenzen nicht immer klar, treten auch bei ihm Überschneidungen in der Begriffs Verwendung auf (S. 79, 91 ff., 127 f.). 55 Siehe für ein vollständiges Bild auch die Ablehnung des Hoheitsrechtsbegriffs etwa bei C. F. von Gerber, Grundzüge, S. 26 ff. Die nachfolgende Weimarer Staats- und Staatsrechtslehre läßt sich in dieser Hinsicht nicht mit Gewinn ausbeuten; der Begriff der Hoheitsrechte taucht zwar auch hier gelegentlich auf (etwa bei G. Anschütz, HdbDStR I, S. 297 f.; siehe auch Art. 90 WRV und die entsprechenden Erläuterungen von G. Anschütz, WRV, Art. 90), eine Trennung von potentiellen Hoheitsrechten und 52
7 Flint
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Zweiter Teil: Die Konstruktion
von Bestandteilen der potentiell allumfassenden Staatsgewalt überwiegt, während mit Kompetenzen überwiegend konkrete, verfassungsrechtlich bestimmten Gliedern oder Organen zugewiesene Teilbereiche der Staatstätigkeit bezeichnet werden. Für eine Analyse des Begriffs „Hoheitsrechte" läßt sich aus diesem und den zuvor entfalteten historischen Befunden entnehmen, daß der Begriff in der Rechtsanwendung von dem der Kompetenz verdrängt, aber nicht ersetzt worden ist. Ursachen dieser Entwicklung waren der Übergang von der Landeshoheit zur Vorstellung von der potentiell allumfassenden Staatsgewalt und der vom absoluten zum konstitutionellen Staat, insbesondere Bundesstaat. Der Begriff des Hoheitsrechts blieb Bestandteil des Begriffsrepertoires, wurde aber anders als der Begriff der Kompetenz regelmäßig in Zusammenhang mit staatstheoretischen Fragen angewandt. Von einer Entsprechung der Begriffe „Hoheitsrecht" und „Kompetenz" kann somit für die Begriffsgeschichte nicht gesprochen werden. Läßt sich historisch eine Entsprechung von Hoheitsrechten und Kompetenzen nicht belegen, so kann doch aus dem aktuellen besonderen juristischen Sprachgebrauch folgen, daß beide Begriffe synonym gesetzt sein sollen. Doch ein systematischer Blick durch das Grundgesetz zeigt, daß es den Kompetenzbegriff nicht kennt. Vielmehr fördert dieser Blick zutage, daß das Grundgesetz in Art. 33 Abs. 4 GG von der als ständige Aufgabe zu übertragenden „Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse" spricht, in Art. 30 GG die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zur Sache der Länder macht, in Art. 88 Satz 2 GG zur Übertragung der Aufgaben und Befugnisse der Bundesbank im Rahmen der Europäischen Union ermächtigt und in Art. 24 Abs. 1 a GG die Länder zur Übertragung von Hoheitsrechten ermächtigt, soweit sie für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind. A l l dies steht im Zusammenhang mit den durch die Begriffe Hoheitsrecht, Aufgabe, Befugnis, Ermächtigung, Kompetenz und Zuständigkeit beschriebenen rechtlichen Strukturen, erlaubt aber nicht, von einer klaren, feststehenden Begriffsverwendung zu sprechen. Dem grundgesetzlichen Sprachgebrauch läßt sich für die Begriffsanalyse von „Hoheitsrechten" nichts Durchschlagendes entnehmen. Gleiches gilt für die Entstehungsgeschichte der Art. 24 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. Art. 24 Abs. 1 GG enthielt bereits in seiner ersten, von
aktuellen Kompetenzen klingt auch in ihr gelegentlich an (etwa bei H. Kelsen, Staatslehre, S. 40 f , 107; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 131, 386 f.), doch eine definitorische Funktion läßt sich Begriff und Trennung im Rahmen dieser Lehre nicht mehr zuordnen - sie ist mit Blick auf die dichte verfassungsrechtliche Regelung der bundesstaatlichen Kompetenzaufteilung und den unitarischen Charakter des neuen Bundesstaats auch nicht mehr erforderlich.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
99
C. Schmid (SPD) auf dem Herrenchiemseekonvent 1948 vorgeschlagenen Fassung den Wortlaut von der Übertragung von Hoheitsrechten, 56 der weder dort noch im Parlamentarischen Rat Gegenstand der Diskussion war. In den Redebeiträgen wird gelegentlich von Souveränitätsrechten 57 oder Hoheitsbefugnissen 58 gesprochen, doch auf der Schlußabstimmung über das Grundgesetz wird Art. 24 Abs. 1 GG in der Fassung angenommen, die von C. Schmid vorgeschlagen worden war. 59 Die Enquéte-Kommissionen Verfassungsreform des 6. und 7. Deutschen Bundestages hielten an diesem Wortlaut fest 60 und auch die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, auf deren Arbeiten die Einfügung des neuen Art. 23 GG zurückgeht, übernahm in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG den Begriff „Hoheitsrechte". In ihrem Schlußbericht ist zwar von Kompetenzausstattungen, Kompetenzübertragungen und Kompetenzeinbußen die Rede,61 aber auch von Hoheitsrechtsübertragungen; ausweislich ihres Berichts hat sich die Kommission für die Gründe der Übernahme der Begrifflichkeiten des Art. 24 Abs. 1 GG nicht Rechenschaft abgelegt. Im Ergebnis der Analyse des Begriffs „Hoheitsrechte" kann nach allem formuliert werden, daß Hoheitsrechte Bestandteile der Staatsgewalt, Rechte zur Ausübung der Staatsgewalt sind. Sie stehen in engem Zusammenhang mit dem Begriff der Kompetenzen, sind mit diesem aber nach ihrer historischen Entwicklung nicht identisch. Nähere Zuschreibungen lassen sich durch eine Begriffsanalyse nicht leisten. Sie bedürfen eines anderen, eigenen Zugriffs, der sich weiterer systematischer und auch teleologischer Erwägungen sowie dogmatischer Konstruktionen bedient, um zu einer Vorstellung von Hoheitsrechten als Voraussetzung für die dogmatische Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten zu gelangen.
56 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, Unterausschuß I: Grundsatzfragen, 2. Sitzung vom 18. August 1948, StenProt. S. 57 ff. Zu C. Schmid und den historischen, politischen und persönlichen Hintergründen seines Vorschlags P. Weber, Carlo Schmid, S. 319 ff., 330 ff. 57 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 9. Plenarsitzung vom 21. August 1948 (5. Sitzungstag); in: Rat II, S. 353. 58 Parlamentarischer Rat, Plenum, 2. Sitzung vom 8. September 1948; in: Rat IX, S. 40. 59 Parlamentarischer Rat, Plenum, 10. Sitzung vom 8. Mai 1949; in: Rat IX, S. 617. 60 Zur Sache 1/73, 58 f.; Zur Sache 2/77, 40,242. 61 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucks. 12/6000, S. 20.
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Zweiter Teil: Die Konstruktion 2. Der eigene Zugriff
Der eigene Zugriff muß herausarbeiten, was der Begriff „Hoheitsrechte" im Rahmen der durch die Begriffsanalyse gewonnenen Spielräume bedeutet; er muß dazu diesen Begriff im Zusammenhang mit den durch die Schlagworte Staatsgewalt, Verfassungsstaat und Bundesstaat beschriebenen Problembereichen aufklären. Soll der Begriff des Hoheitsrechts durch Rückgriff auf den mit dem Begriff der Staatsgewalt beschriebenen Problembereich aufgeklärt werden, so ist vorab dieser Begriff selbst zu klären. Dies begegnet Schwierigkeiten, denn der Begriff „Staatsgewalt" ist - wie auch der der Hoheitsrechte - ein geschichtlich aufgeladener, problematischer Begriff, dessen Behandlung heute weitgehend der Staatslehre und nicht dem Staatsrecht zugewiesen ist. Zunächst gilt es, die Begriffe als solche der Staatslehre und abstrahiert vom positivierten Verfassungsrecht festzuhalten. Danach stellt sich die Staatsgewalt als ein notwendiges Element des Staates, als die potentiell allumfassende Quelle seiner Herrschaftsmacht, d. h. aller potentiell möglichen Herrschaftsausübungen der einzelnen Staatsorgane zur Erreichung der Staatszwecke dar 62 und sind die Hoheitsrechte die gegenständlich abgegrenzten Ausstrahlungen, Bestandteile bzw. Erscheinungen der umfassenden staatlichen Hoheitsgewalt, der Staatsgewalt.63 Dabei greift eine Bestimmung der Hoheitsrechte lediglich als staatliche Zwangsbefugnisse zu kurz; 64 der Staat kann aus der umfassenden Staatsgewalt heraus auch tätig werden und herrschaftlich, hoheitlich - im Sinne von staatlich - handeln, ohne Gewalt und Zwang einzusetzen.65 Staatsgewalt ist nicht physische Gewalt, Staatstätigkeit vollzieht sich in unterschiedlichsten Formen. Entscheidend ist die Fähigkeit zur unmittelbar auf den einzelnen zugreifenden einseitigen rechtlichen Gestaltung. Zu entwickeln gilt es in einem weiteren Schritt, in welchem Verhältnis die mit diesen Begriffen der Staatsgewalt und der Hoheitsrechte transportierten staatstheoretischen Vorstellungen zur Verfassung und zu den verfassungsrechtlichen Kompetenzen stehen. Hiermit ist die Frage angesprochen, was die Vor-
62
Siehe nur H. Krüger, Staatslehre, S. 818 ff.; F. Ermacora, Staatslehre, S. 371 ff., 379 ff.; Κ Doehring, Staatslehre, Rn. 79, 266. 63 Siehe nur H. Mosler, HdbStR VII, S. 617. 64 So aber Κ Η. Klein, Übertragung, S. 22; S. Griller, Übertragung, S. 154; C Chapuis, Übertragung, S. 72 f. 65 So auch A. Ruppert, Integrationsgewalt, S. 56; A. Randelzhofer, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 33; O. Rojahn, vM/K, GG, Art. 24 Rn. 19.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
101
Stellung einer potentiell allumfassenden Staatsgewalt unter der Geltung einer geschriebenen Verfassung, was die Vorstellung von Hoheitsrechten als Bestandteilen der Staatsgewalt unter der Geltung einer von der Verfassung bestimmten Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung zu leisten vermögen. Letztlich geht es um die Frage nach der Stellung des Staates zur verfaßten Rechtsordnung. Gibt es außerhalb dieser Rechtsordnung keinen Staat, dann sind die Vorstellungen von Staatsgewalt und Hoheitsrechten neben Verfassung und Kompetenzen für das Staatsrecht ohne Bedeutung. Lassen sich aber auch außerhalb der Verfassung und der durch sie aufgerichteten verfassungsstaatlichen Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung Vorstellungen von Staatsgewalt und Hoheitsrechten sinnvoll denken, dann verdient die Verwendung des Hoheitsrechtsbegriffs in den verfassungsrechtlichen Übertragungsermächtigungen auch ernst genommen zu werden. Gegen die Möglichkeit, Staatsgewalt außerhalb der verfaßten Rechtsordnung denken zu können, steht auf den ersten Blick insbesondere die durch H. Kelsen begründete Lehre. H. Kelsen begreift die Staatsgewalt als die Geltung einer effektiven staatlichen Rechtsordnung, d. h. als ein rechtlich geregeltes Verhältnis, in dem die Menschen, die als Staatsregierung Gewalt ausüben, von der Rechtsordnung ermächtigt sind, die Gewalt durch Erzeugung und Anwendung von Rechtsnormen auszuüben.66 Damit setzt er Staatsgewalt und Rechtsordnung als Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung in eins. Die Relevanz dieser Lehre für das hier untersuchte Verhältnis von Staatsgewalt und Hoheitsrechten einerseits, Verfassung und Kompetenzen andererseits, läßt sich durch mehrere Überlegungen relativieren: Die Verfassung schöpft die Gehalte der durch sie aufgerichteten staatlichen Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung aus der Vorstellung von Staatsgewalt und Hoheitsrechten. Sie errichtet zwar „ihren" Staat, den Verfassungsstaat, aber diese Errichtung erfolgt auf der Grundlage der theoretischen Vorstellung, was Staat ist und was Staatsgewalt in Verfolgung der Staatszwecke alles beinhalten kann. Was von den an Hoheitsrechten potentiell möglichen staatlichen Aufgaben und Befugnissen der aktuelle, konkrete Verfassungsstaat rechtlich ergreifen können soll, ist die in der Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung zum Ausdruck kommende Verfassungsentscheidung. Diese Entscheidung läßt für die aktuelle, „normale" Rechtsanwendung Staatsgewalt und Hoheitsrechte in den Hintergrund treten. Sie stehen nicht in einer Weise neben oder vor der Verfassung, daß sich aus ihnen unter Umgehung der Verfassung ohne weiteres Kompetenzen zu staatlichem Handeln begründen ließen; die Verfassung etabliert die effektive staatliche Rechtsordnung und setzt so aktuell Staat und Rechtsordnung in eins.
66
Κ Kelsen, Rechtslehre, S. 289 f f , 314 f , 319 f.
102
Zweiter Teil: Die Konstruktion
Gleichwohl fuhrt auch die errichtete verfassungsstaatliche Ordnung mit ihrer aktuellen Ineinssetzung von Staat und Rechtsordnung nicht dazu, daß die mit den Begriffen Staatsgewalt und Hoheitsrechte verbundene Vorstellung obsolet wird. Ohne diese Vorstellung lassen sich die Verfassunggebung - jedenfalls sofern sie außerhalb des Sonderfalles der Staatsneubildung sich ereignet - , das Aufgreifen neuer Staatsaufgaben im Rahmen des politischen Meinungsbildungsprozesses, das Zuweisen neuer staatlicher Kompetenzen durch Verfassungsänderung und die Entstehung von gewohnheitsrechtlichen staatlichen Kompetenzen neben der Verfassung nicht erklären. Aus welcher Quelle sollte hier geschöpft werden? Staatsgewalt und Hoheitsrechte können so als der Verfassung und den Kompetenzen vorgelagerte Erscheinungen gedacht werden. 67 Dies läßt sich gegenüber H. Kelsens Darlegungen zur Identität von Staatsund Rechtsordnung auch deshalb vertreten, weil der Schlußstein seiner Lehre, die Theorie von der vorausgesetzten Grundnorm 68 als eine über die Verfassung hinaus führende Theorie des Geltungsgrundes, des rechtlichen Ausgangspunkts für die staatliche Rechtsordnung, eine wissenschaftstheoretische Annahme und damit nur eine mögliche Auflösung des Verhältnisses von Staat und Rechtsordnung ist. Dann aber kann die aktuelle verfassungsrechtliche Gleichsetzung von Staat und Rechtsordnung auch unter Aufrechterhaltung der Vorstellung von Staatsgewalt und Hoheitsrechen mitgetragen werden. Sie kann dies auch deshalb, weil H. Kelsens Lehre der Ineinssetzung von Staat und Rechtsordnung schon nicht den Anspruch erhebt, eine umfassende Erklärung ihres Verhältnisses zu leisten, sie vielmehr die Unterscheidung von Sein und Sollen zu ihrer Voraussetzung hat. 69 H. Kelsen siedelt seine Lehre von der staatlichen Rechtsordnung wie auch sein Grundnormpostulat in der Welt des Sollens an; die Welt des Seins bleibt bei seiner Begriffsbildung außen vor. 70
67
Siehe dazu auch F. Ermacora, Staatslehre, S. 921 f.; A. Bleckmann, Völkerrechtslehre, S. 95, 98 einerseits (Staat und Staatsgewalt entstehen nur durch und aufgrund der Verfassung, Souveränität der Verfassung) und S. 141 f , 179 andererseits (Rückgriff auf einen der Verfassung vorgegebenen Staatsbegriff erforderlich). Weiter ausgreifend zur hiermit angesprochenen Problematik, dem Begriff „Verfassungsstaat", dem Verhältnis von Verfassungsstaat und Souveränität und dem von Staat und Verfassung zuletzt E.-W. Böckenförde, GS Schnur 1997, S. 137 ff. 68 H. Kelsen, Rechtslehre, S. 196 ff. 69 Grundlegend dazu H. Kelsen, Staatsbegriff, S. 75 ff. 70 Ein frühes Beispiel: „Die Staatsgewalt reicht im Rechtsstaate nicht weiter als der Staatswille, das heißt: als die Rechtssätze es aussprechen. ... Ein selbständiger Begriff der Staatsgewalt, der nicht identisch ist mit dem des Staatswillens, hat im Rechte keinen Raum. Die tatsächlichen Machtverhältnisse, die der Welt des Seins angehörigen, sozialen Kräfte mit ihren kausalen Wirkungen, die hinter dem Recht weben, ja, dessen Formen nicht selten durchbrechen, sind Gegenstand soziologischer, völkerpsychologischer
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
103
Die Theorie von der vorausgesetzten Grundnorm ist für die Welt des Sollens eine konsequente Antwort auf das Geltungsproblem, auf die Frage, warum die Verfassung Staat und Rechtsordnung in eins zu setzen und herrschaftskonstituierend zu wirken vermag. In dieser Welt des Sollens ist der Staat nur Rechtsordnung. 7 1 Überträgt man die Unterscheidung auf das hier untersuchte Verhältnis von Staatsgewalt und Hoheitsrechten einerseits, Verfassung und Kompetenzen andererseits, zeigt sich noch einmal, daß die durch H. Kelsen begründete Lehre eben nur auf den ersten B l i c k der Möglichkeit entgegensteht, Staatsgewalt außerhalb der verfaßten Rechtsordnung denken zu können. Staatsgewalt und Hoheitsrechte lassen sich auch als Begriffe fur Erscheinungen der Welt des Seins verstehen, als Ausdrücke fur das, was sich außerhalb, „ v o r " der Rechtsordnung tut: tatsächliche Machtverhältnisse, Beziehungen der Über- und Unterordnung, die faktische Bedingtheit von Herrschaft, politische Vorgänge, W i l l e der Mehrheit usw., die über die Verfassung in rechtliche Kompetenzen umgeformt werden können. 7 2 Lassen sich danach die Vorstellungen von Staatsgewalt und Hoheitsrechten noch sinnvoll denken, kann doch gefragt werden, ob es des Begriffs der Hoheitsrechte in Abgrenzung zu dem der Kompetenzen auch bedarf. Für ein Fehlen des Bedarfs können zunächst mehrere Gesichtspunkte sprechen. So fällt es schwer, einen Gegenbegriff zu dem der Hoheitsrechte zu bilden, und damit auch darzustellen, was der Hoheitsrechtsbegriff auszugrenzen vermag. Denken ließe sich hier aber immerhin an zwingende völkerrechtliche Vorgegebenheiten, 7 3 zu denen auch die nicht disponiblen fundamentalen Grundsätze der Menschenrechte gehören, die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, 74 das
Betrachtung - für die formal juristische Begriffsbildung kommen sie nicht in Betracht" (//. Kelsen, Hauptprobleme, S. 439); siehe auch ders., Staatslehre, S. 40 f., 107. 71 Zur historischen Entwicklung vom älteren zuständlichen zum modernen normativen Verfassungsbegriff siehe D. Grimm, Konstitutionalismus, S. 48 ff. 72 Ähnlich E.-W. Böckenförde, GS Schnur 1997, S. 143: Die Vorstellung vom materiellen Verfassungsstaat, derzufolge der Staat als politische Einheit und Handlungseinheit erst durch die Verfassung hervorgebracht und konstituiert wird, nicht hingegen die Verfassung den Staat als politische Einheit voraussetzt, dem sie dann Form und Inhalt gibt, übersehe grundlegende Gegebenheiten der politisch-sozialen Wirklichkeit und sei Ausdruck einer normativistischen Reduktion. 73 Zu diesen S. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht. Diese Untersuchung ist zwar vornehmlich dem Institut der Nichtigkeit völkerrechtlicher Verträge aus inhaltlichen Gründen gewidmet, fragt aber auch danach, „ob nicht Normen des ius cogens darüber hinaus Verfassungsrang zuzubilligen ist" und „ob Art. 25 GG durch Grundgesetzänderung beseitigt werden könnte" (S. 340 f.). 74 Dazu D. Grimm, Staat und Gesellschaft, S. 13 ff.
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Zweiter Teil: Die Konstruktion
Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. 75 Gegen den staatstheoretischen Hoheitsrechtsbegriff kann vom Standpunkt einer demokratischen Verfassungstheorie aus auch sprechen, daß er ein bestimmtes Staatsmodell transportiert. Diesem Modell zufolge begründet nicht erst die Verfassung Staatsgewalt, sondern sie ordnet eine vorgefundene. Die Verfassung ermächtigt danach mit der Übertragung von Hoheitsrechten staatsrechtlich zur Übertragung von etwas, auf das sie aufruht, was über sie hinausweist, was sie nicht konstituiert hat. Die Verbindung zu diesem Modell wird aber unter verfassungsstaatlicher, legitimationstheoretischer Perspektive jedenfalls deshalb nicht zum Problem, weil die Verfassung selbst mit der Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten den Hoheitsrechtsbegriff konstitutionalisiert hat; deshalb auch kann die Divergenz von Staatsmodellen76 zurücktreten hinter der Möglichkeit, die aus der Begriffsanalyse von „Hoheitsrechte" gewonnenen Konturen für die Bearbeitung einer positiv-verfassungsrechtlichen Vorschrift nutzbar zu machen. Entscheidend für einen Bedarf nach Verwendung des Hoheitsrechtsbegriffs spricht daher, daß die grundgesetzlichen Übertragungsermächtigungen ihn als Rechtsbegriff in der Verfassung ansprechen, ihn damit auch ein Stück weit von seinen staatstheoretischen Prägungen, von einem bestimmten Staatsmodell abzulösen vermögen. So stellt sich die Frage, welche Bedeutung Hoheitsrechte ohne eine Verfassung haben, wenn doch verfassungsrechtlich immer Kompetenzen notwendig sind, in dieser Form nicht. Zu fragen ist nach der Bedeutung von Hoheitsrechten in einer Verfassung, die ihrem Wortlaut nach eben Hoheitsrechte, nicht Kompetenzen, zum Übertragungsgegenstand bestimmt. Auch diese Frage ließe sich mit einer Bedeutungsgleichheit von Hoheitsrechten und Kompetenzen, zumindest aber mit dem Verständnis von Hoheitsrechten als besonders gearteten Kompetenzen und so mit dem Fehlen eines eigenständigen Gehalts des Begriffs der Hoheitsrechte gegenüber dem der Kompetenzen beantworten, wenn ein weites, nämlich reflexives Verständnis dem Kompetenzbegriff unterlegt wird und dieses den Hoheitsrechtsbegriff obsolet machen würde, weil es dessen Gehalte dem Kompetenzbegriff inkorpo-
75
Zu diesem K. Hesse, HdbStKirchR I, S. 521 ff. Zu diesen Divergenzen siehe mit einer klaren Stellungnahme E.-W. Böckenförde, GS Schnur 1997, S. 143 ff. Böckenförde führt aus: „Es gilt für jeden, auch einen demokratisch organisierten Staat, daß der Staat als Macht-, Entscheidungs- und Friedenseinheit nicht erst durch die rechtliche Verfassung hervorgebracht und konstituiert wird, ihr vielmehr vorausgeht. Die konkrete rechtliche Verfassung stellt die nähere Organisation der staatlichen Einheit dar. ... Von einer Identität von Staat und Verfassung kann nicht nur staatstheoretisch, sondern auch juristisch nicht ausgegangen werden. Die Behauptung, daß es Staat oder staatliche Einheit vor, neben oder auch außerhalb der rechtlichen Verfassung gar nicht geben könne, ist unzutreffend" (S. 144, 146). 76
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
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rierte. Dieses weite Verständnis wäre nicht auf Kompetenzen als Sachtitel, auf zugewiesene sachbezogene Aufgaben und Befugnisse beschränkt; es verstünde auch die Verfassungsänderung und auch die Übertragung von Hoheitsrechten als Kompetenzausübung, als Ausübung einer inhaltlichen Gestaltungs-, nicht einer allererst durch Gestaltung zugewiesenen Sachkompetenz, einer Kompetenz zur Schaffung und Zuweisung bzw. Übertragung von Sachkompetenzen, als Betätigung einer verfassungsrechtlich zugewiesenen KompetenzKompetenz. Doch ein solches Begriffsverständnis mtlßte sich zunächst den Verzicht auf einen eigenständigen Hoheitsrechtsbegriff in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG mit einer Ausweitung des Kompetenzbegriffs erkaufen, für die es positiv-verfassungsrechtlich keine Anknüpfungspunkte gibt. Zumal ein Argumentieren mit der Verfassungsänderung und Kompetenz-Kompetenz trägt nicht und macht den Hoheitsrechtsbegriff nicht obsolet. Hat die Verfassung mit dem Institut der Verfassungsänderung und dem der Übertragung von Hoheitsrechten eine Kompetenz-Kompetenz verfassungsrechtlich zugewiesen, beruht dies, wie auch die in der Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung zum Ausdruck kommende Verfassungsentscheidung, auf der Vorstellung von Staatsgewalt und Hoheitsrechten, der Vorstellung davon, was Staatsgewalt beinhalten kann. Kompetenz-Kompetenz ist verfassungsrechtlich zugewiesene Rechtsmacht über die aktuelle Reichweite der eigenen Kompetenz, über die Aktualisierung von Kompetenzen aus Hoheitsrechten. Sie beantwortet die Frage danach, wer aktualisieren, zuweisen darf. Diese Rechtsmacht kann durch die Verfassung inhaltlich limitiert und verfahrenstechnisch eingebunden werden; diese verfassungsrechtlichen Begrenzungen und Bindungen selbst vermögen wieder durch erneute Betätigung der „Kompetenz-Kompetenz" der Verfassungsänderung verändert zu werden. Staatsgewalt und Hoheitsrechte bleiben davon unberührt. Sie erklären vielmehr gerade die „Kompetenz-Kompetenz zur Änderung der Kompetenz-Kompetenz"; sie beantworten die Frage danach, was im Rahmen der durch die jeweilige Verfassung bezeichneten Begrenzungen und Verfahren aktualisiert, zugewiesen werden kann. Freilich, das Hoheitsrecht ist nicht etwas ganz anderes als die Kompetenz. Dogmatisch klein gearbeitet, ließe sich der Inhalt des Hoheitsrechtsbegriffs auch mit dem Kompetenzbegriff als Kompetenz besonderen Inhalts beschreiben; deren Besonderheiten würden mit der Verwendung des Hoheitsrechtsbegriffs im Verfassungstext bezeichnet. Doch besteht die Gefahr, daß aufgrund der anderen historischen und systematischen Implikationen des Kompetenzbegriffs so dem Hoheitsrechtsbegriff in den Übertragungsermächtigungen vorschnell ein zu enges Verständnis zugrunde gelegt würde. Und letztlich erscheint es auch wenig sinnvoll, zunächst das Hoheitsrecht, weil Kompetenz besonderer Qualität mit eigener Begriffs-, Theorie- und Wirkungsgeschichte, mit dem
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Zweiter Teil: Die Konstruktion
Kompetenzbegriff zu beschreiben, dessen Besonderheiten aber sodann durch Verwendung des Hoheitsrechtsbegriffs auszudrücken. Einleuchtender und auch einprägsamer ist es, den Hoheitsrechtsbegriff als vom Begriff der Kompetenz abgesetzt zu gebrauchen und dabei klarzustellen, daß es sich nicht um den bloßen Rückgriff auf das Verständnis von Reichspublizistik und Staatsrechtslehre des Kaiserreichs handelt. Fehlen positiv-verfassungsrechtliche oder aber andere unmittelbar einleuchtende Gesichtspunkte, die einen Bedarf nach der Verwendung des Hoheitsrechtsbegriffs verneinen lassen und zur Gleichsetzung von Hoheitsrechten mit Kompetenzen zwingen, ist der grundgesetzlichen Ausgangslage treu zu bleiben, derzufolge zur Übertragung von Hoheitsrechten ermächtigt wird. Richtmaß für die Verwendung des Hoheitsrechtsbegriffs kann nur sein, ob er sich auch konstruktiv durchhalten läßt, d. h. ob er eine ausreichende Erklärungsleistung bietet und sich mit ihm die einschlägigen Rechtsanwendungsprobleme sachgerecht lösen lassen. Wenn dies der Fall ist, kann noch gefragt werden, ob sich entsprechende Ergebnisse auch mit dem Begriff der Kompetenz erreichen ließen und ob und in welcher Beziehung es sich mit dem Hoheitsrechtsbegriff leichter arbeiten läßt, es also auf die Unterscheidung von Hoheitsrechten einerseits, Kompetenzen andererseits ankommt - eine positiv-verfassungsrechtlich aufgezwungene Frage ist dies angesichts der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG aber nicht. Ist damit herausgearbeitet, was Hoheitsrechte im Zusammenhang mit der Vorstellung von Staatsgewalt bedeuten und daß Hoheitsrechte auch im Verfassungsstaat und angesichts der Kategorie der Kompetenz eine sinnvoll denkbare Kategorie darstellen, gilt es im weiteren das genaue Verhältnis der Begriffe „Hoheitsrecht" und „Kompetenz" für die aktuelle Rechtsanwendung aufzuklären. Dazu ist auf die Bundesstaatsproblematik Bezug zu nehmen. Nach J. Isensee erreicht die verfassungsrechtliche Ausdifferenziertheit der Staatlichkeit kunstvollste Subtilität im Bundesstaat.77 Von dieser subtilen Ausdifferenziertheit ist das in die Untersuchung einzubringen, was einen Bezug zur Vorstellung von Hoheitsrechten im Bundesstaat aufweist. Damit ist die Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern angesprochen. Weil der Bundesstaat Bundesrepublik Deutschland auf der Existenz von Ländern und Bund mit je eigener Staatsgewalt, je eigenen Hoheitsrechten beruht, 78 ist Herzstück des Bundesstaatsrechts die „Aufteilung der Staatsgewalt",
77
J. Isensee, HdbStR I, S. 656. Zur Staatsgewalt der Länder und zu den einschlägigen Kontroversen siehe BVerfGE 1, 14/34; 34, 9/19 f.; Κ Stern, Staatsrecht I, S. 666; O. Kimminich, HdbStR I, 78
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
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d. h. die verfassungsrechtliche Kompetenzaufteilung. 79 Diese löst das Problem des Bestehens mehrerer, potentiell allumfassender Staatsgewalten auf, denn sie reduziert das Bund-Länder-Verhältnis auf Kompetenzfragen, indem sie die Staatsfunktionen, Staatsaufgaben und Staatsbefugnisse in einzelne Kompetenzen zerlegt und diese entweder dem Bund oder den Ländern zuweist. 80 Die Verfassung hat hierfür in Art. 30 GG eine Grundsatzregelung getroffen und diese für die einzelnen Staatsfunktionen näher ausgeformt in Art. 70 ff., 83 ff., 92 f f , auch Art. 104 a ff. GG. Nach Art. 30 GG ist die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt. 81 Daß die Verfassung dabei einerseits in Art. 30 GG subsidiär all die Aufgaben und Befugnisse zur Sache der Länder erklärt, die nicht enumerativ dem Bund zugewiesen sind, dem Bund aber andererseits bis zur Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG die verfassungsändernde Gewalt zugesteht, ist Ausprägung des Grundsatzes, der Staatsqualität zwar Bund und Ländern, Souveränität, verstanden als Kompetenz-Kompetenz, also die Rechtsmacht über die aktuelle Reichweite der eigenen Kompetenz, jedoch nur dem Bund zubilligt. Im Bundesstaat ist die Staatsgewalt also „aufgeteilt" - die an sich potentiell allumfassenden Landesstaatsgewalten und die an sich potentiell allumfassende Staatsgewalt des Bundes werden zu einzelnen Kompetenzen konkretisiert, in diese zerlegt und diese werden dann wieder auf Bund und Länder verteilt. Der Bund wird nun aber in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG nicht zur Übertragung von Kompetenzen ermächtigt, sondern von Hoheitsrechten. Es bedarf der Untersuchung, wie dies im Kontext der bundesstaatlichen Kompetenzaufteilung verstanden werden kann. Die theoretischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen der bundesstaatlichen Kompetenzaufteilung hat zuletzt M. Heintzen - unter Anknüpfung an den
S. 1122, 1138; J. Isensee, HdbStR IV, S. 552 ff.; W \ März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 172 ff.; W: Pauly, Anfechtbarkeit, S. 69 ff. 79 Κ Stern, Staatsrecht I, S. 645, 661. Das Gegenmodell findet sich bei R. Lhotta, Staat 1997, 201 f , für den nicht Kompetenzen, sondern die funktionale Aufgabenteilung bei gleichzeitiger Verflechtung und Kooperation prägend für den deutschen Bundesstaat sind; es gehe nicht um „Allzuständigkeit", sondern um „Allbeteiligung", nicht um „Kompetenzbewahrungsföderalismus", sondern um „Beteiligungsföderalismus". 80 O. Kimminich, HdbStR I, S. 1124 f. mit Bezug auf//. Peters, Föderalismus, S. 23: „Die Staatsgewalt, die ihrem Wesen nach ... unteilbar ist ..„ ist im Bundesstaat nicht etwa aufgeteilt zwischen Bund und Gliedstaaten; aufgeteilt sind vielmehr nur die Aufgaben, auf denen sich die (unteilbare) Staatsgewalt des Bundes oder der Gliedstaaten betätigen darf."; J. Isensee, HdbStR IV, S. 528, 551. 81 Zu Art. 30 siehe insbesondere W. Pauly, Anfechtbarkeit, S. 97 ff. und M. Heintzen, Kompetenz, S. 140 ff. (2. Teil Α.), 488 ff. (3. Teil Β. II.).
108
Zweiter Teil: Die Konstruktion
Begriff der Staatsaufgaben, nicht den der Hoheitsrechte und an das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, nicht an die Vorstellung von der Staatsgewalt - wie folgt herausgearbeitet: Die allgemeine Kompetenzkategorie hat Tätigkeitsgebiete, die bestimmten Subjekten durch Rechtssatz zugeordnet werden sollen, zur Grundlage, Vorgabe bzw. Voraussetzung 82 und so ist auch das bundesstaatliche Kompetenzrecht zu trennen von seinen Voraussetzungen. 83 Im Bundesstaatsrecht sind die Staatsaufgaben die Vorgaben des Kompetenzbegriffs; die bundesstaatliche Kompetenzaufteilung setzt einen Bestand an Staatsaufgaben 84
voraus. „Der Kompetenzbegriff macht die rechtliche Durchdringung und organisatorische Differenzierung der staatlichen Gewalt überhaupt erst möglich.... Die rechtliche Präzisierung einer Staatsaufgabe in einem Kompetenztitel ist die Voraussetzung dafür, daß ihre Erledigung einer bestimmten Organisationseinheit innerhalb des staatlichen Ordnungsgefüges zugewiesen werden kann." 85
Liege somit jeder Kompetenznorm eine Staatsaufgabe zugrunde, so sei diese doch nicht Inhalt, sondern Voraussetzung der Kompetenz.86 Staatsaufgaben im normativen Sinne seien das, was der Staat tun dürfe oder tun müsse (fakultative bzw. obligatorische Staatsaufgaben). Dabei bezeichneten fakultative wie obligatorische Staatsaufgaben eine Ermächtigung des Staates im Verhältnis zur Gesellschaft. 87 M. Heintzen unterteilt die fakultativen weiter in die aktuellen und potentiellen Staatsaufgaben. Aktuell sei eine Staatsaufgabe, soweit sich der Staat ihrer tatsächlich annehme, potentiell, soweit dies nicht geschehe.88 „Die Kompetenzordnung des Bundesstaates weist Bund und Ländern nur solche Angelegenheiten zu, die als Staatsaufgabe qualifiziert werden können. In den abstrakten Kategorien der Staatstheorie läßt sich dies auch so ausdrücken: Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft liegt der Gliederung des Staatlichen in Bund und Ländern voraus.... Die Trennung von Staatsaufgaben und Kompetenztiteln ist... eine gedankliche Operation. Zunächst wird differenziert zwischen dem Bereich der Gesellschaft und dem Bereich des Staates, ohne Rücksicht auf Binnendifferenzierungen im Bereich des Staatlichen. ... Jede Kompetenznorm enthält mittelbar die Aussage, daß ihr Gegenstand zumindest eine potentielle Staatsaufgabe ist. ... Gegenüber der Aufga-
82
M Heintzen, Kompetenz, S. 1 (Einleitung). M. Heintzen, Kompetenz, S. 13 (Einleitung). 84 M Heintzen, Kompetenz, S. 34 (1. Teil B.). „Bundesstaat, Staatsaufgaben, Verfassung und, hinter dieser Trias, die Staatlichkeit sind Vorgaben eines bundesstaatlichen Kompetenzbegriffes"; S. 63 f. (1. Teil E. I.). 85 M Heintzen, Kompetenz, S. 19 (1. Teil Α. I.). 86 M Heintzen, Kompetenz, S. 581 (3. Teil D. I. 2.). 87 M Heintzen, Kompetenz, S. 458 (3. Teil Α. II.). 88 M Heintzen, Kompetenz, S. 459 (3. Teil Α. II.). 83
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
109
ben- hat die bundesstaatliche Kompetenznorm einen spezifischen Gehalt, die Zuweisung der Aufgabe an einen Träger. Diese Zuweisung erfolgt in einem zweiten Schritt, nachdem das Vorliegen einer Staatsaufgabe geklärt ist." 8 9
Eine nähere Beschreibung der von M. Heintzen zuletzt angesprochenen Zuweisung hat von der Kompetenzaufteilungsregelung des Art. 30 GG ihren Ausgang zu nehmen. Mit dem Bezug auf „staatliche" Befugnisse und „staatliche" Aufgaben erfaßt Art. 30 GG zwar jede staatliche Betätigung, gleich welcher Staatsfunktion sie zuzuordnen ist. 90 Zur rechtmäßigen Ausübung der staatlichen Betätigung bedarf es aber jeweils der Kompetenz. Während nun Aufgaben die aus der Verfolgung eines oder mehrerer Zwecke sich ergebenden, durch Rechtsvorschrift zugewiesenen Tätigkeitsbereiche sind, auf denen die Zwecke einer staatlichen Organisation verwirklicht werden, sind Befugnisse die zur Aufgabenerfüllung (Zweckverwirklichung) erforderlichen, durch gesonderte Ermächtigung zugewiesenen Mittel. Mit dem Begriff der Zuständigkeit wird die Zuweisung von Aufgaben und Befugnissen innerhalb einer staatlichen Organisation auf innerorganisatorische Wahrnehmungssubjekte (Verbände, Organe) bezeichnet. Unter Kompetenz aber läßt sich das verstehen, was der Inhalt, der Gegenstand der Wahrnehmungsverpflichtung bzw. -berechtigung, d. h. der Zuständigkeit ist. Kompetenz ist die wahrzunehmende bzw. wahrnehmbare Aufgabe und die wahrzunehmende bzw. wahrnehmbare Befugnis, die in die Zuständigkeit eines Verbandes bzw. Organs gegeben ist. 91 Demgegenüber sprechen Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG von Hoheitsrechten, nicht von Kompetenzen. Als Umschreibungen von Gegenständen, Materien oder Objekten der potentiell allumfassenden Staatsgewalt, nicht
89 M Heintzen, Kompetenz, S. 740 f. (3. Teil G.). Auch in diesem Zugriff auf die Bundesstaatsproblematik und insbesondere die Kompetenzaufteilung fmdet sich mithin die gedankliche Trennung der Kompetenzen von ihren Voraussetzungen durchgeführt. Daß Heintzen dabei die Staatsaufgaben und das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in den Blick nimmt, hier aber auf Hoheitsrechte und die Vorstellung von der Staatsgewalt rekurriert wird, ist durch die Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG präjudiziert; sie ermächtigen zur Übertragung von Hoheitsrechten und die Entwicklung einer dogmatischen Konstruktion dieses Vorgangs bedarf der Entwicklung einer Vorstellung von Hoheitsrechten. 90 J. Pietzcker, HdbStR IV, S. 698.; nach M. Heintzen, Kompetenz, S. 497 (3. Teil B. II.), sind mit „staatlich" die Staatsaufgaben als Verteilungsmasse gemeint, die der Kompetenzaufteilung zugrunde liegt. 91 Siehe zum ganzen H. J. Wolff, Verwaltungsrecht II, S. 12 ff.; A. Ruppert, Integrationsgewalt, S. 63 f , 254 f.; F. Er mac ora, Staatslehre, S. 912 ff.; Β. Sc hl ink, Amtshilfe, S. 142 f.; R. Stettner, Kompetenzlehre, S. 31 ff.; J. Isensee, HdbStR III, S. 65 f.; P. Kirchhof, HdbStR III, S. 127 ff.; B. Pieroth, AöR 1989, 434; M. Pechstein, Sachwal-
110
Zweiter Teil: Die Konstruktion
aber als aus der Staatsgewalt des Bundes verfassungsrechtlich aktualisierte, konstituierte Kompetenzen bzw. als aus der Landesstaatsgewalt aktualisierte Residualkompetenzen, sind Hoheitsrechte gegenüber Kompetenzen die allgemeinere, weitere, auf einer anderen, nämlich staatstheoretisch-völkerrechtlichen Ebene angesiedelte, vorgelagerte Begriffskategorie. 92 Für ihre Existenz kommt es auf eine verfassungsrechtliche Aktualisierung nicht an; sie sind bereits mit der Existenz des Staates gegeben.93 Hoheitsrechte sind in diesem Verständnis mit Kompetenzen nicht identisch. Nimmt man diese unterschiedlichen Begriffe ernst, bestimmen die Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG mit Hoheitsrechten Bestandteile der potentiell allumfassenden Staatsgewalt zum Übertragungsgegenstand. Auf die bundesstaatliche Kompetenzaufteilung kommt es dann für den gegenständlichen Umfang der Übertragungsermächtigungen nicht an - sie findet auf einer anderen Ebene statt. 94 Deshalb sind im Ergebnis auch Hoheitsrechte der Länder Übertragungsgegenstand; die Hoheitsrechte der Landesstaatsgewalten sind potentiell auch in der Staatsgewalt des Bundes vorhanden. 95 Der Ansatzpunkt zu dieser Auflösung findet sich bereits bei G. Jellinek: „Wie immer die Vertheilung der Competenzen ausfallen möge, dem Bundesstaate bleibt der Charakter als souveräner Staat dadurch gewahrt, dass potentiell alle Ho-
ter, S. 23 ff.; H Bauer, Bundestreue, S. 286 ff.; M. Heintzen, Kompetenz, S. 34 ff., 45 ff., 61 ff. (1. Teil C. I., D. und E.). 92 Vgl. M. Heintzen,, Kompetenz, S. 488 (3. Teil Β. I.): ,„Staatsaufgabe 4 ist im Verhältnis zur ,Kompetenz' der gegenständlich und organisatorisch unspezifischere, aber auch der umfassendere und vorrangige Begriff." 93 Deutlich F. Ermacora, Staatslehre, S. 921 f. 94 Deutlich auch M Heintzen, Kompetenz, S. 485 f. (3. Teil Β. I.): „Adressat einer Staatsaufgabe ist der Staat als integrales Gegenüber der Gesellschaft. Der Begriff ,Staatsaufgabe' ist auf das Verhältnis zwischen dem staatlichen und dem nichtstaatlichen Bereich konzipiert; der Binnenraum des Staates interessiert hier nicht; die Aufteilung der dem Staat zufallenden Aufgabe auf seine Untergliederungen geht über den Horizont der Staatsaufgabenkategorie hinaus. Die Verknüpfung von Staatsorganisation und Staatsaufgaben ist, nicht nur im Bundesstaat, der Proprium der Kompetenzkategorie. Adressat von Staatsaufgaben ist der Staat als Einheit. Eine Differenzierung anhand der Gliederungsschemata der Gewaltenteilung, des föderalen Staatsaufbaus und der Binnenorganisation der jeweiligen föderalen Verbände ist ihnen fremd, ebenso wie eine präzise, subsumtionsfähige Eingrenzung ratione materiae." 95 Das Begründungsdilemma der herrschenden Meinung zum Problem „Übertragbarkeit von Länderhoheitsrechten", wie es sich plastisch aus den Erläuterungen von A. Randelzhof er, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 37 ff. und den kritischen Anmerkungen gegenüber der herrschenden Meinung von H.-J. Schütz, Staat 1989, 201 ff., ergibt, und das unter anderem in der Verbands- und Organbezogenheit des Kompetenzbegriffs seinen Grund hat, kann so aufgelöst werden.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
111
heitsrechte, auch die den Gliedstaaten zur selbständigen Innehabung überwiesenen, in ihm enthalten sind ..." 9 6
Die bislang herausgearbeiteten Ergebnisse zur Vorstellung von Hoheitsrechten haben sich auch noch vor Art. 24 Abs. 1 a GG zu bewähren. Hier werden die Länder zur Übertragung von Hoheitsrechten ermächtigt. Sind hier nun etwa auch, da Hoheitsrechte begrifflich auf die potentiell allumfassende Staatsgewalt weisen, alle möglichen Bestandteile von Staatsgewalt, also auch solche, die durch die verfassungsrechtlichen Kompetenzaufteilungsvorschriften dem Bund zugewiesen sind, Übertragungsgegenstand? Die grundgesetzliche Regelung des Art. 24 Abs. 1 a GG verhindert dies: Nur soweit die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder ist, können sie Hoheitsrechte auf grenznachbarschafiliche Einrichtungen übertragen. Damit wird die verfassungsrechtliche Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern, anders als in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG, ausdrücklich mit in den Übertragungstatbestand hineingenommen. So können die Länder über Kompetenzen des Bundes nicht verfügen, sondern nur aus den Sachgebieten Hoheitsrechte übertragen, die ihnen nach der verfassungsrechtlichen Kompetenzzuweisung an den Bund verblieben sind. Dann aber übertragen die Länder ihre sachgegenständlich entsprechenden Hoheitsrechte, nicht die Kompetenzen. Art. 24 Abs. 1 a GG läßt sich somit bruchlos in die bisherigen Ergebnisse zur Vorstellung von Hoheitsrechten einpassen.
