Die Anfänge des Pietismus in Bern Quellenstudien 3525558066, 9783525558065


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Die Anfänge des Pietismus in Bern Quellenstudien
 3525558066, 9783525558065

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Rudolf Dellsperger Die Anfänge des Pietismus in Bern

ARBEITEN ZUR GESCHICHTE DES PIETISMUS IM AUFTRAG DER

HISTORISCHEN KOMMISSION ZUR ERFORSCHUNG DES PIETISMUS

HERAUSGEGEBEN VON

K. ALAND, K. GOTTSCHICK UND E. PESCHKE

BAND 22

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

DIE ANFÄNGE DES PIETISMUS IN BERN QUELLENSTUDIEN

VON

RUDOLF DELLSPERGER

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

D i e e r s t e n 16 B ä n d e d i e s e r R e i h e e r s c h i e n e n i m L u t h e r V e r l a g , B i e l e f e l d . A b B a n d 17 e r s c h e i n t d i e R e i h e

im

V e r l a g v o n V a n d e n h o e c k & R u p r e c h t in G ö t t i n g e n

CIP-Kurztitelaufiiahme

der Deutschen

Bibliothek

Dellsperger, Rudolf: Die A n f ä n g e des Pietismus in Bern: Quellenstudien / v o n R u d o l f Dellsperger. - Göttingen: Vandenhoeck u n d Ruprecht, 1984. (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 22) I S B N 3-525-55806-6 NE: GT

Publiziert mit U n t e r s t ü t z u n g des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984 — Printed in G e r m a n y . - O h n e ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf f o t o - oder akustomechanischem W e g e zu vervielfältigen. Gesetzt aus B e m b o auf Linotron 202 System 3 (Linotype). Satz u n d D r u c k : G u i d e - D r u c k G m b H , T ü b i n g e n . Bindearbeit: H u b e r t & C o . , Göttingen.

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist im Sommersemester 1981 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern auf Antrag der Herren Professoren Andreas Lindt und Alfred Schindler als Habilitationsschrift im Fach Kirchengeschichte angenommen worden. Über die Hintergründe ihrer Entstehung wird im Nachwort alles Nötige gesagt. Hier möchte ich mich für alle freundliche Hilfe, die ich in reichem Maß erhalten habe, bedanken. Ich danke all jenen, die mir ihr Wissen anvertraut und mit ihrer Erfahrung weitergeholfen haben. Ihre Namen werden in den Anmerkungen jeweils an O r t und Stelle genannt. Viel verdanke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zahlreicher Archive und Bibliotheken im In- und Ausland. Sie werden hier nur deshalb nicht namentlich erwähnt, weil die Aufzählung zu umfangreich würde. Zu großem Dank verpflichtet bin ich ferner dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der mir ein einjähriges Forschungsstipendium und einen Publikationsbeitrag gewährt hat. Der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus und im besonderen Herrn Professor Kurt Aland in Münster/ Westfalen bin ich für die Aufnahme der Studie in die Reihe „Arbeiten zur Geschichte des Pietismus" dankbar. V o r allem aber sage ich Andreas Lindt in Bern, der mich in meiner Arbeit nun schon über viele Jahre hinweg begleitet und unterstützt hat, herzlichen Dank. Burgdorf, 8. Oktober 1983

Rudolf Dellsperger

5

Inhalt Vorwort

5

Einleitung: Bernischer Pietismus und Pietismusforschung

9

1. Die Anfänge des bernischen Pietismus in der bisherigen Forschung 2. 3. 4. 5. 6.

Die Geschichte der Forschung Die Problematik der „Anfänge des Pietismus" in der heutigen Forschung . Folgerungen und Fragen Zeitgeschichtlicher Kontext und historische Voraussetzungen Die Aufgabe

9 11 16 21 23 26

I Samuel Schumachers Bericht über die Anfänge des Pietismus in Bern 1. Die Vorläufer 2. Die Studienreisen der vier Theologiestudenten 3. Samuel Schumachers mystischer Pietismus 4. Die Entstehung einer pietistischen Bewegung 5. Zusammenfassung

28 30 38 44 52 66

II Die pietistische B e w e g u n g i m Urteil ihrer Gegner. Die ersten offiziellen Gegenmaßnahmen 1. Die 19 Thesen von 1696 2. Bücherzensur und Sonntagsfahrverbot 3. Der Schlag gegen die Konventikel 4. Zwei Berichte von Pietistengegnern (Juli 1698) 5. Zusammenfassung

71 72 78 83 87 91

III Samuel K ö n i g 1. Herkunft und Studium 2. Samuel Königs theologisches Frühwerk 3. Kirchenkritiker und Chiliast

93 94 100 107

IV Untersuchung und Prozeß 1. Die Bedeutung der Horchischen Streitigkeiten für das Verfahren gegen Berns Pietisten 2. Die Rückwirkungen des „Locherischen und Laubischen Handels" in Zürich auf den Berner Pietistenprozeß 3. Die Ausschaltung des Schulrates. Samuel Lutz und Nikolaus Tscheer. . . . 4. Die Verhöre 5. Die Urteile

115 117 121 123 129 136

7

V Der Konflikt

140

1. 2. 3. 4.

Die „ R e m e d u r e n " gegen den Pietismus D i e S y n o d e v o m 5. Juli 1699 D i e 2 0 Thesen D i e 20 Thesen als D o k u m e n t eines religiösen und theologischen Konflikts 5. Der politische und soziale Aspekt des Konflikts

141 144 148

Nachwort

167

1. Rückblick 2. Ausblick

167 172

161 164

ANHANG

I Samuel Schumachers Brief an August Hermann Francke v o m 22. März 1695

177

1. Einleitung 2. Der T e x t

177 178

II August Hermann Franckes Brief an Samuel Schumacher v o m 31. Oktober 1695

203

1. Einleitung

203

2. Der T e x t

204

Verzeichnis der Abkürzungen

209

Literaturverzeichnis

210

Namenregister

217

8

Einleitung: Bernischer Pietismus und Pietismusforschung Am Ende des 17. Jahrhunderts hat die kirchliche Erneuerungsbewegung des Pietismus auch Bern beschäftigt und erschüttert. Das Resultat der Auseinandersetzung, die sie hervorrief, ist bekannt: Die neue Reformation, welche die Pietisten erhofften und anstrebten, fand - wenigstens vordergründig beurteilt - nicht statt. Auf die rasche Ausbreitung der Bewegung folgte deren ebenso rasche Austreibung durch die zuständigen staatlichen und kirchlichen Instanzen. Zehn Jahre nach seinem ersten Aufflackern war das Feuer gelöscht, waren die Brandstifter bestraft und die Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Hier und dort etwa noch schwelende Glut hatte man unter Kontrolle. Die Geschichtsschreibung hat sich mit den Ereignissen und den Hauptgestaltenjener zehnJahre von 1689 bis 1699 immer wieder befaßt. Sie hat, sieht man von den geringfügigen Differenzen in den Resultaten der einzelnen Forscher einmal ab, folgendes Bild des Geschehens erarbeitet:

1. Die Anfänge des bernischen Pietismus in der bisherigen Forschung

Der bernische Pietismus ist nicht auf äußere Einflüsse - solche des lutherischen Pietismus in Deutschland etwa - zurückzuführen. Er ist vielmehr nach der Regel entstanden, daß gleiche Ursachen unter vergleichbaren U m ständen an verschiedenen Orten unabhängig voneinander ähnliche Wirkungen zeitigen können, stellt also eines jener Phänomene dar, die, wie man sagt, „in der Luft liegen". Die Kirche, in der er aufkam und die er reformieren wollte, war nicht nur im Blick auf ihre Diener, sondern auch im Blick auf das „Volk" weitgehend verweltlicht und verlottert. Schultheologie und Kirchlichkeit waren zu bloßer Form und äußerlicher N o r m erstarrt. Im Erbauungszirkel, zu dem vier bernische Theologiestudenten 1689 in Genfsich spontan zusammenfanden, lag der Keim zur späteren Bewegung: Samuel Güldin, Jakob Dachs, Samuel Schumacher und Christoph Lutz: Sie brachten den neuen Geist in ihre Kirche. Wo sie wirkten, entstand Bewegung. Die Menschen kamen, um sie zu hören, von weit her. Viele von ihnen wurden ihres Glaubens zum erstenmal oder wieder froh. Neue Fragen, verdrängte Hoffnungen und Wünsche brachen auf, ein intensives Suchen nach echter Gemeinschaft, nach glaubwürdigen Lebens- und Gottesdienstformen begann, emotionale und gedankliche Fesseln wurden gesprengt. Zentren der Bewegung waren die Stadt Bern, wo Christoph Lutz wirkte

9

und Menschen aus allen sozialen Schichten, auch und gerade aus vornehmen Familien, sich zu ihr zählten, dann in der Umgebung der Stadt Stettlen, Samuel Güldins Gemeinde, später auch Belp, wo Johannes Müller predigte, ferner das oberaargauische Melchnau, Samuel Schumachers Wirkungsort und Holderbank im - damals noch bernischen - Aargau, wo Jakob Dachs Pfarrer war. Bald war über Zofingen auch die Brücke zu Gleichgesinnten in Zürich geschlagen. Ein reger Briefwechsel kam in Gang. In Bern nahm, für viele völlig überraschend, der weitgereiste und hochgelehrte Samuel König für die Pietisten Partei und begann namentlich auch unter den Theologiestudenten in ihrem Sinn zu wirken. Im Schulrat hatte die Bewegung ihren Rückhalt, im Geistlichkeitskonvent ihre erbittertsten Gegner. Bald zerfiel die Stadt in Pietisten und Pietistenfeinde. 1696, als zwei lutherische Studenten aus Leipzig bei ihren Berner Gesinnungsfreunden allzu offenherzig aufgenommen wurden, griff der Rat ein: Er wies die beiden aus. Dann wollte er der Pfarrerschaft 19 Thesen gegen den Pietismus, die er bei den beiden an der Akademie tätigen Theologieprofessoren in Auftrag gegeben hatte, beliebt machen. Er tat es mit durchschlagendem Mißerfolg, ja schließlich hatte er in seinen eigenen Reihen so viele Sympathisanten des Pietismus, daß im Dezember 1696 sogar Samuel Güldins Wahl als Helfer ans Münster zustande kam. Die Bewegung erreichte den Höhpunkt ihres Einflusses. Damit provozierte sie aber auch die planmäßige Opposition und Repression gewisser kirchlicher, später auch politischer Kreise, die im Pietismus eine weder an nationale, noch auch an konfessionelle oder gar an ständische Grenzen sich haltende religiöse und politische Verschwörung vermuteten. Sie erreichten, daß im April 1698 eine Untersuchungskommission „gegen Quäckerei, unerlaubte Versammlungen und Sonderungen in Lehren" eingesetzt wurde. Wohin es führen konnte, wenn man den Dingen den Laufließ, zeigte eben damals ein Schreiben aus der befreundeten Stadt Herborn. Dort war es einem Schwärmer namens Horche offensichtlich gelungen, mit seinen pietistischen Ideen das staatliche und kirchliche Gefüge derart zu erschüttern, daß man sich seinetwegen an Zürich und Bern wenden und die reformierten Glaubensbrüder um ihren Rat ersuchen mußte. Der Verdacht, daß der Pietismus nicht nur theologisch und kirchlich, sondern in seinen Konsequenzen auch politisch eine höchst bedenkliche Erscheinung sei, gewann im Rat am Boden. Im August 1698 wurde die Religionskommission ernannt, die der Bewegung „auf den Zahn fühlen" sollte. Unverzüglich begann sie mit Einvernahmen, Verhören und sonstigen Recherchierungsmethoden ihres Amtes zu walten. Samuel König wurde, als er sich nicht dazu verstehen konnte und wollte, in seinen Predigten vom Tausendjährigen Reich zu schweigen, kurzerhand suspendiert. Dasselbe geschah mit Johannes Müller. Im Juni 1699 dann fällten „die Burger", gestützt auf den Kommissionsbericht, die Urteile. König wurde nach Entzug des geistlichen Charakters verbannt, 10

Güldin und Lutz wurden bis auf Widerruf ihres Amtes enthoben. Schumacher, Dachs und Müller erhielten einen Verweis. Bußen wurden ausgesprochen. Einige Studenten, Anhänger von Samuel König, bezahlten ihre offenherzige Kritik an derartiger Justiz ebenfalls mit Verbannung. Mehrere Mitglieder angesehener Familien nahmen lieber dasselbe Schicksal als den sogenannten Assoziationseid, durch den der Pietismus vollends erstickt werden sollte, auf sich. Im Anschluß an den Prozeß berief der Große Rat eine Synode ein, um die Thesen, die er 1696 noch nicht durchsetzen konnte, ratifizieren zu lassen, was auch ohne viele Umschweife geschah. Damit war der Pietismus theologisch unmöglich gemacht. Eine Reihe von Verboten und Erlassen schließlich sollten gewährleisten, daß er auch praktisch nicht Wiederaufleben konnte. Soviel zum Bild des Geschehens der Jahre 1689-99, wie es sich aus der bisherigen Forschung ergibt.

2. Die Geschichte

der

Forschung

Die Geschichte dieser Forschung begann, sieht man von früheren, unwesentlichen Ansätzen ab, in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Friedrich Trechsels Studie über „Samuel König und den Pietismus in Bern" 1 . Es ist Trechsels bleibendes Verdienst, die von Johann Rudolf Gruner gesammelten und von Johann Franz von Wattenwyl ergänzten „Acta Pietistica" 2 zum erstenmal ausgewertet zu haben. Will man seiner Leistung gerecht werden, so hat man zu berücksichtigen, daß er selber theologisch dem Neupietismus nahestand und mit seinen kirchengeschichtlichen Arbeiten nicht nur wissenschaftliche, sondern auch allgemeinbildende, ja erbauliche Zwecke verband 3 . Zweierlei ist zu seiner Studie jedoch kritisch zu bemerken. Erstens: 1

Friedrich Trechsel, Samuel König und der Pietismus in Bern. Ein Beitrag zur vaterländischen Kirchengeschichte: Berner Taschenbuch 1852 (abgekürzt: BT), 104-143. - Unter den früheren Darstellungen ist nur gerade diejenige Leonard Meisters (Helvetische Szenen der neuern Schwärmerey und Intoleranz, Zürich 1785) aus den Quellen geschöpft. Die Arbeiten von Anton von Tillier (Geschichte des eidgenössischen Freistaates Bern von seinem Ursprung bis zu seinem Untergang im Jahre 1798, Bd. 4, Bern 1838), Heinrich Geizer (Die drei letzten Jahrhunderte der Schweizergeschichte, Bd. 2, Aarau und Thun 1839), L. Vulliemin, Histoire de la Confédération Suisse dans les XVI e et XVII e siècles, Bd. 3, Paris und Lausanne 1842), Melchior Schuler (Die Thaten und Sitten der Eidgenossen, Bd. 3, Zürich 31843) und Karl Rudolf Hagenbach (Die Kirche des 18. und 19. Jahrhunderts in ihrer geschichtlichen Entwicklung: Kirchengeschichte von der ältesten Zeit bis zum 19. Jahrhundert, Bd. 6, Leipzig 41871) sind fur unser Thema unergiebig, z. T. unbrauchbar. 2 Johann Rudolf Gruner (1680-1761), Dekan des Kapitels Burgdorf, bedeutender Historiker und Chronist (HBLS III, 382). Der von ihm stammende Sammelband zum frühen Berner Pietismus befindet sich unter der Signatur M. h. h. X, 62 in der Burgerbibliothek Bern. Dort wird unter der Signatur M. h. h. III, 272 auch die ergänzte Abschrift Johann Franz von Wattenwyls aufbewahrt. Eine weitere, von Johann Jakob Simmler angefertigte und um zahlreiche Stücke ergänzte Abschrift von Gruners Sammlung befindet sich unter der Signatur Ms S 277 in der Zentralbibliothek Zürich (abgekürzt: ZB). 3 Friedrich Trechsel (1805-1885) studierte in Bern, Göttingen, Halle und Berlin Theologie.

11

Das chronologische Rückgrat fehlt darin weitgehend. Dafür ein Beispiel: Trechsel setzt Samuel Königs Amtsantritt als Spitalprediger ohne Nennung eines Datums früh, das heißt spätestens auf 1696 an. Damit räumt er König in der gesamten Bewegung eine Stellung ein, die dieser so jedenfalls nicht gehabt hat 4 . Wohl hat Trechsel in seinem 1882 erschienenen Aufsatz über Johann Rudolf Rudolf 5 die Dinge stillschweigend richtiggestellt, aber nicht diese in mancher Beziehung ausgereiftere und präzisere Studie, sondern die ältere Arbeit über König hat die weitere Forschung beeinflußt. Zweitens: Trechsel war davon überzeugt, und das kommt in seinen beiden Aufsätzen klar zum Ausdruck, der frühe bernische Pietismus sei vor allem hinsichtlich seiner Entstehung, aber auch hinsichtlich seiner Entwicklung von äußern Einflüssen weitgehend isoliert, gleichsam als autochthones Phänomen zu betrachten. 1882, zwei Jahre nachdem der erste Band von Ritschis „Geschichte des Pietismus" erschienen war, wies er denn auch dessen Behauptung, von 1689 an sei der deutsch-lutherische Pietismus in der Schweiz importiert worden, jedenfalls für Bern als unbewiesen von der Hand. „Viel eher", fuhr er fort, „möchte man annehmen, wenn je die pietistische Bewegung auf einen äußern Anstoß zurückzuführen sein sollte, so wäre dieser von dem puritanischen England und den reformirten Niederlanden ausgegangen, wo bekanntlich schon längst ein Dringen auf lebendiges Christenthum, auf Bekehrung und Glaubensbethätigung sich geltend gemacht hatte; allein auch hier fehlt es, trotz des häufigen Besuchs dortiger Hochschulen von Seite schweizerischer Studirender, an festen Anhaltspunkten, ja gerade die Wortführer des bernischen Pietismus stellen es des bestimmtesten in Abrede, das sie bei ihrem Aufenthalte im Auslande - ,an Orten, wo man zu der Zeit vom Pietismus gar nichts gewußt' - die Anregung zu demselben empfangen hätten. " 6 Trechsel stützt sich hier auf ein Selbstzeugnis Samuel Güldins 7 . O b er das auch mit Recht tut, wird noch zu Friedrich Lücke, Schleiermacher und Neander haben ihn unter seinen Lehrern am nachhaltigsten beeinflußt. Seine Affinität zum kirchlichen Pietismus scheint sich mit den Jahren noch verstärkt zu haben. Für Trechsels theologische Linie ist bezeichnend, daß er 1847 eine Petition gegen die Berufung des Tübinger Theologen und Philosophen Eduard Zeller nach Bern mitunterzeichnet hat (St AB BB III b 2204). 1832 PD für Kirchengeschichte und neutestamentliche Exegese in Bern, verlor er 1834, als die Akademie in eine Universität umgewandelt wurde, diese Stellung aus politischen Gründen wieder. 1837 wurde er Pfarrer in Vechigen bei Bern, 1860 Helfer am Münster der Stadt Bern. Über ihn vgl. die biographische Einleitung von F. Studer-Trechsel im Sammelband: Bilder aus der Geschichte der protestantischen Kirche, Bern 1889. Dort findet sich S. 213-225 auch ein Beispiel dafür, wie Trechsel die Geschichte des frühen Berner Pietismus in einer mehr erbaulichen Weise behandelt und benützt hat. 4 Trechsel 1852, 119. 5 Johann Rudolf Rudolf, Professor und Dekan. Ein Theologenbild der alten Schule: Berner Taschenbuch 1882, 1-99. 6 Trechsel 1882, 35-36 und 39. - Albrecht Ritsehl, Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Der Pietismus in der reformierten Kirche, Bonn 1880, 494. 7 Samuel Güldin, Kurtze A P O L O G I E oder Schutz-Schrifft Der unschuldig verdächtiggemachten und verworffenen Pietisten zu Bern in der Schweitz, Philadelphia 1718, 3.

12

erörtern sein. Diese beiden kritischen Bemerkungen sollen Trechsels Pionierleistung in keiner Weise schmälern. D a ihm aber die weitere Forschung sowohl in der einen als auch in der andern Hinsicht gefolgt ist, mußte bereits hier daraufhingewiesen werden. Zeitlich genau in der Mitte zwischen Trechsels Beiträgen, 1867 nämlich, veröffentlichte Auguste Bernard, Pfarrer an der französischen Kirche in Bern und Mitglied des Komitees der Evangelischen Gesellschaft, seinen Vortrag „Le Piétisme à Berne à la fin du dix-septième siècle". Er stützte sich weitgehend auf Trechsels Studie von 1852, zog aber auch die handschriftlichen Quellen heran und gelangte so in Einzelheiten zu präziseren Ergebnissen. Bernards eigentlicher Beitrag zur Kenntnis des frühen Berner Pietismus besteht aber vor allem in der Mitteilung von Originaltexten aus den Verhörprotokollen der Religionskommission - sie verleihen seinen Ausfuhrungen das Profil und die Anschaulichkeit - sowie darin, daß er sich von seinem menschlichen Mitgefühl für die Verurteilten und Vertriebenen dazu bewegen ließ, diesen wenigstens ein Stück weit ins Exil zu folgen. Seine Darstellung zeugt überhaupt von unverhohlener Sympathie für die Anliegen wie für die Hauptfiguren des Pietismus, eine Sympathie, die auch vor dem Hintergrund der schweren innerkirchlichen Kämpfe der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts - 1866 war in Bern ein heftiger Streit um den bibelkritischen „Leitfaden für den Religionsunterricht" von Eduard Langhans entbrannt 8 - zu sehen ist. So ist Bernards Aufsatz historische Studie und Kampfschrift in einem, was auch seine Kehrseite hat: Die Darstellung ist über weite Strecken unkritisch-erbaulich. Sie hebt Orthodoxie und Pietismus in unsachgemäßer Schwarz-weiß-Manier voneinander ab und repetiert Trechsels These von der Selbständigkeit des frühen Berner Pietismus. U m die Jahrhundertwende erschienen gleich zwei Darstellungen zum Thema: 1899 ging Emil Bioesch in seiner „Geschichte der schweizerischreformierten Kirchen" auch auf die Anfänge des Pietismus in Bern ein 9 , und 1901 veröffentlichte Wilhelm Hadorn seine groß angelegte, auch das 19. Jahrhundert umfassende „Geschichte des Pietismus in den Schweizerischen Reformierten Kirchen" 1 0 . Bioesch weiß zwar für die Zeit u m den 8 Der vollständige Titel von Langhans' Buch von 1865 lautet: „ D i e Heilige Schrift. Ein Leitfaden für den Religionsunterricht an höhern Lehranstalten, wie auch zum Privatgebrauch fur denkende Christen." Vgl. dazu U r s Meyer, Der Streit u m den „Leitfaden" von Eduard Langhans (1866-1868): Humanität und Glaube. Gedenkschrift fur Kurt Guggisberg, Bern 1973, 171-191. 9 Band 2, 34—47. - Bioesch war Vikar und Schüler des bernischen Religionsphilosophen Johann Peter R o m a n g (1802-1875). Für die Richtung seines theologischen Denkens ist es bezeichnend, daß er aus Protest gegen das an der Volkskirche festhaltende Kirchengesetz von 1874 v o m Pfarramt zurücktrat. Er war überzeugt, daß das Institut der staatlich anerkannten und unterstützten Volkskirche von der geschichtlichen Erfahrung und Wirkung des Pietismus und des Rationalismus her überholt sei. Nach seinem Rücktritt wurde Bioesch Oberbibliothekar und Professor fur neuere Kirchengeschichte in Bern. 1 0 Unterdessen hatten personengeschichtliche Interessen die Forschung in Einzelheiten gefordert, ohne doch Änderungen am Gesamtbild zu ergeben. A u f die Artikel von Emil Bioesch

13

Prozeß vom Sommer 1699 mancherlei Wertvolles zu berichten, seine Darstellung ist jedoch gerade für die hier interessierende Phase der Entstehung und Ausbreitung des Pietismus in Bern lückenhaft, flüchtig, ja zum Teil irreführend 11 . Was diese Phase betrifft, so bleibt er hinter dem von Trechsel und Bernard erreichten Stand der Forschung zurück. Nicht so Hadorn in seinem bewußt populär gehaltenen, zum Standardwerk gewordenen Buch, bei dessen Beurteilung wir uns auf die den bernischen Pietismus behandelnden Teile beschränken 12 . Hadorn gibt das, was seine Vorgänger erarbeitet haben, getreu und in extenso wieder, fuhrt aber auch nur an wenigen Stellen darüber hinaus. Das ist in erster Linie darauf zurückzufuhren, daß er kaum neue Quellen erschlossen hat. Hadorn hat sich darauf beschränkt, die bereits bekannten Materialien, das heißt den Untersuchungsbericht der Religionskommission, Samuel Güldins „Apologie" und die Verhörprotokolle, auszuwerten. Zweifellos hat er damit das Bild des Geschehens um zahlreiche Aspekte bereichert. So hat er, unterstützt durch die Vorarbeit von Julius Studer 13 , die gegenseitigen Beziehungen der Berner und Zürcher Pietisten erhellt. Aufs Ganze gesehen besteht sein Beitrag aber doch hauptsächlich in der Zusammenfassung des bereits Bekannten. Neue Resultate, neue Impulse verdankt die Forschung Hadorn nicht. Dazu ist allerdings festzuhalten, daß es ihm auch nicht in erster Linie um eine wissenschaftliche, sondern um eine erbauliche Darstellung für die Gemeinde zu tun war. Aber er hat - um hier das oben erwähnte Beispiel wieder aufzunehmen - Königs Eintritt in die Stelle eines Spitalpredigers vollends falsch, nämlich auf 1693, fixiert - ein Datierungsfehler mit gewichtigen Folgen. Er hat ferner die These von der historischen Originalität des Berner Pietismus wiederholt und damit gefestigt. Wohl setzt er z. B. die pietistischen Streitigkeiten in Leipzig zu den Berner Ereignissen in Parallele, aber dabei, beim parallelen Nebeneinander, bleibt zu Samuel König (1882) und Beat Ludwig von Muralt (1886) in ADB, auf die Beiträge R. von Diesbachs zu Nikiaus und Maria von Rodt (Diesbach schreibt nur „Rodt") in SBB (1898) sowie auf die Arbeiten der amerikanischen Forscher Joseph Henry Dubbs (1892 und 1893) und James I. Good zu Samuel Güldin wird deshalb erst weiter unten einzugehen sein. Immerhin verdient erwähnt zu werden, daß für Dubbs Einwirkungen des deutschen Pietismus auf Güldin und damit auf Bern außer Frage stehen: „It is not, however, to be supposed that Guldin remained uninfluenced by the Pietism of Germany" (Samuel Guldin, Pietist and Pioneer: Reformed Quarterly Review 1892, 311). 11 Z. B. setzt Bioesch den für die Pietistenverfolgung in Bern wichtigen Aufenthalt der beiden Leipziger Studenten Kirch und Dorssdorff (so Bioeschs Schreibweise, Trechsel und Bernard schreiben „Darsdorf' und Hadorn „Rasdorf'!) auf 1699 statt auf 1696 an (37). 12 Über Wilhelm Hadorn (1869-1929), Pfarrer am Berner Münster, PD, später Professor für neutestamentliche Exegese und Kirchengeschichte in Bern, vgl. die anläßlich seiner Trauerfeier gehaltenen Reden (o. O. u.J.). Zur Aufnahme, die sein Pietismusbuch gefunden hat, vgl. die diesbezüglichen vom Verlag 1901 herausgegebenen „Urteile". Hadorn war ein engagierter Ökumeniker und 1920-1921 auch der erste Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes. 13 Der Pietismus in der zürcherischen Kirche am Anfang des vorigen Jahrhunderts: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Züricher Theologen 1 (1877) 109-209.

14

es auch 1 4 . Wiederum: Diese kritischen Bemerkungen sollen und können H a d o r n s Verdienste u m die Geschichte des bernischen und schweizerischen Pietismus nicht in Frage stellen. Aber es ist u m so wichtiger, sich die Grenzen seines Buches b e w u ß t zu machen, als die seither erschienene Literatur sich für den bernischen Pietismus durchwegs darauf beruft. Das gilt nicht nur für die m o n u m e n t a l e n u n d j e in ihrer Weise meisterhaften Werke von Paul Wernle 1 5 u n d Henri Vuilleumier 1 6 von 1923 resp. 1930, sondern ebensosehr für die Darstellungen Richard Fellers 17 u n d Kurt Guggisbergs 1 8 aus den fünfziger Jahren, bis hin zu Rudolf Pfisters H a n d b u c h zur „Kirchengeschichte der Schweiz" von 1974 19 . Sie alle fußen auf Hadorns Pietismusbuch. Keiner dieser Autoren vermag die Genese der pietistischen R e f o r m b e w e g u n g in Bern darzustellen und die Frage nach den dabei wirksamen äußern und innern Einflüssen zu beantworten, obschon doch ohne eine derartige Erklärung die offiziellen Gegenmaßnahmen bis hin zur U n t e r d r ü c k u n g des Pietismus vorwiegend als Willkürakte erscheinen müssen. Was sie bieten, ist wohl ein Bild, aber nicht das Bild einer Bewegung, einer Entwicklung, sondern dasjenige einer irgendwie gewordenen, mehr oder weniger fertig dastehenden, in sich k a u m differenzierten Größe namens „Pietismus". Einem derart dynamischen und komplexen Phänomen, wie der bernische Pietismus es in seiner Frühphase darstellt, wird man aber so nicht gerecht. Zusammenfassend ist zu sagen, daß die bisherige Forschung zur Geschichte des bernischen Pietismus, repräsentiert in erster Linie durch Friedrich T r e c h sel u n d in zweiter durch Wilhelm Hadorn, ein auf den in Bern zugänglichen Quellen basierendes und von pietätvoller Sympathie geprägtes Bild primär populär-erbaulichen Charakters entworfen hat. N a c h diesem knappen Überblick über den Stand und die Geschichte der Forschung gilt es nun die eigene Aufgabe anzuvisieren. Hier soll versucht werden, die Geschichte der Anfänge des Pietismus in Bern neu zu beleuchten. Das wird nur aufgrund neuer Quellen und mit neuen Fragestellungen m ö g lich sein. Die neuen Quellen sind ¿/¿««jeweils vorzustellen, w e n n sie selber zu Wort k o m m e n . Hier geht es vorerst darum, den Bezugsrahmen, innerhalb dessen in der heutigen Pietismusforschung nach den „Anfängen" gefragt wird, zu umreißen. 14 Ohne seine früheren Anschauungen grundsätzlich preiszugeben, scheint Hadorn in seiner „Kirchengeschichte der reformierten Schweiz", Zürich 1907, den Akzent etwas zu verschieben, wenn er S. 212 bemerkt: „Sie (sc. die vier Theologiestudenten) empfingen im Ausland durch den Verkehr mit gleichgesinnten Freunden mannigfache Anregungen . . . " 15 Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert, Bd. 1, Tübingen 1923, 122-126. Außer auf Hadorn stützt sich Wernle v. a. auf Trechsel 1852. 16 Histoire de l'Eglise Réformée du Pays de Vaud sous le régime bernois, Bd. 3, Lausanne 1930, 234—253. Vuilleumier schließt sich fur die Anfänge eng an Bioesch an, gibt dann aber fur die Zeit des Prozesses einen souveränen, auf Hadorn und auf eigenen Beobachtungen beruhenden Bericht. Er fuhrt aber nur in Einzelheiten über Hadorn hinaus. 17 Geschichte Berns, Bd. 3, Bern 2 1974, 168-173. 18 Bernische Kirchengeschichte, Bern 1958, 378-397. 19 Bd. 2, 607-617.

15

3. Die Problematik der „Anfinge

des Pietismus" in der heutigen

Forschung

Mit Band 4 des Jahrbuchs „Pietismus und Neuzeit" von 1977/78 ist eine Diskussion über die „Anfänge des Pietismus" in Gang gekommen, die Probleme von so grundsätzlicher Natur berührt, daß hier kurz darauf eingegangen werden soll. Dabei geht es uns nicht etwa darum, in die inhaltliche Auseinandersetzung einzugreifen, sondern wir versuchen lediglich, möglichst das ganze Spektrum heutiger Fragestellungen in den Blick zu bekommen 20 . Wir erkunden ein Problemfeld, auf dem wir dann unser eigenes Vorhaben situieren möchten. Wann, wo, bei wem kann man zum erstenmal von „Pietismus" sprechen? Wer so fragt, muß sich, wie Johannes Wallmann in seinem grundlegenden Aufsatz zum Thema zeigt, auf viele und zum Teil sehr verschiedene Antworten gefaßt machen 21 . In der Forschung der letzten hundert Jahre sind jene „Anfänge" bald für den englischen Puritanismus, bald für die reformierte Kirche der Niederlande, bald auch für das deutsche Luthertum reklamiert worden, wobei innerhalb der beiden zuletzt genannten Ursprungsgebiete erst noch verschiedene, oft weit auseinanderliegende Quellorte namhaft gemacht wurden. Wer sich - um hier nur dies eine auszufuhren - auf dem Feld des deutschen Luthertums nach den „Anfängen des Pietismus" umsieht, hat die Qual der Wahl zwischen den Leipziger Unruhen um August Hermann Francke von 1689 (so Hans Leube), der Begründung der Collegia Pietatis respektive der Veröffentlichung der „Pia Desideria" durch Philipp Jakob Spener in den Jahren 1670 beziehungsweise 1675 (Martin Schmidt, Kurt Aland und andere) und der ins Jahr 1610 fallenden Vollendung der „Vier Bücher vom Wahren Christentum" von Johann Arndt (ErnestF. Stoeffler). Der geographische Raum, der für die Beantwortung unserer Frage in Betracht kommt, umfaßt somit das Gebiet Englands, der Niederlande und Deutschlands, und der entsprechende Zeitraum beträgt, berücksichtigt man die frühesten, für den niederländischen Pietismus gemachten Nominationen, gut hundert Jahre. Auch wenn man sich auf den Bereich des Luthertums beschränkt, ergibt sich immer noch eine Spanne von 80 Jahren. Wie kam es zu so zahlreichen und so verschiedenen Antworten auf unsere Frage? Wallmann hat meines Erachtens überzeugend nachgewiesen, wie jede dieser Antworten davon abhängt, was der jeweilige Forscher unter „Pietis20 Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Im Auftrag der historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. v. Martin Brecht, Friedrich de Boor, Klaus Deppermann, Hartmut Lehmann, Andreas Lindt und Johannes Wallmann, 4 (1977/78): Die Anfänge des Pietismus, Göttingen 1979 (abgekürzt: JGP). 21 Johannes Wallmann, Die Anfänge des Pietismus: JGP 4, 11-53. Vgl. dazu vom selben Verfasser: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 1970 und: Reformation, Orthodoxie, Pietismus: Jahrbuch für niedersächsische Kirchengeschichte 70 (1972) 179— 200.

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m u s " versteht. Ausgehend von dieser Beobachtung hat er, damit die Forschung nicht mit inkommensurabeln Begriffen arbeite, eine Grundsatzdebatte über die Definition von „Pietismus" angeregt, und dies, o b w o h l er weiß, daß es „den" Pietismus als solchen historisch-empirisch gesehen nie gegeben hat. Wallmann unterbreitet zwei Vorschläge: Er plädiert erstens dafür, den Pietismusbegriff in territorialer Hinsicht möglichst offenzuhalten. Konkret heißt das, daß die Frage, ob auch i m Bereich des englischen Puritanismus von Pietismus die Rede sein solle, nicht zu schnell negativ entschieden werden darf. D e m Pietismus verwandte zeitgenössische Phänomene wie den Jansenismus, den Quietismus oder gar den -Chassidismus sollte die Forschung auf keinen Fall außer Acht lassen. Für den Pietismus im Bereich des Luthertums schlägt Wallmann - zweitens - eine Unterscheidung zwischen einem weiteren und einem engeren Pietismusbegriff vor: M a n kann nämlich unter „Pietismus" eine neue Frömmigkeitsnc/iiwMg innerhalb der lutherischen O r t h o d o x i e verstehen und wird dann mit g u t e m G r u n d in J o h a n n Arndt deren Begründer sehen. Versteht man hingegen unter „Pietism u s " eine auch sozial faßbare Bewegung mit einem Gedankengut, das den R a h m e n der O r t h o d o x i e im G r u n d e sprengt, dann wird man davon erst seit dem Erscheinen von Speners „Pia Desideria" sprechen können, denn die Collegia Pietatis wie Speners „ H o f f n u n g besserer Zeiten" markieren einen Neubeginn. Ein wesentliches Element von Wallmanns Argumentation ist seine These, Spener sei sowohl hinsichtlich der besonderen Versammlungen der F r o m men als auch hinsichtlich seiner Eschatologie mit großer Wahrscheinlichkeit v o m Frankfurter Juristen Johann Jakob Schütz mit angeregt, von dem aus die Beziehungen über Anna Maria van Schurman bis z u m Labadismus zurückreichen 2 2 . Diese Beobachtung erlaubt es, das M o m e n t der Diskontinuität i m spenerschen Ansatz zu erklären. N u n hat aber Kurt Aland die Richtigkeit gerade dieser These vehement bestritten und zu zeigen versucht, wie Spener in beiden von Wallmann hervorgehobenen Punkten vielmehr mit der Straßburger O r t h o d o x i e und über sie mit Luther, sowie mit seiner Frankfurter U m g e b u n g zusammenzusehen sei 23 . Betont Aland so das M o ment der Kontinuität zwischen Spener und der Orthodoxie, so ist es nur folgerichtig, w e n n er die Anfänge des Pietismus nicht im Inhalt der „Pia Desideria", sondern in d e m durch sie ausgelösten Echo sieht, wozu nur noch zu bemerken ist, daß nun Wallmann seinerseits gerade diesen springenden Punkt von Alands Argumentation unter die Lupe g e n o m m e n und e m p f i n d lich relativiert hat 2 4 . Diese Kontroverse - Wallmann hat inzwischen eingehend g e a n t w o r t e t 2 5 hat uns hier nicht u m ihrer selbst willen zu beschäftigen, sondern sollte uns 22 23 24 25

Wallmann 1970, 334 f. Kurt Aland, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus: JGP 4, 155-189. Wallmann 1979, 32-36. Spener-Studien. Antwort auf Kurt Aland: ZThK 77 (1980) 69-105.

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bewußt machen, daß in der Problematik der „Anfänge des Pietismus" idealtypisches Definieren und historisch-empirisches Beschreiben sich gegenseitig bedingen und immer wieder aufeinander zu beziehen sind. Sie sollte zudem verdeutlichen, welch große Bedeutung in der Diskussion über die „Anfänge" der jeweiligen Vorgeschichte zukommt. Hinsichtlich des spenerschen Pietismus kann das anhand des Beitrages von Martin Brecht im genannten Band noch etwas verdeutlicht werden 26 . Brecht hat ein Exemplar der 1674 von Spener veranstalteten, von Johann Georg Dorsche, Heinrich Varenius und Spener selber kommentierten Ausgabe von Arndts „Wahrem Christentum" entdeckt und hinsichtlich des Verhältnisses von Text und Anmerkungen analysiert. Er kommt zum Schluß, Spener stehe in der arndtschen Frömmigkeitstradition drin, in derer mystisch-spiritualistisches Überlieferungsgut vorfand, und zwar in bereits verkirchlichter Form. Er hat überdies nachgewiesen, daß Spener selber diesen Prozeß der Verkirchlichung durch Berufung auf Luther bewußt fördern half. Zwar könne von einer pietistischen Bewegung im Sinn einer festen Gruppierung erst von jenem Zeitpunkt an die Rede sein, als die Collegia Pietatis und die spenersche Eschatologie ins Spiel kamen, jedoch überwiege diesem Neuen gegenüber eindeutig die Identität des spenerschen Pietismus mit der arndtschen Frömmigkeitstradition. Brecht schlägt deshalb vor, diese als „Frühpietismus" zu begreifen. Nicht dieser Vorschlag ist hier wichtig, sondern die Tatsache, daß Brecht im Gegensatz zu Martin Schmidt Speners Pietismus nicht im Gefolge des mystischen Spiritualismus eines Christian Hoburg, sondern geradezu als Alternative dazu sieht, während er den Faden jenes Spiritualismus im radikalen Pietismus wiederzuerkennen glaubt. Wichtig ist ferner, daß sich auch Brecht bei seiner Differenzierung im Pietismusbegriff auf die von Wallmann herausgearbeiteten und nun schon oft genannten Propria des spenerschen Pietismus (Collegia Pietatis und „Hoffnung besserer Zeiten") stützt. Eben dies tut auch Hartmut Lehmann, wenn er unter den für den Begriff des Pietismus konstitutiven Merkmalen neben der Eigentradition und der Bruderschaft der Wiedergeborenen auch die Konventikel und die spezifische Eschatologie nennt 27 . Vergegenwärtigt man sich also, welch einen festen Platz in der Forschung Wallmanns oben erwähnte These sich bereits errungen hat, dann wird man auch die Brisanz von deren Bestreitung durch Aland ermessen können. 26

Martin Brecht, Philipp j a k o b Spener und das Wahre Christentum: JGP 4, 119-154. Hartmut Lehmann, „Absonderung" und „Gemeinschaft" im frühen Pietismus. Allgemeinhistorische und sozialpsychologische Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung des Pietismus: J G P 4, 54-82. Vgl. dazu vom selben Verfasser: Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 1969, 14-19 (wieder abgedruckt: Zur neueren Pietismusforschung, hg. v. Martin Greschat, Darmstadt 1977, 82-90 = Wege der Forschung CDXL). - Die folgenden Postulate hat Lehmann mittlerweile in vorbildlicher Weise erfüllt: Hartmut Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot, Stuttgart 1980. 27

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D e n n o c h tut m a n gut daran, die Lage trotz der Schärfe der Kontroverse nicht zu dramatisieren. Denn erstens bestreitet Aland, soviel ich sehe, nicht die Existenz, sondern nur die letztliche H e r k u n f t jener Propria aus d e m Labadismus, und zweitens weist er darauf hin, daß für die Anfänge des spenerschen Pietismus nicht nur dessen Vorgeschichte, sondern ebenso sehr die Zeit- und Wirkungsgeschichte mitzuberücksichtigen seien. Eben dazu gibt Lehmanns Beitrag Anregungen, die weiterzufuhren versprechen. Lehmann macht darauf aufmerksam, daß die Fragen nach der theologieund frömmigkeitsgeschichtlichen H e r k u n f t und nach der theologischen Identität des Pietismus, so wichtig sie auch sind, nicht genügen, u m dessen Anfänge zu beschreiben und zu erklären. Die Bedingungen, unter denen er entstand, sind in die Fragestellung mit einzubeziehen, und zwar in ihrer ganzen Vielfalt. Hypothesenartig und exemplarisch zeigt Lehmann auch, wie er das meint. Er geht von der Beobachtung aus, daß in der Zeit nach d e m Dreißigjährigen Krieg die absolutistischen Herrschaftssysteme, die fortgesetzten großen Kriege und der sinkende Lebensstandard - u m hier nur diese Faktoren zu nennen - in weiten Kreisen der Bevölkerung ein Klima allgemeiner Angst u n d Verunsicherung erzeugten. U n t e r solchen U m s t ä n d e n mag die i m Konventikel gepflegte Gemeinschaft allen, die daran teilhatten, neue Geborgenheit und die darin aufrechterhaltene „ H o f f n u n g besserer Zeiten" neuen Sinn vermittelt haben. Entsprechend dürften die Prozesse der Absonderung der Wiedergeborenen von der „Welt" und der Bildung einer Eigentradition nicht nur unter theologischem Aspekt gesehen werden, sondern wären auch auf ihre kultursoziologischen, sozialpsychologischen und kirchensoziologischen K o m p o n e n t e n und Mechanismen hin zu untersuchen. Das w i e d e r u m w ü r d e bedeuten, daß wir über die soziale Z u s a m m e n setzung u n d die thematische Ausrichtung pietistischer Konventikel besser Bescheid wissen müßten, als wir das gemeinhin tun, daß wir ferner den Pietismus i m rapide einsetzenden Prozeß der Modernisierung zu orten und sein Verhältnis zu den zahlreichen vergleichbaren religiös-sozialen R e f o r m bewegungen der Zeit zu erhellen vermöchten. Die bisher genannten Beiträge von Johannes Wallmann, Kurt Aland, Martin Brecht und H a r t m u t Lehmann beziehen sich konkret allesamt auf den Pietismus i m deutschen Luthertum. V o m Pietismus im reformierten R a u m - u n d bei unserer Untersuchung handelt es sich ja u m einen Beitrag dazu - ist darin aufs Ganze gesehen nur am Rand, genauer an drei Stellen, die Rede: Johannes Wallmann k o m m t im Z u s a m m e n h a n g der Frage, ob der Pietismusbegriff ins Gebiet des englischen Puritanismus auszudehnen sei, auf die niederländische Kirchengeschichtsschreibung zu sprechen. Er weist ihr bei der B e a n t w o r t u n g dieser Frage insofern eine Schlüsselstellung zu, als sie von den historischen Gegebenheiten her am ehesten Grund haben k ö n n te, die N ä h e von Puritanismus und Pietismus zu betonen 2 8 . Martin Brecht 28

W a l l m a n n 1979, 28 f.

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verbindet mit seinem Vorschlag, die Frömmigkeitsbewegung des 17. Jahrhunderts als „Frühpietismus" zu bezeichnen, die Hoffnung, eine derartige Differenzierung würde es erlauben, „die Parallelität der Entwicklung des reformierten und lutherischen Pietismus, vielleicht sogar des Puritanismus, besser zu erkennen" 29 . Schließlich macht Hartmut Lehmann darauf aufmerksam, daß gerade die Diskussion um den Pietismusbegriff es der Forschung zur Aufgabe mache, „das derzeit noch keineswegs ausreichend erforschte Verhältnis des reformierten niederländischen, des reformierten deutschen und des lutherischen deutschen Pietismus genauer zu bestimmen" 3 0 . Einen Beitrag zu den Anfängen des reformierten Pietismus enthält der vorliegende Band immerhin: Heiner Faulenbach untersucht darin „Die Anfänge des Pietismus bei den Reformierten in Deutschland" 31 . Er tut das ausdrücklich nicht auf der Ebene der Begriffsproblematik, sondern konzentriert sich darauf, die erste theologisch ausgebildete Trägerschicht des Pietismus zu eruieren. Die Anfangszeit des Pietismus bei den Reformierten Deutschlands beginnt nach ihm mit Theodor Undereycks Amtsantritt in Mühlheim a. d. Ruhr 1660 und endet mit der Duisburger Generalsynode von 1674, auf der sich die reformierte Kirche dem Pietismus geöffnet hat, respektive mit dem Vergleich zwischen Bremens geistlichem Ministerium und Undereyck von 1681. Der Pietismus stellt weder eine Reaktion auf den Dreißigjährigen Krieg dar, noch ist er auf mystisch-spiritualistisches Gedankengut zurückzufuhren. Er ist nach Faulenbach vielmehr das Resultat einer „inneren Umwandlung der Orthodoxie durch die auf konkrete Frömmigkeit abzielende voetianische wie coccejanische Theologie". Faulenbach spricht in diesem Zusammenhang von einem „fließenden Übergang", der von der „ständigen Sorge um die Besserung der kirchlichen Verhältnisse unter betonter Wahrung der orthodoxen Lehre" geprägt sei32. Voetianische und coccejanische Erbauungsstunden waren es, die das Vorbild für die pietistischen Konventikel abgaben und es den Reformierten ermöglichten, den separatistischen Labadismus abzustoßen, ohne doch dessen Grundanliegen intensiver Erbauung und Gemeinschaft der Frommen preiszugeben. Der Begründer pietistischer Konventikel im reformierten Raum, Theodor U n dereyck, war am Nachweis seiner Orthodoxie und des Zusammenhangs seiner Bestrebungen mit früheren und gleichzeitigen Tendenzen in den Niederlanden und im englischen Puritanismus beharrlich interessiert. Der reformierte Pietismus in Deutschland ist denn auch von den verwandten Entwicklungen in den Niederlanden nicht zu trennen: Voetianismus und 29

Brecht 1979, 154. Lehmann 1979, 75f. (Anmerkung 32,2.). 31 Heiner Faulenbach, Die Anfänge des Pietismus bei den Reformierten in Deutschland: JGP 4, 190-234. 32 Ebd. 233. 30

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Coccejanismus bereiteten ihm nicht nur den Weg, sondern stellten auch seine erste Trägerschicht. Demgegenüber war der Puritanismus von sekundärer Bedeutung, während der Einfluß der Mystik mangels entsprechender Untersuchungen noch k a u m zu ermitteln ist. Gewiß ist jedoch, daß sich die Entwicklung unabhängig von Einflüssen aus d e m lutherischen R a u m vollzog und daß die Redeweise von einer „ecclesia deformata", die einen Bruch zwischen O r t h o d o x i e und Pietismus suggerieren will, dem historischen Sachverhalt nicht entspricht u n d bereits Ausdruck pietistischer Parteilichkeit ist. Soviel sei aus der in der deutschen Forschung in Gang befindlichen Debatte über die Anfänge des Pietismus mitgeteilt. Wir wollten so ein Problemfeld erkunden, auf d e m nun unser eigenes Forschungsvorhaben zu situieren ist. Das soll - in aller Vorläufigkeit - n u n geschehen.

4. Folgerungen und Fragen 1. Die Diskussion u m den Pietismusbegriff ist noch in Gang und wird es w o h l auch i m m e r bleiben (müssen). Eine Folgerung aber, so scheint mir, zeichnet sich jetzt bereits ab: Die von Wallmann vorgeschlagene Differenzieung in einen Pietismus als Frömmigkeitsnc/iiu«^ innerhalb des Staatskirchentums der O r t h o d o x i e und einen Pietismus als einer Bewegung, die wenigstens potentiell den hergebrachten theologischen und kirchlichen R a h m e n sprengte, hat viel für sich. Wie man die beiden Strömungen dann benennt, ist eine sekundäre Frage 33 . 2. N u n ist diese Unterscheidung bezeichnenderweise für den lutherischen Pietismus gefordert worden. O b sie aber auch im reformierten Bereich sinnvoll ist? Für die Niederlande ist das ohne Zweifel der Fall. Wie aber steht es in dieser Beziehung mit dem bernischen Pietismus? Kann man auch hier von einer der pietistischen B e w e g u n g voraufgehenden pietistischen F r ö m migkeitsrichtung reden? Wenn ja: welchen Ursprungs ist sie? Entspringt sie eigener territorialer Tradition oder ist sie von außen angeregt, oder trifft am Ende beides zu? Inwiefern stehen O r t h o d o x i e und Pietismus in Bern in einem Verhältnis der Kontinuität, inwiefern in einem solchen der Diskontinuität zueinander? Nach der bisherigen Forschung überwiegt eindeutig das letztere. Die Frage ist aber neu zu stellen. Die Vorgeschichte des bernischen Pietismus ist also, soweit das beim gegenwärtigen Stand der Dinge überhaupt möglich ist, zu erhellen. Wenn hier der Begriff „Vorgeschichte" 33 D e r v o n M a r t i n Brecht vorgeschlagene Begriff „Frühpietismus" scheint mir insofern nicht glücklich zu sein, als der bloße Begriff „Pietismus" f ü r die darauffolgende Phase w o h l k a u m in Frage k o m m t , „ H o c h p i e t i s m u s " u n g e w ö h n l i c h u n d sachlich problematisch w ä r e u n d z u d e m der Begriff „ N e u p i e t i s m u s " die Sache noch weiter kompliziert. D a auch der Begriff der „ R e f o r m o r t h o d o x i e " zu Recht auf Kritik gestoßen ist, d ü r f t e es w o h l das beste sein, mit W a l l m a n n vorläufig zwischen einem weiteren u n d einem engeren Begriff v o n Pietismus zu unterscheiden. Dabei d ü r f t e es der Klarheit dienen, m i t W a l l m a n n u n t e r j e n e m eine F r ö m m i g keitsrichtung, unter diesem hingegen eine Bewegung zu verstehen.