3. Zusammenfassung Nimmt man auf den Wortlaut der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG Bezug und versucht, den Begriff „Hoheitsrechte" zu analysieren, eine Vorstellung von Hoheitsrechten zu entwickeln, lassen sich gemäß den obigen Ausführungen folgende Aussagen treffen: Hoheitsrechte sind Bestandteile der Staatsgewalt und bezeichnen ihre potentiell möglichen Ausübungen. Sie sind die potentiell möglichen staatlichen Aufgaben und staatlichen Befugnisse. Sie bilden die theoretische Voraussetzung und inhaltliche Grundlage der verfassungsrechtlichen Konstituierung von Kompetenzen. Kompetenzen sind staatliche Aufgaben und staatliche Befugnisse, zur Ausübung staatlichen Verbänden bzw. Organen zugewiesen; Kompetenzen sind verfassungsrechtlich zur Ausübung zugewiesene Hoheitsrechte oder Ausschnitte von Hoheitsrechten. Hoheitsrechte werden also zu Kompetenzen, wenn sie verfassungsrechtlich zur Ausübung zugewiesen werden; sie bezeichnen das, was durch die Verfassung zu Kompetenzen aktualisiert, konkretisiert werden 96
G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 290 f.
112
Zweiter Teil: Die Konstruktion
kann. Doch gibt es ohne Hoheitsrecht keine Kompetenz. Hoheitsrechte oder Ausschnitte von Hoheitsrechten werden zu staatlichen Kompetenzen nur durch ihre verfassungsrechtliche Konkretisierung im Rahmen der Zuweisung von Aufgaben und Befugnissen an staatliche Hoheitsträger bzw. deren Organe. Daß Hoheitsrechte dann zu Kompetenzen werden, läßt sie aber als Kategorie nicht obsolet werden.
II. Übertragen 1. Der Begriff,,
übertragen " - Grammatische und genetische Implikationen
Eine erste Annäherung an den Begriff über das Grimmsche Wörterbuch zeigt, daß „übertragen" ein vielverwendeter, Unterschiedliches bezeichnender Begriff ist. 97 Dabei kann er - mit Blick auf den hier interessierenden Zusammenhang - sowohl einen Vorgang bezeichnen, bei dem etwas vollständig und endgültig abgegeben wird (Erwerb und Verlust stehen sich gegenüber), als auch einen, bei dem etwas vervielfältigt und weitergegeben wird (Erwerb steht kein Verlust gegenüber). Die erste Begriffsverwendung ist die der Rechtssprache,98 die zweite findet sich in Zusammenhängen wie Kenntnisse übertragen, überlassen, überliefern bzw. eine Krankheit übertragen, jemanden infizieren. 99 Beide Begriffsverwendungen entsprechen dem lateinischen transferre. 100 Diesen Begriffsverwendungen steht unter anderem ein Verständnis von „übertragen" im Sinne von „was übereintragen, vereinbaren" gegenüber. 101 Untersucht man aber die Einträge im Grimmschen Wörterbuch zum Begriff „Übertragung", so stellt sich heraus, daß dieser zwar die Bedeutungen „transferre, hinübertragen" abdeckt, nicht aber auch die Bedeutungen „was übereintragen, vereinbaren". 102 Da - wie immer der Übertragungsvorgang der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG verstanden wird - das Hoheitsrechte „übertragen" problemlos zur „Übertragung" von Hoheitsrechten umformuliert werden kann, ist das Begriffsverständnis von „übertragen" im Sinne von „vereinbaren" für den hier interessierenden Zusammenhang ausgeschlossen. Eine zweite Annäherung an den Begriff „übertragen" nimmt die zahlreichen sinnverwandten deutschen Wörter mit in den Blick, die gleichfalls oder jeden-
97
Grimm, DtWb 23/598 ff. Grimm, DtWb 23/600. 99 Grimm, DtWb 23/600. 100 Grimm, DtWb 23/598. 101 Grimm, DtWb 23/600. 102 Grimm, DtWb 23/602. 98
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
113
falls teilweise den bislang herausgearbeiteten Bedeutungsgehalt von „übertragen" zu vermitteln vermögen. Hierfür kann auf die grammatischen Auslegungsbemühungen der im ersten Teil dieser Arbeit dargestellten „transfer-Theorie" bzw. der „confer-Theorie" zurückgegriffen werden. Diese gehen davon aus, daß das deutsche „übertragen" sowohl den Bedeutungsgehalt von transferre, transfer, transférer wie auch den von conferre, confer, conférer umfaßt. Dabei werden als mit „übertragen" im Sinne von „transfer" sinnverwandt die Wörter abgeben, abtreten, hingeben, weggeben benannt, als mit „übertragen" im Sinne von „confer" verwandt die Wörter anvertrauen, ausstatten, betrauen, einräumen, vereinbaren, verleihen. Zunächst ist deshalb zu ermitteln, ob und wenn ja wie sich transferre, transfer, transférer von conferre, confer, conférer unterscheiden, dann, was sich aus den jeweiligen deutschen sinnverwandten Wörtern für die nähere Bestimmung des Bedeutungsgehalts von „übertragen" gewinnen läßt. Unter „transfero" läßt sich im Lateinischen „1. hinübertragen, -bringen, -schaffen; vorbei-, vorübertragen; 2. überschreiben; 3. übersetzen; 4. verlegen, versetzen; 5. (auf andere) übergehen lassen, übertragen; 6. auf etwas anderes anwenden; metaphorisch verwenden, bezeichnen; 7. (auf eine andere Zeit) verschieben" verstehen. 103 Unter dem Stichwort „confero" findet sich der Eintrag „I. 1. zusammentragen, -bringen; zusammenfassen, -ziehen, vereinigen; 2. a. (Geld) sammeln, aufbringen, zusammenlegen; beitragen, nützen; b. (feindlich) aneinander-, nahe-, zum Zusammenstoß bringen; 3. a. (vergleichend) zusammenstellen, vergleichen; b. (Worte oder Meinungen) austauschen, wechseln, (etwas oder sich) besprechen. II. (mit Überwiegen des Zielbegriffes): 1. hintragen, -bringen, -schaffen, -führen und dergleichen; sich begeben; 2. a. verwandeln; b. zuschreiben, zuschieben, beimessen; c. (auf eine Zeit) verlegen, verschieben; 3. hergeben, verwenden; übertragen, überlassen". 104 Daß sich conferre im Vergleich zu transferre mit dem Bedeutungsgehalt von „übertragen" nur abgeschwächt und eher am Rande trifft, ist danach nicht zu verkennen. Dies bestätigt auch der Blick auf die englischen und französischen Entsprechungen. Das englische „transfer" (Substantiv und Verb 1 0 5 ) wird in der Verbform mit „übertragen, übereignen, transferieren, abtreten, zedieren, überweisen" übersetzt, 106 „confer" (nur Verb) mit „übertragen, verleihen; verhan-
103
Stowasser, S. 520; auch Filip-Fröschl/Mader, S. 73. Stowasser, S. 109. 105 Siehe oben den Zusammenhang von „übertragen" und „Übertragung" in der Bedeutung „transferre". 106 Romain, S. 789. 104
8 Flint
114
Zweiter Teil: Die Konstruktion
dein". 1 0 7 Das französische „transférer" (Substantiv: transfert) wird mit „(1) übertragen, übergeben, (2) verlegen, umsiedeln, (3) (des capitaux) transferieren, (4) (comptabilité) umschreiben, (5) (un prisonnier) überstellen, überführen" übersetzt, 108 „conférer" (nur Verb) mit „(1) (s' entretenir) beraten, verhandeln, sich besprechen, (2) (accorder) einräumen, verleihen, erteilen, gewähren, übertragen". 109 Sonach vermag das deutsche „übertragen" zwar den Bedeutungsgehalt von transferre, transfer, transférer wie von conferre, confer, conférer zu umfassen. Doch liegen beide Bedeutungsgehalte nicht gleich naheliegend im Sinn des Wortes „übertragen" beschlossen. Vielmehr kommt das kräftigere Verständnis von „übertragen" im Sinne von „transfer" dem allgemeinen wie dem besonderen juristischen Sprachgebrauch näher als das schwächere im Sinne von „confer". Eine Gegenüberstellung der jeweiligen sinnverwandten deutschen Wörter erhärtet diesen Eindruck. Den Wörtern anvertrauen, ausstatten, betrauen, einräumen, vereinbaren und verleihen liegt das Bild zugrunde, daß jemand jemandem in einem Abhängigkeitsverhältnis etwas gibt. Dieses etwas bleibt in der Ausübung bzw. Benutzung determiniert, es muß unter vorher festliegenden oder festgelegten Umständen zurückgegeben werden. 110 Einen anderen, kräftigeren Eindruck hinterlassen die Wörter abgeben, abtreten, hingeben, weggeben. Ihnen liegt das Bild zugrunde, daß jemand jemandem in einem Gleichordnungsverhältnis etwas gibt. Dieses etwas geht endgültig aus der Sphäre des einen in die Sphäre des anderen Subjekts über. 111 Einen solchen Vorgang pflegen, wenn es um Vorgänge im Umgang mit Rechten geht, der allgemeine Sprachgebrauch und auch der besondere juristische Sprachgebrauch mit dem Begriff „übertragen" zu bezeichnen.112 Sonach ist der zutreffende Kern der „transfer-Theorie" bzw. der „conferTheorie" darin zu sehen, daß das deutsche „übertragen" sowohl im Sinne von „transfer" als auch im Sinne von „confer" verstanden werden kann. Aber eine endgültige Entscheidung aus der Wortlautauslegung heraus für den einen oder anderen Bedeutungsgehalt läßt sich mit ihr nicht treffen. Doch kann festgehalten werden, daß der Bedeutungsgehalt von „transfer" in „übertragen" nach
107
Romain, S. 150. Doucet /Fleck, S. 588. m Doucet /Fleck, S. 137. 110 Vgl. Grimm, DtWb 1/511 (Anvertrauen), 1/983 (Ausstatten), 1/1710 (Betrauen), 3/246 (Einräumen), 25/273 f. (Vereinbaren), 25/768 ff. (Verleihen). 111 Vgl. Grimm, DtWb 1/44 (Abgeben), 1/143 (Abtreten), 10/1435 ff. (Hingeben), 27/2975 f. (Weggeben). 112 Vgl. etwa Duden, Wb 7/3507 (übertragen = ein Amt etc. übergeben); Wb 1/102 (abtreten = etwas auf jemanden juristisch übertragen). 108
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
115
allgemeinem wie besonderem juristischen Sprachgebrauch stärker und deutlicher zum Ausdruck kommt als der von „confer". Weitere Erkenntnisse können mit dem grammatischen Auslegungselement nicht gewonnen werden. Auch die Entstehungsgeschichte der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG vermag zur Analyse des Begriffs „übertragen" nichts weiteres beizutragen. Weder aus der dokumentierten Arbeit des Herrenchiemseekonvents noch der des Parlamentarischen Rates lassen sich Äußerungen zum Begriff des Übertragens und den dahinter stehenden rechtlichen Vorstellungen ersehen. Im Umfeld der Arbeit der Enquéte-Kommissionen Verfassungsreform wird zwar von wissenschaftlicher Seite vorgeschlagen, den Begriff „übertragen" zu vermeiden; er wecke falsche Rechtsvorstellungen, denn den Integrationsgemeinschaften seien Kompetenzen eingeräumt worden, die von den Mitgliedstaaten niemals ausgeübt wurden und deshalb auch nicht übertragen werden konnten; 113 zur Veranschaulichung der Gründung der Europäischen Gemeinschaften werde der Begriff der Übertragung nicht benötigt, weshalb eine weniger zu Spekulationen anregende Terminologie benützt werden sollte. 114 Doch die Kommissionen hielten Änderungen am Wortlaut nicht für erforderlich. 115 Auch die Gemeinsame Verfassungskommission hat ihn unverändert und ohne Diskussion für die Neufassung des Art. 23 GG übernommen.
2. Die juristische Konstruktion
von Übertragungsvorgängen
Dem grammatischen und genetischen Auslegungselement hinzuzufügen sind nähere Ausführungen zur Bearbeitung von Übertragungsvorgängen in juristischen Zusammenhängen. Ein entsprechender systematischer Blick und eine Bestandsaufnahme hinsichtlich einschlägiger rechtsdogmatischer Konstruktionen können zeigen, welche Vorstellungen mit dem Begriff „übertragen" im einzelnen verbunden werden und in der Folge bei der Verwendung des Begriffs in Rechtstexten auch mitzuschwingen vermögen. Begriff und Idee der Übertragung kommen aus dem Privatrecht. 116 Im Institut der Abtretung (§ 398 BGB), d. h. der vertraglichen Übertragung einer Forderung, haben sie ihre gesetzliche Ausprägung erfahren. Die rechtlichen Konturen dieses Instituts sind weithin unumstritten: Die rechtsgeschäftliche Übertragung erfolgt durch Vertrag zwischen dem alten Gläubiger und dem
113
E. Menzel, DÖV 1971, 537. M. Zuleeg, JIR 1973, 61. 115 Zur Sache 1/73, 58 ff.; Zur Sache 2/77, 233 ff. 116 Zur geschichtlichen Entwicklung L. Enneccerus /H. Lehmann, Schuldverhältnisse, S. 308 f. 114
116
Zweiter Teil: Die Konstruktion
neuen Gläubiger. Sie stellt eine Verfügung über die Forderung dar. Da die Abtretung die Zuordnung der Forderung ändert, muß klar sein, auf welche Forderung sie sich bezieht (Bestimmtheitsgrundsatz). Rechtsfolge der Abtretung ist der Übergang der Forderung vom Alt- auf den Neugläubiger. Abtretung trifft sich sonach mit dem Bedeutungsgehalt von „transfer". Die privatrechtliche Lehre verbindet traditionell mit der Übertragung von Forderungen auch die Vorstellung, daß die abgetretene Forderung und damit das Schuldverhältnis durch Abtretung ihr Wesen nicht ändern, die Forderung vielmehr identisch bleibt. Diese Vorstellung erscheint historisch geradezu als Begründung der Möglichkeit einer Abtretung von Forderungen. So heißt es bereits in den Vorentwürfen zum BGB, gerichtet gegen eine die Übertragbarkeit von Forderungen ablehnende Auffassung: „Allein mit dem Begriff und Wesen des Schuldverhältnisses ist es wohl verträglich, daß ein Anderer an die Stelle des ursprünglichen Gläubigers in die Forderung eintritt. Rechtlich unmöglich wäre dies nur dann, wenn durch die Uebertragung der Forderung auf einen neuen Gläubiger das Schuldverhältniß nothwendig in seinem Wesen verändert würde. Dies trifft aber nicht zu; es gehört nicht zum Wesen und Begriff des Schuldverhältnisses, daß gerade nur einer bestimmten Person als Gläubiger geleistet werde." 1 1 7
Aus dieser Vorstellung erklärt sich auch die Aufnahme des § 399 Fall 1 BGB, nach dem die Abtretung ausgeschlossen ist, wenn die Leistung an einen anderen als den ursprünglichen Gläubiger nicht ohne Veränderung ihres Inhalts erfolgen kann. 118 Die heutige Rechtsprechung und Literatur hält die Vorstellung von der Identität des Übertragungsgegenstands vor und nach der Übertragung als Grundsatz des Zessionsrechts aufrecht, problematisiert dies aber regelmäßig nicht weiter. 1 1 9 So schreibt C. Ott: „Die Übertragung der Forderung läßt ihre Identität unberührt; sie geht so, wie sie bestand, auf den neuen Gläubiger über." 120
Und E. Schmidt formuliert: „Die Forderung geht, wie sie besteht, d. h. mit allen Vorzügen (Sicherheiten wie Bürgschaften und Pfandrechten), aber auch mit allen Einwendungen und Einreden (§§401,404) über." 121
117
R P. von Kübel, Schuldrecht AT, S. 936. Dazu F. P. von Kübel, Schuldrecht AT, S. 949 f. 119 BGHZ 3, 135/136; R. Weber, RGRK, BGB, § 398 Rn. 97 (vorsichtigere Formulierung aber vor § 398 Rn. 1); W. Zeiss , Soergel, BGB, vor § 398 Rn. 1; H P. Westermann, Erman, BGB, § 398 Rn. 28; H Heinrichs, Palandt, BGB, § 398 Rn. 1. 120 C Ott, AK-BGB, vor §§ 398 ff. Rn. 6. 118
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
117
W i r d der Identitätsgrundsatz aber näherer Behandlung unterzogen, ändert sich das B i l d und w i r d die Vorstellung von der Identität des Übertragungsgegenstands, geht es u m die Übertragung von Forderungen, auch als Grundsatz nicht so klar durchgehalten, wie es auf den ersten B l i c k erscheint. So heißt es zwar auch bei H. Kaduk i n seiner Bearbeitung der §§ 398 ff. B G B : „Nach §§ 398 ff. können grundsätzlich alle Forderungen unter Wahrung ihrer Identität ohne Mitwirkung des Schuldners übertragen werden." 122 Er räumt dann aber „Denkschwierigkeiten" ein, die mit der Vorstellung einer Übertragbarkeit der Forderungen verbunden sind, und bezeichnet es als „Problem, wie die Erhaltung einer Identität der Forderung bei einem Wechsel des Gläubigers möglich i s t " . 1 2 3 H. Kaduk führt dann aus: „Zwar wird durch den Wechsel eines der Subjekte des Forderungsrechts, ζ. B. des Gläubigers, die Identität des Forderungsrechts notwendig beeinträchtigt... Eine Forderung kann eben im logischen, begrifflichen Sinne nicht in ihrem ursprünglichen Wesen von einem Berechtigten, einem bestimmten Rechtssubjekt losgelöst gedacht werden, ohne daß sie sich auch in ihren Identitätsbezügen verändert. ... Besteht das Forderungsrecht bei dieser auf die Subjekte bezogenen Betrachtungsweise in einer Beziehung zwischen dem Gläubiger und dem Schuldner, so ist eine wirkliche Übertragung des »identisch4 bleibenden Forderungsrechts auf einen anderen Gläubiger begrifflich gar nicht denkbar. Nach der »Übertragung 4 kann vielmehr nur ein anderes Forderungsrecht bestehen, nämlich eine Beziehung zwischen anderen Rechtssubjekten, das zwar der früheren Forderung hinsichtlich des eigentlichen Inhalts der Leistungspflichten gleicht, aber nicht mit ihr identisch ist. 4 4 1 2 4 H. Kaduk kommt zu dem Schluß, daß die Vorstellung von der Identität des Übertragungsgegenstandes eine Fiktion des Gesetzes ist. „Insoweit beruhen die wiedergegebenen Einsichten in das Wesen des Forderungsrechts und in die daraus folgenden Veränderungen seiner Identität im Falle der Abtretung bzw. Übertragung auf inzwischen gesicherten Erkenntnissen der allgemeinen Rechtslehre wie der Rechtsprechung. Da das Gesetz indessen, im Unterschied zum römischen Recht, die Abtretung einer Forderung ausdrücklich regelt und aus prakti-
121
J. Esser iE. Schmidt, Schuldrecht A T 2, S. 289. H. Kaduk, Staudinger, BGB, § 398 Rn. 17. 123 H. Kaduk, Staudinger, BGB, § 398 Rn. 43 b f. Hinzuzufügen ist, daß diesen Ausführungen eine Unterscheidung von Eigentumsrecht einerseits, Forderungsrecht andererseits zugrunde liegt; da beim Eigentumsrecht ein vom Recht zu sondernder Gegenstand, ein Objekt, an dem das Recht besteht, existiert, sei die Übertragung einer auf dieses Objekt bezogenen Rechtsstellung ohne weiteres vorstellbar (vor §§ 398 ff. Rn. 4 ff.). Hinsichtlich der Forderungen unterscheidet Kaduk dann weiter zwischen ihrem Rechtsinhalt und ihrem Leistungsinhalt (vor §§ 398 ff. Rn. 49); nur in Bezug auf ersteren sei die Identitätsvorstellung problematisch. 124 H. Kaduk, Staudinger, BGB, vor §§ 398 ff. Rn. 11 ff. 122
118
Zweiter Teil: Die Konstruktion
sehen Erwägungen auch regeln muß, wird der damit verbundene Identitätswechsel nicht hinderlich sein können. Als Arbeitshypothese wird man sich einstweilen mit der Hilfsvorstellung begnügen müssen, daß das Gesetz es so ansieht, als ob die Identität des Forderungsrechts durch seine Übertragung auf eine andere Rechtsperson nicht berührt würde, daß es also eine gewisse Objektivierung des Forderungsrechts annimmt." 1 2 5 In einzelnen Beziehungen vorbereitet findet sich diese Auflösung der Identitätsvorstellung bereits in Arbeiten von K. Larenz und R. Scheyhing. K. Larenz hat dargetan, daß und warum die Forderung als ein Vermögensgegenstand auch Gegenstand des Rechtsverkehrs zu sein v e r m a g . 1 2 6 Für die Identitätsvorstellung zog er daraus allerdings keine Konsequenzen; die Forderungsabtretung bezeichnet er als eine Änderung der Rechtszuständigkeit ohne Veränderung des Inhalts der Forderung. 1 2 7 R. Scheyhing
hingegen hat der Identitätsvorstellung
zwar bescheinigt, der Schlüssel zur Zessionstheorie des B G B zu sein, aber er hat auch festgehalten, daß Leitbilder dieser A r t nur die allgemeine Richtung der dogmatischen Lösungen bezeichneten und häufig eine solche Leitvorstellung nicht in ihrer idealtypischen Gestalt durchgehalten werden k ö n n e . 1 2 8 Wie sich, außerhalb von grundsätzlich angelegten Reflexionen, die Identitätsvorstellung i m Privatrecht auch in der praktischen Rechtsanwendung auflöst, wird deutlich, wenn statt der Übertragung von Forderungen gemäß § 398 B G B die Übertragung von Mitgliedschaftsrechten i m Gesellschaftsrecht Untersuchungsgegenstand ist. So verfolgen die vinkulierten Namensaktien des § 68 Abs. 2 A k t G unter anderem den Zweck, die bisherigen Beteiligungsverhältnisse aufrecht zu erhalten, insbesondere die Mehrheitsposition eines Mitaktionärs zu verhindern. 1 2 9 Z u solchen Mehrheitspositionen kann es dann kommen, wenn einzelne Aktienübertragungen in der Hand eines Erwerbers eine solche entstehen lassen. U n d sie kann entstehen, obwohl die einzelnen, von verschiedenen Aktionären übertragenen Aktien (= verbriefte Mitgliedschaften) diesen keine Mehrheitsposition einräumten. Der erwerbende Aktionär hat dann zwar einzelne, ihm übertragene A k t i e n in der Hand, aber nur eine mitgliedschaftliche Stellung entsprechend seinem Aktienbestand inne. Da gemäß § 134 Abs. 1 Satz 1 A k t G das Stimmrecht nach Aktiennennbeträgen ausgeübt wird, kann der
125 H. Kaduk, Staudinger, BGB, vor §§ 398 ff. Rn. 26. Vorsichtiger formuliert findet sich dies auch bereits bei L. Enneccerus / H. Lehmann, Schuldverhältnisse, S. 309 (Anm. 1): „Die Forderung bleibt trotz des Übergangs auf einen neuen Gläubiger dieselbe, oder vielmehr sie wird (da alle Rechte nur Gedankendinge sind) als dieselbe gedacht und demgemäß als die alte, nicht als eine neue Forderung behandelt." 126 K. Larenz, Schuldrecht AT, S. 569 ff. 127 K. Larenz, Schuldrecht AT, S. 570, 574. 128 K. W. Nörr/R. Scheyhing, Sukzessionen, S. 44. 129 U. Hüffer, AktG, § 68 Rn. 10.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
119
Erwerber nach Übertragung eine Mehrheitsposition geltend machen, die vordem den übertragenen Aktien nicht eignete. 1 3 0 In der Hand des Erwerbers hat eine Fusion stattgefunden, fur die die Aktienübertragungen eine conditio sine qua non waren; die mit den Aktien übertragenen Mitgliedschaftsrechte sind als identische Gegenstände in der Hand des Erwerbers nicht vorhanden. Näher behandelt finden sich die damit angesprochenen Rechtsprobleme bei H. Wiedemann. Er richtet sich gegen Auffassungen, die für eine Unübertragbarkeit jeder Mitgliedschaft unter Berufung auf die Vorstellung von der Identität des Rechts bei einer Rechtsnachfolge plädierten. Ob ein Mitgliedschaftsrecht übertragen und beim Wechsel bestehen bleiben könne, darüber entscheide vielmehr die Vereinssatzung oder der Gesellschaftsvertrag. 131 Zur dogmatischen Grundlage dieser Auffassung fuhrt er aus: „Die Verwaltungs- und Kontrollrechte sollen zunächst der Entfaltungsfreiheit der Gründerpersönlichkeit in der Gemeinschaft dienen. Mit dem Rechtswechsel bezieht sich das Koordinatensystem mit gleichem Inhalt auf eine andere Person. Der Nachfolger erhält dieselben Rechte, aber sie gewinnen in seiner Person einen anderen Inhalt." 1 3 2 Bleiben diese Ausführungen auch letztlich unscharf, so ist doch zu verzeichnen, daß sich das Identitätserfordernis i m Rahmen des Vorgangs einer Übertragung von Rechten im Privatrecht für die Lösung einschlägiger Konstellationen nicht durchhalten läßt. Nicht nur, daß schon mit B l i c k auf den Personenwechsel der identische Fortbestand der Forderung im Rahmen des § 398 B G B als gesetzliche Fiktion erkannt wird, bestimmte Wirkungen bei Übertragungen von Mitgliedschaftsrechten können überhaupt nur erklärt werden, wenn ihre Inhaltsänderung in der Hand des Erwerbers konzediert wird. So vermag die durch die Privatrechtslehre entwickelte Identitätsvorstellung bei der Verwendung des Begriffs „übertragen" in juristischen Texten mitzuschwingen, bildet jedoch kein allgemein anerkanntes, notwendiges Definitionsmerkmal für diesen Begriff.
130 Nicht viel anders sieht es bei der GmbH aus. Die nach § 15 Abs. 1 GmbHG veräußerlichen Geschäftsanteile sollen zwar im Falle des § 15 Abs. 2 GmbHG, also bei nachträglicher Vereinigung mehrerer Geschäftsanteile in einer Hand, ihre Selbständigkeit bewahren. Doch ist auch dann unter bestimmten Voraussetzungen die Zusammenlegung (Vereinigung, Verschmelzung) von Geschäftsanteilen zulässig; G. Hueck, GmbHG, § 15 Rn. 18. § 15 Abs. 5 GmbHG erlaubt daher, wie § 68 Abs. 2 AktG, die Abtretung an weitere Voraussetzungen (insbesondere Vinkulierung) zu binden; Hueck, GmbHG, § 15 Rn. 36. Die Zielsetzung der Verhinderung der Mehrheitsposition eines Mitgesellschafters setzt auch hier das mögliche Entstehen einer solchen aus Übertragungen einzelner Geschäftsanteile, die eine solche Position nicht vermitteln, voraus. 131 H. Wiedemann , Übertragung, S. 52. 132 H. Wiedemann , Übertragung, S. 54.
120
Zweiter Teil: Die Konstruktion
Auch dem öffentlichen Recht ist die Vorstellung von Übertragungsvorgängen nicht fremd. Anders als das Privatrecht, das die Abtretung mit Hilfe des Begriffs „übertragen" legaldefiniert (§ 398 BGB), hat es aber eigene Institute entwickelt. Es kennt die Delegation und das Mandat. Κ Triepel bestimmt die Delegation als „den Rechtsakt, durch den der Inhaber einer staatlichen oder gemeindlichen Zuständigkeit, also der Staat, die Gemeinde selbst oder eines der Staats-, der Gemeindeorgane seine Kompetenz ganz oder zum Teil auf ein anderes Subjekt überträgt." 133 W.-R. Schenke zufolge, der sich eng an die Vorarbeiten H. Triepels anlehnt, ist unter der organisationsrechtlichen Institution der öffentlich-rechtlichen Delegation der Rechtsakt zu verstehen, „durch den ein Hoheitsträger oder -organ seine ihm durch das Recht eingeräumte Befugnis zum Erlaß von Hoheitsakten auf ein anderes Subjekt überträgt." 134 Delegation bedeutet danach Kompetenzverschiebung, sie enthält Abschiebung und Zuschiebung einer Zuständigkeit, beruhend auf dem Willen dessen, der an Zuständigkeit verliert. Der Delegierende muß die Zuständigkeit bereits besessen haben; Delegation ist Abschiebung eigener Zuständigkeit. 135 Der Delegatar übt seine vergrößerte Zuständigkeit im eigenen Namen und unter eigener Verantwortlichkeit aus, 136 „nur dass er von dem übertragenen Rechte zu einem bestimmten Zwecke Gebrauch machen muss." 137 Diese - echte 138 - Delegation ist nach Κ Triepel, weil sie die in einem Gemeinwesen durch das objektive Recht verfassungs- oder gesetzmäßig festgesetzte Kompetenzregelung bzw. Zuständigkeitsordnung ändert, Rechtsschöpfung, ein Akt der Rechtsetzung innerhalb ein und derselben Rechtsordnung. 139 Nicht aber stellt sie eine Verfügung über die Kompetenz bzw. Zuständigkeit, eine Zession dar. 140 Auch für W.-R. Schenke besitzt der Rechtsakt bei der gene-
133
H. Triepel, Delegation und Mandat, S. 23. W.-R. Schenke, VerwArch 1977, 120. 135 H. Triepel, Delegation und Mandat, S. 23, 85. 136 H. Triepel, Delegation und Mandat, S. 26. 137 H. Triepel, Delegation und Mandat, S. 27. 138 Zur Abgrenzung von den unechten Delegationen siehe H. Triepel, Delegation und Mandat, S. 51 ff. 139 H. Triepel, Delegation und Mandat, S. 29, 80 f., 88, 92. 140 H. Triepel, Delegation und Mandat, S. 28 f. Dieser Begriffsbestimmung ist von G. Barbey , Rechtsübertragung, widersprochen worden. Er hat aufzuzeigen versucht, daß trotz der ausdrücklichen Leugnung Triepels dieser die echte Delegation als Übertragung von Zuständigkeiten im Sinne einer Zession verstand (S. 53 ff.). Zuständigkeiten seien aber gar nicht übertragbar, weil der dann begriffsnotwendige Wechsel der subjektiven Beziehung identisch ein und derselben Zuständigkeit unmöglich sei (S. 28 ff., 48 ff.). Barbey bestimmt die Delegation als konstitutive Begründung außerordentlicher Kompetenzen bzw. Zuständigkeiten, als erlaubte Regelwidrigkeit, Ausnahme von der Regel 134
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
121
rellen Delegation außenrechtlicher Kompetenzen Rechtssatznatur. 141 Und auch er hält fest, daß bei der öffentlich-rechtlichen Delegation strenggenommen von einer Übertragung nicht die Rede sein kann: Eine Übertragung würde eine Unterscheidung zwischen der Person des Übertragenden und dem Übertragungsobjekt voraussetzen; daran fehle es aber, weil die Kompetenz, die übertragen wird, die Rechtssubjektivität des Deleganten gerade konstituiere. 142 Das Mandat bestimmt H. Triepel, in Abgrenzung zur Delegation, als die Ausübung einer fremden Kompetenz. 143 Während die Delegation eine Kompetenzverschiebung vornimmt, läßt das Mandat die vorhandene Kompetenzregulierung unberührt; das Mandat ist „der Rechtsakt, durch den der Inhaber einer Zuständigkeit einem anderen Subjekt die Vollmacht erteilt, seine, des Mandanten Kompetenz in seinem, des Mandanten Namen auszuüben."144 Dieses - echte 145 - Mandat ist nach H. Triepel ein Rechtsgeschäft, ein Akt, der auf Begründung subjektiver Rechte und Pflichten gerichtet ist. 1 4 6 Auch dieser Begriffsbestimmung hat sich W.-R. Schenke angeschlossen; ihm zufolge grenzt sich das organisationsrechtliche Mandat dadurch von der Delegation ab, daß bei ihm keine formelle Änderung der Kompetenzordnung stattfindet. 147 Von einem Mandat kann gesprochen werden, „wenn der Inhaber einer Zuständigkeit in einem oder mehreren Einzelfällen oder auch abstrakt ein anderes öffentlich-rechtliches Subjekt beauftragt, die Kompetenz des Mandanten in dessen Namen auszuüben."148 Diese den herrschenden Meinungsstand abbildenden Begriffsbestimmungen von delegieren und mandatieren zeigen, daß sie mit den privatrechtlichen Vorstellungen von abtreten bzw. übertragen nicht deckungsgleich sind (Zweckgebundenheit; organisationsrechtlicher Zusammenhang). Das trifft auf das Mandat stärker zu als auf die Delegation, erfaßt aber auch diese. Delegation und
innerhalb der an sich geltenden Zuständigkeitsordnung (S. 64, 67, 77 f.). Die so verstandene Delegation begründe eine neue, zwar regelwidrige, aber gültige Zuständigkeit, bewirke aber nicht notwendig auch den Untergang der Kompetenz des Deleganten (S. 72, 84 ff.). Gegen Barbeys Terminologie W.-R. Schenke, VerwArch 1977, 122, weil sie unüblich sei und sich noch weiter von der ursprünglichen Bedeutung entferne. 141 W.-R. Schenke, VerwArch 1977, 121. 142 W.-R. Schenke, VerwArch 1977, 121 f. 143 H. Triepel, Delegation und Mandat, S. 23. 144 H. Triepel, Delegation und Mandat, S. 26. 145 Siehe zu den einzelnen Abgrenzungen H. Triepel, Delegation und Mandat, S. 131 ff. 146 H. Triepel, Delegation und Mandat, S. 28. 147 W.-R. Schenke, VerwArch 1977, 121. 148 W.-R. Schenke, VerwArch 1977, 148.
122
Zweiter Teil: Die Konstruktion
Mandat vermögen so den mit der juristischen Bearbeitung von Übertragungsvorgängen verbundenen Vorstellungen keine bestimmte Richtung, insbesondere keine von dem privatrechtlichen Verständnis abweichende Richtung zu geben; sie stellen vielmehr eine eigene, vom Begriff „übertragen" emanzipierte Vorstellung zur Verfugung.
5. Zusammenfassung Nach allem kann als Ergebnis der Begriffsanalyse formuliert werden, daß der Begriff „übertragen" in Rechtstexten für einen Vorgang steht, in dem sich die Bezogenheit von etwas auf eine Person ändert. Mittransportiert wird die Vorstellung von Verlust auf der einen, Erwerb auf der anderen Seite der beteiligten Personen; nicht in gleicher Weise trifft dies auf die Vorstellung der Identität des Übertragungsgegenstandes vor und nach der Übertragung zu. Prototyp für eine juristische Vorstellung von „übertragen" ist die Abtretung im Sinne des § 398 BGB.
III. Die Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten 7. Historischer,
genetischer und systematischer Befund
Die Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten läßt sich in zahlreichen historischen Zusammenhängen finden. Die Staatsrechtslehre des Kaiserreichs etwa arbeitete mit ihr, wenn es um die Konstruktion des Bundesstaates ging. So anerkennt A. Hänel in seinen „Studien" (1873) die rechtliche Möglichkeit, daß durch völkerrechtlichen Vertrag „ein einzelnes Hoheitsrecht von Seiten des einen Staates nicht nur zur Ausübung, sondern zu eigenem Rechte an den andern Staat vertragsmässig abgetreten wird, wie dies bei sog. Staatsservituten der Fall sein kann." 1 4 9 Er anerkennt auch, daß sich das so begründete Rechtsverhältnis von dem vertragsmäßigen Entstehungsgrund abzulösen und zu verselbständigen vermag. Für die Bestimmung der Natur des Rechtsverhältnisses seien letztlich die hervortretenden begrifflichen Merkmale entscheidend.150 Diese Grundsätze wendet er an gegen die Auffassung, die Hoheitsrechte stünden dem Deutschen Reich nicht zu eigenem Rechte, sondern nur in der Weise rechtlicher Ableitung und zur Ausübung zu, um so den bundesstaatlichen Charakter des Reichs zu begründen. 151 149 150 151
A. Hänel, Studien I, S. 34. A. Hänel, Studien I, S. 38. A. Hänel, Studien I, S. 52 f.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
123
Fündig w i r d man bei A. Hänel noch einmal in seinem „Staatsrecht" (1892). A u c h hier gerichtet gegen Auffassungen, nach denen die Rechte des Reichs nur die Ausübung der Souveränität der Einzelstaaten darstellten, führt er aus: „Denn die rechtliche Übertragung irgend welcher öffentlichen oder privaten Rechte entscheidet für sich allein schlechterdings nicht, ob diese Rechte in der Hand des Erwerbers nur die Ausübung fremden Rechts werden oder eigenes, von der rechtlichen Innehabung des Übertragenden vollkommen losgelöstes Recht sind. Darüber entscheidet der Inhalt der rechtlich maßgebenden Willensbestimmungen, für das Reich allein seine Verfassung. Diese Reichsverfassung aber spricht die gesamte Kompetenz dem Reiche zur Innehabung und zur Ausübung durch seine Organe weder ausdrücklich noch andeutungsweise in irgend einem anderen Sinne zu, als die Verfassung jedes Einheitsstaates und als die Verfassungen der Einzelstaaten diesen Staaten und ihren Organen ihre Kompetenzen zur Innehabung und zur Ausübung zusprechen." 152 Die Einzelstaaten hätten sonach zwar die durch die Verfassung geforderten Rechte dem Reich übertragen und seien selbst i m Besitz aller dadurch nicht berührten Befugnisse zu demselben Recht geblieben, zu dem sie ihnen bisher zustanden. 1 5 3 D e m Reich aber stehen nunmehr die von den Einzelstaaten übertragenen Rechte als eigene Rechte, bestimmt nur durch die Reichsverfassung, zu. G. Jellinek behandelt i n seiner „Lehre von den Staatenverbindungen" (1882) m i t B l i c k auf die konkrete bundesstaatliche Gestaltung die Frage, wie der Einzelstaat in den Besitz selbständiger staatlicher Macht, d. h. eigener Rechte gelangt, ohne souverän zu sein. „Offenbar nur dadurch, dass sie ihm vom souveränen Staate übertragen werden. Da der souveräne Staat sich selbst beschränken kann, so kann er auch aus der Fülle seiner Competenz einer ihm unterstehenden öffentlich-rechtlichen Corporation staatliche Macht derart zuweisen, dass diese nun Inhaber derselben ist, er kann aus seinen Theilen Subjecte von Herrschaftsrechten schaffen. Derjenige, dem das Herrschaftsrecht übertragen ist, besitzt es nicht als deligirtes, wohl aber als abgeleitetes Recht. Indess, weder die Thatsache, dass ein Recht übertragen, noch dass es eventuell von dem ursprünglichen Eigner zurückgenommen werden kann, hindern nach unseren Ausführungen seinen Charakter als eigenes Recht des Staates, dem es übertragen ist." 1 5 4 Geht G. Jellinek
damit auch konstruktiv anders als A. Hänel vor, so wählt
doch auch er für seine Konstruktion die Vorstellung der Übertragung v o n Rechten. Die Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten stellt G. Jellineks
152 153 154
in
Studie nicht etwa eine Ausnahme dar; gerade seine Untersuchun-
A. Hänel, Staatsrecht, S. 796. A. Hänel, Staatsrecht, S. 799. G. Jellinek, Staaten Verbindungen, S. 44 f.
124
Zweiter Teil: Die Konstruktion
gen zu den Staatenverbindungen zeigen, wie geläufig der Staats- und Völkerrechtslehre seiner Zeit diese Vorstellung war. 1 5 5 Dies erweist sich auch bei einem Blick auf weitere staats- wie völkerrechtliche historische Gebilde, deren Entstehung und Existenz im Zusammenhang mit der Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten standen. So erleben der Begriff der Hoheitsrechte und die Vorstellung ihrer Übertragung eine Renaissance im deutschen Kolonialrecht. Sie spielen insbesondere dann eine Rolle, wenn die Schutzgewalt (d. h. die Staatsgewalt in den Schutzgebieten) nicht durch Okkupation der Gebiete, sondern unter Abschluß von Verträgen erworben wurde, in denen die Häuptlinge ihre Gebiete samt Hoheitsrechten an deutsche Kolonialgesellschafien oder an das Deutsche Reich abtraten und ihnen dann Rechte, namentlich über ihre Bevölkerung, vorbehalten blieben bzw. in denen sie ihre Hoheitsrechte teilweise übertrugen und so die Oberhoheit des Reichs auf ihrem Gebiet anerkannten. 156 Im Ergebnis dieser Verträge konnte eine Abgrenzung zwischen den von den Häuptlingen und den vom Deutschen Reich auszuübenden Hoheitsrechten festgestellt werden; 157 hinter dieser Abgrenzung stand die Vorstellung, die die vertragliche Übertragung von Hoheitsrechten als Abtretung versteht. 158 Auch für die Eigenart der Fortexistenz übertragener Hoheitsrechte auf Seiten des Empfängers bietet das deutsche Kolonialrecht Anschauungsmaterial. Denn auch wenn dem Deutschen Reich vertraglich nur einzelne Hoheitsrechte übertragen worden waren, erlangte dieses im weiteren die allumfassende Schutzgewalt über die erworbenen Gebiete. 159 F. Schach hat versucht, eine Begründung für diese Entstehung umfassender Schutzgewalt unter Aufrechterhaltung der Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten zu leisten:
155
Siehe nur G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 20, 47, 53 f., 141, 148, 176 f., 200,
296. 156
Zu diesem „Modus der Okkupation" P. Laband, Staatsrecht II, S. 266 ff., 282 f. Ρ. Laband., Staatsrecht II, S. 272. 158 Dazu P. Laband, Staatsrecht II, S. 283 (Anm. 2). Zur Berechtigung der Verwendung des Begriffs der Hoheitsrechte - den Laband, a.a.O., als „die einzelnen, in der Staatsgewalt enthaltenen Befugnisse" bestimmt - für die Rechte der Häuptlinge, heißt es bei ihm: „Ob man nun diese Rechte als »staatliche4 bezeichnet oder nicht, ist ein Wortstreit; jedenfalls haben sie den Charakter von öffentlichen Herrschaftsrechten" (S. 283). - Dieser Begriff unterscheidet sich insofern von dem oben verwendeten, als dort von der notwendigen Verbindung Staat - Staatsgewalt - Hoheitsrechte für die Lehre vom modernen Staat ausgegangen wurde; diese Verbindung fehlt im Zusammenhang des Kolonialrechts auf der Seite der kolonialisierten staatenartigen Gemeinschaften („Hoheitsrechte ohne Staatsgewalt"). 159 Dazu P. Laband, Staatsrecht II, S. 280 f.; G. Meyer, Schutzgebiete, S. 84 ff., 108 f. (Anm. 1), 166 f.; H. Triepel, Reichsaufsicht, S. 329 ff. 157
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
125
„Die Übertragung einzelner Hoheitsrechte erzeugt selbstverständlich nicht die Existenz der ganzen Staatsgewalt in der Hand des Erwerbers. Wenn nur einzelne Hoheitsrechte im Vertragswege übertragen werden, so werden auch nur diese erworben. Übt trotzdem der erwerbende Kolonialstaat über die Gebiete eine volle Staatsgewalt aus, so handelt es sich um eine einseitige Konsolidierung jener abgetretenen Hoheitsrechte zur Staatsgewalt. (Selbstverständlich wird dadurch der derivative Erwerb der einzelnen Hoheitsrechte nicht berührt.) Wir sehen denn auch in der Praxis der Kolonialstaaten, daß diese vielfach bei der Abtretung von Hoheitsrechten ein Protektorat, eine Schutzgewalt übernehmen, ein Verhältnis, in welchem sie sich zunächst auf die Ausübung einzelner Hoheitsrechte beschränken und erst nach und nach mit der Errichtung der vollen Staatsgewalt beginnen, welche dann keineswegs ihrem vollen Umfange nach als derivativ erworben gelten kann." 1 6 0
Neben dem Bereich des Bundesstaates und des deutschen Kolonialrechts finden sich weitere historische Felder, die nach ihren rechtlichen Strukturen im Zusammenhang mit der Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten standen. Es sind dies die den Deutschen Bund verfassenden Verträge, die den Zollverein begründenden und ausgestaltenden Verträge und die den europäischen Flußkommissionen zugrundeliegenden Verträge. Die Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820, ergangen zur näheren Ausgestaltung der durch die Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 geregelten deutschen Bundesverhältnisse, bestimmte in ihrem Art. 6: „Eine freiwillige Abtretung auf einem Bundes-Gebiete haftender SouverainetätsRechte kann ohne solche Zustimmung (der Gesamtheit der Bundesglieder; T. F.) nur zu Gunsten eines Mitverbündeten geschehen."161
Doch nicht nur diese Regelung eines Falles der Übertragung von Hoheitsrechten stellt die Verfassung des Deutschen Bundes in einen Zusammenhang mit der Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten, sondern auch die Entstehung und Ausgestaltung dieser Verfassung an sich. Der Deutsche Bund war eine zwischenstaatliche, auf völkerrechtlichen Verträgen beruhende Einrichtung. 162 Und obgleich diese Verträge entscheidenden Wert auf die Souveränität der deutschen Einzelstaaten legten, bildeten sie, weil zwischenstaatliche Einrichtungen organisierter Formen der Willensbildung bedürfen, eine Verfassung, deren Strukturelemente weitgehend denen staatlicher Verfassungen entsprachen. Sie setzten die Bundesversammlung sowie das Plenum und einen Engeren Rat als deren Unterformen ein, grenzten deren Zuständigkeiten ab und normierten die Fälle, in denen die einfache Mehrheit zur Beschlußfassung ge-
160
F. Schack, Kolonialrecht, S. 125. Zitiert nach E. R. Huber, Dokumente I, S. 92. 162 Dazu und zum folgenden E. Kaufmann, Übertragung, S. 409 ff.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 583 ff. 161
126
Zweiter Teil: Die Konstruktion
nügte oder eine qualifizierte Mehrheit oder Einstimmigkeit erforderlich war. Sie setzten dem Bund den Zweck der Erhaltung der äußeren wie der inneren Sicherheit Deutschlands und statteten ihn zur Zweckverfolgung mit weitgehenden Befugnissen aus. Beschlüsse des Bundes banden die Mitgliedstaaten unmittelbar. Dies alles erinnert an die Entstehung und Ausgestaltung auch der Europäischen Gemeinschaften. Ähnliches gilt für die Zollvereinsverträge von 1833 und den Zollvereinsvertrag vom 8. Juli 1867. 163 Auch beim Zollverein handelte es sich um eine zwischenstaatliche, auf völkerrechtlichen Verträgen beruhende Einrichtung. Beratendes und beschließendes Organ des Deutschen Zollvereins nach den Verträgen von 1833 war die Generalkonferenz, die den Charakter eines Gesandtenkongresses hatte. Zur Wirksamkeit eines Beschlusses bedurfte es der Einstimmigkeit. Die Beschlüsse besaßen die Kraft vereinbarter Gesetze (leges conventionales); sie schufen Gesetze des Zollvereins, nicht gleichlautende Gesetze der Einzelstaaten. Um in Kraft zu treten, bedurften sie nicht mehr der Ratifikation, sondern nur noch der Ausfertigung und Verkündung durch die einzelstaatlichen Regierungen. Die Zollvereinsgesetze waren so Recht einer „supraterritorialen Staatenverbindung" und standen im Rang über den Landesgesetzen: „Zollvereinsrecht brach Landesrecht". 164 Rechtsgrundlage dieser Selbstbeschränkung der Landesgesetzgebungskompetenz war die Ratifikation der Zollvereinsverträge. „ M i t dem Beitritt zum Zollverein war somit die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine ,zwischenstaatliche Einrichtung 4 verbunden. 44165
Diese staatenbündische Struktur erfuhr im Rahmen des erneuerten Zollvereins von 1867 eine bundesstaatliche Ausprägung. 166 Der Zollverein besaß nun Zollbundesrat, Zollparlament und Zollpräsidium. Die Mitgliedstaaten verloren 163
Siehe zu ihnen E. Kaufmann, Übertragung, S. 409 ff.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 292 ff., Verfassungsgeschichte III, S. 615 ff. 164 E. R Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 295. 165 E. R Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 295, der in Anm. 10 ausdrücklich auf Art. 24 Abs. 1 GG hinweist. 166 Zum Übergang vom Zoll-Staatenbund zum Zoll-Bundesstaat siehe E. R. Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 632 ff. Bei Ρ. Laband, Staatsrecht IV, S. 385, heißt es dazu: „Der deutsche Zollverein war nicht nur ein kräftiges Band, welches die Mehrzahl der deutschen Staaten in der Zeit, als sie souverän waren, zusammenhielt; er war nicht nur in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht eine Vorstufe, von der aus die staatliche Neugliederung Deutschlands angebahnt wurde, sondern die in dem Zollverein ausgebildeten Einrichtungen wurden auch zum großen Teil in die Bundesverfassung herübergenommen und bilden teilweise noch jetzt einen Bestandteil des Reichsstaatsrechts. Die Geschichte des Zollvereins kann man mit Recht als die Vorgeschichte des Deutschen Reiches bezeichnen."
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
127
ihr Vetorecht; sie waren den Mehrheitsbeschlüssen des Zollbundesrats („als gemeinschaftliches Organ der Regierungen") und des Zollparlaments („als gemeinschaftliches Organ der Bevölkerungen") unterworfen. Die Gesetze des Zollvereins waren unmittelbar anwendbar, d. h. sie wirkten ohne Ratifikation und Transformation in den Mitgliedstaaten. „Die Zollvereinigungsgemeinschaft von 1867 war demnach bereits eine supranationale Gemeinschaft im heutigen Sprachgebrauch." 167 Deutscher Bund wie Zollverein haben E. Kaufmann, gerade im B l i c k auf den Art. 24 Abs. 1 GG, 1953 zu der Bemerkung veranlaßt: „Es ist also nicht zutreffend, daß Übertragungen von umfassenden Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen früher nicht vorgekommen seien und daß solche Übertragungen mit dem überkommenen Souveränitätsbegriffe nicht vereinbar seien. ... Die Verträge, die Deutschen Bund und Zollvereinigung begründeten, sind von den beteiligten Staaten geschlossen worden, ohne daß ihre Verfassungen eine Bestimmung nach Art des Art. 24 vorgesehen hatten. Art. 24 gibt der Bundesrepublik das Recht, und legt ihr im Zusammenhang mit der Präambel die Pflicht auf, durch Übertragung von Hoheitsrechten und durch Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit ein vereintes Europa zu schaffen. Alles was diesem Zwecke dient, ist durch Art. 24 gedeckt. Daß der Souveränitätsbegriff dem nicht entgegensteht, zeigt die deutsche Verfassungsgeschichte; es ist nur ein überspitzter und falscher Souveränitätsbegriff, der Schwierigkeiten bereiten könnte." 168 Ein letztes Beispiel für historische Gebilde, die mit der Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten in Zusammenhang gebracht werden können, sollen die Befugnisse der durch völkerrechtliche Verträge begründeten europäischen Flußkommissionen bilden. So besaß die Europäische Donaukommission von 1856 unmittelbare Befehlsgewalt gegenüber dem einzelnen; sie hatte zur Sicherung und Verbesserung der Flußschiffahrt und der Hafenverhältnisse in den teilnehmenden Uferstaaten weitgehende Gesetzgebungs-,
Verwaltungs-
und Rechtsprechungsbefugnisse, konnte diese in einigen materiellen Fragen mit Stimmenmehrheit ausüben und wurde daher auch als „Flußstaat" bezeichnet. 1 6 9 Demgegenüber übt die Berufungskammer der Zentralkommission nach der Mannheimer Revidierten Rheinschiffahrtsakte vom 17. Oktober 1868 lediglich eine fakultative Rechtsprechung zweiter Instanz aus. Doch sie kann gegen Entscheidungen nationaler Gerichte der Rheinuferstaaten angerufen werden und ist berechtigt, Urteile der nationalen Rheinschiffahrtsgerichte mit bindender W i r kung für die Parteien aufzuheben oder zu ändern.
167
E. Kaufmann, Übertragung, S. 411. E. Kaufmann, Übertragung, S. 409, 411 f. 169 G. Erler, VVDStRL 1960, S. 13; zur Europäischen Donaukommission l SeidlHohenveldern, Wörterbuch I, S. 393 ff; G. Roth, AVR 1963/1964, 172 ff. 168
128
Zweiter Teil: Die Konstruktion
„ I m Hinblick auf diese Durchgriffswirkung ist die Berufungskammer als eine zwischenstaatliche Einrichtung mit übertragenen Hoheitsrechten einzustufen." 170
Diese Geläufigkeit der Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten in der deutschen Staats- und Völkerrechtslehre und die Vielzahl einschlägiger konkreter historischer Gebilde lassen es nicht verwunderlich erscheinen, daß C. Schmid (SPD), vormals Referent am Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Berlin, dem Herrenchiemseekonvent als Verfahren zur internationalen Einbindung Deutschlands gerade die „Übertragung von Hoheitsrechten" vorschlug. Bedeutung wie Tragweite dieses Vorschlags wurden von den Beteiligten klar erkannt; dies vermag auch zu erklären, warum weder der Begriff der Hoheitsrechte noch der der Übertragung Gegenstand der Diskussion gewesen sind. C. Schmid selbst wies als intendierte Anwendungsfälle auf übernationale Einrichtungen wie die UNO hin, „so etwas wie die" Benelux-Staaten oder eine entnationalisierte Gemeinschaftsverwaltung der europäischen Bodenschätze durch eine übernationale Administration, die völlig aus dem Staatlichen herausgehoben wird und neben dem Staate steht. Rechtsfolge der Übertragung von Hoheitsrechten sei der Eintritt in ein System von Rechtsbeziehungen, das auch die Unterwerfung unter den Beschluß bestimmter Organe vorsieht, also insofern die eigene Handlungsfreiheit von vornherein wegnimmt. 171 Im Bericht des Unterausschusses I auf der 9. Plenarsitzung des Verfassungskonvents heißt es dazu: „Man denkt hierbei vor allem an die Möglichkeit, daß der Bund Deutscher Länder sich etwa in eine europäische oder auch übereuropäische Staatengemeinschaft oder in sonstige überstaatliche Zweckverbände eingliedert, wobei die Eingliederung voraussetzt, daß gewisse Souveränitätsrechte auf diese zwischenstaatlichen Einrichtungen übertragen werden." 172
Und im Abschlußbericht des Verfassungskonvents wird ausgeführt: „Das Grundgesetz soll femer vorsehen, daß der Bund durch ein mit qualifizierter Mehrheit ergangenes Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen kann. Dadurch soll die Schaffung internationaler Organe erleichtert werden, die etwa geschaffen werden sollten, um mit Wirkung für die Gebiete der betei-
170
A. Randelzhofer, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 185; zur Mannheimer Akte U. Scheuner, Wörterbuch III, S. 117 ff.; G. Roth, AVR 1963/1964, 180 ff. 171 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, Unterausschuß I: Grundsatzfragen, 2. Sitzung vom 18. August 1948, StenProt. S. 57 ff. 172 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 9. Plenarsitzung vom 21. August 1948 (5. Sitzungstag); in: Rat II, S. 353.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
129
ligten Staaten Angelegenheiten zu besorgen, die bisher ausschließlich den verschiedenen nationalen Souveränitäten überlassen waren." 173
Der Parlamentarische Rat machte diese Vorarbeiten mit dem „Entwurf Eberhard" zum Gegenstand auch seiner Beratungen; 174 als mögliche Anwendungsfälle einer Übertragung von Hoheitsrechten wurden auf der 12. Sitzung des Grundsatzausschusses genannt: Schaffung einer internationalen Behörde, die den gesamten Kohlenbergbau europäisch zu organisieren hätte; eine International Power Agency, in der die gesamte Lastverteilung von elektrischem Strom durch eine internationale Behörde ausgeübt würde; eine internationale Flugverkehrsorganisation. 175 Die Enquéte-Kommissionen Verfassungsreform des Deutschen Bundestages wie auch die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat hielten mit dem Unangetastetlassen bzw. der unveränderten Übernahme des Wortlauts auch die durch ihn transportierte Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten aufrecht. Die Enquéte-Kommissionen kamen zwar zu dem Ergebnis, daß der Text des Art. 24 Abs. 1 GG „Unsauberkeiten" enthalte, weil er der tatsächlichen Praxis und den international üblichen Gewohnheiten nicht immer entspreche, 176 trotzdem hielten sie eine Änderung nicht für erforderlich, da Unzuträglichkeiten und unzumutbare Beschränkungen in der politischen Handhabung nicht festzustellen waren. 177
173
Verfassungsausschuß der Ministerpräsidentenkonferenz der westlichen Besatzungszonen, Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, B) Darstellender Teil; in: Rat II, S. 517. Siehe auch aus dem mündlichen Bericht an die Ministerpräsidentenkonferenz: „... wir haben eine Bestimmung vorgeschlagen, die die Möglichkeit schaffen soll, daß der Bund sich in zwischenstaatliche Vereinbarungen mit anderen Ländern einordnet, also Souveränitätsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen könne. Dabei ist an Staatenverbindungen gedacht, wie etwa eine europäische Union oder ähnliches ..."; in: Rat I, S. 384. 174 Parlamentarischer Rat, Ausschuß für Grundsatzfragen, Drucks. Nr. 188; in: Rat V, S. 315 f. (Anm. 10). 175 Parlamentarischer Rat, Ausschuß für Grundsatzfragen, 12. Sitzung vom 15. Oktober 1948, StenProt. S. 18 ff.; in: Rat V, S. 324 f. 176 „Einmal wird eine zwischenstaatliche Einrichtung nicht unmittelbar ,durch Gesetz', sondern durch den Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages geschaffen, der entweder durch ein Gesetz gebilligt oder auf Grund einer gesetzlichen Ermächtigung ermöglicht wird. ... Zum anderen erweckt Art. 24 Abs. 1 GG den Eindruck, zwischenstaatliche Einrichtungen könnten nur diejenigen Hoheitsrechte besitzen, die ihnen von den vertragschließenden Staaten übertragen werden. Zwischenstaatliche Einrichtungen können aber auch originäre Befugnisse haben"; Zur Sache 2/77, 233. 177 Zur Sache 1/73, 58 ff.; Zur Sache 2/77, 233 ff. 9 Flint
130
Zweiter Teil: Die Konstruktion
Die Gemeinsame Verfassungskommission sah ihre Aufgabe von vornherein nicht in der Entwicklung einer die Übertragung von Hoheitsrechten ablösenden Vorstellung, sondern in der Beantwortung der Fragen, ob „die fortschreitende Integration, die durch die Übertragung immer weiterer Hoheitsrechte von den Nationalstaaten auf die Europäischen Gemeinschaften gekennzeichnet ist, noch mit dem Grundgesetz, insbesondere seinem Artikel 24, vereinbar" ist und wo die Integrationsgrenzen liegen. 178 In Beantwortung dieser Fragen hielt die Kommission eine Verfassungsänderung für erforderlich, die die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union tragen sollte und die mit der Einfügung des neuen Art. 23 GG erfolgt ist. 179 Sie bediente sich dafür der Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten, die bereits Art. 24 Abs. 1 GG enthielt; dieser sei „eine Regelung von hinreichender Offenheit". 180 Material für die Aufhellung der Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten ergibt sich neben dem historischen und genetischen Befund auch aus der Systematik innerhalb der Art. 23 und 24 GG. Der Art. 24 Abs. 1 GG bestimmt: „Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen". Diese Bestimmung ist in sich systematisch eindeutig, indem sie widerspruchsfrei festlegt: Wer kann wie zugunsten von wem was tun? Der Art. 24 Abs. 2 GG bestimmt: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern". Auch Art. 24 Abs. 2 GG formuliert also strukturgleich nach dem Muster: Wer kann zugunsten von wem was tun? Diese Strukturgleichheit verdeutlicht nachstehende Übersicht. Art. 24 Abs. 1 GG:
STRUKTUR:
Art. 24 Abs. 2 GG:
Der Bund
WER
Der Bund
kann
KANN
kann sich...
auf zwischenstaatliche Einrichtungen
ZUGUNSTEN VON WEM
einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit
Hoheitsrechte übertragen.
WAS TUN?
einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die...
178
Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucks. 12/6000, S. 19. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucks. 12/6000, S. 19; K. Schmalenbach, Europaartikel, S. 32 ff. 180 R. Bieber, Gemeinsame Verfassungskommission, 1. Öffentliche Anhörung vom 22. Mai 1992, Stenographischer Bericht, S. 4. 179
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
131
Aber die Formulierung des Art. 24 Abs. 2 GG weist auch Unterschiede zu Abs. 1 auf. Zum einen soll der Bund Hoheitsrechte nicht „übertragen", sondern „in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen" können. Zum anderen sind nähere Festlegungen zum Zweck, Ausmaß und Entscheidungsspielraum dieser Einwilligungsermächtigung getroffen: Sie darf nur zur Wahrung des Friedens in Anspruch genommen werden und muß dem Umfang nach auf die Hoheitsrechtsbeschränkungen begrenzt bleiben, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeizuführen und zu sichern vermögen. Dann aber „wird" der Bund in diese Beschränkungen im Zuge der Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einwilligen. Zwei weitere Unterschiede lassen sich bei einer Gegenüberstellung von Art. 24 Abs. 1 und Abs. 2 GG erkennen. Art. 24 Abs. 2 GG schweigt darüber, wie die Einwilligung in Hoheitsrechtsbeschränkungen zu erfolgen hat; Abs. 1 aber legt für die Hoheitsrechtsübertragungen „durch Gesetz" fest. Und in Art. 24 Abs. 2 GG heißt es, der Bund werde in die Beschränkungen „seiner" Hoheitsrechte einwilligen; in Abs. 1 fehlt es an einer entsprechenden näheren Bestimmung. Was läßt sich aus diesen, aus der systematischen Zusammenschau beider Normtexte gewonnenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede für eine Auslegung des Art. 24 Abs. 1 GG ziehen? Diese Zusammenschau ergibt, daß nach Wortlaut und Systematik die Vorschrift des Art. 24 Abs. 1 GG dem Bund die umfassendere Ermächtigungsgrundlage bietet: Die „Übertragung von Hoheitsrechten" ist offensichtlich die gegenüber der „Einwilligung in Beschränkungen von Hoheitsrechten" weitergehende Ermächtigung. Das heißt, daß nach Wortlaut und Systematik Art. 24 Abs. 1 GG nicht lediglich die Ermächtigung für die Einwilligung des Bundes in Beschränkungen seiner Hoheitsrechte erteilt, sondern vielmehr weitergehende Hoheitsrechtsverfügungen zuläßt. Mit der „Übertragung" von Hoheitsrechten ist nicht nur die „Beschränkung" von Hoheitsrechten vereinbar (was sich unter Wortlautgesichtspunkten mit der „conferTheorie verbinden ließe), sondern auch die Abtretung von Hoheitsrechten (was sich mit der „transfer"-Theorie trifft). Schärfer formuliert kann aus dem grammatischen und systematischen Vergleich von Art. 24 Abs. 1 und Abs. 2 GG der Schluß gezogen werden, daß in Abs. 1 als der weitergehenden Vorschrift die Abtretung von Hoheitsrechten ausdrücklich zugelassen, in Abs. 2 als der engeren Vorschrift dagegen ausdrücklich ausgeschlossen worden ist. Einer anderen Struktur als Abs. 1 und 2 folgt die Bestimmung des Art. 24 Abs. 3 GG: „Zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten wird der Bund Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten". Sachlich geht es zwar auch in ihr um einen Eingriff in die autarke Ausübung staatlicher Hoheitsrechte, doch für die hier vorzunehmende Untersuchung der in der Übertragungsermächtigung des
132
Zweiter Teil: Die Konstruktion
Art. 24 Abs. 1 GG angesprochenen Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten gibt ein systematischer Vergleich mit ihr nichts her. Der Art. 23 Abs. 1 GG bestimmt: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europa wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen und Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3". Der auf Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG isolierte Blick zeigt, daß die in ihm enthaltene Übertragungsermächtigung der schon zu Art. 24 Abs. 1 und Abs. 2 GG herausgearbeiteten Struktur folgt: Wer kann zugunsten von wem was tun? Dies verdeutlicht auch hier nachstehende Übersicht. STRUKTUR:
Art. 23 Abs. 1 Satz 2:
WER
Der Bund
KANN
kann
ZUGUNSTEN V O N WEM
hierzu (Bezug auf Satz 1 : Europäische Union)
WAS TUN?
Hoheitsrechte übertragen.
Darüber hinaus ist Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG mit der Übertragungsermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG strukturell vollständig deckungsgleich, indem er wie diese eine Bestimmung darüber enthält, wie die Hoheitsrechtsübertragung zu erfolgen hat, nämlich „durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates". Da zudem in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG auch dieselbe grammatische Formulierung gewählt worden ist, wie sie Art. 24 Abs. 1 GG enthält, spricht die grammatische und systematische Zusammenschau beider Vorschriften für ihre inhaltlich analoge Auslegung. Ihr zufolge ermächtigt Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG dann den Bund zur Übertragung von Hoheitsrechten, d. h. zur Abtretung von Hoheitsrechten an die Europäische Union. Doch gilt es auch die grammatischen und systematischen Unterschiede zu erfassen und zu verwerten. So ist zunächst die Formulierung des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG insoweit umfänglicher, als sie für das Verfahren der Übertragung von Hoheitsrechten nicht nur „durch Gesetz" (so Art. 24 Abs. 1 GG), sondern „durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates" bestimmt. Insbesondere aber
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
133
ist Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG in Abs. 1 wie in Art. 23 GG insgesamt in einen systematischen Zusammenhang gestellt, der sich bei Art. 24 Abs. 1 GG nicht finden läßt. Wortlaut und systematische Struktur des Art. 23 Abs. 1 GG lassen die Übertragungsermächtigung des Satzes 2 ausschließlich auf die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union bezogen sein, denn zur Mitwirkung Deutschlands bei ihrer Entwicklung bekennt und verhält sich Satz l 1 8 1 und „hierzu" erteilt Satz 2 dem Bund die Übertragungsermächtigung. Doch geht die Formulierung des Satzes 1 noch weiter: Nicht nur wird in ihr als Empfänger zu übertragender Hoheitsrechte die Europäische Union festgeschrieben, sondern es wird dieser Empfänger auch strukturell näher bestimmt. Hoheitsrechte können danach nur auf eine Europäische Union übertragen werden, „die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet". 182 Dies kann nur so verstanden werden, daß auf eine Europäische Union, die diesen näheren Bestimmungen nicht entspricht, auch keine Hoheitsrechte übertragen werden dürfen. Denn zwar heißt es in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG, daß die Bundesrepublik Deutschland „bei der Entwicklung der Europäischen Union" mitwirkt, „die" den genannten Anforderungen entspricht. Doch meint dies nicht die Erklärung zur Mitwirkung bei einer Entwicklung, die zur Erfüllung der Anforderungen führt, sondern die Erklärung zur Mitwirkung bei der Entwicklung der Europäischen Union, die diesen Anforderungen entspricht; „die" bezieht sich auf „Europäische Union", nicht auf „Entwicklung". 183 Während Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG den Empfänger zu übertragender Hoheitsrechte näher qualifiziert, bestimmt Satz 3, welchen verfassungsrechtlichen Vorgaben Hoheitsrechtsübertragungen zu genügen haben. 184 Die Abs. 2-7 des Art. 23 GG enthalten zudem einen abgestuften Katalog von Beteiligungsrech-
181
Sog. Integrationsöffiiungsklausel; vgl. R. Scholz, NJW 1992, 2597. Sog. Struktursicherungsklausel; vgl. R. Scholz, NJW 1992, 2597. 183 So auch R. Scholz, NJW 1992, 2598; W. Fischer, ZParl 1993, 38; R. Breuer, N V w Z 1994, 421; O. Rojahn, vM/K, GG, Art. 23 Rn. 18; H. D. Jarass, J/P, GG, Art. 23 Rn. 7, 24. Demgegenüber will U. Everling, DVB1. 1993, 943 f , zwischen Satz 1 und Satz 3 des Art. 23 Abs. 1 GG unterscheiden: „Offenbar muß der Begriff Union in dem Absatz unterschiedlich verstanden werden, und zwar in Satz 3 als Beginn einer prozeßhaften Entwicklung und in Satz 1 als das angestrebte, irgendwann zu erreichende Endstadium, auf das alle künftigen Vertragsänderungen ausgerichtet werden sollen." 184 Sog. Verfassungsbestandsklausel; vgl. R. Breuer, NVwZ 1994, 422. 182
134
Zweiter Teil: Die Konstruktion
ten des Bundestags185 und der Länder, vermittelt durch den Bundesrat, 186 in Angelegenheiten der Europäischen Union. Damit sind trotz Strukturgleichheit und nahezu identischem Wortlaut durch die besondere systematische Einbindung des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG in den Anwendungsvoraussetzungen von einerseits Art. 24 Abs. 1 GG und andererseits Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG entscheidende Unterschiede zu verzeichnen. Zusammengefaßt: Die Übertragungsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG besitzt gegenüber Art. 24 Abs. 1 GG einen sachlich beschränkten Anwendungsbereich und sie ist in ihrer Ausübung positiv-verfassungsrechtlichen Anforderungen unterworfen. Auch die Bestimmungen des Art. 24 Abs. 1 a GG 1 8 7 und des Art. 88 Satz 2 GG 1 8 8 sind - wie die Neufassung des Art. 23 GG - durch das 38. Änderungsgesetz vom 21. Dezember 1992 dem Grundgesetz eingefügt worden. Sie fügen sich als Spezialfälle mit ihrem eingeschränkten Anwendungsbereich in die dargestellte Struktur ein; insbesondere halten sie an der Vorstellung einer Übertragung fest. Entscheidend für die vorliegende Untersuchung ist damit die Abgrenzung zwischen Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG dient als Ermächtigungsgrundlage für alle Hoheitsrechtsübertragungen, die auf Einrichtungen der Europäischen Union erfolgen; demgegenüber verbleiben der Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG alle übrigen zwischenstaatlichen Einrichtungen als Anwendungsbereich. 189 Von Bedeutung bleibt Art. 24 Abs. 1 GG auch insofern, als er die fortwirkende Ermächtigungsgrundlage für alle vor Einfügung des Art. 23 GG erfolgten Hoheitsrechtsübertragungen auf die drei Europäischen Gemeinschaften abgibt. Für den Anwendungsbereich der Ermächtigung des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthalten die weiteren Bestimmungen des Art. 23 GG ausführliche Anweisungen bezüglich der Ausübungsschranken und der erforderlichen Mehrheiten und Beteiligungs-
185
Dazu F. Möller / M. Limpert, ZParl 1993, 21 ff.; M. Brenner, ThürVBl. 1993, 196 ff.; R. Kabel, GS Grabitz 1995, S. 241 ff. 186 Dazu P. Lerche, FS Schambeck 1994, S. 753 ff.; V. Neßler, EuR 1994, 216 ff.; C. Schede, Bundesrat und Europäische Union; G.-B. Oschatz / H. Risse, DÖV 1995, 437 ff.; P. Kunig, FS Heymanns Verlag 1995, S. 591 ff.; M. Meißner, Bundesländer, S. 242 ff.; M Paul, Mitwirkung; H.-P. Donoth, Bundesländer; R. Lang, Mitwirkungsrechte. 187 Bearbeitungen des Art. 24 Abs. 1 a GG finden sich bei U. Beyerlin, ZaöRV 1994, 587 ff.; Grotefels, DVB1. 1994, 785 ff.; Κ Rennert, FS Böckenförde 1995, S. 199 ff.; J. Schwarze, FS Benda 1995, S. 311 ff.; ausführlich Λ. Beck, Übertragung. 188 Siehe D. Janzen, Art. 88 Satz 2 GG. 189 Siehe dazu A. Randelzhofer, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 174 f f , 194; R Scholz, M/D, GG, Art. 23 Rn. 47.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
135
verfahren. Art. 24 Abs. 1 GG aber ist unverändert geblieben, enthält also weiterhin nur die Übertragungsermächtigung selbst. Zwar sind die weiteren, in Art. 23 GG enthaltenen Bestimmungen allesamt den Erfahrungen aus dem Umgang mit Art. 24 Abs. 1 GG entsprungen, doch da sie in Art. 24 Abs. 1 GG keine Erwähnung gefunden haben, werden sie in dessen Anwendungsbereich jedenfalls aus grammatischen Gründen und aus Gründen des zwischen beiden Ermächtigungen bestehenden systematischen Zusammenhangs keine Geltung beanspruchen können. 190 Als entscheidende Erkenntnis der bisherigen Untersuchung der Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten läßt sich formulieren, daß diese Vorstellung historisch überkommen ist, sie als überkommene Vorstellung vom Verfassunggeber rezipiert worden ist und auch der verfassungsändernde Gesetzgeber an ihr jedenfalls unter grammatischen und systematischen Gesichtspunkten festgehalten hat.
2. Der eigene Zugriff Den Abschluß der Formulierung einer Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten bildet ein eigener Zugriff, der auf die Ergebnisse zum Begriff „Hoheitsrechte" und zum Begriff „übertragen" sowie auf den historischen, genetischen und systematischen Befund zur Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten aufbauen kann. Mit ihm gilt es, der anschließenden dogmatischen Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten eine Vorstellung zur Verfügung zu stellen, die sich vor dem Problembereich der Staatsgewalt und Souveränität sowie vor Art. 79 GG halten läßt. Die nach den bisherigen Ergebnissen zu formulierende Vorstellung lautet schlicht: Unter Übertragung von Hoheitsrechten ist die Übertragung von Hoheitsrechten, d. h. ihre Abtretung zu verstehen. Wenn der Staat Bundesrepublik Deutschland aber Hoheitsrechte, d. h. Bestandteile seiner Staatsgewalt abtritt, ist offensichtlich die Souveränität berührt. 191 Souveränität ist eine Eigenschaft der Staatsgewalt und läßt sich in einer Innen- und einer Außenperspektive beschreiben; nach innen als Kompetenz-Kompetenz, d. h. die Fähigkeit, die Reichweite der eigenen Kompetenz selbst bestimmen zu dürfen, nach außen als
190
So auch R. Scholz, NJW 1992, 2597. Exemplarisch K. Doehring, FS Forsthoff 1967, S. 121; F. Ermacora, Staatslehre, S. 363 ff.; G. Ress, Souveränitätsverständnis, S. 11 f f , und die weiteren von Ress a.a.O. herausgegebenen Beiträge; A. Schmitt Glaeser, Elemente, S. 32 ff. Für die politikwissenschaftliche Perspektive siehe M. Lemmens, Souveränität, S. 35 f f , 94 f f , 106 f f , 168 ff. 191
136
Zweiter Teil: Die Konstruktion
Völkerrechtsunmittelbarkeit, d. h. die Tatsache, nur dem Völkerrecht und nicht auch einer anderen staatlichen Rechtsordnung ein- bzw. untergeordnet zu •
192
sein. Spricht nun diese Berührung der Souveränität dafür, daß sich die Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne ihrer Abtretung nicht durchhalten läßt? Läßt sich - mit anderen Worten - das Verständnis der herrschenden Meinung vom Übertragungsvorgang als Referenz an die Vorstellung von Staatsgewalt sowie an das Souveränitätsprinzip verstehen? Dem wäre so, wenn entweder schon der Begriff der potentiell allumfassenden Staatsgewalt eine Abtretung von Teilen derselben an einen außerstaatlichen Träger ausschlösse oder aber wenigstens das Souveränitätsprinzip einen solchen, nicht vom Begriff der Staatsgewalt selbst schon ausgeschlossenen Vorgang, verhinderte. Dies ist - in verschiedensten Nuancierungen - immer wieder behauptet worden. So findet sich bei H. Krüger der Satz, daß Art. 24 GG keine Ausnahme von der Unveräußerlichkeit von Hoheitsrechten begründe, da sie bereits ihrer Natur nach unveräußerlich seien. 193 Ebenso ist für N. Lorenz „ein Herausbrechen einzelner Teile der Hoheitsgewalt mit dem Konzept der Einheitlichkeit der Staatsgewalt unvereinbar." 194 Und auch Κ. T. Rauser führt aus, daß die potentielle Allzuständigkeit des Übertragungsstaates auf der Aufgabenseite bestehen bleibe müsse. 195 Näheres Hinsehen zeigt aber, daß diese Behauptungen bei einer Erfassung der Zusammenhänge der Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten mit dem Problembereich der Staatsgewalt und Souveränität ihre Überzeugungskraft verlieren. Entsprechende Erwägungen haben davon auszugehen, daß Folgerungen für positiv-verfassungsrechtliche Vorschriften - wie Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG - nicht vorrangig aus den Begriffen der Staatslehre abgeleitet werden dürfen, sondern sich zu allererst aus dem Verfassungsrecht, dem Recht des verfaßten Staates selbst ergeben müssen. Begriffe und Erkenntnisse der Staatslehre können und müssen dabei zwar herangezogen werden, vermögen aber ein Datum des positiven Verfassungsrechts allein nicht
192
Siehe nur F. Ermacora, Staatslehre, S. 356 f f , 371 ff.; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 58 f , 507; A. Randelzhofer, HdbStR I, S. 692 f , 700; C Chapuis, Übertragung, S. 57 f. Zur Relevanz des Souveränitätsproblems für die Wissenschaft vom öffentlichen Recht M Baldus, Staat 1997, 381 f f , der auch zur Frage nach der Souveränität im Prozeß der europäischen Integration Stellung nimmt. 193 H. Krüger, DÖV 1959, 724. 194 N. Lorenz, Übertragung, S. 85. 195 Κ T. Rauser, Übertragung, S. 33; in diese Richtung auch A. Beck, Übertragung, S. 79 f.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
137
aufzuheben. 196 Das geltende Verfassungsrecht hat aber im Bereich von Staatsgewalt und Souveränität mit Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG ausdrücklich die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten erteilt - allein auf Begriffe und Erkenntnisse der Staatslehre gestützte Behauptungen der Unmöglichkeit einer Übertragung von Hoheitsrechten verlieren deshalb ihre Beweiskraft. Die Unmöglichkeit einer Übertragung von Hoheitsrechten im Wortsinne könnte daher nur aus anderen, verfassungsrechtlichen Gründen folgen. Im übrigen ist die Ablehnung der Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten mittels Rekurs auf die Souveränität auch nicht so einleuchtend, wie es auf den ersten Blick erscheint. Meint Souveränität nämlich KompetenzKompetenz einerseits, Völkerrechtsunmittelbarkeit andererseits, so sind auch die den Staat nach innen mitkonstituierende verfassungsrechtliche Bestimmung über die Zulassung der Übertragung von Hoheitsrechten und die nach außen gerichtete Ausübung dieser Ermächtigung in der Staatspraxis ein Ausweis von Souveränität; in dieser Bestimmung und mit dieser Ausübung erweist sich der Staat Bundesrepublik Deutschland als souverän; nach innen, weil er mit der Übertragung von Hoheitsrechten durch Gesetz selbst über die Reichweite seiner Kompetenzen und seiner Hoheitsmacht bestimmt, nach außen, weil die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen bzw. die Europäische Union die Völkerrechtsunmittelbarkeit der Bundesrepublik wahrt. 197 Die Übertragung von Hoheitsrechten ist mit Blick auf Staatsgewalt und Souveränität eine verfassungsrechtlich zulässige Vorstellung. Ihre Zulässigkeit muß diese Vorstellung auch vor Art. 79 GG unter Beweis stellen. Die Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG ermächtigen ausdrücklich zur Übertragung von Hoheitsrechten, und daß die Übertragung von Hoheitsrechten materiell eine Verfassungsänderung bedeute, ist immer wieder vorgetragen worden. 198 Dieses Verständnis gab die gängige Erklärung für die Aufnahme der Übertragungsermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG in die Verfassung und ihre Ausgestaltung ab. 199 Auch der verfassungsergänzende Gesetzgeber scheint mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG diesem Verständnis gefolgt zu sein. 200
196
Vielmehr vermag das positive Verfassungsrecht zu neuen Varianten der Begriffe in der Staatslehre zu führen; dazu Κ Doehring, Staatslehre, Rn. 2, 272 ff. 197 So auch J. Isensee, HdbStR I, S. 629 f , 650; siehe auch R. Bindschedler, Rechtsfragen, S. 72 ff.; H. G. Koppensteiner, Souveränitätsproblem, S. 46 f , 70; S. Griller, Übertragung, S. 19 ff. und C. Chapuis, Übertragung, S. 63 f. 198 Darstellung der einzelnen Argumente und ihrer Vertreter bei A. Randelzhof er, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 5, 8 ff. 199 Die Materialien des Herrenchiemseekonvents wie des Parlamentarischen Rates belegen, daß den Beteiligten ein verfassungsändernder Charakter der Übertragung von Hoheitsrechten deutlich vor Augen stand; siehe Verfassungskonvent auf Herrenchiem-
138
Zweiter Teil: Die Konstruktion
Doch warum soll es eine Verfassungsänderung bedeuten, wenn Hoheitsrechte übertragen werden? Nach der hier entwickelten Vorstellung nicht deshalb, weil auf einen Ausschließlichkeitsanspruch deutscher Staatsgewalt innerhalb des deutschen Staatsgebietes verzichtet wird. 2 0 1 Einen solchen Anspruch kennt das Grundgesetz nicht; wenn überhaupt, ließe er sich nur im Gegenschluß aus Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG (sowie Art. 25 GG) selbst entnehmen. Das aber ist ein methodisch zweifelhaftes Verfahren, denn es ist überflüssig, einen Ausschließlichkeitsanspruch als verfassungsrechtliches Postulat gerade und nur gegenüber den verfassungsrechtlichen Vorschriften zu behaupten, durch die er auch durchbrochen werden können soll. 2 0 2 Verfassungsändernder Charakter kommt der Übertragung von Hoheitsrechten auch nicht deshalb zu, weil sie die grundgesetzliche Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung durchbricht. 203 Außerhalb dieser Ordnung bedarf die Ausübung öffentlicher Gewalt in Deutschland zwar einer Legitimation; hierin kommt auch die freiheitssichernde Bedeutung der Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung zum Ausdruck. Wird aber unter Anwendung der von der Verfassung zur Verfügung gestellten Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten eine öffentliche Gewalt geschaffen, die zur Setzung von Hoheitsakten berechtigt ist, ohne zugleich durch die grundgesetzliche Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung determiniert zu sein, so wird dadurch diese Ordnung nicht durchbrochen, sondern ein neuer Hoheitsträger außerhalb der grundgesetzlichen Ordnung kreiert.
see, Unterausschuß I: Grundsatzfragen, 2. Sitzung vom 18. August 1948, StenProt. S. 57 ff.; Parlamentarischer Rat, Plenum, 2. Sitzung vom 8. September 1948 (in: Rat IX, S. 40 f.); Hauptausschuß, 6. Sitzung vom 19. November 1948 (in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948/49, S. 69 f.); Antrag der DPFraktion vom 23. November 1948, Drucks. Nr. 411; Hauptausschuß, 29. Sitzung vom 5. Januar 1949 (in: a.a.O., S. 346). 200 Zur Diskussion um die Einbeziehung von Art. 79 Abs. 2 und 3, nicht aber Art. 79 Abs. 1 GG in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG siehe Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucks. 12/6000, S. 21; Κ . Schmalenbach, Europaartikel, S. 87 ff., 97 ff. 201 In diese Richtung aber C. Tomuschat, BoK, GG, Art. 24 Rn. 34; BVerfGE 37, 271/280; 58, 1/28. 202 Kritisch auch Κ. Τ Rauser, Übertragung, S. 61 ff.; A. Randelzhofer, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 9. 203 In diese Richtung aber U. Fastenrath, Kompetenzverteilung, S. 150 ff.; M. Zuleeg, AK-GG, Art. 24 Abs. 1 Rn. 19; U. Hufeid, Verfassungsdurchbrechung, S. 115 f., 121 ff.; BVerfGE 58, 1/36. Ablehnend Κ. Τ Rauser, Übertragung, S. 72 ff.; A. Randelzhofer, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 10.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
139
Auch dies ist nicht per se von materiell verfassungsändernder Wirkung. 204 Die zur Übertragung von Hoheitsrechten ermächtigenden Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG, eingeführt vom Verfassunggeber bzw. vom verfassungsändernden Gesetzgeber, legitimieren zur Kreation eines neuen Hoheitsträgers; diese ist - im Zusammenwirken mit anderen, außerhalb des Grundgesetzes liegenden Bedingungen - eine Folge der Anwendung der Verfassung, ein Ergebnis des Verfassungsvollzugs. Die durch die Ausübung der Übertragungsermächtigungen in erster Linie erzielte Wirkung, die Kreation des neuen Hoheitsträgers, wird durch die Regelung der Übertragungsermächtigungen in der Verfassung legitimiert, ohne daß es der zusätzlichen Annahme bedarf, die Übertragung von Hoheitsrechten wäre die ausnahmsweise zulässige materielle Verfassungsänderung außerhalb des formellen Verfassungsänderungsverfahrens. 205 Daß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG dabei auf Art. 79 Abs. 2 und 3 GG weist, ist in diesem Zusammenhang nur dahin zu verstehen, daß die Übertragung von Hoheitsrechten wegen ihres Inhalts und ihrer Konsequenzen einer eigenen, besonderen Regelung bedarf. Das hier entwickelte Verständnis der Übertragungsermächtigungen, wonach unter Übertragung von Hoheitsrechten ihre Abtretung zu verstehen ist, könnte
204
Anders, nämlich im Sinne einer Verfassungsdurchbrechung, einer „Verfassungsänderung ohne Textänderung" U. Hufeid, Verfassungsdurchbrechung. Zu den einschlägigen Begriffsbestimmungen und Abgrenzungen Hufeid, Verfassungsdurchbrechung, S. 15 ff., 24 ff. Für Hufeid ist auch bereits die Schaffung der Übertragungsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG selbst, verstanden als unter Wahrung der Voraussetzungen einer Verfassungsänderung geschaffene geltungsbeschränkende Ausnahme im Verfassungsrecht, als Ausnahme vom Textänderungsgebot des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG, als „Durchbrechung des Durchbrechungsverbots", eine - materielle - Verfassungsdurchbrechung (S. 25,237, 239 ff.). 205 So auch A. Bauer / M. Jestaedt, Grundgesetz im Wortlaut, S. 2 f f , 26 f f , die Verfassungsänderung im Sinne des Art. 79 GG als die Erzeugung einer Norm im Verfassungsrang durch einen von der Verfassung selbst dazu ermächtigten Normsetzer in den von der Verfassung selbst vorgesehenen Verfahren und Formen definieren (S. 3). Demgegenüber sollen im Rahmen des Art. 23 Abs. 1 GG jene Erscheinungen im Zusammenhang mit der europäischen Integration erfaßt werden, die - infolge des Anwendungsvorrangs des europäischen vor nationalem Recht - dazu führen, daß die Steuerungswirkung grundgesetzlicher Bestimmungen ausfällt, weil diese überlagert werden von europäischem Recht. Während Art. 23 Abs. 1 GG auf die Anwendbarkeit von Verfassungsvorschriften abstelle, gehe es Art. 79 GG um deren - auch und gerade textlichen - Bestand. Während dort die Verfassung darauf reagiere, daß ihren Vorschriften durch Auslagerung von Souveränität das Regelungssubstrat entzogen werde, gehe es hier um die Verfassungsregelungen selbst (S. 4 f.). In summa: Verfassungsänderung ist Verfassungstextänderung (S. 5) - Gemeinschaftsrecht „überlagert" Verfassungsrecht, aber es ändert es nicht (S. 27).