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verwendet wird, so ist damit stillschweigend auch gesagt, daß mit „Pietism u s " vorderhand jene B e w e g u n g gemeint ist, die nach der bisherigen Forschung 1689 begann. Methodisch ist von dieser i m bernischen R a u m bisher einzig faßbaren Bewegung auszugehen und von dort aus zurückzufragen nach allfälligen Vorläufern und Vorbereitungen. Dabei k o m m t d e m Selbstverständnis der „ersten Pietisten" von 1689 erstrangige Bedeutung zu. 3. N e b e n der Vorgeschichte ist aber auch das zeitgenössische U m f e l d des werdenden Pietismus zu untersuchen. Das gilt im Blick auf mögliche A n r e gungen wie im Blick auf die Entstehungs- und Wachstumsbedingungen. Hier ist nach Beziehungen zu andern, von H a r t m u t Lehmann so genannten „religiös-sozialen Erneuerungsbewegungen" der Zeit zu fragen, wobei zu berücksichtigen ist, daß die bernische B e w e g u n g i m j a h r 1689 verhältnismäßig spät einsetzte. Daneben sind die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zustände der Zeit auf ihre Bedeutung für, respektive auf ihren Anteil am entstehenden Pietismus zu befragen. 4. Wie keinen überragenden Reformator, so besaß Bern auch - sieht man von Samuel Lutz, der für die Anfänge außer Betracht fällt, ab - keinen überragenden Pietisten. Das hängt gewiß auch damit zusammen, daß die B e w e g u n g schon nach zehnJahren ihrer besten Köpfe beraubt wurde, dürfte aber in ihrer sozialen Gestalt noch tiefer begründet sein. Dieser ist g r ö ß t mögliche Beachtung zu schenken, wobei aber damit zu rechnen ist, daß die Quellen in dieser Hinsicht aus verständlichen Gründen nur beschränkt Ausk u n f t geben werden. Immerhin: Was geschah in den von den Pietisten mit Vorliebe besuchten Gottesdiensten? In welchem Verhältnis stand die Beweg u n g zur Kirche und wie entwickelte sich dieses Verhältnis? Welchen sozialen Schichten, welchen Ständen lassen sich die Teilnehmer an den Konventikeln zuweisen? Welche Stellung hatten die Pfarrer, die Laien, im besonderen auch die Frauen in der Bewegung? Wie verhielten sich die Pietisten grundsätzlich gegenüber Staat und Gesellschaft? 5. Z u r Identität auch des bernischen Pietismus gehörte an zentraler Stelle sein theologisches Selbstverständnis. Worin bestand es? O d e r läßt sich das so einfach gar nicht sagen, handelt es sich dabei vielmehr u m ein disparates, aus verschiedenen Traditionen herzuleitendes Phänomen, dessen Mitte nur schwer zu bestimmen ist? Wie artikuliert sich die B e w e g u n g in der theologischen Auseinandersetzung mit der staatskirchlichen Orthodoxie? Inwiefern haben Theologie und soziale Absonderung, soziale Diskriminierung und Theologie einander gegenseitig beeinflußt? Welche Auswirkungen hatte das starke Laienelement in der B e w e g u n g auf ihr theologisches Selbstverständnis? Inwiefern hat der Glaube der Pietisten innovatorische Kraft entfaltet und inwiefern legitimierte ihre Theologie Positionen, für die andere als theologische Faktoren konstitutiv waren? Welch eine Vielfalt von Faktoren und Bezügen hat doch, wer sich an die Thematik der „Anfänge des Pietismus" heranwagt, zu berücksichtigen! Vielleicht dient es der weiteren Klärung, w e n n wir nun diese Faktoren v o m 22

Niveau allgemeiner und abstrakter Fragen und Postulate herunterholen und, auf unsern Gegenstand bezogen, wenigstens andeutungsweise konkretisieren. Es soll das ganz unprätentiös, etwa in der Art einer Auslegeordnung, geschehen: Man besieht sich, bevor man ordnet und wertet, alles, was vor einem liegt, indem man Stück um Stück in die Hand nimmt, betrachtet es jedoch nur so lange, bis man eine Ahnung davon hat und legt es dann hin, um allenfalls später wieder, und dann eingehender, darauf zurückkommen zu können.

5. Zeitgeschichtlicher

Kontext

und historische

Voraussetzungen34

Auf dem Land repräsentierten am Ende des 17. Jahrhunderts zwei Amtspersonen den bernischen Staat: Der Landvogt und der Pfarrer. Ihre Funktionen waren verschieden und gehörten doch beide in den Rahmen des absolutistischen Herrschaftssystems. Es war lange her, seit Zwingli die Berner, welche damals politische und soziale Weiterungen der Reformation befürchteten, mit der Unterscheidung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit zu beruhigen versucht hatte: Man wußte wohl noch um diese Unterscheidung, aber eben dieses Wissen war scholastisch geworden und der Praxis entfremdet. Die Kirche war Staatskirche, tragende Säule des Systems, wichtigstes Instrument des Staates zur Volkserziehung und Sozialdisziplinierung. Kirchliche Autonomie gab es nurmehr auf dem Papier. Taufe und Abendmahl hatten religiösen und bürgerlich-rechtlichen Stellenwert, wobei das eine vom andern kaum mehr zu trennen war. Regiert wurde in der Stadt. Die Landschaft, in der Reformationszeit des öftern zu Rate gezogen, war seit 1610 nie mehr befragt worden. Die Stadt war auf eine derartige Versicherung nicht mehr angewiesen. Mit den aufständischen Bauern war man 1653 auch so fertig geworden. Aber es war nicht einfach „die Stadt", welche den Staat lenkte: Der Kreis derjenigen, die für die gut dotierten und entsprechend attraktiven Ämter überhaupt in Frage kamen, war klein und wurde immer kleiner. Die Bevölkerung der Stadt setzte sich aus tolerierten Hintersassen, aus gesellschafts-, das heißt zunftfähigen „Ewigen Einwohnern und Habitanten" und aus regimentsfähigen Burgern zusammen. Nicht diesen letzteren aber kam die Macht zu, sondern nur den effektiv regierenden Patriziern, die sich von den bloß regimentsfähigen Kleinbürgern detachierten. Nur sie, die Patrizier, stellten den „die Burger" genannten Großen Rat, der für alle Souveränitätsakte und die Außenpolitik zuständig und zugleich oberste richterliche Instanz war. N u r sie gehörten dem Kleinen Rat an, der unter der Leitung des Amtsschultheißen die täglichen Geschäfte führte. Einen Beamtenapparat, der die Oligar34

Wernle 1923, 1-111. Christoph von Steiger, Innere Probleme des bernischen Patriziates an der Wende zum 18. Jahrhundert, Bern 1954. Hans von Greyerz, Nation und Geschichte im bernischen Denken. Vom Beitrag Berns zum schweizerischen Geschichts- und Nationalbewußtsein, Bern 1953, 22 f. Feller III, 21974, 9-240. Guggisberg 1958, 288 ff.

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chie allenfalls entschärft hätte, gab es nicht: Die Verwaltung des Staates erfolgte durch ein und denselben Personenkreis weitgehend in Kommissionen, sogenannten Kammern. Ein Hauptproblem, mit dem die Menschen des 17. Jahrhunderts zu tun hatten, bestand in einer mehr oder weniger andauernden Wirtschaftsmisere. Berns Versuch, ihrer durch Schaffung eines weitgehend autarken Wirtschaftsraumes Herr zu werden, mißlang im großen und ganzen. Dominierender Produktionszweig war die Landwirtschaft. Handwerk und Gewerbe hatten daneben einen schweren Stand, von ersten, mißlungenen Versuchen industriellen Zuschnitts ganz zu schweigen. Machtkonzentration und Tendenz zur Abschließung, die auch auf die zünftischen Gesellschaften und auf das Einwohnerrecht übergriffen, waren solchen Bestrebungen nicht förderlich. Als in Bern der Pietismus sich zu regen begann, war man eben daran, dem verbreiteten Problem der Armut durch die Schaffung von eigentlichen Heimatgemeinden zu begegnen. Die bernische Außenpolitik stand im Banne von Frankreich. Daß der Staat Bern wohlhabend und der Sonnenkönig in seiner Schuld war, bewahrte ihn vielleicht vor plumper Bestechlichkeit, machte ihn aber doch kompromißbereit, um nicht zu sagen: gefugig, denn man hatte mehr als nur die Gunst eines allgewaltigen Königs zu verlieren. Anklang fand in Bern, wenigstens bei einem guten Teil des Patriziates, auch der neue, in Versailles praktizierte und von Paris aus der staunenden Mitwelt diktierte Lebensstil, wenn auch in typisch bernischer Moderiertheit. Erst die Aufhebung des Ediktes von Nantes und der darauf einsetzende Grand Refuge hat das Frankreich Louis' XIV. in den Augen vieler Berner entzaubert. Damals begann eine Neuorientierung, die, wie die andern soeben skizzierten politisch-gesellschaftlichen Probleme, für die Anfänge des Pietismus in Bern alles andere als bedeutungslos war. Wie aber stand es um Berns kirchliche Beziehungen zum Ausland? Sie waren, wie das im Zeitalter des Konfessionalismus nicht anders zu erwarten ist, eng zu den reformierten Schwesterkirchen in den Niederlanden, in der Pfalz, in Hessen und in zahlreichen andern reformierten Territorien Deutschlands, eng auch zu den Hugenotten in Frankreich und den Waldensern in Savoyen. Bernische Theologen pflegten in Heidelberg und Herborn, in Leiden, Franeker, Groningen und Utrecht, aber auch, solange die Obrigkeit es gestattete, in Saumur zu studieren. Durchaus verwandt fühlte man sich in Bern auch den englischen Protestanten. Es war normal, daß Theologiestudenten, die sich in den Niederlanden aufhielten, auch nach England fuhren, und das oft für längere Zeit. John Durie war, als er um die Jahrhundertmitte in Cromwells Auftrag seine Pläne für eine innerprotestantische Union auch in Bern unterbreitete, auf geneigte Ohren gestoßen. Trotzdem erlahmte in Bern das konfessionelle Bewußtsein aber nicht. Die Überzeugung, mit lutherischen Christen nur sehr bedingt denselben Glauben zu haben, war nach wie vor herrschend. 24

Möglichkeiten also, daß auf den Wegen der Bücher Verbreitung, des Studienaustausches, der politischen und kirchlichen Beziehungen auf offizieller Ebene aus dem reformierten Europa, vor allem aus den Niederlanden und aus England, neue Anregungen nach Bern gelangen konnten, gab es genug. Übrigens - und das ist nicht unwichtig - hatte man in Holland sogut wie in England seine Regimenter stehen, die ein Hauptelement der bernischen Neutralitätspolitik, wonach kriegführende Parteien möglichst gleichmäßig begünstigt werden sollten, darstellten. N u n hatte Bern ja ein gutes Stück seiner Grenze mit katholischen Territorien gemeinsam: mit Frankreich und Savoyen, aber auch mit Luzern, Unterwaiden, Uri, dem Wallis, Freiburg und dem Bistum Basel. Hier herrschten konfessionell klare Verhältnisse. Die große Bereitschaft, mit der Bern die verfolgten Hugenotten und Waldenser aufnahm, hatte durchaus auch demonstrative Züge. Nebenbei: Haben die beispielhafte Glaubenstreue der Refugianten und ihre in der Verfolgungssituation geprägte Religiosität den werdenden Pietismus in Bern beeinflußt? Auch zu den katholischen Miteidgenossen waren Berns Beziehungen in Sachen des Glaubens eindeutig und negativ, zumal nach der Niederlage von Villmergen und gewiß auch nach den Erfahrungen des Bauernkriegs, in dem sich einmal mehr gezeigt hatte, daß die im konfessionellen Grenzgebiet lebende Bevölkerung nicht oder doch nicht nur konfessionalistisch dachte. Wer also aus der Innerschweiz nach Bern zog, hatte mit dem Wohnort auch den Glauben zu wechseln. Warum denn ist von den katholischen Nachbarn in unserem Zusammenhang überhaupt die Rede? Aus zwei Gründen, die allerdings vorderhand bloß Vermutungen sind. Erstens: Ist es nicht denkbar, daß der Pietismus, der eine kirchliche Reformbewegung war und mit der Zeit zur Oppositionsbewegung wurde, auch zum Katholizismus eine andere Stellung einnahm als das offizielle Bern und sich für Anregungen aus diesem Raum offenhielt? Und zweitens: War die in der Eidgenossenschaft konfessionell und politisch nach wie vor instabile Lage am Ende mit ein Grund dafür, daß die bernische Obrigkeit gegen die Pietisten in ihrem Gebiet derart drakonisch vorging? Z u m Bestand an offiziell respektive faktisch in Bern in Geltung stehenden Bekenntnissen gehörten: Die zehn Schlußreden der Berner Disputation von 1528, trotz ihrer Zurückhaltung in der Abendmahlsfrage ein Dokument des zwinglischen Charakters der bernischen Reformation; der Berner Synodus von 1532, das Werk des bei aller Entschiedenheit milden, politisch und theologisch weisen Straßburger Reformators Wolfgang Capito, dem der Spiritualismus keineswegs fremd war; der Heidelberger Katechismus von 1563 und Heinrich Bullingers Confessio Helvetica Posterior von 1566, die Dordrechter Kanones von 1619 und schließlich - ein helvetisches U n i c u m die Formula Consensus von 1675, die der von Saumur her drohenden Gefahr einer Erweichung in Fragen der Prädestinations-, Erbsünden- und Inspirationslehre entgegenwirken sollte. Eine dieser Bekenntnisschriften wird in unserem Zusammenhang besonders zu beachten sein: der Berner Synodus, 25

auf den sich Berns Pietisten aus Gründen, die noch zu benennen sind, immer wieder berufen haben. Den Cartesianismus und zumal den Spinozismus durfte es in Bern offiziell nicht geben. Und schließlich hatte Bern eine religiöse Oppositionsbewegung im eigenen Land, die es zu unterdrücken versuchte, mit der es aber seit der Reformation nicht fertiggeworden war: das Täufertum, das viele Anliegen des Pietismus bereits vorweggenommen hatte und gerade in den achtziger und neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts einen ungeahnten Aufschwung nahm. Wie standen in Bern Täufertum und Pietismus zueinander? 6. Die

Aufgabe

Die Aufgabe, die wir nach diesen einleitenden Erörterungen nun anpakken, stellt sich uns folgendermaßen dar: 1. Wir versuchen die Geschichte der Anfänge des Pietismus in Bern an einigen Stellen neu zu beleuchten. Der Anspruch, diese Geschichte in ihrer ganzen Breite neu zu schreiben, wird ausdrücklich nicht erhoben, denn zu viele Fragen und Probleme sind noch ungeklärt, als daß diese Aufgabe bereits an die Hand genommen werden könnte. Aufbauend auf den Ergebnissen der bisherigen Forschung und ausgehend von den Fragestellungen der neueren Pietismusforschung legen wir hier bloß einige aus den primären Quellen erarbeitete, wissenschaftlich belegte Studien vor, die grundlegende, von der Forschung bisher übersehene Aspekte des frühen bernischen Pietismus neu oder überhaupt zum erstenmal erhellen möchten. 2. Dieser Zielsetzung entsprechend wird die Darstellung unterschiedlich dicht geraten müssen und dürfen. Ausführlichkeit werden wir uns nur da gestatten, wo es etwas Neues zu sagen gibt, während all jene Passagen, die zwar zum Verständnis beitragen, aber bereits Bekanntes referieren, möglichst kurz gehalten werden. 3. Wir nehmen uns vor, die pietistische Bewegung in Bern nicht isoliert zu betrachten. Den geschichtlichen Traditionen, die darin wirksam werden, soll ebenso nachgegangen werden wie den religiösen, kirchlichen, politischen und sozialen Bedingungen ihrer Entstehung, wobei der Blick nicht auf den bernischen und den schweizerischen Raum beschränkt bleiben darf, sondern die entsprechenden Tendenzen auf europäischer Ebene, soweit sie für unser Thema relevant sind, miteinbezogen werden sollen. 4. Bereits der Versuch einer detaillierten, vor allem auch theologischen Interpretation bekannter Quellen zeitigt in dieser Hinsicht oft überraschende Ergebnisse. Gelingen kann unser Versuch freilich nur auf einer im Vergleich zur bisherigen Forschung breiteren Quellenbasis. Wir werden viele neue, gedruckte und vor allem auch ungedruckte Quellen aus bernischen, schweizerischen und ausländischen Archiven heranzuziehen, auszuwerten und uns dann zu fragen haben, ob sie es erlauben, den bernischen Pietismus 26

i m G e s a m t r a h m e n des zeitgenössischen P h ä n o m e n s „Pietismus" neu zu orten. 5. D i e pietistische B e w e g u n g , deren E n t s t e h u n g wir zu beschreiben h a ben, entstand relativ spät. I h r e m besonderen geographischen u n d geschichtlichen O r t entsprechend w u r d e n in ihr u n g e w ö h n l i c h vielfältige A n r e g u n gen w i r k s a m . O b Studien über diese B e w e g u n g indirekt auch etwas zur Diskussion über den Pietismusbegriff beizutragen v e r m ö g e n , w i r d sich weisen müssen. D a m i t treten w i r an unsere A u f g a b e heran. Bei der Quelle, aus der w i r zuerst schöpfen w e r d e n , handelt es sich u m den Briefwechsel zwischen d e m B e r n e r Samuel S c h u m a c h e r u n d A u g u s t H e r m a n n Francke. D e r Hallenser Kirchenhistoriker Karl Weiske w a r es, der in den Jahren 1932 u n d 1933 unter d e m Titel „A. H . Francke u n d der Berner Pietismus" z u m erstenmal darauf a u f m e r k s a m g e m a c h t hat. Er b e m e r k t e dazu, die neuen D o k u m e n t e seien geeignet, die Darstellungen Wilhelm H a d o r n s u n d Paul Wernles „in w e s e n t lichen P u n k t e n zu ergänzen" 3 5 . Weiskes Beiträge sind an einem versteckten O r t u n d z u d e m zu einer Zeit erschienen, als der wissenschaftliche Austausch zwischen Deutschland u n d der Schweiz infolge des a u f k o m m e n d e n N a t i o nalsozialismus zu stocken begann. W o h l deswegen sind seine f ü r die G e schichte des f r ü h e n Berner Pietismus so wichtigen Hinweise bis heute nicht fruchtbar gemacht worden36. Das soll jetzt geschehen.

35 Karl Weiske, August Hermann Francke und der Berner Pietismus: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt 28 (1932) 40-54. Ein Nachtrag dazu in Jahrgang 29 (1933) 91-94. 36 Ich verdanke den Hinweis auf Weiske dem Aufsatz von Andreas Lindt, Pietismus und Ökumene: Pietismus und moderne Welt (AGP 12) 150.

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I Samuel Schumachers Bericht über die Anfänge des Pietismus in Bern Es war am 22. März 1695, als Samuel Schumacher, seines Zeichens Vikar und Hauslehrer im Pfarrhaus der emmentalischen, nachmals durch Jeremias Gotthelf berühmt gewordenen Gemeinde Lützelflüh, sich zum erstenmal an August Hermann Francke wandte. Sein Brief enthält einen ausfuhrlichen, über 50 handschriftliche Seiten umfassenden Bericht über die Entstehung und Entwicklung des Pietismus in Bern seit 16891. Wie kam Schumacher überhaupt dazu, an Francke zu schreiben? Woher kannte er ihn? Schumacher gibt darüber in seinem Brief folgendermaßen Auskunft: In Holland, und zwar vor etwa fünf Jahren, habe er von Dietrich Dobbeler 2 zum erstenmal „von den so ungemeinen Bewegungen" gehört, „so hin und her in der Christenheit zu einer wahren und eifferigen Uebung des Christenthums sich erzeigen, sonderl. aber wie in Teutschlandt so viele Personen sich hervorthun, die mit einem neuen und ungewohnten Eyffer auf das wahre Christenthum dringen, aber (welches das meiste) selbiges auch leben. Sonderlich auch, daß Gott treue Diener ausgerüstet habe unter den Geistlichen und einige Kinder Levi geleutert habe, damit Sie reine Speiss=Opfer bringen mögen in Gerechtigkeit; sagte mir auch damahls (ist ohngefehr 5 Jahre), daß Gott auch mit den Augen seiner Barmherzigkeit in großen Gnaden Ihn (meinen liebwerthen Herren und Freund) angesehen, und ihn kräfftiglich gewißen aus dem Reich der Finsternis und versetzet habe in das Reich seines lieben Sohnes und ihn gemachet zu einem seligen und gesegneten Rüstzeug, auszubreiten die Ehre unseres Herren und Heylandes Jesu Christi; redete mir auch von einigen Collegiis Pietatis, die theil von ihm, theil von andern seyen gehalten wor1 Schumachers Bericht ist im AFSt in zwei Abschriften erhalten: D 61, S. 1-52 und D 60, Bl. 51-76. Wir zitieren nach der Originalpaginierung von D 61 und machen diese hier und in der unten als Anhang I beigegebenen Edition durch kursive Ziffern kenntlich. 2 Nach Weiske 1932, 43 gehörte Dobbeler dem pietistisch gesinnten Kreis um Speners Schwager Johann Heinrich Horb an. Im Katalog, den Johannes Dittmar von den der philadelphischen Sozietät nahestehenden Persönlichkeiten in Deutschland anlegte, figuriert unter „Hamburg" auch ein gewisser „Dobbeler Kauffmann". O b dieser mit Dietrich Dobbeler identisch ist, entzieht sich meiner Kenntnis. (Nils Thune, The Behmenists and the Philadelphians. A Contribution to the Study of English Mysticism in the 17th and 18th Centuries, Uppsala 1948, 125.) - Dieser Katalog entstand nicht, wie Norbert Fehringer, Philadelphia und Babel. Der hessische Pietist Heinrich Horche und das Ideal des wahren Christentums, Diss. theol. Marburg 1971, 124, Anm. 6 angibt, „frühestens um das Jahr 1695", sondern eindeutig erst nach 1700. Vgl. den Zusatz zu Pastor H. Straube: „der anno 1700 in England gewesen", und Rüdiger Mack, Libertinärer Pietismus. Die Wanderungen der Pfarrerswitwe Wetzel: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 29 (1978) 81-107, 85, Anm. 16.

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den zur auferweckung noch Vieler ander Seelen und ihrer reichen Erbauung" 3 . Nach dieser einleitenden Passage zu seinem Bericht hat Schumacher im Jahr 1690 von „ungemeinen Bewegungen" im Christentum Kenntnis erhalten, die, wie die spätere Differenzierung „sonderlich aber . . . in Teutschlandt" zeigt, nicht nur im deutschen Sprachraum sich bemerkbar machten, sondern eben „hin und her in der Christenheit" zu beobachten waren. Da die Kunde vom Neuen Schumacher in Holland erreichte, wird er auf die kirchlichen Reformbestrebungen in diesem Land, wohl aber auch auf die entsprechenden Tendenzen im englischen Puritanismus anspielen. Worin aber bestand das Neue und Gemeinsame an jenen „ungemeinen Bewegungen"? Schumachers Antwort: in einem „ungewohnten", auch praktischen Engagement für das „wahre Christenthum". Was aber ist damit gemeint? Eine neue, das ganze Leben des Betroffenen prägende und umprägende Form von Pietät? Spielt Schumacher mit dem zwar sehr gängigen Begriff des „wahren Christenthums" auf die berühmten „Vier Bücher vom Wahren Christentum" Johann Arndts an? Mehr als Vermutungen sind das vorderhand nicht. Bemerkenswert ist, daß das Neue, von dem Schumacher hörte, offenbar vorwiegend die Laien erfaßte, sonst würde er nicht eigens feststellen, daß es auch auf die kirchlichen Amtsträger übergegriffen habe - ein Vorgang, den er - auch das ist bemerkenswert - im Horizont der messianischen Verheißung von Maleachi 3,3 begreift. Schumachers summarische Zusammenfassung dessen, was er 1690 in Holland gehört hat, darf nicht zu der Annahme verleiten, auch diese Nachrichten seien nur vage gewesen. Schumacher hat nur keinen Grund, Francke das, was dieser ohnehin schon weiß, auch noch zu schreiben. Wie konkret und detailliert die Informationen, die er erhielt, gewesen sein dürften, läßt sich danach bemessen, wie exakt die Auskünfte waren, die man ihm über Francke erteilte. Was Schumacher von Dobbeler in dieser Beziehung gehört hat, wird sich auf die Bewegung beziehen, die seit 1689, angeregt durch Vorlesungen von Francke, Paul Anton und Johann Kaspar Schade, in der Leipziger Studenten- und Bürgerschaft entstanden war, und die unter tatkräftiger Mithilfe von theologischer Fakultät und Pfarrerschaft eben zujener Zeit hochobrigkeitlich unter Druck gesetzt wurde 4 . Dort haben Francke und seine Mitarbeiter jene Collegia Pietatis abgehalten, von denen Schumacher kurz nachher gehört hat. Wie sehr ihn diese Neuigkeiten interessierten, geht daraus hervor, daß Schumacher in der Folge „unterschiedliche . . . Schrifften" Franckes gelesen hat - welche, wissen wir leider nicht. Wenn er jetzt, f u n f j a h r e später, mit 3

Schumacher, Bericht 4. H a n s Leube, Die Geschichte der pietistischen B e w e g u n g in Leipzig. Ein Beitrag zur Geschichte u n d Charakteristik des deutschen Pietismus, Diss. Leipzig 1921, veröffentlicht in: H a n s Leube, O r t h o d o x i e u n d Pietismus. G e s a m m e l t e Studien hg. von Dietrich Blaufuß, Bielefeld 1975 ( A G P 13) 153-267. 4

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Francke Verbindung aufnimmt, so tut er es, um ihm nun seinerseits „umbständlich die ersten anfange selbst, den fortgang bis hieher, und den gegenwartigen Zustandt des Reiches Christi unter unß vorzustellen", damit Francke „sich auch freuen könne wegen des frölichen Wachsthums des Reiches Christi auch in unserm Lande" 5 . Was weiß Schumacher, der nota bene das Reich Christi implizit mitjenen „ungemeinen Bewegungen" des Pietismus identifiziert, was weiß er über die Anfänge der Bewegung in Bern zu berichten?

1. Die

Vorläufer

Ungefähr sieben Jahre seien es her, seit man in Bern von „diesen Sachen", das heißt vom Pietismus, „etwaß mehr als sonst hörete", beginnt Schumacher zu erzählen. Diese Angabe fuhrt ins Jahr 1688. Damals, fährt Schumacher fort, habe Gott den „treueyfferigen und frommen" Georg Thormann, „der ein Trost der Armen und eine Hülffe so vieler Vertriebenen ist", erweckt. Das Stichwort „Vertriebene" ruft einem in Erinnerung, daß in jenen Jahren - 1 6 8 5 war das Edikt von Nantes aufgehoben w o r d e n - T a u s e n d e von Hugenotten und Waldensern sich auf bernisches Territorium flüchteten, wo man sich ihrer annahm. Manche von ihnen fanden vorübergehend Aufnahme, echten Trost und großzügige materielle Unterstützung beim Pfarrerehepaar Thormann in Lützelflüh. Georg Thormann, geboren 1655, hatte seine spätere Gattin, die begüterte Hugenottin Marthe de l'Isle, in Paris, als er krank und seiner Berufung zum Kirchendienst vorübergehend unsicher geworden war, kennen und schätzen gelernt. Sie war ihm, da die Aufhebung des Ediktes von Nantes nur noch eine Frage der Zeit war, nach Bern gefolgt, wo sie bald Gelegenheit fand, das beträchtliche Vermögen, das sie so in Sicherheit gebracht hatte, zugunsten ihrer verfolgten Glaubensbrüder und -schwestern zu verwenden. Georg Thormann wurde 1681 französischer Prediger in Bern, 1686 Pfarrer in Lützelflüh und später Dekan der Klasse Burgdorf 15 . 5

Schumacher, Bericht 5f. Thormann verstarb 1708 im Alter von 52Jahren. Als Mitglied der sogenannten Refugienten- oder Exulantenkammer mußte er einmal gemahnt werden, im Gewähren von Unterstützungen doch nicht zu großzügig zu sein. Thormanns Ehe mit einer Hugenottin war für damalige Verhältnisse durchaus ungewöhnlich. Eheschließungen zwischen Bernern und Refugienten kamen kaum vor. Vgl. Eduard Bähler, Kulturbilder aus der Refugientenzeit in Bern (1685-1699): Neujahrsblatt hg. v. Historischen Verein des Kantons Bern für 1908, Bern 1908, 13, 62 f. - Lebensbeschreibung Herrn Georg Thormanns, von Johann Rudolf Gruner für seinen historisch und genealogisch interessierten Kollegen Ehrhard Dürsteier (1678-1766) in Zürich entworfen (ZB Ms S 277, Nr. 4). Schumacher, Bericht 3Íf. Leu XVIII109. Max Frutiger, Die Gotthelf-Kirche in Lützelflüh. Bilder und Begebenheiten aus ihrer Vergangenheit, o. O. 1974. - Thormann war ein äußerst produktiver und weithin geschätzter religiöser Schriftsteller. Es wäre an der Zeit, ihn durch eine eingehende Untersuchung der Vergessenheit zu entreißen. Neben einer Frühschrift (Theses ethicae diagramma virtutum et vitiorum moralium complec6

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Inwiefern aber sieht Schumacher in Thormann einen Vorläufer und Wegbereiter des Pietismus? Er gibt darüber keine präzise Auskunft, sondern bemerkt nur, Thormann habe durch seinen „Gottseeligen Wandel" und seine „Gottseeligen Schrifften" „sehr viel Leuthe gleichsam als aus einem sehr tieffen Schlaff aufgewecket". Befragt man Thormanns Schriften, so erhält man aber weiteren Aufschluß. Bereits im Titel eines im fraglichen Jahr 1688 erschienenen Traktats läßt Thormann seine mystisch-irenische Grundhaltung durchblicken: „Jesus in uns / und wir in Jhme. Das ist / Eine grundtliche und unpartheyische Vorstellung deß hohen Geheimnus Deß Heiligen Abendmahls. Und Wie bey dessen Geniessung die gläubige Seele sich mit JEsu Christo vereinigen / sein wahres Fleisch wahrlich essen / und sein wahres Blut wahrlich trincken könne und solle; damit sie gespeiset und geträncket werde zum ewigen Leben. Alles mit Seelen-Selbs-Gesprächen und Andachten durchauß begleitet. Der gesamten Evangelischen Kirchen zur Erbauung auffgetragen Durch Georg Thormann. Getruckt im Jahr 1688." Bei diesem Traktat handelt es sich um eine minutiöse, mit Selbstgesprächen und Gebeten durchsetzte Anleitung zur andächtigen Vorbereitung auf das Abendmahl und zum frommen Gebrauch desselben. Bezeichnend für Thormanns Position ist bereits, was er zur bisherigen Literatur über das Abendmahl zu sagen hat: Sie sei entweder scholastischtheoretisch - und das überdies mit konfessionalistischem Einschlag - oder aber praktisch-erbaulich. Ihm aber gehe es darum, Erkenntnis und Erbauung aufeinander zu beziehen. Thormann gibt unumwunden zu, die Klage, „daß das heutige Christenthum nur in einem äusserlichen Schein und Wesen" bestehe, sei berechtigt. Über das Ziel, das er selber anvisiert, schreibt er: „. . . so hat man deutlich wollen das äusserliche von dem innerlichen underscheiden / und klarlich darthun / wie das furnehmste bey dem Abendmahl alles geistlich / unsichtbar und innerlich seye / und hiemit auch im Geist müsse verrichtet werden, damit es geschehe in der Wahrheit." In der Linie derart verinnerlichter Glaubenserfahrung liegt dann auch Thormanns Bestrebung, die gerade in der Abendmahlsfrage äußerlich getrennten Kirtens, Bern 1673) und dem sogleich zu nennenden Abendmahlstraktat „Jesus in uns / und wir in Jhme" von 1688 (4. Aufl. 1714) ist v. a. eine Untersuchung über das Täufertum zu nennen: Probier-Stein. Oder Schrifftmässige / und auß dem wahren innerlichen Christenthumb Hargenommene / Gewissenhaffte Prüffung Deß Täufferthums . . ., Bern 1693. Außerdem waren mir zugänglich: Wohlgemeinte Und in der Liebe abgefasste Untersuchung Der so genandten Pietisterey / Und Auflösung der dissfalls vorkommenden vornehmsten Zweiffels-Fragen / Mit angehenckter treu-hertzigen Vermahnung zur wahren Pietet und Christlichen Einigkeit / Von einem Seligen Liebes-Jünger Jesu, Bern 1708, und: Das Gebätt Des HErrn im Geist und in der Wahrheit, oder Das Heilige Unser Vatter / Ein sicherer und kurtzer Weg recht zu bätten / Christlich zu leben und seelig zu sterben . . ., Basel . . . 1710. Nicht einsehen konnte ich hingegen die bei Leu aufgeführten, auch von Schumacher und in der Literatur mehrfach allerdings auch mit phantasievoll variierenden Titeln - genannten Schriften „Balsam aus Gilead", 1687 (auch in französischer Übersetzung erschienen), und „Neuer unpartheyischer Reunions- oder Vereinigungs-Vertrag zwischen den Protestirenden", 1687.

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chen der Reformation einander nahezubringen. Die zwischen ihnen bestehende Spaltung sei „traurig" und eine Union „lang erwünscht". „Lutherisch" und „Calvinisch" seien „sectiererische N a m e n " . Mit bewegten und bewegenden Worten fordert Thormann die „gnädigen / von G O t t in Gnaden gegebenen Regenten / alle Evangelischen Hohen Potentaten und Obrigkeiten" auf, fiir eine Vereinigung der getrennten evangelischen Kirchen einzutreten: „Ach daß es doch bald geschehen thäte: Ach daß doch GOtt in ihrer aller Hertzen recht durchdringende / und alle andere WeltGeschäffte verschlingende Friedens-Gedancken erweckte: Ach daß doch bald die Zeit kommen thäte / daß j e einer dem andern in dem heiligen Vereinigungs-Eyffer vorzukommen suchte / und daß sie alle ins gesamt recht zu Hertzen fassen thäten / wie eine grosse Ehr ihren Hohen EhrenNamen; wie eine grosse glückseligkeit ihren Ständen und Landen; wie ein grosser Abbruch und Schaden dem Reich deß Satans und deß Antichchrists; wie ein grosse befiirderung / hingegen dem Reich J E s u Christi; und hiemit wie ein grosses Heyl der gantzen Evangelischen Kirchen wurde dardurch zustehen: Es wolle doch unser Gott / der ein Gott deß Friedens ist / bald bald unsers Evangelische Sion mit Frieden segnen / durch Christum J E s u m den Fürsten des Friedens." 7 Wie nun soll sich nach Thormann der Fromme auf das Abendmahl vorbereiten? Thormann geht von dem Grundsatz aus, daß der natürliche Mensch unter dem Fluch des Gesetzes steht. Vergebung seiner Sünden und Versöhnung mit Gott gibt es für ihn allein in Jesus Christus. Was aber ist mit diesem Ausdruck „in Christus" gemeint? Gemeint ist die Vereinigung der gläubigen Seele mit Christus, die auch und vor allem im Abendmahl geschehen soll und darf. Eben diese hohe Bedeutung des Abendmahls verlangt nun aber eine entsprechende Vorbereitung durch den Kommunikanten. Keiner nämlich ist, so wie er ist, bereit dazu, und es ist eine schreckliche Sünde, unvorbereitet und unwürdig am Abendmahl teilzunehmen. Vielmehr gilt es das Verlangen der Seele nach ihrer Vereinigung mit Christus überhaupt erst zu wecken, sich selber gründlichst zu prüfen und den T a g der Abendmahlsfeier selber von früh bis spät in heiliger Andacht zuzubringen. Dazu will Thormann in seinem Buch den Frommen anleiten. Schritt für Schritt begleitet er ihn, bis hin zu den seelischen Wirkungen, die er nach dem Genuß des Abendmahls empfinden wird. In Georg Thormanns Abendmahlstraktat finden sich derart viele Anklänge an urpietistische Anliegen, daß man sich bei der ersten Lektüre der Versuchung, das Werk rundweg als „pietistisch" zu bezeichnen, nur schwer entziehen kann. Doch das wäre ein vorschneller Schluß. Wohl ist für Thormann das wahre Verständnis des Abendmahls dem Bereich staatskirchlicher und staatsbürgerlicher Selbstverständlichkeit enthoben, aber es fehlt bei ihm jeder Ansatz zu einer Sammlung der Gläubigen innerhalb der Kirche und zu 7

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Alle diese Zitate sind der ausführlichen, unpaginierten Vorrede entnommen.

einer eigens ausgeprägten Eschatologie. Die beiden Merkmale also, die Johannes Wallmann als Spezifika des spenerschen Pietismus und als kennzeichnend für einen engeren Pietismusbegriff herausgearbeitet hat, wird man bei Thormann vergeblich suchen. Vielmehr scheint es, Thormanns Werk liege mit seiner gewiß bernisch-nüchternen, aber unüberhörbaren Tendenz zu mystischer Verinnerlichung des Glaubens und mit seiner irenischen Offenheit gegenüber dem Luthertum in der Linie der im 17. Jahrhundert in England, in den Niederlanden und im lutherischen und reformierten Deutschland verbreiteten Andachtsliteratur, auch wenn der Autor nie ausdrücklich darauf Bezug nimmt. Es wird sich zeigen müssen, ob diese V e r mutung haltbar ist. Wenn ja, dann wird man Thormanns Abendmahlstraktat als „pietistisch" im weiteren Sinn des Wortes bezeichnen dürfen. Nebenbei bemerkt: Wie präzis ist doch gerade Schumachers vage Ausdrucksweise, wenn er schreibt, man habe in Bern durch Thormann von „diesen Sachen", das heißt von den Anliegen des Pietismus, „etwaß mehr als sonst" gehört. Schumacher sieht Thormann im Vorfeld dessen, was er dann als den eigentlichen Aufbruch des Pietismus in Bern selber erlebt hat. Unter denjenigen, die dem Pietismus in Bern den Weg gebahnt haben, nennt Schumacher an zweiter Stelle Elisäus Malacrida. Dieser hatte der 1685 bei Potsdam in der Mark-Brandenburg angesiedelten Schweizer Kolonie als erster Prediger gedient. Bereits 1687 war er aber wieder nach Bern zurückgekehrt, da er dort zum Professor für Griechisch und Ethik ernannt worden war. A u f der Heimreise von Potsdam nach Bern, in Amsterdam, war er mit einem für ihn im wahren Sinn des Wortes merkwürdigen Mann bekannt geworden: mit dem Cartesianer und germanisch-romanischen Mystiker, dem Jünger der Antoinette Bourignon, Apologeten der Madame de Guyon und Interpreten J a k o b Böhmes, dem Separatisten und Rijnsburger Kollegianten Pierre Poiret (1646—1719) 8 . Dabei muß es sich um eine für Malacrida entscheidende Begegnung gehandelt haben, schreibt Schumacher doch, dieser sei „durch Herrn Poirets Conversation in Hollandt mit großem Eyffer nach Bärn in sein Vaterlandt zurück k o m m e n " . Hier habe er in der Folge „durch seine erbauliche Discursen und eyfferige Predigen sehr viele Seelen erweckt". Heißt das, daß Malacrida auf Kanzel und Katheder in ähnlicher, wenn auch weniger spektakulärer Weise zu wirken begann, wie Francke, Anton und Schade zur selben Zeit in Leipzig es taten? Unsere Quelle gestattet keine Antwort auf diese Frage. Daß aber Malacridas Vorlesungen und Predigten einen betont erbaulichen Einschlag erhielten, das kann man 8 Teutschland-Buch (Preussen, Brandenburg) I, 95-98, 175-186, 191-192 im StAB (ohne Signatur). - Wilhelm Fetscherin, Die bernischen Colonien in Brandenburg am Ende des 17. Jahrhunderts, Bern 1868 ( B T 1868) 107-142. Leu XII, 456-457 (mit Bibliographie Elisäus Malacrida). - Zu Poiret vgl. Max Wieser, Peter Poiret. Der Vater der romanischen Mystik in Deutschland. Zum Ursprung der Romantik in Deutschland, München 1932, und neuerdings Gustav A. Krieg, Der mystische Kreis. Wesen und Werden der Theologie Pierre Poirets, Göttingen 1979 (AGP 17).

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Schumachers Äußerung immerhin entnehmen, auch wenn damit nicht eben viel gewonnen ist. Noch weniger läßt sich über den dritten Namen, den Schumacher in unserem Zusammenhang erwähnt, denjenigen des damaligen Dekans der Berner Kirche, Johann Rudolf Strauss, sagen. Ja, es ist sogar einigermaßen erstaunlich, Strauss unter den Vorläufern des Pietismus wieder zu begegnen, galt doch die Tatsache, daß er 20 Predigten über ein- und denselben Bibelvers publiziert hatte, bis dahin als einer der anekdotischen Kronbelege für die Predigtweise einer toten Orthodoxie. N i m m t man diesen Predigtband aber zur Hand, dann wird man dem Prediger die rechtschaffene Bemühung um eine ethisch relevante, systematisch durchdachte und kunstvoll gearbeitete Auslegung nicht absprechen können. Heiligung des Lebens war für Strauss offensichtlich keine Leerformel 9 . Georg Thormann, Elisäus Malacrida und Johann Rudolf Strauss gehören nach Samuel Schumacher zu den Wegbereitern des Pietismus in Bern. Noch ist zu wenig über sie bekannt, als daß man sie - im Sinne einer Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen des Pietismus - theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich verläßlich einordnen könnte. Immerhin spricht bereits allerhand dafür, daß Thormann zu jenen Menschen des 17. Jahrhunderts gehörte, die einen neuen privaten Frömmigkeitsstil pflegten, ohne doch den Rahmen des orthodoxen Staatskirchentums zu sprengen. Mindestens so deutlich wie Thormanns Bücher weist in diese Richtung, was Schumacher über den im Pfarrhaus von Lützelflüh wehenden Geist zu sagen weiß. Thormanns Haus sei eigentlich „mehr eine Hauskirche alß eine Haushaltung zu nennen", meint er, und beschreibt dann in einiger Ausführlichkeit, wie in diesem Haus vom Hausherrn, den er als ein „Exemplar eines frommen Dieners Jesu Christi" bezeichnet, über die Hausherrin, die beherbergten Gäste und die Kinder bis hin zum Gesinde männiglich sich eines exemplarisch frommen Lebens befleißigte 10 . N u n weist der von Schumacher eben verwendete Begriff „Hauskirche" in eine Richtung, die uns zwar vorübergehend von Schumachers „Bericht" wegführt, dafür aber auf unserer Suche nach den Anfängen des Pietismus in Bern ein kleines Stück weiterbringt. Georg Thormanns Nachbar und Kolle9

[Johann Rudolf Strauss], Haupt-Sorg eines Christen / Betreffend Der Seelen Heyl und Seligkeit. Deutlich erklärt / neben Beantwortung vieler Einwürffen kräfftig außgefiihrt. In Zwantzig Predigen, über Matth. 19. v. 16. Welche meistens auß dem Mund des weiland Wohlgelehrten und Treueyferigen Predigers in B E R N / Hrn. Joh. Rodolff Straussen aufgefasset. Theils auch auß andern bewährten Lehreren jederman zum besten zusamen getragen / und ans Liecht gegeben / und mit einer Zugab von etlichen Predigen vermehrt. Durch Johann Grimm . . . Das Buch erschien 1701 in Bern bereits in zweiter Auflage. Sich ein Urteil über dessen „pietistischen" „Gehalt" zu bilden, dürfte, da der Herausgeber mit seiner Vorlage offenbar recht frei umgegangen ist, recht schwierig sein. Immerhin kann man sich aufgrund von Passagen wie etwa derjenigen von S. 469 ff. über das Reich Gottes sehr wohl vorstellen, warum Schumacher Strauss neben Thormann und Malacrida nennt. 10 Schumacher, Bericht 31-34.