140
Zweiter Teil: Die Konstruktion
dennoch in Konflikt mit Art. 79 Abs. 3 GG geraten. Dieser ist hier anwendbar, weil es nicht um die Ausübung der Übertragungsermächtigungen, sondern um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Ermächtigung selbst geht, um die Frage, ob sich die verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten, verstanden als Ermächtigung zur Abtretung von Hoheitsrechten, mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbaren läßt, oder ob sie verfassungswidriges Verfassungsrecht darstellt. Läßt sich die Abtretung von Hoheitsrechten mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbaren? Dies wäre zum einen dann nicht der Fall, wenn Art. 79 Abs. 3 GG die Abtretung von Hoheitsrechten verböte, d. h. die Aufrechterhaltung der Fülle der potentiell allumfassenden deutschen Staatsgewalt geböte. Dieser Inhalt kann aber Art. 79 Abs. 3 GG nicht beigelegt werden. Art. 79 Abs. 3 GG handelt von den aktuellen verfassungsrechtlichen Gehalten, die der Rechtsmacht des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen sind. Nicht aber handelt er auch davon, daß Hoheitsrechte, also Bestandteile deutscher Staatsgewalt, als solche unabtretbar sein sollen. Entnommen werden könnte Art. 79 Abs. 3 GG lediglich, daß nicht die Staatsgewalt als Ganzes, nicht die Staatlichkeit Deutschlands, seine Völkerrechtsunmittelbarkeit im Wege der Übertragung von Hoheitsrechten aufgegeben werden darf. 206 Aber das folgt auch schon aus Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG selbst und ohne einen Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG, wenn dort jeweils nur zur Übertragung von Hoheitsrechten, also einzelnen Bestandteilen der Staatsgewalt, zudem noch in näher beschriebenen Zusammenhängen (zwischenstaatliche Einrichtungen, Europäische Union), ermächtigt wird. Zum anderen wäre die hier entwickelte Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten vor Art. 79 Abs. 3 GG nicht zu halten, wenn dieser verböte, Hoheitsrechte zu übertragen, die die Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung der Verfassung nicht kennt, die sich in ihr nicht aktualisiert finden, wenn Art. 79 Abs. 3 GG also ein Aktualisierungsverbot enthielte. Ein vollständiges Aktualisierungsverbot aber kann Art. 79 Abs. 3 GG schon deshalb nicht aufrichten, weil es für das Funktionieren des Verfassungsstaates essentiell ist, aus Hoheitsrechten Kompetenzen zu aktualisieren; eine Festlegung, daß dies nur durch Verfassungsänderung, nicht auch durch Übertragungsakte geschehen dürfe, wird von Art. 79 Abs. 3 GG nicht getroffen.
206 So die herrschende Meinung; aus der neueren Literatur etwa M. Herdegen, EuGRZ 1992, 590; U. Di Fabio , Staat 1993, 206 f.; U. Penski, ZRP 1994, 193 f.; Ο. Rojahn, vM/K, GG, Art. 23 Rn. 11, Art. 24 Rn. 52 ff.; R. Streinz, Sachs, GG, Art. 23 Rn. 84, Art. 24 Rn. 29; U. Fink, DÖV 1998, 135 ff.
Β. Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten
141
Es könnte Art. 79 Abs. 3 GG lediglich entnommen werden, daß nicht Hoheitsrechte im Zusammenhang mit ihrer Übertragung aktualisiert werden dürfen, deren Aktualisierung zur staatlichen Kompetenz im Wege der Verfassungsänderung verboten wäre. Dann aber enthält Art. 79 Abs. 3 GG kein striktes Aktualisierungsverbot, das kompakte Bereiche aus dem Kreis zulässiger staatlicher Tätigkeit von vornherein ausgrenzt, dann ist Anknüpfungspunkt für den Rekurs auf Art. 79 Abs. 3 GG auch nicht mehr die verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten, sondern die konkrete Ausübung der Übertragungsermächtigung; diese findet ihren Rechtmäßigkeitsmaßstab aber jedenfalls nicht unmittelbar in Art. 79 Abs. 3 GG und wie immer die je konkrete Rechtmäßigkeitsprüfung ausgehen mag, änderte dies nichts an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten selbst.
3. Zusammenfassung Damit sind die Vorarbeiten für die dogmatische Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG geleistet. Diese Konstruktion nimmt ihren Ausgang bei der durch die Begrifflichkeiten der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG transportierten Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten. Die Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten, die der Konstruktion zur Verfügung gestellt wird, ist wie folgt zu formulieren: Übertragung von Hoheitsrechten bedeutet Übertragung von Hoheitsrechten, d. h. Abtretung von Bestandteilen der Staatsgewalt, von Rechten zur Ausübung der Staatsgewalt. „Übertragen" steht für Rechtsübertragung im klassisch privatrechtlichen Sinne, „Hoheitsrechte" für sachgegenständliche, im Vergleich zu Kompetenzen unspezifische Umschreibungen von Ausschnitten der potentiell allumfassenden Staatsgewalt, für die potentiell möglichen staatlichen Aufgaben und die potentiell möglichen staatlichen Befugnisse, die theoretische Voraussetzung und inhaltliche Grundlage der verfassungsrechtlichen Konkretisierung von Kompetenzen sind.
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Zweiter Teil: Die Konstruktion
C. Die Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten I. Die Konstruktion Der Bund kann durch Gesetz (im Rahmen von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG: mit Zustimmung des Bundesrates) Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen bzw. die Europäische Union übertragen. Eine dogmatische Konstruktion dieser Ermächtigung, die auf eine Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten aufbauen kann, hat zunächst die Beteiligten, d. h. den zur Übertragung ermächtigten „Bund" und den vorgesehenen Übertragungsempfänger in den Blick zu nehmen. Anschließend gilt es zu entwickeln, welche Funktionen das Gesetz erfüllt.
1. Der Bund Das grundgesetzliche Modell des Bundesstaates ist davon bestimmt, daß dieser eine durch die Verfassung des Gesamtstaates Bundesrepublik Deutschland geformte staatsrechtliche Verbindung von Gliedstaaten - der Bundesländer - ist. 207 Diese Verbindung ist theoretisch konstruiert worden als eine zweigliedrige bzw. dreigliedrige. 208 Die dreigliedrige Bundesstaatskonstruktion unterscheidet neben den Gliedstaaten noch zwischen dem Bund (Zentral- oder Oberstaat, Teilstaat) und der Bundesrepublik Deutschland (Gesamtstaat), die zweigliedrige sieht die Organe des Bundes zugleich als die des Gesamtstaates Bundesrepublik Deutschland an. Dieses „zugleich" zeigt, daß nicht die Entscheidung für die eine oder andere Konstruktion, sondern die für das Tätigwerden der Organe des Bundes als Organe des Teil- oder Gesamtstaates im konkreten Fall Einfluß darauf hat, wie weit man Handlungsermächtigungen, die das Grundgesetz dem „Bund" verleiht, versteht: Da sich den Formulierungen des Grundgesetzes nicht immer klar entnehmen läßt, ob mit diesen Ermächtigungen die „Bundesrepublik Deutschland" oder aber der „Bund" versehen werden soll, 2 0 9 kann der „Bund", der
207
Κ Stern, Staatsrecht I, S. 644. Darstellungen bei Κ Stern, Staatsrecht I, S. 650 f.; O. Kimminich, HdbStR I, S. 1121 f.; H. Bauer, Bundestreue, S. 133 ff. 209 Diese Unterscheidung findet sich in Formulierungen des Grundgesetzes angelegt, wenn bei einzelnen Sachfragen „Bund" und Länder einander gegenübergestellt werden, die Länder aber Bestandteile der „Bundesrepublik Deutschland" sind; O. Kimminich, HdbStR I, S. 1138. 208
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o s t u o n der Übertragung von Hoheitsrechten
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beide Funktionen in Realunion wahrnimmt, bei der Annahme als Teilstaat nicht auch für die Gliedstaaten handeln (Ebene der Gleichordnung), bei der Annahme als Gesamtstaat jedoch auch für die Gliedstaaten handeln (Ebene der Überordnung), wenn es denn i m konkreten Fall um Handlungsermächtigungen geht, die dem Gesamtstaat zukommen. Dies ist eine Frage der Auslegung. 2 1 0 Ermächtigen die Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG den „ B u n d " , Hoheitsrechte zu übertragen, stellt sich die Frage, ob dieser als Teilstaat oder aber als Gesamtstaat ermächtigt worden ist. Nicht mehr entscheidend ist dies für die Beantwortung der Frage, ob die Ausübung der Übertragungsermächtigungen durch den Bund i m Ergebnis auch Länderhoheitsrechte zu ergreifen vermag; dies wurde bereits aus der verfassungstextlichen Verwendung des Hoheitsrechtsbegriffs abgeleitet, der auf der bundesstaatlichen Kompetenzaufteilung vorausliegende Strukturen verweist. Doch kommt es weiterhin auf die Stimmigkeit der Einzelergebnisse an. Zwar haben nun die ganz überwiegende Auffassung in der Literatur und auch das B V e r f G für das Grundgesetz das M o d e l l des zweigliedrigen Bundesstaates angenommen: 2 1 1 Danach ist der Bund die teilstaatliche Organisation, die zugleich i m Verhältnis zu den Gliedstaaten den Bundesstaat repräsentiert; zwischen dem so beschaffenen Teilstaat und den Gliedstaaten existiert nicht eine weitere Verbindung, aus der ein Gesamtstaat hervorgehen k ö n n t e . 2 1 2 A u c h dann ist aber, wie gezeigt, die Frage zu beantworten, ob es sich bei den Übertragungsermächtigungen u m Ermächtigungen handelt, die dem Bund als Gesamtstaat oder als Teilstaat zustehen. 2 1 3 Die Ausübung der Übertragungsermächtigungen erfolgt i m Zusammenhang mit der Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in zwischenstaatliche Einrichtungen bzw. die Europäische Union. Bund und Länder in ihrer durch die gesamtstaatliche
Verfassung
geformten
staatsrechtlichen
Verbindung
sind
Mitglied dieser zwischenstaatlichen Einrichtungen. Schon diese Rechtsfolge spricht dafür, den „ B u n d " in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 G G als für den Gesamtstaat Handelnden anzusehen. Weiter ergibt sich dies aber auch
210
Zur Doppelfunktion des Bundes als Teilstaat und als Gesamtstaat, der auch eine entsprechende Doppelfunktion der Verfassung korrespondiert sowie zur Unterscheidung vertikaler und horizontaler Grundkonstellationen der Glieder des Bundes siehe insbesondere J. Isensee, HdbStR IV, S. 562 ff. 211 K. Stern, Staatsrecht I, S. 651; O. Kimminich, HdbStR I, S. 1137 ff.; BVerfGE 13, 54/77 ff. 212 BVerfGE 13,54/78. 213 Die verfassungstheoretische Dreigliederungskonstruktion ist mithin mit dem verfassungsrechtlichen Zweigliederungssystem nicht unvereinbar; vgl. dazu J. Isensee, HdbStR IV, S. 608; E. Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 40 ff, 43 ff, 47 ff.
144
Zweiter Teil: Die Konstruktion
daraus, daß den Übertragungsvorschriften die Entgegensetzung von Bund und Ländern, die die Kompetenzaufteilungsvorschriften kennzeichnet, fehlt. Der Bund wird hier nicht in Abgrenzung von und Entgegensetzung zu den Ländern tätig; fehlte die Ermächtigung des Bundes, wären nicht etwa die Länder nach Art. 30 bzw. 32 GG zu Hoheitsrechtsübertragungen befugt. Nur so läßt sich auch die Einfügung des Art. 24 Abs. 1 a GG erklären. Anders als bei Art. 24 Abs. 1 GG läßt sich für Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG zudem schon aus dem Wortlaut des Art. 23 GG ablesen, daß die Übertragungsermächtigung den Bund als Gesamtstaat anspricht. Dort heißt es in Abs. 1, daß die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mitwirkt und der Bund hierzu durch Gesetz Hoheitsrechte übertragen kann. Und Abs. 6 bestimmt, daß die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund unter bestimmten Voraussetzungen auf einen vom Bundesrat benannten Ländervertreter übertragen werden soll, der bei der Wahrnehmung der Rechte die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren hat.
2. Die zwischenstaatlichen Einrichtungen - Die Europäische Union Mit der Beschreibung der Empfänger zu übertragender Hoheitsrechte durch Art. 24 Abs. 1 GG als „zwischenstaatliche Einrichtungen" ist klargestellt, daß es um einen völkerrechtlichen, nicht einen staatsrechtlichen Adressaten geht; das empfangene Subjekt muß „zwischen den Staaten" bestehen, darf nicht eigenstaatliche Einrichtung sein. 214 Demgegenüber ist die Bezeichnung „Europäische Union" in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG, auf die Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG mit dem Wort „hierzu" Bezug nimmt, nicht eine Beschreibung des Übertragungsempfängers, sondern sein Eigenname. Daß es sich aber auch hier um einen völkerrechtlichen Adressaten, jedenfalls nicht um eine eigenstaatliche Einrichtung handelt, folgt aus den weiteren Bestimmungen des Art. 23 Abs. 1 GG. Denn die Bundesrepublik Deutschland wirkt nach ihnen zur Verwirklichung eines „vereinten Europa" bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die auf „vertraglichen Grundlagen" ruht. In Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG ist zudem von der „Bundesrepublik
214 Ganz herrschende Meinung; siehe nur, jeweils unter Betonung des Prototyps der Internationalen Organisation, A. Randelzhof er, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 43 ff.; O. Rojahn, vM/K, GG, Art. 24 Rn. 15 ff.; R Streinz, Sachs, GG, Art. 24 Rn. 19 ff.; H. D. Jarass, J/P, GG, Art. 24 Rn. 5.
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o s t u o n der Übertragung von Hoheitsrechten
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Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union" die Rede. Auch Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG rekurriert damit auf völkerrechtliche Zusammenhänge.215
3. Übertragung von Hoheitsrechten durch Gesetz Handelt es sich bei der Übertragung von Hoheitsrechten um einen Vorgang, der im Zusammenhang mit der Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in völkerrechtliche Zusammenhänge erfolgt, so steht er ersichtlich in einem Kontext mit der auswärtigen Gewalt. Die auswärtige Gewalt 216 ist eine in mehrerer Hinsicht gemischte Gewalt: Sie koordiniert das Staats- mit dem Völkerrecht, in der Ausübung verbindet sie Parlament, Regierung und Staatsoberhaupt und sie ist auch zwischen Bund und Ländern verteilt. 217 In diesem Kontext gilt es zu entwickeln, welche Funktionen das Gesetz im Sinne der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG erfüllt. Bestimmt wird die auswärtige Gewalt gemäß Art. 32 GG von der Kompetenz des Bundes. 218 Diese umfaßt insbesondere die Vornahme ein-, zwei- oder mehrseitiger völkerrechtlicher Akte, namentlich die Vertragsabschlußkompetenz für alle Arten völkerrechtlicher Verträge (Vertragsgewalt). 219 Diese bundesstaatliche Kompetenzaufteilung für den Bereich der auswärtigen Gewalt nimmt Art. 59 GG auf und bestimmt die Kompetenzaufteilung innerhalb der Organe des Bundes. Danach werden gemäß Art. 59 Abs. 1 und Art. 58 Satz 1 GG in der Sache die Entscheidungen von der Bundesregierung getroffen. Die parlamentarische Kontrolle dieser Regierungstätigkeit gewährleistet Art. 59 Abs. 2 GG.
215 V g l , jeweils mit unterschiedlicher Gewichtung des prozeßhaften Charakters der Europäischen Union, O. Rojahn, vM/K, Art. 23 Rn. 6 ff.; R. Streinz, Sachs, GG, Art. 23 Rn. 8 ff.; R. Scholz, M/D, GG, Art. 23 Rn. 4, 11 f , 28, 40 ff.; H D. Jarass, J/P, GG, Art. 23 Rn. 3. 216 Zu diesem Sprachgebrauch K. Stern, Staatsrecht I, S. 690 f. 217 K. Stern, Staatsrecht I, S. 691. 218 Diese Bestimmung wird noch dadurch verstärkt, daß dem Bund in Art. 73 Nr. 1, 3, 5, 10 und in Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 sowie in Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Gesetzgebungstitel mit Bezug auf auswärtige Angelegenheiten zugewiesen sind. 219 K, Stern, Staatsrecht I, S. 693. Dabei ist umstritten, ob in Fällen ausschließlicher Gesetzgebungskompetenzen der Länder auch der Bund eine Vertragsabschlußkompetenz hat; dazu Stern, Staatsrecht I, S. 695 ff.; W. G. Grewe, HdbStR III, S. 962 f.; R. Streinz, Sachs, GG, Art. 32 Rn. 31 ff. Die Staatspraxis verfährt nach dem Verfahrenskompromiß des sog. Lindauer Abkommens vom 14. November 1957; dazu K. Stern, FS Heymanns Verlag 1995, S. 251 ff.
10 Flint
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Zweiter Teil: Die Konstruktion
Einen Sonderaspekt der auswärtigen Gewalt stellt die Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG dar. 220 Im in diesem Zusammenhang häufig verwendeten Terminus der Integrationsgewalt kommt diese Besonderheit sinnfällig zum Ausdruck. 221 Aus bundesstaatlicher Perspektive ist noch einmal festzuhalten, daß es den Ländern, außerhalb von Art. 24 Abs. 1 a GG, verwehrt ist, Hoheitsrechtsübertragungen vorzunehmen. 222 Damit sind sie - auch im Bereich ihrer Gesetzgebungszuständigkeiten (vgl. Art. 32 Abs. 3 GG für die Vertragsabschlußkompetenz der Länder) - von der zwischenstaatlichen Integration als aktiv Handelnde ausgeschlossen. Vielmehr kann - wie oben gezeigt - der Bund im Ergebnis auch Hoheitsrechte der Länder übertragen. Aüs diesem Umstand folgen die vielfältigen Ansätze zu einer Kompensation der Bundesländer für den Verlust von Länderrechten. 223 Von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung einer Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten ist aber eine andere Frage: Wie läßt sich die Ausübung der Vertragsabschlußkompetenz (Vertragsgewalt) von der Übertragung von Hoheitsrechten (Integrationsgewalt) abgrenzen? Wann bedarf es dieser neben jener? Die Beantwortung der Frage klärt und löst das
220
K. Stern, Staatsrecht I, S. 691. Zu neueren Entwicklungen im Rahmen der auswärtigen Gewalt einschließlich der Integrationsgewalt, insbesondere mit Blick auf ihre parlamentarische und gerichtliche Kontrolle, siehe K. Hailbronner, VVDStRL 1997, S. 7 ff.; R. Wolfrum, VVDStRL 1997, S. 38 ff.; siehe auch J. Kokott, DVB1. 1996, 937 ff. 222 Zu den verschiedenen Begründungsansätzen siehe U. Fastenrath, Kompetenzverteilung, S. 151 ff. 223 Siehe aus der älteren Literatur H. P. Ipsen, FS Hallstein 1966, S. 248 ff. Für die neuere, Mitte der 80er Jahre verstärkt einsetzende Diskussion, die in der Neufassung des Art. 23 GG ihren Niederschlag fand, siehe W. Rudolf FS Carstens 1984, S. 757 ff.; R. Hrbek/U. Thaysen, Die Deutschen Länder; M. Schröder, JöR 1986, 83 ff: G. Ress, EuGRZ 1986, 549 ff.; E. Grabitz, EuR 1987, 310 ff.; M. Borchmann,, AöR 1987, 586 ff.; S. Schmidt-Meinecke, Bundesländer; S. Magiera / D. Merten, Bundesländer und Europäische Gemeinschaft; W. Rudolf FS Partsch 1989, S. 357 ff.; J. A. Frowein, Vierzig Jahre Bundesrat, S. 285 ff.; W. Kössinger, Bundesstaat; Κ Hailbronner, JZ 1990, 149 ff.; W: A. Kewenig, JZ 1990, 458 ff.; D. Merten, Föderalismus und Europäische Gemeinschaften; H.-J. Blanke, Föderalismus und Integrationsgewalt; C. Baumhof Bundesländer; T. Remmers, Kompetenzverluste; F. H. U. Borkenhagen u. a., Die deutschen Länder; M. Brenner, DÖV 1992, 903 ff.; M. Zuleeg, DVB1. 1992, 1329 ff.; A. Epiney, EuR 1994, 301 ff.; für die politikwissenschaftliche Perspektive D. Fechtner, Die deutschen Länder. Zur Kompensationsproblematik und zum neuen Art. 23 GG C. Schede, Bundesrat und Europäische Union; M. Meißner, Bundesländer; M. Paul, Mitwirkung; H.-P. Donoth, Bundesländer; R. Lang, Mitwirkungsrechte. Zum Verhältnis des Lindauer Abkommens zur Neufassung des Art. 23 GG I. Winkelmann, DVB1. 1993, 1128 ff. 221
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Verhältnis der Gesetze gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Art. 24 Abs. 1 GG und gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG auf. Um ermitteln zu können, wann es in völkerrechtsvertraglichen Zusammenhängen der Übertragung von Hoheitsrechten bedarf, ist zunächst die Reichweite der Vertragsgewalt festzuhalten und von der der Integrationsgewalt abzugrenzen. In Ausübung der Vertragsgewalt lassen sich internationale Organisationen im Völkerrechtsraum schaffen, deren Akte, wenn überhaupt rechtsverbindlich, im Wege intergouvernementaler Zusammenarbeit die beteiligten Staaten als solche, nicht aber deren Organe, Einrichtungen des öffentlichen Rechts und die sich auf dem Staatsgebiet befindenden Individuen (natürliche oder juristische Personen des Privatrechts) unmittelbar zu binden vermögen. Rechtsakte dieser internationalen Organisationen können innerstaatliche Geltung und in der Folge unmittelbare Anwendbarkeit erst durch die Transformation in nationales Recht oder durch den Vollzug als Völkerrecht erlangen. 224 Zu einem anderen Ergebnis gelangt man nur durch konsequente Anwendung der monistischen Theorie; 225 da diese schon das Vorliegen zweier Rechtsordnungen ablehnt, stellen sich ihr die Fragen nach Notwendigkeit und Reichweite staatlicher Implementationsakte nicht. Doch besteht heute - mit Blick auf die Annäherung von gemäßigter monistischer und gemäßigter dualistischer Theorie - Übereinstimmung dahin, daß völkerrechtliche Normen nicht ohne jeden innerstaatlichen Umsetzungsakt innerstaatliche Geltung zu erlangen vermögen, daß also das Völkerrecht durch das staatliche Recht mediatisiert ist. 2 2 6 Wie auch immer also das Verhältnis von nationalem Recht und Völkerrecht im einzelnen konstruiert werden mag, wird hier von der Notwendigkeit nationaler Implementationsakte ausgegangen. Unter Hinzunahme der Integrationsgewalt, d. h. der Einräumung von Hoheitsgewalt durch Übertragung von Hoheitsrechten, lassen sich dagegen internationale Organisationen (zwischenstaatliche Einrichtungen, Gemeinschaften, Europäische Union) im Völkerrechtsraum schaffen, deren Rechtsakte gemäß der die Organisation verfassenden völkerrechtsvertraglichen Regelung „durchgreifen", d. h. ohne Zwischenschaltung eines Aktes des nationalen Gesetzgebers innerstaatlich unmittelbar gelten und - inhaltliche Bestimmtheit und Voll-
224
A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 228; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 159 f , 172 ff. 225 Zu dieser Κ Kelsen, Rechtslehre, S. 221 ff., 328 ff. 226 Dazu A. Verdross / B. Simma, Völkerrecht, S. 37 f , 53 f f , 538 ff.; W. Rudolf, LdR/VR, S. 240 ff.; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 15 ff.; A. Bleckmann, Völkerrechtslehre, S. 211 f.; P. Kunig, Vitzthum, Völkerrecht, 2. Abschn. Rn. 35, 37 ff.
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ständigkeit der Regelung vorausgesetzt - unmittelbar anwendbar sind. 227 Diese hoheitlichen Wirkungen unterscheiden sie von den internationalen Organisationen des „klassischen", idealtypisch intergouvernemental strukturierten Völkerrechts. Damit ist eine Abgrenzung der Reichweiten von Vertrags- und Integrationsgewalt gewonnen: In Ausübung allein der Vertragsgewalt der Art. 32 Abs. 1, 59 GG kann der Bund internationalen Organisationen nicht die Rechtsmacht einräumen, Rechtsakte mit Durchgriffswirkung auf die staatlichen Behörden und die Individuen zu erlassen, während die Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG durch die Übertragung von Hoheitsrechten eine internationale Gemeinschaftsstruktur ermöglichen, in deren Rahmen vertraglich geschaffene zwischenstaatliche Einrichtungen über eine Hoheitsgewalt verfügen, die es ihnen erlaubt, Rechtsakte vorzunehmen, die unmittelbar in den Bereich der Mitgliedstaaten hineinwirken, durchgreifen. 228 Diese Abgrenzung erfordert folglich eine Auslegung der ausgehandelten völkerrechtlichen Verträge. Die Auslegung muß aufklären, ob der entsprechende völkerrechtliche Vertrag - im hier untersuchten Zusammenhang also EGKSV, EGV (vormals EWGV), EAGV, EUV - (auch) Bestimmungen enthält, die den vertraglich begründeten Organen die Rechtsmacht einräumen, Akte mit Durchgriffswirkung auf die Behörden und Individuen in den Mitgliedstaaten zu erlassen. Ist dies der Fall, bedarf es - bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG im übrigen - insoweit neben dem Ver-
227 A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 228; aus völkerrechtlicher Perspektive R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 84 ff. Zum Stand der Reinen Rechtslehre zu dieser Konstellation W.-D. Grussmann, Grundnorm und Supranationalität, der von der „Annahme einer Mehrzahl von Grundnormen, woraus allein sich eine Vielzahl als autonom zu erkennender Rechtsordnungen ergeben kann" (S. 59), ausgeht; kritisch dazu W. Pauly, Staat 1994, 613 ff.; zustimmend M Baldus, Staat 1997, 395 f. 228 Die Ermöglichung der Durchgriffswirkung als Spezifikum der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG, teilweise verbunden mit der Einräumung des Vorrangs auch gegenüber dem späteren nationalen Recht, ist denn auch durchweg anerkannt; siehe nur BVerfGE 73, 339/375; C. Tomuschat, BoK, Art. 24 Rn. 8 ff.; H. Mosler, HdbStR VII, S. 609 ff.; A. Randelzhofer, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 12, 30, 42 (am Ende); R. Streinz, Sachs, GG, Art. 23 Rn. 54; Art. 24 Rn. 13; A. v. Bogdandy / M. Nettesheim, G/H, EUVEGV, Art. 1 EGV Rn. 30 f.; R. Geiger, JZ 1996, 1094 f. Weiter aber - unter Rückgriff auf die Wesentlichkeitslehre - BVerfGE 68, 1/91 ff.; dogmatisch ausgebaut durch Κ. T. Rauser, Übertragung, S. 75 ff. Doch handelt es sich hier letztlich nur „um eine weitere Dimension des Begriffs" Durchgriff; dazu Randelzhofer, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 40 ff.
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o s t u o n der Übertragung von Hoheitsrechten
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tragsgesetz des Übertragungsgesetzes; ist dies nicht der Fall, genügt die Einhaltung der Verfahrensvoraussetzungen des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG. 2 2 9 Bedarf es aber neben dem Vertragsgesetz des Übertragungsgesetzes, richten sich die formalen Anforderungen einheitlich nach Art. 23 Abs. 1, 24 Abs. 1 GG. Denn die durch Art. 32 Abs. 1, 59 GG dem Bund eingeräumte Vertragsgewalt ist nicht nur an die verfassungsrechtlichen Verfahrensvorschriften gebunden, sondern sie muß auch inhaltlich alle verfassungsrechtlichen Gebote beachten.230 In Ausübung der Vertragsgewalt können deshalb keine Regelungen getroffen werden, die bei rein innerstaatlicher Tätigkeit unzulässig wären. 231 Da die Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG mit der Übertragung von Hoheitsrechten aber zur Mitwirkung bei der Kreation eines außerhalb des Grundgesetzes stehenden Hoheitsträgers ermächtigen, kann die durch diese Ermächtigung erteilte Legitimation zu einem über die Verfassung hinausweisendem Handeln nicht dadurch konterkariert werden, daß das Übertragungsgesetz in seinen formalen Anforderungen dem Vertragsgesetz zu folgen hat. Die Übertragung von Hoheitsrechten durch Gesetz ist also ein notwendiger Bestandteil im Rahmen des Vorgangs zur Gründung einer mit Durchgriffswirkung begabten zwischenstaatlichen Einrichtung mittels völkerrechtlichen Vertrages. 232 Dieses Vertrages bedarf es, weil in ihm die Vorschriften über den organisatorischen Aufbau, das Verfahren der Willensbildung usw. wie auch die einzelnen, der zwischenstaatlichen Einrichtung zugewiesenen Aufgaben und Befugnisse zu statuieren sind. Dieser Vertrag unterliegt, da es sich in Fällen der Gründung entsprechender zwischenstaatlicher Einrichtungen jedenfalls um Verträge handelt, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln, gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der Zustimmung in der Form eines Bundesgesetzes.233 Das Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erfüllt eine doppelte Funktion: Es ermächtigt das völkerrechtliche Vertretungsorgan des Bundes zur Ratifikation des Vertrages (Ermächtigungsfunktion) und es bewirkt die Einbeziehung der völkerrechtsvertraglichen Regelung in die innerstaatliche Rechtsordnung
229
Eine andere Abgrenzung hat R. Geiger, JZ 1996, 1095 f., vorgeschlagen. Danach soll Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG in allen Fällen anwendbar sein, in denen europäische Vertragsvorschriften verändert oder aufgehoben werden. Diesen Ausführungen liegt jedoch keine ausreichende Unterscheidung zwischen Vertragsgesetz und Übertragungsgesetz zugrunde; für die Annahme einer abschließenden Regelung gegenüber Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG gibt es keinen Bedarf. 230 R. Streinz, Sachs, GG, Art. 59 Rn. 56 ff. 231 W. K. Geck, Wirkungen, S. 216, 219; R. Bernhardt, HdbStR VII, S. 586. 232 O. Rojahn, vM/K, GG, Art. 24 Rn. 24 f.; R. Streinz, Sachs, GG, Art. 23 Rn. 60; Art. 24 Rn. 24. 233 R. Streinz, Sachs, GG, Art. 23 Rn. 61; 24 Rn. 24; 59 Rn. 29, 57.
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Zweiter Teil: Die Konstruktion
(Transformations- bzw. Vollzugsfunktion). 234 Die Ermächtigungsfunktion reicht über ein bloßes Zustimmungsrecht nicht hinaus; weder beinhaltet sie eine Anweisung des völkerrechtlichen Vertretungsorgans zur Ratifikation des Vertrages noch gestattet sie, inhaltliche Änderungen an dem den gesetzgebenden Körperschaften vorliegenden Vertragstext vorzunehmen. 235 Die Transformations· bzw. Vollzugsfunktion führt dazu, daß der völkerrechtliche Vertrag in der innerstaatlichen Rechtsordnung Geltung erlangt. 236 Funktion des Gesetzes gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Art. 24 Abs. 1 GG ist es, die Hoheitsrechte, die auf die Europäische Union bzw. die zwischenstaatlichen Einrichtungen nach dem Vertrag übergehen sollen, zu bezeichnen und zu bestimmen, daß die entsprechenden Hoheitsbetätigungen im innerstaatlichen Raum gemäß den Bestimmungen des völkerrechtlichen Vertrages unmittelbar gelten, durchgreifen. 237 Allein durch den Vertrag und das Vertragsgesetz läßt sich diese Durchgriffswirkung, läßt sich diese Hoheitsgewalt nicht schaffen. Es findet keine Staatsgründung, sondern die Etablierung und Ausgestaltung einer von Staaten und Völkern getragenen völkerrechtlichen Kompetenzordnung statt. Soll deren Kompetenzausübung mit bestimmten, bislang der Staatsgewalt vorbehaltenen Wirkungen begabt sein, ohne selbst staatliche Kompetenzausübung zu sein, bedarf es der Zuweisung von Hoheitsmacht durch die Gründungsstaaten; die Bundesrepublik Deutschland leistet dies durch die Übertragung von Hoheitsrechten. In entsprechenden Übertragungsvorgängen ergeht mithin materiell ein Gesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Art. 24 Abs. 1 GG (Übertragungsgesetz) und ein Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG (Vertragsgesetz). Formell ergeht ein Gesetz uno actu, das insofern eine Dreifachfunktion hat. 238 Funktionell ermächtigt dieses Gesetz das völkerrechtliche Vertretungsorgan zur Ratifikation des entsprechenden Vertrages und läßt es die vertragliche Regelung in der innerstaatlichen Rechtsordnung Geltung erlangen; zugleich bezeichnet es mit der Bezugnahme auf den Vertrag die Hoheitsgewalt der vertraglich geschaffenen zwischenstaatlichen Einrichtung, indem es so die Hoheitsrechte anführt, die auf diese Einrichtung nach dem Vertrag übergehen und dort die Grundlage für die Kompetenzbetätigungen durch die Einrichtung bilden, die im innerstaatlichen Raum unmittelbar gelten, ohne daß es auf Transformation oder Vollzug ankäme.
234
W. G. Grewe, HdbStR III, S. 947; R Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 131; R. Streinz, Sachs, GG, Art. 59 Rn. 21. 235 R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 132 f. 236 Im einzelnen R. Streinz, Sachs, GG, Art. 59 Rn. 60 ff. 237 Dazu Ο. Rojahn, vM/K, GG, Art. 23 Rn. 45; Art. 24 Rn. 26 ff.; R Streinz, Sachs, GG, Art. 23 Rn. 58 f.; Art. 24 Rn. 18. 238 Zur Dreifachfunktion sehr klar M Zuleeg, AK-GG, Art. 24 Abs. 1 Rn. 19.
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4. Die idealtypische Beschreibung des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten In ihrer Ausdeutung als Abtretung von Hoheitsrechten beschreibt die Vorstellung von der Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG einen Vorgang, in dem die Bundesrepublik Deutschland aus ihrer potentiell allumfassenden Staatsgewalt Hoheitsrechte an die völkerrechtsvertraglich begründete Einrichtung abtritt. In der Hand dieser Einrichtung gehen die Hoheitsrechte, verbunden mit den anderen mitgliedstaatlichen Ermöglichungen der Durchgriffswirkung, in die vertraglich fixierten Kompetenzen ein. Dies ist nachfolgend anhand der Vorgänge bei der Begründung einer mit Durchgriffswirkung begabten gemeinschaftlichen Einrichtung näher auszuführen. a) Die völkerrechtliche Seite Die Bundesrepublik Deutschland erarbeitet im Zusammenwirken mit den sich beteiligenden Staaten den Text eines völkerrechtlichen Vertrages, der die Struktur der von den Vertragsstaaten zu gründenden gemeinschaftlichen Einrichtung beschreibt. Der verabredete, idealtypische Vertragstext benennt die Aufgaben und Ziele der Einrichtung, installiert die Organe, weist den Organen Kompetenzen, also Aufgaben und Befugnisse zu, regelt das Verfahren der Willensbildung der Organe und die Modalitäten der Erfüllung und Ausübung der Aufgaben und Befugnisse, bezeichnet die gewollte rechtliche Wirkung dieser Erfüllung und Ausübung in den Mitgliedstaaten und bestimmt die Grenzen der räumlichen und zeitlichen Geltung der vertraglichen Einrichtung. Mit Abschluß und Ratifizierung des völkerrechtlichen Vertrages liegt der Rechtsgrund vor, von dem die gemeinschaftliche Einrichtung ihre Existenz und Wirkung herleitet und auf den auch ihre fortdauernde Existenz und Wirkung beruht. Der Vertrag verweist Kompetenzen in die Zuständigkeit der Einrichtungsorgane. Diese Kompetenzen sind von unterschiedlichem rechtlichen Gehalt: Zum einen lassen sie sich nach ihrem Verhältnis zur mitgliedstaatlichen Kompetenzsphäre in ausschließliche, konkurrierende und parallele Kompetenzen unterteilen. Zum anderen ist den einzelnen Kompetenzausübungen im Vertrag unterschiedliche Rechtswirkung beigelegt - es lassen sich die nur die Mitgliedstaaten als solche bindenden und eine mitgliedstaatliche Inkorporierung erfordernden von den unmittelbar in die Mitgliedstaaten durchgreifenden Kompetenzausübungen unterscheiden. Damit bestimmt der völkerrechtliche Vertrag zugleich auch, wie weit im Bereich der der Vertragsgemeinschaft zugewiese-
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nen Kompetenzen die Aufgaben und Befugnisse der Mitgliedstaaten reichen sollen. 239 b) Die staatsrechtliche Seite Der die Geltungsgrundlage der gemeinschaftlichen Einrichtung bildende völkerrechtliche Vertrag unterliegt in der Bundesrepublik Deutschland dem Verfahren des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG. Da die mit dem dem Vertrag zustimmenden Vertragsgesetz ausgeübte Vertragsgewalt der Bundesrepublik nicht auch eine mit Durchgriffswirkung ausgestattete gemeinschaftliche Kompetenzausübung, d. h. eine sich hoheitlich betätigende Gemeinschaftsgewalt zu ermöglichen vermag, bedarf es insoweit neben dem Verfahren des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der Ausübung der Integrationsgewalt durch gesetzliche Übertragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Art. 24 Abs. 1 GG. Mit der Bezugnahme auf den den Rechtsgrund bildenden Vertragstext, der Kompetenzen in die Zuständigkeit der Organe der Vertragsgemeinschaft verweist, bezeichnet das Übertragungsgesetz, welche sachgegenständlichen Ausschnitte deutscher Staatsgewalt, welche Hoheitsrechte also auf die Gemeinschaft übertragen werden, in welchem Umfang dies geschieht und was der Bundesrepublik Deutschland an Hoheitsrechten verbleibt. Das Gesetz bestimmt unter Bezugnahme auf den Vertrag, daß die auf Übertragung von Hoheitsrechten beruhenden Kompetenzausübungen der Einrichtung in den innerstaatlichen Raum unmittelbar durchgreifen und auch, daß sie mit Anwendungsvorrang vor entgegenstehendem nationalen Recht ausgestattet sind. Es kann auch nichts anderes bestimmen, denn es werden eben Hoheitsrechte übertragen; der deutsche hoheitsrechtliche Beitrag erlaubt der gemeinschaftlichen Kompetenzausübung den Durchgriff in Deutschland. Daß die Betätigung der vertraglich vorstrukturierten und mitgliedstaatlich ermöglichten Hoheitsgewalt der Einrichtung aber nicht nur unmittelbar auf die dieser Hoheitsgewalt Unterworfenen durchgreift, sondern zugleich jede andere, die eigene Geltung beeinträchtigende Hoheitsgewalt zu verdrängen sucht, ist eine not-
239 Dazu sehr deutlich T. Stein, Integration, S. 93: „Was im einzelnen aus mitgliedstaatlicher Sicht als »nationales Reservat4 anzusehen ist, mag ... variieren. Ob das jeweilige nationale Reservat erhalten bleibt, bestimmt sich aber grundsätzlich allein nach der Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaften. Der Rekurs auf die eigene interne Verfassung befreit nicht von der Erfüllung völkerrechtlicher Verträge (Art. 27 der Wiener Vertragsrechtskonvention), sofern dem Vertrag nicht ein entsprechender Vorbehalt beigegeben wurde; das ist bei den Gemeinschaftsverträgen nicht der Fall."