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ge in Oberburg, Johannes Erb, hatte nämlich einige Jahre früher ein Buch veröffentlicht, auf dessen Titel „Die Reformierte Hauss-Kirch" Schumacher wohl anspielt 11 . Bei diesem Werk handelt es sich um eine „Anweisung zum rechten christlichen Leben, verbunden mit einer Sammlung von Gebeten und Liedern, die vornehmlich aus englischen Autoren bezogen sind" 12 . Gebet, Bibellektüre, Psalmengesang und Selbstprüfung auf der einen und treue Pflichterfüllung auf der andern Seite gliedern den Werktag des Frommen, von dem sich der Sonntag als Tag besonderen Gottesdienstes deutlich abhebt. Die Tendenz von Erbs „Hauss-Kirch" erinnert einen an den in der englischen Erbauungsliteratur der Zeit ausgebildeten Frömmigkeitstyp und an das im niederländischen Protestantismus von und im Anschluß an Gisbert Voetius befolgte Ideal der Präzisität 13 - Beobachtungen, in denen einen die Namen der von Erb übersetzten englischen Autoren nur noch bestärken: Johannes Erb hat Richard Baxters „The Saints' Everlasting Rest" übersetzt („Ruhe der Heiligen", Basel 1673) und unter dem Titel „Weg des Christentums" (Bern 1685) ein weiteres Werk desselben Autors, sowie unter dem Titel „Leu aus dem Stammen Juda" (Basel 1676) ein Buch von Jeremy Taylor ins Deutsche übertragen 14 . Hinzu kommt eine bisher unbekannte Übertragung aus dem Holländischen: „Blut-Spiegel der Religion" von 11 Johannes Erb (1635-1701) wurde nach seinem in Bern und an verschiedenen ausländischen Hochschulen absolvierten Theologiestudium und nach einem längeren, für seine theologische Entwicklung entscheidenden Aufenthalt in England 1667 Pfarrer von Grindelwald. Aus Anerkennung für die vorbildliche Weise, wie er im Pestjahr 1669 sich für seine Gemeinde eingesetzt hatte, wurde er 1670 nach Oberburg befördert, wo er u. a. eine fruchtbare Tätigkeit als Übersetzer und Erbauungsschriftsteller entwickelte. Vgl. Eduard Bähler, Johannes Erb (1635— 1701): SBB V 267-275. Eduard Bähler, Zwei Briefe von Pfarrer Johann Erb: Blätter für bernische Geschichte, Kunst und Altertumskunde (abgekürzt: BBG) 3 (1907) 149-152. - Die Angabe des Tites „Die Reformierte Hauss-Kirch" stammt von Kurt Guggisberg 1958, 381 f. Guggisberg gibt 1677 als Erscheinungsjahr an. Leu VI 384f. hingegen nennt als Titel „Christliche Hauskirch" und als Erscheinungsort und -jähr „Basel 1680". Bähler zitiert nach Leu und bemerkt, seine Nachforschungen nach Erbs Werken - er fragte die Bibliotheken von Bern, Basel, Zürich, Lausanne, Genf und Thun an - seien erfolglos geblieben. Kurt Guggisberg hingegen scheint ein Exemplar der „Hauss-Kirch" vor sich gehabt zu haben, oder aber seine Inhaltsangabe geht auf mir und den in Bern zuständigen Bibliothekaren und Archivaren unbekannte Sekundärliteratur zurück. Die folgende Charakterisierung der „Hauss-Kirch" muß sich auf Kurt Guggisbergs Angaben stützen. 12

Guggisberg ebd. Wilhelm Goeters, Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis 1670, Leipzig 1911, 21 ff. und 53 ff. 14 Leu VI 385. - Z u Jeremy Taylor (1613-1667), der den jungen John Wesley stark beeinflußt hat, vgl. August Lang, Puritanismus und Pietismus. Studien zu ihrer Entwicklung von M. Butzer bis zum Methodismus, Neukirchen 1941 (Nachdruck Darmstadt 1972), 276-281 und Martin Schmidt, John Wesley, Bd. 1, Zürich 1953, 65-70. Treffend wie immer formuliert Eduard Bähler: „Daß gerade Jeremy Taylor, der heterodoxe, feinsinnige, etwas katholisierende Theologe, und Richard Baxter, dessen praktische, milde Frömmigkeit die Calvinische Prädestinationslehre in ihrer Schroffheit abgelehnt hatte, seine Vorbilder und Lieblingsschriftsteller waren, läßt erkennen, daß Erb nicht mehr auf dem Boden der streng orthodoxen Formula consensus stand, sondern seiner Zeit vorangeeilt war, und zwar ohne irgendwie wegen seiner Sonderstellung angefochten zu werden." (SBB V 273) 13

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Franziskus Ridderus, ein Buch über das M a r t y r i u m in der Geschichte des Christentums, das aber keineswegs historische, sondern ausschließlich erbauliche Z w e c k e verfolgt. Das D a t u m des V o r w o r t s - 13. Januar 1686 klärt darüber auf, was Erb veranlaßt haben muß, gerade dieses Buch zu übersetzen: Die Verfolgung der Hugenotten und Waldenser in Frankreich und Savoyen trat eben in ihr akutes Stadium 1 5 . O h n e Zweifel hat Johannes Erb mit seiner Übersetzertätigkeit das im englischen Protestantismus ausgebildete neue Frömmigkeitsideal auch im R a u m der reformierten Schweiz propagieren wollen. Er stand damit beileibe nicht allein da: Zahlreiche Kollegen vertraten mit ihm zusammen dasselbe Anliegen, unter ihnen der Gelehrte Wolfgang Christen (1633-1712), der mindestens f ü n f Werke englischer Autoren, darunter Baxters und Joseph respektive Richard Alleins, in Ubersetzung herausbrachte 1 6 , und Johann Heinrich Ringier (1635-1686), der 1678, 1680 und - p o s t h u m - 1697 den deutschsprachigen Protestanten gleich drei weitere Titel Baxters vermittelte 17 . An dieser Stelle ist nun wieder an T h o r m a n n zu erinnern, denn eines der ihm zugeschriebenen Werke - es trägt den Titel „Balsam aus Gilead" - dürfte doch w o h l eine Übersetzung des von Joseph Hall, Bischof von N o r w i c h , „allen b e k ü m m e r t e n Gliedern Jesu Christi, w o sie auch i m m e r sein m ö g e n " , gewidmeten gleichnamigen Erbauungsbuches sein. D a m i t w ü r d e sich unsere V e r m u t u n g bestätigen, wonach T h o r m a n n ein Vertreter jener neuen, in England und den Niederlanden ausgeprägten Frömmigkeitsrichtung sei, deren Quintessenz darin bestand, daß der F r o m m e sein ganzes Leben vor d e m Angesicht Gottes führe, und der auch gewisse asketische und durchaus auch mystische Z ü g e eigen waren 1 8 . 15 Das Titelblatt des im St AB vorhandenen (unsignierten) Exemplars fehlt. Titel, A u t o r u n d Ubersetzer gehen aus der Zueignung hervor, in der Erb seiner Überzeugung Ausdruck gibt, Drangsal gehöre zur christlichen Existenz. Jeder Fromme habe sich darauf vorzubereiten. - F. Ernest Stoeffler, The Rise of Evangelical Pietism, Leiden 1971. 16 Leu V 251-253. 17 Leu XV 291 f. Ringier hat seine Übersetzungen von Baxterschen Werken unter folgenden Titeln herausgebracht: „Betrachtung des Tods", „Geistlicher Samariter" und „Theologische Politic, oder Christenliche Burger-Lehr". Vgl. Lehmann 1980, 150f. - Ein weiterer Übersetzer puritanischer Literatur war der Dekan des Thuner Kapitels und Bruder des später zu nennenden obersten Dekans, Franz Ludwig Bachmann, vgl. Leu II 4 und Guggisberg 1958, 380. 18 Über die Verbreitung und Wirkung englischer Erbauungsbücher in der reformierten Schweiz ist trotz Wernle 1923, 443, Vuilleumier 1930, 256f. und Guggisberg 380f. meines Wissens bis jetzt nur wenig Verläßliches bekannt. Eine entsprechende Untersuchung sollte an die Hand genommen werden, zumal es nach den Studien von Hermann Beck und Hans Leube der reformierte Protestantismus gewesen ist, der dem Luthertum den Zugang zu dieser Literatur eröffnet hat, und unter den Druckorten von Übersetzungen immer wieder Basel und Zürich begegnen. Vgl. Hermann Beck, Die religiöse Volkslitteratur der evangelischen Kirche Deutschlands in einem Abriß ihrer Geschichte: Zimmers Handbibliothek der praktischen Theologie Bd. 10c, Gotha 1891, 177-197. Hans Leube, Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924, 162-180. - Auf die Bedeutung der Schweiz als Umschlagplatz für puritanische Erbauungsliteratur hat Wallmann hingewiesen:

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N u n genügt freilich die bloße Aufzählung von Übersetzungen englischer Erbauungsbücher nicht, u m auch eine bedeutende Wirkung derartiger Literatur im R ä u m e Bern zu behaupten. Darüber läßt sich noch k a u m etwas sagen. Angesichts der doch recht großen Zahl von Übersetzungen ist es vielmehr auffallend, wie selten in den einschlägigen Quellen auf englische Autoren Bezug g e n o m m e n wird. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß man in Bern von offizieller Seite dem Puritanismus jedenfalls kritisch gegenüberstand - ein Beleg für diese A n n a h m e wird gleich zu nennen sein. Ist es überdies zufällig, daß von den genannten Übersetzungen bis auf eine v o m Jahr 1678 alle in Basel, nicht in Bern verlegt w o r d e n sind? Wie auch immer: Bei aller gebotenen Zurückhaltung wird man aufgrund der genannten Fakten doch sagen dürfen, daß, wie im deutschen Luthertum, bei einigen Mitgliedern des bernischen Ministeriums im letzten Viertel des 17. J a h r h u n derts ein ausgeprägtes Interesse an englischer Erbauungsliteratur vorhanden war, ein Interesse, das die betreffenden Pfarrer verbreiten helfen wollten u n d in ihren Gemeinden gewiß auch verbreitet haben. Daß sie mit ihrem Ideal der „Gottseligkeit" im Bernbiet eine gewisse Breitenwirkung erzielt und damit den Boden für den Pietismus bereitet haben, ist möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich. D a m i t kehren wir zu Schumacher zurück. Im Herbst 1689, berichtet er weiter und deutet damit weitere Beziehungen wenigstens an, habe ein Student aus Lüneburg namens Wolters mit seinem Auftreten in Bern für einige A u f r e g u n g gesorgt. Malacrida jedenfalls habe in der Folge d e m Konvent über sein Glaubensbekenntnis Rechenschaft ablegen müssen und „viele Seelen" seien vor das Konsistorium zitiert worden 1 9 . In der Tat hatte der Rat gegen diesen Wolters einen Haftbefehl erlassen und Vorkehren angeordnet, damit die von diesem verbreitete Irrlehre (dem „allten Puritanismo nit unänlich"!) mit der Wurzel ausgerottet und an den mit diesem Sauerteig Angesteckten intensiv gearbeitet werde. Das setzt voraus, daß Wolters ein gewisses Echo, in Bern also einen Kreis gefunden hat, der für seine Botschaft empfänglich war. O b dieser Kreis mit den Personen „von allerhand Gattung" identisch war, der sich u m eine Frau namens Margrethli in der Matte, Berns Armenviertel, gebildet hatte? Das ist wohl wahrscheinlich, aber w i e d e r u m nicht zu erhärten, ist doch über das Margrethli nur gerade bekannt, daß es T r ä u m e und Offenbarungen gehabt haben soll, und ist doch über Wolters Ketzerei auf dem U m w e g über Zürich nur in Erfahrung zu bringen, er habe in perfektionistischem Sinn gelehrt 2 0 . J o h a n n e s W a l l m a n n , Labadismus u n d Pietismus. Die Einflüsse des niederländischen Pietismus auf die E n t s t e h u n g des Pietismus in Deutschland, in: J. van den Berg u n d j . P. van D o o r e n (Hg.), Pietismus u n d Reveil, Referate der internationalen T a g u n g : D e r Pietismus in den Niederlanden u n d seine internationalen Beziehungen, Leiden 1978, 141-161. - Z u r Verbreit u n g v o n T r o s t - u n d Erbauungsliteratur im 17. J a h r h u n d e r t vgl. jetzt L e h m a n n 1980, 114-123. 19 Schumacher, Bericht 7. 20 Z u Wolters (auch Walthers genannt) bereits H a d o r n 1901, 37f., w o auch auf das M a r grethli Bezug g e n o m m e n wird. H a d o r n s Quelle ist in beiden Fällen Relation 3. Z u Wolters vgl.

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Ein von Pierre Poiret angeregter Theologieprofessor (Elisäus Malacrida), ein die Heiligung des Lebens betonender Dekan (Johann Rudolf Strauss), Autoren wie Georg Thormann und Johannes Erb, die einem neuen Frömmigkeitstyp Bahn brachen, zahlreiche Übersetzungen englischer Erbauungsbücher, in der Stadt ein Kreis von Menschen verschiedenen Standes um eine Frau, die besonderer Offenbarungen gewürdigt wurde, und ein lutherischer Student aus Deutschland, der die Vollkommenheit der Kinder Gottes propagiert zu haben scheint und dafür offenbar Gehör fand - all das, so heterogen es auf den ersten Blick auch sein mag, kann sich sehr wohl zusammenreimen und insgesamt ein Klima ausmachen, in welchem Neues sich langsam gestaltet. Fest steht, daß Ende 1689 in Bern eine neue Art von Frömmigkeit, neue religiöse Anschauungen und neue Formen religiöser Geselligkeit sich bereits so weit entwickelt hatten, daß der Rat hatte einschreiten müssen.

2. Die Studienreisen der vier

Theologiestudenten

Schumacher hat die um die Person von Wolters entstandene Unruhe nicht miterlebt. Seit Mai 1689 hielt er sich mit seinen Kommilitonen Samuel Güldin, Christoph Lutz und Samuel Dick in Genf auf 21 . Die Calvinstadt war die erste Station ihrer akademischen Bildungsreise, für die Güldin und Dick ein vierjähriges Stipendium erhalten hatten 22 . Anfänglich scheinen die vier Berner denn auch fleißig Französisch gelernt und öffentlich disputiert zu haben. Da wurde Christoph Lutz - es muß Ende Juli/Anfang August gewesen sein - schwer krank. Er, der vorher „ein sehr ippiges Epicurisches aber auch RM 219, 44 f. vom 4. 11. 1689 und zum Verfahren gegen Malacrida AP 69-75 (Copia eines Schreibens in sich haltend Herrn Professoris Malacridae Process). Über Wolters Auftreten in Zürich orientiert Julius Studer 1877, 109-209, 112. - Was wir aus dieser Zürcher Quelle über Wolters wissen, stimmt mit dem überein, was Philipp Jakob Spener uns über ihn berichtet. Ihm zufolge ist Wolters bereits im Jahr 1685 von Lüneburg aus ein erstes Mal in die Schweiz gekommen, hat sich dann nach Tirol begeben und ist nach Speners Weggang von Dresden (Sommer 1691) dort aufgetaucht, wo er einiges von der Frucht des Spenerschen Wirkens wiederum zerstört hat. Von Wolters Bernaufenthalt im Jahr 1689 weiß Spener nichts. Hingegen kannte auch er Wolters als Vertreter antinomistischer und perfektionistischer Sondermeinungen, und es gelang ihm, diesen, als er in der Festung Spandau gefangen saß, zur Absage an dieselben zu bewegen. Die Vorreden von Speners „Seligkeit der Kinder Gottes" und „Sprüche heiliger Schrift" (Grünberg Nrn. 61 und 62) sind gegen Wolters gerichtet. Spener, Consilia 3 (Grünberg Nr. 187), 748. Spener, Letzte Theologische Bedencken 3 (Grünberg Nr. 186), 724728. Gustav Kramer, Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke's, enthaltend den Briefwechsel Francke's und Spener's, Halle 1861, 208, 210, 212, 215, 222/., 241 f., 243, 272. Diese Hinweise verdanke ich Herrn Prof. Dr. Johannes Wallmann, Bochum. 21 Trechsel 1852, 113 u n d - i h m f o l g e n d - H a d o r n 1901, 104, Wernle 1923, 122, Guggisberg 1958, 383 und Pfister 1974, 613 nennen anstelle von Samuel Dick fälschlicherweise Jakob Dachs. Richtig hingegen Trechsel 1882, 38. 22 SM 11.2. 1689. Güldin und Dick trugen sich am 15. 6. in die Genfer Matrikel ein (Le livre du recteur de l'académie de Genève (1559-1878), publié sous la diréction de Sven StellingMichaud, Bd. 1, Genève 1959, 246).

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welt=leben" gefuhrt hatte, geriet nun in schwerste Gewissensnot, in „Höllische Schrecken und Aengste"23. Sein physisch und psychisch erbärmlicher Zustand beeindruckte seine Kameraden derart, daß sie ihrem Leben eine Wendung zu geben beschlossen: Sie nahmen sich vor, „durch Gottes=Gnadenbeystandt ins künfftige ein ander Leben anzustellen". Bislang waren sie ehrgeizige, disputier- und streitfreudige Studenten, also eher Rivalen als Freunde, jedenfalls Persönlichkeiten „gantz widerwärtigen humeurs" gewesen. Von nun an hielten sie „stets zusammen mit flehen und Gebeth", enthielten sich unnötiger theologischer Kontroversen und lasen dafür „fleißig in Gottes Wort, und andern Geistreichen Büchern die unß den Weg zu einem heiligen Leben und eifferigen Christenthum vorweisen; fingen auch an zu Trost der Armen nach Vermögen auszutheilen"24. Was war geschehen? War damit nicht auf spontane Weise ein auf die Bibel, erbauliche Schriften und gemeinsames Gebet konzentrierter studentischer Erbauungszirkel „pietistischer" Observanz entstanden? Die vier sahen es so: „Diß war der erste Anfang und Grundlegung unsers Pietismi, da wir 4. alle von keinem Pietismo nichts wussten." 25 Samuel Güldin spricht ausdrücklich vom „Anfang . . . unsers Pietismi", nicht vom Anfang des Pietismus in Bern überhaupt. Das will doch wohl heißen, daß er und seine Kameraden das, was in Genf mit ihnen geschehen war und wozu sie sich entschlossen hatten, als etwas qualitativ Neues, als 23 Der Hinweis auf Lutz' ausschweifendes Vorleben scheint so wenig wie seine schwere Gewissensnot bloß Topos einer Bekehrungsgeschichte zu sein: Vgl. SM 30./31. 3. (Lutz „wegen unterschiedlichen insolentzen . . . removiert"), 13. 9. 1688 und 13. 9. 1689, wonach Lutz „inständig" um Aufhebung einer gegen ihn verhängten Suspension bittet und diese nur mit der harten Bemerkung gewährt erhält, „daß er eine solche gunst wegen seiner üblen conduite . . . nie verdienet habe". 24 Schumacher, Bericht 7-10. Wie verläßlich Schumachers Bericht ist, ergibt sich auch aus dessen wesentlicher Übereinstimmung mit Güldins Apologie (I, 4-7). 25 Güldin, Apologie I, 9. - Güldin legt Wert darauf, daß ihr Erbauungszirkel unabhängig von äußeren Einflüssen entstanden sei. Da es sich bei der Schrift, in der er sich so äußert, um eine Apologie handelt, könnte man dies auch als Schutzbehauptung taxieren. Das tun Hadorn 1901, 42 und-stillschweigend-Pfister 1974, 613. Beide vermuten, „ein auf Labadie zurückgehender Erweckungskreis" dürfte die vier Berner angeregt haben. Solange dafür kein Beleg erbracht werden kann - Pfister verweist auf den Artikel „Labadie" in RGG 3 IV, 193, wo aber bloß von Labadies Aufenthalt in Genf, nicht jedoch von einem Ende der achtziger Jahre dort noch bestehenden „Erweckungskreis" die Rede ist - , bleibt das bloße Spekulation. Zudem fällt die Annahme einer Schutzbehauptung, die im Fall von Güldin möglich ist, bei Schumacher, der 1695 noch nicht aus einer Verteidigungshaltung heraus schreiben mußte, außer Betracht. So konnte Schumacher im weiteren Verlauf seines „Berichts" denn auch ganz unbefangen von seinem Besuch bei der Labadistengemeinde in Wiewert erzählen. Wenn er und seine Kameraden schon in Genf mit Labadisten in Kontakt gekommen wären, dann hätte ihn wohl nichts daran gehindert, das in seinem Brief an Francke auch zu sagen. Schließlich hat Wallmann 1970, 142 f. gezeigt, daß von besonderen Collegia pietatis Labadies in Genf zwar in der Literatur häufig, nicht aber in den zeitgenössischen Quellen die Rede ist. Die Vermutung, die Berner Theologiestudenten seien 1689 von Labadisten zu ihren Zusammenkünften angeregt worden, ist also vorderhand ebenso aus der Luft gegriffen wie die entsprechende Behauptung fiir Spener. Vgl. auch Vuilleumier 1930, 257 f.

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etwas auch den eben beschriebenen Erneuerungstendenzen gegenüber Neues beurteilten. Worin bestand denn dieses Neue? Gewiß darin, daß sich die vier in einer ihnen bislang unbekannten Weise in ihrem Glauben und Leben ganz persönlich betroffen fühlten, gewiß aber auch darin, daß dieses Betroffensein den Zusammenschluß zu einer engen Gemeinschaft geradezu nach sich zog. Gerne möchte man annehmen, daß sich unter den „Geistreichen Büchern" - man beachte den pneumatologischen Gehalt des Begriffs „geistreich" - auch solche von Georg Thormann, Johannes Erb und Übersetzungen englischer Autoren befunden haben, doch läßt Schumacher nichts Derartiges verlauten. Samuel Güldins aus der Rückschau für sich und seine Kameraden aufgestellte Behauptung, in den Genfer Ereignissen liege der Anfang ihres Pietismus, ist also wohl verständlich. Problematisch ist daran nur, daß Güldin beifügt, sie hätten vorher nie etwas von Pietismus gehört. Ist damit ganz einfach der Begriff „Pietismus" gemeint, der bis dahin in Bern tatsächlich nicht und noch längere Zeit nicht aufgetaucht ist, dann lösen sich die Schwierigkeiten. Güldins Behauptung - sie steht im Zusammenhang einer Apologie - wäre dann ein einigermaßen geschicktes, um nicht zu sagen sophistisches Argument. Nach allem, was Schumacher in seinem „Bericht" über religiöse Erneuerungsbestrebungen innerhalb der Berner Kirche vor 1689 berichtet, wird man aber kaum mehr annehmen dürfen, die Genfer Erlebnisse der vier Berner Studenten seien völlig unvorbereitet gewesen. Schließlich noch eine letzte Bemerkung zu den Erlebnissen der vier Berner Studenten in Genf, eine Bemerkung, die zwar rein hypothetischen Charakter hat, aber doch einen für die weiteren Entwicklungen bedeutsamen Aspekt ins Blickfeld rückt. Gemeint ist die Frage, welche Rolle bei der Bildung pietistischer Konventikel die Angst und welche Bedeutung für die Überwindung dieser Angst das Gemeinschaftserlebnis der Konventikel gehabt haben. Hartmut Lehmann, der, wie bereits erwähnt, diese Frage aufgeworfen hat, visiert ein sozial-psychologisches Phänomen an, dessen Möglichkeit zwar im Horizont der seit dem 30jährigen Krieg anhaltend düsteren politischen Lage in Westeuropa unbestreitbar sein dürfte, dessen Wirklichkeit aber nur schwer aufweisbar ist26. Vielleicht gelingt es dennoch, die vorläufig mehr erahnten als erwiesenen Zusammenhänge wenigstens an einigen Beispielen aufzuzeigen. Für den Zusammenschluß der vier Berner im Genf des Jahres 1689 ist das freilich nicht möglich, weil entsprechende Selbstaussagen und Indizien fehlen, ja Schumacher die Angst, welche Lutz überfallen hat, geradezu als eine rein individuelle Größe beschreibt. Dennoch braucht die Annahme einer akuten, durch die politische Konstellation mitbedingten Existenzbedrohung in diesem Fall nicht bloße Spekulation zu sein. Im Herbst 1688 nämlich hatte Louis XIV. den fürchterlichen pfälzischen Erbfolgekrieg entfacht und damit die Niederlande und England zum 26

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Lehmann 1979, 54-82, besonders 65-67. Lehmann 1980, 105-113.

Krieg gezwungen. Von den Tausenden von Glaubensflüchtlingen, die als Opfer absolutistischer Machtpolitik unter anderem über Genf auf eidgenössisches Territorium flohen, war bereits die Rede. Die Rhonestadt war in einer derartigen Situation jeweils besonders bedroht und gefährdet. Und Ende August und Ende September 1689 - eben zu der Zeit, als Lutz schwer krank darniederlag - gingen von der Waadt aus jene beiden verzweifelten Rückeroberungszüge der Waldenser in Szene, deren zweiter, von Jean Jacques Bourgeois geführter erbärmlich mißlang und das Gefühl der O h n macht unter den Verfolgten, aber doch wohl auch die Angst unter der Bevölkerung, die mit ihnen kollaboriert hatte, nur noch verstärkte 27 . Noch einmal sei es betont: Es kann nicht nachgewiesen werden, daß diese U m stände bei dem vergleichsweise völlig unscheinbaren und scheinbar völlig privaten Ereignis, von dem hier die Rede war, eine Rolle gespielt haben. Es ging nur darum, einen für die späteren Entwicklungen bedeutsamen Aspekt in die Erörterung einzuführen. Den Winter 1689/90 brachten Samuel Güldin, Christoph Lutz, Samuel Dick und Samuel Schumacher, dessen „Bericht" wir nun wieder folgen, in Lausanne „mit lesen und beten und guten Gesprächen in der Furcht des Herren zu". Dort begann jener Prozeß, den Schumacher als seine Bekehrung ausführlich beschrieben hat und auf den später zurückzukommen sein wird 28 . Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt zu Hause begaben sich Güldin, Dick und Schumacher - Lutz blieb in Bern - im Frühjahr wieder auf Reisen. Ihr Ziel waren die Niederlande und England. In Frankfurt besuchten sie Mitte Mai den Mann, der um 1675 mit Spener zusammen an der Spitze der dortigen pietistischen Bewegung gestanden hatte und über den im zentralen Punkt von Speners Reformprogramm, der Anregung von Collegia pietatis, nach Wallmann sehr wahrscheinlich labadistisches Gedankengut wirksam geworden war: den Juristen Johann Jakob Schütz. Sie trafen ihn auf dem Sterbebett an. Sein „Exempel" in solcher Lage, berichtet Schumacher, habe sie „sehr herrlich erquicket und auch aufgemuntert", denn sie „sahen eine Augenscheinliche, je Himmlische Fröligkeit an dieser Seelen und eine Leib und Seel durchdringende und zerschmelzende Liebe Gottes" 29 . 27 Feller III, 2 1974, 86-87. E d u a r d Bähler, D e r Freischarenzug nach Savoyen v o m September 1689 u n d sein A n f u h r e r Jean Jacques Borgeois von N e u e n b u r g : J a h r b u c h f ü r Schweizerische Geschichte 42 (1917) 1-86. 28 Schumacher, Bericht 10J. A m 27. 1. 1690 trugen sich Güldin u n d Dick in die Lausanner Matrikel ein ( A l b u m s t u d i o s o r u m Academiae Lausannensis 1537-1837, hg. v. Louis J u n o d , II (1602-1837), Lausanne 1937, 77. 29 Schumacher, Bericht 11 f . - Z u J o h a n n J a k o b Schütz vgl. Johannes W a l l m a n n 1970, 2 8 3 306. - Die D a t i e r u n g des Besuchs der Berner Studenten bei Schütz auf M i t t e Mai verdanke ich J o h a n n e s Wallmann. Er weist mich auf einen bisher u n b e k a n n t e n Brief der Spenerfreundin Frau Elisabeth Kißner in F r a n k f u r t a. M . an Benigna Gräfin Solms-Laubach hin (Laubach Archiv XVII. 11), der wenige T a g e nach Schützens T o d (21. 5. 1690) geschrieben w u r d e u n d in d e m die Verfasserin über den vierzehn T a g e zurückliegenden Besuch der Berner berichtet. Dieser fiel d e m n a c h in die W o c h e v o m 11. bis 17. Mai 1690.

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In Utrecht - über den Verlauf der Reise seit Frankfurt läßt Schumacher nichts verlauten - trennten sich die Wege der drei Gefährten: Während Güldin und Dick wie vorgesehen nach England weiterfuhren, blieb Schumacher wegen Unpäßlichkeit bei einem Schweizer namens Johann Jakob Hirzel zurück. Über den immerhin sechsmonatigen Englandaufenthalt von Güldin und Dick ist leider nichts bekannt. Das ist um so mehr zu bedauern, als die Übung in der „Gottseeligkeit" und im „wahren Christenthum" erklärtermaßen das Ziel der ganzen Reise war. Aus uns unbekannten Gründen beschlossen Schumacher und Hirzel, nicht auf ihre Kameraden zu warten, sondern in die Schweiz zurückzukehren. Aber Hirzel blieb in Wiewert bei der „heiligen Societet des Herrn Lobadien" - gemeint sind die Labadisten - hängen. Er war nicht zur Weiterreise zu bewegen. Warum ist nicht auch Schumacher da geblieben? Nicht religiöse Bedenken waren dafür ausschlaggebend, sondern das ungesunde Klima am Ort. Schumacher zog allein weiter und gelangte nach Bremen, wo er mit Theodor Undereyck und dessen Schüler Cornelius de Hase bekannt wurde. Hier kam er im Verlauf einer schweren religiösen und psychischen Krise derart herunter, daß er, für seine Umwelt zur Last geworden, von einem Freund namens Zacharias Wenzel nach Amsterdam zurückgeholt werden mußte. Dort traf er seine aus England zurückgekehrten Kameraden wieder, mit denen zusammen er Anfang März 1691 die Heimreise antrat 30 . Aufschlußreich ist, welche Schriften Schumacher während seines Aufenthaltes in Bremen gelesen hat. Er erwähnt, ohne die Titel im einzelnen zu nennen, „einige Bücher, von den so genandten Labadisten aufgesetzet", ferner die „Principia et documenta vitae christianae" des katholischen Erbauungsschriftstellers und Kardinals Giovanni Bona 31 und schließlich den dritten Teil von Immanuel Hiels alias Heinrich Jansens (gestorben um 1594) Sendschreiben, „darinnen ein Anhang ist von einem andern erleuchteten Mann . . ., welches ein recht Güldenes Werck ist, . . . darinnen Er von der wahren Wiedergeburt gar herrlich . . . geschrieben, alß ich jemahls etwas gelesen" 32 . Dieser „erleuchtete Mann" war der Spiritualist Friedrich Breckling (1629-1711), in dessen fiir Schumacher bezeichnenderweise „Güldenem Werck" gezeigt wird, „wie wir alle mit CHristo unserm Heylande zu gleichem Mit-leyden / Mit-sterben und Mit-begraben werden / etc. gepflantzt werden müssen / ehe wir mit Ihme wieder völlig auferstehen / mit 30 Schumacher, Bericht 12-15 und 22-24. - Schumachers Bekanntschaft mit Undereyck und de Hase geht nicht aus dem „Bericht", sondern aus AP 17-39 (Brief an einen Freund in Bremen vom 3. 4. 1693) hervor. Dort findet sich (39) die Namensform „Ondeneich", durch einen Kopierfehler aus „Ondereick" entstanden, welche Form fiir Undereyck durchaus geläufig ist. 31 Giovanni Bona (1609-1674), SOCist, war ein bedeutender Erbauungsschriftsteller seiner Zeit. Er zog ein Leben mystischer Kontemplation kirchlichen Ehrenämtern vor, konnte aber die Ernennung zum Generalabt der italienischen Feuillanten (1657) nicht abweisen. Er wurde Berater der Index-, Riten- und Propagandakongregationen und 1669 Kardinal. Eine Gesamtausgabe seiner Schriften erschien in Antwerpen. (DHGE IX 706f., Joseph Canivez) 32 Schumacher, Bericht 15.

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Ihm leben und himmlisch gesinnt seyn können" 3 3 Schumacher hatte diese Bücher in Holland erstanden. So viel vorerst zum äußern Verlauf der Reisen von Güldin, Dick u n d - v o r allem - von Schumacher. Was war unterdessen aus Christoph Lutz geworden? Er hatte nicht mit seinen Kameraden reisen können, weil er sich um die Lausanner Professur für Hebräisch und Katechetik bewerben wollte. Die theologischen Fragen, zu denen er im entsprechenden Verfahren am 10. März 1691 im Rahmen einer öffentlichen Disputation Stellung nahm, verrieten kaum etwas von seiner seit dem Genfer Aufenthalt veränderten Position. Er hielt sich dabei so gut, daß der Schulrat ihm „einen sonderbahren köstlichen Talent" attestierte und ihm, da er ihm dennoch einen älteren Bewerber vorzog, im Sinne einer Anerkennung ein Reisestipendium von 200 Talern zusprach 34 . Die Stationen der Studienreise nun, die Lutz mit diesem Geld unternehmen konnte, sind, wenn man weiß, welche Richtung er seit Herbst 1689 eingeschlagen hatte, doch recht vielsagend. Auch Lutz reiste zuerst nach Holland. Dann aber wandte er sich nach Hamburg zu Johann Heinrich Horb (1645-95), dem sein Eintreten für Poirets Büchlein über die christliche Kindererziehung bald zum Verhängnis werden sollte 35 . Anschließend ging Lutz nach Berlin, wo er mit Horbs Schwager, „mit dem sehr frommen und berühmten Herrn D. Spener geredet, und mit Herrn Kirch und vielen andern guten frommen Seelen". Diese Begegnungen können, da Spener erst Ende Juni in Berlin eingetroffen ist, frühestens im Juli 1691 stattgefunden haben. Wohl von Berlin aus ist Lutz dann nach Leipzig weiterempfohlen worden, von wo er wieder nach Bern zurückkehrte 36 . Überblickt man die Stationen der Reisen, welche die vier Berner Theologiestudenten nach ihrem „in sede Calvini" erfolgten Zusammenschluß unternahmen, dann wird man feststellen, daß es sich bei allen diesen Stationen um Zentren des damaligen Pietismus handelt. Sie besuchten - einzeln oder gemeinsam und abgesehen von den uns unbekannten Zielen in den Niederlanden und in E n g l a n d - J o h a n n Jakob Schütz in Frankfurt, die Sozietät der Labadisten in Wiewert, Johann Heinrich Horb in Hamburg, Theodor U n dereyck in Bremen, den Kreis um Philipp Jakob Spener in Berlin und nachdem Schumacher unterwegs von den dortigen pietistischen Streitigkeiten gehört hatte - Leipzig, das mittlerweile nach der Vertreibung der führen33

So die Inhaltsangabe auf dem Titelblatt zum dritten Teil von Hiels „Christlich-geheimen EPJSTELN oder SENDBRJEFFEN", Amsterdam 1690. 34 SM 12. und 27. 3. 1691. - Lutz hat eine Probevorlesung über Dt 32, 36-52 gehalten. Es wäre allzu spitzfindig, aus Fragen wie „An Sacra Scriptura sirie interna et singulari Spiritus Sancti illuminatione recte intelligi possit?" oder „An propositum miserendi in Deo ad solos electos sit restringendum?" oder „An h o m o justificetur ex operibus?" eine pietistische Tendenz herauslesen zu wollen, ohne die entsprechenden Antworten zu kennen. Die Fragen als solche gehören durchaus zum Problembestand der Orthodoxie. 35 Gustav A. Krieg 1979, 39 f. 36 Schumacher, Bericht 34. AP 227 (Herren Christoffel Lützen . . . Verantwortung Vor Mhghh. der Religion Commitierten).

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den Pietisten zwar wiederum zu einem Zentrum der Orthodoxie geworden war, aber immer auch noch Sympathisanten August Hermann Franckes beherbergte. Dabei sind diese Angaben dem Bericht eines Autors zu entnehmen, der auf die exakte Beschreibung des Itinerars wenig, auf die Darstellung der eigenen religiösen Entwicklung hingegen größten Wert legt. Mag der Pietismus in Bern hier und dort auch spontan aufgebrochen sein, fest steht, daß er, vertreten durch einige seiner späteren Protagonisten, sogleich und, wie es scheint, gezielt Verbindung zu gesinnungsverwandten Kreisen in den Niederlanden, Deutschland und wohl auch in England gesucht hat. Daß Samuel Schumacher im März 1695 August Hermann Francke darüber berichtet, ist so gesehen nur ein vorläufiger Schlußpunkt in einer bereits sechsjährigen Entwicklung. Aber damit sind erst die äußern Beziehungen des frühen Berner Pietismus zu verwandten zeitgenössischen - nota bene kirchlichen und separatistischen - Strömungen wenigstens ansatzweise erhellt. Wie stand es aber um die religiöse und theologische Färbung dieses Pietismus? Kann man überhaupt so fragen, das heißt eine geschlossene, einheitliche Bewegung voraussetzen? Die Vielfalt der Einflüsse, von denen bereits die Rede war, lassen einen eher das Gegenteil erwarten. Wir beginnen mit dem Naheliegendsten, mit dem, was Samuel Schumacher über seine eigene religiöse Entwicklung erzählt.

3. Samuel

Schumachers

mystischer

Pietismus

Schumacher hat zweimal über seinen religiösen Werdegang berichtet: In seinem Brief an Francke vom 22. März 1695, unserer bisherigen Hauptquelle, und zwei Jahre vorher in einem ausführlichen, vom 3. April 1693 datierten Brief nach Bremen 37 . Die beiden Dokumente ergänzen einander. Für seine Bekehrung hat Schumacher im Brief an Francke denn auch ausdrücklich auf den nach Bremen gerichteten Brief verwiesen und diesen beigelegt. Der Abfassungsort beider Schreiben ist Lützelflüh, wo Schumacher sich seit September 1691 im Hause Thormann als Vikar und Hauslehrer aufhielt. Die Einladung dahin hatte ihn in Basel erreicht. Schumacher hatte nämlich, als er mit Güldin und Dick aus Holland heimkehrte, in Basel haltgemacht und den Sommer über an der dortigen theologischen Fakultät studiert 38 . Er brauchte sich nicht lange zu überlegen, ob er Georg Thormanns Einladung annehmen sollte, ging damit für ihn doch ein Wunsch in Erfüllung, den er schon lange gehegt hatte. 37 A P 17-39 (Bekehrung H e r r e n Samuel Schumachers, S. S. Min: C a n d : Schreiben an einen G u t e n Freü[n]d in B r ä h m e n abgegangen). Eine Abschrift dieses Briefes auch AFSt D 61, 53-97. 38 A m 7. 4. 1691 hat Schumacher sich in die Basler Matrikel eingetragen: Hans Georg Wackernagel, M a x Triet und Pius M a r r e r , Die Matrikel der Universität Basel IV (1666/671725/26), Basel 1975, 234. - Schumacher, Bericht 24. A P 20. Schumacher an J. H . Gernler, Lützelflüh 30. 9. [1691]: Universitätsbibliothek Basel (abgekürzt: U B B S ) Ms. Ki. Ar. 130a, N r . 175.

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Lützelflüh wurde zum Ort seiner Bekehrung. Diese datiert aber erst vom 18. Dezember 1692. Sie stellt den vorläufigen Abschluß einer langen und bewegten Entwicklung dar, deren erste Anfänge damals bereits zwei Jahre zurücklagen. In Lausanne, im Januar 1690 war's gewesen, als Schumacher er befand sich allein in seinem „Musaeo" und war in's Gebet vertieft - mit einem Mal eine sonderbare Rührung empfand. Es war, als würde seine Seele von einem Gnadenlicht bestrahlt, als würde sein Herz sanft zu Gott emporgezogen. Schumacher „empfand, wie süß und lieblich der Herr sey". War das ein Vorgeschmack himmlischer Freuden? Schumacher war zu Tränen gerührt: „Das wäre wohl eine süße conception, da Gott seine Gnade zuerst in meine Seele, alß den Saamen der Geistlichen Geburth ausgegoßen." 39 Dieser „Geistlichen Geburth" aber gingen schreckliche Wehen voraus. Nach diesen Augenblicken mystischer Ekstase folgte für Schumacher, vor allem während des Winters, den er 1690/91 in Bremen und Amsterdam zubrachte, eine lange Zeit völliger Depression. Statt sich in Gottes Nähe geborgen fühlen zu dürfen, hatte Schumacher Höllenqualen auszustehen. Dabei hatte er selber es denkbar gut im Sinn. Er führte ein intensives geistliches Leben. Nichts kümmerte ihn so sehr wie seine Seligkeit, seine „wahre Bekehrung". Alles, auch seine Lektüre, war auf dieses Ziel ausgerichtet. Die Autoren, die er las - Labadie und die Labadisten, Giovanni Bona und Friedrich Breckling - , sie alle wiesen ihn in dieselbe Richtung, in die der romanisch-quietistischen Mystik und ihrer Theologia passiva: Der Mensch wirkt sein Heil, hieß es da, indem er es gerade nicht wirkt, ja nicht einmal wirken will, sondern indem er sich ganz Gott überläßt. Schumacher faßte den Ertrag seiner diesbezüglichen Studien folgendermaßen zusammen: In diesen Büchern „fand ich eine so herrliche Lection und Direction für mich, dass ich nicht genug meinem Gott verdancken kann und diese Direction bestünde darinne: Der Mensch so noch nicht wiedergebohren aber der von Hertzen begehrte zu derselben [sc. der Wiedergeburt] zugelangen, solle diese Grundt=Regeln vor allen andern beobachten, nehmlich verleugnen alle seine eigene kräffte und eigene Gerechtigkeit, erkennen, er könne nichts, und vermöge nichts, zu diesem grossen Werck; Gott müße den ersten Stein legen zu diesem Gebäud, der Mensch müße ruhen von seinen eigenen Wercken, und Gott durch seinen Geist in ihm würcken laßen; Er solle Gott sein Hertz alß einen leeren Taffei darreichen, daß Er darin sein Ebenbild, das in Adam verblichen wiederumb mahle nach seiner Verheißung . . . " 4 0 Der Weg aber, auf den er so gewiesen wurde, führte Schumacher in eine 39

Schumacher, Bericht lOf. Schumacher, Bericht 15f. - Zum Quietismus Jean de Labadies und der Labadisten vgl. Heinrich Heppe, Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformirten Kirche, namentlich der Niederlande, Leiden 1879 267-283, 328f. und 362f. sowie Ritsehl 1880, 249-255. - Zu Giovanni Bona vgl. Heinrich Heppe, Geschichte der quietistischen Mystik in der katholischen Kirche, Berlin 1875, 59-62. - Zu Friedrich Breckling vgl. immer noch den Artikel von Fr. Nielsen in RE 3 III 367-369 und Martin Schmidt, Pietismus, Stuttgart 1972, 124f. 40

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Krise, die er erst aus der Rückschau als Gottes „Creutz=Schul" verstehen konnte. Er verbohrte sich in den Gedanken, die Sünde gegen den heiligen Geist begangen zu haben, für die es nach Hebr. 6,4-6 keine Gnade mehr gab. Welche Rolle die gewaltige und wohl manchmal auch gewalttätige Bußpredigt des Pastor primarius an St. Martini in Bremen, Theodor Undereycks, an diesem Wendepunkt von Schumachers religiöser Entwicklung gespielt hat, steht dahin. Schumacher hat Undereyck jedenfalls persönlich gekannt, sonst hätte er ihm in seinem Brief nach Bremen nicht seine „Danksagung" vermelden lassen 41 . Sicher ist, daß schwere Skrupel Schumacher plagten, weil er in Holland offenbar abfällig-kritische Bemerkungen zum reformierten Bekenntnis und bezüglich des Wahrheitsgehaltes der evangelischen Botschaft hatte fallen lassen42. So also, warf er sich nun vor, hatte er die Gnade, die ihm in Lausanne zuteil geworden war, verscherzt! Schumacher konnte nicht mehr beten. Er konnte die Bibel nicht mehr aufschlagen, es sei denn, ihm selber zum Gericht. Er konnte das Wort „Ewigkeit" nicht mehr hören, denn es bedeutete, daß es ein Ende der Qual für ihn nicht gab. Er versuchte sich gegen den Schmerz zu immunisieren, versuchte Ja zu sagen zu dem Nichts, auf das er zusteuerte, und er tat das, indem er genoß, was ihm scheinbar noch blieb: „Ergetzte mich also in . . . einem ungebundenen Leben: Sagte mir mein gewüssen, ich solte diß oder das nit thun, dachte ich darauff, Du gwüssen, halt das maul, diß geht dich nichts an, ich bin ein Libertiner, iß und trink nur, dan morgens werden wir doch sterben . . . " 4 3 Schumachers schweres psychisches Leiden kam auch in körperlichen Symptomen wie monatelangem Fieber und massivem Gewichtsverlust zum Ausdruck. Im Oktober 1690 schrieb er dem Vater den Abschiedsbrief - so gewiß war für ihn, daß er sterben müsse. Er versah diesen Brief mit dem Vermerk „Datum in der Holl" 44 . Die Rückkehr nach Amsterdam brachte keine Linderung: „. . . wenn ich zu Amsterdam herumbginge, gedachte ich, es seye seit der Erbauung der Stadt kein armseeligerer Mensch gewesen, der Amsterdam betreten habe alß ich, ja wenn ich etwa durch die Juden=Gaße ging, gedachte ich, ach daß ich doch an dem Jüngsten Tage so glückseelig were, alß die Juden . . . " 45 Die depressive Grundstimmung blieb, auch als Schumacher in die Schweiz zurückkehrte. Er lernte nur, sich besser zu beherrschen, sich nichts anmerken zu lassen. Endlich aber trat unvermutet eine Wendung ein: Da „ginge . . .wider alle 41 Zu Undereycks Bremer Wirksamkeit vgl. Heinrich Heppe 1879, 469-478 (beruht auf Materialien von J. Fr. Jken, RE 3 X X 228-233). Martin Schmidt, Der Pietismus in Nord Westdeutschland: J N K G 70 (1972) 147-178, 173 f. Heiner Faulenbach 1979, 190-234, v.a. 205-220 (dort weitere Literatur). 42 Schumacher, Bericht 38: „Ach ich denke leider noch wol daran, da ich noch die Philosophie studierte, daß ich in meinem hertzen deß frommen Pauli gespottet, da er sagte er habe zu wüßen ihme nichts anders furgenommen alsjesum den gekreützigten." 43 Schumacher, Bericht 19. 44 Schumacher, Bericht 20-22. 45 Schumacher, Bericht 23.

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meine hoffnung der erfreüwliche Morgenstern auff, nachdem Moses die gsatzbuß mit dem gsatz in meinem Hertzen gewürket, und solches mit donnern und blitzen, zitteren und beben gewürket hatte, und ich also mühseelig und beladen war, da kam auch entlich Jesus Christus mit seinem hertzerquickenden Evangelio an . . Z'46 Dieser Advent ereignete sich am 18. Dezember 1692, am Sonntag vor Weihnachten, als man in Lützelflüh, nachdem Georg Thormann über Epheser 3,14—21 gepredigt hatte, das Abendmahl feierte: „Nach vollendeter predig trat ich mit thränendem hertzen zur H. Communion, da ward mein hertz durch ein geistliche aber sehr liebliche Krafft hinauffgetruket gleichsam in das hertz Jesu als in den Rechten Himmlischen Saal, da das geistliche Abendmahl gehalten wird, versenkte mich in seine H. Wunden, vereinigte mich mit meinem Jesu, und aaß und trank geistlicher weiß den Leib und blut Christi . . . " Seit diesem - nach Lausanne - zweiten Erlebnis mystisch-kontemplativer Vereinigung mit dem Göttlichen hatte Schumacher immer wieder erleben dürfen, wie ihn sein „süßester Bräutigamjesus mit . . . hertzzerschmeltzenden küssen seiner Liebe" besuchte, ja wie er selber „gleichsam alle augenblick zu Jesu sich hinauffschwingen, zu ihm in Himmel kommen, und mit ihm eine seel ergetzliche gemeinschafft halten" konnte 47 . Schumacher fühlte sich wiedergeboren, als neuer Mensch, gestärkt durch den heiligen Geist. Er erlebte die Kraft, die auf ihn überging, je nach ihrer Wirkung als erleuchtende, heiligende und als tröstende und erquickende Potenz. Solcher Erleuchtung verdankte er es, daß er die Bibel neu zu verstehen begann. Es kam ihm so vor, als wäre er von seinem himmlischen Lehrmeister Christus unmittelbar in die himmlische Akademie aufgenommen worden. Einen andern Lehrer, eine andere Schule und ein anderes Lehrbuch konnte es für ihn von da an nicht mehr geben. Er las nur noch in der Bibel: „Hinweg nun mit allen schulbücheren, hier ist das hauptbuch aller bücheren!" Nachdem er „einen so großen Didacticum und Lehrer bekommen: den H. Geist in der Schrifft und in meinem Hertzen", schob er alle Dogmatik und Kontroverstheologie beiseite. Das doppelte Zeugnis des heiligen Geistes in der Bibel und im Menschenherzen war für ihn nun das alleinige Prinzip und allumfassende Kompendium wahrer Theologie und wahrer Bildung, denn: „Die H. Schrifft. . . hat alles, was wir verlangen, sie ist das Inventarium aller güteren, die wir in Ewigkeit besitzen werden . . ," 48 46 Bekehrung Herren Samuel Schumachers (AP 17-39, vgl. oben Anm, 37), 23 (zitiert: Bekehrung). 47 Schumacher, Bekehrung 24. - Obwohl Schumacher in seinem Bekehrungsbericht nichts Derartiges erwähnt, wird man doch vermuten dürfen, daß die mystische Abendmahlsauffassung Georg Thormanns bei seinem Erlebnis vom 18. Dezember 1692 eine nicht unwesentliche, vorbereitende Rolle gespielt hat. Überhaupt dürfte der soziale Rahmen der Thormannschen Hausgemeinde für Schumachers Entwicklung von kaum zu überschätzender Bedeutung gewesen sein, vgl. Bericht 31-33. 48 Schumacher, Bekehrung 26.

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Die zweite, heiligende Wirkung des heiligen Geistes begriff Schumacher ganz in den Kategorien quietistischer Mystik. Er schwärmte von seinem himmlischen Seelenbräutigam, von dessen „Besuchungen" mit ihren ekstatischen Begleiterscheinungen. Er führte Buch über das, was er mit seinem Heiland erlebte, und die Grundhaltung, die er ihm gegenüber einnahm, war diejenige tiefster Seelendemut, völliger Hingabe bis hin zur Selbstaufgabe und Selbst-Vernichtung: „. . . aus diesem unserem Nichts würket er alsdan selbst, er schaffet einen Neuwen Himmel und Neuwe Erden, in welchen Gerechtigkeit wohnet" - einen neuen Himmel und eine neue Erde freilich, die nur noch in verinnerlichter Gestalt erscheinen: „. . . wan ich diesen mein Hertzliebsten Jesum hab, so frage ich nichts nach Himmel und Erden: Ich suche nichts als nur dich allein." 49 Schumacher fühlte einen unwiderstehlichen Drang, Gutes zu tun, sein Geld an Arme zu verteilen. War ihm früher das Beten beschwerlich gewesen, so verspürte er nun ein starkes Bedürfnis nach dem „inwendigen und beständigen Gebett in dem innersten Grund des Hertzens" 50 . Daran erkannte er, daß er sich von der Bindung an die „Welt" und an das Kreatürliche zu lösen und ganz frei für Gott zu werden begann. Er gewann Anteil an der göttlichen Natur: „Gut nacht ihr Creaturen, willkom tod, willkom grab, gehabt eüch wol meine freüd und Reichthum: Durch Gottes gnad ligen alle zu meinen fußen, und die Creaturen diser Weldt, diser unbeständige Mond wird von meiner seelen mit füßen getretten: nun bin ich wahrhafftig arm am Geist . . ." 51 Die dritte Wirkung des heiligen Geistes bestand für Schumacher in der „tröstenden und erquickenden Krafft", die von Christus aus- und auf ihn überging, auf ihn, der doch „von jugend an zu keiner freüd geneiget" war 52 . Und nun konnte ausgerechnet er „deütlich beschreiben die viel und große gnaden, die ins gemein Mystici schreiben, Als von dem Göttlichen Jauchzen, de Ebrietate Spirituali, de Gustu, de basiis divinis oder Göttlichen Küßen, de Societate, de igno divino" 53 . Soviel zu Samuel Schumachers Bericht über seine Bekehrung. Karl Weiske hat darin „alle Kennzeichen eines schwärmerischen Pietismus vereinigt" gesehen 54 . In der Tat: Handelt es sich dabei nicht um ein Dokument 49 Schumacher, Bekehrung 35 f. Vgl. dazu Giovanni Bona, Via compendii ad Deum IX, 3, zitiert nach Heppe 1875, 62: „In centro enim animae, quaecunque illa sit, latenter moratur Deus, sed cum discrimine. In quibusdam manet velut extraneus in aliena domo, nihil imperans aut efficiens; in aliis libenter habitat quasi in propria domo, regens illam et gubernans. Talis est anima, in qua nullus iam appetitus, nullae imagines aut formae creaturarum reperiuntur. Huic enim se intime Deus communicat, hanc amplectitur, in ea quiescit eique se ipsum revelat, eam excitando et ad proportionem notitiae divinitatis ipsi concessae eidem aspirat, illam replens Spiritu Sancto eiusque gloria et bonitate. Caeterum haec aspiratio passiva ineffabilis est." 50 Schumacher, Bekehrung 30. 51 Schumacher, Bekehrung 28. 52 Schumacher, Bekehrung 36. 53 Schumacher, Bekehrung 38 f. 54 Karl Weiske 1932, 45.

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exzentrischer, hysterischer Frömmigkeit, um die Geschichte eines zumindest vorübergehend gemütskranken, manisch-depressiven, hypersensiblen Menschen? Schumacher selber würde da nur zum Teil widersprechen, wollte er mit der Schilderung seiner religiösen Erlebnisse doch gerade zeigen, „daß es . . . nit Melancholische einbildung allein gewesen" sei, die ihn derart umgetrieben habe, sondern „hoche anfechtung der seel" 55 . Offenbar gab es in Bremen Menschen, die Schumacher ganz einfach für krank hielten - ein Urteil, das abzugeben ich mir ebensowenig erlauben darf wie eine medizinisch-psychologische Diagnose 56 . Das „Schwärmerische" hingegen, auf das Karl Weiske abhebt, ist nicht eine psychologische, sondern eine - wenn auch problematische - theologische Kategorie. Weiske sieht es in Schumachers schwelgerischer Christusmystik, im fatalen Hang zur Selbstverneinung, in der monomanen Bibelbezogenheit und in der Verachtung aller Wissenschaft. Wie man über das Verdikt des „Schwärmerischen" auch immer denken mag: Fest steht, daß Schumacher über die vom Glauben und von der Vernunft gebotene 55

Schumacher, Bekehrung 18 (Unterstreichung von mir). Dieselbe Beteuerung findet sich auf derselben Seite gleich noch ein zweites Mal. 56 Schumachers Briefe sollten einmal von psychologischer Warte aus untersucht werden. Der ausgedehnte Briefwechsel, den Schumacher während seiner zweiten, vom 28. August 1696 bis zum 28. August(!) 1697 dauernden Depression mit dem Basler Arzt Theodor III. Zwinger geführt hat, dürfte da besonders aufschlußreich sein (UBBS Fr. Gr. Ms. III, 1, N r n . 28-35. Es sind nur Schumachers Briefe und diejenigen seines Bruders Johann Jacob erhalten. Die richtige chronologische Reihenfolge der z. T. undatierten Briefe dürfte die folgende sein: 33, 28, 29, 30, 31, 34, 35, 32). Schumacher klagt in diesen Briefen über massive Verdauungsstörungen und anhaltendes Kältegefühl. Er verliert stark an Gewicht und fühlt sich entsprechend matt. Er furchtet, die Exkremente gingen ins Blut und würden dieses vergiften. Einzelne Glieder versagen den Dienst. O f t ist es Schumacher, als sei sein ganzer Leib voller Würmer. Er beschreibt die körperlichen Symptome peinlich exakt und konsultiert dafür medizinische Handbücher. Der Bruder und der Arzt halten ihn für gemütskrank. Schumachers Reaktion auf diese Diagnose ist aufschlußreich und eindrücklich. Er argwöhnt, „daß Ihr nur alle meine klagten zuschreibt einichen melancholischen impressionen, als wäre alles, was ich klage, chymerisch, wolte Gott es wäre disem also . . . Wan man dan einmal von einem menschen dise opinion geschöpfet hatt, daß er ein melancholicus seye, so werden alsdan so bald alle seine klagten für falsch und lächerlich gehalten; Ich gestehe gern, daß ich traurig seye ob scrupulos conscientiae, dieselbe Traurigkeit aber kan nicht anders als durch die erbarmende gnad Gottes, und durch das blutjesu Christi gestillet werden; Diese geistliche Traurigkeit hatt das geblüt ohn Zweifel verderbt, aber dieselbige Traurigk. rührte anfänglich nit her von dem Leib, sondern von der Seel und dem gewißen; die entstunden aus ganz geistlichen principiis, nicht aus leiblicher Traurigkeit, sie kam nicht her von dem geblüt, sondern aus dem gemüth . . . " (undatierter Brief Nr. 35, Frühjahr 1697). - Vgl. dazu die bemerkenswerten, wenn auch auf einer abenteuerlich schmalen Quellen- und Literaturbasis beruhenden Bemerkungen, die O s kar Pfister in seinem Werk „Das Christentum und die Angst", Ölten 21975, 415-423 aus der Perspektive des Psychoanalytikers zum Phänomen Pietismus macht. Pfister sucht die Ursache für die neurotischen, manisch-depressiven oder schizophrenen Phänomene, die er bei einzelnen Pietisten beobachtet, in „Versagungen, die als Verpönung der Weltlust bei ungenügenden Kompensationen und Überbetonung der Schuldangst einen für das betreffende Individuum unerträglich hohen Grad annehmen und schwere Verdrängungen und unterschwellige Verknotungen bewirken . . . " (422).

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kritische Distanz gegenüber seinen frommen Gefühlen wenigstens vorübergehend nicht mehr verfugte. Angesichts des mancherlei Skurrilen und Fremdartigen, das einem in Schumachers Briefen begegnet, mag sich die Frage aufdrängen, welchen Wert für die historische Erkenntnis die Beschäftigung mit Schumacher denn eigentlich haben solle. Die Antwort daraufsei vorerst in Form einer historischen Feststellung gegeben: 1701 hat Johann Henrich Reitz Schumachers Brief nach Bremen im dritten Teil seiner „Historie der Wiedergebohrnen" veröffentlicht 57 . Reitz hat Schumachers Bekehrungserlebnis offenbar exem57 „Historie Der Wiedergebohrnen / Oder Exempel gottseliger / so bekannt- und benanntals unbekannt- und unbenannter Christen / Männlichen und Weiblichen Geschlechts / In Allerley Ständen / Wie Dieselbe erst von G O T T gezogen und bekehret / und nach vielen Kämpffen und Aengsten / durch GOttes Geist und Wort / zum Glauben und Ruh ihres Gewissens gebracht seynd", 5. Auflage des ersten und 3. Auflage des 3. Teils, Berleburg 1724, 184—201 (15. Historie). - In einem kurzen Nachwort trägt Reitz Schumachers Biographie seit seiner Bekehrung in groben Zügen nach. Er weiß um die zweite Depression, die Schumacher durchzustehen hatte, er weiß auch darum, daß Schumacher vor der „Commission" zu erscheinen hatte - so berühmt-berüchtigt war die Berner Religionskommission, daß sie in einem in Berleburg erschienenen und immerhin weit verbreiteten Buch gar nicht näher vorgestellt zu werden brauchte! Schließlich erwähnt Reitz, daß Schumacher in „Melchenau" nach wie vor im Amt und weitherum bekannt sei für seine packende Art zu predigen und seine hohe „Gnad zu bäten", (ebd., 201 f.) Von Schumachers Tod im Jahr 1701, als auch der 3. Teil der „Historie" erstmals erschien, weiß Reitz noch nichts.

Wie ist Reitz zu seinen Angaben, wie zum Manuskript gelangt? Er wird es entweder aus Bremen oder von einem der nach dem Pietistenprozeß vertriebenen Berner erhalten haben. Sicher ist, daß ihm ein Berner zusätzliche Informationen über Schumacher geliefert hat und ihm bei der Übersetzung typischer Helvetismen wie „nichts dergleichen tun" = „es niemandem sagen" behilflich war. Wie noch zu zeigen sein wird, kommen dafür in erster Linie Samuel König, Jakob Knecht und Karl Anton Püntiner in Frage, mit denen Reitz 1699/1700 in Frankfurt und Berleburg zusammengetroffen ist. Schumachers Brief von 1693 bestätigt das dreigliedrige Schema der Bekehrungsberichte, wie es Rudolf Mohr in seinen gründlichen Untersuchungen zu Reitz, insbesondere zum 1. Teil von dessen „Historie", herausgearbeitet hat. (Rudolf Mohr, Ein zu Unrecht vergessener Pietist: Johann Henrich Reitz (1655-1720). Leben und Werk, Korrekturen und Ergänzungen der Biographie: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes (abgekürzt: MEKGR) 22 (1973) 46-109. Rudolf Mohr, Über die „Historie der Wiedergebohrnen" von Johann Henrich Reitz: MEKGR 23 (1974) 56-104). Auch bei ihm folgt auf die (durch ein früheres mystisches Entrückungserlebnis noch verstärkte) Phase der Anfechtung die Befreiung im Akt der Bekehrung, mit der ein neues Leben in der Heiligung beginnt, (vgl. Mohr 1974, 8087) Da wir in Schumachers Brief von 1693 die Vorlege zur entsprechenden „Historie" bei Reitz besitzen, ergibt sich zusätzlich zu den bei Reitz zu beobachtenden theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Eigentümlichkeiten, die Mohr 1974, 95-102 schön dargestellt hat, die Möglichkeit, anhand von „redaktionsgeschichtlichen" Beobachtungen Rückschlüsse darauf zu ziehen, wie Reitz die ihm vorliegenden Dokumente „mit seinen Tendenzen eingefärbt" (Mohr 1974, 77) hat. Ein Vergleich von Schumachers Vorlage mit Reitzens 15. „Historie" ergibt, daß es jenem mit diesem nicht viel anders oder eigentlich noch schlechter ergangen ist als einem seiner Nachfolger im Lützelflüher Pfarrhaus, einem gewissen Jeremias Gotthelf, mit seinem Berliner Verleger. Reitz hat nämlich Schumachers Brief nicht nur um den barocken und gefühlsmäßigen Überschwang einigermaßen verkürzt, nicht nur von Helvetismen, von lateinischen und französischen Zitaten gereinigt, sondern er hat das Manuskript auch in theologischer Hinsicht nicht

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plarische Bedeutung beigemessen und ihn deshalb in die Reihe seiner Zeugen aufgenommen - „exemplarisch" hier nicht nur im Sinne von „beispielhaft", sondern auch im Sinne von „in gewisser Weise repräsentativ" verstanden. Ich sehe in der Tatsache der Publikation von Schumachers Brief nach Bremen durch Reitz ein gewichtiges Indiz für den historischen Sachverhalt, daß das, was Schumacher erlebt hat, auch für viele seiner Zeitgenossen bezeichnend war, daß die Angst, die er ausstand und die ekstatischen Freuden, in die er sich hineinsteigerte, nicht bloß individuelle Regungen, sondern Ausdruck einer allgemeiner verbreiteten seelischen Grundstimmung waren. Das aber gilt es erst noch zu erweisen - erklären lassen wird sich das Phänomen, das in Christoph Lutz' Genfer Krise zum erstenmal aufgetaucht und nun in der Gestalt von Samuel Schumacher anschaulich geworden ist, wohl nur beschränkt. Doch ziehen wir vorerst das Fazit aus Schumachers Briefen: 1. Das im Leben eines Christen entscheidende Erlebnis ist für Schumacher die Wiedergeburt. Er versteht sie in der Weise der Mystik als Vereinigung der ihrer Sündhaftigkeit sich bewußten Seele mit ihrem Bräutigam Christus respektive als Advent Christi in der Seele. Die Wiedergeburt markiert den Beginn eines neuen Lebens im Stand der Erleuchtung, der Heiligung und himmlischer Freude. Schumachers Theologie hat einen im Sinne der Christusmystik christozentrischen und einen biblizistischen Grundzug. 2. In theologischer Hinsicht ist Schumachers Position insofern problematisch, als darin die subjektive Christusbeziehung den Welt- und N a turbezug des Frommen nahezu absorbiert und das subjektive religiöse Erlebnis einen eschatologisch-kritischen Vorbehalt kaum mehr zuläßt. 3. Den vorwiegend kontemplativen Charakter seines religiösen Erlebens und Denkens verdankt Schumacher wohl in erster Linie dem weitverzweigten Traditionsstrom der quietistischen Mystik und seinem Mentor Georg Thormann 5 8 . Dieser Grundhaltung entspricht bei ihm keinerlei separatistische Tendenz. unwesentlich zurechtgestutzt: So hat er mit dem Namen des Teufels auch denjenigen Christi bis auf einen unscheinbaren Restbestand getilgt und den bei Schumacher nicht seltenen enthusiastischen Realis in einen nüchternen Konditionalis zurückverwandelt. Die nähere Begründung und Ausfuhrung dessen, was hier nur gerade angedeutet wurde, lohnte eine eigene Studie. Hier sei nur ein Beispiel für die zuletzt erwähnte Beobachtung angeführt: Wo Schumacher, Bekehrung 28 schreibt: wie willig war ich doch meinem Jesu zu folgen, als dise stim in meinem Hertzen erschallete, sihe der Breütigam komt, gehe ihm entgegen . . .", da liest man bei Reitz 194: „ O wie gern wollte ich nun meinem Heyland folgen / wann die Stimm erschallen würde: Siehe / der Bräutigam kommt!" 58 Zahlreiche Einzelzüge an Schumachers mystischem Pietismus erinnern einen an Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum", zum Beispiel: Das Leersein der Seele als Voraussetzung für das Wirken Gottes, die Abwendung von allem Kreatürlichen, die Verzweiflung in der Anfechtung als Durchgangspunkt für die unio mystica usw. Da aber diese Anschauungen nicht für Arndt allein spezifisch sind und überdies Schumacher Arndt nie erwähnt, wäre es voreilig, einen Einfluß Arndts auf Schumacher behaupten zu wollen, so sehr ein solcher auch im Bereich des Möglichen liegt. Vgl. Wilhelm Koepp, Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum, Berlin 1912, 144-160. Erhard Peschke, Die Bedeutung der Mystik

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4. Wie auch immer Schumachers Persönlichkeitsstruktur, die in seinen Briefen an A. H. Francke und nach Bremen zum Ausdruck kommt, unter psychologischem Gesichtswinkel zu charakterisieren ist, besteht die Vermutung, daß es sich bei seinen religiösen Erfahrungen um den recht typischen Ausdruck einer in der damaligen Zeit auch sonst verbreiteten seelischen Grundstimmung handelt.

4. Die Entstehung

einer pietistischen

Bewegung

Samuel Schumacher konnte und wollte das, was er erfahren hatte, nicht für sich behalten. Er gab es in seinen Predigten weiter und im Juni 1693, nachdem er auf diese Weise bekannt geworden war, begann er auf Bauernhöfen im Räume Lützelflüh private Versammlungen durchzuführen. Dabei scheint der Anstoß dazu nicht von ihm, sondern von seinen Predigthörern ausgegangen zu sein. 40, 50, ja 90 Personen kamen jeweils zusammen, um sich von Schumacher „die Lehr des Glaubens und wie dann dieser Glaube durch die Liebe thätig sey" erklären und den „großen Verfall des Christenthums" vor Augen fuhren zu lassen. Doch nicht nur Schumacher sprach, man erbaute sich gegenseitig. Das Gefühl inniger Verbundenheit im einen Herrn suchte und fand Ausdrucksformen, die im Vergleich zum gottesdienstlichen Leben in der Kirche neu waren: Man betete auf den Knien, viele weinten vor Erschütterung. Einige bezeugten, „daß sie in einer einigen solchen Zusammenkunfft mehr proficiret hätten, alß offt in 1000 Predigten". Es handelte sich dabei eben nicht mehr um die üblichen Predigtgottesdienste, sondern um eigentliche Erweckungsversammlungen. Schumachers Kollegen in den Nachbargemeinden sahen diese nicht eben gern. Ende 1694 erstattete einer von ihnen Anzeige beim Landvogt. Von da an drohte Schumacher, wenn er sich nicht still verhielt, die Verhaftung, denn man beurteilte das, was er veranstaltete, als „Winkel-Predigten, Wiedertäufferische Versandungen" 59 . „Wiedertäufferische Versandungen": Das war, in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts ausgesprochen, ein belastendes Stichwort 60 . Z w a r g e -

fiir die Bekehrung August Hermann Franckes: Theologische Literaturzeitung 91 (1966), Sp. 881-892 (wieder abgedruckt: Zur neuern Pietismusforschung 294-316). Edmund Weber, Johann Arndts vier Bücher vom wahren Christentum als Beitrag zur protestantischen Irenik des 17. Jahrhunderts. Eine quellenkritische Untersuchung, Marburg 1969. 59 Schumacher, Bericht 29f. - Noch im Dezember 1692, unmittelbar nach seiner Bekehrung also, reiste Schumacher in seine Vaterstadt Zofingen. Er fand mit dem, was er zu sagen hatte, auch dort Anklang. Ob Johann Altmann, der 1692 von der Berner Spitalkirche als Helfer nach Zofingen versetzt wurde und dort später als Vertreter des Pietismus bekannt war, mit Schumacher in Verbindung stand? 60 Der Bericht eines Unbekannten (ZB ZH Ms J 256, Nr. 29), der sich mit Schumachers eigenem Bericht deckt, nennt bezeichnenderweise auch die Anklage der „Enthusiasterey".

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noß das Täufertum damals gerade unter der Landbevölkerung große Sympathien, aber eben damals setzte auch eine neue und außerordentlich harte staatliche Verfolgungswelle gegen die Täufer ein. Ein schönes Zeugnis für die Achtung, welche die Täufer ihres vorbildlichen Lebenswandels wegen damals genossen, ist ein Brief, den Schumacher am 30. 9. 1691, kurz nach seiner Ankunft in Lützelflüh geschrieben hat. Danach fand Schumacher Georg Thormann eben damit beschäftigt, einen Traktat über das Täufertum zu verfassen. Die Täufer nämlich hätten in der Umgebung derart an Boden gewonnen, daß ein Pfarrer der Nachbarschaft befürchten müsse, er habe bald keine Predigthörer mehr. Der Berner Rat, berichtet Schumacher weiter, habe deshalb ein neues Mandat erlassen, nach dem alle renitenten Täufer verbannt werden sollten 61 . Thormann habe daraufhin für diese interveniert und erreichen können, daß der Rat das Mandat nicht gleich zur Anwendung brachte. Thormann versuche nun, den Täufern in seinem Buch auf eine neue Weise zu begegnen. Er komme ihnen darin so weit als möglich entgegen, kritisiere also, was aufseiten der Staatskirche zu kritisieren sei, rede ihnen aber da ins Gewissen, wo seiner Meinung nach sie im Unrecht seien. Schumacher glaubt zuversichtlich, daß Thormanns Bemühungen Erfolg beschieden sein werde, da die Täufer die geistliche Autorität und persönliche Integrität des Lützelflüher Pfarrherrn anerkennen 62 . Georg Thormann war in der Tat nicht nur ein Wohltäter der unter Louis XIV. verfolgten Hugenotten, sondern auch ein Anwalt des im Staate Bern unterdrückten Täufertums. Das Buch, an dem er im Herbst 1691 arbeitete, ist 1693 unter dem Titel „Probier-Stein. Oder Schrifftmässige / und auß dem wahren innerlichen Christenthumb Hargenommene / Gewissenhaffte Prüfung Deß Täufferthums" erschienen. Der Titel gibt die Stellung und die Absicht des Autors exakt wieder: Das Buch ist ein „Probier-Stein" 63 , eine kritische Auseinandersetzung mit dem Täufertum mit dem Zweck, die Abtrünnigen der Kirche zurückzugewinnen. Thormann führt diese Auseinandersetzung aber nicht vom Standpunkt einer unkritischen Kirchlichkeit, sondern von demjenigen des „wahren innerlichen Christenthumbs" aus, das heißt das Buch ist bei aller an die Adresse der Täufer gerichteten Argumenta61 In Frage kommen dafür die beiden Mandate vom 16. März und vom 20. Juli 1691. Ernst Müller, Geschichte der Bernischen Täufer, Frauenfeld 1895, 145. Samuel H. Geiser, Die Taufgesinnten Gemeinden im Rahmen der allgemeinen Kirchengeschichte, Courgenay 21971, 439 (Geiser spricht allerdings von einem Mandat vom 10. Juli 1691!). 62 Samuel Schumacher an J. H. Gernler, 30. 9. 1691 (UB BS Ms. Ki. Ar. 130a, Nr. 175): novo methodo eos aggreditur in hoc libro, placadissime eis concedens, quae ullo modo concedi possunt; culpans ea quae in nostro Coetu [latu?] . . . reprehendenda sunt, quae vero sinistre ab iis intelliguntur ea ad conscientiam demonstrat." 63 „Prüfstein [oder Probierstein] ist ursprünglich ,ein schwarzer Stein, dessen sich die Goldund Silberarbeiter bedienen, die Feinheit des Silbers und Goldes vermittelst des Striches darauf zu probieren, und welcher eigentlich eine harte feinkörnige Schieferart ist'." (Trübners Deutsches Wörterbuch V, Berlin 1954, 219)

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tion ein Appell an die Verantwortlichen in Staat und Kirche, doch den Mut zu durchgreifenden Reformen aufzubringen. Dahinter steckt die Überzeugung, das Täufertum spiegle, zum Teil wenigstens, wider, was die Kirche versäumt habe. „Einmahl sollen alle Fürgesetzte in beyden Ständten / billich darbey Anlaß nehmen / in sich selbsten zu gehen und wohl zu bedencken / ob sie nicht vielleicht an diesem Übel auch etwelcher Massen die Ursach dörften seyn?", fragt Thormann. Er fordert die Obrigkeit dazu auf, gegen „Sünd und Laster in dem Leben" ebenso streng vorzugehen wie gegen „Irrthumb in der Lehr und Trennung in der Kirch". Damit deutet er an, daß die rigorose Strenge, die man gegen die ein untadeliges Leben fuhrenden Täufer anwandte, in seinen Augen in keinem Verhältnis zu der legeren Art stand, mit der man oft geistlichen und weltlichen Bonvivants durch die Finger sah. Er verlangt denn auch „gottselige", das heißt fromme, gerechte und wohltätige Amtleute und Richter, fordert, daß bei Pfrundbesetzungen nicht auf das Herkommen, sondern in erster Linie auf die Fähigkeiten der Kandidaten geachtet werde, und ermahnt die Obrigkeit dazu, mit Eid und Krieg Zurückhaltung zu üben. Der eindrückliche Appell, den Thormann an seine Amtsbrüder richtet, gipfelt in der Hoffnung, daß Gottes Geist, „der Geist deß Lebens wieder in uns komme / und der Athem auß dem Mund deß Allmächtigen GOttes uns wieder eingeiste / daß wir wieder lebendig werden / und eine seelige Aufferstehung deß Predig-Ampts geschehe von den Todten . . . " Die Pfarrer haben ein A m t nicht als solche, „die übers Volck herrschen sollen / sondern als Knechte und Mit-Brüder: auch nicht umb schändlichen Gewinns willen", noch weniger als „Zuchtmeister", sondern als „wahre Vätter", die nicht mit „klugen reden menschlicher Weißheit", sondern „in Beweisung deß Geistes und der Krafft" zu überzeugen vermögen. Der Obrigkeit gegenüber sollen sie eine Stellung der Art einnehmen, „das man nicht sagen müsse: vor Zeiten haben die Könige müssen förchten die Propheten / jetzt aber im Widerspiel förchten sich die Propheten vor den Königen". Die angehenden Theologen fordert Thormann dazu auf, sich zu Jesus in die Schule, als „Abcdarii" in die „seelige Academiam coelestem" zu begeben. Sie sollen ihr Herz dem heiligen Geist als eine „tabula rasa" darbieten, damit dieser dann „einschreibe was er will" und ihnen „himmlische Weißheit gebe und Verstand auß der Höhe". Thormann empfiehlt ihnen die Bibel als das „große Haupt-Buch" zu ganz besonders fleißigem Studium. Das sind die Grundzüge des „wahren innerlichen Christenthumbs", mit dem Georg Thormann die Täufer zu überzeugen hoffte 6 4 . In der Analyse der 6 4 D i e Zitate stammen aus der unpaginierten, 50 Seiten langen Einleitung, konzipiert als „demütigste A n r e d " an den regierenden und an den geistlichen Stand. Samuel H . Geiser 1971, 4 4 0 - 4 4 4 , der T h o r m a n n s „Probier-Stein" im ganzen negativ beurteilt, hat dieses im V o r w o r t gesetzte Vorzeichen, unter dem alle weiteren, auch T h o r m a n n s kritischen Äußerungen zum T ä u f e r t u m , stehen, m. E . zu wenig beachtet. Auch wenn bei T h o r m a n n die gängigen A r g u mente gegen die Täufer i m m e r wieder begegnen, so liegt bei ihm doch eine grundsätzlich neue

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kirchlichen Situation und im Katalog der Reformmaßnahmen befindet er sich dabei in wesentlicher Übereinstimmung mit dem bekannten Täufermemorial, in dem die Stadtberner Geistlichkeit im selben Jahr 1693 eine „ernstmeinende, eiferige und aufrichtige Reformation in allen Ständen" gefordert hat 65 . Darauf ist hier nicht näher einzugehen. Nur ein Detail sei herausgegriffen: Davon, daß sich das Täufertum im Vormarsch befand, spricht auch dieses Dokument. Für den offenbar recht großen Kreis von Zeitgenossen, die mit dem Täufertum sympathisierten, hatte man sogar einen Namen. Man nannte sie „Halbtäufer und dergleichen", „Halbtäufer und täuferisch Gesinnte". Gemeint waren damit alle diejenigen, die dem offiziellen Gottesdienst fernblieben, aber noch kein Täufergelübde abgelegt hatten, wohl auch alle diejenigen, die den Gottesdienst zwar noch besuchten, aber eine „Zuneigung zu dem Täuferthum" gefaßt hatten. In dieser Situation zielten die Bestrebungen Georg Thormanns und der Verfasser des Täufermemorials darauf ab, vor allem diese noch Unentschiedenen mittels einer tiefgehenden Reform der Kirche v o m Übertritt abzuhalten und damit in zweiter Linie auch die eigentlichen Täufer zurückzugewinnen. Berns offizielle Politik gegenüber den Täufern ging damals freilich gerade in die entgegengesetzte Richtung. Sie bestand in einer Justiz- und Polizeipraxis, deren Ziele die Eliminierung der Täufer und die Abschreckung aller Sympathisanten waren. Blitzlichtartig beleuchtet das Memorial den Hintergrund dieser ungewöhnlich aggressiven Haltung, wenn es von den ,,gegenwärtige[n] mißliche[n] Conjuncturen der Zeit" spricht, „da der hohe Gott auß gerechten Ursachen bald alle Eggen der wehrten Christenheit mit dem Schwert und Kriegsflammen überzogen . . ." 6 6 Angespielt ist da einerseits auf die akute Bedrohung des Abendlandes durch die Türken, andererseits auf die äußerst instabile Lage, die in Westeuropa selber entstanden war, seitdem im pfälzischen Erbfolgekrieg eine holländisch-englische Koalition den Hegemonieansprüchen Frankreichs sich entgegenstemmte. Auf beiden Seiten dieser Front standen bernische Soldtruppen im Einsatz. Was, wenn Bern in den Sog des Krieges mit hineingerissen würde? In dieser Situation machte die konsequente Wehrdienstverweigerung der Täufer die Verantwortlichen im Staate Bern nervös. Sie sahen in den Kreisen der Täufer und ihrer Sympathisanten offenbar eine innere Front, gegen Akzentuierung vor, auf die man allerdings nur dann aufmerksam wird, wenn man die Schrift vor dem zeitgenössischen Hintergrund liest. 6 5 Der T e x t des Memorials wurde 1841 von Daniel J a g g i unvollständig herausgegeben: Beiträge zur Geschichte der Schweizerisch-reformirten Kirche; zunächst derjenigen des K a n tons Bern, hg. von Friedrich Trechsel, Erstes Heft 1841, 133-144. Vgl. Ernst Müller 1895, 145154, ferner Hadorn 1901, 18-26 und Samuel H. Geiser 1971, 438 f. Es wäre lohnend, einmal der Frage nachzugehen, ob Thormanns „Probier-Stein" für die Verfasser des Täufermemorials von Bedeutung gewesen ist. 66

Ernst Müller 1895, 157.

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die man sich nur mit äußerster Härte zu helfen wußte. Das Beispiel der Niederlande, die in dieser Beziehung andere Wege gingen, färbte nicht ab 67 . Der bloße Verdacht also, es handle sich dabei um Versammlungen von Täufern, genügte, um Schumacher die Durchfuhrung seiner religiösen Zusammenkünfte zu verbieten. Hinzu kam der belastende Umstand, daß Schumacher dabei über die Grenzen „seiner" Kirchgemeinde hinausgriff, also das Parochialprinzip durchbrach. Er mußte sich dem Verbot beugen, fand allerdings auch gleich Mittel und Wege, wie der Kontakt mit seinen Leuten aufrechterhalten werden konnte. Diese besuchten ihn in kleinen Grüppchen von drei, vier oder mehr Personen im Pfarrhaus von Lützelflüh - eine, wie wir sehen werden, oft angewandte Auskunft der Pietisten, um das Verbot religiöser Privatversammlungen zu umgehen. Wie standen Täufertum und Pietismus zueinander? Wir versuchen zu formulieren, was das Beispiel Lützelflüh zu dieser Frage hergibt. 1. Die Frage setzt eine klare Umschreibung dessen, was unter „Täufertum" und unter „Pietismus" zu verstehen sei, voraus. Dies wiederum würde bedingen, daß wir über die von Schumacher veranstalteten Versammlungen besser im Bilde wären, als wir es tatsächlich sind. Immerhin wird man mit Sicherheit sagen können, daß es sich dabei um eigentliche Erweckungsversammlungen gehandelt hat: Die Teilnehmer, von Schumachers Verkündigung getroffen, durchlebten die Angst des Verlorenseins und erlebten die Freude der Erlösungsgewißheit, sie schlössen sich zu einer engen Bruderund Schwesternschaft zusammen und gelobten, ein neues Leben in der Heiligung zu beginnen. Als Erweckungsbewegung stand dieser Pietismus dem Täufertum zweifellos nahe, so nahe wohl, daß die Zeitgenossen Mühe haben mochten, die Phänomene in dieser Beziehung zu unterscheiden. Dennoch steht fest, daß dieser Pietismus nicht aus dem Täufertum hervorgegangen ist, denn er verstand sich als mrzerkirchliche Reformbewegung und nährte sich aus einer zwar neuartigen, aber kirchlich sein wollenden Frömmigkeit. 2. Anhand des Beispieles „Lützelflüh" läßt sich aber mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit zeigen, daß der „Pietismus" von der durch ein starres Gegenüber von Staatskirche und Täufertum gekennzeichneten Situation vorerst profitiert hat: Für die offenbar recht große Zahl jener Christen, die sich der Staatskirche nicht zuletzt wegen deren harter Täuferpolitik entfremdet hatten und dem Täufertum zuneigten, scheint er die Bedeutung eines dritten, kirchlichen, zugleich aber „wahr christlichen" Weges gehabt zu haben. In Lützelflüh mag es vorübergehend so ausgesehen haben, als sei der Pietismus die Chance der Staatskirche, ihre angeschlagene Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen. 3. Das war aber nur in der Optik derjenigen so, die sich der Staatskirche ohnehin bereits mehr oder weniger entfremdet hatten. In den Augen der 67

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Christoph von Steiger 1954, 37 f.

Vertreter des herrschenden staatskirchlichen Systems mußte die Affinität des Pietismus zum Täufertum einen negativen Akzent erhalten. Konnte man den Frommen um Thormann und Schumacher auch nicht Separation zur Last legen, so doch, denkt man an die Durchlöcherung des Parochialprinzips und das „täuferische" Gebet auf den Knien, in vielen Fällen Übertretung der geltenden kirchlichen Ordnung. So gesehen stellte sich der Pietismus nicht als dritter Weg, sondern als eine verkappte Form von Täufertum dar, was bedeutet, daß er demselben theologischen und rechtlichen Verdikt unterliegen mußte wie dieses. Diese Beobachtungen finden eine auffallende Bestätigung, wenn man die südlich von Lützelflüh und nord-östlich von Bern liegende Region, das heißt die zum Berner Kapitel gehörenden Kirchgemeinden Bolligen, Stettlen, Vechigen, Worb, Schlosswil und Biglen ins Auge faßt. Anläßlich der Kapitelsversammlung vom 3. Juni 1696 stellte der zuständige Visitator bemängelnd fest, er habe in Vechigen und Biglen halbleere Kirchen vorgefunden. Auf die Frage, ob das kirchliche Desinteresse am Ende damit zusammenhänge, daß der Ortspfarrer die obrigkeitlichen Täufermandate pflichtbewußt durchzusetzen versuche, habe man ihm in Biglen lächelnd zu verstehen gegeben, wer die Täufer behellige, müsse sich darüber im Klaren sein, daß er „das gantze Land angreiffe". Das war, wie andere, am Kapitel anwesende Kollegen bekräftigten, eine in der Bevölkerung verbreitete Haltung. Der Pfarrerstand, sagten sie, mache sich mit der Handhabung der Täufermandate und anderer obrigkeitlicher Erlasse mehr und mehr verhaßt. Statt am O r t besuchten ihre Gemeindeglieder scharenweise den Gottesdienst in Stettlen. Es k o m m e vor, daß man sich bereits am Samstag auf den Weg dorthin begebe und unterwegs sein „täuffer-wesen" treibe, „so daß under der hand das Täufferthum täglich also zunemme". Das alles wurde mit einem Seitenblick auf den Prädikanten von Stettlen gesagt. Dieser meinte lakonisch, eigentlich sollte doch in der Art und Weise, wie ein Weibel und wie ein Pfarrer den Täufermandaten nachlebten, ein großer Unterschied bestehen 68 . Natürlich war er ebensowenig ein Täufer wie die Scharen, die seine Gottesdienste besuchten. Bei dem „Täuferwesen", dessen man diese bezichtigte, wird es sich vielmehr um ähnliche Versammlungen gehandelt haben, wie Schumacher sie in Lützelflüh und Umgebung durchgeführt hatte. Im Unterschied zu diesem hat sich aber der Prädikant von Stettlen daran nicht beteiligt. Ansonsten war er wie Schumacher „Pietist" und zudem dessen Freund. Er hieß Samuel Güldin. Güldin hatte ein Jahr nach seiner Rückkehr aus den Niederlanden und England die kleine Gemeinde Stettlen zugesprochen erhalten. Das war im August 1692. Kurz danach wird er sich verheiratet haben. Seine Frau Maria Magdalena, eine geborene Malacrida, war die Schwester von Elisäus Malacrida. Dieser selber fungierte als Pate, als das junge Paar am 10. November 68

Acta Capituli B e m e n s i s (abgekürzt: A C B ) 3. 6. 1696 (StAB B.III. 151a).

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1693 einen Sohn namens Samuel taufen ließ, und mit Malacrida teilten sich dessen Schwester Johanna Katharina und Samuel Schumacher in dieses Amt. Das alles wären belanglose Details, wenn sie nicht den persönlichen Zusammenhalt, die Gemeinschaft der Gleichgesinnten in schöner Weise illustrieren würden 6 9 . Güldin hatte zu diesem Zeitpunkt wie Schumacher eine schwere religiöse Krise hinter sich. Er hatte sich eingestehen müssen, daß er bei „aller . . . buchstäblichen Erkanntniß und Theologischen Wissenschaft dennoch keinen Glauben" hatte. Er war bereits entschlossen, sein Amt niederzulegen, als am 4. August 1693 „das Lichtlein des Glaubens" in ihm aufging und er gewahr wurde, „was der Glaube an JEsum Christum ist / wie er den Gottlosen gerechtspricht / . . . wie der Glaube in uns müsse gebohren werden / und was der Wahn- und historische Mund-Glaube wäre" 70 . Wie Samuel Schumacher berichtet, hat ein nicht näher bezeichneter Traktat Georg Thormanns, „da er die Materie vom Glauben sehr deutlich verhandelt funde", Güldin bei der Überwindung dieser Krise viel geholfen eine Nachricht, welche Thormanns Bedeutung für die Anfänge des bernischen Pietismus einmal mehr unterstreicht. Weiter weiß Schumacher zu berichten, Güldin sei aus dieser Zeit schwerer Anfechtung wie verwandelt hervorgegangen: Während früher „von Natur sein Vitium praedominans ein unerträglicher Hochmuth" gewesen sei, so befinde er sich nun „in einer grossen Demuth", das heißt er erachte sich trotz großer Gelehrsamkeit und exemplarischer Frömmigkeit als des Pfarrerberufs unwürdig. Das hat Güldin freilich nicht daran gehindert, seine Amtspflichten ernster zu nehmen als wohl die meisten seiner Kollegen. Seine Art der Amtsführung zeichnete sich nach Schumacher durch zweierlei aus: Erstens durch eine intensive Seelsorge und zweitens durch eine neue, aufrüttelnde Form der Verkündigung. Güldin ging, um den „Seelen Zustand" seiner „Zuhörer" zu „sondiren", von Haus zu Haus, ja vor Abendmahlssonntagen besuchte er jeweils die ganze Gemeinde, um hier vom Besuch eher abzuraten, dort aber dazu zu ermuntern. Daß er damit nicht immer auf Verständnis stieß, zeigt Schumachers Bemerkung, es handle sich dabei um eine „zimlich unwehrte Arbeit" 71 . Güldin nahm sie auf sich, weil in seinen Augen mit dem Abendmahl Mißbrauch getrieben wurde, indem man seinen Besuch geradezu zur Bür69

B u r g e r - T a u f r o d e l XI. (1689-1711) 164 (StAB B. III. 527). - Das v o n Trechsel 1882, 57 e r w ä h n t e D a t u m v o n Güldins Eheschließung mit M . M . Malacrida (1698) ist zu korrigieren. Güldins A m t s v o r g ä n g e r in Stettlen w a r David Friedrich Fasnacht, dessen T o c h t e r Maria Salome - „eine zu mystischer F r ö m m i g k e i t geneigte Frau" ( H a d o r n 1901, 263) - die M u t t e r des b e r ü h m t e n Samuel Lutz g e w o r d e n ist. Hat Fasnacht d e m Pietismus in Stettlen auf eine ähnliche Weise den W e g bereitet wie G e o r g T h o r m a n n in Lützelflüh? P a u l - A n t o n Nielson, der dieser Frage, angeregt durch interessante B e o b a c h t u n g e n in den T a u f r ö d e l n von Stettlen, weiter nachgehen will, v e r m u t e t , es sei k a u m Zufall gewesen, daß ausgerechnet Samuel Güldin Fasnachts N a c h f o l g e r g e w o r d e n sei. 70 71

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Apologie I, 16-18. Schumacher, Bericht 39f.

gerpflicht erklärt hatte. Demgegenüber wollte er die religiöse Bedeutung der Abendmahlsfeier neu betonen und seiner Gemeinde vor Augen halten eine Intention, die einen bei einem Theologen, der von Georg Thormann gelernt und überdies immer Wert daraufgelegt hat, er habe seine entscheidende Wende „zu Genf / in sede Calvini" 72 erlebt, nicht weiter zu verwundern braucht. O b Güldin wohl wußte, daß er damit aber an die Grundlagen des Staatskirchentums rührte? Das Ideal der reinen Gemeindejedenfalls, das ihn leiten mochte, stand in größter Spannung zur herrschenden kirchlichen Wirklichkeit in bernischen Landen. Aber das sollte ja anders werden. Befand man sich nicht an der Schwelle zu einer neuen Reformation? Erlebte man es nicht gerade in Stettlen Sonntag für Sonntag, wie das alte Evangelium neu zu sprechen begann und die Menschen zu packen, zu treffen vermochte? Güldin wäre der letzte gewesen, der solches seiner Predigtweise zugeschrieben hätte. Dennoch hatte, was in seiner Kirche geschah, auch damit zu tun. Güldin konzentrierte sich in seinen Predigten auf die alte reformatorische Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben an Jesus Christus. Statt in altbekannter Manier wochenlang an einem Vers kleben zu bleiben, legte er in zügiger Weise ganze biblische Bücher fortlaufend aus, wobei er sich im Interesse größerer Verständlichkeit allen gelehrten und kunstvollen Zierats entschlug und vor einer volkstümlichen, auch den Dialekt benützenden Ausdrucksweise nicht zurückschreckte. Die Wirkung blieb, wie wir bereits gesehen haben, nicht aus. Nicht nur aus den Nachbargemeinden strömten die Menschen nach Stettlen zum Gottesdienst, selbst aus Bern trafen „gantze gutschen voll Stattleuth" ein 73 . Ein schönes Zeugnis für diesen Zustrom, aber auch für die Wirkung von Samuel Güldins Predigt, ist der autobiographische Abriß Margret Zeerleders, einer geborenen Lutz und Base des berühmten Pietisten Samuel Lutz 74 . Sie erzählt, wie man in jenen Jahren - sie war damals noch unverheiratet„hier und da von neuen Erweckungen" gehört habe, und wie „von vielen Orten" Gleichgesinnte zu ihr kamen, mit denen sie „offt halbe Nächte mit großer Freudigkeit des Hertzens von göttlichen Dingen redete" - ein treffliches Beispiel für das, was man auf der Gegenseite als „Täuffer-wesen" bezeichnete. Daß solchen Zusammenkünften wenigstens eine Tendenz zur Separation innewohnte, stellt die Autorin gar nicht in Abrede, ist sie doch der Meinung, die „erleuchteten Kinder GOttes" sollten „allen Umgang mit eitlen Welt-Menschen meiden". Über ihre erste Begegnung mit Güldin aber 72

Apologie 1,7. A C B 3. 6. 1696. 74 [Margret Zeerleder-Lutz (1674-1750,] Glückselige Freyheit, Entgegen gestellt Der beschwerlichen Dienstbarkeit. Oder: Einfältige Hertzens- U n d Erfahrungs-Lehr, Einer Durch die Wahrheit frey gemachten Schweitzerischen Frauen, 2. Aufl. Bern 1743. Wir zitieren nach dieser Auflage. Die erste erschien 1740 in Neuwied. Zu Margret Zeerleder vgl. Paul Wernle 1923, 179 und 313 f. 73

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berichtet sie wörtlich: „Diese guten Leute nun, die zu mir kamen, sagten mir, es sey ein Prediger in Stetten (sie!), wann ich den hören würde, der würde mir gefallen, er rede wie ich, und sey gesinnet wie ich: Diß erweckte in mir ein Verlangen, nach Gelegenheit, dorthin zu gehen . . . Als ich nun dorthin kommen, fand ich es, wie mir die Leute gesagt hatten; die gantze Predigt, die lauter Evangelium, und inwendige Hertzens-Lehr wäre, schmeltzete mein Hertz solchergestalt ein, daß die Thränen mir ohne Aufhören aus den Augen geflossen; Solche theure Wahrheiten von einem so eyfrigen und gesalbten Knecht Christi zu hören. Es wäre mir, als ob er mir mein gantzes Hertz entdeckte, und alles beantwortete. " 7S Nach Schumachers „Bericht" kam es in Güldins Gottesdiensten vor, daß die ganze Gemeinde sich plötzlich erhob und zu weinen begann, daß einzelne aufstanden und sich vor der Gemeinde aussprachen. Ein enthusiastisches Element scheint diesen Gottesdiensten das Gepräge gegeben zu haben 76 . Menschen begannen vor Erschütterung am ganzen Körper zu zittern. Margret Zeerleder berichtet weiter: „Nach der Predigt kehrte ich wiederum nach Bern, voller Freuden und wohlgemuth. Herr Güldi kam mir nach, und verlangte mit mir zu reden: Er sagte, er habe von meiner Aufweckung, und auch von meiner Verfolgung gehöret; deswegen freue es ihn mich zu sehen, er vermahnete mich zur Treue und Beständigkeit." 77 Aber nicht nur im Fall der nachmaligen Frau Zeerleder, deren Haus in Bern später ein Zentrum und Absteigequartier für Pietisten aller Schattierungen geworden ist, wissen wir, wer in jenen „Gutschen" saß, die sich Sonntag für Sonntag von Bern nach Stettlen in Bewegung setzten. Zwei weitere Namen sind uns bekannt, und in beiden Fällen handelt es sich um hervorragende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Der eine der beiden war Nikiaus von Rodt (1650-1726), ehemaliger Landvogt von Interlaken und amtierendes Mitglied des Schulrates. Seine Tochter Maria, die in einer delikaten persönlichen Situation von Güldin seelsorgerliche Hilfe erhalten hatte, zog ihn mit sich78. Beim andern handelt es sich um Daniel Knopf (1668-1738), den Sekretär der englischen Gelder. Er wurde Taufpate von Güldins zweitem Kind 79 . Die Namen dieser beiden Männer werden uns in der weiteren Geschichte des Pietismus in Bern noch des öftern begegnen. Was hat sich in und um Stettlen zugetragen? Das Phänomen ist dem für Lützelflüh Beobachteten ähnlich, nur daß es jetzt weitere Kreise zog und, was wohl das Entscheidende ist, auf die Stadt überzugreifen vermochte. Hatten wir im Fall der erbaulichen Zusammenkünfte, die Samuel Schuma75

Margret Zeerleder 26 f. Schumacher, Bericht 39. 77 Margret Zeerleder 28. 78 R. von Diesbach, Artikel „Nikiaus Rodt" und „Maria Rodt": SBB III, 5-10 und 10-12. 79 Maria Catharina, getauft am 8. 1. 1696 (Burger-Taufrodel XI 238, StAB B XIII 527). Auch die eine der beiden Taufpatinnen war mit Jungfer Ursula Hibner (Hybner) eine später stadtbekannte Pietistin (Relation VII, 5), und man darf annehmen, daß auch sie den Gottesdienst in Stettlen häufig besucht hat. 76

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eher auf Bauernhöfen durchführte, von eigentlichen Erweckungsversammlungen gesprochen, so tritt dieser Begriff „Erweckung" in den Quellen, die sich auf Stettlen beziehen, nun immer wieder auf. Wenn Margret Zeerleder von „neuen Erweckungen" spricht, die sich „hier und da" ereignet hätten, faßt sie das, was in Lützelflüh u m Samuel Schumacher und in Stettlen u m Samuel Güldin passierte, sowie Ereignisse andernorts, von denen gleich zu berichten sein wird, unter demselben Begriff zusammen. Wichtiger ist, daß Güldin selber den Begriff öfters verwendet hat, so wenn er schreibt, sein und seiner Freunde Pietismus habe nicht in einer neuen Lehre, „sondern in Erweckung eines lebendigen Glaubens im Hertzen" bestanden, „der sich auch durch eine neue Krafft und Freudigkeit in Lehr und Leben hervorgethan" habe 8 0 . So entsprach es seiner eigenen Erfahrung, und er hat denn auch, als im Kapitel seinetwegen die Rede war, den Hauptgrund für das auch in seinen Augen unordentliche „Geläuff' nach Stettlen darin gesehen, daß viele seiner Kollegen der „rechten Wahren Salbung" ermangelten. Was er damit meinte, faßt das Protokoll so zusammen: „Die G'lehrte sey mehr buchstäblich als lebig und g'heiliget; mehr dienstlich zu aüsserlichen fügenden als zu bekommen die innerliche erleuchtung und das recht geistlich Wesen; und könne man wohl gedenken, daß w o kein häler schein im hertzen eines predigers sey, nit möglich, daß er solchen in anderen erwecken könne: So hiemit alle Prediger die Salbung hätten, würde kein Zuhörer seinen Hirten verlassen und einem anderen nachgehen; Er schließe hiermit . . ., man solle sich nach dem Berner Synodo Lehr und Lebens halben, als von welchem man abgewichen sey, richten." 8 1 Indem Güldin sich auf den Berner Synodus, die erste bernische Kirchenordnung aus dem Jahr 1532, berief, nahm er für sich, seine Freunde und Anhänger in Anspruch, die zu seiner Zeit unterbrochene Kontinuität mit der Kirche der Reformation wiederherzustellen. Das reimt sich mit der Tatsache, daß er die Erweckung eines lebendigen Glaubens, wie er sie selber erlebt hat, im Lichte klassischer reformatorischer Bibelstellen wie Römer 3, R ö mer 4,5f., Johannes 3,36 und Johannes 5,24 verstanden wissen wollte. Güldin sah die Erweckung, die er erlebte und miterlebte, nicht in einer lehrmäßigen Neuerung begründet, sondern er verstand sie als Erneuerung und Fortsetzung der Reformation. Das heißt zugleich, daß er die seitherige Entwicklung der bernischen Landeskirche hin zur Staatskirche seiner T a g e kritisierte. Güldin desolidarisierte sich aber nicht mit dieser Kirche, sondern hielt sie nicht nur für erneuerungsbedürftig, sondern auch erneuerungsfähig. Diese Hoffnung teilte er mit vielen seiner Zeitgenossen, wie die Bewegung, die u m ihn und Schumacher entstand, zeigt. Der Begriff „ B e w e g u n g " ist für diese Phase des bernischen Pietismus freilich nur mit Einschränkungen anwendbar. Von einer Organisation mit klarer Leitung und festgelegtem Programm kann keine Rede sein. N o c h 80 81

Apologie I, 22. A C B 3. 6. 1696.

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waren verschiedene Bestrebungen, grundsätzlich kirchliche und tendenziell separatistische, ungeschieden beieinander. Dennoch wird man von einer Bewegung im Sinne eines spontanen Aufbruchs durchaus sprechen dürfen eine Bewegung, die bereits ihre Zentren und Zentralfiguren und i h r e - w e n n auch noch sehr allgemeinen - Zielvorstellungen besaß. Dieser Eindruck verdichtet sich, wenn man beobachtet, wie die pietistischen Ansätze in der Stadt Bern selber sich weiterentwickelt haben. Die Nachricht, zahlreiche Städter hätten Güldins Gottesdienste in Stettlen besucht, stammt vom Sommer 1696. Zu diesem Zeitpunkt hatten die „Pietisten" in der Stadt längst „ihr" Zentrum und „ihre" Prediger. An der Oberen Spitalkirche wirkten Christoph Lutz und Jakob Dachs in ihrem Sinn. Nach Samuel Schumachers „Bericht" war Lutz „vor einem Jahr", also Anfang 1694 an diese Stelle gewählt worden 8 2 und hatte in Jakob Dachs bereits einen gleichgesinnten Kollegen vorgefunden. Diese beiden, erzählt Schumacher, „predigten mit solcher Krafft und Nachdruck, daß ihr Lob durch das gantze Landt erschollen, und bekamen einen solchen Zulauf von Leuthen, daß man letzthin die Spittahl-Kirche um ein merckliches erweitern müßen, wegen großer Menge des Volcks, das nicht mehr in die Kirche herein möchte: Die Fürnemsten Leuthe in der Stadt gehen ordinarie dahin selbsten von den äußersten Orten der Stadt; sonderlich finden sich dort gantz geflißen ein die Seelen, so einen Schmack von der wahren wiedergeburth empfangen . . ," 83 Folgt man Schumacher, dann haben, von außen beurteilt, Lutz und Dachs an der Spitalkirche derart erfolgreich gewirkt, daß eine Erweiterung derselben unumgänglich wurde. N u n wirft aber Schumachers „Bericht" an dieser Stelle ein Problem auf, das seinerseits nur zu verstehen ist, wenn man sich bewußt macht, welchen Stellenwert die Spitalkirche im damaligen kirchlichen Leben der Stadt besaß. Die Spitalkirche, nach der Reformation geschlossen und erst 1604 wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung übergeben, nahm im Vergleich zu den drei sogenannten Hauptkirchen Münster, Nydegg- und Predigerkirche eine 82 Carl Friedrich L u d w i g Lohner, Die reformirten Kirchen u n d ihre Vorsteher im eidgenössischen Freistaate Bern, T h u n o.J., 44 notiert Lutz' Amtsantritt für 1692. Ich sehe j e d o c h keinen G r u n d , Schumachers A n g a b e in diesem P u n k t anzuzweifeln, hat dieser sich doch gerade p u n k t o D a t i e r u n g e n bisher als sehr zuverlässig erwiesen. Z u d e m ist es k a u m denkbar, daß er sich als Freund v o n C h r i s t o p h Lutz bei einem in der j ü n g s t e n G e g e n w a r t liegenden D a t u m u m zwei volle J a h r e geirrt hat. H i n z u k o m m t , daß Lutz sein Reisestipendium erst im M ä r z 1691 zugesprochen erhalten hat. Hätte er sein A m t bereits 1692 angetreten, dann w ä r e der Z e i t r a u m für eine Studienreise für damalige Verhältnisse außerordentlich k n a p p bemessen gewesen. D e r Versuch, das in Frage stehende D a t u m aus den Pfarrerverzeichnissen zu eruieren (StAB B III. 22 u n d 24), f u h r t deshalb nicht z u m Ziel, weil Lutz u n d Dachs als Kandidaten n o c h nicht konsekrierte Mitglieder des bernischen Ministeriums waren. A u c h das Manual des Schulrates verweigert die g e w ü n s c h t e A u s k u n f t . Aus allen diesen G r ü n d e n u n d weil es sich dabei u m die lectio difficilior handelt, ist der schumacherschen v o r der lohnerschen Version der V o r z u g zu geben. 83

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Schumacher, Bericht 35.

untergeordnete Stellung ein. Die im Spital untergebrachten Kranken und Armen, die Strafgefangenen des nahegelegenen Schallenhauses, die Hausleute und Hintersassen, die als Pächter und Küher, als Gelegenheitsarbeiter und Armengenössige im eigentlichen Sinn oft in einfachen Scheunen und Hütten vor den Toren der Stadt wohnten, sie bildeten die Kirchenbesucher, für sie war die Spitalkirche da. Nicht ordentliche Pfarrer, sondern zwei Kandidaten der Theologie versahen an ihr den Predigtdienst und hatten die oft mühsame Aufgabe, ihre Kirchgenossen zu unterweisen. Aus dieser einseitigen Zuweisung der sozialen Unterschicht ergaben sich an der Spitalkirche Zustände, die auf die Dauer unhaltbar waren. Seit der Mitte der achtziger Jahre gab es deshalb im Rat Bestrebungen, die darauf abzielten, die Kirche durch eine veränderte Sitzordnung auch für die Burgerschaft zu öffnen und attraktiv zu machen - Bestrebungen, die angesichts des traditionellen Stellenwerts der Spitalkirche freilich kaum zu realisieren waren. Schließlich waren sie aber doch von Erfolg gekrönt: Ende 1693 mußte sich der Rat sogar mit Erweiterungsplänen befassen und im Jahr darauf den Ausbau tatsächlich an die Hand nehmen. Damit bot die Kirche für rund 750 Personen Platz 84 . Es war also keineswegs selbstverständlich, wenn die „Fürnemsten" aus allen Teilen der Stadt nun „ordinarie" die Spitalkirche besuchten, und es wirkt auf den ersten Blick plausibel, wenn Schumacher das der Wirkung, die Dachs und Lutz an ihr entfalteten, zuschreibt. An dieser Stelle wird man nun aber differenzieren müssen, und das in doppelter Hinsicht: Erstens: Geht man davon aus, daß die Bestrebungen für eine bessere Integration der Spitalkirche ins kirchliche Leben der Stadt älter waren als die ersten uns bekannten Anzeichen von Pietismus, dann scheidet die Möglichkeit, den unerwarteten Zustrom von Gottesdienstbesuchern aus allen Ständen allein auf das Konto „Pietismus" zu buchen, von vornherein aus. Ebenso unmöglich ist es aber, das Phänomen ohne die zündende Wirkung der beiden an dieser Kirche tätigen Prediger zu erklären. Vielmehr scheinen sich Botschaft und Situation in selten glücklicher Weise gegenseitig befruchtet zu haben. Zweitens: Mit der Tatsache, daß zum Zeitpunkt, da Lutz sein Amt aller Wahrscheinlichkeit nach angetreten hat, bereits Ausbaupläne spruchreif waren, rückt ein Mann ins Blickfeld, der in seiner Bedeutung für die Anfänge aber auch für die spätere Geschichte des bernischen Pietismus bisher kaum richtig erkannt worden, allerdings auch sehr schwer einzuordnen ist: J a k o b Dachs (1667-1744). Die bisherige Forschung hat ihm, indem sie ihn mit Samuel Dick verwechselt und mit Güldin, Lutz und Schumacher zum Kreis der vier Theologiestudenten gezählt hat, sowohl falsche Ehre als auch einen schlechten Dienst erwiesen. Vielleicht stellt aber diese Verwechslung 8 4 Hans Morgenthaler, Die alte Spitalkirche zum Heil. Geist: Zur zweiten Jahrhundert-Feier der Kirche zum Heil. Geist in Bern, Bern 1929, 12-23. Die Beratungen des Rats fanden am 3., diejenigen der 200 am 12. 10. 1693 statt (vgl. R M 237).