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wendige Konsequenz. Der Anwendungsvorrang läßt sich so von der Durchgriffswirkung nicht trennen; wie diese beruht er auf der mitgliedstaatlichen staatsrechtlichen Ermöglichung der völkerrechtsvertraglich vereinbarten Gemeinschaftsstruktur in Erfüllung der völkerrechtlichen Vertragspflichten. Er ist auf diese Ermöglichung zurückgehender Bestandteil der Vertragsrechtsordnung. Welche Hoheitsrechte das Übertragungsgesetz im einzelnen in Erfüllung des völkerrechtlichen Vertrages auf die gemeinschaftliche Einrichtung und ihre Organe übergehen läßt, ist den Kompetenzen zu entnehmen, die der Vertrag zur Ausübung mit Durchgriffswirkung in die Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane verweist. Was gegenständlich an staatlichen Hoheitsrechten übertragen wird, läßt sich mithin an der gegenständlichen gemeinschaftlichen Kompetenzausstattung und der der Kompetenzausübung der Gemeinschaft beigelegten Wirkung ablesen. Diese Kompetenzen sind nicht mit den Kompetenzen deutscher Staatsorgane identisch und können auch nicht den Kompetenzen deutscher Staatsorgane vergleichsweise zugeordnet werden. Kompetenzen existieren nicht unabhängig von ihrem Träger. Doch die Gemeinschaftskompetenzen lassen sich den nicht organgebundenen, gegenständlich unspezifischer umschriebenen Richtungen potentiell möglicher Staatstätigkeit, den entsprechenden staatlichen Hoheitsrechten vergleichsweise zuordnen, die in der potentiell allumfassenden deutschen Staatsgewalt enthalten sind und die die staatstheoretische Voraussetzung und inhaltliche Grundlage für die staatsrechtliche Aktualisierung, Konkretisierung und Zuweisung von Kompetenzen abgeben. Dieser Grundlagenfunktion wegen werden Hoheitsrechte übertragen werden: Die deutschen Hoheitsrechte bilden, zusammen mit den anderen mitgliedstaatlichen Ermöglichungen der vertraglich beschriebenen Hoheitsgewalt, auf der Gemeinschaftsebene die Substanz der mit Durchgriffswirkung und Anwendungsvorrang ausgestatteten gemeinschaftlichen Kompetenzausübungen, der gemeinschaftlichen Hoheitsbetätigungen. Der deutsche hoheitsrechtliche Beitrag kann auf Gemeinschaftsebene aber auch nur in Kompetenzen übergehen, da die gemeinschaftliche Hoheitsgewalt der Staatsqualität ermangelt, sie vielmehr nur im Rahmen der sie kompetentiell verfassenden völkerrechtlichen Verträge existiert. Die gemeinschaftliche Hoheitsgewalt ist eine öffentliche Gewalt mit bestimmt begrenzten Aufgaben und Zielen, nicht mit originären Hoheitsrechten; sie ist nicht potentiell allumfassende Staatsgewalt. Von entscheidender Bedeutung ist daher, in welchem Umfang sich die Kompetenzausstattung hält und wie weit die Wirkungen der einzelnen Kompetenzausübungen reichen - und damit, in welchem Umfang Hoheitsrechte über-
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tragen werden und der Bundesrepublik Deutschland Aktualisierungsmöglichkeiten aus der Staatsgewalt verbleiben. Die Feststellung des Umfangs der Übertragung von Hoheitsrechten erfordert eine Feststellung des Umfangs der vertraglich vereinbarten Kompetenzausstattung und der vertraglich vereinbarten Wirkung der einzelnen Kompetenzausübung. Diese Feststellungen entscheiden, indem sie die Reichweite der Durchgriffswirkung von Akten der Vertragsrechtsordnung in die deutsche Rechtsordnung bestimmen, zugleich darüber, in welchem Umfang es zwischen der Vertragsrechtsordnung und der deutschen Rechtsordnung zu Normenkollisionen kommen kann, es also einer Kollisionsentscheidungsregel bedarf. Soweit danach der Gemeinschaft vertraglich ausschließliche Kompetenzen zur Ausübung mit Durchgriffswirkung zugewiesen sind, werden gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Art. 24 Abs. 1 GG sachgegenständlich entsprechende deutsche Hoheitsrechte übertragen, d. h. abgetreten. Diese Hoheitsrechte scheiden aus der deutschen Staatsgewalt aus und gehen in ihrer Substanz in die Gemeinschaftskompetenz ein. Deutschland verliert insoweit die rechtliche Möglichkeit, aus der Staatsgewalt nochmals eine entsprechende Kompetenz als nationale Kompetenz verfassungsrechtlich zu aktualisieren. Soweit der Gemeinschaft - wie im Regelfall - durch den Vertrag konkurrierende Kompetenzen zugewiesen sind und soweit diese Kompetenzen mit Durchgriffswirkung ausgeübt werden können sollen, werden die entsprechenden deutschen Hoheitsrechte mit der Maßgabe abgetreten, daß bis zur Inanspruchnahme dieser Kompetenz mit Durchgriffswirkung die Bundesrepublik Deutschland nach ihrer Rechtsordnung zur Kompetenzausübung befugt ist. Deutschland hat die entsprechenden Hoheitsrechte aus seiner Staatsgewalt ausgeschieden und sie in ihrer Substanz in die Gemeinschaftskompetenz überführt; der Gemeinschaftskompetenz ist aber vertraglich keine die staatliche Kompetenzausübung von vornherein ausschließende Reichweite beigelegt. Daher kann die Bundesrepublik zwar rechtlich nicht erneut aus der Staatsgewalt das entsprechende Hoheitsrecht als allein nationale Kompetenz verfassungsrechtlich aktualisieren, aber sie darf eine der Gemeinschaftskompetenz sachgegenständlich entsprechende nationale Kompetenz ausüben. Soweit der Vertragsgemeinschaft parallele Kompetenzen zur Ausübung mit Durchgriffswirkung zustehen, werden entsprechende Hoheitsrechte in der Weise abgetreten, daß Deutschland den sachgegenständlich parallelen gemeinschaftlichen Hoheitsbetätigungen zwar Durchgriffswirkung und im Kollisionsfall Anwendungsvorrang zukommen läßt, selbst aber zur Aktualisierung und Ausübung entsprechender nationaler Kompetenzen berechtigt ist. Zu erinnern ist noch einmal, daß in all diesen Kompetenzzuordnungen es nur dann auch um Hoheitsrechtsübertragungen geht, wenn der gemeinschaftlichen
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Kompetenzausübung nach der vertraglichen Regelung auch Durchgriffswirkung zukommen soll, es sich also um gemeinschaftliche Hoheitsbetätigung handelt. Alle anderen Kompetenzzuordnungen und Kompetenzausübungen lassen sich mit der Vertragsgewalt der Art. 32 Abs. 1, 59 GG erklären; nur für die Hoheitsbetätigungen der durch völkerrechtlichen Vertrag begründeten gemeinschaftlichen Einrichtung geben die Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG die dann erforderliche Integrationsgewalt ab. Festzuhalten bleibt für die staatsrechtliche Seite des Vorgangs der Begründung einer Hoheitsgewalt im Völkerrechtsraum noch der tatsächliche Befund, daß der Wortlaut der uno actu ergehenden Vertrags- und Übertragungsgesetze für das Festmachen bestimmter Funktionen an ihn nicht allzu viel hergibt. 240 Hier herrscht Tradition vor. Doch gilt dieser tatsächliche, die Staatspraxis widerspiegelnde Befund unabhängig von der rechtlichen Konstruktion, die man für die Übertragung von Hoheitsrechten bzw. die Begründung der Gemeinschaftsgewalt vertritt. 241 Ob diese idealtypische Beschreibung des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten auch all das leistet, was an Anforderungen mit Blick auf die konkrete Gestalt der europäischen Rechtsordnung und ihrer öffentlichen Gewalt an sie heranzutragen ist, muß der folgende Prüfungsschritt erweisen.
240
So heißt es im Gesetz betreffend den Vertrag vom 18. April 1951 über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 29. April 1952 (BGBl. I I S. 445): „Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen: Artikel I - Dem ... Vertrag ... wird zugestimmt. Artikel I I - Der Vertrag ... werden nachstehend mit Gesetzeskraft veröffentlicht." Im Gesetz zu den Verträgen vom 25. März 1957 zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25. Juli 1957 (BGBl. I I S. 753) heißt es: „Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen: Artikel 1 - Den ... Verträgen ... wird zugestimmt. Die Verträge ... werden nachstehend veröffentlicht." Im Gesetz zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union vom 28. Dezember 1992 (BGBl. I I S. 1251) heißt es: „Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen; Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes ist eingehalten: Artikel 1 - Dem ... Vertrag... wird zugestimmt. Der Vertrag... werden nachstehend veröffentlicht." 241 Siehe nur A. Randelzhofer, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 62: „Die Praxis trägt nicht dazu bei, die Differenziertheit der Modalitäten des Übertragungsvorgangs kenntlich zu machen."
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II. Die Stimmigkeit der Konstruktion 1. Die Anwendung der Konstruktion auf die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union a) Grundzüge der europäischen Rechtsordnung und ihrer Hoheitsgewalt Unter der Hoheitsgewalt der europäischen Rechtsordnung wird hier die sich aus den Kompetenz- und Zuständigkeitsbestimmungen der einzelnen Verträge ergebende, mit Durchgriffswirkung und Anwendungsvorrang begabte Kompetenzausübung der durch die völkerrechtlichen Verträge begründeten Organe verstanden; nur insoweit ist der Anwendungsbereich der Übertragungsermächtigungen gegeben. Üben die Vertragsorgane Hoheitsgewalt, also Kompetenzen mit Durchgriffswirkung auf die Behörden und Individuen und mit Anwendungsvorrang in den Mitgliedstaaten aus, wird diese Gewalt ganz überwiegend als autonom beschrieben. 242 Dieses Autonomiepostulat will zum Ausdruck bringen, daß zum einen die völkerrechtsvertraglich begründeten Organe über eine eigene, von den Mitgliedstaaten geschiedene Hoheitsgewalt verfügen und sie nicht die Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten in einem Vertretungsverhältnis nur ausüben, und zum anderen, daß die Unions- bzw. Gemeinschaftsrechtsordnung auch gegenüber dem allgemeinen Völkerrecht eine selbständige Rechtsordnung darstellt. 243 Autonomie gegenüber den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bedeutet danach, daß die Hoheitsgewalt eine homogene, nicht in Richtung auf die einzelnen Mitgliedstaaten je unterschiedlich ausgestaltete Gewalt ist. 2 4 4 Die Autonomie gegenüber dem allgemeinen Völkerrecht soll die europäische Rechtsordnung unter Betonung ihrer Besonderheiten von den Regeln des allgemeinen Völkerrechts abschneiden. Die konkrete vertragliche Ausgestaltung dieser Gewalt folgt mit dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung 245 dem Bestreben, diese nicht zu einer Hoheits-
242
So in der Sache, nicht in der Terminologie übereinstimmend EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 - Van Gend & Loos / Niederländische Finanzverwaltung; Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 - Costa / E.N.E.L.; Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 - Staatliche Finanzverwaltung / S. p. A. Simmenthai (ständige Rechtsprechung); Τ Oppermann, Europarecht, Rn. 389, 525, 533, 778. Für den zugrundeliegenden Streit zwischen „Traditionalisten" und „Autonomisten" siehe M. Schweitzer / W. Hummer, Europarecht, Rn. 73 ff. 243 A. v. Bogdandy / M. Nettesheim, G/H, EUV-EGV, Art. 1 EGV Rn. 8. 244 A. v. Bogdandy / M. Nettesheim, G/H, EUV-EGV, Art. 1 EGV Rn. 9. 245 Zur Terminologie siehe H.-P. Kr außer, Ermächtigung, S. 17.
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gewalt mit Allzuständigkeit werden zu lassen. Seinen deutlichen Ausdruck hat das Prinzip der begrenzten Ermächtigung insbesondere in Art. 3 b Abs. 1 EGV gefunden: „Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig". Mit anderen Worten: Die Europäische Gemeinschaft darf durch ihre Organe (vgl. Art. 4 EGV) nur tätig werden, wenn und soweit sich dazu im Gründungsvertrag eine Ermächtigungsgrundlage findet. 246 Formuliert - mit Geltung für alle Gründungsverträge - wird das Prinzip begrenzter Ermächtigung auch in Art. E EUV: „Das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission und der Gerichtshof üben ihre Befugnisse nach Maßgabe und im Sinne der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie der nachfolgenden Verträge und Akte zu deren Änderung oder Ergänzung einerseits und der übrigen Bestimmungen des vorliegenden Vertrags andererseits aus". Gegen die Bedeutung, teilweise auch die Existenz des Prinzips begrenzter Ermächtigung wurde vorgetragen, daß ihm einzelne Vertragsbestimmungen (insbesondere Art. 235 EGV, 203 EAGV, 95 Abs. 1 EGKSV), der dynamische Charakter des europäischen Rechts und auch die extensive Auslegung des Rechts durch den EuGH entgegenstünden.247 Daran ist richtig, daß die Gestalt der Unions- bzw. Gemeinschaftsrechtsordnung und der durch sie verfaßten öffentlichen Gewalt von diesen Faktoren maßgeblich geprägt wird. 2 4 8 Doch darf die Anerkennung dieser dynamischen Faktoren nicht dazu führen, sie zur Grundlage der Kompetenz- und Zuständigkeitsstruktur der Vertragsrechtsordnung aufzuwerten. Grundlage dieser Struktur sind die begrenzten Ermächtigungen, die Dynamisierungen dieser statischen Struktur sind demgegenüber die
246
So auch H.-P. Kr außer, Ermächtigung, S. 16. Siehe für die anderen Gemeinschaften die komplementären Vorschriften in Art. 1 - 3 EAGV („Aufgabe der Gemeinschaft ist es ..."; „Zur Erfüllung ihrer Aufgabe hat die Gemeinschaft nach Maßgabe des Vertrags ..."; „Die der Gemeinschaft zugewiesenen Aufgaben werden durch folgende Organe wahrgenommen ..."; „Jedes Organ handelt nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse.") und Art. 1 - 6 EGKSV („Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl ist dazu berufen ..."; „Die Organe der Gemeinschaft haben im Rahmen der jedem von Urnen zugewiesenen Befugnisse und im gemeinsamen Interesse ..."; „Die Gemeinschaft erfüllt ihre Aufgabe unter den in diesem Vertrag vorgesehenen Bedingungen durch begrenzte Eingriffe."). Zu weiteren einschlägigen Vorschriften in den Gründungs Verträgen siehe Kr außer, Ermächtigung, S. 17. 247 Siehe die Darstellung und Kritik bei H.-P. Kraußer, Ermächtigung, S. 18 ff. 248 Zu den Kompetenzverteilungsregelungen im Lichte des statischen und dynamischen Prinzips L.-J. Constantinesco, Recht, S. 264 f f , 267 ff.; allgemein zur Dynamik des Integrationsprozesses R. Böhm, Kompetenzauslegung; R. Bieber/G. Ress, Dynamik; C. Chapuis, Übertragung, S. 301 ff.
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methodisch und rechtstechnisch einzubindenen „Weichmacher". 249 Eben dafür steht auch das Subsidiaritätsprinzip. 250 Nur so kann auch die Abgrenzung der Kompetenzen der Vertragsorgane von denen der Mitgliedstaaten geleistet werden, die erforderlich ist, um einerseits die Europäische Union und ihre Gemeinschaften im Rahmen dieser Zuordnung über eigene Hoheitsgewalt verfügen zu lassen und um andererseits - und damit unmittelbar zusammenhängend - klare Vorgaben für die Ermöglichung dieser Zuordnung durch die Übertragung von Hoheitsrechten formulieren zu können. Die vertragliche Hoheitsgewalt soll also einerseits eine kompetentiell bestimmt begrenzte, nicht mit Kompetenz-Kompetenz begabte Gewalt sein, andererseits aber, soweit die Kompetenzen reichen, eine autonome und homogene Gewalt · „ 251
sein. Um dem Ziel der Formulierung von Vorgaben für die Übertragung von Hoheitsrechten näher zu kommen, bedarf es im weiteren eines Blicks auf die bestehende Kompetenzausstattung der europäischen Organe. Dabei wird nicht verkannt, daß diese Ausstattung schon für sich einen komplizierten Problem-
249 Dezidiert für die Betonung des Prinzips begrenzter Ermächtigung H.-P. Kraußer, Ermächtigung, S. 111 f , 119 ff. und P. Lerche, AfP 1995, 634: „Europarechtliche Kompetenzen sind keine Handelsware. Anders als in anderen Fällen muß hier ins Gewicht fallen, daß der europarechtliche Gesamtraum ein kompetenziell mehr oder minder durchstrukturierter Sonderraum ist." Das Prinzip betonen auch J. Schwarze, Verwaltungsrecht, S. 238 f.; T. Schröer, Kompetenzverteilung, S. 28 ff.; T. Oppermann, Europarecht, Rn. 430, 432; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 235 f.; ders. EGVKommentar, Art. 3 b Rn. 2 f.; A. v. Bogdandy /M. Nettesheim, G/H, EUV-EGV, Art. 3 b Rn. 3 ff.; P. M. Huber, Integration, S. 146 ff.; M. Schweitzer / W. Hummer, Europarecht, Rn. 335 ff., 961; H D. Jarass, AöR 1996, 174 f f , 181, 198 f.; D. Triantafyllou, Gesetzesvorbehalt, der das Prinzip im Sekundärrecht verwirklicht sieht. Ein Beispiel für die methodische und rechtstechnische Einbindung der dynamischen Vertragselemente in die Kompetenzordnung bietet die Kommentierung des Art. 235 EWGV (EGV) durch E. Grabitz, G/H, EUV-EGV, Art. 235 EWGV (EGV). Anders aber T. C. W. Beyer, Staat 1996, 191 f , 213. Ein deutliches Bekenntnis zum Grundsatz der begrenzten Ermächtigung, gerade auch mit Blick auf Art. 235 EGV, durch EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996/1, 1759/1787 f. 250 Zu diesem siehe C. Stewing , Subsidiarität; J. Pipkorn, EuZW 1992, 697 ff.; D. Merten, Subsidiarität; H. Lecheler, Subsidiaritätsprinzip; W. Kahl, AöR 1993, 414 ff.; J. A. Frowein, FS Lerche 1993, S. 401 ff.; S. U. Pieper, Subsidiarität; B. Schima, Subsidiaritätsprinzip; D. Grimm, KritV 1994, 6 ff.; H. D. Jarass, EuGRZ 1994, 209 ff.; R. v. Borries, EuR 1994, 263 ff.; R. Scholz, FS Helmrich 1994, S. 411 ff.; G. Nicolaysen, GS Grabitz 1995, S. 469 ff.; R. Geiger, FS Gitter 1995, S. 267 ff.; /. E. Schwartz , FS Everling 1995, S. 1331 ff.; C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip; U. Everling, FS Stern 1997, S. 1227 ff. 251 T. Oppermann, Europarecht, Rn. 776.
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kreis bildet. Wie L.-J. Constantinesco überzeugend dargelegt hat, erfolgte die konkrete Verteilung der Kompetenzen zwischen Gemeinschaften und Mitgliedstaaten ohne Orientierung an irgendwelchen Denkmodellen, waren vielmehr pragmatische Gesichtspunkte maßgebend. 2 5 2 Diese Tatsache ändert aber nichts daran, daß die europäische Rechtsordnung eine Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung aufweist, mag sie auch eine spezifische, nämlich weithin final bzw. funktional ausgerichtete sein, die sich von der in Staaten, auch in Bundesstaaten geläufigen unterscheidet. 253 Versucht man also, die Kompetenzausstattung zu systematisieren, so stehen den Vertragsorganen ausschließliche, konkurrierende und parallele Kompetenzen z u ; 2 5 4 sie sind jedoch nicht i m Besitz einer Kompetenz-Kompetenz, d. h. ohne die M i t w i r k u n g der Mitgliedstaaten können sie die vertragliche Kompetenz· und Zuständigkeitsordnung nicht ändern. 2 5 5 Bei der ausschließlichen Kompetenz ist eine entsprechende Kompetenz der Mitgliedstaaten schon durch die bloße Existenz der europäischen Kompetenz ausgeschlossen. 256 Beispiele sind das Organisationsrecht, die Z o l l - und Handelspolitik der Europäischen Gemeinschaft gemäß Art. 113 E G V 2 5 7 und insbesondere auch die vertraglichen Zuständigkeiten des E u G H (siehe Art. 183 E G V , 155 E A G V , 89, 90 E G K S V ) . 2 5 8 Kollisionen zwischen europäischem Recht und mitgliedstaatlichem Recht sind hier ausgeschlossen. Den Normalfall der vertraglichen Kompetenzausstattung bildet die konkurrierende Kompetenz. Hier wird die entsprechende Kompetenz der Mitgliedstaaten nicht schon von Anfang an ausgeschlossen, sondern erst dann, wenn und soweit die europäischen Organe von ihrer Kompetenz Gebrauch gemacht haben. Die Mitglied-
252
L.-J. Constantinesco, Recht, S. 235 ff. E. Grabitz, G/H, EUV-EGV, Art. 235 EWGV (EGV) Rn. 1 ; H. D. Jarass, AöR 1996, 178 ff. 254 R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 253 f.; A. v. Bogdandy / M. Nettesheim, G/H, EUV-EGV, Art. 3 b Rn. 11 ff.; P. M. Huber, Integration, S. 158 ff.; M. Schweitzer / W. Hummer, Europarecht, Rn. 342 ff.; H. D. Jarass, AöR 1996, 185 ff. Für eine rechtstheoretische Grundlegung der Berechtigung zur Übernahme dieser Terminologie siehe M. Pechstein, Sachwalter, S. 23 ff. 255 T. Oppermann, Europarecht, Rn. 393, 784; H.-P. Kraußer, Ermächtigung, S. 120 f.; C. Chapuis, Übertragung, S. 25. Zum Begriff der Kompetenz-Kompetenz mit Blick auf die europäische Hoheitsgewalt siehe P. Lerche, FS Heymanns Verlag 1995, S. 409 ff; ders. Afp 1995, 637. 256 Überlegungen zum Begriff der ausschließlichen Gemeinschaflszuständigkeit bei R. Geiger, FS Gitter 1995, S. 267 ff. 257 EuGH, Gutachten 1/75, Slg. 1975, 1355/1363 f. 258 EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991/1, 6079/6105; R. Geiger, EGV-Kommentar, Art. 164 Rn. 7. 253
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Staaten können bis zu diesem Zeitpunkt und in diesem Umfang in diesem Kompetenzbereich tätig werden. Die konkurrierende wird der Sache nach zur ausschließlichen Kompetenz (Sperrwirkung), wenn von ihr für den entsprechenden Kompetenzbereich erschöpfend Gebrauch gemacht worden ist. 2 5 9 Bis zu diesem Zeitpunkt können daher Kollisionen auftreten, soweit die Vertragsorgane ihre konkurrierenden Kompetenzen ausüben, aber nicht ausschöpfen und somit Raum für weitere mitgliedstaatliche Rechtsetzung bleibt. Ab dem Zeitpunkt der Ausschöpfung des Kompetenztitels aber sind Kollisionen zwischen europäischem Recht und mitgliedstaatlichem Recht auch hier ausgeschlossen. Parallele Kompetenzen bestehen regelmäßig dort, wo die Vertragsorgane Querschnittsaufgaben wahrnehmen oder mitgliedstaatliche Tätigkeiten unterstützen. Beispiele sind Regelungen im Bereich des Kartellrechts sowie des allgemeinen Diskriminierungsverbots des Art. 6 Abs. 2 EGV und die Vornahme von Förderungsmaßnahmen. Hier begründet die Ausübung der Kompetenzen kein Verbot nationaler Rechtsetzung und müssen deshalb Entscheidungsregeln zur Auflösung von etwaigen Kollisionsfällen im Einzelfall führen. 260 Welche Art von Kompetenz die Verträge jeweils begründet haben, regeln diese nicht ausdrücklich. Dies ist durch das schwierige Geschäft der Auslegung der Kompetenzvorschriften zu ermitteln. 261 An dieser Kompetenzstruktur hat der EUV im Grundsatz nichts geändert. 262 Der gemeinschaftsvertraglichen Kompetenzausübung ist ihr Charakter belassen
259
EuGH, Rs. 22/70, Slg. 1971, 263/274 - Kommission / Rat; Rs. 18/83, Slg. 1984, 1299/1324 f. - Prantl; Rs. 218/85, Slg. 1986, 3513/3532 ff. - Cerafel / Le Campion; Rs. 255/86, Slg. 1988, 693/708 - Kommission / Belgien; Gutachten 2/91, Slg. 1993/1, 1061/1077 ff. 260 EuGH, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1/13 ff. - Wilhelm u.a. / Bundeskartellamt; Rs. C-316/91, Slg. 1994/1, 625/661 ff. - Parlament / Rat. 261 Eine Darstellung der letztlich vom EuGH zu leistenden Konkretisierung des Primärrechts (Methodenlehre des Gemeinschaftsrechts) und der einschlägigen Spruchpraxis bieten C. Hillgrub er, Rechtsfortbildung, S. 31 ff.; M. Nettesheim, G/H, EUV-EGV, Art. 4 EGV Rn. 43 ff.; J. Auweiler, Auslegungsmethoden; G. G. Sander, Gerichtshof; M Simm, Gerichtshof. Zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge und zu Wechselwirkungen zwischen Völkerrecht und Verfassung bei dieser Auslegung G. Ress und C. Schreuer, BDGVR 1982, S. 7 ff. und S. 61 ff. Zur - methodisch vergleichbaren Auslegung der bundesstaatlichen Zuordnung der Gesetzgebungskompetenzen durch das Grundgesetz W. März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 119 ff. 262 Anders aber dezidiert T. C. W. Beyer, Staat 1996, 189 ff. Für eine Neubewertung des Verhältnisses Gemeinschaften/Union - Mitgliedstaaten aus Anlaß des EUV A. v. Bogdandy / M. Nettesheim, EuR 1996, 3 ff.; ihre Neubewertung setzt aber - im
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worden und es sind ihre Kompetenzen erweitert, teilweise auch begrenzt worden; mit Blick auf die unionsvertraglich geregelte Außen- und Sicherheitspoliι * 2 6 3 sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres 264 hat eine Kompetenzzuweisung, aber keine Zuweisung von Durchgriffsbefugnissen stattgefunden. 265 Die kompetentiell bestimmt begrenzte Hoheitsgewalt kann - wie bei der Vorstellung der Kompetenzstruktur bereits angeklungen - in ihren Emanationen in Konflikt mit den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen kommen, wenn sie in diesen auf die Emanationen der Staatsgewalt trifft. Zwischen den beiden Rechtsordnungen kann ein nach einer Entscheidungsregel verlangender Kollisionsfall rechtslogisch aber nur dann vorliegen, wenn formell und materiell rechtmäßiges, mit Durchgriffswirkung ausgestattetes europäisches Recht auf in Hinsicht auf die Vertragsrechtsordnung kompetenzgemäßes, aber im übrigen europarechtswidriges nationales Recht trifft (Normenkollision). 266 Kompetenzkollisionen werden bereits weithin durch die vertragliche Kompetenzstruktur vermieden. 267 Ob das durchgreifende europäische Recht bzw. das kollidierende nationale Recht in Hinsicht auf die Vertragsrechtsordnung kompetenzgemäß ist, richtet sich letztlich danach, ob eine entsprechende Übertragung von Hoheitsrechten stattgefunden hat. 268
Gegensatz zu der Beyers - beim institutionellen Gefüge an und betont die grundsätzliche Beibehaltung der vertraglichen Kompetenzstruktur. 263 Dazu H G. Krenzier / H C Schneider, EuR 1994, 144 ff. 264 Dazu P.-C. Müller-Gr äff, Zusammenarbeit. 265 T. Oppermann / C D. Classen , NJW 1993, 11; I. Pernice , DV 1993, 454 ff.; S. Magiera, Jura 1994, 6 f.; zusammenfassend M. Schweitzer / W. Hummer, Europarecht, Rn. 6, 58 ff., 872 f f , 878 f f , 948 f f , 989 f f , 1806 f f , 1869 ff. Änderungen erfahren die bisherigen Verträge durch den - in Deutschland bereits beschlossenen (siehe BTDrucks. 13/9339 und 13/9913; BR-Drucks. 784/97; BGBl. I I 1998, S. 386) - Vertrag von Amsterdam, insbesondere durch die teilweise Überführung der Zusammenarbeit in der Justiz- und Innenpolitik in den EGV. Auch diese Änderungen halten aber an der dargestellten Kompetenzstruktur der europäischen Rechtsordnung fest; siehe zum Vertrag von Amsterdam die Überblicksaufsätze von M Hilf /E. Pache, NJW 1998, 705 ff.; R. Streinz, EuZW 1998, 137 ff. Zum Streit um den Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Verfassungsrecht, ausgelöst durch das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, siehe Κ Hasselbach, JZ 1997, 942 ff.; Η Η. Ru PP ì JZ 1998, 213 ff. 266 H D. Jarass, Grundfragen, S. 4 f. 267 Zu der Unterscheidung von punktuellem Anwendungsvorrang bei Normenkollisionen und Entzug mitgliedstaatlicher Handlungskompetenzen im Rahmen der Kompetenzordnung sehr klar R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 252 ff.; auch H. D. Jarass, AöR 1996, 194 f. 268 R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 188. 11 Flint
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Normenkollisionen finden mithin nur bei einem - ausnahmsweise auftretenden - Zusammentreffen zweier je für sich rechtsgültiger Normen der beiden Rechtsordnungen statt, das von der materiell-rechtlichen Unvereinbarkeit des von ihnen jeweils Gesollten oder Geforderten begleitet wird. 2 6 9 Diese Kollision soll als Entscheidungsregel das Prinzip des Anwendungsvorrangs des innerstaatlich unmittelbar geltenden europäischen vor entgegenstehendem, d. h. europarechtswidrigen nationalen Recht lösen. 270 Danach macht entsprechendes europäisches Recht das nationale Recht im festgestellten Kollisionsfall ohne weiteres unanwendbar (Suspension). Welche Rückschlüsse lassen sich aus den dargestellten Anforderungen an die Gestalt der europäischen Hoheitsgewalt und aus ihrer konkreten vertraglichen Ausgestaltung für den staatsrechtlichen Teil des Vorgangs der Begründung dieser Gewalt, die Übertragung von Hoheitsrechten, ziehen? Diese Anforderungen und Ausgestaltungen verlangen eine Übertragungskonstruktion, die die Kreation einer von den Mitgliedstaaten geschiedenen, mit bestimmt begrenzten Kompetenzen ausgestatteten, in ihrer Betätigung nicht durch die nationale Rechtsordnung determinierten, dieser vielmehr in der Anwendung vorrangigen, in sie durchgreifenden Hoheitsgewalt zu erklären vermag. Leisten muß die Übertragungskonstruktion auch Erklärungen für das Verhältnis der europäischen Rechtsordnung und ihrer Hoheitsgewalt zum allgemeinen Völkerrecht. b) Die Erklärungsleistung der Übertragungskonstruktion Zunächst ist festzuhalten, daß weder Delegation noch Mandat das zu leisten vermögen, was von dem Vorgang der Begründung einer europäischen Hoheitsgewalt durch die Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG zu leisten verlangt wird. Für das organisationsrechtliche Mandat liegt dies auf der Hand: Es gestattet die vertretungsweise Ausübung einer fremden Kompetenz, betrifft also von vornherein nicht einen Vorgang der Ausstattung mit eigenen Rechten; es läßt sich mit einem Stellvertretungsmodell die Entstehung von europäischer Hoheitsgewalt schlechterdings nicht erklä-
269 So W; März, Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 99, 116 f., 169 ff.; siehe auch E. Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 387 f. 270 Siehe die Darstellungen bei T. Oppermann, Europarecht, Rn. 523 ff.; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 25 I f f . ; H. D. Jarass, Grundfragen, S. 1 ff.; A. v. Bogdandy / M. Nettesheim, G/H, EUV-EGV, Art. 1 EGV Rn. 32 ff. und P. M. Huber, Integration, S. 121 ff. Eine auch die Theoriegeschichte einschließende Darstellung bietet C. Chapuis, Übertragung, S. 236 ff. 271 Ebenso S. Griller, Übertragung, S. 326 ff.; C. Chapuis, Übertragung, S. 94 f.
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Es gilt aber aus mehreren Gründen ebenso für die öffentlich-rechtliche Delegation. 272 Sie stellt für den Vorgang der Begründung von staatenübergreifender, homogener Hoheitsgewalt kein tragfähiges Modell zur Verfügung. Die Delegation im öffentlichen Recht ist notwendig ein organisationsrechtlicher Vorgang innerhalb einer Rechtsordnung. Regelmäßig übertragen dabei Hoheitsträger bzw. ihre Organe in ihre Zuständigkeit verwiesene Kompetenzen, d. h. durch die staatliche Rechtsordnung ihnen zur Ausübung zugewiesene Aufgaben und Befugnisse, zur Arbeitsentlastung an andere, meist hierarchisch niedere Hoheitsträger bzw. deren Organe. 273 Die Rechtsordnung bestimmt mit ihrer Kompetenz· und Zuständigkeitsordnung, welche Hoheitsrechte der Staat aus seiner potentiell allumfassenden Staatsgewalt als Kompetenzen durch seine Organe aktuell ausüben darf. Zwischen diesen Organen können Übertragungen von Hoheitsrechten nicht stattfinden, sondern nur Delegations- und Mandatszusammenhänge mit Blick auf Kompetenzen bestehen. Außerhalb der staatlichen Rechtsordnung haben diese Kompetenzen und diese Organe keine Existenz. Demgegenüber stellt die Begründung der europäischen Hoheitsgewalt durch die Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG einen konstituierenden Rechtsvorgang unter Beteiligung zweier Rechtsordnungen, nämlich der national staats- und der völkerrechtlichen, dar. Es werden dabei nicht Kompetenzen zur Arbeitsentlastung in einem Über- und Unterordnungsverhältnis übertragen, sondern durch Übertragung von Hoheitsrechten in Verbindung mit den anderen mitgliedstaatlichen Ermöglichungen die hoheitlichen und sachlichen Kompetenzgrundlagen für eine vom übertragenden Staat geschiedene Hoheitsgewalt begründet. Kurz und bündig, auch etwas überspitzt zusammengefaßt kann danach die Begründung, die für die Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG ein Verständnis des Übertragungsvorgangs im Sinne von Delegation und Mandat ausschließt, lauten: Hoheitsrechte können nicht delegiert oder mandatiert, Kompetenzen nicht anders als durch Delegation oder Mandat übertragen werden; Kompetenzübertragungen können nur innerhalb der Rechtsordnung stattfinden, die die staatlichen Hoheitsrechte aktuali-
272
So auch S. Griller , Übertragung, S. 326 ff. und C. Chapuis, Übertragung, S. 81, 92 ff. Die rechtstechnische Möglichkeit einer Delegation von Hoheitsrechten wird bejaht von W. Bunten, Durchführung, S. 54, 62 f , 66, 114 f.; doch trennt Bünten nicht ausreichend zwischen Delegation und Übertragung. Als Delegationszusammenhang bewertet auch Κ. E. Heinz, Staat 1997, 509 f f , die europäischen Gemeinschaftsstrukturen, wofür aber „gewisse Korrekturen an der von Triepel entwickelten Begrifflichkeit erforderlich sind" (518), die hier gerade nicht mitvollzogen werden. 273 H Triepel, Delegation und Mandat, S. 86 f , 97, 101, 112 f.; W.-R Schenke, VerwArch 1977, 123 f. und öfter.
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siert, Hoheitsrechte können nur auf Träger außerhalb der staatlichen Rechtsordnung übertragen werden. 274 Mit den geleisteten Vorarbeiten können nun auch die Argumente der herrschenden Meinung gegen die Leistungsfähigkeit einer Konstruktion der Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne einer Abtretung von Bestandteilen potentiell allumfassender Staatsgewalt für die Erklärung der europäischen Rechtsordnung und ihrer Hoheitsgewalt auf ihre Stichhaltigkeit überprüft, die hier entwickelte Übertragungskonstruktion somit auf ihre Tragfähigkeit getestet werden. Ein Hauptargument der herrschenden Meinung gegen die Übertragung von Hoheitsrechten ist die Auffassung, die europäische Hoheitsgewalt erschiene dann als die Summe der übertragenen nationalen Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten, wo doch mit ihrer Schaffung ein neuer Hoheitsträger mit originären, nicht übertragenen Hoheitsbefugnissen entstehe.275 Dieses Argument kann nun entkräftet werden. Die Konstruktion einer Übertragung von Hoheitsrechten im Wortsinne als deutscher Beitrag zur Ermöglichung der europäischen Hoheitsgewalt führt nicht dazu, daß diese Hoheitsgewalt nur ein Bündel, nur die Summe übertragener nationaler Hoheitsrechte ist, die europäische Hoheitsgewalt in jedem Mitgliedstaat also nach anderen Regeln agieren müßte. Vielmehr weisen die Mitgliedstaaten in Erfüllung der zwischen ihnen geschlossenen völkerrechtlichen Verträge den Vertragseinrichtungen nach den Vorschriften ihrer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung das an sachgegenständlich entsprechender staatlicher Hoheitsgewalt zu, was die Verträge den Einrichtungen an gemeinschaftlicher Hoheitsgewalt zuschreiben. In der Hand der Vertragsorgane aber befindet sich danach kein Bündel nationaler Hoheitsrechte, sondern entsteht aus den einzelnen mitgliedstaatlichen Zuweisungen die homogene Hoheitsgewalt. Auf europäischer Ebene verschmelzen die einzelnen mitgliedstaatlichen Beiträge zur im Vertrag bezeichneten, in der Ausübung mit Durchgriffswirkung begabten Kompetenz; für diese „Fusion" bleiben die einzelnen mitgliedstaatlichen Ermöglichungen aber eine conditio sine qua non. Diese Vorstellung ist deshalb erlaubt, weil die herrschende Meinung das Identitätserfordernis im Übertragungsvorgang immer als notwendig mitdenkt und sie den Satz nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet in Integrationszusammenhängen ausgeschlossen wissen will. Quam ipse habet führt jedoch deswegen nicht zu Problemen, weil jeweils Hoheitsrechte aus der potentiell
274
Davon zu trennen sind Ableitungsvorgänge innerhalb der europäischen Rechtsordnung, also Zuständigkeitsverschiebungen zwischen Gemeinschaftsorganen; zu ihnen P. Schindler, Delegation. 275 Siehe aus der älteren Literatur H. Steiger, Staatlichkeit und Überstaatlichkeit, S. 81 f , 102 f.; aus der neueren A. Randelzhofer, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 55.
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allumfassenden deutschen Staatsgewalt, nicht Kompetenzen aus der Kompetenz» und Zuständigkeitsordnung des Grundgesetzes auf die vertraglich begründeten Einrichtungen übertragen werden. Das Identitätserfordernis aber gehört nicht notwendig zum Übertragungsvorgang; es ist im Privatrecht eine Fiktion des Gesetzes, die im öffentlichen Recht, außerhalb von rechtsgeschäftlichen Verkehrserfordernissen, nicht mit vollzogen werden muß. Daß die Vorstellung eines Identitätserfordernisses im öffentlichen Recht, jedenfalls aber mit Blick auf den Vorgang der Übertragung von Hoheitsrechten, nicht mit vollzogen werden muß, zeigt auch folgende Überlegung: Die vertragliche Kompetenzabgrenzung zwischen gemeinschaftlichen Einrichtungen und Mitgliedstaaten weist diesen Einrichtungen zwar auch Materien zu, die ebenso Objekt innerstaatlicher Kompetenzzuweisungen sein könnten. Doch den Gemeinschaftskompetenzen liegen nicht staatliche Hoheitsrechte voraus, sondern nur die vertraglich beschriebenen Zwecke. 276 Diese Zwecke sowie die zu ihrer Verfolgung bestimmte Kompetenz, die konkrete Aufgabenstellung und die Durchgriffsbefugnis, sind in den einzelnen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht identisch vorhanden, beziehen aber ihre Substanz aus den mitgliedstaatlichen Begründungs- und Ermöglichungsakten hinsichtlich der vertraglichen Rechtsordnung. Denn anders als die Hoheitsrechte, die mit der Existenz des Staates gegeben sind, wären den vertraglich zugewiesenen Kompetenzen zugrunde liegende gemeinschaftliche Aufgaben und Befugnisse ohne mitgliedstaatliche Begründungs- und Ermöglichungsakte nicht existent. Werden diese gemeinschaftlichen Aufgaben und Befugnisse aus deutscher Sicht durch die Mitwirkung am völkerrechtlichen Vertragsschluß und die Übertragung von Hoheitsrechten begründet und ermöglicht, kommt es für ihre Entstehung auf Identität mit deutschen Hoheitsrechten nicht an. Die Übertragung von Hoheitsrechten zielt auf die Schaffung der Grundlagen für bestimmte gemeinschaftliche Kompetenzausübungen. Hier läßt sich nutzbar machen, daß Hoheitsrechte „der Stoff sind, aus denen Kompetenzen gemacht werden. Aus denselben Hoheitsrechten lassen sich also auch durchaus unterschiedliche, hier deutsche (Bundes- bzw. Landes-), dort europäische Kompetenzen schmieden. Die strikte Unterscheidung von originär und derivativ ist so durchbrochen: 277 Die die europäische Hoheitsgewalt bildenden, mit Durchgriffswirkung ausgestatteten Kompetenzen sind aus deutscher Sicht in ihrer Entstehung zwar aus
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Vergleichbare Überlegungen bei M. Heintzen, Kompetenz, S. 419 (2. Teil H. I.); E. Klein, Vitzthum, Völkerrecht, 4. Abschn. Rn. 15, 189. 277 Zur Problematik der Unterscheidung von originär/derivativ (eigenständig/abgeleitet) siehe H. Wagner, Eigenständigkeit, insbesondere S. 87 ff.