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einen Hinweis auf Dachs' tatsächliche Bedeutung dar und vielleicht bestand diese Bedeutung gerade darin, daß Dachs bereits von 1692 an als Kandidat an der Oberen Spitalkirche im Sinne des Pietismus gewirkt hat und das mit großem Erfolg. Die genannten Fakten weisen jedenfalls in diese Richtung. Er, Dachs, wird es in erster Linie gewesen sein, der die Obere Spitalkirche in Bern zu einem pietistischen Zentrum gemacht und, unterstützt durch die vorliegenden Reformpläne und in Zusammenarbeit mit Christoph Lutz, dahingehend gewirkt hat, daß eine Gemeinde entstehen konnte, in welcher Arme und Reiche in einer für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Weise zusammenfanden. Nicht daß Menschen verschiedenen Standes die Spitalkirche in der Weise eines kunterbunten Durcheinanders bevölkert hätten, nein, auch hier hatte jeder seinen Platz: Burger und Amtsinhaber in eigens bezeichneten Stühlen, die Schallerwerker in zwei Bänken oben auf dem Lettner, die „gemeinen" Frauen hier und die „gemeinen" Männer da. Daß aber die Spitalkirche den Geruch, die Kirche der „Minderen" zu sein, verlor, und unter ihrer Kanzel Menschen aller Stände sich zusammenfanden, das wird man zu einem guten Teil auf die Wirksamkeit von Jakob Dachs und Christoph Lutz zurückführen dürfen. Der Pietismus hat in der Stadt Bern zuerst in jener Kirche Fuß gefaßt, die für die „Armen" da war. Fragt man nun, durch ihre Wirkung neugierig geworden, nach dem Inhalt der Predigten von Dachs und Lutz, dann erhält man aus Schumachers „Bericht" vorerst die stereotype Antwort, „sie Predigten herlich von dem Verfall des Christenthums, Verleugnung sein selbst, den Glauben an Christum etc." Diese Angabe ist derart allgemein, daß es sich verbieten würde, ihr etwas entnehmen zu wollen, würde sie nicht in auffallender Weise mit Aussagen korrespondieren, die Christoph Lutz vier Jahre später im Verhör vor der Religionskommission gemacht hat. Danach sah Lutz wie Samuel Güldin die erste Aufgabe der Predigt darin, im Anschluß an die Reformation den „wahren Lebendigen Glauben an Christum" zu verkündigen und zu wecken. Das war sein Thema, das er im übrigen keineswegs in antinomistischer Manier entfaltete. Der Grund für den „Verfall des Christenthums" sah er eben darin, „daß das arme Volk so unerkant sey in der Erkanntnuß deß glaubens an Christum Jesum, und daß wir so gnug zu thun haben ihnen den Weg des Heils zu zeigen, wie sie allein durch den wahren Glauben an Christum können gerecht, from und seelig werden" 85 . Der Tatsache, daß Lutz anhand von Römer 7,4—6 an zwei Sonntagen hintereinander über das Thema „De Spirituali conjugio Christi cum anima Fideli" gesprochen hat 86 , darf man überdies entnehmen, daß diese christozentrische Frömmigkeit stark mystische Züge aufwies - Nachrichten und Kombinationen, die in Lutz' Selbstaussage, er habe neben der Bibel jeweils in erster Linie Arndts „Wahres Christentum" empfohlen 87 , gleichsam ihren symbolisch verdich85 86 87

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AP 243 (Herren Christoffel Lützen . . . Verantwortung . . .). Schumacher, Bericht 35f. AP 241.

teten Ausdruck finden. Was Jakob Dachs angeht, so ist nur bekannt, daß in seiner Bibliothek Werke des mystischen Spiritualisten Christian Hoburg standen und daß er Speners 1692 erschienene Predigtsammlung „Die Seligkeit der Kinder Gottes" 88 besaß 89 , welch letztere Nachricht einen daran erinnern mag, daß Christoph Lutz Spener in Berlin persönlich kennengelernt hat. Bei allen diesen Angaben handelt es sich um Mosaiksteinchen, die an je ihrer Stelle von Bedeutung sind respektive sein werden. Ähnlich ist es um das bestellt, was über den vierten der Freunde von 1689, Samuel Dick, bekannt ist. Es ist recht wenig, was Schumacher über ihn mitteilt, aber dieses Wenige fugt sich in glücklicher Weise in die Zusammenhänge, wie sie sich im Verlauf unserer Untersuchung ergeben haben, ein. Dick ist im Frühjahr 1693 Pfarrer in Spiez geworden 90 . Am Tag nach seiner Präsentation tat er einen programmatischen Schritt: Er lud die Hausarmen seiner Gemeinde zu sich ein. Das waren Menschen, die zwar ein Obdach, aber kein eigenes Land besaßen, das sie mit dem Pflug hätten bebauen können, sondern von dem lebten, was sie auf der Allmende mit sogenannten „Rüthhauwen" mühsam genug anbauten, und die von der Kirchgemeinde unterstützt wurden. Dick „gab ihnen eine Mahlzeit für den Leib und auch für die Seele", das heißt er führte mit ihnen bei Tisch Gespräche, die neben Fragen des Glaubens auch die ganz alltäglichen Sorgen seiner Gäste berührten. Wie Schumacher in Lützelflüh, wie Lutz und Dachs in Bern, so suchte auch Dick offensichtlich den Kontakt zu denjenigen Gemeindegliedern, die zuunterst auf der sozialen Stufenleiter standen. Er und seine Freunde waren sensibel für den Zusammenhang von seelischer und leiblicher Not. Mehr als diese einfache Feststellung geben die Quellen vorläufig nicht her. Nach Schumacher predigte Dick „herrlich" von der „Nothwendigkeit und Nathur der Wahren Wiedergeburth", mit dem Ergebnis, daß sich bei denjenigen unter seinen Zuhörern, die sich betroffen fühlten, ein recht vielsagendes Mißverständnis einstellte. Sie meinten nämlich, zu den Täufern übertreten zu müssen, wenn sie es mit ihrem Glauben und ihrer Seligkeit ernst meinten, „weil unter dem großen Hauffen eine solche große Verderbnis sey". Die schon früher beobachtete Affinität von Täufertum und Pietismus findet hier eine schöne Bestätigung. Es ist Dick zwar gelungen, seine Anhänger bei der Stange zu halten - Schumacher meint, „er habe nun eine schöne Anzahl frommer Seelen" - , dafür aber drohten ihm andere Gemeindeglieder, sie würden ihm davonlaufen, wenn er weiterhin so „scharf' predige 91 . Mit diesen Mitteilungen über Samuel Dick ist Schumacher am Ende seines Berichtes über die Anfänge des Pietismus in Bern. Er beschließt diesen 88

Paul G r ü n b e r g , Philipp J a k o b Spener III, Göttingen 1906, 222, N r . 61. A P 245-251 ( H e r r n j a c o b Dachßen . . . V e r a n t w o r t u n g . . .). 90 A m 7. 4. 1693 leistete er den Amtseid (Predikanten-Rodel 1607-1766, N r . 1225, S t A B B III 22). 91 Schumacher, Bericht 41. 89

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Hauptteil seines Briefes an August Hermann Francke mit dem Satz: „Also hat es hiemit Gott belieben wollen, aus diesen so kleinen und geringen ja kindischen Anfängen zu Genf bis anjezo eine so große Bewegung und remüement anzustellen." 92 Was vor fast 6 Jahren in Genf unscheinbar begonnen hat, ist zu einer - das Wort begegnet in den Quellen zum erstenmal „großen Bewegung" geworden. Es dürfte angezeigt sein, an dieser Stelle Bilanz zu ziehen und auf den bisher zurückgelegten Weg zusammenfassend zurückzublicken.

5.

Zusammenfassung

1. Samuel Schumacher sieht die Geschichte der Anfänge des bernischen Pietismus im wesentlichen als Geschichte jener Bewegung, die aus dem von ihm und seinen Kommilitonen Güldin, Lutz und Dick 1689 in Genf gebildeten Collegium Pietatis heraus entstanden ist. Die Behauptung, daß diese Keimzelle spontan entstanden sei, dürfte insofern zutreffen, als dabei aus dem Ausland und aus andern Konfessionen herkommende Einflüsse direkt keine Rolle spielten. Unvorbereitet aber war auch dieser Anfang nicht: Männer wie Georg Thormann, Elisäus Malacrida, Johannes Erb und andere hatten den Boden dazu bereitet, und indem in ihrem Wirken und in ihren Werken englisch-puritanisches, niederländisch-präzisistisches und mystisch-spiritualistisches Gedankengut verschiedenster Provenienz mitlief, wird man sagen dürfen, daß bei jenen ersten Anfängen indirekt eben doch auch fremde Einflüsse mitspielten. Wie sehr das Bewußtsein, in einer großen Bewegung von gesamteuropäischem Umfang drinzustehen, auch in jenen vier ersten Vertretern eines bernischen Pietismus lebendig war, zeigt die Tatsache, daß sie gleich nach ihrer Bekehrung den Kontakt zu den wichtigsten „pietistischen" Zentren in Westeuropa aufnahmen. Nach dem Abschluß ihrer Studien haben sie ihren Ideen in den Gemeinden und Gegenden von Lützelflüh, Stettlen, Bern und Spiez zu einem, gemessen an dem Echo, das sie fanden, wohl auch für sie unerwarteten Durchbruch verholfen, so daß man für das Jahr 1695 von einer regelrechten Bewegung innerhalb der bernischen Staatskirche sprechen darf. 2. Dabei handelt es sich, in frömmigkeitsgeschichtlichen Kategorien ausgedrückt, um eine Erweckungsbewegung, in der verschiedenste theologische Traditionselemente ineinander verwoben waren. Der zentrale Gedanke von der Notwendigkeit der Wiedergeburt kehrt in verschiedener Brechung und Schattierung immer wieder. Großen Wert legten die Protagonisten des frühen bernischen Pietismus darauf, daß die Erweckung eines lebendigen Glaubens an Christus als des alleinigen Weges zum Heil ein urreformatorisches Anliegen und damit legitim sei. In der Tat ist ihrer christozentrischen und biblizistischen Theologie die reformatorische Substanz nicht abzuspre92

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Schumacher, Bericht 42.

chen. Ebensowenig ist aber zu bestreiten, daß dieses Gedankengut wenigstens bei Schumacher und Lutz und offensichtlich bei zahlreichen A n h ä n gern zu Stadt und Land, weniger w o h l bei Güldin, in einer Weise mystisch eingefärbt erschien, die weit über das hinausging, was die Reformatoren, zumal Zwingli und Calvin, als zulässig erachtet hatten. D a ß dem so war, hängt w i e d e r u m nicht in erster Linie mit äußeren Einflüssen zusammen, sondern ist zuallererst bedingt durch die legalistische Starre, welche die bernische Staatskirche i m Verlauf ihrer Geschichte mehr und mehr erfaßt hatte. 3. Die vielfältigen äußeren Einflüsse, die damit nicht abgestritten werden sollen, sind k a u m auf einen N e n n e r zu bringen. In dieser Tatsache k o m m t z u m Ausdruck, wie unausgegoren und ungeklärt die Verhältnisse in dieser Phase der B e w e g u n g waren. Auf den verschiedensten Wegen fanden unter sich recht verschiedene Tendenzen in der B e w e g u n g Eingang, die zudem keine herausragende Gestalt besaß, welche Klarheit in die Vielfalt hätte bringen können. N e b e n dem bereits erwähnten, aus dem englischen und d e m niederländisch-reformierten R a u m h e r k o m m e n d e n Gedankengut, spielten Vertreter potentiell oder aktuell separatistischer Richtungen wie Jean de Labadie, Johann Jakob Schütz, Pierre Poiret und Christian H o b u r g ebenso herein wie gut kirchlich sein wollende Bestrebungen lutherischer, ja vereinzelt sogar katholischer Provenienz. 4. Die bernische B e w e g u n g selber verstand sich ohne Zweifel in ihrer überwiegenden Mehrheit als innerkirchliche Reformrichtung. Das zeigt sich auch und gerade an ihrem Verhältnis zum separatistischen Täufertum, d e m gegenüber sie bei aller vorhandenen Affinität eine Art kirchlicher Alternative darstellen wollte und darstellte. Ebensowenig ist allerdings zu verkennen, daß die B e w e g u n g die geltende kirchliche O r d n u n g an entscheidenden Stellen durchbrach und damit faktisch eben doch eine separatistische T e n denz an den Tag legte. Z u denken ist dabei an den in Gottesdiensten hie und da z u m Ausbruch g e k o m m e n e n Enthusiasmus, an die Ansätze zu Kirchenzucht, an die hier und dort, mit oder ohne Beteiligung eines Geistlichen stattfindenden Erbauungsversammlungen größeren oder kleineren A u s m a ßes, vor allem aber auch an das „ G e l ä u f f , das Überschreiten der Grenzen der Parochie z u m Z w e c k des Gottesdienstbesuches - allesamt Tatbestände, die das herrschende staatskirchliche System in Frage stellten. 5. Eine Bindung der B e w e g u n g an eine besondere Schicht der damaligen Gesellschaft ist nicht zu beobachten. Wohl scheinen die ersten größeren Durchbrüche zuerst in ländlichen Gebieten erfolgt zu sein, wohl haben Schumacher, Lutz, Dachs und Dick, wohl aber auch Güldin, ganz b e w u ß t den Kontakt zu den einfachsten und ärmsten Schichten der Bevölkerung gesucht und gefunden. Aber nicht in solchen Einzelzügen, so bedeutungsvoll sie auf ihre Weise zweifellos auch sind, ist das soziologische Spezifikum der B e w e g u n g zu sehen, sondern darin, daß sie Reiche und Arme, Mächtige und Schwache, Stadt und Land zu erfassen vermochte.

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6. Zu der früher geäußerten Vermutung, der in Schumachers Bekehrungserlebnis zum Ausdruck gekommenen Verängstigung und Verunsicherung könne eine ebensolche Grundstimmung in breiten Kreisen der Bevölkerung entsprechen, läßt sich noch wenig Konkretes beibringen. Immerhin weisen die für Stettlen bezeugten, von einzelnen oder von der ganzen Gemeinde spontan abgelegten Bekenntnisse von Schuld und Buße und die Reaktionen einzelner Glieder aus Dicks Gemeinde in diese Richtung. So viel sei zur Entstehung der pietistischen Bewegung und zu deren Stand zu Beginn des Jahres 1695 zusammenfassend festgehalten. Das eindrücklichste Zeugnis für die zukunftsfrohe Aufbruchstimmung, die zu dieser Zeit in diesen Kreisen herrschte, ist Schumachers Brief an A. H. Francke selber. Man lebte hier in der - nicht übermütigen, aber festen - Überzeugung, daß die Stunde einem gehöre, und man war sich bewußt, Teil einer großen, auch andere Länder und Konfessionen erfassenden Erneuerungsbewegung zu sein. Daß Schumacher sich gedrungen fühlte, Francke so ausführlich zu schreiben, ist Ausdruck solcher Überzeugung und solcher Gewißheit. Und in der Tat: Wurde man nicht Tag für Tag Zeuge davon, wie die Bewegung sich mit Windeseile weiter ausbreitete, wie sie sich unter den jungen Theologiestudenten an der Akademie Bahn brach 93 , wie auch in Zürich, Basel und Schaffhausen Gleichgesinnte zu Collegia Pietatis sich versammelten 94 ? Wie sehr man unter den jungen, pietistisch gesinnten Geistlichen auch theologisch neue Dimensionen zu erschließen hoffte, zeigt eine Bitte, die Schumacher Francke gegen Ende des Briefes vorlegt: Er ersucht Francke um einen Hinweis auf ein mit philologischer Akribie gearbeitetes neutestamentliches Wörterbuch, in welchem die Vokabeln möglichst auf ihre Grundbedeutung zurückgeführt werden, und er bittet Francke für den Fall, daß kein derartiges Werk existieren sollte, doch selber eines zu schreiben, denn - so wörtlich - „zu einem solchen Opere hat er just diese 2 Qualiteten, die darzu erforderlich sind, 1) eine herrliche Cognition der Sprachen, 2) eine erleuchtete Seele, die da die Krafft dieser Worte des Heil. Geistes deutl. sehen und hernach auch andern solches vorstellen könte" 95 . Schumacher glaubt Frankke um diesen Dienst um so eher bitten zu dürfen, als er ihm von bernischer Seite ein Werk in Aussicht stellen kann, „welches ohne Zweiffei mit großem 93 Schumacher, Bericht 42-44. Namentlich erwähnt Schumacher Nikolaus Bachmann, der seit 1693 als Pfarrer in Koppigen wirkte, ferner den Kandidaten Abraham Fueter und - bereits den nachmals berühmten Samuel Lutz, „der allem Ansehen nach ein herrliches Instrument in seiner lieben Kirchen werden wird". 94 Schumacher, Bericht 44-46. Für Basel nennt Schumacher Friedrich Battier (1659-1722), Pfarrer zu St. Alban, und Ursula Werdenmann, „eine herrliche Weibs-Person", für Schaffhausen Leonhard Huber - „er hat auch Collegia Pietatis gehalten in seinem Hause" - und Johann Martin Meyer (1662-1742, er allein unter den Genannten ist Wernle 1923 bekannt). Im Falle von Zürich spricht Schumacher von zwei „trefflichen Dienern", einem Pfarrer und dessen Diakon, „die einen sehr großen Applausum in gantz Zürich haben" und ebenfalls ein Collegium Pietatis begründet haben. 95 Schumacher, Bericht 48f.

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applausu aller orten wird aufgenommen werden". Der bereits erwähnte Daniel Knopf nämlich, „ein seeliger Mann von großer Gelaßenheit, Aufrichtigkeit und Liebe", sei damit beschäftigt, Theodorus a Brakels Werk „De trappen des geestelijken Levens", das 1670 zum erstenmal erschienen war, ins Deutsche zu übersetzen. Diese Übersetzung ist 1698 tatsächlich in Bern erschienen, und es wird an Ort und Stelle darauf zurückzukommen sein. Hier sei nur soviel bemerkt, daß es sich bei dem Werk des niederländischen Laienpastors um ein Andachts-, ja geradezu um ein religiöses Übungsbuch handelt. Die wahre Glückseligkeit des Menschen besteht danach - im Sinne eines individuellen religiösen Gefühls - in der Gemeinschaft mit Gott. Dahin, zur vollkommenen Ruhe in Gott, kann der Mensch durch Askese und eine gewissenhafte Lebensführung, vor allem durch einsame Meditation, gelangen. Der Weg fuhrt über drei Stufen hinweg und durch viele Anfechtungen hindurch 96 . Damit, daß Brakels Buch in Bern zum erstenmal ins Deutsche übertragen worden ist, wird die bereits durch verschiedene Indizien gestützte Vermutung, die präzisistische Richtung innerhalb der niederländischen volkskirchlichen Reformpartei sei für den bernischen Pietismus in seinen Anfängen von grundlegender Bedeutung gewesen, zur Gewißheit. Was das im einzelnen für die religiöse und theologische Eigenart dieses Pietismus bedeutet hat, soll später gezeigt werden. Zu notieren ist aber bereits hier, daß man in Bern glaubte, mit dieser Übersetzung einen wesentlichen Beitrag zur Ausbreitung des „Reiches Gottes" im deutschen Sprachraum überhaupt zu leisten, sonst hätte es Schumacher nicht als ein „Buch so vielen Seelen in Teutschlandt ein Vergnügen bringen wird" anpreisen und gleichsam als Gegenleistung für das von Francke erbetene Werk hinstellen können. Wie sehr man in Berns Pietistenkreisen auf eine gewissenhafte Lebensweise bedacht war, zeigt der Schluß von Schumachers Brief. Schumacher wünscht, von Freunden darum gebeten, von Francke Auskunft in folgender Frage: „Ob einer der Weib und Kind hat, der doch für dieselben ein genügsames Capital hat, so, daß wenn er sterben solte, sie sich wohl und gnugsam erhalten könten, hernach noch weiter etwaß von seinem Einkommen solte zu dem Capital legen? Oder ob er nicht daßelbige alles Gott zu Ehren und den Armen zu Trost und zu andern h. Gebräuchen anwenden und also nach gnugsahmem Capital nichts mehr bey seite legen solle?" Die Frage ist vielsagend: Erstens zeigt sie, daß wohlhabende, und das heißt: Menschen bürgerlichen Standes sich zur pietistischen Bewegung zählten und das offensichtlich in nicht geringer Zahl. Zweitens belegt sie, wie sehr man gerade in diesen Kreisen aufmerksam war für soziale Notlagen, aber eben damit oft auch in Gewissenskonflikte geriet. Sie illustriert drittens, wie das Ideal der Präzisität das ganze Leben umfaßte. Schumacher betont nämlich, er und seine Freunde stellten die Frage nicht aus „einiger curiosität", sondern aus 96 Wilhelm Goeters 1911, 93-97.

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„heiliger Begierde den willen Gottes hierin zu wißen, und demselben in Puncto[!] Folge zu leisten" 97 . Schumacher beschließt seinen Brief, den der bekannte Kunstmaler Joseph Werner überbringt 98 , mit freundlichen Grüßen für Johann Kaspar Schade, dessen 1690 in Leipzig erschienene Schrift „Gespräch Eines Hertzens Das Aus Christlicher Sorgfalt vor seine Seeligkeit den Weg zu solcher untersuchet . . . " " i h n „herrlich erbaut" habe 100 .

Schumacher, Bericht 50. Joseph Werner (1637-1710) war 1695 nach Berlin unterwegs, wo er zum Leiter der neuen Kurfürstlichen Kunstakademie ernannt worden war. Als Verbindungsmann für eine Antwort Franckes nennt Schumacher den Berner Antiquar und Numismatiker Andreas Morell (1646— 1703), der - wie Werner - vorher am Hofe Louis X I V . tätig gewesen war und seit 1694 in Arnstatt im Dienst des Grafen von Schwarzburg stand. 9 9 Helmut Obst, Der Berliner Beichtstuhlstreit. Die Kritik des Pietismus an der Beichtpraxis der lutherischen Orthodoxie, Witten 1972, 14. 1 0 0 Schumacher, Bericht 51. 97

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II Die pietistische Bewegung im Urteil ihrer Gegner Die ersten offiziellen Gegenmaßnahmen August Hermann Franckes Antwort auf Samuel Schumachers Bericht traf im Dezember 1695 in Bern ein. Zwei „lutherische Studenten aus Leipzig", begleitet von einer Frau namens Lang, überbrachten sie persönlich. Man darf sich durch die Angabe, es habe sich um Studenten lutherischer Konfession gehandelt, nicht zu der Annahme verleiten lassen, diese seien Theologiestudenten gewesen. Gottlieb Kirch jedenfalls, dessen Vater Christoph Lutz ehedem in Leipzig beherbergt hatte, studierte Mathematik, und von seinem Reisegefährten ist nicht einmal die exakte Schreibweise des Namens bekannt. Wir halten uns an die älteste Quelle, die von einem gewissen Rasdorff spricht 1 . Die Feststellung, welcher Konfession die Durchreisenden angehörten, wäre wohl ohne Belang gewesen, hätten in Bern nicht „aufs wenigste 200. Personen / allerley Geschlechts / Qualität / Alters" ihnen in ihrem Quartier bei Herrn Güder an der Brunngasse ihre Aufwartung gemacht und sie mit Geschenken und Zeichen brüderlicher Liebe geradezu überhäuft. Für diese Berner handelte es sich bei den Gästen aus Leipzig eben nicht nur um Lutheraner, sondern um Gleichgesinnte, nämlich um Pietisten. Das verraten bereits die Wege, auf denen sie nach Bern gelangten und dieses wieder verließen: Der Schaffhauser Pietist Johann Martin Meyer hatte Christoph Lutz ihr Kommen angekündigt, und von Bern aus begaben sie sich zuerst nach Lützelflüh - gewiß zu Georg Thormann - , anschließend nach Melchnau, wo Samuel Schumacher mittlerweile Pfarrer geworden war 2 und schließlich nach dessen Vaterstadt Zofingen, wo, wie wir bereits sahen, weitere Gesinnungsfreunde wohnten. Daß sie Stadt und Land von Bern nicht freiwillig, sondern auf Geheiß des Rates verließen, braucht kaum eigens noch erwähnt zu werden. Das „Geläuff', den Behörden ohnehin 1 Relation I, 4. Der N a m e der „Weibsperson", welche Kirch und Rasdorff begleitete, geht aus der „Wahrhafftigen Erzellung desen Was In dem Locherischen und Laubischen Handel von dem Anfang bis zu dem Ende, Sich zugetragen" 82 hervor (ZB Z H Ms S 630, 67-104). Vorname und Studienrichtung Gottlieb Kirchs sind dem in Abschrift erhaltenen Brief A. H. Franckes an Schumacher vom 31. 10. 1695 zu entnehmen (ZB Z H Ms J 256, II, Nr. 29: „Acta Pietistica . . . Miscell. zu Bern"). Dieser Brief galt bis dahin als verloren (vgl. Karl Weiske 1932, 41). Da ich unten im Anhang darauf zurückkommen werde, beschränke ich mich hier auf die Mitteilung des im vorliegenden Zusammenhang Bedeutsamen. Z u m Aufenthalt von Kirch und Rasdorff in Bern vgl. außerdem AP passim, v.a. 227f., ferner Trechsel 1852, 119f., Trechsel 1882, 38, Hadorn 1901, 74f. (zu Bioesch 1899 vgl. oben S. 14, Anm. 11). 2 Schumacher leistete den Amtseid am 28. 12. 1695 (StAB B III, 22). Es ist sehr wohl möglich, daß Kirch und Rasdorff ihn beim Umzug in seine neue Gemeinde begleiteten.

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bereits ein D o r n im Auge, war in ihrem Fall besonders übel aufgefallen, weil hier nicht nur Grenzen zwischen Kirchgemeinden, sondern konfessionelle Schranken durchbrochen w u r d e n . Wie ungeheuerlich der Vorgang bei allen nicht direkt Beteiligten erscheinen mußte, erhellt daraus, daß man über Kirch, Rasdorff und deren Begleiterin die wildesten Gerüchte in U m l a u f setzte. Wer bereit war, solche Tabus zu brechen, d e m war auch sonst allerhand zuzumuten 3 ! Die unverhohlene Anteilnahme, welche Berns Pietisten den Lutheranern aus Leipzig entgegenbrachten, hatte dem Faß den Boden ausgeschlagen. Wie, wenn m a n erst noch g e w u ß t hätte, was in dem Briefstand, den Kirch Schumacher von Francke zu übergeben hatte? Darin w u r d e Schumacher doch r u n d w e g als „Mein auserwehltester Bruder in dem Herrn Jesu" angesprochen, gab Francke u n u m w u n d e n seiner H o f f n u n g Ausdruck, der K o n takt zwischen den Gläubigen werde mithelfen, „den schaden der trennung ohne hülff derer, die fleischlich und irdisch gesinnet, im Bande des Geistes und der liebe zu heilen". Hieß das im Klartext nicht, daß man in diesen Kreisen die H o f f n u n g auf eine innerprotestantische U n i o n auf offizieller Ebene gar nicht hegte, sondern eine unordentliche O e k u m e n e der „Gläubigen", also eine gesonderte Bruderschaft propagierte? Wohl gemerkt, v o m Inhalt dieses Briefes w u ß t e man höheren Orts wahrscheinlich nichts. Was aber hat das angesichts der Tatsache, daß in Bern diese Gesinnung anläßlich des Besuchs der drei Leipziger demonstriert wurde, noch zu bedeuten? U m die Jahreswende von 1695 auf 1696 war die pietistische B e w e g u n g in Bern in einer Weise in Erscheinung getreten, die endlich nach Gegenmaßnahmen rief. Diesen G e g e n m a ß n a h m e n wenden wir uns nun zu. Im ersten Kapitel haben wir die Anfänge des Pietismus in Bern vor allem aus der Perspektive eines seiner Hauptvertreter betrachtet. Jetzt geht es darum, die neue B e w e gung auch v o m Standpunkt ihrer Gegner aus zu sehen und die Motive, die hinter den ersten antipietistischen Erlassen standen, herauszuarbeiten.

1. Die 19 Thesen von 1696 D e n ersten größeren Versuch, der verbreiteten B e w e g u n g Herr zu werden, unternahm der Rat unmittelbar im Anschluß an die Ereignisse u m Kirch und Rasdorff. Er beauftragte die beiden Theologieprofessoren an der Akademie, David Wyss u n d j o h a n n Rudolf Rudolf 4 , damit, auf der Basis des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses und des Berner Synodus Thesen gegen den Pietismus zu entwerfen. Es war beabsichtigt, diese Thesen nach durchgeführtem Vernehmlassungsverfahren als für das bernische Ministerium 3

Relation I, 4. AP 227. David Wyss (1632-1700) war Professor Primarius für Theologie (HBLS VII, 607) und Johann Rudolf Rudolf (1646-1718) Professor für Altes Testament und Ethik (HBLS V, 733). Zu Rudolf, der 1698 Wyss' Nachfolger wurde, vgl. unten S. 146, Anm. 20. 4

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verbindlich zu erklären, also zur Lehrnorm zu erheben, und damit die Saugwurzeln des Pietismus zu durchschneiden. Rudolf und Wyss erfüllten den Auftrag, das Vernehmlassungsverfahren in den Kapiteln begann im April 1696 - und endete damit, daß der Rat am 23. Mai die Thesen zurückzog und befahl, „nicht weiters davon zu reden" 5 . Was war geschehen? Die Kapitel hatten offenbar deutlich zu erkennen gegeben, daß sie nicht gewillt waren, dem Rat in diesem Punkt zu folgen. Aus welchen Gründen? Daß das vorwiegend aus pietistischen Sympathien heraus geschehen sein könnte, ist völlig ausgeschlossen. Die pietistische B e w e g u n g war damals in Bern eine Macht, aber man darf ihre Bedeutung auch nicht überschätzen. Wilhelm H a d o r n meint: „Thatsächlich ist es nicht die Vorliebe für den Pietismus gewesen, welche die Kapitel beeinflußt hat, sondern der Unwille über die jede freie B e w e g u n g einschränkende Reglementiererei von oben" 6 . Das scheint in der Tat eine plausible Erklärung zu sein, zumal wenn m a n hinzunimmt, wie sehr das Ansehen und die Wirksamkeit der Pfarrerschaft bereits darunter gelitten hatten, daß das A m t sie z u m Vorgehen gegen die Täufer verband. In dieser Situation die Pfarrer auch noch mit einer Art Polizeifunktion gegenüber den Pietisten zu beladen, war wenig geraten und hätte leicht gegenteilige Folgen haben können. Hinzu kam, daß die Thesen auch in einer andern Hinsicht ihr Ziel verfehlten. Diejenigen, die damit gemeint waren, konnten nur ihr volles Einverständnis k u n d t u n . So hatte Samuel Güldin erklärt, „in thesi könte man sie [sc. die Thesen] wol zulaßen, aber in hypothesi seyen sie böß, ja Rechtschaffen Böß" 7 . Wenn klar werden soll, was Güldin mit diesem auf Anhieb etwas schwer verständlichen Satz meinte, m u ß der Inhalt der 19 Thesen kurz skizziert werden 8 . Viele der 19 Lehrsätze zerfallen in zwei Teile: in einen affirmativen, in dem die geltende Lehrmeinung entfaltet, und einen negativen, in dem die gegenteilige „pietistische" Ansicht verworfen wird. So hält gleich These I fest, die „wahre u n d allein seligmachende religion" impliziere „Schrifftmäßige erkantniß und ungefärbten glauben". Ein konfessionsloses, bloß praktisches Christentum - „gleich als wenn man nur das Leben, nicht aber auch die lehr Christi in obacht z u n e m m e n hätte" - sei demnach abzulehnen. Diese These soll den Pietismus offensichtlich in seinem Kern, in seiner Hochschätzung der praxis pietatis treffen. Zugleich läßt sie den Anlaß, der zur Aufstellung der ganzen Thesenreihe gefuhrt hat und der im skandalösen U m g a n g von 5

Theses oder Nohtwendige Lehrsätze und Erinnerungen theils aus der Helvetischen Glaubens-Bekantniß, theils aus der Handlung des Berner Synodi, per consequentiam gezogen, und zu derer mehrer Erläüterung in gegenwertige zeit eingerichtet: Burgerbibliothek Bern (abgekürzt: BBB) Mss. hist. helv. XII, 60. RM251, 114f. (23. 5. 1696). Der Wortlaut des Schreibens vom 23. 5. 1696 findet sich in den Miscellanea historico-ecclesiastica 558f. (StAB B III, 38). 6 Hadorn 1901, 67. 7 AP 198 (Samuel Güldins erste Verantwortung). 8 Zur theologischen Würdigung der „Theses" vgl. unten S. 148-164.

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Berns Pietisten mit ihren lutherischen Gesinnungsfreunden bestand, deutlich durchblicken. Die Verfasser visieren einen auf pietistischer Seite ohne Zweifel neuralgischen Punkt an, treffen ihn aber nicht, denn u m ein u n d o g matisches, konfessionsloses Christentum handelte es sich bei dem, was die Gegenseite vertrat, keinesfalls. Das zeigt eine A n t w o r t , die Christoph Lutz drei Jahre später im Verhör gegeben hat, beispielhaft. Auf seine Freundschaft mit Kirch u n d Rasdorff, die doch Lutheraner seien, hin angesprochen, entgegnete er nämlich: „Daran seye nichts gelegen, wan ich nur bei einem den wahren Lebendigen glauben an C h r i s t u m und die auffrichtige Liebe gegen Gott finde, und mich mit ihme könne erbauwen, das seye mir gnug, er m ö g e dan ein Lutheraner oder Reformierter sein: Wir haben niemahl geredt von den puncten, die zwischen ihnen und uns möchten streitig sein, sondern einfaltig gesucht uns zu erbauwen. " 9 Nicht kein, sondern ein neues oder besser: das alte Bekenntnis der Kirche beanspruchten die Pietisten für sich, und sie waren von der Entdeckung, die sie damit gemacht hatten, derart gepackt, daß für sie die innerprotestantischen Gegensätze daneben verblaßten. T h e m a der Thesen II bis VI ist das Offenbarungsverständnis. Die Bibel als das wahre W o r t Gottes enthält alles, „was zu dem heilsamen glauben und zu Gott wolgefälligem leben recht anzurichten und zu lehren dienet". Wohl kann es „heilsame erkantniß, glauben und empfindung deßen, was in Gottes W o r t gelehrt und verheißen wird", ohne „innerl. erleüchtung und salbung des H. Geistes" nicht geben, aber es ist unnötig und falsch, neben und über d e m äußerlichen, in der Schrift enthaltenen Wort Gottes ein „innerliches W o r t der offenbahrung" anzunehmen. Das Zeugnis der Bibel und das Zeugnis des heiligen Geistes sind strikt aufeinander zu beziehen und aneinander zu binden. Die „analysis logica", wie die „studia b o n a r u m literarum" sie vermitteln, sind, „wofern selbige beyzeiten zu Gottes ehr und dienst geheiliget werden", z u m Verständnis eines biblischen Textes nützlich, w ä h rend „kein sensus mysticus sacrae scripturae", der nur Eingeweihten zugänglich ist, „als Gottes Wort in der Kirche geprediget w e r d e n " darf, es sei denn, er lasse sich als biblisch nachweisen. Bedenkt man, wie überschwänglich sich Schumacher 1693 auf die mystische Bibelinterpretation gestürzt und allen wissenschaftlichen U m g a n g mit d e m Schriftwort verachtungsvoll beiseite geschoben hatte, dann wird man auch dieser Thesenreihe die grundsätzliche Berechtigung nicht absprechen dürfen. N u r ist gerade Schumacher ein treffliches Beispiel dafür, wie auch unter den Pietisten in der ersten Entdeckerfreude entfalteter Ü b e r s c h w a n g recht bald einer nüchterneren Haltung Platz machen konnte, denn 1695 konnte Schumacher Francke ja u m ein auch und gerade philologisch exaktes Lexikon z u m N e u e n Testament bitten, und das im Blick auf die Predigt. So gilt vermutlich auch hier: Die Richtung, welche Wyss und Rudolf mit diesen 9

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AP 228.

Lehrsätzen einschlagen, ist zweifellos richtig, aber sie verfolgen sie zu k o n sequent und schießen damit übers Ziel. Sie treffen den Pietismus, wie er sich in Bern entwickelt hatte, wohl nur in seinen extremsten Ausprägungen, aufs Ganze gesehen also nur am Rand. Dasselbe gilt von den Thesen VII bis X, die dem Themenbereich von Rechtfertigung und Wiedergeburt gewidmet sind. Daß der Mensch vor Gott anders nicht gerecht werde als durch die im Glauben zu ergreifende, v o l l k o m m e n e Gerechtigkeit Christi, hätte Güldin aufgrund seines eigenen Bekehrungserlebnisses nicht anders sagen können und hat Christoph Lutz zum Beispiel z u m zentralen Inhalt seiner Predigt gemacht. Auch dagegen, daß alle antinomistischen, perfektionistischen und libertinistischen Konsequenzen, wie sie sich aus einer falsch verstandenen Wiedergeburtslehre ergeben können, strikte abgelehnt werden, hatten sie bestimmt nichts einzuwenden. Sie mußten und konnten sich wiederum nicht betroffen fühlen. Wyss und Rudolf fassen das zweifellos Berechtigte und Bedenkenswerte, das sie auch hier zu sagen haben, in schematische, der Ketzergeschichte e n t n o m m e n e Kategorien und verfehlen damit die Wirklichkeit. Der Pietismus hat die orthodoxe Uniformität der kirchlichen Lehre und O r d n u n g von innen aufgebrochen, und das in einer Weise, wie man sie seit den Tagen des T ä u f e r t u m s nicht mehr gekannt hatte. Das aber war gefährlich, weil, was in der Kirche geschah, unweigerlich Auswirkungen in Staat und Gesellschaft zeitigen mußte. Anders konnte das im staatskirchlichen System nicht sein. In den Thesen XI bis XIII wird deshalb festgehalten, daß „christliche Selbstverläügnung, gedultige Willensgelaßenheit" und „arbeitsame Bruderliebe" von „Oberkeitlichen und Underthanenspflichten", zumal v o m Dienst mit der Waffe, nicht entbinde, daß ferner ein Urteil darüber, w e r in der Kirche wiedergeboren sei und wer nicht, z u m „urtheil der Liebe" nicht in Widerspruch stehen dürfe, und daß schließlich die „gemeinschaft der Heiligen", wie sie die Unterschiede des Standes, des Amtes, Dienstes und Besitzes nicht aufhebe, so auch Exklusivität im Sinne rigoroser Kirchenzucht und geschlossener Konventikel nicht zulasse. Ü b e r ein formuliertes kirchliches P r o g r a m m verfugten Berns Pietisten 1696 nicht, von einem sozial- und gesellschaftspolitischen Konzept ganz zu schweigen. Bedeutet das, daß auch die Thesen XI bis XIII ihr Ziel verfehlen? Das wird m a n so nicht sagen dürfen. Im Gegenteil: Wenn, dann k o m m e n sie hier der tatsächlichen Problematik am nächsten. Dabei gilt es zu bedenken, daß das staatskirchliche System programmatische Formulierungen im genannten Sinn gar nicht zuließ. Das schließt aber die Möglichkeit, daß die Pietisten zwar nicht explizit und theoretisch, aber implizit und faktisch so etwas wie ein P r o g r a m m hatten, nicht aus. Das System ließ es sogar zu, daß sie selber sich über die wahren Konsequenzen ihres Ansatzes hinwegtäuschen konnten und das, w e n n sie nicht Angst vor der eigenen Courage b e k o m m e n sollten, wohl auch tun mußten, während die aufsichthabenden Behörden sich einen derartigen Luxus nicht leisten konnten, sondern das zu 75

supponierende P r o g r a m m in inkriminatorischer Weise zu erheben und bis in seine letzten Konsequenzen hinein zu entwickeln hatten. Daraus resultiert der nur für neuzeitlich-demokratische Augen merkwürdige, für den patriarchalischen Obrigkeitsstaat aber normale Sachverhalt, daß die Formulierung subversiver P r o g r a m m e nicht Sache der betreffenden Gruppierungen, sondern der sie beaufsichtigenden, in unserm Fall staatskirchlichen Polizei war. Das w i e d e r u m bedeutet aber, daß diese bei der Erfüllung ihrer Aufgabe nicht u m h i n konnte, die eruierten verdächtigen Ansätze möglichst konsequent zu extrapolieren und sich dabei der geschichtlichen Erfahrung entn o m m e n e r schematischer Kategorien zu bedienen, u m so ein Bild des M ö g lichen zu gewinnen. Auf die vorliegenden Thesen angewandt heißt das: Die Pietisten konnten sich von d e m darin entworfenen Bild als einer Karikatur kopfschüttelnd abwenden, und doch war diesem Bild der Wahrheitsgehalt nicht schlechthin abzusprechen. Beide Seiten intendierten auf ihre Weise Wirklichkeit, nur eben j e auf ihre Weise. Es ist bereits gezeigt worden, daß die pietistische Bewegung die geltende kirchliche O r d n u n g an einzelnen Stellen durchbrach. O b w o h l kein entsprechendes P r o g r a m m existierte, kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sie auch auf sozial- und gesellschaftspolitischer Ebene potentiell Veränderungen zur Folge haben konnte. N o c h ging es bloß darum, daß nicht nur der Pfarrer über die Gemeinde, sondern auch die Gemeinde über die Lebensführung des Pfarrers sich ein Urteil sollte erlauben können, daß im Konventikel das arme Knechtlein neben der Patriziersfrau auch eine Meinung haben durfte, daß Laien sich das Recht herausnahmen, sich den Prediger eigener Wahl zu suchen - aber im Ansatz war dies alles eben doch systemwidrig und ergab, seinerseits entfaltet und entwickelt, das Gegenteil dessen, was als O r d n u n g in Geltung stand. Der Pietismus verstand sich in dieser Phase als Aufbruch, als Aphorismus gleichsam, und er konnte sich schlecht anders verstehen, während die Gegenseite ihn systematisch zu begreifen versuchte und wohl auch so begreifen mußte, wollte sie ihr System nicht einfach preisgeben. So gesehen hat der angelegte Konflikt nicht nur, aber auch tragische Aspekte. M a n ging - hüben und drüben - nicht einfach fehl, aber man verfehlte sich gegenseitig eben doch. N a c h diesen grundsätzlichen E r w ä g u n g e n können die restlichen Thesen relativ kurz besprochen werden, zumal hinsichtlich ihres theologischen Gehalts später noch darauf z u r ü c k z u k o m m e n sein wird. In den Thesen XIV bis XVII, welche die Person und das A m t des Predigers betreffen, erheben sich Wyss und R u d o l f - und das ist besonders für Rudolf, wie wir noch sehen werden, bezeichnend - über die Parteien. Auf der einen Seite machen sie kein Hehl aus ihrer Überzeugung, daß, wenn die Pfarrer sich in Lehre und Leben an die B e s t i m m u n g e n des Berner Synodus halten würden, das Ministerium unangefochten in Ansehen stünde und Separationen nicht zu befürchten wären. Auf der andern Seite erinnern sie, gestützt auf die beiden ersten Kapitel des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses, daran, daß man nicht auf

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den Prediger zu sehen und zu fragen habe, ob er wiedergeboren sei, sondern auf das Wort. Wie die Schriftauslegungen der altkirchlichen und reformatorischen Väter für die Predigtvorbereitung nicht nutzlos sind, so entbinden sie den Prediger doch nicht davon, sich durch Gebet und Meditation, dogmatische Urteilsfindung und Selbsterforschung einen eigenen Weg zum Text und zur Gemeinde zu bahnen. Das wiederum soll nicht heißen, daß er sich damit, daß er für den öffentlichen Gottesdienst besorgt ist, zufriedengeben dürfe, denn „nothwendig und sonderbar erbaulich ist es, daß Er seine Gemeinsgenoßen absonderlich und öfters in ihren Häüsern besuche, underweise, vermahne, tröste, und nach nohtdurft zuerbauen trachte, mit fründlichkeit und bezeügung tragender liebe und heilsbegierd gegen sie". Die beiden letzten Thesen XVIII und XIX betreffen Fragen der Eschatologie. „Ungewiße, oder aufs Wenigst ungegründte, propheceyungen von künftigen revolutionen und Aenderungen in der Kirche und Ständen", wie sie zum Beispiel die Lehre vom Tausendjährigen Reich suggeriert, aber auch andere Offenbarungen und Weissagungen, wie sie „bey diesen letsten Zeiten" des öftern begegnen, sind anhand der Schrift kritisch zu prüfen, sorgfältig und zurückhaltend zu behandeln und keinesfalls auf der Kanzel zu thematisieren. Gegenstandslos waren die Befürchtungen, die hinter dieser Anweisung stehen, keineswegs. Das zeigt das Beispiel dreier Mägde, Elsbeth Annelers von Erlenbach im Simmental und der Schwestern Katharina und Madlena Aellen von Saanen, die Anfang Juni 1693 öffentlich erklärt hatten, der Anbruch des Tausendjährigen Reiches stehe unmittelbar bevor. Man solle deswegen alle Arbeit liegen lassen, die Obrigkeit solle ihr Zepter beiseite legen, die Gefangenen und die Schallenwerker freigeben und die Freiheit aller Knechte und Mägde proklamieren. Wer an Christus glaube, sei schon vollkommen, und für ihn verwandle sich das Unser Vater aus einem Bitt- zu einem reinen Dankgebet. Die Bibel benötige er nicht mehr, zumal Gott nicht an sein Wort gebunden sei: „Er - Gott - könne noch eine andere bibell geben". Zur Rede gestellt, beriefen sich die drei Mägde auf einen gewissen, aus dem Zürcher Ministerium eben gestrichenen Ziegler, der Mitte Mai in Bern aufgetaucht war und für seine Ansichten offenbar Interesse gefunden hatte - ob auch Gehör, das muß, abgesehen von jenen drei Mägden, dahingestellt bleiben 10 . Auch hinsichtlich seiner Eschatologie treffen Wyss und Rudolf den Pietismus nur in seinen extremsten und vereinzelt auftretenden Ausprägungen. Von keiner einzigen der bisher ins Blickfeld gekommenen Hauptgestalten des bernischen Pietismus bis 1696 sind chiliastische Anschauungen bekannt. Samuel Güldin hatte also seine guten Gründe, wenn er die 19 Lehrsätze als „in thesi" begrüßenswert, „in hypothesi" aber als „Rechtschaffen B ö ß "

1 0 Chorgrichts Manuall der Stath Bern 1692-1693, Nr. 33, Montag 5. 6. 1693. R M 235, 265 f. Zu Ziegler vgl. Studer 1877, 113 und Hadorn 1901, 39.

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bezeichnete 1 1 . Er hatte theologisch nichts dagegen einzuwenden, mußte sich aber mit aller Entschiedenheit gegen die Unterstellung verwahren, das, was damit verworfen und abgelehnt wurde, sei sein und seiner Freunde Meinung und Überzeugung. Der Rat hätte nicht nur im eigenen Land, sondern gewiß auch vom Ausland her, w o er mit seinem Festhalten an der Formula (Konsensus von 1675 ohnehin bereits unangenehm aufgefallen war 1 2 , Widerstand und Protest befürchten müssen, wenn er seine Pfarrer diese Thesen hätte unterschreiben lassen. Deshalb mußte er sie zurückziehen. Für Berns Pietisten war das ein großer Erfolg. Zuversichtlich konnte Christoph Lutz am 11. August 1696 an seinen Zürcher Freund Heinrich Laubi schreiben: „Lasset sie nur machen! Sie werden die Glaubens-Thür / die der H E r r wieder öffnen will / nit können zuschliessen / noch den Rigel stossen / wie eifrig sie es auch suchen." 1 3 War Lutz zu zuversichtlich? Daß der Rat trotz der empfindlichen Schlappe, die er wegen seiner Thesen hatte einstecken müssen, keineswegs im Sinn hatte, vor dem Pietismus zu kapitulieren, zeigen weitere Maßnahmen, die er dagegen ergriff. 2. Bücherzensur

und

Sonntagsfahrverbot

Bereits am 14. März 1695, zu der Zeit also, da Schumacher seinen umfangreichen und von großen Hoffnungen erfüllten B r i e f an Francke verfaßte und von den 19 Thesen noch keine Rede war, hatte der Kleine Rat den grundsätzlichen Beschluß gefaßt, auf der bevorstehenden Tagsatzung der evangelischen Orte in Baden ein gemeinsames Vorgehen gegen die Verbreitung von die kirchliche Lehre und Ordnung untergrabender mystischer Literatur zu erwirken. Ein derartiges Vorgehen war nur dann sinnvoll, wenn möglichst alle evangelischen Orte mitmachten, denn längst war bekannt, daß die Leser verdächtiger Bücher über die Landesgrenzen hinweg untereinander in enger Verbindung standen, ein nur in Bern erlassenes Verbot also kaum wirksam gewesen wäre. Hatte bereits die Reiseroute von Kirch und Rasdorff einigen Aufschluß über den Zusammenhang der Pietisten untereinander gegeben, so bestätigt deren nur noch fragmentarisch erhaltene Korrespondenz die dort gewonnenen Eindrücke. Danach bestand zwischen Berner Pietisten einerseits und Schaffhauser und Zürcher Freunden andererseits Mitte 1695 bereits ein reger Briefwechsel, wobei sich auf bernischer Seite wiederum vor allem Schumacher aktiv daran beteiligte 1 4 . 1 1 Dieselbe Sprachfigur begegnet in etwas anderer Bedeutung auch bei J o h a n n Henrich Reitz, vgl. R u d o l f M o h r 1974, 93. 1 2 Z u r Formula Consensus vgl. Alexander Schweizer, Die protestantischen Centraidogmen in ihrer E n t w i c k l u n g innerhalb der reformirten Kirche II, Zürich 1856, 4 8 2 - 5 0 3 . M a x Geiger, D i e Basler Kirche und T h e o l o g i e im Zeitalter der H o c h o r t h o d o x i e , Z o l l i k o n - Z ü r i c h 1952. Kurt Guggisberg 1958, 303 f. R u d o l f Pfister 1974, 4 9 0 - 4 9 8 . » Relation I X , 2. 14

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Aufgrund der „Relation" und des „Memoriale U e b e r die von B e r n . . . übersendte

Der bernische Vorstoß auf der evangelischen Tagsatzung, die am 14. und 15. Juni 1695 in Aarau stattfand, ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Interessant ist nun vor allem die Liste derjenigen mystischen Autoren, die mit gemeinsamen Kräften zu hintertreiben Bern beantragte. N e b e n Tauler und T h o m a s a Kempis figurieren da die uns längst vertrauten N a m e n des Kardinals Bona, der Antoinette Bourignon, des Christian H o b u r g und des Pierre Poiret. N u n pflegte eine bernische Regierung gegen nur vereinzelt auftauchende unliebsame Bücher nicht gleich im Verein mit den andern evangelischen O r t e n vorzugehen. Daß sie das tat, bedeutet doch wohl, daß die zuletzt genannten vier Autoren nicht nur bei Elisäus Malacrida und Samuel Schumacher, sondern unter Berns Pietisten weithin hohes Ansehen genossen. Wie sonst hätte Bern der Angelegenheit derartiges Gewicht beimessen, ja beantragen können, man solle von den Kanzeln gegen diese Autoren predigen lassen? Übrigens scheint es sich bei dem Anliegen, welches die bernischen Gesandten vorbrachten, in den Augen der andern O r t e u m ein typisch bernisches Problem gehandelt zu haben, denn der Vorstoß blieb, soweit wir sehen, ohne Folgen 1 5 . Aufs Ganze gesehen wohl nicht mehr Glück hatte der Rat mit jener M a ß n a h m e , die das ällsonntägliche „ G e l ä u f f ' von Bern nach Stettlen unterbinden sollte: A m 18. September 1696 erließ er ein Verbot gegen alles „Rößlen, Karren und Fahren" an Sonntagen und ermächtigte das städtische Chorgericht, Darwiderhandelnde ohne Ansehen der Person zitieren und bestrafen zu dürfen 1 6 . Der Vorgang ist insofern interessant und aufschlußreich, als dieses Sonntagsfahrverbot eine direkte A u s w i r k u n g der Kapitelsverhandlungen v o m 3. Juni des Jahres gewesen sein dürfte, in deren Verlauf Güldin wegen des Zulaufs zu seinen Predigten scharf angegriffen worden war. Die Debatte hatte damals auszuarten gedroht und deshalb abgebrochen werden müssen 1 7 . Sie blieb aber, wie das Sonntagsfahrverbot zeigt, alles andere als folgenlos, denn offenbar hatten Güldins Gegner dieses beim Rat zu erwirken vermocht. D a m i t ist z u m erstenmal andeutungsweise zu erkennen, daß die Geistlichkeit und in ihrer Mitte vor allem ihre Spitze, das heißt die u m den Dekan versammelte Stadtpfarrerschaft, im K a m p f gegen den Pietismus eine

BriefF' (StA Z H E I, 8, 1 und Z B Z H Ms S 276, Nr. 6E) lassen sich für die Zeit vor Sommer 1695 folgende Briefe, die aber nicht mehr vorhanden zu sein scheinen, eruieren: Heinrich Laubi Z H an Georg Thormann, 11.8. 1693; Schumacher an Junker Wilhelm Im T h u m SH, Nov. 1694 und 22. 2. 1695; Schumacher an Laubi, 23. 2. 1695; Heinrich Locher Z H an Christoph Lutz, 21. 3. 1695. Alle Inhaltsangaben aus diesen Briefen sind der „Relation" entnommen. Im Frühjahr 1695 weilte Wilhelm Im T h u m SH bei Güldin in Stettlen. 15 RM 245, 454f. (14. 3. 1695) und 459f. (14. 5. 1695). Eidgenössische Abschiede VI, 2a, 545 f. 16 R M 253, 146 f. 17 A C B 3. 6. 1696 (StAB B III, 151a). Z u m Inhalt der Verhandlungen vgl. oben S. 57.

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wesentliche Rolle gespielt hat. Haben wir bis jetzt gesagt, „der Rat" habe Maßnahmen gegen den Pietismus ergriffen, so hat eine derartige, sich an die Ratsmanuale haltende Ausdrucksweise nun mehr und mehr einer differenzierten Betrachtung zu weichen: Wie der Rat in der Frage seiner Stellung dem Pietismus gegenüber nicht einfach eine geschlossene Größe war, so stand er, auch wenn er in letzter Instanz entschied, doch nicht allein: Die Pfarrerschaft, und hier vor allem diejenige der Stadt, agierte - so oder so mit. Was nun aber die Wirkung des besagten Sonntagsfahrverbotes angeht, so scheint es sich als ein recht untaugliches Mittel zur Bekämpfung des Pietismus erwiesen zu haben, sei es, daß die davon Betroffenen es im buchstäblichen Sinn des Wortes unterliefen, sei es, daß sie sich einfach nicht daran hielten. Im Fall von Johannes Müller jedenfalls, der seit Herbst 1697 als Vikar in Belp im Sinne des Pietismus wirkte, mußte es der Bevölkerung erneut eingeschärft werden, und das erst noch ohne Erfolg: N u n kamen die Predigthörer erst recht und zwar von weit her, nämlich zum Teil aus Gegenden, die fünf bis sechs Wegstunden entfernt waren, wie zum Beispiel aus Schwarzenburg. Müller hatte offenbar die Gabe, so zu predigen, daß die Leute ihn verstanden und sich von ihm verstanden fühlten. Das ist gewiß nicht nur darauf zurückzuführen, daß er auch den Dialekt in den Dienst der Verkündigung stellte, sondern hing damit zusammen, daß „das Evangelium", von ihm übersetzt, „traf' und für das alltägliche Leben seiner Zuhörer relevant wurde. Wenn er durch Predigt und Seelsorge dem „Geläuff', der Konventikelbildung und dem von oben besonders argwöhnisch beobachteten „Zittern" faktisch Vorschub leistete, so geschah das ohne seine Absicht, zum Teil sogar gegen seinen ausdrücklichen Willen, wobei er sich allerdings auch nicht bemüßigt fühlte, dem Geist vorschreiben zu müssen, wo, wann und auf welche Weise er wehen dürfe. Es ist bezeichnend, daß man auch Müller verdächtigte, in Holland Kontakt mit Mennoniten gehabt zu haben - ein Verdacht, der schon deswegen fehl am Platz war, weil er gar nie in den Niederlanden gewesen war 18 . Wir stehen somit vor dem bemerkenswerten Sachverhalt, daß - vorsichtig ausgedrückt - eine Mehrheit des Rates, unterstützt von der maßgebenden Stadtgeistlichkeit, in den Jahren 1695 und 1696 auf theologischer und administrativer Ebene zwar beträchtliche Anstrengungen gegen die pietistische Bewegung unternahm, daß aber alle diese Maßnahmen mehr oder weniger fehlschlugen. Ja, der Dezember des Jahres 1696 brachte ein Ereignis, das nicht nur den frappiert, der es heute zur Kenntnis nimmt, sondern auch für die Zeitgenossen eine schier unglaubliche Neuigkeit darstellte. Registrieren wir es in derjenigen Form, wie Christoph Lutz es am Tag selber, das heißt am 21. Dezember 1696, Heinrich Laubi in Zürich mitgeteilt hat: „Güldene 18 Zu Johannes Müller vgl. Relation III, 1; IV, 1; V und VI, 1, ferner AP 266-272 und 75 („Verantwortung" und „Symbolum" Johannes Müllers) und ACB 15. 6. 1698. Hadorn 1901, 65 f. und 76 f.

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Zeitung! Heut ist der güldene Bruder Güldi vor Rath durch die mehrere Stimmen zum hiesigen Diacono erwählet worden. GOtt sey gelobt / der Wunder thut! Er salbe den / so er geordnet hat! Wie wird das thönen in den Ohren der Widerwärtigen? Der Ertz-Sectirer ist nun Stadt-Prediger / und ein Mitglied des hiesigen Ministerii und Convents. So ist der Stein / den die Bauleut verworffen / zu einem köstlichen Stein worden. Verkündigt das den Brüdern / daß sie GOtt preisen / und uns helfen kämpfen über dem Reich unsers HErrnJEsu Christi." 19 Tatsächlich ist Samuel Güldin unterm genannten Datum aus einer offenbar größeren Anzahl von Bewerbern zum Helfer am Münster gewählt worden. Wahlbehörde war der Kleine Rat. Wie reimen sich die Tatsachen des obrigkeitlichen Vorgehens gegen den Pietismus und von Güldins Beförderung ans Berner Münster durch eben diese Obrigkeit zusammen? Bei diesem oder jenem Mitglied des Rates, welches für Güldin stimmte, mag die Berechnung mitgespielt haben, man habe den „Ertz-Sectirer" in der Stadt besser unter Kontrolle als in Stettlen. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht Güldins Wahl nur deswegen zustande kommen konnte, weil der Pietismus im Kleinen und im Großen Rat über einen ansehnlichen Rückhalt verfugte - eine Annahme, für die jedenfalls die Tatsache spricht, daß ausgerechnet Christoph Lutz Güldins Nachfolger in Stettlen geworden ist 20 . Lutzens kirchliche Richtung war doch längst stadtbekannt. Hätte man der Gemeinde Stettlen als dem bis dahin wichtigsten Zentrum des Pietismus eine Lektion erteilen wollen, dann hätte man doch wohl nicht ausgerechnet Lutz dorthin delegiert. Wurden Berns Pietisten höhern Orts nicht nur bekämpft, sondern auch protegiert? Da diejenigen Quellenstücke, die eine eindeutige Antwort erlauben, erst vom Sommer 1698 stammen, muß die Frage vorläufig noch offenbleiben. Fest steht, daß die pietistische Bewegung allen Widerwärtigkeiten zum Trotz weiterhin zunahm. Sie näherte sich gegen Ende des Jahres 1697 ihrem Höhepunkt. In Bern, am Münster, wirkte nun also Samuel Güldin, und dies, wie man den Kapitelsakten entnehmen kann, von offizieller Seite vorerst noch unangefochten 21 . In nächster Nähe von Bern, in Stettlen und Belp und mit je einem großen Einzugsgebiet, waren Christoph Lutz und Johannes Müller tätig. In Spiez wirkte Samuel Dick, in Lützelflüh nach wie vor Georg Thormann. In Melchnau hatte Samuel Schumacher nach einem langen, krankheitsbedingten Unterbruch die Arbeit wieder aufnehmen können. Zofingen war seit langem ein pietistischer Stützpunkt und mit der Wahl von Jakob Dachs nach Holderbank 22 hatte sich die Bewegung im Osten bis an die Grenzen des bernischen Staatsgebietes vorgeschoben. Man darf sich, will man die Bedeutung der Bewegung ermessen, von der 19 20 21 22

Relation VIII, 3. Lutz leistete den Amtseid am 2. 1. 1697 (StAB B III, 22). A C B 26. 5. 1697. Dachs leistete den Amtseid am 25. 7. 1695 (StAB B III, 22).

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relativ geringen Zahl von Gemeinden und Pfarrern, die hier zu nennen sind, nicht täuschen lassen. In vielen Fällen handelte es sich dabei um regelrechte Zentren. Natürlich waren die Pietisten, aufs Ganze des bernischen Kirchengebietes gesehen, immer noch eine Minderheit, aber eben doch eine aktive Minderheit, die über wertvolle Außenverbindungen verfügte 23 und deren Selbstverständnis sich auch in ihrer literarischen Produktion und ihrem literarischen Programm niederschlug: 1698 erschien nun tatsächlich Daniel Knopfs Übersetzung von Brakels „Staffel Deß Geistlichen Lebens" und zwar - ein weiteres Indiz für die Annahme, daß Berns Pietisten ihre einflußreichen Schutzpatrone hatten - in der „Hoch-Oberkeitlichen Truckerey". In diesem geistlichen Exerzitienbuch konnten die Frommen lernen, „daß das wahre Christenthum in der That nichts anders ist / als ein rechtes Soldaten-Leben / eine geistliche Ritterschafft / und ein täglicher und immerwährender Glaubens-Kampff *24. Wie frisch und wohlgemut man damals in bernischen Landen tätig war, geht aber erst recht aus einer Bitte hervor, die Samuel Schumacher am 16. November 1697 in einem Brief an A. H. Francke äußerte, indem er diesen um seinen Rat zu einer Bibelausgabe, die man in Bern unter Händen habe, ersuchte. Geplant war eine Ausgabe mit am Rand angebrachten Erläuterungen, „damit eine hungrige Seele, der offtmahls gar viel capita obscur vorkommen möchten, eine erbauliche ad Praxin pietatis gerichtete explicationem lesen könne" 25 . Leider ist über die geplante Edition nichts Näheres bekannt. Der Plan wurde noch eine Weile weiterverfolgt, zustande gekommen ist das Werk aber nicht. Denjenigen, die es planten, sollte die dafür nötige Zeit und Freiheit bald einmal fehlen. Nichts aber vermag die Hoffnungen, die man Ende 1697 in diesen Kreisen noch hegte und hegen durfte, besser zu illustrieren, wie eben dieser Plan eines eigenen Bibelwerks. Im eben genannten Brief an Francke vom 16. November 1697 mußte Schumacher freilich auch mitteilen, kürzlich seien vier Theologiestudenten „ob pietismum sie dictum" vor den Konvent zitiert und dort examiniert worden. Zuversichtlich fugte er bei: „Sed veritas triumphat Semper." 26 Aber die Ereignisse der kommenden Monate ließen eine derartig optimistische Beurteilung der Lage als immer weniger angebracht erscheinen. Hatten sich die 19 Thesen, die Bücherzensur und das Sonntagsfahrverbot als recht untaugliche Mittel zur Bekämpfung des Pietismus erwiesen, so ergriff „der Rat" nun eine weit gefährlichere Maßregel, um der Bewegung 23 Zur Korrespondenz zwischen den Berner und Zürcher Pietisten vgl. StA Z H E I, 8, 1 (= Z B Z H Ms S 276, Nr. 6E) und die Relation, passim. 24 Zitat aus der unpaginierten Vorrede. 25 Schumacher an August Hermann Francke, Melchnau 16. 11. 1697 (AFSt D 90, 229-234, das Zitat 233). Schumacher bittet in diesem Brief um einige von Franckes Schriften und läßt wiederum Johann Caspar Schade, dessen „Schul-Predigt" ihm „wohl gedienet" habe, grüßen. Z u m weiteren, Schumacher betreffenden Inhalt dieses Briefes vgl. Weiske 1932, 47 f. 26 Schumacher an A. H. Francke, Melchnau 16. 11. 1697.

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Herr zu werden: Er versuchte, die von ihm so genannten pietistischen „Particularversammlungen" zu zerschlagen.

3. Der Schlag gegen die

Konventikel

Mehr noch als von den offiziellen Gottesdiensten „ihrer" Pfarrer lebte die pietistische Bewegung zu Stadt und Land von den zahlreichen Privatversammlungen, wie wir sie aus den Schilderungen von Samuel Schumacher, der Frau Zeerleder und aus amtlichen Quellen bereits kennengelernt haben. Wenn die Behörden dagegen vorzugehen begannen, so war das insofern gravierend, als nun nicht mehr theologische Aussagen bestritten, Bücher zensuriert oder auch einzelne Pfarrer kritisiert wurden, sondern die Einzelnen, die gebildeten und ungebildeten, namhaften und namenlosen Laien, welche die Bewegung schließlich trugen, davon betroffen waren. A m 8. April 1698 ernannte der Rat eine Kommission, die er, um „sothane der reinen religion undt gottesdienst widrige ding gentzlichen zuzernichten", mit allen zum Zweck der Untersuchung nötigen Vollmachten ausrüstete. Sie bestand aus dem Venner Abraham III. Tillier als Präsidenten, den Herren alt Venner Samuel Jenner und Venner Johann Friedrich Willading, sowie den Theologieprofessoren Wyss und Rudolf und Dekan Samuel Bachmann. Die Tatsache, daß man dazu fuhrende Persönlichkeiten des politischen und kirchlichen Lebens verordnete, ist ein Gradmesser fiir die Bedeutung, die man der ganzen Angelegenheit beimaß 2 7 . Nach ihrer ersten Sitzung mußte die Kommission den Rat um eine Präzisierung ihres Auftrages ersuchen: Sollte sie sich bei ihren Recherchen auf die Stadt beschränken oder auch die Landschaft miteinbeziehen? Die Frage war nicht unberechtigt, denn hier wie dort kamen derartige „Particularversammlungen" vor und zwar in einer Häufigkeit, die eine Begrenzung des zu untersuchenden Gebietes geradezu zu gebieten schien 28 . Die Kommission stand vor einer schwierigen und delikaten Aufgabe, die durch die Anweisung, sich in erster Linie auf die Stadt zu konzentrieren, gewiß nur geringfügig erleichtert wurde. A u f beträchtliche Schwierigkeiten stößt allerdings auch, wer nachträglich etwas über das inkriminierte K o n 2 7 R M 261, 166. Hadorn 1901, 76 nennt als D a t u m der Verordnung irrtümlicherweise den 3. April. Z u Abraham III. Tillier ( 1 6 3 4 - 1 7 1 8 ) vgl. H B L S VI, 791 f. und zu Samuel J e n n e r ( 1 6 2 4 - 1 6 9 9 ) H B L S IV, 397. Ü b e r J o h a n n Friedrich Willading ( 1 6 4 1 - 1 7 1 8 ) geben H B L S VII, 542 und Feller III, 2 1974, 1 8 6 - 1 9 8 und passim Auskunft. Hans R u d o l f von Fischer, Die Politik des Schultheißen J o h a n n Friedrich Willading ( 1 6 4 1 - 1 7 1 8 ) , Diss. phil. I B e r n 1927 berücksichtigt Willadings Rolle im Pietistenprozeß nicht, enthält aber die vielsagende B e m e r k u n g : D i e „Leidenschaftlichkeit, mit der Willading seine Sache verfocht, die rücksichtslose Schärfe gegen seinen Widersacher ist vielleicht der markanteste Z u g seines Charakters". (20) Eine nützliche Zusammenstellung des zur engsten politischen Führungsschicht gehörenden Personenkreises bietet Ekkehart Fabian, Geheime Räte in Zürich, B e r n , Basel und Schaffhausen, Köln/Wien 1974, 376.

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R M 261, 181 (12. 4. 1698).

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ventikelwesen in Erfahrung bringen will, denn die Untersuchungsprotokolle sind nicht mehr vorhanden. Versuchen wir immerhin, das Wenige, das die Quellen hergeben, zusammenzutragen. Bereits im März des Jahres 1698 war eine Kommission - übrigens in annähernd derselben Zusammensetzung wie diejenige vom 8. April - damit beauftragt worden, die vom Theologiestudenten Carl Anton Püntiner veranstalteten Versammlungen unter die Lupe zu nehmen 29 . Dem Umstand, daß Püntiner über seine Aktivitäten schriftlich Rechenschaft ablegte, verdanken wir einen tieferen Einblick in den Verlauf, den Sinn und Zweck derartiger Zusammenkünfte, als ihn die früher erwähnten Berichte über ähnliche Treffen der Pietisten bisher gewährt haben. Nach Püntiner fand die erste der beiden ihm zur Last gelegten Versammlungen am Weihnachtstag 1697 im Haus Kuntz im zur Kirchgemeinde Bolligen gehörenden Weiler Bantigen statt. Fast alle Bewohner des Weilers und einige Freunde aus Ferenberg fanden sich, nachdem sie den Gottesdienst in Stettlen(!) besucht hatten, in der Bauernstube ein und feierten Weihnachten, indem sie miteinander erbauliche Gespräche führten, sangen und beteten. Püntiner beteuerte, er habe keine Predigt gehalten, sondern nur in etwas weitläufigerer Weise zum Gespräch beigetragen. Auch habe sich die Versammlung spontan, das heißt ohne vorherige Zeit- und Ortsangabe, ergeben. Diese Details waren wichtig, denn nur sie konnten vom Verdacht, es habe sich um eigentliche, separatistische und deshalb illegale Gottesdienste gehandelt, befreien. Fein und spitz ist Püntiners Bemerkung, die Zusammenkunft habe „etwa einen Kiltabend lang" gedauert. An Neujahr fand sich Püntiner, dazu eingeladen, wiederum in Bantigen ein. Man las gemeinsam in Georg Thormanns „Probier-Stein . . . Deß Täufferthums" - handelte es sich bei den Leuten von Bantigen um sogenannte Halbtäufer? - und tat im übrigen wie an Weihnachten: „Da wir dann . . . als Christen uns untereinander gereitzet und vermahnet zum lob und liebe Gottes und unser nechsten, von psalmen geredt, gesungen, in dem buch, darinn das Teüfferthumb widerlegt, geläsen, und zuletzt auch gebättet nach der Weiß eines abendgebätts, darauff dann ein jeglicher in seine ruh gegangen . . ." 30 Folgt man Püntiner, so handelte es sich bei diesen Zusammenkünften um 29

RM 261, 31 (12. 3. 1698). - Carl Anton Püntiner entstammte einem alten und bedeutenden, auch Püntener und Büntiner genannten Urner Geschlecht. Sein offenbar begüterter Vater hatte, bevor er zur reformierten Konfession übertrat und nach Bern übersiedelte, in seinem Heimatkanton dem Kapuzinerorden angehört. Bis zu seinem wohl 1691 erfolgten T o d versah der Vater in Bern die Stelle eines Lateinlehrers. Carl Anton, der Sohn, studierte hier Theologie und kam offenbar recht früh mit der Bewegung des Pietismus in Berührung. - StA Detmold L 7, D IV, Nr. l b (Gräfliche Familienakten. Lippe-Biesterfeld. Graf Ferdinands Pietistische Händel und Curatel de 1700-1705), 50'-52 v : Verhörprotokoll C. A. Püntiner vom 5. 7. 1700). Guggisberg 1958, 295. 30 Z B Z H Ms S 277 Nr. 7: Carl Anton Püntiners „Erleüterung über vernommene anklag wegen vermeinter gehaltenen versamlung und predig, so ich in bantigen solle gehalten werden" (sie). Neben Büchern von Georg Thormann hat Püntiner Schriften von A. H. Francke und Johann Caspar Schade gelesen und geschätzt (StA Detmold L 7, D IV, Nr. lb, 51r).

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Versammlungen erbaulichen Charakters neben und in Ergänzung z u m offiziellen Gottesdienst. N u r besuchte m a n eben diesen Gottesdienst nicht dort, w o m a n ordnungshalber, sondern dort, w o man überzeugungsmäßig hingehörte - z u m Beispiel in Stettlen, nicht in Bolligen. Derartige pietistische Versammlungen fanden aber nicht nur in Bantigen, in der Gegend von Lützelflüh u n d in der U m g e b u n g von Stettlen statt, sondern nachweislich auch in Belp und Niedermuhlern 3 1 , injegenstorf, Buchsee, Köniz und T r u b und vor allem in und u m Bern 3 2 . Überdies begegnet einem Püntiners N a m e an einzelnen dieser O r t e i m m e r wieder. Daraus wird m a n doch den Schluß ziehen dürfen, daß die T r e f f p u n k t e unter den Eingeweihten i m Lande h e r u m bekannt waren. D a ß überall dort, w o kein gesinnungsverwandter Prediger zur V e r f ü g u n g stand, der Schritt zur eigentlichen Separation nur ein kleiner war, dürfte auf der Hand liegen. W o aber traf man sich in der Stadt Bern? Wer n a h m dort an Konventikeln teil? Da es sich u m einen obrigkeitlich inkriminierten Tatbestand handelte, geben die Quellen auch auf diese Fragen nur lückenhaft A n t w o r t , waren die Befragten doch zugleich direkt Betroffene, gaben also nur an, was sie nicht verschweigen konnten. Die offiziellen Untersuchungsergebnisse stimmen aber, soweit das noch nachgeprüft werden kann, mit den Selbstzeugnissen der Befragten überein. Folgende Personen werden als Gastgeber für pietistische Privatversammlungen genannt: Herr Güder an der Brunngasse, der auch die Besucher aus Leipzig beherbergt hatte 33 , eine gewisse Jungfer Haller 3 4 , der Landschafts- und Historienmaler David Dick 3 5 , eine Jungfer Hybner 3 6 , die einmal die „Aebtissin" unter Berns Pietisten genannt wird 3 7 , Inselmeister Lerber 3 8 , der aus gesundheitlichen Gründen amtsunfähige Kandidat der Theologie A b r a h a m Fueter 3 9 und das Ehepaar Bucher-Fischer in Holligen 4 0 . Personen verschiedenen Geschlechts und Standes fanden sich bei ihnen ein. Darunter befanden sich Männer in einflußreichen Stellungen wie der bereits genannte Daniel Knopf, seines Zeichens Sekretär der englischen Gelder, der Arzt Dr. Johann Rubin, Mitglied des Großen Rates 4 1 und Burkhard Engel, der 1701 in den Kreis der 200 eintreten sollte und der Vater 31

AP 268 f. Relation V. O b es sich bei Buchsee um Herzogenbuchsee oder um Münchenbuchsee handelt, geht aus dem Zusammenhang nicht hervor. 33 Relation I, 4. 34 Relation VII, 3. 35 Relation VII, 4. 36 Relation VII, 5. 37 AP 244. 38 Relation VII, 1. 39 AP 275-278. Bei Fueter fanden sich „arme und gemeine Leüt aus der Statt" ein, unter anderen Heimlicher von Grafenrieds Knecht. 40 Hadorn 1901, 57 und 109. 41 HBLS V, 729. - Neben Dr. Rubin und Daniel Knopf traten in den Konventikeln als „Redner" auf: Hans Aebersold, Herr Memming, Herr Waldkirch. 32

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des nachmals berühmten Samuel Engel war 4 2 . Darunter befanden sich aber vor allem eine ganze Anzahl Frauen vornehmen Standes, deren Namen - wir wissen von Damen Haller, Wyss, Hybner, Zumstein, Kohler undJenner aber nur in den wenigsten Fällen bekannt sind, wie überhaupt der offizielle Untersuchungsbericht aus verständlichen Gründen Bedenken bekundet, die Namen einzelner Beteiligter „ohne sondern Oberkeitlichen Befehl" zu veröffentlichen, zumal sich „Personen von allerley Condition" darunter befänden 4 3 . Heißt das im Klartext nicht, daß auch Mitglieder aus den ersten Familien der Stadt die Konventikel besuchten, aber nicht genannt werden durften, weil ihre Angehörigen dadurch kompromittiert worden wären? Die nur noch lückenhaft vorhandenen und nur beschränkt Einblick gewährenden Quellen erlauben keine eingehenderen Analysen, aus denen dann weitere Schlüsse zu ziehen wären. So viel scheint aber gewiß zu sein: Die Zusammenkünfte in der Stadt waren weit zahlreicher, als die Namenliste der Gastgeber undTeilnehmer einen auf den ersten Blick annehmen läßt. Gewiß ist ferner, daß zu den Konventikeln Personen aus allen Ständen und Schichten Zutritt hatten, wobei den Vertretern vornehmen Standes die Führungsrolle zugekommen sein dürfte. Daß es sich bei diesen Zusammenkünften tatsächlich - wie die daran Beteiligten immer wieder betonten - um spontane Treffen, also nicht um Konventikel im strengen Sinn des Wortes gehandelt hat, ist wohl eher unwahrscheinlich. Es ist zwar immer mißlich, wenn man als Historiker einem sich verteidigenden Angeklagten Lügen oder doch einige Zurückhaltung unterschieben muß. Im vorliegenden Fall wird man aber deswegen nicht darum herum kommen, weil die sonst bekannten Fakten den Selbstaussagen der Beteiligten widersprechen. Die Untersuchung gegen die Konventikel zog sich über längere Zeit hin und ging nahtlos in den eigentlichen Pietistenprozeß über. Die Frage, wie und ob überhaupt man in Bern der „Particular-Versamblungen" Herr geworden ist, wird uns noch zu beschäftigen haben. Ende Juni jedenfalls, fast drei Monate nach Verordnung der Kommission, war das noch nicht der Fall 4 4 . Eine andere Frage hingegen ist nun zu stellen: Warum eigentlich ging man in Bern gegen die pietistische Bewegung vor? N i m m t man an - und dazu hatten wir immerhin einigen Grund daß es innerhalb der politischen Führungsschicht selber Pietistenfreunde und Pietistenfeinde gab, wie verlief dann die Front zwischen den beiden Lagern? Zu diesen Fragen geben zwei nach Zürich gerichtete Briefe vom Sommer 1698 einigen Aufschluß. Sie sind für uns insofern von ganz besonderem Wert, als sie zeigen, wie dezidierte Gegner des Pietismus diesen persönlich gesehen haben. Solche private Zeugnisse von Gegnern haben bislang gefehlt. Man war ausschließlich auf den Untersuchungsbericht der Religionskommission angewiesen, und dabei handelt es sich eben um ein amtliches 42

H B L S III, 37.

43

Relation VII, 5. Vgl. R M 262, 2 4 3 (27. 6. 1698).

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Dokument. Wir hoffen, es trage zum Verständnis des Konflikts zwischen orthodoxem Staatskirchentum und pietistischer Reformbewegung bei, wenn wir den sehr persönlich gehaltenen Berichten der Pietisten nun zwei ebenso persönlich gefärbte Darstellungen ihrer Gegner an die Seite stellen. Aus diesem Grund gehen wir, selbst auf die Gefahr hin, auch bereits Bekanntem wiederzubegegnen, näher darauf ein.

4. Zwei Berichte von Pietistengegnern

(Juli 1698)

Die beiden Briefe sind im Abstand von nur 14 Tagen geschrieben worden. Der eine - er datiert vom 22. Juli - stammt vom Rafzer Pfarrer Marx Huber und ist an Zürichs amtierenden Bürgermeister Heinrich Escher gerichtet 45 . Huber hatte sich um Pfingsten im Bernbiet aufgehalten. Er konnte deshalb aus eigener Anschauung sagen, wie das dortige kirchliche Leben infolge „Teüfferischer und quakerischer" Umtriebe eine „gantz andere Visage" bekommen habe, wie die bernische Kirche „aller orten troubliert" und die Pfarrerschaft gespalten sei. Vor allem im Gespräch mit seinem Kollegen Abraham Bauernkönig war ihm das klar geworden. Bauernkönig war Pfarrer in Bolligen. Christoph Lutz in Stettlen war sein direkter Nachbar, und der Weiler Bantigen, von dem im Zusammenhang mit Püntiners Privatversammlungen eben die Rede war, befand sich in seiner Gemeinde. Bauernkönig, von der durch den Pietismus entstandenen Unruhe direkt betroffen, nahm Huber gegenüber denn auch kein Blatt vor den Mund. Er erklärte rundweg, die Berner Kirche sei zur Sekte geworden. Der Irrgeist der alten Täufer und neuerdings derjenige der Quäker und Zitterer - damit meinte er die Pietisten - nehme mehr und mehr überhand. Es gebe Kollegen, die für sich die wahre „Unction" beanspruchten, mit dem Effekt, daß die Bauern zu diesen „putativi sancti" regelrechte Wallfahrten veranstalteten. In ihren Gottesdiensten komme es dann zujenen bekannten, epilepsieähnlichen Begebenheiten, wobei die Meinung die sei, es handle sich dabei um Manifestationen apostolisch-urchristlicher Qualität, um untrügliche, für die Seligkeit notwendige „signa filiationis Dei". „Ja es seye so weit kommen, daß was mitt dieser sect nicht inficiert seye, werde durch solche leüth schwermühtig gemacht, in Zweifel gesetzt, ob sie den rechten glauben haben . . . " Klagen der „sani ministri" dieser verderblichen Umtriebe wegen stießen höhern Orts auf taube Ohren, „komme ein brieff an einen Herren, so stoße man dieselbigen (sie) ungeöffnet in den sack, die Politici seyen selbs angesteckt mitt diesem gifft, wo etwann ein Novaturiens Minister seye, habe er starcke Patronen an gewüßen Rathsgliederen". Hauptpatron sei der Deutschseckelmeister Johann Bernhard von Muralt, der kürzlich geäußert habe „man müße daß Ministerium auffeinen anderen fuß setzen, es thüe so nicht mehr gut". Die Stadtpfarrer seien gegen die neue Sekte weitgehend machtlos, da 45

Z B Z H Ms S 277, Nr. 2. Derselbe Brief auch Z B Z H Ms 276, Nr. 29.

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Güldin mehr gelte als alle andern. Kurz: Wenn Zürich nicht zu Hilfe k o m me, so sei es um „Einigkeit und Reinigkeit" der Berner Kirche geschehen, werde diese zum „abortus" werden. In den katholischen Nachbargebieten spotte man, Bern sei nicht mehr lutherisch (sie). Man müsse sich, fugt Huber bei, ernsthaft fragen, „was große gefahr diese sect der Policey und stand bringe", und er gibt die Antwort gleich selber: „Es werden ihre Bauren zu solchen armen tropfen gemacht, daß sie im fahl der noth nit zugebrauchen, dem vatterland keine dienst leisten, u. ihre mitt Eignoßen bey actionen in compromiß setzen thäten, da man meinte sie würden sich wehren, würden sie nach ihrer Lehr die wehr im Nothfall niederlegen, ihre socios abandonnieren, das ein cordater Züricher sich besinnen würde in einer action nebent einem Berner zufechten . . . " Soweit M a r x Huber und Abraham Bauernkönig. Fügen wir den zweiten B r i e f gleich bei. Er stammt vom derzeitigen Dekan der Berner Kirche, Samuel Bachmann 4 6 . Dieser schrieb am 8. Juli an Jakob Ulrich, Pfarrer an der Predigerkirche in Zürich: „Unsere Kirchen wird mächtig betrüebt, von außen, durch unsere Widertaüfer, die an etlichen Ohrten unsers Landts zunemmen; von Innen durch die, so genanten Pietisten, welche hier in der statt fortsetzen Ihre Conventícula Pietatis, und die ofentlichen Versandungen verlaßen, und denen einigen Pietischen (sie) Prediger (sie) anhangen, die übrigen Orthodoxischen Prediger verachten, und also eine Trennung anrichten; Welchem Übel desto schwerlicher zu helfen, weil vil fürnemme Adeliche Weibspersohnen, dieser pietisterey ergeben sind und einige hoche im stand zu Patronen haben; Es sind etwan 6. Prediger darmit imbuiret, sonderlich zween derselben haben einen gar großen Zulauf von gemeinem Unerkanten Landtvolck, weil selbige gantz popular Predigen ohne einigen Methodum, und in der gantzen Predig gar wenig dicta S. Scrae anzeüchen und befleißen sich gar gemeiner baürischen redensart, und scheint, alß wann sie keine Theologos prácticos läßen alß den Hoburg, Taulerum und Thomas de Cempis. Gott wolle sich unser in Gnaden erbarmen und unß mitel zeigen, wie disem Übel abzuhelfen, damit wir noch ferner die reinigkeit und einigkeit in unser Helvetischen Kirchen mögen erhalten." Bachmann bittet U l rich, diese Nachrichten vertraulich zu behandeln, „dann man wil nit haben, das man hiervon etwas rede" 4 7 . Es ist frappant, wie weitgehend diese beiden doch unabhängig voneinander verfaßten Lageberichte übereinstimmen. Hinzu k o m m t der glückliche Umstand, daß sie sich gegenseitig ergänzen. Das ist auf die unterschiedliche 4 6 Samuel Bachmann war, bevor er 1672 als Helfer ans Berner Münster gewählt wurde, Pfarrer in Ferenbalm und in B u r g d o r f gewesen. 1696 wurde er Oberster Dekan. E r ist der Verfasser des wertvollen, von A d o l f Fluri 1913 herausgegebenen Rituale ecclesiae bernensis, einer detaillierten Aufstellung über alle von den Pfarrern der Stadt Bern zu erfüllenden A m t s pflichten: B B G I X , 1913, 2 7 5 - 2 8 8 . Leu II, 4. 4 7 Samuel Bachmann an Jakob Ulrich, 8. 7. 1698. Die Briefe Bachmanns an Ulrich befinden sich in der Z B Z H Ms 360, Bl. 132 ff.

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Perspektive der beiden Berichterstatter zurückzufuhren: Bauernkönig erzählt - immer mit einem Seitenblick nach Stettlen - aus derjenigen des direkt betroffenen Landpfarrers. Er rückt infolgedessen die Bauern, das „GeläufP und die - wie er sich ausdrückt - „quakerischen" Phänomene in den Vordergrund. Anders Bachmann: Er hat als oberster Dekan den Überblick, weiß also, daß ungefähr sechs Pfarrer die Bewegung anfuhren. Seine Angabe ist exakt: Er wird an Güldin, Lutz, Müller, Dick, Schumacher und Dachs denken. Bachmann ist darüber im Bild, daß die Bewegung in der Stadt vor allem von den Konventikeln lebt, daß diese eine separatistische Tendenz haben und daß es in erster Linie vornehme Damen sind, welche die pietistischen Zirkel zusammenhalten. In allen diesen und in zahlreichen weiteren Einzelheiten - man denke an die Feststellung der Koinzidenz zwischen pietistischer Bewegung und aufkommendem Täufertum - stimmen Bachmanns und Bauernkönigs Berichte mit den Resultaten, die wir aus der Perspektive pietistischer Berichterstatter bereits gewonnen haben, widerspruchslos überein. So verschieden die Fakten auch gewertet werden, beschrieben werden sie hüben und drüben in allen wesentlichen Punkten übereinstimmend. Die beiden Briefe enthalten überdies neue Einzelheiten zum politischen Hintergrund der mehr und mehr zur Staatsaffäre werdenden „Pietisterey". Nach Hubers Bericht mußte man befurchten, der Pietismus schwäche die Wehrbereitschaft und untergrabe somit die Bündnisfähigkeit des Standes Bern. Berns guter Ruf sei in Gefahr, zum Teil bereits schwer geschädigt. N u n ist mir freilich keine einzige im täuferischen Sinn pazifistische oder staatskritische Äußerung eines bernischen Pietisten vor 1698 bekannt. Aber wenn die genannte Befürchtung auch in hysterisch-polemischer Weise übertrieben sein dürfte, so wurde sie eben doch gehegt und vielleicht noch geschürt. Insofern war der Pietismus längst zu einem Politikum ersten Ranges geworden. Das zeigt nicht zuletzt das Engagement hoher Politiker für die pietistische Bewegung. Zu ihnen gehörte nach Huber einer der ersten Männer des damaligen Standes Bern: Johann Bernhard von Muralt. Erst gut ein Jahr war vergangen, seitdem sich von Muralt als Mitglied des Kleinen Rates und Präsident der vorberatenden Kommission in den delikaten Verhandlungen über die sogenannten „Standeskrankheiten" stark exponiert hatte. Gegenstand dieser Verhandlungen waren die ökonomischen, politischen und moralischen Mißstände im Stande Bern gewesen. Die K o m mission hatte sich nicht gescheut, den Mangel an „prévoyance" und Konfidenz, die fehlende Achtung vor den geltenden Gesetzen und Ordnungen, die Korruption und den luxuriösen Lebensstil, mit einem Wort: den Eigennutz als das Grundübel im Stand offen anzuprangern 48 . Christoph von Steiger, 48 R M 256, 155-160 (15. 3. 1696). Der Kommissionsbericht befindet sich in den „Responsa prudentum" genannten Gutachtenbüchern im StAB, Bd. VII, 149-172. Vgl. von Steiger 1954, 33-37. Z u Johann Bernhard von Muralt vgl. Leu XIII, 459f. und Rudolf Albert von Muralt in SBB I, 387-393.

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der den Vorgang untersucht hat, schreibt dazu: „Im Hintergrund der ganzen Malaise ahnen wir den Schatten des französischen Lebensstils, der damals die altbernische Einfachheit zu verdrängen begann. " 4 9 Wenn von Muralt sich für diese altbernische Einfachheit engagierte und zugleich den Pietismus wenigstens protegierte, dann muß er in diesem „die moralische Kraft gesehen haben, die imstande gewesen wäre, jene inneren Feinde des Standes zu besiegen" 50 . N u n dürfte es sich bei der Auseinandersetzung um altbernische Einfachheit und von Frankreich inspiriertem Luxus um mehr als nur um eine Frage des Lebensstils gehandelt haben. Die Machtkämpfe, die sich in den späten achtziger und in den beginnenden neunziger Jahren in der regierenden Burgerschaft zwischen einer pro- und einer antifranzösischen Partei um die Orientierung der bernischen Außenpolitik abgespielt hatten, schwangen dabei mit. Heißt das, daß die auf dem Feld der hohen Politik latent immer noch vorhandenen Gegensätze in die Auseinandersetzung um den Pietismus hineinspielten? Der Zusammenhang scheint zwar in der Person Johann Bernhard von Muralts manifest zu sein, und im Leben und Werk von dessen Neffen Beat Ludwig von Muralt wird er sich vollends bestätigen 51 . Dennoch war dieser Zusammenhang in jedem Fall komplexer Natur. Johann Friedrich Willading zum Beispiel, der der Untersuchungskommission gegen die Konventikel angehörte, trat für eine Frankreich gegenüber unabhängige Politik ein und war zugleich ein engagierter Gegner des Pietismus. Die Motive für ein Eintreten für oder gegen den Pietismus werden sich auf dem Feld der hohen Politik je nach Gesichtspunkt eben durchkreuzt haben: Dürften die einen im Pietismus ein Ferment zur Erneuerung des gesamten Standes und zur Wiedergewinnung gefährdeter nationaler Identität gesehen haben, so mochten die andern auch und gerade im Blick auf Frankreich und die von diesem heraufbeschworene weltpolitische Lage befürchten, der Pietismus gefährde Berns Einheit im Innern und schwäche dessen Schlagkraft gegen außen. Die Person Johann Bernhard von Muralts deutet noch auf ein weiteres Spannungsfeld hin, innerhalb dessen die Auseinandersetzung um den Pietismus sich abspielen sollte. Von Muralt war Präsident des Schulrates, jener Behörde also, die das gesamte Schulwesen im Staat zu lenken und als akademischer Senat insbesondere die Kandidaten der Theologie vor ihrer Aufnahme ins Ministerium zu examinieren hatte. Auf institutioneller Ebene bestanden zwischen Schulrat und städtischem Geistlichkeitskonvent seit längerer Zeit insofern erhebliche Spannungen, als das Ministerium aufjene Behörde im Verlauf des 17. Jahrhunderts an Einfluß verloren hatte 52 . Nun 49

Von Steiger 1954, 36. Von Steiger 1954, 39. 51 Vgl. unten S. 173 f. 52 Friedrich Haag, Die Hohen Schulen zu Bern in ihrer geschichtlichen Entwicklung von 1528 bis 1834, Bern 1903, 82 und 105 f. 50

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hatte der Pietismus in Bern unter Theologiestudenten seinen Anfang gen o m m e n und, wie das einer beiläufigen Bemerkung in Samuel Schumachers Brief an A. H. Francke v o m 16. N o v e m b e r 1697 bereits zu entnehmen war, unter ihnen weiterhin seine Anhänger. Wenn also, was sich abzeichnet, der Geistlichkeitskonvent den K a m p f gegen den Pietismus intensivierte, und wenn andererseits der Schulrat in der Person von Johann Bernhard von Muralt einen eher propietistischen Präsidenten hatte, dann konnte der Pietismus ins Konfliktfeld der sich im Prozeß der Modernisierung ohnehin Schritt für Schritt auseinanderlebenden Institutionen von Kirche und Schule geraten. Übrigens ist uns ein Mitglied des Schulrates, das neben von Muralt die Pietisten protegierte, ja sich zu ihnen zählte, von Güldins Wirksamkeit in Stettlen her bereits bekannt: Nikiaus von Rodt 5 3 . Die Briefe von H u b e r und Bachmann deuten schließlich noch auf einen dritten Spannungsherd hin: Beide sprechen sie von den Bauern, von dem „gemeinen Unerkanten Landtvolck", das den pietistischen Pfarrern nachlaufe und sich über grundlegende kirchliche O r d n u n g e n hinwegsetze. Auch wenn er zugleich in der Stadt stark verwurzelt war, so befand sich der Pietismus damit eben doch im Bereich des alten Antagonismus von Stadt und Landschaft, auf den ein politisches System wie dasjenige des Stadtstaates Bern von altersher anfällig war. D e r bernische Pietismus in den Spannungsfeldern von p r o - und antifranzösischer Partei, von Kirche und Schule, von Stadt und Land? N o c h lassen sich die Z u s a m m e n h ä n g e mehr erahnen als aufzeigen und gewiß ist, daß die B e w e g u n g ursprünglich derartige Konflikte nicht gesucht hat. Aber es zeichnet sich ab, daß sie in sie hineingeriet. Bei der Bedeutung, die sie erlangt, und der Resistenz gegen obrigkeitliche Maßnahmen, die sie entwikkelt hatte, war das anders nicht möglich. A m ehesten sollte der Konflikt zwischen Schulrat und städtischer Geistlichkeit z u m Austrag k o m m e n , und eben dies hing mit dem Auftreten jener Persönlichkeit zusammen, die zur Schicksalsgestalt des bernischen Pietismus in seiner ersten Phase geworden ist: Samuel König. Halten wir, bevor wir uns ihm zuwenden, wiederum die wichtigsten Resultate fest.

5.

Zusammenfassung

1. Berns pietistische Bewegung, o b w o h l zahlenmäßig eindeutig eine Minderheit, war im S o m m e r 1698 zu einem bedeutenden Faktor des kirchlichen und politischen Lebens geworden. In der Stadt und auf dem Land gleichermaßen verwurzelt, sammelte sie sich hier wie dort u m „ihre" Pfarrer und gruppierte sich in zahlreiche Konventikel, die in der Stadt vor allem von v o r n e h m e n D a m e n zusammengehalten wurden. N o c h fehlen Anzeichen für 53

Vgl. oben S. 60.

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eine eigentliche Separation von der Kirche. Faktisch aber hatte die B e w e g u n g in der Kirche und von der „Welt" sich abzusondern begonnen. Sie drohte zu einer Spaltung der Kirche im Staate Bern zu fuhren. 2. Die staatlichen und kirchlichen Behörden trugen dazu, indem sie sich der B e w e g u n g gegenüber recht wenig flexibel verhielten, das Ihre bei. Es war in erster Linie die Geistlichkeit der Hauptstadt, die sich gegen den Pietismus stark machte. Daß dieser die ersten gegen ihn ergriffenen M a ß nahmen im großen und ganzen schadlos überstand, hatte verschiedene Gründe. Die 19 Thesen verfehlten nicht nur ihr Ziel, sondern scheiterten auch am Widerstand, den die Pfarrerschaft einer weiteren für sie verpflichtenden Lehrnorm entgegensetzte. Das von Bern angestrebte A b k o m m e n , das der Verbreitung verdächtiger Literatur den Riegel schieben sollte, stieß bei den andern evangelischen O r t e n offenbar nur auf geringes Interesse. Vor allem konnten die Pietisten aber unter den tonangebenden Politikern auf einflußreiche Protektoren zählen, die in der B e w e g u n g eine Chance zur Erneuerung nicht nur der Kirche, sondern des ganzen, an mannigfaltigen Mißständen krankenden Staatswesens sahen. 3. Es wäre jedoch verfehlt, hinter den Widerständen, mit denen der Pietismus zu kämpfen hatte, bloß machtpolitische Interessen zu vermuten. Daß dabei auf Seiten der Pfarrerschaft pastorale V e r a n t w o r t u n g ebensosehr eine Rolle spielte wie die echte Sorge u m Einheit und Reinheit der bernischen - und darüber hinaus der helvetischen - Kirche in Lehre und O r d n u n g , darf nicht in Zweifel gezogen werden. Auf politischer Ebene befürchtete man, Berns Ansehen leide bei seinen katholischen Nachbarorten wie bei seinen evangelischen Partnern Schaden, ja man befürchtete, der Pietismus untergrabe die Wehrbereitschaft und letzten Endes die herrschende politische und soziale O r d n u n g überhaupt. Beim gegenwärtigen Stand unserer U n t e r s u c h u n g beginnt sich abzuzeichnen, daß im K a m p f u m den Pietismus auch die Antagonismen zwischen p r o - und antifranzösischer Partei innerhalb des Patriziats, zwischen Stadt und Landschaft und zwischen Kirche und Schule mit hineinspielten.