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der öffentlich-rechtlichen Übertragung von Hoheitsrechten abgeleitet, da sie jedoch in ihrer Existenz mit deutscher Staatsgewalt weder teilidentisch sind noch teilidentisch sein müssen, entsteht in Verbindung mit den anderen mitgliedstaatlichen Ermöglichungen auf der europäischen Ebene eine homogene, von den Mitgliedstaaten geschiedene Hoheitsgewalt, 278 deren Gestalt sich allein nach den sie verfassenden völkerrechtlichen Gründungsverträgen bestimmt. 279 Ein weiteres Argument der herrschenden Meinung gegen ein Verständnis des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne ihrer Abtretung ist, daß die deutsche Staatsgewalt dann auf den Gebieten, auf denen die europäischen Organe Kompetenzen besitzen, zur Setzung von Hoheitsakten nicht mehr in der Lage wäre. 280 Auch dieses Argument greift nicht. 281 Soweit die völkerrechtsvertraglich begründeten Organe ausschließliche Kompetenzen besitzen, ist die rechtliche Unmöglichkeit der Setzung nationaler Hoheitsakte gerade Sinn der vertraglichen Zuweisung dieser Kompetenzen zur selbständigen Ausübung an die europäischen Organe. Soweit im Bereich konkurrierender Kompetenzen Raum für die Setzung nationaler Hoheitsakte bleibt, bleibt er deswegen, weil auch nur eine entsprechende Hoheitsrechtsübertragung stattgefunden hat und die Vertragsorgane die Kompetenz nicht ausgeschöpft haben; der Vertrag hat hier Kompetenzen zur unselbständigen Disposition gestellt. Gleiches gilt für die parallelen Kompetenzen. Es muß also differenziert werden. Weiter - und quer zu den Differenzierungen der Kompetenzstruktur - gilt, daß in Fällen unmittelbar in die Mitgliedstaaten durchgreifender Kompetenzausübung, d. h. Hoheitsbetätigung - etwa EG-Verordnungen gemäß Art. 189 Abs. 2 EGV - es der Setzung nationaler Hoheitsakte regelmäßig nicht
278
Dafür, daß die Unterscheidung von Entstehungsgrundlage einer Ordnung einerseits, Inhalt und Wesen dieser Ordnung andererseits, eine gebräuchliche Unterscheidung ist, siehe nur A Hänel, Studien I, S. 38 f.; H. P. Ipsen, Gemeinschaflsrecht, S. 59. 279 Die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union werden durch die völkerrechtlichen Verträge verfaßt, die Verträge bilden aber keine Verfassung; dazu sehr klar D. Grimm, Verfassung. Löst man jedoch den Verfassungsbegriff vom Staatsbezug, so läßt sich von einer „Unionsverfassung" sprechen und lassen sich die Differenzen dieser zur Staatsverfassung systematisieren; so das Vorgehen von M. Kaufmann, Staat 1997, 521 ff. Doch bleibt es auch dann bei der die Gestalt von Union und Gemeinschaften bestimmenden Rolle der völkerrechtlichen Verträge; dies vergessen zu machen, sind die Bilder von Verfassunggebung, Verfassungsänderung und Verfassungsentwicklung etc. aber geeignet. 280 A. Randelzhof er, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 58; ausführlich C. Chapuis, Übertragung, S. 101 ff. 281 Kritisch auch W. Bunten, Durchführung, S. 103 ff.
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nur nicht mehr bedarf, diese dann vielmehr durch den Geltungsanspruch des Rechts der europäischen Hoheitsgewalt ausgeschlossen sind. Bedarf es aber der Setzung weiterer nationaler Hoheitsakte - etwa bei Umsetzung von EGRichtlinien gemäß Art. 189 Abs. 3 E G V - , so ist entweder fur diese Bereiche schon keine Hoheitsrechtsübertragung erfolgt (vgl. nur die unterschiedlichen Reichweiten der Handlungsformen in Art. 189 Abs. 2 und Abs. 3 E G V ) oder beruht eine dennoch notwendig werdende Setzung nationaler Hoheitsakte auf entsprechenden Ermächtigungen und Vorbehalten seitens der Vertragsrechtsordnung. In Fällen, in denen die Kompetenzausübung der Vertragsrechtsordnung aber ohnehin nur Akte gegenüber und nicht in den Mitgliedstaaten zu setzen vermag, beruht ihre Entstehung und Existenz allein auf der Ausübung der Vertragsgewalt gemäß Art. 32 Abs. 1, 59 GG und handelt es sich nicht u m ein Problem der Übertragung von Hoheitsrechten. Die Ablehnung des Verständnisses der Übertragung von Hoheitsrechten i m Wortsinne mit dem Argument, die deutsche Staatsgewalt sei dann in den entsprechenden Bereichen nicht mehr zur Setzung von Hoheitsakten in der Lage, trägt mithin bei einem differenzierenden Blick auf die europäische Kompetenzstruktur nicht. Die hier entwickelte Übertragungskonstruktion bietet auch deshalb eine ihre Tragfähigkeit unter Beweis stellende Erklärungs le istung, weil sie nicht nur den Durchgriff des europäischen Rechts, sondern auch dessen Abgrenzung zur unmittelbaren Anwendbarkeit und zum Anwendungsvorrang, zumal differenziert nach primärem und sekundärem Europarecht, zu erklären vermag. Das primäre Europarecht, das Vertragsrecht also, erlangt innerstaatliche Geltung durch Erlaß des Gesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG. Ein Durchgriff findet hier nicht statt. Dieses Recht vermag unmittelbare Anwendbarkeit zu erlangen, wenn es hinreichend konkret ist („self-executing"). Es ist dem entgegenstehenden nationalen Recht gegenüber mit Anwendungsvorrang ausgestattet, weil dies Inhalt der Vertragsordnung ist, die durch das Vertragsgesetz der innerstaatlichen Rechtsordnung inkorporiert wurde; inkorporiert wurde eine supranationale Rechtsordnung. Das sekundäre Europarecht vermag es, wenn es in Ausübung von Kompetenzen ergeht, denen aus deutscher Sicht eine Übertragung von Hoheitsrechten durch Gesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Art. 24 Abs. 1 G G zugrunde liegt, in die innerstaatliche Rechtsordnung durchzugreifen; es gilt dann unmittelbar. Es vermag auch unmittelbare Anwendbarkeit zu erlangen, wenn es hinreichend konkret ist; die unmittelbare Anwendbarkeit setzt den Durchgriff voraus. Der Durchgriff, nicht aber auch die unmittelbare Anwendbarkeit, ist auch Voraussetzung für den Anwendungsvorrang gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht. V o m nationalen Recht geschiedenes europäisches Recht
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befindet sich bereits in der nationalen Rechtsordnung und setzt sich dieser gegenüber, soweit sein Regelungsgehalt reicht, durch, auch wenn es nicht unmittelbar anwendbar ist. Schließlich zeigt sich die Tragfähigkeit der Übertragungskonstruktion auch bei einem Blick auf die Grundstrukturen des Vollzugs von durchgreifendem Europarecht in Deutschland. Auch für diesen Bereich muß zunächst differenziert werden, und zwar nach vollständiger und unvollständiger Durchgriffswirkung, nach der Art der Kompetenzausstattung und der Art der Handlungsform. 282 Unter vollständiger Durchgriffswirkung einer Norm der europäischen Rechtsordnung wird hier verstanden, daß es einer Umsetzung des Europarechts im Sinne seiner Inkorporierung und Konkretisierung durch Erlaß nationaler Rechtsvorschriften nicht bedarf; das Europarecht gilt unmittelbar und regelt die relevanten Sachverhalte vollständig. Deutsche Organe vollziehen in diesem Bereich „perfektes" Recht; sie wenden unmittelbar geltendes und unmittelbar anwendbares Europarecht an. Entsprechendes Recht findet sich in den aufgrund von vertraglichen Kompetenzbestimmungen in Verbindung mit vertraglich bereitgestellten Handlungsformen gesetzten Rechtsakten; zu nennen sind insbesondere die Verordnungen gemäß Art. 189 Abs. 2 EGV, 161 Abs. 2 EAGV bzw. die allgemeinen Entscheidungen des Art. 14 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 15 Abs. 3 EGKSV. Sie bedürfen keiner nationalen Inkorporierungs- bzw. Konkretisierungsakte, um Rechtswirkungen in den Mitgliedstaaten zu erzeugen; sie sind inhaltlich so bestimmt, unbedingt und vollständig, daß sie nicht nur unmittelbar gelten, sondern in toto unmittelbar anwendbar sind. Zu nennen sind auch die Entscheidungen gemäß Art. 189 Abs. 4 EGV, 161 Abs. 4 EAGV bzw. die individuellen Entscheidungen des Art. 14 Abs. 2 EGKSV. Im Rahmen der den Vertragsorganen ausschließlich zustehenden Kompetenzen sind die Mitgliedstaaten nicht nur durch eine vollständige Durchgriffswirkung sondern insbesondere durch die Ausschließlichkeit der Kompetenz von Rechtsetzungsakten zur Ausführung des Europarechts ausgeschlossen. Ausschließlichkeit der Kompetenz und vollständige Durchgriffswirkung können zusammenfallen, müssen dies aber nicht notwendig. Auch wenn sie nicht zusammenfallen, sind die Mitgliedstaaten durch die Art der Kompetenzausstattung von Ausführungsakten ausgeschlossen.
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Zu den einzelnen Differenzierungen und der inkonsistenten Terminologie siehe mit eigenen Auflösungsversuchen E. Klein, Unmittelbare Geltung.
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Wird dennoch mitgliedstaatliches Tätigwerden in den ausschließlich der europäischen Hoheitsgewalt unterliegenden Sachbereichen zugelassen, so bedarf dies einer Ermächtigung durch das Europarecht. 283 Beispiel ist Art. 115 EGV, der vorsieht, daß nationale handelspolitische Maßnahmen neben Art. 113 EGV durch besondere Handelsregelungen der Gemeinschaft gestattet werden können. 284 In diesen Zusammenhang gehört auch die Fallgruppe, in der die Mitgliedstaaten als „Sachwalter des gemeinsamen Interesses" auftreten. 285 Stehen den Vertragsorganen konkurrierende Kompetenzen zu und machen sie mit vollständiger Durchgriffswirkung von ihnen Gebrauch, dann haben sie im Umfang der sachlichen Regelung die Kompetenzgrundlage ausgeschöpft. Die Rechtslage stellt sich dann nicht anders als im Bereich der ausschließlichen Kompetenzen dar. Die Mitgliedstaaten sind nicht nur wegen mit vollständiger Durchgriffswirkung ergangenem Europarecht von eigenen Ausführungsakten ausgeschlossen, sondern auch deswegen, weil die konkurrierende dadurch der Sache nach zur ausschließlichen Kompetenz geworden ist. Auch hier können aber durch europarechtliche Ermächtigungen und Vorbehalte zugunsten der Mitgliedstaaten diesen Handlungsspielräume für Durchführungs- und Ausnahmeregelungen ausdrücklich eröffnet werden. Setzen die Vertragsorgane im Bereich ihrer parallelen Kompetenzen Rechtsakte mit vollständiger Durchgriffswirkung, so verbleibt den Mitgliedstaaten zwar kompetentiell Raum zum Tätigwerden, soweit aber der Regelungsbereich des unmittelbar geltenden Europarechts reicht, kommen sie an diesem aufgrund seines Anwendungsvorrangs nicht vorbei. Allerdings wird das Setzen von Rechtsakten mit vollständiger Durchgriffswirkung im Bereich der parallelen Kompetenzen die Ausnahme sein. Ergehen europäische Rechtsakte mit unvollständiger Durchgriffswirkung, bedarf es einer Ausführung, d. h. einer Umsetzung im Sinne einer Konkretisierung des Europarechts durch Erlaß nationaler Rechtsvorschriften. Der Vollzug des unmittelbar geltenden, aber nicht unmittelbar anwendbaren Europarechts wird also von der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften begleitet. Das Europarecht kann aber bereits einzelne unmittelbar anwendbare Vorgaben für 283
Ausfuhrlich wird die Problematik mitgliedstaatlicher Ausführungsnormen zu vertraglichen Bestimmungen wie zu Verordnungen kraft gemeinschaftsrechtlicher Ermächtigung behandelt von W. Bunten, Durchführung, S. 21 f f , 34 f f , 121 ff.; doch liegt diesen Ausführungen eine andere Konstruktion der Entstehungsgrundlagen der Gemeinschaftsgewalt (dinglicher Verzicht) als der hier entwickelten zugrunde. 284 R. Geiger, EGV-Kommentar, Art. 115 Rn. 3. 285 Siehe dazu M. Pechstein, Sachwalter; zur Verbindung dieser Fallgruppe mit der Problematik der Schutznormen im Recht der Europäischen Gemeinschaften siehe S. Bohr, Schutznormen, S. 133 ff.
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seinen Vollzug enthalten; auch können Normtypen des Europarechts mit unvollständiger Durchgriffswirkung unter Umständen bereits unmittelbar Rechte einzelner begründen („direkte Wirkung"). Entsprechendes Recht findet sich in den aufgrund von Kompetenzbestimmungen der Verträge ergangenen Rechtsakten; prototypische Handlungsform sind hier die Richtlinien der Art. 189 Abs. 3 EGV, 161 Abs. 3 EAGV bzw. die Empfehlung des Art. 14 Abs. 3 EGKSV. Einschlägig sind auch einzelne Bestimmungen von Verordnungen, die eine unmittelbare Anwendbarkeit vermissen lassen; hier sind die Mitgliedstaaten auf der Grundlage europarechtlicher Bestimmungen zum Erlaß von Durchführungsregelungen veranlaßt. Die ausschließlichen Kompetenzen fallen für Umsetzungsakte der Mitgliedstaaten schon deshalb aus, weil die entsprechenden Sachbereiche den Vertragsorganen zu ausschließlicher Regelung zugewiesen sind. Insofern kommt es hier nicht entscheidend darauf an, ob die europäischen Organe nicht auch Recht mit unvollständiger Durchgriffswirkung setzen. Setzen sie es, folgen mitgliedstaatliche Handlungsspielräume nicht aus der Unvollständigkeit der Durchgriffswirkung, sie können vielmehr nur aus Ermächtigungen und Vorbehalten seitens der europäischen Rechtsordnung folgen. Die konkurrierenden Kompetenzen bilden nicht nur den Normalfall der vertraglichen Kompetenzausstattung, auch ihre Inanspruchnahme seitens der Vertragsorgane durch Setzung von Recht mit unvollständiger Durchgriffswirkung, insbesondere von mitgliedstaatliche Umsetzung erfordernden Richtlinien und Empfehlungen (EGKSV), bildet den Regelfall. Hier findet in der Hauptsache der mitgliedstaatliche Vollzug des Europarechts statt. Für diesen gelten folgende Leitlinien: Die nationale Umsetzung ist auf das zu erreichende Ziel der Richtlinie verpflichtet, im übrigen aber ist sie in der Wahl der Form und der Mittel frei (Art. 189 Abs. 3 EGV). Die Richtlinie legt also das zu erreichende Ergebnis, das Harmonisierungsprogramm europarechtlich bindend - d. h. insoweit mit unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten, mit Durchgriffswirkung - fest, dieses Programm wird dann von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt, konkretisiert. Die Durchgriffswirkung ist darin zu sehen, daß die in den Mitgliedstaaten nach nationalem Recht zuständigen Rechtsetzungsorgane unmittelbar auf das in der Richtlinie enthaltene Programm verpflichtet sind und sie zudem die Umsetzung binnen einer Frist und so zu leisten haben, daß die Beachtung der Richtlinie rechtlich gesichert ist. Die Durchgriffswirkung der Richtlinie erweist sich auch darin, daß sich der einzelne gegenüber seinem Mitgliedstaat unmittelbar auf sie berufen kann, wenn sie trotz Fristablaufs nicht oder nur unzulänglich umgesetzt worden ist und sie begünstigende Vorschriften enthält, die inhaltlich unbedingt und hinrei-
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chend bestimmt sind, um auch im Einzelfall unmittelbar angewendet werden zu können („direkte Wirkung"). Diese Bindung der zuständigen mitgliedstaatlichen Rechtsetzungsorgane wie auch die Tatsache der Anknüpfung von Sanktionen an ihre Nichterfüllung zeigen, daß die Richtlinien aus dem Arsenal der Handlungsformen des „klassischen" Völkerrechts herausfallen, sich nicht allein durch Betätigung der Art. 32 Abs. 1, 59 GG legitimieren lassen, sie vielmehr auf der entsprechenden Übertragung von Hoheitsrechten beruhen. Dies zeigt sich weiterhin daran, daß sich die Durchgriffswirkung nicht nur wie bisher beschrieben im Rahmen der Handlungsform der Richtlinie zur Geltung bringt, sondern daß die Mitgliedstaaten, wenn sie Richtlinien umsetzen, zumindest teilweise im kompetentiellen Bereich der europäischen Hoheitsgewalt handeln und insoweit auch an die Rechtsmaßstäbe der europäischen Rechtsordnung gebunden sind. 286 Auch diese Bindung gilt unmittelbar und unterliegt der Rechtskontrolle durch den EuGH. 2 8 7 Hinzuzufügen ist, daß die Richtlinien in der Praxis im weiten Umfang detaillierte Bestimmungen enthalten, die den mitgliedstaatlichen Umsetzungsspielraum reduzieren und der Richtlinie faktisch weithin unmittelbare Anwendbarkeit sichern. Setzen die Vertragsorgane im Bereich ihrer parallelen Kompetenzen Recht mit unvollständiger Durchgriffswirkung, verbleibt den Mitgliedstaaten Raum zu eigenem Tätigwerden nicht nur deshalb, weil ihnen hier weiterhin Kompetenzen zur Verfügung stehen, sondern auch deshalb, weil die europäischen Rechtsakte einer konkretisierenden Umsetzung durch nationale Rechtsvorschriften bedürfen. Schwerpunkt der Ausübung paralleler Kompetenzen wird aber die Setzung von Akten ohne Durchgriffswirkung sein. Die hier für die Darstellung des Vollzugs von Europarecht getroffenen Differenzierungen haben zur Herausarbeitung eines Bereiches der europäischen Rechtsordnung geführt, in dem Europarecht ohne Durchgriffswirkung auftritt, also nicht auf der Übertragung von Hoheitsrechten beruht. Hierher gehören die Empfehlungen und Stellungnahmen gemäß Art. 189 Abs. 5 EGV, 161 Abs. 5 EAGV und die Stellungnahmen des Art. 14 Abs. 4
286
Zu Lösungsansätzen der damit angesprochenen Frage nach der hoheitsrechtlichen Grundlage der mitgliedstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen siehe umfassend W. Bunten, Durchführung, S. 24 f f , 34 f f , 143 ff.; jedoch geht Bunten von einer anderen als der hier vertretenen Übertragungskonstruktion aus (dinglicher Verzicht auf Hoheitsrechte, nicht deren Übertragung). 287 H.-W. Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 189 ff.
172
Zweiter Teil: Die Konstruktion
EGKSV wie überhaupt das intergouvernementale Handeln der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften; mit entsprechenden intergouvernementalen Handlungsformen arbeiten insbesondere die durch den EUV eingeführten und derzeit nicht mit Durchgriffsbefugnissen ausgestatteten Politiken und Formen der Zusammenarbeit in den Bereichen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gemäß Art. J ff. EUV sowie Justiz und Inneres nach Art. Κ ff. EUV. Dieser Bereich der europäischen Rechtsordnung unterliegt hier nicht näherer Untersuchung, denn er steht außerhalb der Problematik der Übertragung von Hoheitsrechten. Festzuhalten ist aber, daß die herrschenden Anschauungen in Literatur und Rechtsprechung diesen Bereich im Rahmen der Bearbeitung des Europarechts weithin ebenso vernachlässigen, 288 wie sie die Entstehung und Wirkung der Europäischen Union ohne ausreichende Systematisierungsleistung im Bereich der Regelungen zur auswärtigen Gewalt pauschal in Verbindung mit der Übertragung von Hoheitsrechten bringen. Unter anderem weil sich so die europäische Rechtsordnung und ihr Verhältnis zur mitgliedstaatlichen Rechtsordnung nicht vollständig erfassen läßt, gerät den herrschenden Anschauungen die „Übertragung von Hoheitsrechten" zur Metapher. Die Möglichkeit, die Übertragung von Hoheitsrechten im Wortsinne konstruieren zu können, ist trotz der in Literatur und Rechtsprechung ganz herrschenden Meinung weder überraschend noch ihre Ausführung gänzlich neu. Früh vorgezeichnet findet sie sich etwa in den Arbeiten von C. F. Ophüls. 289 Obwohl dieser ausdrücklich und ausführlich die Selbständigkeit der Gemeinschaftshoheit gegenüber der Staatshoheit der Mitgliedstaaten als den Kern der Supranationalität aufweist, 290 schließt er deswegen nicht auch einen derivativen Rechtserwerb der Gemeinschaften aus: Derivativer Rechtserwerb bedeute nur, daß die Entstehung des Rechts von der Rechtsstellung des Vorgängers abhängig sei, nicht aber, daß das entstandene Recht unselbständig sei. 291 Daß C. F. Ophüls sich letztlich dennoch für einen originären Hoheitserwerb der Gemeinschaften ausspricht, ist seiner Annahme geschuldet, Grundvoraussetzung des derivativen Rechtserwerbs sei die wesentliche Inhaltsgleichheit der „übertragenen" Rechte, die Gemeinschaft und die Gemeinschaftsrechte stellten aber ge-
288 Siehe aber stellvertretend M. Bothe, FS Schlochauer 1981, S. 761 ff.; U. Everling, GS Constantinesco 1983, S. 133 ff.; J. Wuermeling, Kooperatives Gemeinschaftsrecht. 289 So in C. F. Ophüls, FS Heymanns Verlag 1965, S. 519 ff. Siehe aber auch entsprechende Ansätze in den Arbeiten von C. Aider, Koordination und Integration, und W. Bünten, Durchführung, die jedenfalls im Ergebnis wie hier zu einer strikten Kompetenzausscheidung zwischen Mitgliedstaaten und Vertragsrechtsordnung kommen. 290 C. F. Ophüls, FS Heymanns Verlag 1965, S. 547 ff. 291 C. F. Ophüls, FS Heymanns Verlag 1965, S. 561 f.
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o s t u o n der Übertragung von Hoheitsrechten
173
genüber dem Staat und seinen Rechten ein anders strukturiertes Gebilde dar. 292 Er konstruiert aber den originären Hoheitserwerb der Gemeinschaften immerhin so, daß staatlicherseits nicht etwa nur auf den Ausschließlichkeitsanspruch eigener Hoheitsausübung verzichtet worden wäre, alle Souveränitätsrechte dem Staat also voll verblieben wären, 293 sondern so, daß die Hoheitsgewalt des Staates sich aus sachlich abgegrenzten Ausschnitten staatlicher Hoheitsrechte vollständig und endgültig, mit vergleichsweise dinglicher Wirkung, zurückziehe und die der Gemeinschaften sich dahin ausdehne.294 Damit kann C. F. Ophiils für das Verhältnis von Gemeinschaftshoheit und Staatshoheit zu einem ähnlichen wie dem hier vorgetragenen Ergebnis kommen: „Staatshoheit und Gemeinschaftshoheit stehen, in ihrer Zuständigkeit nach Sachgebieten getrennt, grundsätzlich unabhängig (wenn auch vielfach verzahnt) nebeneinander. Die Staatshoheit der Mitgliedstaaten war historisch bei der Entstehung der Gemeinschaften, dem Gründungsakt maßgebend; sie hat aber, da der Gründungsakt eine neue selbständige Hoheitsgewalt außerhalb der staatlichen Rechtsordnungen erzeugt hat, dogmatisch hinsichtlich der Geltung der Gemeinschaftsnormen keinen rechtlich bestimmenden Einfluß mehr. Die Gemeinschaftshoheit herrscht nunmehr auf den Sachgebieten, die ihr überwiesen sind, die Staatshoheit auf den Sachgebieten, die sie behalten hat. Wenn sich die Staatshoheit auf den Sachgebieten der Gemeinschaft betätigt, so ist das ebenso ungültig, wie wenn sich die Gemeinschaft auf den Sachgebieten des Staates betätigt." 295
Nach allem führt die Anwendung der hier entwickelten Übertragungskonstruktion in Erfüllung entsprechender völkerrechtlicher Verpflichtungen zur Kreation einer vom Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland geschiedenen und homogenen europäischen Hoheitsgewalt, d. h. einer Gewalt, die über Rechte verfügt, deren Ausübung sich nicht nach den Bestimmungen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung, sondern nach den Festlegungen der sie verfassenden völkerrechtlichen Verträge richtet, und die sich im Kollisionsfall gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht durchzusetzen vermag. Die europäische Hoheitsgewalt und das europäische Recht können mithin insofern als autonom gegenüber nationalem Recht bezeichnet werden, als diese Autonomie Inhalt der die europäische Rechtsordnung und ihre Hoheitsgewalt verfassenden völkerrechtlichen Verträge ist. Dies darf aber nicht vergessen machen, daß die europäische Hoheitsgewalt zur Ermöglichung der Durchgriffswirkung und des Anwendungsvorrangs von ihr gesetzter Rechtsakte der
292 293 294 295
C. F. C F. C. F. C. F.
Ophüls, Ophüls, Ophüls, Ophüls,
FS Heymanns FS Heymanns FS Heymanns FS Heymanns
Verlag Verlag Verlag Verlag
1965, S. 564. 1965, S. 571 ff. 1965, S. 563 f., 570 f. 1965, S. 570.
174
Zweiter Teil: Die Konstruktion
von den Gründungsstaaten geleisteten vertraglichen Errichtung und aus deutscher Sicht der Übertragung von Hoheitsrechten bedurfte. Es sollte daher auf die Zuschreibung von Autonomie, da ihr ein irreführendes Potential anhaftet, verzichtet werden. 296 Autonomie auch gegenüber dem Völkerrecht könnte die europäische Hoheitsgewalt allenfalls und auch nur insoweit durch ihre Betätigung selbst gewinnen; sie setzt in die Mitgliedstaaten durchgreifende, mit Anwendungsvorrang ausgestattete Rechtsakte, die weder dem nationalen, noch dem „klassischen" Völkerrecht angehören, die vielmehr als eine eigen geartete, gemeinhin als supranational bezeichnete Rechtsmasse angesehen werden können. 297 Das Europarecht ist jedoch nicht autonom gegenüber dem Völkerrecht. Die die Europäische Union wie die Europäischen Gemeinschaften verfassenden völkerrechtlichen Verträge bilden die Geltungsgrundlage für ihre Entstehung, Existenz und Wirkung. Von dieser Grundlage haben sich die europäischen Einrichtungen weder aufgrund normativer Ermächtigung in den Verträgen noch auch nur faktisch abgelöst. 298 Die europäischen Einrichtungen lassen sich zwar nicht dem „klassischen" Völkerrecht zuordnen, wohl aber stellen sie eine besondere Stufe in der dynamischen Entwicklung des Völkerrechts dar. 299 Diese Besonderheit erweist sich in der Tat schwerpunktmäßig in dem Verhältnis des sekundären Europarechts zum nationalen Recht (Durchgriffswirkung, Anwendungsvorrang). Mag insoweit auch von Autonomie gegenüber dem Völkerrecht nach seinem herkömmlichen Entwicklungsstand die Rede sein; Grundlage der Besonderheiten der europäischen Rechtsordnung sind die diese Besonderheiten konstituierenden Vorschriften in den die Rechtsordnung verfassenden völkerrechtlichen Verträgen sowie die in Erfüllung dieser Verträge vorgenommenen mitgliedstaatlichen Ermöglichungsakte. Daß dem auch weiterhin so ist, zeigt sich bei jeder über die bestehenden Verträge hinausgehenden Weiterentwicklung der europäischen Rechtsordnung; sie bedarf immer eines neuen völkerrechtlichen Vertrages und
296 Zur Diskussion um die Autonomie der Unions- bzw. Gemeinschaftsrechtsordnung siehe T. Schilling, Harv. Int'l L. J. 1996, 389 ff. einerseits; J. Η Η. Weiler / U. R. Haltern, Harv. Int'l L. J. 1996, 411 ff. andererseits. 297 Zum Begriff der Supranationalität als Leitbegriff einer Theorie der Gemeinschaftsverfassung und zu einem Verbandstypus der supranationalen Union, deren Rechtsprozeß neben den internationalen und den staatlichen Rechtsprozeß tritt, siehe A. v. Bogdandy, Skizzen, S. 13 ff.; ders., Verfassung, S. 97 ff.; ders., integration 1993, 210 ff. 298 So auch zuletzt B. Kempen, A V R 1997, 276 ff.; A. Marschik, Subsysteme, S. 210 ff. 299 Dazu ausführlich und sehr klar W. Meng, Entwicklungsstufe.
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175
entsprechender mitgliedstaatlicher Aktionen. Das Europarecht stellt sich in letzter Konsequenz als Völkerrecht dar; die europäische Rechtsordnung ist Bestandteil der Völkerrechtsordnung. 3 0 0
2. Die Stimmigkeit der Konstruktion
im übrigen
Die hier entwickelte Konstruktion des Vorgangs einer Übertragung von Hoheitsrechten muß nicht nur die konkrete Gestalt der europäischen Rechtsordnung und ihrer Hoheitsgewalt erklären können, sondern ihre Stimmigkeit auch mit B l i c k auf einschlägige verfassungsrechtliche Auslegungsprobleme erweisen. So ist zu erklären, in welchem Verhältnis die Sätze des Art. 23 Abs. 1 GG zueinander stehen. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG ermächtigt zur Übertragung von Hoheitsrechten durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates, Satz 3 bestimmt die Geltung von Art. 79 Abs. 2 und 3 GG. Dabei macht Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG zum Kreis der einbezogenen Rechtsakte nähere Angaben: Begründung der Europäischen Union sowie Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt w i r d oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG stellt damit nicht auf Verfassungsänderungen i m eigentlichen Sinne ab, sondern auf völkerrechtliche Regelungen und staatliche Rechtsakte mit Wirkung i m Völkerrechtsraum, die, gäbe es nicht Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG, vor ihrer Implementation bzw. ihrer Vornahme der Verfassungsänderung bedürften. Es geht hier auch nicht per se um materielle Verfassungsänderungen, weil die Verfassung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG die Entstehung europäischer Hoheitsgewalt und die besondere Form ihrer Geltung in Deutschland bereits legitimiert hat, sondern allen300 Zu einem Verständnis der europäischen Rechtsordnung zwischen klassischem Völkerrecht und staatlichem Recht, das sich von seiner völkerrechtlichen Grundlage nicht abgelöst hat, siehe auch R. Bernhardt, FS Bindschedler 1980, S. 229 ff.; G. Ress, FS Zeidler 1987, S. 1777 f.; R. Streinz, Grundrechtsschutz, S. 102 ff.; 125 ff.; W. Pauly, Souveräner Staat, S. X X I V ; A. Schmitt Glaeser, Elemente, S. 23 ff, 25 ff.; sehr deutlich C. Chapuis, Übertragung, S. 25 f , 47, 215 ff. Dezidiert für ein Verständnis der Rechtsordnung als einer gegenüber dem Völkerrecht eigenständigen Rechts- und Verfassungsordnung aber U. Everling, FS Mosler 1983, S. 173 ff. und ders, FS Bernhardt 1995, S. 1161 ff. Für eine Darstellung der wissenschaftlichen Bemühungen um die Bestimmung der Natur des supranationalen Rechts siehe C. Chapuis, Übertragung, S. 212 ff. und M. Schweitzer / W. Hummer, Europarecht, Rn. 73 ff.; für die praktische Bedeutung R. Streinz, Europarecht, Rn. 114.
176
Zweiter Teil: Die Konstruktion
falls um Regelungen und Rechtsakte, die man aufgrund dieser besonderen, durchgreifenden Geltung als „verfassungsrelevant" beschreiben kann. 301 Verfassungsrelevanz in diesem Sinne liegt bei der Übertragung von Hoheitsrechten jedoch immer vor, gerade weil sie zur Kreation eines nicht dem Grundgesetz unterworfenen Hoheitsträgers führt, dem der hoheitliche Zugriff, der Durchgriff auf die vom Grundgesetz geschützten Rechtsunterworfenen erlaubt ist, so daß die Art. 79 Abs. 2 und 3 GG auch für alle Fälle der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG gelten würden, würde man die Verfassungsrelevanz der Übertragung von Hoheitsrechten als Anknüpfungspunkt des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ausreichen lassen. Dies ist aber systematisch wenig überzeugend. Anknüpfungspunkt für Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ist, daß der Inhalt des Grundgesetzes geändert wird. Dies ist dann der Fall, wenn die Übertragung von Hoheitsrechten, die selbst nicht von materiell verfassungsändernder Qualität ist, als verfassungsrechtlicher Vorgang unter dem Grundgesetz gedacht, das Grundgesetz ändern würde, etwa durch Verschiebungen in der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, durch Ermächtigung zu Grundrechtseingriffen, die durch die grundgesetzlichen Schrankenvorbehalte nicht abgedeckt sind etc. Dies muß jedoch nicht notwendig bei jeder Übertragung von Hoheitsrechten der Fall sein. So kann ein Übertragungsvorgang eine durch das Grundgesetz bereits zugewiesene Bundeskompetenz betreffen und die zugelassene Art und Weise der Kompetenzausübung durch die europäische Hoheitsgewalt mit den Grundrechten vereinbar sein. Lassen sich aber Fälle denken, in denen das Grundgesetz nicht geändert würde, dann hat Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG einen eigenständigen Anwendungsbereich für das einfache Zustimmungsgesetz neben Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG und seinem Verweis auf Art. 79 Abs. 2 und 3 GG. 3 0 2 Deren Anwendung will Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG erkennbar nur in bestimmten Fällen, die er
301
Zum Begriff der Verfassungsrelevanz siehe R. Scholz, M/D, GG, Art. 23 Rn. 83. Anders aber A. Randelzhof er, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 203; W. Fischer, ZParl 1993, 39 f.; U. Everling, DVB1. 1993, 943 f., der allerdings Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG als „Betriebsunfall" bezeichnet; R. Breuer, NVwZ 1994, 423; P. Lerche, FS Schambeck 1994, S. 758 f f , will zwar bestimmte Evolutivklauseln dem Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG als Mindestsubstanz erhalten, bezweifelt aber selbst, ob es derartige Klauseln derzeit überhaupt gibt; Ο. Rojahn, vM/K, GG, Art. 23 Rn. 49 f.; P. Kunig, FS Heymanns Verlag 1995, S. 596 f.; R. Streinz, Sachs, GG, Art. 23 Rn. 64 f f , 74 ff. Auch aus der Genese des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG läßt sich entnehmen, „daß die mit der Ratifizierung des Unions· Vertrages verbundenen und alle weiteren europäischen' Hoheitsrechtsübertragungen der verfassungsändernden Mehrheiten des Artikels 79 Abs. 2 GG bedürfen" sollten; Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucks. Nr. 12/6000, S. 21; siehe auch Bericht des Sonderausschusses „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)", BT-Drucks. 12/3896, S. 19; K. Schmalenbach, Europaartikel, S. 96 f. 302
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o s t u o n der Übertragung von Hoheitsrechten
177
wie - nicht als - Verfassungsänderungen behandelt, indem die für Verfassungsänderungen vorgesehenen formalen und materialen Sicherungen angeordnet werden; mögen diese Fälle auch die Regel sein, so sind sie doch nicht die allein denkbaren. 303 Kommen über Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG die Absätze 2 und 3 des Art. 79 GG zur Anwendung, hat das Übertragungsgesetz zunächst dem besonderen Mehrheitserfordernis des Art. 79 Abs. 2 GG zu genügen. Durch den Verweis auf Art. 79 Abs. 3 GG wäre zudem eine Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union unzulässig, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt würden. Da eine solche „Berührung" wohl dann anzunehmen ist, wenn die zur Kompetenzausübung mit Durchgriffswirkung in Deutschland begabte Europäische Union so strukturiert wäre, daß die innerstaatliche Geltung der in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Grundsätze nicht gewährleistet sein würde, ist diese Vorgabe des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG zumindest teilidentisch mit Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG, der für die Europäische Union bestimmte Strukturanforderungen formuliert. Von Interesse ist an dieser Stelle auch, daß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG nicht auch auf Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG verweist, wonach das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden kann, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt (die Bestimmung des Satzes 2 ist vorliegend nicht einschlägig). Damit bestätigt Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG den oben entwickelten Befund, daß Hoheitsrechtsübertragungen keinen materiell verfassungsändernden Charakter haben. Verfassungsrelevanz aber läßt sich durch Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG nicht einfangen. Die hier entwickelte Übertragungskonstruktion ließe sich auch mit geringeren Reibungsverlusten an die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit anschließen. Rechtslehre und Rechtsprechung haben früh - wie im ersten Teil gezeigt - die Vorschrift des Art. 24 Abs. 1 GG in einen Zusammenhang mit Präambel, den anderen Absätzen des Art. 24 GG, mit Art. 25 und Art. 26 GG gebracht und daraus die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, eine 303 So im Ergebnis auch R. Scholz, NJW 1992, 2599; ders., NJW 1993, 1691; ders., N V w Z 1993, 821 f.; ders., M/D, GG, Art. 23 Rn. 83 ff.; H. D. Jarass, J/P, GG, Art. 23 Rn. 16, 22 f.; A. Bauer / M. Jestaedt, Grundgesetz im Wortlaut, S. 26 ff.; von einem anderen Ansatz aus auch A. Schmitt Glaeser, Elemente, S. 69 ff. sowie U. Hufeid, Verfassungsdurchbrechung, S. 118 f , die Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG nicht auf Eingriffe in die Kompetenzordnung des Grundgesetzes angewendet wissen wollen, und R. Geiger, JZ 1996, 1093 f f , der Art. 23 Abs. 1 GG als lex specialis zu Art. 59 Abs. 2 GG begreift.
12 Flint
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Zweiter Teil: Die Konstruktion
Entscheidung für eine offene Staatlichkeit gewonnen. Diese den genannten Vorschriften zugrunde liegende Entscheidung sollte dann auf - unter anderem die Vorschrift des Art. 24 Abs. 1 GG zurückwirken und ihre Auslegung leiten. Auch Art. 23 GG wurde sogleich nach seiner Einfügung in das Grundgesetz in diesen Zusammenhang eingestellt. 304 In der Tat treffen sich die zitierten Vorschriften an einem Punkt, den man mit dem BVerfG das Prinzip des friedlichen Zusammenlebens der Völker nennen kann. 305 Und von der Hand gewiesen werden kann auch nicht die Tatsache, daß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG von einem staatstheoretischen Modell ausgehen, das jedenfalls mit den Formeln der Undurchdringlichkeit und Geschlossenheit des Staates nicht beschrieben werden kann. 306 Doch drängen sich Zweifel auf, ob dem von Rechtslehre und Rechtsprechung verfolgten Ansatz des Aufsuchens verfassungsrechtlicher Grundentscheidungen und ihrer die Auslegung leitenden Rolle gefolgt werden kann. 307 Die damit angesprochene Problematik mag deutlicher hervortreten, wenn man sich folgendes vor Augen hält: Zwar wird den in Bezug genommenen Vorschriften die Entscheidung für eine offene Staatlichkeit, eine Integrationsbereitschaft des Grundgesetzes abgewonnen, wird die Modernität der Staatsauffassung betont, die die Vorstellung einer Übertragung von Hoheitsrechten erlaubt und sollen diese Entscheidung und diese Staatsauffassung die Auslegung der Übertragungsermächtigungen leiten. Im Ergebnis dieser Auslegung wird aber die Zulässigkeit einer Übertragung von Hoheitsrechten im Wortsinne abgelehnt, werden am deutschen Verfassungsrecht orientierte Kongruenz- bzw. Homogenitätsanforderungen gestellt, Struktursicherungsklauseln eingeführt und wird eine deutsche verfassungsgerichtliche Kontrolle bezüglich der von zwischenstaatlichen Einrichtungen ausgehenden Rechtsakte vorbehalten. Daran hat sich auch durch Einführung des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG nichts geändert. Zwar ist hier ein „Staatsziel Europa" angesprochen, 308 doch mit dem
304
Siehe nur H. D. Jarass, J/P, GG, Art. 23 Rn. 5. BVerfGE 47, 327/382; siehe H. D. Jarass, J/P, GG, Art. 24 Rn. 1. 306 K. Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 35. 307 Vorsichtig geht bei der Suche nach entsprechenden Grundsätzen auch C. Tomuschat, HdbStR VII, S. 483 f f , vor; ihm zufolge kann schon die Offenheit als solche kein Verfassungsziel sein und liegt in diesem Begriff die Gefahr der Grenzüberschreitung hin zum politisch Wünschbaren beschlossen (S. 486). Andere normativ-direktive Grundsätze aber, die der Auslegung der Übertragungsermächtigungen als verfassungsrechtliches Leitmotiv voranzugehen hätten, macht er nicht namhaft. Kritisch auch L. Grämlich, Zentralbank, S. 145; U. Di Fabio, NJW 1990, 952. 308 Zu verschiedenen Facetten dieser Zielvorstellung K.-P. Sommermann, DÖV 1994, 596 ff.; P. Badura, FS Schambeck 1994, S. 887 ff.; J. Isensee, FS Everling 1995, S. 567 ff. 305
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o s t u o n der Übertragung von Hoheitsrechten
Verweis des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 auf Art. nicht der „Ewigkeitsgarantie" unterfallen bisherigen Rechtslage, die die Zulässigkeit Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG begriffen
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79 Abs. 3 GG, der dieses Staatsziel läßt, verbleibt es materiell bei der der europäischen Integration in den hat. 309
Der Grundsatz der offenen Staatlichkeit vermag offensichtlich der Auslegung der Übertragungsermächtigungen keine bestimmte Richtung zu geben. Weil die dargestellte Auslegungs- und Anwendungsgeschichte des Art. 24 Abs. 1 GG die methodologische Vagheit und inhaltliche Beliebigkeit dieses Verfahrens lehrt, wird in dieser Arbeit der Versuch einer Auslegung der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG unter dem Gesichtspunkt von in ihnen verkörperter verfassungsrechtlicher Grundentscheidungen nicht weiter verfolgt. Ein letzter Punkt läßt sich für die Stimmigkeit der hier entwickelten Übertragungskonstruktion anführen, nämlich daß erkennbar geworden ist, warum die Verwendung gerade des Hoheitsrechtsbegriffs in den Übertragungsermächtigungen Sinn macht. Ein Bedarf nach seiner Verwendung besteht daher nicht nur, weil er ein Begriff des positiven Verfassungsrechts ist, sondern er ist von Nutzen, um die Ermöglichung der Durchgriffswirkung und die Gestalt der vertraglichen Kompetenzstruktur zu erklären: Hoheitsrechte vermitteln sachgebietsbezogen Hoheitsmacht; werden sie übertragen, ermöglichen sie dem Empfänger im Rahmen seiner Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung die Ausübung auf den einzelnen zugreifender öffentlicher Gewalt nach eigenen Rechtmäßigkeitsregeln. Hoheitsrechte sind sachlich unspezifischer als Kompetenzen; werden sie übertragen, erlauben sie die Vorstellung einer Anbindung der deutschen Ermöglichungsakte an die vertraglich eingeräumten Kompetenzen, die mit der Konstruktion einer Übertragung von Kompetenzen so nicht geleistet werden könnte. Und Hoheitsrechte liegen der bundesstaatlichen Kompetenzaufteilung voraus und ermöglichen so die Ausstattung vertraglich geschaffener Einrichtungen mit Hoheitsmacht ohne Bindung an die konkrete verfassungsrechtliche Kompetenzstruktur. Gäbe es in den Übertragungsermächtigungen den Hoheitsrechtsbegriff nicht und stünde dort der Begriff der Kompetenz, so müßte dieser, verstünde man „übertragen" als Abtretung, weithin doch so ausgelegt werden, wie der Hoheitsrechtsbegriff in dieser Arbeit entfaltet worden ist, um dem Sinn und Zweck der Übertragungsermächtigungen gerecht zu werden.
309
So deutlich P. M Huber, Maastricht, S. 27.