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III Samuel König Samuel König gehört in der Geschichte des bernischen Pietismus nicht zu den Männern der ersten Stunde. Als er - es war wohl gegen Ende des Jahres 1697 - von ausgedehnten Studienaufenthalten in Holland und England nach Bern zurückkehrte, hatte sich hier das Bild des kirchlichen und religiösen Lebens innerhalb weniger Jahre grundlegend verändert. Die Auseinandersetzung u m den Pietismus war in vollem Gang. Von Natur alles andere als ein ruhiger Beobachter und überlegener Vermittler, griff König in sie ein und verlieh dem Konflikt innert kurzer Zeit jene Schärfe, die ihn zum eigentlichen K a m p f werden ließ. Das war - ganz in der schillernden Bedeutung des Wortes - fatal. Mit seiner Botschaft v o m nahe bevorstehenden Tausendjährigen Reich verhalf er der Bewegung zu einem neuen Verständnis ihrer selbst und ihrer Zeit, führte sie aber damit definitiv über die Grenzen der geltenden Lehre und Ordnung hinaus und gab ihren Gegnern das Signal zum endgültig-unerbittlichen Widerstand. König war eine äußerst willensstarke und selbstbewußte Persönlichkeit. In einem Nachruf wird er als ein Mann von „ansehnlicher und grosser Statur" geschildert. Er verfügte über eine „sehr starke und gesunde LeibesDisposition, welche ihm bey seiner besondern Neigung zum Studieren und fast unvergleichlichen Arbeitsamkeit wol zustatten kam". „Sein Character war das Bild eines ehrlichen Schweizers, der redet und thut, wie er denket, und sich wenig u m das bekümmert, was man von ihm urtheilet. Er war anbey einerseits sehr liebreich, der es mit jedermann gut gemeint, anderseits dennoch eines ziemlich hizigen Temperaments." 1 König gegenüber konnte man nicht neutral bleiben. Respektlos überall da, wo Respekt seiner Meinung nach fehl am Platz war, trat er mit einer Entschiedenheit auf, die herausfordernd wirkte. Anmaßend war er nicht, nur selbstbewußt, und das nicht ohne Grund: Bezüglich Talent und Bildung reichte in Bern wohl keiner unter seinen Altersgenossen an ihn heran 2 . 1 Monatliche Nachrichten einicher Merkwürdigkeiten, in Zürich gesammelt und herausgegeben, v o m Jahre M D C C L . Z u b e k o m m e n bey Johann Kaspar Ziegler, Buchdrucker in Zürich, 92. 2 Grundlegend: Trechsel 1852. Vor ihm haben - mehr beiläufig - über K ö n i g geschrieben: Markus Lutz, N e k r o l o g denkwürdiger Schweizer aus dem 18. Jahrhundert, Aarau 1812, 264 und B. S. Friedrich Schärer, Geschichte der öffentlichen Unterrichts-Anstalten des deutschen Teils des ehemaligen Kantons Bern; mit einer summarischen Übersicht des wissenschaftlichen Zustandes überhaupt. V o m Anfang der Stadt Bern im Jahr 1191 bis zur Revolution von 1798, Bern 1829, 210. A u f Trechsel fußen: Emil Blösch, Artikel „ K ö n i g , Samuel": A D B X V I , Leipzig 1882, 520 f., wiederabgedruckt: S B B V, 158 f. Johann H . Graf, Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften in bernischen Landen v o m Wiederaufblühen der Wissen-

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1. Herkunft und

Studium

Samuel König ist am 17. September 1671 im Berner Münster getauft worden 3 . Er war damit um gut sieben Jahre jünger als der am 8. April 1664 getaufte Samuel Güldin 4 . König - sein Name begegnet auch unter den Formen Küng oder Köng respektive, latinisiert, Rex - entstammte einem alten bürgerlichen Geschlecht der Stadt Bern. Sein Großvater väterlicherseits, David König, war Arzt und seine Großmutter Margaretha, eine geborene Zehender, war die Tochter des Landvogts zu Milden gewesen. Auch die Mutter Samuels, Katharina Judith geborene Perret, war die Tochter eines Landvogts, während sein Vater Samuel zum Zeitpunkt der Geburt als Pfarrer in Köniz bei Bern amtierte 5 . Über Samuel Königs frühe Jugend ist uns nichts bekannt. 1684 nahm er an Berns Hoher Schule das Studium auf. Das Studienziel war, da die Hohe Schule damals einzig zur Ausbildung von Theologen diente, von allem Anfang klar: Samuel sollte Pfarrer werden. Den ersten Unterricht in den Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch wird er wohl von seinem Vater, dessen Beispiel er damals noch folgte, privat erteilt bekommen haben. Das Studium - es zerfiel zu gleichen Teilen in einen „cursus philologicus et philosophicus" und in das eigentliche „Studium sacrosanctae theologiae" dauerte in der Regel sechs Jahre. Zu Königs Lehrern zählten die uns bereits bekannten Johann Rudolf Rudolf und David Wyss. Vorlesungen von Elisäus Malacrida, der erst 1687 als Professor in die Hohe Schule eintrat, hat König aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr gehört, da er den philolo-

schaften bis in die neuere Zeit, Bern 1888/90, 12-22 (unter Benützung handschriftlicher, von Trechsel noch nicht berücksichtigter Quellen). Hadorn 1901, vor allem 60-63, 86-93, 100f., 107, 159-166. Hadorn (aufgrund von Vorarbeiten von Trechsel), Artikel „König, Samuel": RE 3 X, Leipzig 1901, 620-622. Wernle 1923, vor allem 123-129, 282-286. Hans Leube, Artikel „König, Samuel": RGG 2 III, Sp. 1127f. Guggisberg 1958, 398-400. Ernst Staehelin, Jahresbericht des Frey-Grynäischen Institutes in Basel für das Jahr 1961, 2-8. Emil König, 400 Jahre Bernburgerfamilie König: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 29 (1967) 1-10, 33-50, 92-109, vor allem 41-44. Emil König, Gestalten und Geschichten der Bernburger König, Selbstverlag Reinach 1972, 5. Zur Datierung von Königs Amtsantritt als Spitalprediger in Bern in der bisherigen Literatur vgl. oben 12 und 14. - Zwei kurze Passagen aus Predigten von Samuel König sind abgedruckt bei Ernst Staehelin, Die Verkündigung des Reiches Gottes in der Kirche Jesu Christi V, Basel 1959, 415-417. - Ich habe die Resultate der bisherigen und meiner eigenen Forschungen zu Samuel König in meinem Artikel N D B XII 349 f. knapp zusammengefaßt. — Samuel Königs Frühschriften zu Themen aus den Gebieten der Philologie, der Theologie, der Orientalistik respektive der Judaistik sind noch nie vollständig erfaßt, geschweige denn analysiert worden. Ich muß mich im folgenden auf die für unser Thema wichtigen Zusammenhänge konzentrieren. 3 Burger Tauf- und Eherodel, Bd. X, 5, Nr. 5 (StAB B XIII 526). Die vage und in der Folge übernommene Angabe bei Trechsel 1852, 105, König sei „um 1670" zur Welt gekommen, ist zu präzisieren. 4 Burger-Taufrodel, Bd. IX, 230 (StAB B XIII 525). 5 Nicht in Gerzensee, wie durchwegs angegeben wird. Die Familie zog 1676 nach Murten, 1680 nach Bern und erst 1691 nach Gerzensee um.

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gisch-philosophischen Teil des Studiums zu diesem Zeitpunkt bereits absolviert hatte. Das schließt freilich nicht aus, daß er anderweitig mit ihm in Kontakt gekommen ist6. Zwei Dokumente aus Königs Studienzeit in Bern sind immerhin erhalten geblieben. Beim einen handelt es sich um eine im Jahr 1688 gedruckte Dissertation, die Frucht von Königs philologischen Studien, verfaßt unter den Auspizien Johan Rudolf Rudolfs. Unter dem Titel „De mense et anno" befaßt sich der erst siebzehnjährige Student mit dem Problem der Zeitrechnung in Judentum, Christentum und Islam, einschließlich der zwischen Julianischem und Gregorianischem Kalender bestehenden Unterschiede 7 . Die Abhandlung zeigt, daß König auf den Gebieten der Judaistik und der Orientalistik nicht nur über ausgeprägte Interessen, sondern bereits auch über profunde Kenntnisse verfügte. Recht aufschlußreich ist auch die im Stil der Zeit gehaltene Widmung, geht doch aus ihr hervor, wie stark König von Haus aus mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens liiert war und wie sehr er dazu neigte, dem auch Rechnung zu tragen: An erster Stelle figuriert Johann Anton Kilchberger, seines Zeichens Schultheiß des Standes Bern. Ihm folgt Johann Rudolf Tillier, Mitglied des Kleinen Rates, mit König väterlicherseits verwandt. Der Autor hat sein Opus aber noch fünf weiteren Verwandten zugedacht. Darunter befinden sich drei Mitglieder des Großen Rates, namentlich auch der uns bereits bekannte Nikiaus von Rodt, damals Landvogt in Interlaken. Königs Talent wurde beachtet, sein Fleiß belohnt: Das zweite der genannten Dokumente hält fest, daß er am 11. März 1689 vom Kleinen Rat und vom Schulrat ein Stipendium zur Finanzierung seines Mathematikstudiums erhielt 8 . So weit also war der Fächer von Königs wissenschaftlichen Interessen. Da Bern damals noch über keinen mathematischen Lehrstuhl verfügte, 6 Einen schönen Einblick in Studiengang und geistiges Klima an der Berner Hohen Schule vermittelt der nur ein Jahr nach Samuel König geborene Daniel Müslin: Albert Haller (Hg.), Daniel Müslin, Selbstbiographie eines bernischen Landgeistlichen. Ein Sittengemälde aus dem Ende des XVII. und Anfang des XVIII. Jahrhunderts: B T 1857, 1—78, vor allem 8—13. Ferner: Haag 1903, 59-86. Guggisberg 1958, 322-330. Ulrich Im Hof, Die reformierten Hohen Schulen und ihre schweizerischen Stadtstaaten: Stadt und Universität im Mittelalter und in der früheren Neuzeit, hg. von Erich Maschke und Jürgen Sydow, Sigmaringen 1977, 53-70 (Stadt in der Geschichte, Bd. 3). 7 DISSERTATIO P H I L O L O G I C O - I S A G O G I C A AD C H R O N O L O G I A M S. E T E C C LES. S E C U N D A . De M E N S E E T A N N O . Q u a m Opitulante summö illö Domino, . . . PRAESIDE D N . J O H . R O D . R O D O L P H O , . . . Publice ventilandam offert defensurus S A M U E L REX, Helv. Bernas, Phil. Stud. . . . Psalm. 102. 28., B E R N A E . . . MDCLXXXVIII. - Demnach handelt es sich bereits um Königs zweite Dissertation zum Thema. Die erste ist nicht mehr ausfindig zu machen. Blieb sie ungedruckt? - König äußerte sich in seiner Dissertation zu einem aktuellen Thema: 1701 ging Bern zusammen mit Zürich, Basel und Schaffhausen zur neuen Zeitrechnung über - ein Vorgang von erheblicher konfessioneller, staatsrechtlicher und wirtschaftlicher Bedeutung. Vgl. dazu Hellmut Gutzwiller, Die Einführung des Gregorianischen Kalenders in der Eidgenossenschaft in konfessioneller, volkskundlicher, staatsrechtlicher und wirtschaftlicher Schau: ZSKG 72 (1978) 54-73. 8

SM, Bd. I, 122'.

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ist Grafs Annahme, König habe sich nach Zürich begeben, nicht abwegig 9 . In der Zürcher Matrikel figuriert er allerdings erst unterm Jahr 169210, und im März 1691 wirkte er in Bern bei Christoph Lutz' Probevorlesung für die Lausanner Professur als einer der drei studentischen Opponenten mit 11 . Wann immer König sich auch nach Zürich begeben haben mag, sicher ist, daß er sich 1692 dort aufhielt und daß, obwohl er das theologische Examen sehr zum Mißfallen des Schulrates noch hinausschob 12 , sein Hauptinteresse nach wie vor der Theologie galt. Denn in Zürich erschien im selben Jahr unter dem Titel „De FOEDERE & T E S T A M E N T O DEI" seine zweite, nun theologische Dissertation, die er unter dem Vorsitz von Johann Heinrich Heidegger erfolgreich verteidigte 13 . Betreuer und Thema der Dissertation stehen zueinander in ursächlichem Zusammenhang: Heidegger (1633— 1698) war im Raum der reformierten Schweiz wohl der herausragendste Vertreter der altreformierten, in jüngster Zeit von Johannes Coccejus umfassend begründeten Foederalmethode, welche die gesamte biblische Tradition konsequent vom Zentralgedanken des zwischen Gott und Mensch aufgerichteten Bundes her erschloß, damit das überkommene Lokalschema sprengte und in heilsgeschichtliche Kategorien überführte. Es war zu einem guten Teil Heideggers Verdienst, daß die Helvetische Konsensusformel von 1675, verglichen mit dem Forderungskatalog, den konservative Theologen und Kirchenmänner damals erfüllt wissen wollten, im ganzen maßvoll und besonnen ausfiel: Zusammen mit seinem Basler Freund Lukas Gernler hielt er dem Ansinnen, sich darin auch vom Coccejanismus und vom Cartesianismus zu distanzieren, erfolgreich stand. Samuel König hatte an ihm einen Lehrer, dem die innerprotestantische Oekumene stets ein wichtiges Anliegen war und der auch dem lutherischen Pietismus Philipp Jakob Speners gegenüber verständnisvolle Offenheit an den Tag legte 14 . Wenn König in der Dedikationsadresse seiner Dissertation Heidegger als eine „Leuchte der Kirche" („Ecclesiae Lumen") bezeichnete, so war das 9

Graf 1888/90, 12. Ulrich Helfenstein, Register zum Album in Tigurina schola studentium (1559-1832), StA Z H E II, 479, 215. 11 SM, Bd. I, 127v (17. 2. 1691). Vgl. oben 43. 12 SM, Bd. I, 132r (17. 3. 1692). 13 DISSERTATIO T H E O L O G I C A . De F O E D E R E & T E S T A M E N T O DEI; Q u a m . . . PRAESIDE . . . J O H . H E N R I C O H E I D E G G E R O , . . . Ventilandam offen S A M U E L K O E N I G , Helv. Bernas, . . ., TIGURI . . . M D C X C I I . Zitiert: Defoedere. 14 Alexander Schweizer, Artikel „Heidegger, Johann Heinrich. RE 3 VII, 537-543. Derselbe, Die protestantischen Centraidogmen in ihrer Entwicklung innerhalb der reformirten Kirche, II: Das 17. und 18. Jahrhundert, Zürich 1856, 482-503 (Register lückenhaft). Max Geiger, Die Basler Kirche und Theologie im Zeitalter der Hochorthodoxie, Zollikon-Zürich 1952, v. a. 99139, vgl. das Register. Karl Hutter, Der Gottesbund in der Heilslehre des Zürcher Theologen Johann Heinrich Heidegger (1633-1698), Gossau 1955. Heideggers tatkräftiges Eintreten für die bedrängten ungarischen Glaubensbrüder schildert Hans Schaffert, Johann Heinrich Heidegger. Professor der Theologie - Protektor der ungarischen Prädikanten: C o m m u n i o viatorum 18(1975)113-126. 10

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mehr als eine der üblichen Höflichkeitsformeln: Er hat sich auch später immer wieder auf seinen Zürcher Lehrer berufen. Gewohnt hat er in Zürich übrigens beim Griechischprofessor Johann Heinrich Schweizer (1646— 1705), der in den schweren Anfeindungen, denen er seines Cartesianismus wegen ausgesetzt war, seinerseits von Heidegger Unterstützung und Rükkendeckung erhalten hatte 15 . Auf Königs Zürcher Dissertation wird noch zurückzukommen sein. Hier ist nur noch zu erwähnen, daß auch die Zürcher Theologen auf den jungen Berner aufmerksam geworden zu sein scheinen, denn sie gaben ihm bei seinem Weggang ein „album . . . virorum Magnorum applausibus et votis supra modum splendidum" mit 16 . Im Wintersemester 1692/93 war König an der Basler Universität immatrikuliert, und zwar sowohl an der theologischen wie an der philosophischen Fakultät 17 . Er hörte den berühmten Mathematiker Jakob Bernoulli und lernte den milden und feinsinnigen Samuel Werenfels (1657-1740), in dessen theologischem Werk ein neues Zeitalter sich ankündigte, nach seinen eigenen Worten nicht nur kennen, sondern zugleich lieben und bewundern. Nach Bern zurückgekehrt, gestand er diesem in einem Brief vom 13. Juli 1693, er habe Mühe, sich in seiner Vaterstadt wieder zurechtzufinden: „Bernas sum, sed videor Basileae crevisse, adeo me benigno sinu fovistis, nutricastis." 18 Vorderhand konnte König das Problem, das er damit andeutete und das ihm später zum Verhängnis werden sollte, noch vor sich her schieben: Als er an Werenfels schrieb, wußte er bereits, daß der Schulrat ihm ein Stipendium zugesprochen hatte, das ihm einen längeren Studienaufenthalt in Holland ermöglichen sollte 19 . Auf das Wintersemester 1693/94 begab sich König an die Universität Franeker in Friesland. Wie lange er sich dort aufgehalten hat, ist, da er in der Universitätsmatrikel nicht figuriert, ungewiß 20 . Fest steht, daß er sich im Sommer 1696 noch in Franeker befand, denn damals hat er eine gleich zu nennende Abhandlung vorgelegt und verteidigt. Bekannt ist ferner, daß er sich anschließend an seinen Aufenthalt in Franeker nach England begab und von dort auf einem U m w e g über Preußen nach Bern zurückgekehrt ist. Hier wird er gegen Ende 1697 eingetroffen sein. Königs Studienzeit in Franeker wird also ungefähr drei Jahre gedauert haben. Drei Jahre sind in der Entwicklung eines jungen Menschen eine lange Zeit, zumal wenn sie in der Fremde verbracht werden. Welche Prägungen 15

De foedere, Widmung und § 32. Briefkonzept Samuel Königs (UB BS, Frey-Gryn. Mscr VII, 3, 59), wohl gegen Ende 1692. Der nicht genannte Adressat des Briefes kann, da er als „Hospes" angesprochen wird, nur Johann Heinrich Schweizer sein. König gesteht ihm gegenüber: „Ego nihil adeo in votis habeo, quam ut talis sim, qualem me esse cupis." 17 Die Matrikel der Universität Basel IV 247, Nr. 1461. 18 Samuel König an Samuel Werenfels, Bern 13. Juli 1693 (UB BS, Ki.-Ar. 133a, Nr. 53). 19 SM, Bd. 1, 138v (6. 7. 1693) und 143' (16. 9. 1693). 20 Freundliche Mitteilung des Stedelijk Archief Franeker. 16

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hat König in dieser Zeit erfahren? Wie hat er sich in der freien, v o m Toleranzgedanken und von leidenschaftlichen kirchlichen und theologischen, politischen und gesellschaftlichen Parteikämpfen erfüllten Luft der Niederlande gefühlt? Hat König - wie Daniel Müslin nach ihm - mit dort ansässigen Mennoniten Kontakt gehabt, hat er die Stätten aufgesucht, „wo zu seiner Zeit der berühmte Renatus Cartesius seine Meditationes und andere Theile seiner operum philosophicorum soll gemacht haben", ist er in der nahegelegenen Kolonie der Labadisten eingekehrt, hat er, der begabte Judaist, das Amsterdamer Judenviertel durchstreift 21 ? Fragen, auf die es eine historisch verbürgte Antwort nicht gibt, die aber das Feld abstecken, auf dem König sich damals bewegen konnte und - das Gegenteil wäre ungewöhnlich - wohl auch bewegt hat. Königs Franeker Lehrer waren allesamt Foederaltheologen der coccejanischen Richtung und bekannt für ihre hohe Kunst einer historisch fundierten und streng christozentrischen biblischen Exegese: Da waren der versöhnliche Johannes van der Waeyen, dessen vornehmer Lebensstil und erlesene Bibliothek Daniel Müslin unauslöschlichen Eindruck gemacht haben, dann der hochgelehrte, durch seine vor allem aus der Johannesapokalypse erhobene Geschichtsdeutung merkwürdige Campegius Vitringa (1659-1722) und schließlich der bei den Studenten nicht nur seiner Kompetenz, sondern auch seiner Umgänglichkeit wegen beliebte Jakob Rhenferd 2 2 . Bei ihm, Rhenferd, hat König denn auch seine dritte größere Arbeit geschrieben, einen Kommentar zu ausgewählten Stellen der G e mara zum Traktat B e rachoth des Babylonischen Talmuds 2 3 . Uns interessiert daran vorerst das Nachwort, das Rhenferd in Form eines an König gerichteten Briefes dazu beigesteuert hat. Wörtlich heißt es da: „Macte itaque animo esto, Ornatissime K O E N I G , & quo tua te virtus atque 2 1 Daniel Müslin, hg. v. Albert Haller 1857, 19-25. Albert Haller, Einiges über die academischen-theologischen Beziehungen zwischen Bern und den niederländischen Hochschulen im 17. Jahrhundert: Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 8 (1875) 381—414, v. a. 3 9 7 403. Christine Freifrau von Hoiningen-Huene, Beiträge zur Geschichte der Beziehungen zwischen der Schweiz und Holland im X V I I . Jahrhundert, Berlin 1899, 1—49. 2 2 August Tholuck, Das akademische Leben des siebzehnten Jahrhunderts, mit besonderer Beziehung auf die protestantisch-theologischen Fakultäten Deutschlands, nach handschriftlichen Quellen, II: Vorgeschichte des Rationalismus 1/2, Halle 1854, 204-243, v. a. 239. Isaak August Dorner, Geschichte der protestantischen Theologie, besonders in Deutschland, nach ihrer principiellen Bewegung und im Zusammenhang mit dem religiösen, sittlichen und intellectuellen Leben betrachtet: Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, V, München 1867, 432. Heinrich Heppe 1879, 216-236. Zu Vitringa vgl. Emil Friedrich Kautzsch: R E 3 X X , 705-708 und Hermann Bauch, Die Lehre vom Wirken des Heiligen Geistes im Frühpietismus. Studien zur Pneumatologie und Eschatologie von Campegius Vitringa, Philipp Jakob Spener und Johann Albrecht Bengel: Theologische Forschung 55, HamburgBergstedt 1974, 23-28. 23 SPECIMEN D I S P U T A T I O N U M GEMARICARUM, E X C E R P T U M E X C O D I C E T A L M U D I C O B E R A C O T H . Q U O D F A V E N T E D E O , P R A E S I D E V I R O CLARISSIM O , D. J A C O B O R H E N F E R D I O . . ., Publico examini subjiciet S A M U E L K O E N I G , Helvetio-Bernas, . . . F R A N E Q U E R A E , . . . M D C X C V I . Zitiert: Specimen.

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ingenium ad ardua & praeclara quaevis natum vocat, strenue eo quo coepisti pede perge, certus fore, si quis literarum Hebraearum & orientalium studiis porro honos erit, tibi quoque inter earum professores, vel certe cultores, honestum locum & nomen, sive in patria sive etiam extra illam, esse futurum." 2 4 Warum bedurfte König, dem hier ein Platz unter den anerkannten Judaisten und Orientalisten der Zeit eingeräumt wird, einer solchen Ermutigung? Man wird - sicher zu Recht - antworten, jeder junge Forscher habe das nötig. Rhenferd bezweckte aber mehr. Er schielte nach Bern, wo es offenbar Leute gab, denen Königs Spezialistentum zu weit ging, die bezweifelten, ob sein wissenschaftliches Streben einen andern Sinn habe als den ehrgeiziger Selbstbefriedigung. Davon, meinte Rhenferd, solle und müsse sich König aber nicht beeindrucken lassen: „Neque vero illorum judicium tibi admodum metuendum esse existimem, qui, cum rem non satis intelligant, ut est horuncce hominum numerus longe maximus, te otio & ingenio pessime abusum esse dicent, qui utrumque a gravioribus & homine Christiano tuoque ingenio dignioribus studiis ad steriles & inanes Gemaricorum disputationes, difficiles sc: & inutiles nugas, legendas vertendasque traduxeris." 25 Wessen Banausentum - darum handelte es sich in Rhenferds Augen doch - war damit gemeint? Ging das auf Berns Pietisten? Dagegen spricht die Tatsache, daß König sein Werk ausgerechnet Nikiaus von Rodt, der längst zu Güldins Anhängern und Protektoren zählte, zugeeignet hat. Waren im Kreis der zuständigen bernischen Behörden Zweifel an Königs wissenschaftlicher Entwicklung laut geworden 26 ? Die Frage läßt sich nicht mehr beantworten. Daß sie überhaupt auftaucht, ist hingegen symptomatisch: König hatte das Normalmaß dessen, was für einen praktisch denkenden Berner offenbar zur Ausbildung eines Theologen gehörte, überschritten und mit seinem zweifellos vorhandenen wissenschaftlichen Ehrgeiz wohl auch hier und dort Anstoß erregt. Wie auch immer, nach Bern zurückgekehrt, ließ er sich anfangs des Jahres 1698 zwar examinieren und in den Kirchendienst aufnehmen, bewarb sich aber vorher noch um eine Lehrstuhlvertretung und legte eine exegetische Abhandlung über Numeri 14, 13-19 vor, in der er alle Register seines mittlerweile virtuosen Könnens zog 27 . Er erhielt die angestrebte Stelle nicht, wenigstens 24

Specimen 102. Specimen 101. 26 Noch am 5. November 1694 hatte der Schulrat von Königs Zwischenbericht aus Franeker mit großer Befriedigung Kenntnis genommen. (SM, Bd. I, 166v) 27 EXEGESIS T H E O L O G I C O - P H I L O L O G I C A INTERCESSIONIS MOSAICAE, N u m . XIV. 13-19. Q u a m Favente Deo O p t i m o Maximo Sub Praesidio Viri Clarissimi D N . DAVIDIS ALBINI, . . . Publico examini subijcit SAMUEL K O E N I G , Helv. Bern. S. Ministerij Ordinem ambiens . . . BERNAE. Ex Officina Typogr. Illustrissimae Reipublicae . . . M . D C . XCVIII. Zitiert: Exegesis. - König hat diese Abhandlung am 13. Januar 1698 vorgelegt und öffentlich verteidigt. Am 17. Januar unterzeichnete er als nunmehriger Kandidat des Ministeriums die Formula Consensus. (StAB B III 25) - Bei der Professur, um deren Vertretung König sich bewarb, handelte es sich um den Lehrstuhl für Eloquenz, dessen Inhaber, Emanuel Bondeli, beurlaubt war, um die ihm angetragene Erziehung des brandenburgischen 25

99

nicht sofort, und kam so an derjenigen Kirche zum Einsatz, die seit Jakob Dachs und Christoph Lutz ein Stützpunkt des bernischen Pietismus war: an der Spitalkirche. Männiglich wartete mit Spannung darauf, wie der junge Gelehrte sich auf diesem Posten bewähren und wie er in der Auseinandersetzung zwischen Pietisten und Pietistengegnern Stellung nehmen werde. Nun, bereits am 21. März - König war erst kurze Zeit im Amt - konnte Samuel Güldin seinem Zürcher Freund Heinrich Laubi melden, König stehe eher auf der Seite der „Frommen" 2 8 . Diese Wendung kam damals für viele überraschend. Einen Bruch in Königs theologischer Entwicklung stellte sie aber nicht dar. Sie hatte sich vielmehr, wie ein Blick in sein theologisches Frühwerk zeigt, längst angebahnt 29 .

2. Samuel

Königs

theologisches

Frühwerk

Bei Königs theologischen Frühschriften - „De foedere et testamento Dei" (1692), „Specimen disputationum Gemaricarum" (1696) und „Exegesis . . . intercessionis Mosaicae" (1698) - handelt es sich um vom akademischen Studienbetrieb der Zeit geforderte, von Lehrern angeregte und inspirierte Arbeiten. Es ist deshalb weder nötig, darüber im einzelnen zu referieren, noch angemessen, daraus eine abgerundete Theologie erheben zu wollen. Wohl aber ist es legitim, diese Schriften auf Anzeichen späterer Entwicklungen ihres Autors hin zu befragen. N u n hat sich König, kaum hatte er seine Predigttätigkeit in Bern aufgenommen, nicht nur als Pietist, sondern besonders auch als Chiliast zu erkennen gegeben. Dreierlei, so scheint mir, ist für seinen Chiliasmus konstitutiv: das Bibelverständnis, die christologische Konzentration und die apokalyptische Geschichtsschau. Wie steht es um Kurprinzen wahrnehmen zu können. (Friedrich Haag 1903, 98f.) Der Schulrat schlug Königs Bewerbung nicht einfach ab, sondern stellte ihm die Stelle für das Frühjahr in Aussicht, wird aber dann nicht mehr darauf zurückgekommen sein, weil sich König als Spitalprediger mittlerweile zu sehr exponiert hatte. (SM, Bd. II, 47 r vom25. 11. 1697 und 53'vom 26. 1. 1698) 28 Relation VIII, 3. 29 Mein Ziel ist nicht eine umfassende Darstellung und Würdigung der Frühschriften von 1692, 1696 und 1698. Königs G e mara-Kommentar könnte ich nicht kompetent beurteilen. Ich beschränke mich auf eine gezielte, auf Königs Entwicklung zum Chiliasten konzentrierte Analyse. Diese Entwicklung hat Hadorn 1901, 61 so beschrieben: „Er (König) war durchaus ein Gefühlsmensch, tapfer und überschwänglich, aber in seinen Meinungen von Andern zu seinem und seiner Anhänger Schaden abhängig. Diese Andern waren Jane Leade und das Ehepaar Petersen. Auf seinen Studienreisen nach England und Deutschland kam König mit diesen Leuten in Berührung und ließ sich sofort für ihre Lehre von dem tausendjährigen Reich gewinnen." Hadorn nimmt König hier entschieden zu kurz. Daß dieser unter dem Einfluß der Jane Leade und des Ehepaars Petersen stand, ist zwar richtig, läßt sich aber mangels Quellen nicht mehr weiter erhellen. Hingegen hoffe ich zeigen zu können, daß König nicht unvorbereitet zum Chiliasten wurde und daß er dafür nicht bloß gefühlsmäßige, sondern durchaus theologische Gründe hatte.

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diese elementaren Voraussetzungen v o n K ö n i g s Chiliasmus in seinen F r ü h schriften? Keine natürliche Gotteserkenntnis v e r m a g nach K ö n i g d e m Menschen, da er sich d u r c h die S ü n d e v o n G o t t e n t f r e m d e t hat, das Heil zu verbürgen 3 0 . G o t t selbst m u ß t e sich k u n d t u n . D a ß er es in der Bibel getan hat, k a n n n u r leugnen, w e r zugleich G o t t leugnet. Als K u n d g a b e Gottes bedarf die Bibel w e d e r einer menschlichen Bestätigung, n o c h leidet sie eine solche. Gott, u n d n u r er, autorisiert sie, i n d e m er ihr Zeugnis durch den heiligen Geist i m Gewissen des M e n s c h e n beglaubigt: „Dei est testari, ut de se & operibus suis, ita de V e r b o s u o . " D a ß die Bibel Gottes W o r t sei, ist also i m m e r schon ein Resultat ihrer W i r k u n g u n d insofern eine E r f a h r u n g des Glaubens, die K ö n i g i m A n s c h l u ß an Coccejus f o l g e n d e r m a ß e n beschreibt: „ H o c T e s t a m e n t u m esse Patris mei fidem facit mihi & o m n i b u s spiritu promissionis donatis 1. Haereditatis praestantia. 2. T e s t a m e n t i divinus stylus & efficacia in c o r d e haeredis legentis. 3. Testatoris divina vox, cui assuetus s u m , q u a m saepe inaudivi. Hic Spiritus Dei in m e regnans testatur, q u o d Spiritus in Prophetis loquens sit veritas. 1. J o h . V . 6 . " 3 1 . D a r a n , daß die Schrift als solche „perfecta" u n d „divinitus inspirata" sei, k a n n dann kein Zweifel m e h r aufkommen32. Das ist, k n a p p z u s a m m e n g e f a ß t , Königs theologischer Grundsatz. O b er die Bibel in j e n e m Sinn als v o n G o t t inspiriert betrachtete, wie die Helvetische K o n s e n s u s f o r m e l es tat, darüber schweigt K ö n i g sich aus. Das ist in u n s e r e m Z u s a m m e n h a n g aber auch nicht entscheidend. Für Königs spätere theologische E n t w i c k l u n g ist vielmehr bedeutsam, daß mit der A n n a h m e der - w i e weit auch i m m e r gehenden - Verbalinspiration allen Teilen der Bibel, also auch der Johannesapokalypse, gleiche Dignität u n d A u t o r i t ä t zuerkannt wurde. H e r m e n e u t i s c h e r Schlüssel u n d systematische K l a m m e r biblischer T h e o logie - u n d T h e o l o g i e ist n u r als eine biblische möglich - ist f ü r K ö n i g der Begriff des B u n d e s . E r b e w a h r t den T h e o l o g e n davor, sich in leeren S p e k u lationen zu verlieren, u n d lenkt seine ganze A u f m e r k s a m k e i t auf die Realität jenes heilsgeschichtlichen Prozesses, an d e m er selber teilhat. D e r B u n d e s b e 30 De foedere § 4. - König lehnt sich in seiner foederaltheologischen Dissertation in Aufbau und Inhalt eng an die durch Johannes Coccejus und Johann Heinrich Heidegger vorgegebene Konzeption an. Seine Abhandlung zerfallt in vier recht unterschiedlich große Teile. Zuerst handelt König von den beiden „tabulae" respektive vom „instrumentum" der Bundestheologie, d. h. von der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments (§§ 2 und 3). Dann stellt er die beiden Bundespartner, Gott und Mensch, vor (§§ 4-7). Im Hauptteil befaßt er sich mit den beiden Bundestypen des „foedus operum" und des „foedus gratiae" (§§ 8-11, 12-23, 24-40). Der 4. Teil „de diversa foederis gratiae administratione" ist ein Fragment: König behandelt nur die Bundesoekonomie „ante Christum" und weist auf diejenige „post Christum" - „ne loco Dissertationis librum videar scripsisse" (§ 50) - nur gerade hin - (§§ 41-50). - Heiner Faulenbach, Weg und Ziel der Erkenntnis Christi. Eine Untersuchung zur Theologie des Johannes Coccejus, Neukirchen-Vluyn 1973. 31 32

De foedere § 2. Ebd. § 3.

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griff ist f ü r K ö n i g der systematische A n g e l p u n k t der Bibel, so daß er diese auch einfach als „liber foederis" bezeichnen kann 3 3 . Wichtiger aber als dieser Z e n t r a l b e g r i f f ist das d a m i t gemeinte Geschehen u n d d a m i t dessen Z e n t r a l figur: Christus. Wie der M e n s c h v o n N a t u r außerstande ist, G o t t so zu erkennen, daß daraus sein Heil erwächst, so liegt es auch nicht i m Bereich seiner M ö g l i c h keiten, die in A d a m verlorene Bündnisfähigkeit aus eigener K r a f t w i e d e r z u erlangen. D e r Begriff der I m a g o Dei bezeichnet keine menschliche Qualität, s o n d e r n das W o h e r u n d das W o h i n des Menschen, er weist über den M e n schen hinaus auf dessen Schöpfer hin: „. . . nihil aliud notat, q u a m id, . . . A d a m u m a D e o ceu C o n d i t o r e , s e c u n d u m D e u m ceu E x e m p l a r , & ad D e u m ceu f i n e m . . . esse." Diese Beziehung - darum handelt es sich - ist aber v o m M e n s c h e n her g r u n d l e g e n d gestört. Im eigentlichen, nicht abgeleiteten Sinn trifft der Begriff der I m a g o Dei n u r auf Christus, den m i t d e m Vater wesenseinen Sohn, zu 3 4 . Er, Christus, ist d u r c h seine M e n s c h w e r d u n g u n d d u r c h seine H i n g a b e des M e n s c h e n „sponsor" 3 5 , i n d e m er diesem die v e r w i r k t e Gerechtigkeit v o r G o t t als eine „donatio aliena" u n d „gratuita" verheißt, i m Glauben zueignet u n d so die gestörte Gottesbeziehung w i e d e r herstellt 3 6 . D e r so a m M e n s c h e n handelt, ist der dreieinige Gott: „ N o s . . . o m n e m conversionis peccatoris sive adductionis in foedus gratiae l a u d e m D e o & ejus gratiae in solidum tribuimus. h. e. merito & obedientiae Christi meritorie, Spiritui a u t e m sancto regeneranti, intellectum illuminanti, v o l u n t a t e m sanctificanti & cor n o v u m creanti efficienter. "31 Weil d e m so ist, hat sich j e d e r verbi divini Studiosus nach d e m Vorbild des Apostels Paulus i m G r u n d e n u r u m eines zu b e m ü h e n : u m die „ c o g n i t i o j e s u Christi crucifixi". Es l o h n t sich, K ö n i g an dieser Stelle ausführlicher zu W o r t k o m m e n zu lassen, zumal er in den folgenden Sätzen seine theologische G r u n d h a l t u n g k n a p p z u s a m m e n g e f a ß t hat: „Cognitio Iesu Christi crucifixi est cognitio ejus, qui Dei filius est & Germen; cui datum est vitam habere in se, quemadmodum Pater vitam habet in se; cum quo Pater consilium pacis fecit, & propositum gloriam gratiae suae in peccatoris servatione demonstrandi . . .; Qui Patri obedientiam usque ad mortem stipulanti, promptissime respondit; Ecce adsum, voluntatem tuam facere cupio; quique proinde pro peculio sibi dato intercessit, & verbo potentiae & intercessionis suae illud bajulavit; Qui ut vere salutem praestaret, quam se praestiturum toties totiesque per nuncios suos promiserat, in carne se manifestavit, & ex carne tabernaculum sibi fecit, in quo plenitudo Deitatis ejus habitavit, & Deum suum (est enim Pater Deus Filii) glorificavit, annunciatione & executione eorum omnium, quae Pater ei in mandatis dederat. Qui proinde licet in forma Dei esset, & divinam gloriam & majestatem populo suo spectandam & adorandam exhibuisset, neque rapinam vel sacrilegium duceret se 33 34 35 36 37

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

§§ 1 und 2. § 12. § 29. § 34. § 35.

gerere Deo aequalem, se tarnen ipsum sponte exinanivit, & loco formae & majestatis divinae, cui ferendae hominum nullus par fuisset, formam servi accepit, in similitudine hominum factus, & habitu inventus homo, infirmitatibus humanis aeque ac alius quisquam, obnoxius; Qui tándem se ipsum humiliavit, & paternae manui animam infernalibus horroribus exagitandam, Judaeis & Gentibus corpus suum lacerandum, & iniquissime tractandum, serpenti denique antiquo calcem admordendam, & veneni sui ardoribus misere discruciandam sponte & lubens obtulit, adeoque obediens factus est usque ad mortem, imo mortem crucis maledictissimam, dolorosissimam; Qui hac ipsa passione & morte vere Jesus h. e. perfectus salvator factus est; Qui licet jam anteae esset Unctus, h. e. ad officium suum sacratissimum destinatus, & donis Spiritus Sancti abunde instructus, jam demum se vere unctum demonstrat, effundendo Spiritum suum in omnem carnem, vivificando ex morte peccati populum testamento sibi datum, peccata iis remitiendo, coelum iis addicendo, adoptionem in conscientia eorum per Spiritum suum annunciando & obsignando, laetitia denique spirituali ánimos eorum perfundendo, & ad imaginem gloriae suae transformando . . Hunc Jesum Christum crucifixum ita cognoscere, & has veritates agnoscere, & in bona conscientia affirmare, & Deo propterea gratias agere, id demum est, quod Christianum & verbi divini studiosum decet. Hoc nimirum est illud mysterium Dei & Patris & Christi, in quo omnes thesauri sapientiae & cognitionis reconditi sunt. " 3 8 Dieses schöne, u m eine Paraphrase von Philipper 2 h e r u m gruppierte föderaltheologische Brevier scheint mir bemerkenswert zu sein. B e m e r kenswert nicht deshalb, weil es besonders originell wäre - was es als Ganzes wiedergibt, ist vielmehr Gemeingut der Bundestheologie - , w o h l aber im Hinblick auf Königs weitere Entwicklung, und das in dreifacher Weise. Erstens: D e r Grundtenor des ganzen Abschnitts ist streng christozentrisch. Theologie wird hier zur Christologie. Ein trinitarischer Aufbau schimmert zwar unverkennbar durch, aber es ist die zweite Person, die i m Z e n t r u m steht. Christus ist die Mitte der Schrift. Zweitens: An Königs Paraphrase des paulinischen Christushymnus fällt auf, wie er bei aller Betonung der Präexistenz Christi doch vor allem dessen M e n s c h w e r d u n g und irdisch-menschliche Existenz hervorhebt und hier wiederum in erster Linie das stellvertretende Leiden Jesu durch eingeschobene Erläuterungen zu veranschaulichen und eindrücklich zu steigern weiß. Drittens: Z u m Heilsgeschehen gehört aber nicht bloß die vergangene Heilsveranstaltung, sondern auch die gegenwärtige Heilsmitteilung, die zu beschreiben König k a u m genügend Worte findet, bis hin zu dem, was auch zu seiner Zeit noch ausstand: zur Verwandlung der Gläubigen durch Christus „ad imaginem gloriae suae". Königs Studien auf dem Gebiet der Judaistik stehen mit seinem Biblizismus u n d mit seinem Christozentrismus in direktem Z u s a m m e n h a n g : Er sieht in der Beschäftigung mit der rabbinischen Literatur eine wichtige Hilfsdisziplin, die d e m Verständnis der neutestamentlichen Texte, vor allem der Evangelien, insofern dient, als sie deren sprachlichen, kulturellen und kultischen H i n t e r g r u n d erhellt. „Fuere enim Christus, Evangelistae & 38

Specimen, Vorwort (unpaginiert), 1. und 2. Seite.

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Apostoli, natione Judaei, sacris & stylo illius gentis innutriti. " 3 9 Das W o r t Gottes n i m m t nach K ö n i g n u r ernst, w e r bereit ist, auch u n d gerade seiner geschichtlichen Gestalt alle n u r erdenkliche A u f m e r k s a m k e i t zu schenken. Die „ c o g n i t i o j e s u Christi crucifixi" ist nicht n u r ein dogmatischer V o r g a n g , auch die Historie dient d e m Glauben. D e r G e d a n k e daran, daß das auch anders sein k ö n n t e , liegt K ö n i g n o c h ganz fern. D i e B e s c h ä f t i g u n g m i t der rabbinischen Literatur zeitigte f ü r K ö n i g aber n o c h ein weiteres, in u n s e r e m Z u s a m m e n h a n g nicht unwesentliches E r g e b nis: K ö n i g hat die i m S p ä t j u d e n t u m in vielfältigen F o r m e n lebendigen eschatologischen H o f f n u n g e n kennengelernt. Die v o r h a n d e n e n Quellen lassen es indessen nicht zu, einen Einfluß rabbinischer A n s c h a u u n g e n auf K ö n i g s späteren Chiliasmus zu behaupten, belegen aber sein Interesse an der Frage nach d e m Reich Gottes. M i t d e m T h e m a des Reiches Gottes hat sich K ö n i g in einer weiteren Dissertation eingehend befaßt, die er unter der Leitung J o h a n n e s van der Waeyens geschrieben u n d o f f e n b a r gleichzeitig mit d e m G e m a r a - K o m m e n tar in D r u c k gegeben hat 4 0 . W e r darin nach Spuren k o n k r e t e r E n d z e i t h o f f n u n g sucht, sieht sich allerdings enttäuscht, handelt es sich dabei d o c h u m eine biblisch-theologische E r ö r t e r u n g o h n e expliziten G e g e n w a r t s b e z u g . A b e r hatte K ö n i g 1692 die Bibel noch als „liber foederis" bezeichnet, so definiert er sie n u n als „ s e r m o regni, vel, de r e g n o " . D e r Begriff des Reiches Gottes ist z u m systematischen A n g e l p u n k t der Bibel g e w o r d e n . S y m p t o matisch ist ferner, wie scharf K ö n i g unter ausdrücklicher B e r u f u n g auf A u g u s t i n den A n t a g o n i s m u s v o n Reich Gottes u n d Reich des Teufels herausarbeitet. D e m „semen mulieris" steht das „semen serpentis" gegenüber, den „filii D e i " widersetzen sich die „filii h o m i n u m " beziehungsweise die „filii Diaboli", die „ex D e o nati" befinden sich i m Gegensatz zur „progenies v i p e r a r u m " . „Praedicuntur igitur futurae m u t u a e pugnae, odia, certamina n o n cessatura u n q u a m , d o n e c altera pars dejecta fuerit, & supressa penitus . . . tarnen n o n dicitur, u n o ictu id fore; Sed fore aliquando ut plenissime frangatur, disjiciatur, & in n i h i l u m redigatur Diabolica potestas, licet p e d e d e n t i m C h r i s t u s id sit effecturus, & diversis ictibus confecturus i m m a n e m illum & v o r a c e m D r a c o n e m . " 4 1 Diese b e t o n t dualistische Weltsicht deutet hin auf Königs Interesse an Fragen der Eschatologie, das sich durch weitere, o f t recht versteckte H i n w e i s e aus f r ü h e r e n Schriften belegen läßt. So beginnt die Dissertation v o n 1692 m i t 39

Ebd. 7. Seite. D I S S E R T A T O (sie) T H E O L O G I C A DE REGNI DEI I N D O L E & A D V E N T U . Q U A M T R I U N O F A V E N T E D E O SUB PRAESIDIO Viri Clarissimi D. J O H A N N I S Vander W A E Y E N . . . Publico Examini subjicit SAMUEL K O E N I G , Helv. Bernas, A U T O R & R E S P O N D E N S . F R A N E Q U E R A E , Apud J O H A N N E M GYZELAR (sie) . . . M D C X V I (sie.; richtig: M D C X C V I ) . - Eines der seltenen Exemplare dieser Dissertation befindet sich im Besitz von Herrn Dr. Ferenf Postma (Freie Universität Amsterdam), dem ich eine Photokopie und wertvolle Hinweise dazu verdanke. 41 Ebd. §§ 1 und 36—39. Die Zitate § 37. 40

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dem folgenden Satz: „Hisce Temporibus, ubi m u l t o r u m cognitio augetur, juxta vaticinium Danielis XII.4. coepit Theologia Foederis vel Testamenti instar considerari." Das A u f k o m m e n der Bundestheologie wird damit von König als ein endzeitliches P h ä n o m e n gedeutet: Sie bringt jene Erkenntnis, von der Daniel 12,4 gesagt wird, sie werde wachsen. Sie vermag die seit urdenklichen Zeiten verschwiegenen Geheimnisse Gottes (Römer 16,25) zu entschlüsseln 42 . Das ist die eine, positive Seite von Königs endzeitlichem Zeitgefühl: Die Erkenntnis von Gottes Wort wächst in einem Maß, das aufhorchen läßt. Die andere Seite ist die, daß es nach 2. Timotheus 3,5 mehr und m e h r Menschen gibt, die sich zwar nach außen hin als f r o m m geben, die aber, die Bibel in der Hand, doch deren Macht und Autorität leugnen, und eben dies ist w i e d e r u m eine Erscheinung, die „in ultimis diebus" zu erwarten ist 43 . Daß auch die Zahl der „Doctissimorum A t h e o r u m & irrisorum" stetig wächst, paßt ins Bild. Das alles sind für König Zeichen der Zeit, ja der Endzeit, nicht aber des Endes überhaupt, denn zu erwarten bleibt die Herabk u n f t des himmlischen Jerusalem, in dem es die Unterscheidung und den Widerspruch von profaner und heiliger Wissenschaft nicht mehr geben, sondern alle Welt von der Erkenntnis Gottes erfüllt sein wird. König drückt das 1696 folgendermaßen aus: „. . . docet nos scriptum, o m n e m o m n i u m gentium cognitionem & inventionem redundaturam tandem aliquando in gloriam Christi, & o r n a m e n t u m Hierosolymae coelestis, suo tempore in terram descensurae, quo facto fore, ut terra tota impleatur cognitione Dei, q u e m a d m o d u m aquae maris alveum tegunt & implent, & splendor Lunae sit ut splendor Solis, & splendor Solis septuplex, & ut splendor Septem dieru m . . . D i c e n d u m nimirum, quod & Scriptura dicit, cum incremento cognitionis conjunctum iri largissimam Spiritus sanctificantis mensuram . . . Nulla enim veri nominis scientia in se profana est, sed sancta & bona, & venit a Deo, & a luce Dei, quam animis h o m i n u m insevit, & apta nata est D e o glorificando, & ducit ad D e u m , & in D e u m tandem resolvitur." 4 4 Alle wesentlichen Elemente von Königs Welt- und Zeitverständnis liegen hier offen zutage: Die Blüte der göttlichen Wissenschaft und ein reiches M a ß an heiligem, die Menschen heiligenden Geist, gehören so gut zur letzten Zeit wie deren offene Bestreitung, aber dieser Widerspruch wird nicht von Dauer sein, sondern weist über sich hinaus auf seine eigene A u f h e b u n g dann, w e n n Gott sein Reich herabführt. Biblische Verheißung und faktische Z e i t u m stände näherten sich in Königs Augen der Kongruenz. Das m u ß t e ihm, als er nach Bern zurückgekehrt war, erst recht so erscheinen, denn eben diesen gespaltenen, in der Letztzeit zu erwartenden Zustand fand er hier vor. Diesem Welt- und Zeitverständnis entsprach bei König ein Kirchenverständnis, für das nicht das Modell einer Institution, sondern dasjenige einer 42 43 44

De foedere § 1. Ebd. § 2. Specimen, Vorwort 3. Seite.