Dritter Teil
Die Anwendung der Übertragungskonstruktion Zu prüfen bleibt, ob die vorstehend entwickelte Übertragungskonstruktion zur Bewältigung der sich in Integrationszusammenhängen mit Blick auf die europäische Hoheitsgewalt regelmäßig stellenden Rechtsanwendungsprobleme geeignet ist.
A. Die Schrankenproblematik Vorab gilt es zu erinnern, daß das hier entwickelte Verständnis der Übertragungsermächtigungen von einem gegenüber der herrschenden Meinung schärfer abgegrenzten, engeren Anwendungsbereich dieser Ermächtigungen ausgeht: Sie sind nur dann relevant, wenn es um die Begründung der Hoheitsgewalt, um die staatsrechtliche Ermöglichung der Durchgriffswirkung von Akten völkerrechtsvertraglich begründeter Einrichtungen und ihrer durch völkerrechtlichen Vertrag mit Kompetenzen ausgestatteten Organe geht. Nur diese Ermöglichung läuft über die Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG; für die Errichtung zwischenstaatlicher Einrichtungen als Kompetenzordnungen im Völkerrechtsraum, wie sie die Europäische Union und ihre Gemeinschaften darstellen, bedarf es nur der Betätigung der auswärtigen Gewalt der Bundesrepublik Deutschland (Art. 32 Abs. 1, 59 GG).
I. Beschränkung des deutschen Gesetzgebers bei der Gewaltbegründung 1. Das Vertragsgesetz (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG) als maßgeblicher Ansatzpunkt Maßgeblicher Ansatzpunkt für eine Beschränkung der europäischen Hoheitsgewalt mit Blick auf innerstaatliche verfassungsrechtliche Strukturen ist auf den ersten Blick der Vorgang der Gewaltbegründung, der staatsrechtlichen Ermöglichung der Durchgriffswirkung durch Übertragung von Hoheitsrechten. Wird für bestimmte Kompetenzausübungen eine Durchgriffswirkung gar nicht erst begründet, ist dies der wirkungsvollste Schutz innerstaatlicher Verfassungsstrukturen.
182
Dritter Teil: Die Anwendung
Gesehen werden muß aber, daß die staatsrechtliche Ermöglichung der Durchgriffswirkung in engem Zusammenhang mit der Errichtung und der Ausstattung der Vertragsorgane mit Kompetenzen im Völkerrechtsraum steht. Ginge die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich die Verpflichtung ein, den Kompetenzausübungen völkerrechtlicher Gemeinschaften innerstaatlich Durchgriffswirkung beizulegen, wäre die Verweigerung der staatsrechtlichen Ermöglichung der Durchgriffswirkung unter Verweis auf die Verfassung ein Verstoß gegen den Grundsatz pacta sunt servanda. Die Folge wären schwierige Probleme im Spannungsfeld von völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Geltungsansprüchen. Dem kann nur dadurch entgangen werden, daß im Völkerrechtsraum nicht erst Kompetenzen eingeräumt werden, bei denen die staatsrechtliche Zuschreibung von Durchgriffswirkung für ihre Ausübung einen Verstoß gegen die rechtlich geforderte Sicherung wesentlicher Strukturen der deutschen Verfassungsrechtsordnung bedeuten würde. Die daraus folgende Anbindung an das Vertragsgesetz hat zur Grundlage den Umstand, daß die Betätigung der Vertragsgewalt gemäß Art. 32 Abs. 1, 59 GG ohnehin an das Grundgesetz gebunden ist. Führte die Anwendung der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Art. 24 Abs. 1 GG im Gefolge der Art. 32 Abs. 1, 59 GG zu Verletzungen des Grundgesetzes, dürfte schon die Vertragsgewalt nicht entsprechend betätigt werden. Und würden Kompetenzen im Völkerrechtsraum nicht erst zugewiesen, käme es auch nicht zu den oben erwähnten Folgeproblemen; ein Konflikt zwischen völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Geltungsansprüchen entstünde nicht. Dies wäre anders, wenn die Bundesrepublik Deutschland von ihrer Vertragsgewalt verfassungswidrig Gebrauch machen würde. Dem könnte wirksam nur durch Aufhebung des dem völkerrechtlichen Vertrag zustimmenden Vertragsgesetzes (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG) vor Ratifikation begegnet werden. Nicht aber könnte dem ebenso wirksam durch Aufhebung des Vertragsgesetzes nach Ratifikation oder des uno actu ergehenden Übertragungsgesetzes gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Art. 24 Abs. 1 GG begegnet werden, da der völkerrechtliche Vertrag, der zur staatsrechtlichen Ermöglichung der Durchgriffswirkung verpflichtet, dann fortbestehen und die Problematik von divergierenden völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Geltungsansprüchen auslösen würde. In der Staatspraxis wie auch in der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung taucht die Problematik so nicht auf; Vertrags- und Übertragungsgesetz werden in ihren Funktionen in der Regel nicht hinreichend getrennt behandelt. Dies führt aber dazu, daß völkerrechtliche Verträge innerstaatlich Geltung erlangen und dann in ihren Auswirkungen auf die Verfassungsstrukturen kritisiert werden, ohne daß geprüft worden wäre, wie Völker-
Α. Schrankenproblematik
183
recht geschaffen und in seinen Emanationen mit Durchgriffswirkung versehen werden kann, das in seinen Auswirkungen mit der Verfassung vereinbar ist. 1
2. Der Inhalt der Schranken Welches sind nun die Kriterien für ein solches in seinen Auswirkungen mit der Verfassung vereinbares Völkerrecht? Welche Kompetenzen dürfen also durch die Bundesrepublik im Völkerrechtsraum nicht eingeräumt werden, weil die staatsrechtliche Zuschreibung von Durchgriffswirkung für ihre Ausübung ein Verfassungsverstoß wäre? Die Beantwortung dieser Fragen folgt aus der Beantwortung einer davor liegenden Frage: Wie weit reicht die Legitimationskraft der Ermächtigungen der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG? Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG sorgt dafür, daß bestimmte Rechtsakte der europäischen Organe ihren Adressaten nicht nur im Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland haben, der dann seine völkerrechtlichen Verpflichtungen unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen zu erfüllen hat, sondern daß diese bestimmten Rechtsakte ohne Zwischenschaltung deutscher Staatsgewalt in die deutsche Rechtsordnung und damit unmittelbar auf die Individuen, Organe und Behörden durchgreifen. Rechtmäßigkeitsmaßstab dieser europäischen Rechtsakte kann dann aber nicht das mitgliedstaatliche deutsche Verfassungsrecht, sondern nur das Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht sein. Es wird unter Anwendung des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG ein neuer Hoheitsträger geschaffen, der nach den ihn verfassenden völkerrechtsvertraglich vereinbarten Regeln funktioniert, so daß nicht die Rechtmäßigkeitsmaßstäbe des Grundgesetzes zur Anwendung kommen und andere, nicht notwendigerweise identische europäische Rechtmäßigkeitsmaßstäbe gelten. Dies findet sich auch in Art. 23 Abs. 1 GG angelegt, denn ohne Ablösung der europäischen Hoheitsgewalt von den grundgesetzlichen Rechtmäßigkeitsmaßstäben machten die materiellen Inhalte der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG und der Bezug auf Art. 79 Abs. 3 GG in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG keinen Sinn.
1
Eine Betonung des präventiven und offensiven Schutzes der Verfassung im Rahmen der Begründung der Gemeinschaftsgewalt findet sich zwar auch bei J. Isensee, FS Stem 1997, S. 1239 f f , insbesondere S. 1247 ff.; doch schließt Isensee hieran den repressiven Schutz der Verfassung, gerichtet vornehmlich gegen das sekundäre Europarecht, gegen die Entwicklung der Verträge durch die Gemeinschaftsorgane, an (S. 1252 ff.).
184
Dritter Teil: Die Anwendung
Diese Bezüge fehlen in Art. 24 Abs. 1 GG. Doch da auch die Ausübung der Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG dafür sorgt, daß bestimmte europäische Rechtsakte in die deutsche Rechtsordnung durchgreifen, dann aber notwendig ihren Rechtmäßigkeitsmaßstab nur im Gemeinschaflsrecht und nicht in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung finden können, führt auch Art. 24 Abs. 1 GG zur Ablösung vom Grundgesetz insoweit, als seine Rechtmäßigkeitsmaßstäbe nicht zur Anwendung kommen. Die Aufnahme der Struktursicherungsklausel in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG und der Bezug auf Art. 79 Abs. 3 GG in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG folgen gerade aus den Erfahrungen im Umgang mit Art. 24 Abs. 1 GG. Legitimieren die Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG dazu, einen nach eigenen Regeln arbeitenden Hoheitsträger außerhalb des Grundgesetzes zu kreieren, schließt sich hieran die Frage nach der Grenze dieser Legitimationskraft und damit dem Inhalt der Schranken bei der Begründung der europäischen Hoheitsgewalt an. Für Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG beantwortet sie sich aus der Struktursicherungsklausel und aus dem Verweis auf Art. 79 Abs. 3 GG. Für Art. 24 Abs. 1 GG ist Art. 79 Abs. 3 GG analog heranzuziehen. Zwar gilt Art. 79 Abs. 3 GG unmittelbar nur für den grundgesetzändernden Gesetzgeber und daher nicht für die Übertragungsermächtigung, zumal es sich bei ihrer Ausübung nicht um eine Verfassungsänderung* handelt, auch fehlt in Art. 24 Abs. 1 GG jeder Verweis, doch ist für die Annahme der Analogie davon auszugehen, daß die Rechtsmacht des Übertragungsgesetzgebers aus Art. 24 Abs. 1 GG jedenfalls nicht die des verfassungsändernden Gesetzgebers übersteigt. Für ein anderes Ergebnis bedürfte es klarerer Aussagen im Wortlaut und Hinweise aus der Systematik des Art. 24 Abs. 1 GG, auch eines deutlicheren Bewußtseins des Verfassunggebers. Daß aber überhaupt erst Art. 79 Abs. 3 GG als Grenze auftaucht, läßt sich mit der hier entwickelten Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten so begründen: Mit Hoheitsrechten werden Bestandteile der deutschen Staatsgewalt übertragen, d. h. abgetreten, nicht aber deutsche Kompetenzen delegiert oder mandatiert. Damit ist notwendig eine Ablösung von der deutschen Rechtsordnung und eine Einfügung in die europäische verbunden, für die, da Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG dazu ausdrücklich die verfassungsrechtliche Ermächtigung erteilen, nur letzte verfassungsrechtliche Grenzen, nicht aber detaillierte Modalitäten formuliert werden können. Für den Inhalt der Schranken bei der Begründung der europäischen Hoheitsgewalt folgt aus alledem, daß die Vertragsgewalt der Bundesrepublik Deutschland bei der Zuweisung von Kompetenzen für gemeinschaftliche Einrichtungen im Völkerrechtsraum, deren Ausübung in Deutschland staatsrechtlich durch Übertragung von Hoheitsrechten Durchgriffswirkung beigelegt werden soll,
Α. Schrankenproblematik
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darauf beschränkt ist, Kompetenzen zuzuweisen, deren durchgreifende Ausübung nicht die Gehalte des Art. 79 Abs. 3 G G zu verletzen vermag. 2 Art. 79 Abs. 3 G G begrenzt so den deutschen Beitrag der Begründung europäischer Hoheitsgewalt i m Zusammenspiel von Vertrags- und Integrationsgewalt. 3 Das heißt zugleich, daß insoweit die verfassungsrechtliche Gebundenheit der Vertragsgewalt der der Integrationsgewalt angepaßt wird. D i e Kompetenzstruktur der völkerrechtlich begründeten Einrichtungen also ist es, die über die Auflösung der Verfassungsfrage entscheidet; die Begründung dieser Struktur muß daher auch der Ansatzpunkt der verfassungsrechtlichen Betrachtung sein. Diese erfordert eine ex ante-Beurteilung des ausgehandelten und den gesetzgebenden Körperschaften vorliegenden Vertrags und seiner möglichen innerstaatlichen Auswirkungen durch den Vertrags-
und
Übertragungsgesetzgeber, die durch das B V e r f G anhand des Vertragsgesetzes überprüft werden kann.
2
Die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG vermag darüber hinaus an eigenen Schrankeninhalten für die Gewaltbegründung nichts herzugeben. Sie bezieht sich auf die Gestalt der Europäischen Union (Übertragungsadressat), zielt dabei auf die Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG und gibt so dem deutschen Vertrags- und Übertragungsgesetzgeber vor, wie die Grundsätze des durch Verweis anwendbaren Art. 79 Abs. 3 GG im Rahmen der Ausgestaltung der europäischen Rechtsordnung zu wahren sind; ähnlich A. Randelzhof er, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 204. Zugleich enthält die Struktursicherungsklausel wegen der gleichzeitigen Verabschiedung von EUV-Vertragsgesetz und Grundgesetzänderung aus Sicht des Verfassungsänderungsgesetzgebers die Feststellung, daß die Europäische Union auf der Grundlage des EUV den Strukturanforderungen genügt; so auch D. H. Scheuing, Deutscher Bericht, S. 80. Einen von Art. 79 Abs. 3 GG stärker abgesetzten, eigenen Gehalt weist M. Baldus, ZRP 1997, 287, dem Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG zu, doch gründet sich diese Unterscheidung auf den hier abgelehnten materiell verfassungsändernden Charakter der Übertragung von Hoheitsrechten. 3
Die einzelnen Gehalte des Art. 79 Abs. 3 GG, die den Vertrags- und Übertragungsgesetzgeber begrenzen, können hier nicht entfaltet werden. Sie gehören auch nicht in eine Auslegung der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG, sind vielmehr Resultat einer Konkretisierung des Art. 79 Abs. 3 GG. Aus der umfangreichen Literatur hierzu siehe aber die sehr klaren Ausführungen von A. Randelzhof er, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 68 f f , der selbst den Umfang der Schranken mit „Art. 79 Abs. 3 + x" umschreibt. Zuzustimmen ist H. D. Jarass, Grundfragen, S. 2, wenn er festhält, daß die Einschränkungen eher prinzipielle und symbolische Bedeutung haben und in der Praxis wenig bedeutsam sind. Eine Mahnung vor einem vorschnellen Umgang mit den Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG findet sich bei P. Lerche, FS Redeker 1993, S. 131 ff.
186
Dritter Teil: Die Anwendung
II. Schranken der europäischen Hoheitsgewalt bei der Gewaltausübung? Bestünden innerstaatlich Schranken der Ausübung europäischer Hoheitsgewalt aus Art. 79 Abs. 3 GG, so müßten sich die einzelnen Durchgriffswirkungen der einzelnen Kompetenzausübungen jeweils am Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG messen lassen und müßte jeweils entschieden werden, ob diese Gewaltausübung mit Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht in Deutschland zulässig ist oder nicht. Eine solche Vorstellung, wie sie das BVerfG in seinem Maastricht-Urteil vertreten hat,4 läßt sich mit Blick auf den hier herausgearbeiteten Gehalt der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG nicht halten. Ist gemäß Art. 32 Abs. 1, 59 GG im Völkerrechtsraum eine geltende europäische Rechtsordnung geschaffen worden und ist den vertraglich bestimmten Kompetenzausübungen von Organen dieser Rechtsordnung innerstaatlich Durchgriffswirkung beigelegt und Anwendungsvorrang zugebilligt worden, dann kann nicht mehr für jeden Einzelfall eine innerstaatliche Kontrolle darüber errichtet werden, ob bestimmten Kompetenzausübungen Durchgriffswirkung und damit auch Anwendungsvorrang zukommen darf. Denn dann handeln die europäischen Vertragsorgane auf der Grundlage der Vertragsrechtsordnung, d. h. unter Geltung der vertraglich vereinbarten Rechtmäßigkeitsmaßstäbe und unter Aufsicht des EuGH. Nur daß sie so handeln dürfen, beruht auf der von den Mitgliedstaaten und also auch von Deutschland geleisteten - innerstaatlich verfassungsgebundenen - Gewaltbegründung, die über das Vertragsgesetz auch bundesverfassungsgerichtlicher Prüfung unterliegt; Handlungsmaßstab der Gewaltausübung kann aber nur das Vertragsrecht sein. Dieses europäische Vertragsrecht läßt sich nicht nachträglich durch nationales Recht binden, insbesondere enthält das einmal in Kraft getretene Vertragsgesetz nur die Grenzen der europäischen Gewaltausübung, die das europäische Vertragsrecht selbst enthält, da das deutsche Vertragsgesetz sich nur auf dieses bezieht.5
4
BVerfGE 89, 155/188. Für einen Gegenentwurf siehe C Hillgrub er, A V R 1996, 361 f f , der dem europäischen Recht insgesamt den Vorrang vor dem Grundgesetz absprechen will - und so die Schrankenproblematik auf einen Streich löst - , weil ein Gesetz den Anwendungsbefehl für das europäische Recht in Deutschland erteilt hat. Bei diesem Ausgangspunkt ist jedoch festzuhalten, daß auch gesehen werden muß, einem Vertrag welchen Inhalts denn durch Gesetz der innerstaatliche Anwendungsbefehl erteilt wird und ob die Verfassung im Hinblick auf diesen Inhalt das Ergehen des Gesetzes zuläßt. Dann zeigt sich, daß der vertraglich verfaßten Rechtsordnung der Anspruch des Anwendungsvorrangs vor mitgliedstaatlichem Recht unabhängig von seinem Rang eignet und die Erteilung des innerstaatlichen Anwendungsbefehls für diese Rechtsordnung im Vertrags- und Übertragungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1, 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. 24 Abs. 1 GG von der 5
Β. Gerichtliche Kontrolle
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Wie oben ausgeführt kann daher der Ort, der maßgebliche Ansatzpunkt der Beschränkung der Hoheitsgewalt nur der dort näher beschriebene deutsche Beitrag zur Begründung der europäischen Hoheitsgewalt sein. Die Gewaltausübung durch die europäischen Organe läßt sich keinen innerstaatlichen Schranken mehr unterwerfen.
B. Die gerichtliche Kontrolle der europäischen Hoheitsgewalt I. Der EuGH Handeln europäische Organe auf der Grundlage der Vertragsrechtsordnung, ist der EuGH 6 das zur gerichtlichen Kontrolle dieses Handelns kompetente Gericht. Er ist dies sowohl für die „klassisch" völkerrechtliche, intergouvernementale Betätigung der Europäischen Union bzw. ihrer Gemeinschaften als auch für den hier allein untersuchten Bereich der aus der europäischen Rechtsordnung in die Mitgliedstaaten durchgreifenden Betätigungen der europäischen Hoheitsgewalt. Für die Betätigungen der einzelnen Vertragsorgane ergibt sich dies aus Art. 164 ff. EGV, 136 ff. EAGV, 31 ff. EGKSV und Art. L EUV. Diese Regelungen folgen aus der völkerrechtsvertraglichen Zuweisung von Kompetenzen durch die Gründerstaaten und für Deutschland insbesondere aus der entsprechenden Übertragung von Hoheitsrechten: Die Bundesrepublik Deutschland hat in Erfüllung und im Umfang ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen Rechtsprechungshoheitsrechte auf die völkerrechtlichen Einrichtungen übertragen; so weit diese Übertragungen reichen, ist der EuGH nach Maßgabe der Verträge mit ausschließlicher und in ihren Aussprüchen unmittelbar geltender gerichtlicher Kontrollkompetenz begabt. Deutsche Gerichte sind insoweit von gerichtlicher Kontrolle ausgeschlossen; ihnen fehlt nicht nur die
Verfassung bis zur Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG legitimiert wird. Nach Ergehen des Gesetzes und für die Dauer seiner Geltung ist die Frage des Anwendungsvorrangs des europäischen Rechts auch vor dem Verfassungsrecht daher keine Frage des Ranges des Gesetzes in der Normenpyramide der deutschen Rechtsordnung, sondern eine solche der Reichweite der von der Verfassung dem Gesetz beigelegten Wirkkraft. Von dieser aber ist die Erteilung des Anwendungsbefehls für eine völkerrechtsvertraglich begründete Rechtsordnung mit Anspruch auf Anwendungsvorrang auch vor mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht und damit die Erfüllung des Anspruchs erfaßt. Würde sich das Grundgesetz immer gegenüber dem europäischen Recht durchsetzen, bliebe auch unerfindlich, wozu es des neugefaßten Art. 23 GG, der den Vorgang des Ergehens des Anwendungsbefehls mit Blick auf innerstaatliche Verfassungsstrukturen reguliert, bedurft hätte. 6 Angesprochen sind mit dem Kürzel „EuGH" sowohl der Europäische Gerichtshof wie das Europäische Gericht erster Instanz.
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Dritter Teil: Die Anwendung
aktuelle rechtliche Kontrollkompetenz, eine solche kann auch nicht aus der Staatsgewalt aktualisiert, aus einer „nationalen Souveränität" abgeleitet werden. Die Bundesrepublik Deutschland hat insoweit, „wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt". 7 Der EuGH ist von den Gründerstaaten durch die einzelnen Verträge dazu eingesetzt, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieser Verträge zu sichern; er soll subjektiven Rechtsschutz gewährleisten, die Rechtseinheit und die gleichmäßige Anwendung des Rechts garantieren. 8 Dazu sind ihm die Kompetenzen zur Kontrolle vertragskonformen Verhaltens der Mitgliedstaaten im Vertragsverletzungsverfahren, 9 zur Rechtskontrolle der Organtätigkeiten 10 sowie zur Auslegung des Rechts und zur Gültigkeitsprüfung von europäischen Rechtsakten im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens auf Vorlage mitgliedstaatlicher Gerichte 11 in seine Zuständigkeit verwiesen. Und diese Kompetenzen bestehen als ausschließliche, d. h. daß nur außerhalb dieser vertraglichen Kompetenzen mitgliedstaatliche Gerichte oder Schiedsgerichte angerufen werden können, 12 wenn nicht auch insoweit Schiedsabreden eine weitere Zuständigkeit des EuGH begründen. 13 Für eine Abgrenzung der Möglichkeiten der gerichtlichen Kontrolle der europäischen Hoheitsgewalt sind insbesondere das zur Rechtskontrolle der Organtätigkeiten dienende Verfahren der Nichtigkeitsklage und die Gültigkeitsprüfung von europäischen Rechtsakten im Rahmen der Vorabentscheidungen von Interesse. Hier kommt es zum Schwur, ob den Mitgliedstaaten und ihren Bürgern nach den Verträgen Rechtsschutz gewährt wird, wenn sie einen Verstoß der europäischen Organe gegen die Vertragsrechtsordnung geltend machen. Die nationalen Gerichte sind nach den Verträgen nicht befugt, Handlungen der europäischen Organe für ungültig zu erklären. Denn da Art. 173 EGV (bzw. die entsprechenden Vorschriften der anderen Verträge) dem EuGH die ausschließliche Zuständigkeit für die Nichtigerklärung der Handlung eines 7
So EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251/1269 - Costa / E.N.E.L. T. Oppermann, Europarecht, Rn. 612; R. Geiger, EGV-Kommentar, Art. 164 Rn. 2. 9 Art. 169 ff. EGV, 141 ff. EAGV, 88 f. EGKSV. 10 Nichtigkeitsklage gemäß Art. 173 f , 176 EGV, 146 f , 149 EAGV, 33 f , 38 EGKSV; Untätigkeitsklage gemäß Art. 175 f. EGV, 148 f. EAGV, 35 EGKSV; Amtshaftungsklage gemäß Art. 178, 215 Abs. 2 EGV, 151, 188 Abs. 2 EAGV, 40 EGKSV; Beamtenklage gemäß Art. 179 EGV, 152 EAGV; inzidente Normenkontrolle gemäß Art. 184 EGV, 156 EAGV, 36 Abs. 3 EGKSV und präventive Gutachten zur Rechtmäßigkeit eines beabsichtigten Vertragsschlusses der Gemeinschaft gemäß Art. 228 Abs. 6 EGV. 11 Art. 177 EGV, 150 EAGV, 41 EGKSV. 12 Art. 183,219 EGV, 155, 193 EAGV, 87, 90 EGKSV. 13 Art. 181 f. EGV, 153 f. EAGV, 42 f , 89 EGKSV. 8
Β. Gerichtliche Kontrolle
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europäischen Organs zuweist, verlangt es die Kohärenz des vom Vertrag geschaffenen umfassenden Rechtsschutzsystems, die Befugnis zur Feststellung der Ungültigkeit eines Organhandelns, wenn sie vor einem nationalen Gericht geltend gemacht wird, auch im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens, das ebenso eine Form der Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen europäischer Organe darstellt, dem Gerichtshof vorzubehalten. 14 Wie bereits dargestellt, geht formell und materiell rechtmäßiges, mit Durchgriffswirkung ausgestattetes europäisches Recht im Kollisionsfall entgegenstehendem, d. h. materiell europarechtswidrigen nationalen Recht ohne weiteres in der Anwendung vor. Dies folgt aus der völkerrechtsvertraglichen Errichtung der europäischen Rechtsordnung und der Übertragung von Hoheitsrechten auf sie. Doch wie ist es, wenn formell rechtmäßiges, aber materiell rechtswidriges Europarecht mit rechtmäßigem nationalen Recht kollidiert? In dieser Konstellation bleibt es zunächst beim Anwendungsvorrang des europäischen Rechts; es kann jedoch über die Nichtigkeitsklage oder über ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH für die Aufhebung des Rechtsakts gesorgt werden. 15 Einschlägig und notwendig sind die Nichtigkeitsklage bzw. eine Vorabentscheidung auch für bereits kompetenzwidriges Europarecht. Hier mag zwar theoretisch schon ipso iure Nichtigkeit vorliegen, da die Vertragsorgane außerhalb ihrer Kompetenzausstattung und damit auch außerhalb des Bereichs ihnen übertragener Hoheitsrechte, also ultra vires gehandelt haben. Der gerichtliche Ausspruch der Nichtigkeit aber mit feststellendem, Verbindlichkeit beanspruchendem Charakter kann - abgesehen von mit derogatorischer Kraft ausgestatteter Außerkraftsetzung, also der Aufhebung durch den europäischen Gesetzgeber - durch nichts ersetzt werden; 16 er steht, da es sich um europäisches Recht
14
So die ständige Rechtsprechung des EuGH; siehe nur Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199/4231 - Foto-Frost / Hauptzollamt Lübeck-Ost; siehe auch H. Krück, G/T/E, EUVEGV, Art. 173 EGV Rn. 3 f , 75, Art. 177 EGV Rn. 17; Κ Hailbronner, H/K/M/M-G, EUV-EGV, Art. 173 EGV Rn. 13, Art. 177 EGV Rn. 2, 19, 40. 15 Siehe aber - exemplarisch für die Gegenauffassung - M. Nettesheim, GS Grabitz 1995, 455 f f , der den Vorrang des Europarechts bereits durch „diejenige Norm des nationalen Verfassungsrechts, die die äußeren Schranken der Vergemeinschaftung bestimmt", begrenzt sieht; doch trennt er dabei nicht zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Europarecht. 16 Zur rechtstheoretischen Ausgangslage siehe H. Kelsen, Rechtslehre, S. 197: „Nur eine kompetente Autorität kann gültige Normen setzen; und nur auf einer zur Normsetzung ermächtigenden Norm kann solche Kompetenz beruhen." Doch ist die positivrechtliche Unterscheidung von Nichtigkeit und Vernichtbarkeit, die Lehre vom Fehlerkalkül zu beachten: So lange eine Norm nicht aufgehoben ist, muß sie als gültig
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Dritter Teil: Die Anwendung
handelt, dem E u G H z u . 1 7 Bis dahin k o m m t es auch hier zum Anwendungsvorrang des europäischen Rechts; solange es nicht aufgehoben ist, 1 8 muß es als gültig angesehen werden, ist es T e i l der Rechtsordnung. 1 9 Dem E u G H kann insofern eine gerichtliche Kompetenz-Kompetenz zugeschrieben werden. 2 0 Doch i m B l i c k muß dabei bleiben, daß dem E u G H nicht eine Kompetenz-Kompetenz von den Mitgliedstaaten übertragen wurde, sondern i h m vertraglich enumerativ ausschließliche Kompetenzen eingeräumt wurden, deren Ausübung in den Mitgliedstaaten m i t unmittelbarer Geltung und Anwendungsvorrang von diesen staatsrechtlich ermöglicht worden ist. W e i l m i t dieser staats-
angesehen werden, ist sie Teil der Rechtsordnung; sie ist vernichtbar, nicht nichtig (vgl. Kelsen, Rechtslehre, S. 275 ff.; R. Lippold, Staat 1990, 185 ff.; E. Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht, S. 359 f.). 17 Ein Beispiel für die teilweise Nichtigerklärung eines Gemeinschaftsrechtsakts wegen unzureichender Kompetenzgrundlage bietet EuGH, verb. Rs. 281, 283 bis 285, 287/85, Slg. 1987, 3203/3252 f., 3255 - Deutschland u. a. / Kommission. 18 Theoretisch kann man zwar Fälle formulieren, bei denen die Kompetenzüberschreitung so absolut evident ist, daß dem Akt jeder Rechtsschein eines kompetenzmäßigen Rechtsakts fehlt. Anhand solcher Beispielsfälle können aber die Folgen von Rechtsakten nicht sinnvoll erörtert werden, die in den normalen Zusammenhang des Vertragsrechts und ihrer Zuständigkeiten gehören; überzeugend J. A. Frowein, ZaöRV 1994, 9 f. 19 Zur Problematik der Bindungswirkung von die Nichtigkeit ablehnenden, Kompetenzen usurpierenden Entscheidungen des EuGH siehe C. Hillgruber, Rechtsfortbildung, S. 45 (Anm. 40): „Prozessual ist die Letztentscheidung des Gerichtshofs allerdings unvermeidlich. ... Insofern haben die Mitgliedstaaten die Herrschaft über die Verträge bereits 1957 mit der Einführung der obligatorischen Gerichtsbarkeit des EuGH abgegeben!" E. Klein, VVDStRL 1991, S. 66 f.: „Das Problem reduziert sich daher auf das alte ,quis iudicabit?'. ... Die Kompetenzüberschreitung der Gemeinschaft, die durch ein Fehlurteil des EuGH gedeckt ist, ist daher von den Mitgliedstaaten hinzunehmen." In diese Richtung auch A. Randelzhofer, M/D, GG, Art. 24 I Rn. 137; R. Arnold, Kooperationsverhältnis, S. 285 ff.; G. Hirsch, NJW 1996, 2462 ff.; D. H Scheuing, Deutscher Bericht, S. 101, 113; W. G. Vitzthum, JZ 1998, 162 f , 167. Eine Letztentscheidung des EuGH ablehnend T. Schilling, Staat 1990, 161 ff.; er geht von der Vorstellung einer einheitlichen Rechtsordnung aus, in der die in die deutsche Rechtsordnung einwirkende europäische Hoheitsgewalt im Rahmen dieser Einwirkung mit der deutschen Rechtsordnung verschmilzt, die Letztentscheidung über Kompetenzfragen daher dem BVerfG gebührt. Die Verschmelzung sei letztlich eine Auswirkung dessen, daß es sich bei der „Übertragung von Hoheitsrechten" um eine Öffnung der deutschen Rechtsordnung gegenüber der Einwirkung fremder Hoheitsgewalt handele (S. 172, Anm. 57); mit gleicher Argumentation zieht ders., Staat 1994, 555 f f , dem Vorrang des Europarechts enge Grenzen. Kritisch zu Schillings Konzept M. Baldus, Staat 1996, 147 f. Siehe auch die Kontroverse zwischen Schilling, Harv. Int'l L. J. 1996, 389 ff. und JH.H Weiler / U. R. Haltern, Harv. Int'l L. J. 1996,411 ff. 20
So J; H. H. Weiler /U. R. Haltern, Harv. Int'l L. J. 1996, 413 und öfter.
Β. Gerichtliche Kontrolle
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rechtlichen Ermöglichung - der Übertragung von Hoheitsrechten durch Gesetz die Bundesrepublik Deutschland ihre Kompetenz-Kompetenz bestätigt, mit der völkerrechtsvertraglichen Einräumung der Kompetenzen sie ihre Völkerrechtsunmittelbarkeit gewahrt hat, darf die dem EuGH zugeschriebene gerichtliche Kompetenz-Kompetenz nicht zu dem Schluß führen, die europäische Rechtsordnung besitze auch eine legislative Kompetenz-Kompetenz.21
II. Das BVerfG Soweit der EuGH zur Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge kompetent ist, sind die deutschen Gerichte zur Ausübung von Rechtsprechung inkompetent; die dem EuGH vertraglich zugewiesenen Rechtsprechungskompetenzen schließen als ausschließliche Kompetenzen die staatlichen Gerichte von der Rechtsprechungstätigkeit, insbesondere von der Gültigkeitskontrolle des Europarechts aus.22 Mit Blick auf den Kompetenzkatalog des EuGH heißt dies, daß praktisch jede Möglichkeit der nationalen gerichtlichen Kontrolle von Emanationen der europäischen Hoheitsgewalt ausgeschlossen ist. 23 Dem BVerfG steht jedoch die Prüfung der Zulässigkeit der Gewaltbegründung durch Übertragung von Hoheitsrechten zu. Für die Prüfungsmöglichkeiten ist also zwischen primärem und sekundärem Europarecht zu unterscheiden. 24
1. Primäres Europarecht Die im Kontext mit der Ausübung der Vertragsgewalt gemäß Art. 32 Abs. 1, 59 GG stattfindende Gewaltbegründung gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw.
21
So auch J. Η. Η Weiler /U. R. Haltern, Harv. I n f i L. J. 1996,437. T. Oppermann, Europarecht, Rn. 619; M. Schweitzer / W. Hummer, Europarecht, Rn. 449. 23 Die Art. 183 EGV entsprechenden Nichtberührungsklauseln zugunsten der staatlichen Gerichtsbarkeit sind in der Sache ohne Belang. Sie wirken nicht selbst zuständigkeitsbegründend, sondern setzen eine Zuständigkeit der nationalen Gerichte nach dem staatlichen Prozeßrecht voraus. In Betracht kommen vor allem Streitigkeiten aus fiskalischen Hilfsgeschäften der Gemeinschaft in den Mitgliedstaaten und um die vertragliche Haftung der Gemeinschaft; siehe R. Geiger, EGV-Kommentar, Art. 183 Rn. 1 ff. 24 Zum Ganzen umfassend G. Eibach, Prüfungsgegenstand, S. 24 f f , 33 f f , 37 f , 42 f , 49 f„ 61 f f , 105 f f , 144 ff.; R. Streinz, Grundrechtsschutz, S. 141 f f , 154 ff. Für die inhaltliche Reichweite der Überprüfung europäischen Rechts kommen beide jedoch zu anderen als den im weiteren vorgetragenen Ergebnissen. 22
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Dritter Teil: Die Anwendung
Art. 24 Abs. 1 GG kann anhand des Vertrags- und Übertragungsgesetzes zur Überprüfung vor das BVerfG gebracht werden. 25 Demgegenüber kann das Übertragungsgesetz isoliert nicht überprüft werden: Dies nicht nur deshalb, weil es in der Staatspraxis ohnehin uno actu mit dem Vertragsgesetz ergeht, sondern vor allem deshalb, weil es ohne das auf den die Kompetenzen einräumenden Vertrag bezogene Vertragsgesetz keinen Sinn macht. Überprüft kann also - mit Blick auf die völkerrechtsvertraglichen Verpflichtungen zur staatsrechtlichen Einräumung von Durchgriffswirkung - das Vertragsgesetz werden. Das Vertragsgesetz stellt mit seinem Bezug auf den Vertrag diesen dem Gericht zur mittelbaren Überprüfung. Dieses Gesetz ist entweder von Anfang an verfassungsmäßig oder verfassungswidrig, denn der zugrundeliegende Vertrag vermag sich nur durch Vertragsänderung zu ändern; diese bedarf eines weiteren, dann wieder überprüfbaren Vertragsgesetzes. Die Ausfüllung des Vertrags durch das Handeln europäischer Organe unterfällt dem sekundären, nicht dem primären Europarecht. Nun ist eine folgenwirksame Überprüfung nur gewährleistet, wenn das Vertragsgesetz noch vor Ratifikation des Vertrages vor das BVerfG kommt. 26 Denn nur dann ist bei Verfassungswidrigkeit des Gesetzes am Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG und dessen Nichtigerklärung der Gleichklang von verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Rechtslage gegeben. Wird später, d. h. nachdem der völkerrechtliche Vertrag in Kraft getreten ist und nach Durchlaufen des Vorlageverfahrens gemäß Art. 177 Abs. 3 EGV, in dem dem EuGH Gelegenheit zur verbindlichen Auslegung einer mit Blick auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung streitigen Vertragsbestimmung gegeben wurde, das Vertragsgesetz als verfassungswidrig erkannt und aufgehoben, besteht die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland aus dem Vertrag fort. 27 Dies wäre nur dann anders, wenn die Verfassungswidrigkeit des Vertragsgesetzes am Maßstab der Ratifikationsklausel und des Art. 46 W V K so evident ist, daß der Vertrag für Deutschland keine völkerrechtliche Gültigkeit zu erlangen vermochte.
25
Mögliche Verfahrensarten sind die abstrakte und konkrete Normenkontrolle und die Verfassungsbeschwerde. 26 Dies entspricht zwar der Prüfungspraxis des Gerichts, die vor Unterzeichnung oder Hinterlegung der Ratifikationsurkunde, teilweise noch vor Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes die Prüfungsbefugnis einsetzen läßt (BVerfGE 1, 396/410 ff.; 24, 33/53 f.; 36, 1/15; 89, 155/164 f.); doch wird auch die Möglichkeit fortlaufender Kontrolle völkerrechtlicher Verträge bejaht und praktiziert (BVerfGE 6, 290/295; 15, 337/348; 40, 141/165 f.; 72, 66/74 f.). 27 Dies folgt aus Art. 27, 46 WVK; dazu A. Verdross/B. Simma, Völkerrecht, S. 445 ff. Doch käme dem europäischen Recht keine Durchgriffswirkung und kein Anwendungsvorrang mehr zu, da auch die Übertragung von Hoheitsrechten aufgehoben wäre.
Β. Gerichtliche Kontrolle
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Dieser Kontrollkompetenz des BVerfG stehen dem EuGH zugewiesene Kompetenzen nicht entgegen; der EuGH entscheidet über die Auslegung, nicht aber die Gültigkeit der Verträge (vgl. Art. 177 Abs. 1 lit. a und b EGV), dem BVerfG aber ist die Kontrolle deutscher Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zugewiesen.
2. Sekundäres Europarecht Ist mit Inkrafttreten des völkerrechtlichen Vertrages die europäische Vertragsrechtsordnung als mit öffentlicher Gewalt ausgestatteter Rechtsordnung ins Leben getreten, sind damit auch die den vertraglich zugewiesenen Kompetenzen entsprechenden deutschen Hoheitsrechte übertragen, d. h. abgetreten worden, fragt sich, ob dem BVerfG Prüfungsmöglichkeiten gegenüber Akten dieser europäischen Hoheitsgewalt zur Verfügung stehen können. In den Verträgen fehlt jeder entsprechende mitgliedstaatliche oder auch nur deutsche Prüfungsvorbehalt 28 und das Grundgesetz unterwirft zwar die Ausübung der durch Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Art. 24 Abs. 1 GG gewährten Übertragungsermächtigungen bestimmten überprüfbaren verfassungsrechtlichen Schranken, bestimmt jedoch nichts über den Umgang mit Krisensituationen im Rahmen bereits ins Werk gesetzter völkerrechtlicher Rechtsordnungen. Für diese Krisensituationen, ihren Bezug auf das Vertragsgesetz und die Kontrollkompetenz des BVerfG gilt folgendes: Das BVerfG hat im Rahmen seiner Zuständigkeiten die Einhaltung des Verfassungsrechts, d. h. insbesondere der sich aus Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden Bindungen, durch die deutsche Staatsgewalt zu sichern. Es ist ihm weder durch das Grundgesetz, noch durch das BVerfGG, noch etwa durch Bestimmungen des Völkerrechts bzw. der europäischen Verträge die Kompetenz zugewiesen, das sekundäre Europarecht, die Emanationen europäischer Hoheitsgewalt auf Vertragskonformität oder auf Verfassungsmäßigkeit am Maßstab des Grundgesetzes zu überprüfen; es handelt sich hier nicht um Emanationen der der Aufsicht des BVerfG unterliegenden deutschen Staatsgewalt. Eine bundesverfassungsgerichtliche Prüfung des mit Durchgriffswirkung begabten sekundären Europarechts ist mithin allein mittelbar über das Vehikel des Vertragsgesetzes denkbar, denn dieses ist Ausübung deutscher Staatsgewalt.29
28
Daran vermag auch das Maastricht-Urteil des BVerfG nichts zu ändern, denn es bleibt auf die völkerrechtliche Rechtslage im Hinblick auf den EUV ohne Einfluß; insbesondere erfüllt es nicht die förmlichen Voraussetzungen eines Vertragsvorbehalts. 29 Nicht denkbar ist eine Überprüfung dieses Rechts im Zusammenhang mit seinem indirekten Vollzug in Deutschland. Ausübung deutscher Staatsgewalt ist zwar auch im 13 Flint
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Dritter Teil: Die Anwendung
Das Vertragsgesetz beinhaltet mit seinem Bezug auf den völkerrechtlichen Vertrag, also auf das primäre Europarecht, das Integrationsprogramm. Anhand dieses Programms prüft das BVerfG - wie oben gezeigt - die Verfassungsmäßigkeit der deutschen Vertragsteilnahme. Die Fragestellung lautet: Darf7durfte das Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ergehen; darf/durfte die Ratifikation erfolgen? Und damit verbunden: Darf/durfte den vertraglich zugewiesenen Kompetenzen Durchgriffswirkung durch Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Art. 24 Abs. 1 GG beigelegt werden? Überschreiten die europäischen Organe später das dem ergangenen Gesetz und ratifizierten Vertrag zugrundeliegende Integrationsprogramm, verletzen sie also mit der Setzung von sekundärem Europarecht bzw. von Rechtsprechungsakten die sie verfassenden Vertragsbestimmungen, etwa durch Grundrechtsverstöße oder Kompetenzusurpationen, ist die Frage nach der Gültigkeit dieser Akte, damit auch nach ihrer Geltung in Deutschland und die Frage nach der Möglichkeit bundesverfassungsgerichtlicher Reaktionen aufgeworfen. Die Beantwortung der Fragen läßt sich nicht von den vertraglichen Kompetenzen des EuGH ablösen. Dieser ist nach den Verträgen für die Entscheidung über die Gültigkeit der Handlungen europäischer Organe zuständig. Und diese Zuständigkeit besagt nicht etwa, daß der EuGH über die europarechtliche Gültigkeit entscheidet, der nationalen Gerichtsbarkeit aber die Entscheidung über die innerstaatliche Geltung überantwortet ist. Hat der EuGH im Sinne der Gültigkeit entscheiden, gilt dieser Rechtsprechungsakt und mit ihm das bestätigte sekundäre Europarecht unmittelbar und einheitlich in allen Mitgliedstaaten. Für eine nachfolgende nationale Kontrolle ist kein Raum. Daran führt auch die Überlegung des BVerfG, daß wesentliche Änderungen des vertraglichen Integrationsprogramms nicht mehr von dem ursprünglichen Vertragsgesetz gedeckt seien und Rechtsverbindlichkeit erst durch einen erneuten parlamentarischen Zustimmungsakt erhielten, 30 nicht vorbei. 31 Denn
Bereich des indirekten, d. h. des mitgliedstaatlichen Vollzugs nicht unmittelbar anwendbaren Europarechts zu verzeichnen. Äußerungen deutscher Staatsgewalt können hier vom BVerfG überprüft werden, soweit eine Bindung deutscher Behörden an europäisches Recht nicht besteht. Nicht überprüft werden kann in diesen Zusammenhängen aber das auf der Übertragung von Hoheitsrechten beruhende, indirekt zu vollziehende Europarecht, denn dieses „greift durch"; es gilt in Deutschland unmittelbar, geht entgegenstehendem deutschen Recht in der Anwendung vor und unterliegt so nicht der Prüfungskompetenz des BVerfG. 30 BVerfGE 58, 1/37; 68, 1/98 f.; 89, 155/188. 31 So auch P. Kunigy Vitzthum, Völkerrecht, 2. Abschn. Rn. 77, der dies - ohne konkreten Bezug auf die europäischen Verträge - schon aus Art. 59 Abs. 2 GG selbst ableitet: „Parlamentarische Zustimmung umgreift bereits vorab auch die ,Vertragsfortent-
Β. Gerichtliche Kontrolle
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nach der Zuweisung der Kompetenzen an den EuGH und der entsprechenden Übertragung von Hoheitsrechten ist das BVerfG außer Stande, für jeden Einzelfall die innerstaatliche Geltung europäischer Rechtsakte am Maßstab des ursprünglichen Vertragsgesetzes festzustellen. Es bliebe nur die Aufhebung des Vertragsgesetzes als bundesverfassungsgerichtliche Reaktion auf für primärrechtswidrig gehaltenes sekundäres Europarecht übrig. 32 Diese Aufhebung setzte aber eine Verfassungswidrigkeit des Gesetzes voraus. Da es sich hier nicht um den Fall des bereits verfassungswidrigen Vertrags handelt, geht es genauer um ein Verfassungswidrigwerden des Gesetzes aufgrund einer Vertragsverletzung der europäischen Organe. Wie soll aber das deutsche Gesetz verfassungswidrig werden, wenn die europäische Hoheitsgewalt vertragswidrig handelt? Das Gesetz bleibt rechtmäßig, denn die deutsche Staatsgewalt hat ihre verfassungsrechtlichen Bindungen weder bei seinem Erlaß noch später verletzt. Da nur die Sicherung der Einhaltung dieser Bindungen Aufgabe des BVerfG ist, ist für das Gericht in diesen Fällen zum Tätigwerden kein Raum. Auch die Überlegung, daß in Fällen vertragswidrigen Handelns der europäischen Hoheitsgewalt das Vertragsgesetz deshalb als rechtswidrig anzusehen ist, weil für solches Handeln ein entsprechendes Gesetz nicht ergehen dürfte, hilft nicht weiter. Denn der dem Gesetz zugrundeliegende Vertrag ist weiter in Kraft, nur die Vertragspraxis der Vertragsorgane hat sich geändert. Ist diese Änderung vertragskonform, gibt es kein Problem. Ist sie es nicht, ist der Vertrag dennoch in Kraft. In diesen Fällen geht es um die Durchsetzung des normativen Anspruchs des Vertragsrechts gegenüber der europäischen Hoheitsge-
wicklung 4 unterhalb der Schwelle förmlicher Änderung. Nur so ist eine trennscharfe Abgrenzung möglich. Sollte sich herausstellen, daß die Völkerrechtsentwicklung in einem Maße zu materieller Änderung von Verhaltenspflichten »innerhalb4 bestehender völkerrechtlicher Verträge gelangt, die zu einem bestimmten, in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt erteilte Zustimmungsakte ins Leere laufen ließe, so wäre dies zunächst ein rechtspolitischer Befund. Art. 59 Abs. 2 GG in gegenwärtiger Gestalt schützt das Parlament davor nicht." 32 Auch die verfassungsgerichtliche Überprüfung des deutschen Abstimmungsverhaltens im Rat fällt als mittelbare Reaktionsmöglichkeit gegenüber europäischen Rechtsakten aus, denn Anlaß zur Prüfung des Abstimmungsverhaltens gibt es nur dann, wenn vorher für den Abstimmungsgegenstand ein Verlassen des dem Vertragsgesetz zugrundeliegenden Integrationsprogramms angenommen worden ist. Ob dies der Fall ist, hat aber, da es um die Rechtmäßigkeit eines Sekundärrechtsakts mit Blick auf das Vertragsrecht geht, der EuGH festzustellen. Dem BVerfG bliebe auch hier nur die Aufhebung des Vertragsgesetzes. Zur bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle über die deutsche Mitwirkung im Rat siehe im einzelnen R. Streinz, Grundrechtsschutz, S. 206 ff.; ders., Entscheidungsprozeß.
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Dritter Teil: Die Anwendung
wait; diese läßt sich durch eine Konstruktion des Verfassungswidrigwerdens des Vertragsgesetzes nicht leisten. Das Vertragsgesetz wird nicht dadurch rechtswidrig, daß gegen den zugrundeliegenden Vertrag verstoßen wird. Dem BVerfG steht nach allem eine Überprüfung sekundären Europarechts nicht zu. 33 Lassen sich mithin Krisensituationen im Rahmen der ins Werk gesetzten europäischen Rechtsordnung nicht unter Rückgriff auf das deutsche Vertragsgesetz durch das BVerfG lösen, bleibt die Frage nach anderen Lösungsmöglichkeiten. Versagen auch die vertraglichen Sicherungen und Verfahren, finden sie sich in der Verwiesenheit auf das allgemeine Völkerrecht. Deutschland als Mitgliedstaat der völkerrechtsvertraglich begründeten und auf dieser Grundlage wirkenden europäischen Einrichtungen verbleibt insbesondere - im Zusammenwirken mit den anderen Mitgliedstaaten - die Möglichkeit der Vertragsänderung. 34 Übrig bliebe der Bundesrepublik Deutschland in einer entsprechenden Situation auch die Berufung auf die allgemeinen völkerrechtlichen Regeln, so der clausula rebus sie stantibus;35 auch diese Berufung wäre aber eine politische Entscheidung, nicht Gegenstand eines bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens. Nach allem ist für völkerrechtliche Verträge, in deren Rahmen eine Übertragung von Hoheitsrechten stattgefunden hat, eine verfassungsgerichtliche Kontrolle abgeleiteten, auf der Übertragung von Hoheitsrechten beruhenden Rechts anhand des Vertragsgesetzes ausgeschlossen; das BVerfG bleibt auf eine Kontrolle des Vertrages anhand des gesetzlichen Aktes zur Begründung einer neuen Rechtsordnung mit öffentlicher Gewalt beschränkt.36 Zur Vermeidung von divergierenden Völker- und verfassungsrechtlichen Geltungsansprüchen sollte diese Kontrolle präventiv geleistet werden. 37
33
Ist das sekundäre Europarecht aber in Geltung, kann nicht argumentiert werden, die Prüfung eines Durchführungsakts deutscher Organe könnte ergeben, daß dieser nicht vom Vertragsgesetz legitimiert ist; so aber / Pernice , HdbStR VIII, S. 269 (Anm. 278). 34 In diese Richtung auch E. Klein, VVDStRL 1991, S. 66 f.; ders., GS Grabitz 1995, S. 280 f.; H Steinberger, Maastricht-Urteil, S. 34; M. Hilf, Eigenstaatlichkeit, S. 81; I. Winkelmann, Maastricht-Urteil, S. 58. 35 Für eine völkerrechtliche Auflösung unter Rückgriff auf ein Kündigungsrecht auch C. Hillgruber, A V R 1996, 367 ff. 36 Das Gegenkonzept, d. h. die Beantwortung des „quis iudicabit" zugunsten des BVerfG findet sich ausgearbeitet bei A. Schmitt Glaeser, Elemente, S. 88 f f , 92 ff. 37 Es erscheint de lege ferenda angezeigt, in Bezug auf völkerrechtliche Verträge die Zuständigkeit des BVerfG prozeßrechtlich auf ein Gutachtenverfahren zu beschränken und so die nachträgliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit völkerrechtlicher Verträge auszuschließen; in diese Richtung auch das Plädoyer von M. Hilf, ZRP 1997, 270 ff.
C. Grenzprobleme
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Die hier entwickelten Ergebnisse zur Möglichkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle der europäischen Hoheitsgewalt lassen sich so zusammenfassen: Über den Umstand, ob eine mit öffentlicher Gewalt ausgestattete völkerrechtliche Rechtsordnung in Kraft treten darf bzw. in Kraft treten durfte, entscheidet auf Antrag am Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG das BVerfG. Ist die Rechtsordnung in Kraft getreten, gilt für die gerichtliche Kontrolle ihrer mit Durchgriffswirkung und Anwendungsvorrang ausgestatteten Emanationen ihr Rechtsschutzsystem und der Rechtsmaßstab des Vertrages. Innerhalb dieser Rechtsordnung nicht zu lösende Extremlagen führen zur Anwendung des allgemeinen Völkerrechts. 38
C. Grenzprobleme: Vertragsänderung Vertragsbeendigung - Austritt Die Tragfähigkeit der Übertragungskonstruktion muß sich auch an den Grenzproblemen im Zusammenhang mit der Errichtung einer hoheitlichen Gewalt im Völkerrechtsraum erweisen. Hauptproblem ist hier die Frage nach den Möglichkeiten und Folgen einer Lösung von den europäischen Verträgen.
I. Gemeinschaftliche Vertragsänderung Die Regierung jedes Mitgliedstaats kann dem Rat Entwürfe zur Änderung der Verträge, auf denen die Union beruht, vorlegen; die Änderungen treten in Kraft, nachdem sie in allen Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden sind. Mit diesem, in Art. Ν Abs. 1 EUV näher ausgestalteten Instrument der Vertragsänderung haben es die Mitgliedstaaten auch in der Hand, auf Entwicklungen der europäischen Rechtsordnung zu reagieren: Sie können vertraglich eingeräumte Kompetenzen aufheben; sie können sie einschränken oder präzisieren, indem sie den Sachbereich der Kompetenzen einengen oder aber das Handlungsinstrumentarium, das zur Ausfüllung der Kompetenzen bereit steht, beschränken. Art. Ν Abs. 1 EUV enthält die Verfahrensvoraussetzungen für eine rechtmäßige Vertragsänderung, aber keine materiellen Grenzen; die Vertragsänderung wird nicht durch einen änderungsfesten Kern primären Europarechts be-
38 In weiten Teilen wie hier K. Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 334 h ff.; lediglich für den Fall der Krisensituation, des „strukturellen Defizits" auf europäischer Ebene, nimmt er das Aufleben einer Kompetenz des BVerfG an und sieht nicht - wie hier - die Politik auf der Bühne des Völkerrechts wieder am Zuge.
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Dritter Teil: Die Anwendung
schränkt. 39 Nicht unter Art. Ν Abs. 1 EUV fällt aber die Aufhebung der Vertragsrechtsordnung; die „Auflösung" der Vertragsgemeinschaft wird bereits sachlich nicht von der „Änderung" umfaßt. 40 Können die Mitgliedstaaten auch unter Abweichung von Art. Ν Abs. 1 EUV eine Vertragsänderung herbeiführen? Den Mitgliedstaaten eignet weiterhin die Fähigkeit, völkerrechtliche Verträge abzuschließen. Da die außervertragliche Vertragsänderung aber gegen Art. Ν Abs. 1 EUV verstößt, gehört sie nicht zu dem Recht, das der EuGH zu wahren hat. Auch innerstaatlich würde sich wegen des Vorrangs des europäischen Rechts dieses gegenüber der völkerrechtlichen Vereinbarung durchsetzen. Im Ergebnis ist Art. Ν Abs. 1 EUV der einzige rechtmäßige Weg, um primäres Europarecht abzuändern. 41
II. Gemeinschaftliche Vertragsbeendigung Art. Q EUV, Art. 240 EGV und Art. 208 EAGV bestimmen die Geltung der Verträge auf unbegrenzte Zeit, Art. 97 EGKSV bestimmt eine Geltung von 50 Jahren. Eine Vertragsbeendigung durch Handeln der Mitgliedstaten ist in den Verträgen nicht vorgesehen. Auch wenn ein Vertrag keine Bestimmungen darüber enthält, anerkennt das Völkerrecht, daß die Beendigung des Vertrags, der Rücktritt einer Vertragspartei oder die Suspendierung des Vertrags gegenüber allen oder einzelnen seiner Parteien jederzeit einvernehmlich geschehen kann. 42 Enthält der Vertrag aber eigene Streitregulierungsvorschriften, so gehen diese dem allgemeinen Völkerrecht, das subsidiär anwendbar bleibt, vor. 43 Für die Europäische Union
39 E. Klein, H/K/M/M-G, EUV-EGV, Art. Ν EUV Rn. 14 f.; dort auch zur Entscheidung des EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991/1, 6079/6112, die die „Grundlagen der Gemeinschaft selbst" abzusichern sucht. Dazu auch M Heintzen, EuR 1994, 35 ff.; R. Geiger, EGV, Art. Ν EUV Rn. 1 und W. Meng, G/T/E, EUV-EGV, Art. Ν EUV Rn. 61 f f , der aber in Rn. 59 f. mit überzeugender Argumentation die Menschenrechte und Grundrechte in dem Maße für änderungsfest hält, als diese zum völkerrechtlichen ius cogens gehören oder der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten entsprechen; doch liegt insoweit kaum positiviertes Vertragsrecht vor, das geändert werden könnte. 40 E. Klein, H/K/M/M-G, EUV-EGV, Art. Ν EUV Rn. 8; anders W. Meng, G/T/E, EUV-EGV, Art. Ν EUV Rn. 5. 41 E. Klein, H/K/M/M-G, EUV-EGV, Art. Ν EUV Rn. 4 f.; W. Meng, G/T/E, EUVEGV, Art. Ν EUV Rn. 19, 21, 26-28, 30. 42 Siehe Art. 5; 54 lit. b, 56, 57 lit. b, 58 Abs. 1 lit. b, 59, 60 Abs. 2 lit. a W V K ; dazu A. Verdross /B. Simma, Völkerrecht, S. 514, 517 f. 43 A. Verdross /B. Simma, Völkerrecht, S. 521.
C. Grenzprobleme
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und ihre Gemeinschaften als Einrichtungen des Völkerrechts heißt dies, daß die dargestellten Vertragsänderungsregelungen und insbesondere die einzelnen Schutz-, Notstands-, Suspendierungs-, Ausweich- oder Katastrophenklauseln zur Bewältigung von Konfliktfällen 44 den Rückgriff auf Beendigungstatbestände des allgemeinen Völkerrechts grundsätzlich ausschließen, es den Mitgliedstaaten aber nicht verwehrt ist, bei einem Versagen der vertraglichen Sicherungen durch entsprechendes Handeln auf der Grundlage des allgemeinen Völkerrechts den Vertrag auch einvernehmlich zu beenden.45
I I I . Austritt (Einseitiger Rücktritt vom Vertrag) Auch die Frage nach der Zulässigkeit des einseitigen Rücktritts vom europäischen Vertragswerk stellt sich von vornherein außerhalb der vertraglichen Rechtsordnung; die Unions- bzw. Gemeinschaftsverträge sehen keine Austrittsmöglichkeit vor. Doch wird der Rücktritt vom Völkerrecht in engen Grenzen anerkannt. 46 Einschlägig ist hier auch der Rechtsgrundsatz clausula rebus sie stantibus.47 Auf diesen soll im folgenden, da er im Zusammenhang mit der Frage nach der Stellung der Mitgliedstaaten in der europäischen Vertragsordnung („Herren der Verträge") desöfteren angesprochen wird, näher eingegangen werden. Die clausula rebus sie stantibus gilt als Rechtssatz auch im Völkerrecht. 48 Die Norm des Art. 62 W V K bestätigt dies, ändert aber nichts an der zusätzlichen Geltung der clausula rebus sie stantibus als allgemeiner Rechtsgrundsatz bzw. als Gewohnheitsrecht im Völkerrechtsraum. 49 Im Völkerrechtsraum existiert auch die Europäische Union. Deshalb ist es grundsätzlich unproblematisch, den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die zwar eine von ihnen
44
Siehe zu ihnen M. Schweitzer / W. Hummer, Europarecht, Rn. 1009 ff. und ausfuhrlich (insbesondere zu Art. 224 EGV) S. Bohr, Schutznormen. 45 E. Klein, H/K/M/M-G, EUV-EGV, Art. 240 EGV Rn. 2 f.; R. Geiger, EGV, Art. 240 Rn. 5; M Schweitzer, G/H, EUV-EGV, Art. 240 EGV Rn. 4; anders M. Hilf G/T/E, EUV-EGV, Art. 240 EGV Rn. 5-7, Art. Q EUV Rn. 1; für die Möglichkeit der konsensualen Aufhebung der Union durch alle Mitgliedstaaten aber ders., Stellungnahme I, S. 186. 46 Siehe dazu A. Verdross / B. Simma, Völkerrecht, S. 522 (moralische Unmöglichkeit, übermäßige Belastung); W. Röhls, Clausula, S. 149 ff. (Staatsnotstand); vgl. auch Art. 56, 60 Abs. 2 lit. b und c, 61 WVK. 47 Ausführlich zu Begriff, Geschichte und heutiger Anwendung der clausula rebus sie stantibus als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes R. Köbler, Clausula. 48 R Köbler, Clausula, S. 2,159 ff. 49 A. Verdross/B. Simma, Völkerrecht, S. 528; R. Köbler, Clausula, S. 13, 164 f.
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Dritter Teil: Die Anwendung
geschiedene, auch mit Letztentscheidungsbefugnissen ausgestattete Hoheitsgewalt begründet haben, diese aber völkerrechtlich ausgestaltet und die so als Gründungsstaaten ihre Völkerrechtsunmittelbarkeit gewahrt haben, das Rücktrittsrecht unter Berufung auf die clausula rebus sie stantibus des Völkervertragsrechts zuzugestehen. Daran ändert es auch nichts, daß Art. 62 W V K auf die europäischen Verträge nicht unmittelbar anwendbar ist. 50 Die clausula rebus sie stantibus ist die ultima ratio-Ausnahme zur Regel pacta sunt servanda. Sie betrifft die Fälle der unvorausgesehenen und grundlegenden Veränderung solcher außerhalb des Vertragsrechtsverhältnisses, seines Gegenstandes und seiner Parteien liegenden Umstände, die eine wesentliche Grundlage für den Abschluß des Vertrags gebildet haben; die Änderung muß die vertraglichen Verpflichtungen tiefgreifend umgestalten.51 Für ihre Anwendung als Rechtsgrundlage eines einseitigen Rücktritts von den europäischen Verträgen bleibt - über ihren prinzipiellen Ausnahmecharakter mit Blick auf die Regel pacta sunt servanda und die anderen Beendigungsgründe des allgemeinen Völkerrechts hinaus - nur ein schmaler Anwendungsbereich. 52 Dies, weil die Gründungsverträge den unabhängigen EuGH zur Überprüfung europarechtlicher Akte und mitgliedstaatlicher Vertragsverletzungen eingesetzt, ihn teilweise auch mit Verwerfungskompetenz versehen haben, weil sie zahlreiche Normen enthalten, mit denen sich Konfliktfälle bewältigen lassen und weil die Verträge Änderungsverfahren institutionalisiert haben.53 So bleibt für die clausula rebus sie stantibus der Bereich, in dem gegenüber einem aus außervertraglichen Gründen entstandenen Konflikt alle vertraglichen Sicherungen versagen und alle vertraglichen Reaktionsmöglichkeiten ausfallen,
50 Die W V K ist am 27. Januar 1980, in Deutschland am 20. August 1987 (BGBl. I I S. 757) in Kraft getreten und findet gemäß Art. 4 W V K nur für Verträge Anwendung, die von Staaten geschlossen werden, nachdem das Übereinkommen für sie in Kraft getreten ist. Doch sagt Art. 4 W V K auch, daß diese Nichtrückwirkung unbeschadet der Anwendung der in der W V K niedergelegten Regeln, denen Verträge unabhängig von ihr aufgrund des Völkerrechts unterworfen wären, gilt. Art. 62 W V K hat aber bereits bestehendes Gewohnheitsrecht niedergelegt; die clausula rebus sie stantibus als allgemeine Völkerrechtsnorm ist von Art. 62 W V K in ihrem geltenden Umfang beschrieben und festgeschrieben worden (W \ Röhls, Clausula, S. 93; R. Köbler, Clausula, S. 161). Die clausula rebus sie stantibus gilt daher auch für den einseitigen Rücktritt vom europäischen Vertragswerk, den Austritt aus der Europäischen Union (Köbler, Clausula, S. 169; M Schweitzer / W. Hummer, Europarecht, Rn. 1022 f.). 51 W. Röhls, Clausula, S. 54, 61; R. Köbler, Clausula, S. 3 f.; B.-O. Bryde / A. Randelzhof er, Stellungnahme, S. 326. 52 W. Röhls, Clausula, S. 128 ff. 53 R. Köbler, Clausula, S. 169 f.
C. Grenzprobleme
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in dem dann subsidiär gegenüber den vertraglichen Regelungen gilt, daß der Mitgliedstaat sich von den Verträgen lösen kann, wenn anders nicht die Grundlagen seiner verfassungsrechtlichen Existenz aufrecht erhalten werden können und ein Festhalten am Vertrag deshalb unzumutbar ist. 54 Diese letzte, rechtliche Möglichkeit aber verbleibt den Mitgliedstaaten, weil sie trotz aller Integration ihre Rechtsstellung als Völkerrechtssubjekte behalten haben, auf die dann auch das allgemeine Völkerrecht Anwendung findet. Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland folgt daraus, daß sie trotz Übertragung von Hoheitsrechten, d. h. aber Abtretung von Teilen ihrer Staatsgewalt im Rahmen einer völkerrechtsvertraglichen Ordnung zur Ermöglichung einer von ihr geschiedenen Hoheitsgewalt, die rechtliche Möglichkeit zum einseitigen Rückzug aus dieser Ordnung in ihren Händen behalten hat. 55 Rechtsfolgen einer Berufung auf die clausula rebus sie stantibus sind nach Art. 62 WVK, der auch insoweit als Positivierung geltenden Gewohnheitsrechts anzusehen ist, bei multilateralen Übereinkommen der Rücktritt vom Vertrag sowie die Möglichkeit einer Suspendierung der vertraglichen Pflichten. Bezogen auf die Europäische Union heißt das, daß die Berufung auf die clausula rebus sie stantibus zum Rücktritt vom Vertrag und damit zum Austritt aus der Vertragsgemeinschaft führt.
IV. Rückabwicklung von Übertragungsvorgängen Kommt es in den unter I.—III. geschilderten Verfahren zu einer Änderung der Verträge, die die europäische Hoheitsgewalt beschneidet, oder kommt es sogar zu einer Beendigung der oder Lösung von den Verträgen, so stellt sich die Frage, wie die Bundesrepublik Deutschland wieder in den Besitz der übertragenen Hoheitsrechte gelangt. Die Übertragung von Hoheitsrechten ist die staatsrechtliche Erfüllung der völkerrechtsvertraglichen Verpflichtung zur Errichtung einer Hoheitsgewalt. Aus dieser Struktur folgt auch die Lösung des Problems der Rückabwicklung von Übertragungsvorgängen. Die Übertragung in Erfüllung der Verpflichtung aus dem völkerrechtlichen Vertrag erfolgt unter der Bedingung des Fortbe-
54
Für eine Fallgruppenbildung siehe W. Röhls, Clausula, S. 153 ff. So auch R. Geiger, EGV, Art. 240 Rn. 9; M. Schweitzer, G/H, EUV-EGV, Art. 240 EGV Rn. 5; ausführlich dazu Β.Ό. Bryde / A. Randelzhofer, Stellungnahme, S. 315 ff. Für die Gegenposition siehe / Pernice , HdbStR VIII, S. 242 f. und M Hilf G/T/E, EUV-EGV, Art. 240 EGV Rn. 9, 13, Art. Q EUV Rn. 1; für /////erscheint der Austritt aber immerhin „denkbar" (Art. 240 EGV Rn. 12, Art. Q EUV Rn. 1). 55
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Dritter Teil: Die Anwendung
stands der entsprechenden vertraglich eingeräumten Kompetenz bzw. der Bindung an den Vertrag. Fällt diese Bedingung fort, entfällt die Bedingung für die Übertragung von Hoheitsrechten; es gilt dann der Rechtszustand, der vor der Übertragung bestand. Daß diese Bedingung nicht ausdrücklicher Vertragsinhalt ist, ist unproblematisch: Ihre Geltung beruht auf den Sachgesetzlichkeiten der Begründung einer öffentlichen Gewalt im Völkerrechtsraum aufgrund Zusammenwirkens mehrerer Staaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften und den durch sie bestimmten mutmaßlichen Parteiwillen. Die Begründung dieser Lösung mag deutlicher werden, wenn vergleichbare Vorgänge im Privatrecht mit in den Blick genommen werden. Dort ist nach dem Abstraktionsprinzip die Wirksamkeit einer Abtretung gemäß § 398 BGB grundsätzlich unabhängig von der Wirksamkeit des Kausalgeschäfts (Verpflichtungsvertrag). Ist das Kausalgeschäft unwirksam, kann die abgetretene Forderung jedoch gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 BGB kondiziert werden. Darüber hinaus ist anerkannt, daß es zu einem Durchschlagen der Unwirksamkeit des Kausalgeschäfts auf die Wirksamkeit der Abtretung kommen kann, wenn die Tatsachen, die das Kausalgeschäft unwirksam machen, zugleich die Unwirksamkeit des Erfüllungsgeschäfts der Abtretung begründen (Fehleridentität). Und anerkannt ist auch, daß Kausalgeschäft und Abtretung Teile einer einheitlichen Vereinbarung bilden können mit der Folge der Anwendung von § 139 BGB. Nicht zuletzt verbleibt den Beteiligten auch die Möglichkeit, die Wirkungen des Abstraktionsprinzips rechtsgeschäftlich abzubedingen; es kann so die Wirksamkeit des Kausalgeschäfts zur Bedingung der Wirksamkeit der Verfügung, also der Abtretung gemacht werden. 56 Daß der Übertragung von Hoheitsrechten auf völkerrechtsvertraglich begründete Organe - als der Grundlage für eine mit Durchgriffswirkung begabte Kompetenzausübung dieser Organe - eine Verbindung von völkerrechtlichem Vertrag und Übertragung zugrunde liegt, die den Fortbestand des Übertragungsakts bei Fortfall des völkerrechtlichen Hoheitstitels bzw. Hoheitsträgers ausschließt, läßt sich danach unschwer begründen.
56
Siehe dazu H. Heinrichs, Palandt, BGB, § 398 Rn. 3, § 139 Rn. 7, vor § 104 Rn. 23 f.
Schlußbetrachtung Die jenseits des Wortlauts liegende herrschende Dogmatik ist eine Möglichkeit, die Entstehung europäischer Hoheitsgewalt aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts zu beschreiben. Durch die Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG vorgegeben ist sie nicht. Vielmehr läßt sich unter Anknüpfung an den Wortlaut der grundgesetzlichen Übertragungsermächtigungen eine dogmatische Konstruktion des Vorgangs der Übertragung von Hoheitsrechten entwikkeln, die mit den grundgesetzlichen Leitbegriffen etwas anfangen kann und dennoch nicht dazu führt, daß die Beschreibung der Realität europäischer Hoheitsgewalt unmöglich wird. Diese Konstruktion ist mit der Verfassung vereinbar, sie unterstützt den mit den Übertragungsermächtigungen verfolgten Sinn und Zweck und die Anwendung der aus ihr sich ergebenden Folgesätze führt auch zu sachgerechten Ergebnissen. Der dritte Teil hat gezeigt, daß sich mit der im zweiten Teil entwickelten Übertragungskonstruktion Ergebnisse erzielen lassen, die in vielerlei Hinsicht den Ergebnissen der anderen zur Auslegung der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Art. 24 Abs. 1 GG vertretenen Ansätze entsprechen. Die eigene Konstruktion profitierte zweifellos von anderen Ansätze zur Auslegung der Übertragungsermächtigungen, beispielhaft sei nur die Grundlegung der Durchgriffswirkung bei C. Tomuschat genannt. Doch konnte auch gezeigt werden, daß es für die Begründung dieser Ergebnisse eines Rückgriffs auf andere als die klassischen Auslegungsmethoden und auf diesen aufbauender dogmatischer Erwägungen nicht bedarf. Da es zum Programm der vorgelegten Arbeit gehörte, dies aufzuzeigen, nicht die Resultate anderer gegenwärtiger Auslegungs- und Konstruktionsbemühungen im einzelnen auf der Folie der eigenen Konstruktion zu bewerten oder zu widerlegen, war der im zweiten Teil vorgetragene eigene Entwurf auch der Notwendigkeit enthoben, sich stärker als geschehen in der Sache mit anderen Entwürfen auseinanderzusetzen. Vom hiesigen Standpunkt aus ist ein wesentliches Defizit der anderen Ansätze und ihr Unterschied zum hier entwickelten gerade ihr andersartiges methodisches Vorgehen und ihre Präferenz für Schrankenerwägungen unter weitgehendem Verzicht auf tatbestandliche Konstruktionsbemühungen. Dies darzustellen, diente insbesondere der erste Teil der Arbeit. Hinter diesem Programm der Arbeit steht die Auffassung, daß es eines Rückgriffs auf andere als die hier angewandten Ausle-
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Schlußbetrachtung
gungsmethoden und juristischen Arbeitstechniken dann nicht bedarf, wenn die Probleme bei der Arbeit mit Normen, seien es auch Verfassungsvorschriften, sich bereits mit diesen bewältigen lassen.
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Bananen und Grundrechte - Anlaß zum Konflikt zwischen europäischer und deutscher Gerichtsbarkeit, NJW 1997, S. 1201 ff.; abgekürzt zitiert als: M. Zuleeg, NJW 1997, 1201 ff.
Sachwortregister Abtreten 36, 113 ff. Abtretung 16 ff., 115 f f , 124 f „ 131 f„ 135, 139 f f , 151, 164,166, 179, 201 f. Aktualisierung 51,94, 105,110, 140 f , 153 f. Anwendbarkeit, unmittelbare 54, 74, 147, 167 ff. Anwendungsbefehl 52, 80 Anwendungsvorrang 80, 152 f f , 161 f , 167, 169, 173 f „ 186, 190, 192, 197 Aufgabe 90, 98,101, 105 f f , 141, 149, 151 f , 157, 165 Auslegungselemente 86, 88, 115 Auslegungsergebnis 87 f. Auslegungskanon 85 ff. Auslegungsmethoden 86, 160, 203 f. Ausschließlichkeitsanspruch 52, 138, 173 Austritt 199,201 Autonomie 61, 156, 173 f Befugnis 90, 98, 101, 105 f f , 141, 149, 151 f , 157, 165 Begriffsanalyse 98 f f , 104, 122 Bindung 47, 58, 74, 171, 194 f „ 202 Bund 106 f f , 130 f f , 142 f f , 145 f „ 176 f. Bund, Deutscher 125 ff. Bundesstaat 94 f f , 106 f f , 122 f„ 142, 159 BVerfG 46 f , 52 f f , 61 f f , 72 f f , 186, 191 ff. clausula rebus sie stantibus 196, 199 ff. confer-Theorie 27, 113 f , 131
Delegation 120 f , 162 f. Demokratiedefizit 82 Dogmatik 83, 89, 203 Donaukommission, Europäische 127 Durchgriff 57, 148, 152, 167,176 Durchgriffseffekt 59, 68 Durchgriffswirkung 66, 73,148 f f , 152 f f , 156, 161, 164 f , 168 f f , 173 f , 177,179, 181 f f , 189, 192 f f , 202 f. Eigenstaatlichkeit der Länder 106 Einrichtungen, zwischenstaatliche 130, 134, 137, 140, 144, 147, 150, 178, 181 Einzelstaaten 94 f f , 123 Entstehungsgeschichte 86,88,98, 115 Ermächtigung 90, 98, 108 f „ 169 f „ 176 -begrenzte 156 ff. Ermöglichung, staatsrechtliche 151 f f , 163 f f , 173 f f , 181 f , 190, 192 EuGH 56 f„ 63 f f , 75 f , 78 f , 81 f f , 159 f , 171, 186 f f , 191 f f , 198,
200 Eurocontrol 61 f , 76 Europäische Gemeinschaft 157 Europäische Gemeinschaften 156 f f , 166, 174, 181, 187 Europäische Union 74, 132 f f , 137, 140, 144, 147, 150, 156 f f , 166, 174, 177, 181, 187, 198 f , 201 Europarecht 168 f f , 174 f , 189, 191 -primäres 167, 191 f f , 197 ff. -sekundäres 167, 174, 183, 193 ff. Föderalismus 82, 107 Fusion 119,164
250
Sachwortregister
Geltung, innerstaatliche 40, 147, 167, 177, 182, 194 f. Geltung, unmittelbare 54, 74, 167 ff., 190 Geltungsanspruch 182, 196 Gemeinschaftsebene 65 f., 153 Gemeinschaftsgewalt 152, 155 Gemeinschaftskompetenz 153 f., 165 Gemeinschaftsrecht 183 f. Gemeinschaftsrechtsordnung 156 f. Gesamtakt 51 f., 72 Gesetz 130 ff., 137, 145 ff., 152, 167, 175, 177, 194 f. Gesetzespositivismus 85 Gewalt, auswärtige 30, 69, 145 f., 172, 181 Gewalt, öffentliche 38 ff, 46, 56, 80, 100, 138, 153, 155, 157, 179, 193, 197 Gewaltausübung 186 f. Gewaltbegründung 181, 186 f., 191, 196 Grenzen 72,76,80,82, 184, 186 Grundnorm 102 f., 148 Grundrechtsbindung 40, 70, 75 Grundrechtsgeltung 47 f., 62, 64 Grundrechtsproblematik 53, 65 f., 68, 74, 82 Grundrechtsschutz 57, 63 ff, 75, 78, 81 f., 132 f. Herrschaftsanspruch 54, 69 Herrschaftsgewalt 90 Herrschaftsrechte 95 ff., 123 Hoheitsgewalt 100, 147 f., 150, 173,
181 -deutsche 164 -europäische 48, 156 ff, 161 ff, 165 ff., 175 f., 181, 183 ff, 191 ff, 197, 201 -gemeinschaftliche 38, 164 Hoheitsrechte 89 ff, 100 ff, 122 ff, 163, 173, 179 - d e s Bundes 135 ff, 143 - d e r Länder 110, 143 Hoheitsrechtsübertragung 99, 131 ff, 146, 154, 166 f., 177
Homogenität 29, 35, 39 f., 60, 69, 178 Identität des Übertragungsgegenstandes 116 ff, 122 Identitätserfordernis 116, 119, 164 f. Implementation 147, 175 Inkorporierung 52, 81, 151, 168 Integration 68, 71, 146, 179, 201 Integrationsgewalt 30 f., 51 f., 60, 146 ff, 152, 155, 185 Integrationshebel 51 Integrationsprogramm 70, 74, 76, 194 f. Kollision 40, 55, 154, 159 ff, 173, 189 Kolonialrecht 124 f. Kompetenzen 90, 94 ff, 100 ff, 121, 140 f.,151 ff, 156 ff, 165 ff, 179 ff, 181 ff, 194, 197 Kompetenz-Kompetenz 105 ff, 135 ff, 158 f., 190 f. Kompetenzabgrenzung 81, 165 Kompetenzaufteilung 106 ff, 143 ff, 179 Kompetenzausstattung 99, 153 f., 158 f., 168, 189 Kompetenzausübung 105, 150 ff, 156, 160, 165 ff, 176 f., 181 f., 186, 202 Kompetenzkollision 161 Kompetenzordnung 101, 105, 108, 120, 138, 140, 150, 159, 165, 179, 181 Kompetenzsphäre 96, 151 Kompetenzstruktur 160 f., 166 f., 179, 185 Kompetenzübertragungen 99, 163 Kompetenzverschiebung 120 f. Kompetenzverteilung 82,96, 152, 176 Kompetenzzuweisung 111,161,165 Kongruenz, strukturelle 29, 33 ff, 72, 178 Konkretisierung 85 f., 94, 112, 141, 153, 160, 168 f., 185 Konstituierung 111 Konstruktion, dogmatische 83, 86 ff, 99, 135, 141, 146, 203
Sachwortregister Kontrolle, gerichtliche 48, 53, 55, 80, 109, 178, 186 f f , 191 ff. Kontrollkompetenz 58,61 f , 66, 78, 187 f , 193 Kooperationsverhältnis 75 f , 78, 81, 83 Länder 98, 106 f f , 134,142 f f , 145 f , 176 f. Landeshoheit 91 f f , 98 Legitimation, demokratische 82,138, 149 Legitimationskraft 183 f. Letztentscheidung 190,200 Maastricht-Debatte 70 Maastricht-Entscheidung 70, 78, 80 f. Maastricht-Urteil 73, 82, 186, 193 Mandat 120 f , 162 f. Methodenlehre 85, 87, 160 Mitgliedschaftsrechte 118 f. Mitgliedstaat 82, 144 f , 148, 151 f , 158 f f , 164 f f , 168 f f , 183, 186 f f , 194, 196 ff. nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet 19 f., 24, 164 Nichtigkeit 103, 189 Nichtigkeitsklage 188 f. Normenkollision 46, 154, 161 f. Normenkontrolle 192 Organisation, internationale 144, 147 f. pacta sunt servanda 182,200 pouvoir constituant 31,42 Prüfungskompetenz 57, 194 Prüfungsvorbehalt 77 f , 81, 193 quis iudicabit 190, 196 Ratifikation 149 f , 182, 192, 194 Rechtsanwendungsbefehl 63, 74, 80 Rechtsanwendungsprobleme 37, 83, 88 f , 106, 181 ff. Rechtsordnung 101 f f , 190, 193
-deutsche 154,183 f. -europäische 155 f , 159, 164,168, 170 f f , 186 f , 189,196 f. -mitgliedstaatliche 149,156,161, 164 f , 172 f „ 184 -supranationale 167 Rechtsschutz 61, 64, 79 f , 188 f „ 197 Regalien 90 f. Reich 93 f f , 122 ff. Reichspublizistik 91,93, 106 Rheinschiffahrtsakte, Mannheimer Revidierte 127 Richter, gesetzlicher 63 Richtlinie 167,170 f. Schranken 30, 60, 72, 179, 183 ff. Schrankenproblematik 36, 40 f , 45,
82,181
Solange I-Beschluß 57 Solange I-Entscheidung 52, 56 ff. Solange II-Beschluß 62, 65,68 Solange I I I 67 f , 70 Souveränität 69, 96, 102, 107, 123, 135 f f , 188 Sprachgebrauch 89, 91, 98, 114 f , 127, 145 Staat 90 f f , 96 f f , 100 f f , 120, 123, 135 f f , 163, 165,173 Staatenverbund 73 f , 78, 81 Staatlichkeit 106,108 -deutsche 140,154 -offene 44 f , 59, 71, 178 f. Staatsaufgaben 95,102, 107 ff. Staatsbefugnisse 107 Staatsfunktionen 92 f , 107, 109 Staatsgewalt 90 f f , 100 f f , 163, 188 -deutsche 135 f f , 151 f f , 161, 165 f f , 183, 193, 195 Staatslehre 93, 100, 136 f. Staatsmodell 104 Staatsrecht 100 f , 145 Staatsrechtslehre des Kaiserreichs 91, 93 f , 97, 106, 122 Staatsrechtslehrertagung 30, 38, 40,67 Staatstheorie 108 Staatszweck 92 f , 95, 100 f. Subsidiaritätsprinzip 158
252
Sachwortregister
Supranationalität 68, 79,148,172,174 Systematik 86, 130 ff., 184 Theorie, dualistische Theorie, monistische transfer-Theorie 113 Transformation 147,
147 147 f., 131 150
Übertragen 112 ff., 179 Übertragung 112 ff. - von Hoheitsrechten 122 ff., 135 ff., 145 ff., 151 ff., 158, 161 ff., 175 ff., 194 ff., 201 f. Übertragungsempfönger 144 Übertragungsermächtigung 101, 104 f., 110, 132 ff., 137 ff., 156, 178 f., 181, 184 Übertragungsgegenstand 104, 110 f. Übertragungsgesetz 80, 149 f., 152 f., 155, 177, 182, 184, 192 Übertragungskonstruktion 162 ff., 177 ff., 203 ultra vires 189 Verfassunggebung 72, 102, 166 Verfassungsänderung 102, 105, 130, 137 ff., 166, 175 ff., 184 Verfassungsbeschwerde 39, 46 f., 58, 63, 76, 192 Verfassungsentscheidung 44 f., 51 f., 59, 68, 101, 105, 177 Verfassungsinterpretation 79, 85 Verfassungsmäßigkeit 57, 65, 193 f. Verfassungsrelevanz 176 f. Verfassungsstaat 67, 97, 100 ff., 140 Verfassungstext 86, 105 Verfassungstheorie 104 Verfassungsverbund 83 Verfassungswidrigkeit 192, 195 Verfassungswidrigwerden 195 f. Vernichtbarkeit 189 Verordnung 166, 168, 170 Verpflichtung, völkerrechtliche 153, 173, 182 f., 187, 192, 200 f.
Vertrag, völkerrechtlicher 148 ff., 151 ff., 156,160,164,166,173 f., 181 f., 192 ff., 197 ff. Vertragsänderung 133,192, 196 ff. Vertragsbeendigung 198 f. Vertragsgesetz 80, 149 f., 152, 155, 167, 181 f., 186, 192 ff. Vertragsgewalt 146 ff., 152, 155, 167, 182, 184 f., 191 Vertragsrechtsordnung 153 f., 157, 161, 167, 172, 186 ff., 193, 198 Verwerfungskompetenz 62, 200 Verzicht 22 f., 37 f., 56, 59 f., 68 Vielleicht-Beschluß 58, 62 Völkerrecht 103, 136, 145, 147 f., 156, 160, 162, 171, 174 f., 183, 196 ff. Völkerrechtsordnung 175 Völkerrechtsraum 147,155,175, 181 ff., 197,199,202 Völkerrechtsunmittelbarkeit 136 f., 140, 191, 200 Vollzug von Europarecht 168 ff. Vollzugsfunktion 150 Vorabentscheidungsverfahren 188 f. Wehrbeitrag, Kampf um den 19 ff. Wirkung, direkte 170 f. Wortlaut 86 ff., 91, 99,104,111,115, 129, 131, 133, 144, 155, 177, 184, 203 Wortlautauslegung 88, 114 Wortsinn 87, 164, 167,172, 178 Zollverein 125 ff. Zusammenarbeit, internationale 44 f., 71 f., 177 Zuständigkeit 90, 98, 109, 120 f., 151 ff., 173 Zuständigkeitsordnung 101, 105, 120, 138, 140, 159, 165, 179 Zustimmungsgesetz 39,43, 52, 55, 57 f., 63, 65, 74, 76, 80 f., 176 Zuweisung 105, 109, 112, 150, 153, 161, 164, 166, 184, 195