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Bewegung konstitutiv war. Am Schluß seiner exegetischen Abhandlung über Numeri 14 begreift er die Kirche als typologisches Gegenüber zum in der Wüste umherirrenden, unter Gottes Führung aus Ägypten nach Kanaan ziehenden, in der Wolke und im Meer getauften, mit Himmelsbrot gespeisten und mit aus dem Felsen sprudelndem Wasser getränkten Gottesvolk: Sie ist jene Bewegung, „quae ultimis demum seculis, ad fastidium usq; cum AntiChristo luctata, duce Christo ad veram in temporibus refrigerij quietem grassabitur . . . ex AEgyptoexitceuJsraelDeiverus&spiritualis. Indeserto vagatur, ad Canaanem contendit. Filio Dei inhabitatore, collustratore & defensore gaudet: Eundemq; ceu sponsorem efficacissimis precibus pro se interpellantem habet apud Patrem. " 45 Diese Sicht der Kirche hat König 1698, zu einem Zeitpunkt also, da seine Entwicklung zum Chiliasten abgeschlossen war, entworfen. Wie hat man sich diese Entwicklung im Rückblick auf sein theologisches Frühwerk nun vorzustellen? Gewiß wäre es zu gewagt, behaupten zu wollen, der Chiliast Samuel König habe sich aus dem Föderaltheologen Samuel König kontinuierlich herausgebildet. Zu vieles liegt im dunkeln, als daß man so weit gehen dürfte. Ansätze aber zu seinem Chiliasmus liegen, so scheint mir, in Königs föderaltheologischem Frühwerk durchaus vor - einem Frühwerk nota bene, in dem das ehrliche Bemühen des Autors, sich im vorgeschriebenen Rahmen der Orthodoxie zu bewegen, unübersehbar ist 46 . König hat sich in seiner Zürcher Dissertation einmal einem in den Baum der Föderaltheologie eingepfropften jungen Schoß verglichen 47 . Das Bild eignet sich trefflich zur Verdeutlichung dessen, was die Analyse von Königs theologischem Frühwerk ergibt: Königs Pietismus und Chiliasmus sind nicht oder wenigstens nicht nur fremde Früchte am Baum der Föderaltheologie. Gewiß haben Coccejus und Heidegger diese Konsequenzen aus ihrem theologischen Ansatz bewußt und mit guten Gründen vermieden 48 . Königs Chiliasmus aber ist ohne die biblizistische Tendenz, ohne die christologische Konzeption und Konzentration, wie wir ihnen in seinem Frühwerk begegnet sind, aber auch ohne die der Föderaltheologie inhärente heilsgeschichtliche Dynamik nur schwer zu erklären, es sei denn, man nehme, wie Hadorn das getan hat, einen unmotivierten Bruch in seiner Entwicklung an und mache dafür den Einfluß, den Jane Leade und das Ehepaar Petersen auf 45

Exegesis § 44. König läßt in dogmatischen Zusammenhängen - hierin ganz ein Kind seiner Zeit - keine Gelegenheit ungenutzt, um sich von Pelagianern, Semipelagianern, Sozzinianern, Remonstranten, Salmurensern und von den Scholastici Papistici zu distanzieren und die durch das Nicänum, die Confessio Helvetica posterior, die Beschlüsse der Dordrechter Synode und die Helvetische Konsensusformel vorgegebene orthodoxe Linie zu verfechten. Vgl. De foedere §§ 15, 16, 22, 26, 35, 37. 47 De foedere § 1. 48 Zur Ablehnung des Chiliasmus durch Coccejus vgl. Faulenbach 1973, 15 und 70 (Anm. 10), zu Heideggers Haltung in dieser Frage dessen 1673 veröffentlichte Dissertation „De chiliasmo seu aureo mille annorum seculo . . . " (bei Hutter 1955, XII, Nr. 56/27). 46

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König ausgeübt haben, verantwortlich 49 . So gewiß diese Beeinflussung stattgefunden hat, so wenig ist sie im einzelnen zu erhellen. Es wird davon gleich die Rede sein. Demgegenüber dürfte hier deutlich geworden sein, daß König auf die Ideen, welche die Leade und das Ehepaar Petersen ihm vermitteln konnten, alles andere als unvorbereitet war. N i m m t man hinzu, daß zum Beispiel Königs Lehrer Campegius Vitringa die Erfüllung biblischer Weissagungen bis in seine jüngste Zeit angenommen und in nächster Zukunft erhofft hat 50 , nimmt man ferner hinzu, daß überhaupt das Zeitalter von endzeitlichen Erwartungen, Befürchtungen und Hoffnungen erfüllt war 51 , dann wird man Königs theologischen Werdegang vollends nicht mehr als außergewöhnlich darstellen können. Wie denn hätte seine Verkündigung in Bern jene Resonanz finden können, die sie tatsächlich gefunden hat? 3. Kirchenkritiker

und Chiliast

Als König Ende 1697 in seine Vaterstadt zurückkehrte, hielt er von Berns Pietisten von vorneherein nicht eben viel52. Bereits in London hatten ihn von zu Hause Briefe erreicht, in denen über diese neuartigen Frommen nichts 49

Vgl. Anm. 29 dieses Kapitels. Bauch 1974, 24-27. 51 Peter Toon hat in seinem am Kölner Historikertag 1970 vorgelegten Beitrag zum englischen Puritanismus (: Religion - Politik - Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert: H Z 214 (1972) 26-95, 30-41) gezeigt, daß der Chiliasmus keineswegs, wie lange Zeit angenommen worden ist, eine Sonderlehre von Radikalen und Fanatikern, sondern bei puritanischen Geistlichen allgemein verbreitet war. Er hat für das Wiederaufleben diese Lehre in den Jahren nach 1630 hypothetisch folgende Gründe geltend gemacht: 1. Das Aufblühen der Hebraistik an den protestantischen Fakultäten und damit die Begegnung mit dem Gedankengut spätjüdischer Eschatologie und Apokalyptik, 2. die Lehre von der Verbalinspiration, die allen biblischen Schriften gleiche Autorität verliehen habe, 3. die Wirkung des unter dem Eindruck der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges geschriebenen Buches „Diatribe de mille annis apocalypticis" von Johann Heinrich Aisted (erschienen 1627. Zu Aisted vgl. jetzt Joachim Staedtke: T R E II, 299-303) und 4. die bedrängte Situation der Puritaner in der Zeit des Erzbischofs William Laud. Neuerdings hat Wallmann 1979, 52 die Bedeutung des Chiliasmus für die Kirchen- und Theologiegeschichte des 17. Jahrhunderts wie folgt angedeutet: „Je weiter die Erforschung des 17. Jahrhunderts fortschreitet, desto kräftiger wird das üppige Umfeld chiliastischer Zukunftshoffnungen vor unsere Augen treten, das die offizielle Eschatologie des lutherischen Kirchentums umlagert und auf dem wir der pietistischen Eschatologie verwandte Ideen reichlich finden. Schon in der reformierten Theologie, im englischen Puritanismus, im näheren Umkreis des Luthertums vor allem im sogenannten mystischen Spiritualismus mit seinen vielen Schattierungen trifft man auf Schritt und Tritt chiliastische Anschauungen." Chiliastisches Gedankengut ist im Umfeld des bernischen Pietismus zum erstenmal im Zusammenhang mit dem Auftreten der drei Mägde zu beobachten, vgl. oben 77. 50

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AP 161-195 („Herr Samuel Königs Deß Spital Predigers der Statt Bern Erste Verantwortung Vor Mhghh. der Verordneten Religions-Commission"). Das in der BBB unter der Signatur M . h . h . XII 102 (8) aufbewahrte Dokument stellt vermutlich das Original dieses Verhörprotokolls dar („Verzeichnis der Fragen, so von H G H H der Commission an mich gethan worden, sampt den Antworten drauf, wie ich mich derselben noch erinnern mag"). Jedenfalls trägt es Königs eigenhändigen Namenszug und enthält am Schluß einen eigenhändi-

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Gutes zu lesen stand. Auch nahmen ihn die 19 Thesen von 1696, die er aus der Ferne nicht kritisch zu beurteilen vermochte, eher gegen sie ein. Einmal im Amt, ging er der Sache nach und stellte überrascht fest, daß viel von dem, was man ihm gerüchteweise zugetragen hatte, nicht stimmte. Er lernte in den Pietisten Geistesverwandte kennen und schlug sich, in all den Jahren seiner Abwesenheit selber ein anderer geworden, entschlossen auf ihre Seite 53 . Daß sein Vater ihm deswegen das Haus wies, nahm er in Kauf. Was dieser Schritt bedeutete, konnte er damals freilich noch nicht realisieren: Sein Weg ins Exil begann. Vorerst bot ihm Nikiaus von Rodt ein neues Zuhause 5 4 . Unkritisch aber war König auch seinen neuen Freunden gegenüber nicht. Er kam in Zirkel, in denen man, statt sich u m sich selber zu bekümmern, nur über die andern herzog, er lernte Menschen kennen, die so taten, als hange das Heil an ihrem Wollen und Laufen und nicht an Gottes Erbarmen 5 5 . Das mißfiel ihm, mehr aber noch das, was er in der Berner Kirche an Mißständen feststellte. Er begann diese Mißstände offen anzuprangern. Das war, in der Weise, wie er es tat, neu. Im herrschenden System stützten staatliche und kirchliche Autorität sich gegenseitig. Es ertrug wohl interne, nicht aber öffentliche Kritik. Berns Pietisten aber hatten mittlerweile ein feines Sensorium für die prinzipielle Differenz von Staat und Kirche entwickelt. Sie wußten, daß christliche Gemeinde auf ihre Art und von ihren Voraussetzungen her souverän sein muß oder aber aufhört, christliche Gemeinde zu sein. Sie verstanden diese als Gemeinschaft der Erlösten und betrachteten sie insofern als mündig, als offene und öffentliche Kritik auch an den Autoritäten in ihr ihren Platz haben durfte und haben mußte. A m 15. Juni 1698 wurden im Berner Kapitel einmal mehr Beschwerden gegen pietistische Praktiken laut. Man nahm Anstoß an dem in Belp und anderwärts immer noch vorkommenden „Zittern". Man rügte die hier und dort beobachteten nächtlichen Zusammenkünfte, wo sich „ieder Ley, in specie ein küher" unterfange, aus Gottes Wort vorzulesen und dieses auch zu erklären. Man argwöhnte, die Frommen seien drauf und dran, die äußerlichen Gnadenmittel wie das Gebet und den Predigtgang zu verachten und

gen Zusatz. Die Grunersche Abschrift in A P weicht davon nur in Nebensächlichkeiten ab, weshalb hier der Einheitlichkeit wegen nach A P zitiert wird. Vgl. auch B B B , M . h. h. III 275, 108 ff. (Aktensammlung von Johann Franz von Wattenwyl). - D a Bachmann an Ulrich, 31. 10. 1698 ( Z B Z H M s 360), schreibt, Güldin und Lutz würden demnächst verhört, da ferner im Protokoll von Königs erstem Verhör auf eine Predigt Bezug g e n o m m e n wird, die dieser am 11. 11. 1698 gehalten hat, und da schließlich Güldin sich am 5. Dezember zum erstenmal vor der Religionskommission zu verantworten hatte, wird Königs erstes Verhör Ende N o v e m b e r beziehungsweise Anfang Dezember stattgefunden haben. - Vgl. auch Hadorn 1901, 60-63. 53 54 55

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A P 161 f. A P 165. A P 163 f.

„durch gleichnuß schier die impeccabilitet [zu] statuiren". Güldin dagegen monierte, das Problem der Profanation des Abendmahls dadurch, daß jeder ohne Unterschied daran teilnehmen müsse, sei nach wie vor ungelöst 5 6 . Der Konflikt war einmal mehr in seiner ganzen Schärfe zutage getreten: Der Geistkirche als Gemeinschaft der Heiligen stand die Amtskirche als staatliche Institution gegenüber. Aber beide Seiten hielten sich doch insofern an die geltenden Spielregeln, als sie ihre gegenseitige Kritik im geschlossenen Rahmen des Ministeriums übten. Anders Samuel König. Sein Forum, vor dem er die festgestellten Mißstände rügte, war die Gemeinde. A m Donnerstag nach dem eben erwähnten Kapitel holte er zum Gegenschlag aus, indem er rundweg behauptete, ein guter Teil des Ministeriums sei geistlich tot 57 . Die in seiner Predigt enthaltenen Anspielungen auf die Kapitelsverhandlungen waren unüberhörbar. Er wies auf die bei Pfarrwahlen üblichen Schiebereien hin und forderte die Gemeinden offen dazu auf, die Pfarrer nicht nur auf ihre O r thodoxie, sondern auch auf ihre praxis pietatis hin kritisch zu prüfen 5 8 . Er rügte, man nehme ehrlichen Leuten Briefe ab - in der Tat hatte die Religionskommission damit begonnen, Korrespondenzen von Pietisten zu konfiszieren - , während man Briefe von andern Personen, die „dem N a men und Rok nach geistlich" seien, ungehindert befördere, obschon man darin „Greüwel und Götzen" finden würde 5 9 . Ja, König ging so weit, zu fordern, ein Prediger müsse wiedergeboren sein, und er zeigte Verständnis für all jene, die aus Sorge u m das Heil ihrer Seele das Parochialprinzip mißachteten und sich „ihren" Pfarrer suchten 60 . N e u war das alles nicht. N e u aber war, daß es öffentlich von einem Mitglied des Ministeriums ausgesprochen wurde. Güldin und seine Freunde hatten in dieser Hinsicht bisher Zurückhaltung geübt 6 1 . Wenn König nun einen entscheidenden Schritt weiter ging, so entsprach das nicht nur seinem Temperament, sondern hing direkt mit seinen chiliastischen Anschauungen zusammen. Er hielt auch damit nicht hinterm Berg. Das konnte und durfte er seiner Überzeugung nach auch gar nicht tun, A C B 15. 6. 1698. A P 169. 5 8 A P 173-175. 5 9 A P 172. 6 0 A P 165-168. - K ö n i g ist ein typisches Beispiel für die von Hartmut Lehmann (1980, 97f.) beobachtete Verbindung von Foederaltheologie, Erweckungsglauben und Chiliasmus. 6 1 Die einzige aktenkundige und mir bekannte Ausnahme ist eine kritische Äußerung, die Güldin in der Sonntagnachmittagspredigt v o m 13. 3. 1698 zu einer nächtlichen Schlägerei gemacht hat. D a s Ratsmanual verschweigt, w o r u m es sich bei diesem Vorfall gehandelt hat, vermerkt aber, Güldin habe öffentlich gesagt, dagegen wäre Remedur nötig. Güldin mußte sich v o m Rat sagen lassen, es gehe nicht an „daß der Oberkeitliche Stand und A m b t vor der gantzen burgerschafft und allerhand Zulaufs der Underthanen verkleinerlich angegriffen werde". Ein Prediger habe allfällige Kritik der Obrigkeit direkt vorzubringen und nicht auf die Kanzel zu tragen. R M 261, 44 und 86, 15. und 23. 3. 1698. 56

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denn er glaubte, wie bereits angedeutet wurde, das Ende nahe. Es war höchste Zeit, davon zu reden - wovon, das gilt es nun kurz darzustellen 62 . Seit Ostern und Himmelfahrt - damit setzt König ein - ist Christi Weltherrschaft im Glauben manifest und in der Geschichte der Kirche auch nachweisbar. Manifest und nachweisbar ist sie freilich nicht völlig, „dan der Teüffel annoch ist der Gott dieser Weldt". Das kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß die Ungläubigen Christi Jünger noch und noch verfolgen. Christus herrscht mitten unter seinen Feinden. Sein Gegenspieler, der Antichrist, wird dereinst endgültig demaskiert werden. Vorher aber mußte der Verfall der Kirche eintreten, der mit der Konstantinischen Wende begann und unter dem römischen Papsttum ständig fortschritt. Die dem Antichristen durch alle Zeiten der Kirchengeschichte hindurch anhangenden Scheinchristen bilden das Tier von Apokalypse 13,263. Dieses ist zwar in der „seeligen Reformation" tödlich verwundet worden, hat sich aber seither wider Erwarten erholt, wie das „nur dem Namen nach Lebende, aber in der that erstorbene Sardische Christenthum, darinnen wir nur Leider heütigstags allzudieff steken", zeigt. Wohl steht der „Philadelphische geistliche Frühlingstag" vor der Tür, aber er wird infolge der „Laodiceischen Leüwigkeit" wiederum in eine „grausamme Jammernacht" verwandelt werden 64 . Dann wird das Tier auf der Höhe seiner Macht stehen. Die Heiligen werden zu leiden haben wie nie zuvor. Aber dem Tier sind Zeit und Stunde bestimmt. Die „erscheinung zur Zukunfft Christi" wird seiner Herrschaft ein Ende setzen und „herrliche und glükseelige Reichs- und Ruhszeiten" der Kirche des Neuen Testaments, das Tausendjährige Reich, einleiten 65 . Wie 62 AP 136-144 („Kurtzer Entwurff Der Lehr von dem zukünfftigen Herrlichen Tausendjährigen Reichjesu Christi unsers Heylands. Aufhöre Samuele Köng", zitiert: Entwurff). Vgl. dazu aus dem Protokoll von Königs erstem Verhör AP 171 f. und 184f. sowie Relation III, 11. Dieser „ E n t w u r f f ' dürfte erst nach Königs zweitem Verhör vom 22. 3. 1699 entstanden sein, vgl. AP 188-190. - Eine wertvolle Darstellung von Königs Chiliasmus aus der Perspektive seiner Gegner findet sich in einem noch unsignierten, aus dem Archiv des Pfarramts I am Berner Münster stammenden Bestand des StAB („Außfuhrlicher und Wahrhafftiger Bericht deßen, was sich neülich mit Hr. N N . S. Minist. Candid. und auß Verordnung eines Ehrw. Convents gewesenen zweyten Vicario in der Spittal-Kirch, genant zum H. Geist, in eint und anderer Commissionsverhandlung zugetragen", 23 unpaginierte Seiten, zitiert: Außfuhrlicher Bericht). Da in diesem Bericht auf Königs Suspendierung vom Amt Bezug genommen wird, kann er erst nach Königs drittem Verhör, also nach dem 29. 3. 1699, entstanden sein. Sein Verfasser ist ein wissenschaftlich gebildeter Theologe und zugleich Mitglied der Religionskommission. Da er Johann Rudolf Rudolf gegen König in Schutz nimmt, kann es sich dabei wohl nur um Professor David Wyss handeln. Der Bericht ist als Gegendarstellung zum Protokoll von Königs erstem Verhör, das in der Stadt zirkulierte, zu betrachten. Er weicht von Königs „ E n t w u r f f ' nur in der Argumentation pro und contra Chiliasmus, nicht aber in der Darstellung von Königs Lehre und Verkündigung ab. - Ein schönes Zeugnis für die Wirkung von Königs chiliastischer Verkündigung ist die von einem unbekannten Autor stammende „Abhandlung über die Verkündigung des zukünftigen herrlichen Reichs Christi v. lOOOJahren vom 1. [2.?]Juni 1699" (StAB B III 203, 30 unpaginierte Seiten, zitiert: Abhandlung). 63 64 65

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E n t w u r f f § § 1-5. Entwurff § 6. Entwurff §§ 7 und 8.

w i r d das v o r sich gehen? In einem g r o ß e n E r d b e b e n w e r d e n zuerst die v e r s t o r b e n e n F r o m m e n u n d Gerechten auferstehen. Das ist die erste A u f e r stehung, diejenige der T o t e n in Christo 6 6 . D a n n „ w e r d e n . . . wir, die w i r w e r d e n Leben u n d überbliben sein . . . hingezukt w e r d e n . . . d e m H e r r e n entgegen, u n d w e r d e n also bei d e m H e r r e n sein allezeit" 67 . T a u s e n d J a h r e lang w e r d e n d a n n die entrückten Heiligen auf Z i o n mit Christus z u s a m m e n regieren u n d unaussprechliche h i m m l i s c h e Freuden erleben dürfen. „Das P a n q u e t w i r d sein H o l t z deß Lebens, verborgenes M a n n a , B r o t v o m H i m mel, N e ü w G e w ä c h s deß Weinstoks, Wasser deß Lebens i m Paradiß G o t tes." 6 8 Diese V e r s a m m l u n g der Verklärten ist die in der Schrift verheißene „ N e ü w e Statt G o t t e s " , das h i m m l i s c h e Jerusalem 6 9 . Erst m i t Christi E r scheinen zu seiner tausendjährigen Herrschaft w e r d e n sich die J u d e n b e k e h ren, w e r d e n auch die Heiden des ausgegossenen Geistes teilhaftig w e r d e n u n d z u s a m m e n das u n t e r e j e r u s a l e m bilden, u n d a m E n d e der t a u s e n d j a h r e , nach der A b s c h a f f u n g G o g s u n d M a g o g s u n d nach der endgültigen V e r s t o ß u n g des Teufels, w e r d e n in der zweiten A u f e r s t e h u n g die übrigen T o t e n , die Gottlosen, w i e d e r lebendig u n d i m Gericht auf grauenvolle Weise v e r nichtet w e r d e n 7 0 . Das ist, k n a p p z u s a m m e n g e f a ß t , Samuel Königs „Kurtzer E n t w u r f f D e r Lehr v o n d e m z u k ü n f f t i g e n Herrlichen T a u s e n d j ä h r i g e n Reich Jesu Christi unsers H e y l a n d s " , wie er sie auch auf der Kanzel v e r k ü n d i g t hat. D a r a n ist vorerst wichtig, w o i m entwickelten Zeitplan K ö n i g sich u n d seine Zeit sieht. Wie weit w a r seiner M e i n u n g nach die Zeit vorgerückt? Allzubes t i m m t e A n g a b e n hat er, so scheint es, wohlweislich vermieden. D e n n o c h sind die Beziehungen, die er zwischen seiner Zeit u n d d e m Ablauf der Ereignisse herstellt, eindeutig genug: Er erwartet den A n b r u c h des T a u sendjährigen Reiches n o c h zu seinen Lebzeiten u n d scheint die Zeiten des toten sardischen C h r i s t e n t u m s , des philadelphischen Frühlingstags u n d der laodizeischen Lauigkeit als sich überlappende Stadien i m gegen das E n d e hin sich u n g e h e u e r akzelerierenden Prozeß der Geschichte zu verstehen. Kein Zweifel: E r hielt den philadelphischen Frühlingstag mit d e m Pietismus f ü r angebrochen 7 1 . Kein Z w e i f e l auch: K ö n i g hat nicht einem krassen, sondern einem subtilen Chiliasmus gehuldigt. Er sah das Reich, das er erwartete, nicht in irdischen Farben 7 2 . Totalitär w a r seine Lehre dennoch: E r sah in ihr nicht n u r den Schlüssel z u m Verständnis der gesamten heiligen Schrift 7 3 , s o n d e r n zugleich den Schlüssel z u m Verständnis seiner Zeit. D e r K a m p f , der in der Bernischen Kirche - u n d nicht n u r in ihr! - sich abspielte u n d in den er 66 67 68 69 70 71 72 73

Entwurff §§ 11 und 12. Entwurff § 13. Entwurff § 15. Entwurff § 16. Entwurff §§ 21, 22, 14, 19. Entwurff § 6. So auch Abhandlung 6 und 24. Vgl. AP 172 und Entwurff § 15. Vgl. Abhandlung 18.

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selber eingriff, war danach vorgesehen, und eben hier liegt die Tragik in der Geschichte des Bernischen Pietismus: Die Katastrophe, in der er vorerst endete, war unausweichlich, weil in der Ideologie, die König ihm vermittelte, vorprogrammiert. Das unschuldige Leiden der Frommen mußte sein. Selbst für den allerdings auch unwahrscheinlichen Fall, daß die Gegenseite zu einer produktiven Verständigung Hand geboten hätte, wäre diese mit den von Königs Doktrin Infizierten nicht mehr möglich gewesen: Sie erwarteten das Reich, nicht den Kompromiß. Hinzu kam, daß die Gegner der Pietisten der Subtilität ihres Chiliasmus nicht trauten, sondern den Umschlag ins Krasse befürchteten. Berns Realpolitiker und staatstreue Theologen wußten, wohin die Entwicklung, die sie nun in ihrer Zeit und in ihrem Staat sich anbahnen sahen, in den Tagen Thomas Müntzers geführt hatte 74 . Sie reagierten darauf ebenso scharf, wie die Verkündigung eines Samuel König aggressiv war. Daß sie die Schuld an dem, was nun kommen mußte, einseitig auf der Seite der Chiliasten aller Zeiten sahen, gehörte wiederum zu ihrer Verblendung. Wie steht es aber um Hadorns Behauptung, König sei in seinen chiliastischen Anschauungen v o m Ehepaar Petersen abhängig 7 5 ? Diese bisher offengebliebene Frage läßt sich jetzt beantworten. Wohl sind in seiner Lehre vom Tausendjährigen Reich deutliche, zum Teil sogar wörtliche Anklänge an die Schriften vor allem Johann Wilhelm Petersens nicht zu verkennen 7 6 . Dennoch liegt keine direkte Abhängigkeit vor, denn König hat vor der Religionskommission ausgesagt, er sei von Petersen in seinen Ansichten, die er bereits vorher aus englischen Büchern gewonnen habe, nur bestärkt worden. Heißt das, daß er unter dem Einfluß der Jane Leade und derPhiladelphischen Sozietät zum Chiliasten wurde? Auch hier ist die Antwort negativ, denn König hielt sich nach seinen eigenen Aussagen in London auf, ohne von der Philadelphischen Sozietät auch nur das Geringste zu bemerken. Mit den genannten englischen Büchern kann nur das im englischen Puritanismus verbreitete chiliastische Schrifttum gemeint sein 77 . Welche einzelnen Auto74

Relation III, 11 (VI).

75

Hadorn 1901, 61.

7 6 Vgl. J o h a n n Wilhelm Petersens Schrift „Wahrheit des herrlichen Reiches J e s u Christi, welches in der siebenten Posaune noch zu erwarten ist, aus der Heiligen Schrift in sieben Lehrsätzen bestätigt", in Auszügen wiedergegeben bei Staehelin 1959, 2 3 8 - 2 4 4 . Hans Heinrich C o r r o d i , Kritische Geschichte des Chiliasmus, 3 B d e . , Frankfurt und Leipzig 1 7 8 1 - 8 3 , B d . 3, 1 3 3 - 1 5 6 , vor allem 1 3 6 - 1 4 7 . Eugen Sachsse, U r s p r u n g und Wesen des Pietismus. Festschrift zum 300jährigen Gedächtnis der Gründung der Hohen Schule zu Herborn i m Juli 1584, Wiesbaden 1884, 204—211. Walter N o r d m a n n , Die Eschatologie des Ehepaares Petersen, ihre E n t w i c k l u n g und Auflösung: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt 26 (1930) 8 3 - 1 0 8 und 27 (1931) 1 - 1 9 . 7 7 A P 171. - A u f die Frage, was er als weitgereister M a n n v o n den Pietisten in England, Holland und Deutschland halte, gab K ö n i g A P 164f. zu Protokoll, er glaube nicht, daß zur Zeit seines Aufenthaltes in London die Philadelphische Sozietät bereits existiert habe, weil er sonst b e s t i m m t darauf aufmerksam geworden wäre. (In der T a t trat die Philadelphische Sozietät erst u m diese Zeit — K ö n i g dürfte sich 1 6 9 6 / 9 7 in England aufgehalten haben — öffentlich in

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ren König gelesen hat, ist nicht mehr auszumachen. Ebenso liegt im dunkeln, wann er mit dieser Literatur bekannt wurde. Daß das bereits während seines Aufenthaltes in Franeker geschah, ist zumindest nicht auszuschließen. So k o m m t denn unser Versuch einer Rekonstruktion von Königs theologischer Entwicklung über das Modell einer Brücke, in deren Mitte eine Lücke klafft, nicht hinaus: Wie aus dem Bundestheologen Samuel König der Chiliast Samuel König geworden ist, das läßt sich zwar ansatzweise zeigen, nicht aber lückenlos nachweisen. Die Annahme eines eigentlichen Bruches innerhalb dieser Entwicklung hingegen ist unnötig und führt auf eine falsche Fährte. Der Chiliasmus war wie in England so auch auf dem europäischen Festland nicht die Angelegenheit einiger weniger Exzentriker, sondern eine breite Zeitströmung, deren Ursachen noch längst nicht genügend erforscht sind. Die instabile politische Situation im Europa des Jahrhundertendes spielte dabei ohne Zweifel eine wesentliche Rolle. Uns ging es darum, am Beispiel Samuel Königs aufzuzeigen, daß der Chiliasmus auch in den theologischen Voraussetzungen der Zeit ansatzweise verwurzelt war. So ist auch wenigstens ein Stück weit zu erklären, weshalb Königs Verkündigung im Kontext der in Bern gegebenen kirchlichen Situation auf Resonanz stieß: Theologiestudenten zeigten sich für Königs Botschaft vom Tausendjährigen Reich empfänglich und bald wußten auch „gemeine und einfaltige

Erscheinung.) Auch in Deutschland sei er keinem Pietisten begegnet, habe auch „kaum eins" ihrer Bücher gelesen. Das Büchlein „Die philadelphische Sozietät" hingegen kenne er, sei aber mit dessen separatistischer Tendenz, hervorgerufen durch die Überzeugung, „die Kirche Gottes müße Vollkommen, Heilig und Rein sein", nicht einverstanden. Neben etlichen Werken von Johann Wilhelm Petersen habe er „etwas in dem Statio" gelesen. - ZuJane Leade und der Philadelphischen Sozietät vgl. C. W. H. Hochhuth, Geschichte und Entwicklung der philadelphischen Gemeinden: Zeitschrift für historische Theologie 1865, 171-290. Thune 1948, 81114. Fehringer 1971, 111-129. Eine Schrift Jane Leades mit dem Titel „Die philadelphische Sozietät" ist mir nicht bekannt. Es ist deshalb schwer auszumachen, welche ihrer Publikationen König damit meint. A m ehesten dürfte dafür die 1697 publizierte Darstellung „The State of the Philadelphian Society, or The Grounds of Their Proceedings Consider'd: In Answer to a Letter from Philalethes, U p o n Occasion of the Theosophical Transactions, etc. to a Member of That Society" (Thune 1948, 93) in Frage kommen, die unter dem Titel „Der philadelphischen Societät Zustand und Beschaffenheit, oder die Gründe, worauf sie fußen und gehen, betrachtet in einer Antwort auf ein Schreiben von Philalethe (sie), auf Veranlassung der theosophischen Transactionen an ein Glied der Societät gestellt. Gedruckt im Jahr 1698" in deutscher Übersetzung erschienen ist (Hochhuth 1865, 174, Nr. 16). Sicher hingegen ist, daß es sich bei dem von König genannten Büchlein um diejenige Publikation handelt, über die Bachmann an Ulrich, 20. 8.1698, zu berichten weiß, Berns Pietisten hätten sie auf ihre Kosten in Amsterdam drucken lassen! Vgl. dazu auch AP 231 und 241. - Martin Statius, Prediger in Danzig, gab 1636 eine von ihm bearbeitete Anthologie aus den Werken des lutherischen Erbauungsschriftstellers Stephan Prätorius heraus, die 1649 von S. Steiner unter dem Titel „Statius continuatus" in erweiterter Form wieder veröffentlicht wurde. Prätorius wurde von Johann Arndt und Spener hoch geschätzt und zählt zu deren Vorläufern, war aber nicht unumstritten, zog er sich doch noch zu seinen Lebzeiten den Vorwurf des Antinomismus und Perfektionismus zu. Paul Wolff, Artikel „Prätorius, Stephan": R E 3 X V , 614-617. Vgl. auch Anm. 51 dieses Kapitels.

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leüthe" in der Stadt davon zu reden 78 . Königs Chiliasmus war der Funke, der das Pulverfaß zum Explodieren brachte.

78

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Außführlicher Bericht 1 und 4. Abhandlung 24. AP 175. - Lehmann 1980, 123-135.

IV Untersuchung und Prozeß A m 8. Juli 1698 orientierte D e k a n B a c h m a n n seinen Z ü r c h e r K o l l e g e n J a k o b U l r i c h ü b e r die in der B e r n e r K i r c h e d u r c h d e n P i e t i s m u s h e r v o r g e r u f e n e U n r u h e . E r schloß m i t d e m bereits zitierten Satz: „ G o t t w o l l e sich u n s e r in G n a d e n e r b a r m e n u n d u n ß mitel zeigen, w i e d i s e m Ü b e l a b z u h e l fen, d a m i t w i r n o c h f e r n e r die reinigkeit u n d einigkeit in u n s e r H e l v e t i schen K i r c h e n m ö g e n e r h a l t e n . " 1 D i e A r b e i t e n der zur U n t e r s u c h u n g des K o n v e n t i k e l w e s e n s eingesetzten K o m m i s s i o n , der auch B a c h m a n n a n g e h ö r t e , w a r e n in v o l l e m G a n g . A m 13. Juli - f ü n f T a g e n a c h B a c h m a n n s Brief an U l r i c h - ließ der Kleine Rat eben dieser K o m m i s s i o n ein Schreiben z u k o m m e n , das w i r hier seiner B e d e u t u n g w e g e n i m W o r t l a u t w i e d e r geben: „Mnghh. müeßend mit sonderem Hertzleid vernemmen, daß es nunmehro derjänigen Geistlichen abgäbe, die sich die Härden zu hirten underfangen, die ihnen nicht vertrauwet sind, wie auß gezeügnuß dreyer HH. Predigkanten, so Mhhr. Heimblicher von Graffenried Ihnen werde nahmhafft machen, in erfahrung zebringen sein werde, Für das Einte: Für das andere dan, daß in hiesiger Haupt Statt nicht allein die tag- und nächtlichen Versamblungen ihren Fortgang haben, sondern auch von theils persohnen solche Lehren geführt und manieren angegäben werden sollen, die der Evangelischen Lehr nicht allein nicht gemäß, sondern gäntzlich zuwider, wie dan Sie auß dem Mund Mshh. Heimblichern Wurstembergers vernemmen werdend, wie und w e m m e die Underlaßung deß Gebätts gerathen worden: Fürs Dritte, daß dise Ding nach dem andeuten Mshh. Predigkanten Eyens bereits einen hochen schwung gewunnen haben müßind, zumahlen Derselbe auß bestem Eiffer auff Sachen gedeutet, die Mnghh. biß haro nicht bekant gewäsen, und heütigen Bericht nach ihme und andern HH. Geistlichen nunmehro bewußt sein soll, von wannen disers wäsen seinen Ursprung gewunnen, wer selbiges hiehar gebracht, und was für büecher den Schwächern und Einfaltigeren gerathen und beygebracht worden. Wan nun Mnghh. ihres Theils befinden, daß zu abmeidung großer Verwirrung, und besorglich darauß Erwachsenden Unheils mit allem Ernst die Undersuchung und abstraffung werde zur Hand genommen werden müeßen, nach dem Verlangen, so die Burgerschafft an Ihr Gn. HH. Cons: gelangen laßen, als habend dieselben Sie Mnhh. hiemit fründ-Ernstlich ersuchen sollen, daß umb furterer Erhaltung willen der Einigkeit der Kirchen Sie unaußgesetzt mit beyseitsleggung aller anderer geschäfften in auffhabender Commißion und undersuchung dergleichen dinge ungeschochen und unerschroken arbeiten und fortsetzen, zu dem Ende auch obangezogene H H . in ihrem bericht, was ihnen in Wüßen sein möchte, vernemmen, und auff dem gespuhr ob und was zu entdeken, nachjagen, iänige persohnen, so Sie nöthig befinden, bescheiden, verhören, vernerer beschaffenheit sich von ihnen erkundigen, und von Zeith zu Zeith, was sie entdeken mögind, wöchentlich 1

Vgl. oben S. 88.

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den bericht abieggen sollind, darbey Mnghh. ihnen alle Hülff zu leisten gemeint sein, und so es Erforderlich, zu fassung stärkerer resolution die beschaffenheit vor den höchsten gewalt tragen laßen werden . . . " 2 Mit diesem Schreiben hat der Kleine Rat die Religionskommission formell verordnet und mit weitgehenden Kompetenzen ausgestattet. Praktisch ohne Einschränkung konnte sie danach verdächtige Personen und Zeugen zitieren und verhören. Z u diesem Zweck wurde ihr ein Weibel zur Verfugung gestellt 3 . Die gegen die Pietisten erhobene Anklage lautete nun nicht bloß auf die fortgesetzte Durchfuhrung verbotener Konventikel, sondern geradewegs auf Verbreitung irriger Lehrmeinungen. Pfarrer waren es, die durch ihren Kollegen Samuel Eyen diese Anklage erhoben und den Rat mit Informationen versorgten, welche diesen zum Handeln zwangen. Ihnen zufolge hatte man es im Pietismus mit einer im Keim haeretischen Bewegung, j a mit einer internationalen, überkonfessionellen und deshalb letzten Endes staatsgefährlichen Bruderschaft zu tun. Diese Verdachtsmomente bewogen den Kleinen Rat zu entschlossenem Durchgreifen. Das Verfahren gegen Berns Pietisten begann. Es zog sich fast über einJahr hin und weitete sich in seinem Verlauf zur eigentlichen Staatsaktion aus. Die höchste Gewalt, der Große Rat der Zweihundert, schaltete sich von allem Anfang an ein und sollte schließlich auch das letzte Wort haben. Keine Phase in der Geschichte des frühen Bernischen Pietismus ist bislang so eingehend erforscht und dargestellt worden wie eben dieses Verfahren 4 . Es ist deshalb weder nötig noch tunlich, hier über den Verlauf der Untersuchung und des Prozesses in extenso zu berichten. Wir beschränken uns auf einige bisher kaum oder überhaupt nicht beachtete Aspekte, welche das Geschehen wesentlich beeinflußt haben und einiges zu dessen Verständnis beitragen. Die Hoffnung, der junge und gelehrte Samuel König werde mit dem pietistischen Unwesen in seiner Heimatstadt aufräumen - diese Hoffnung war anfangs des Jahres 1698 hier und dort durchaus gehegt worden - , hatte sich als falsch erwiesen. Das Gegenteil war eingetreten. Hatte August Hermann Francke in einem Brief an Samuel Schumacher v o m 17. April 1698 seinen Berner Brüdern noch den Rat erteilt, sie sollten „die nach dem Fleisch u. Buchstaben gelehrte[n] Lutheraner u. Reformirte[n]" sich ruhig um die Hülsen miteinander zanken lassen, selber hingegen die völlige und lautere Liebe derjenigen üben, die „des Geistes J . C. u. des Reiches Gottes in der Krafft teilhafftig worden sind" 5 , so war für die so Angesprochenen eine derart souveräne Haltung nun immer schwerer zu verwirklichen. Die 2 R M 262, 3 6 3 - 3 6 5 ( 1 3 . 7. 1698). In derselben Sitzung ordnete der Kleine Rat an, „Zitterer" müßten sich vor dem Städtischen Chorgericht verantworten. 3 R M 263, 135(29. 8. 1698). 4 Vgl. vor allem Hadorn 1901, 68-106. 5 Der Wortlaut dieses Briefes von Francke an Schumacher nach einer wortgetreuen A b schrift im AFSt, D 113, 87-97 bei Weiske 1932, 41-51. Vgl. dazu A. Lindt 1974, 148-150.

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Schlinge, seit langem schon um sie gelegt, zog sich zu. Dabei spielten Vorkommnisse, die sich in der Ferne ereigneten und die zu dem, was in Bern geschah, in keinerlei ursächlichem Zusammenhang standen, eine nicht unwesentliche Rolle. Vom 9. Juli 1698 - Bachmanns oben erwähnter Brief an Ulrich war eben unterwegs - datiert ein Schreiben der Zürcher an die Berner Geistlichkeit, das aufregende Nachrichten über die Horchischen Streitigkeiten, die damals Herborn und darüber hinaus das Fürstentum Nassau-Dillenburg erschütterten, enthielt. N i m m t man an, daß dieser Brief ein bis zwei Tage benötigte, um nach Bern zu gelangen, dann ist es sehr wohl denkbar, daß sein Inhalt mit zu den Neuigkeiten gehörte, die Pfarrer Samuel Eyen 6 dem Kleinen Rat zugespielt hat und diesen bewogen, am 13. Juli die Religionskommission ins Leben zu rufen. Wie auch immer: Was in Herborn geschah, fiel in Bern ins Gewicht.

i. Die Bedeutung der Horchischen Streitigkeiten für das Verfahren gegen Berns Pietisten1

Heinrich Horche, 1652 in Eschwege geboren, Schüler Theodor Undereycks und Freund Speners, seit 1690 Professor der Theologie an der Hohen Schule in Herborn, war in Zürich kein Unbekannter. Seine am Modell der apostolischen Urkirche orientierten Vorschläge für eine Reform des Gottesdienstes hatten bei seinen Gegnern Vorjahren schon den Verdacht täuferi6

Samuel Eyen, gestorben 1700, war seit 1684 Helfer und seit 1692 Pfarrer am Berner Münster (Lohner 33 und 37). 7 Vermischte Schriften. 17. Jh. Auszüge betr. Wiedertäufer, Pietisten etc. (StABB III, 203). Hier findet sich 21-28 unter dem Titel „D. Horchij Res" eine Abschrift des den Fall Horche betreffenden Briefwechsels zwischen der Herborner Fakultät und Zürich respektive zwischen der Zürcher und der Berner Geistlichkeit. Zitiert: D. Horchij Res. - Der hier darzustellende Zusammenhang ist bisher einzig von Trechsel 1852, 121 beachtet, aber nur mit einem Satz angedeutet worden. Ich bin auf den Vorgang dank einer Notiz im eben genannten Bestand des StAB aufmerksam geworden. 41-43 findet sich dort unter dem Titel „Vom Außtrag deß Pietistischen Wesens" ein knapper zeitgenössischer Bericht über den Berner Pietistenprozeß. Der unbekannte Verfasser zeigt darin, wie sich die Recherchen der Religionskommission wegen der Renitenz der Pietisten mühsam und unergiebig anließen, und fugt bei, da habe „der Weise Gott zu gleicher Zeit einlauffen laßen deß obgedachten Horchen sein sach". (41) Die Meinung ist dabei die, diese „sach" habe der Untersuchung Auftrieb gegeben. Die Darstellung ist insofern ungenau, als der Verfasser zwischen der Kommission zur Untersuchung des Konventikelwesens und der eigentlichen Religionskommission nicht unterscheidet. In Wirklichkeit traf die Nachricht vom Fall Horche in Bern zu jenem Zeitpunkt ein, als der Rat im Begriff war, die Religionskommission ins Leben zu rufen. Die Frage, ob diese Nachricht die Schaffung der Religionskommission gar mit verursacht habe, kann nicht mehr entschieden werden. Sie ist aber neben der andern Frage nach dem Einfluß der Herborner Neuigkeiten auf die Arbeit der Religionskommission von zweitrangiger Bedeutung. - Zu Heinrich Horche und den Horchischen Streitigkeiten vgl. Goebel 1852, 741-747. C. W. H. Hochhuth, Heinrich Horche und die philadelphischen Gemeinden in Hessen. Ein Beitrag zur Geschichte des christlichen Lebens in der evangelischen Kirche. Nach ungedruckten und gedruckten Quellen, Gütersloh 1876. Fehringer 1971. N D B IX, 623-624 (Martin Schmidt). Hadorn 1901, 159-161 fußt auf Hochhuth.

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scher Umtriebe geweckt, welches Gerücht infolge des zwischen den reformierten Kirchen und Fakultäten bestehenden freundschaftlichen Einvernehmens auch nach Zürich gedrungen war. Das war damals für Horche unter anderem insofern gravierend, als man munkelte, die Zürcher Kirche habe ihren Studenten seinetwegen den Besuch der Herborner Hohen Schule untersagt. Er hatte deshalb in einem an die Zürcher Fakultät gerichteten Brief vom 3. April 1693 den aufgekommenen Verdacht zu zerstreuen versucht und darauf - allerdings erst ein Jahr später - auch eine einigermaßen beruhigende, von Johann Heinrich Heidegger persönlich verfaßte Antwort erhalten. Aber die Gerüchte waren damit eben doch nicht aus der Welt geschafft und erhielten dank Horches fortschreitender Radikalisierung, die schließlich zu seiner Absetzung führte, erst recht weitere Nahrung 8 . Nachdem Horche am 15. Februar 1698 seines Amtes enthoben worden war, diese Maßnahme aber keine Beruhigung, sondern im Gegenteil eine Verschärfung der Lage gezeitigt hatte, bat die Herborner Schule am 22. Juni 1698 ihre Zürcher Schwesterfakultät um ein Gutachten zu dem aufsehenerregenden Fall9. Die Zürcher Geistlichkeit, überzeugt von der grundsätzlichen Bedeutung, welche die Angelegenheit in ihren Augen für die Einheit der reformierten Kirche hatte, leitete die aus Herborn erhaltenen Unterlagen nach Bern weiter und bat ihrerseits um Stellungnahme 10 . Was konnte man in Bern dem Dossier Horche entnehmen? Recht ausführlich orientierte die Herborner Fakultät "in ihrem Schreiben zuerst über Balthasar Christoph Klopfer, einen „Homo indoctus", der, weil er in ihr ein „Teufels-Hauß", eine „Mördergrube" und einen „Götzentempel" sehe, sich von der Kirche separiert habe und weder sein zweites Kind habe taufen lassen noch selber zum Abendmahl gehe. Sich selber halte er für einen Propheten und behaupte, das Tausendjährige Reich stehe vor der Tür. Er gebe sich als sündlos, unsterblich, ja als den Sohn Gottes aus. Kurz, er behaupte, „wann der Mensch Gott durch den Glauben und den Heiland J. Christum ergriffen, so falle die Bibel selbs, die Kirch, die Tauf, das Abendmahl über einen Hauffen, und der Mensch habe dieses nit vonnöthen" 1 1 . Eben diesem Klopfer, wußte die Herborner Fakultät weiter zu berichten, habe sich der ehemalige Kollege Heinrich Horche angeschlossen und in der Folge nicht nur die Hohe Schule, sondern die von einer solchen Schule mit Predigern versehene Kirche überhaupt der Heuchelei bezichtigt und den Studenten öffentlich geraten, sie würden besser daran tun, ein ehrliches 8

Hochhuth 1876, 19. Horches Schreiben an die Zürcher Fakultät und Heideggers Antwort vom 5. 4. 1694 im Wortlaut ebd., 178-180, Anmerkungen 72 und 73. Fehringer 1971, 25-29 und 131 f. 9 Hochhuth 1876, 84 weist auf diesen Vorgang hin. - Herborns Theologen sahen in der Zürcher Fakultät die berufene Hüterin der reformierten Orthodoxie. 10 Eine weitere Kopie des von Antistes Anton Klingler unterzeichneten Briefes vom 9. 7. 1698 auch StAB B III, 36, 1104 (Epistolae varij Thematis). 11 Zu Klopfer vgl. Goebel 1852, 743f. und Heinz Renkewitz, Hochmann von Hochenau (1670-1721). Quellenstudien zur Geschichte des Pietismus, Witten 21969, 59f. (AGP V).

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Handwerk zu erlernen, statt sich an der Fakultät die wahre Gottesfurcht austreiben zu lassen. Damit die Leser sich von Horches diesbezüglichen Ansichten selber ein Bild machen konnten, legte die Herborner Fakultät ihrem Schreiben eine Abschrift von dessen Brief v o m 30. August 1697, mit dem er sich weigerte, weiterhin an den Prüfungen teilzunehmen, bei 12 . Auch den Wortlaut jenes Gesprächs, das Horche trotz fürstlichen Verbots, mit Klopfer weiterhin zu verkehren, mit diesem am 13. September 1697 in Braunfels gefuhrt hatte, konnte man sich in Bern zu Gemüte führen und sich so von Horches Träumen, Visionen und prophetischen Eingebungen und Aussprüchen selber ein Bild machen 1 3 . Weiter führte die Herborner Fakultät aus, daß alles wohlmeinende Zureden bei Horche nichts gefruchtet, dieser vielmehr fortgefahren habe, die Kirche als Babel und die Hohe Schule als Satansschule zu bezichtigen und Gottesdienst, Taufhandlung und Abendmahlsfeier, wie sie geübt wurden, als unapostolisch zu kritisieren. Auch von seinem Chiliasmus habe er sich nicht abbringen lassen und fahre, des Landes verwiesen, fort, von jenseits der Grenzen gegen Kirche und Schule zu agitieren. Das Herborner Schreiben schloß mit der dringenden Bitte, die Zürcher Kirche, von der der reformierte Glaube doch ausgegangen sei und die zurecht als berufene Hüterin der Einheit und Reinheit der reformierten Kirche gelte, - die Zürcher Kirche möchte sich doch anhand der übersandten Akten 1 4 zum Fall Horche selber ein Urteil bilden, damit diesem Fanatiker um so wirksamer der Mund gestopft und so weitere Unruhe vermieden werden könne. Soweit die Briefe und Unterlagen, die Bern etwa am 11. Juli 1698 erreicht haben dürften. Die Antwort der Berner Geistlichkeit verzögerte sich. Einige Mitglieder des Konvents befanden sich im Urlaub und zudem war man sich nicht im klaren darüber, ob man nun direkt nach Herborn oder nach Zürich, von wo aus man begrüßt worden war, schreiben sollte. Als der Konvent schließlich zusammentreten konnte 1 5 , entschloß er sich für das letztere. Das Antwortschreiben, das er am 7. August 1698 nach Zürich abgehen ließ und das die Unterschrift des derzeitigen Rektors Elisäus Malacrida trug, war in einem bemerkenswert zurückhaltenden Ton abgefaßt. Wohl gaben die Absender ihrem lebhaften Bedauern darüber Ausdruck, daß in Herborn der Enthusiasmus Eingang gefunden habe, daß es dort so arme und bemitleidenswerte Menschen („tales ibi miseros reperiri homines") gebe, welche die öffentlichen Gottesdienste, die Hohe Schule, die biblische Offenbarung und 1 2 D . Horchij Res, 24-25. Der Brief ist irrtümlicherweise auf den 22. Juni 169S datiert. Der Text dieses Briefes bei Hochhuth 1876, 186 f., Fehringer 1971, 62-64 und - hier in buchstabengetreuer W i e d e r g a b e - b e i M o h r 1973, 78. 1 3 D . Horchij Res 26-28. Dieses Gespräch ist abgedruckt bei Hochhuth 1876, 42-45. 1 4 Z u diesen Akten gehörte neben den bereits genannten Beilagen auch ein Schreiben des pfälzischen Kirchenrats Achenbach, eines Mitglieds eines zur Abklärung des Falles Horche eingesetzten Untersuchungsausschusses (D. Horchij Res 25-26). 1 5 D i e Sitzung des Konvents fand am 2. 8. 1698 statt, vgl. Bachmann an Ulrich unter diesem Datum.

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die Sakramente verachteten und sich statt dessen privater Träume anheischig machten. Wohl auch stand da zu lesen, man habe von Horches Entwicklung - „Virum insigniter Literatum artiumque multitudine multis aliis Superiorem" - nur mit Staunen Kenntnis nehmen können und müsse ihn nun zu den Fanatikern zählen, solange wenigstens - und eben diese Einschränkung ist bemerkenswert - als einem nicht das Gegenteil dessen, was man nun über ihn erfahren habe, zu Ohren komme. Das Schreiben schloß, man könne nur hoffen, in allen Gymnasien und Akademien vermöge sich eine solide Gotteserkenntnis, gepaart mit lebendiger „praxis pietatis", wiederum geltend zu machen 16 . Hieß das im Klartext nicht, daß man in Bern dem, was die Herborner Theologen über Horche berichteten, nur mit Vorsicht Glauben schenkte? „Man" wäre zu viel gesagt. Samuel Güldin war es gewesen, der im Konvent diesen Berichten gegenüber Vorbehalte angebracht hatte. Er wisse aus eigener Erfahrung, hatte er gesagt, wie einem Unrecht geschehen könne und lehne, getreu dem Grundsatz „audiatur et altera pars", eine vorbehaltlose Verurteilung Horches nur aufgrund von Informationen seiner Gegner ab 17 . Güldin war der einzige im Konvent, der sich so zu äußern wagte, und es ist wohl zu einem guten Teil Malacridas pietistischen Sympathien zuzuschreiben, wenn seine Stimme in Berns offizieller Antwort an Zürich solches Gewicht erhielt. So aufrichtig und mutig Güldins Vorstoß war, so taktisch unklug war es indes, denn damit erhielt der Verdacht, Berns Pietisten seien heimlich mit Horche einer Meinung, neue Nahrung. Alle Beteuerungen, daß dem nicht so sei, halfen da nichts. Gewiß: Ein direkter Kontakt zu Horche konnte Güldin und seinen Freunden nicht zur Last gelegt werden. Aber der Fall Horche zeigte einem doch mit erschreckender Deutlichkeit, wohin Tendenzen, die auch in Bern vorhanden waren, führen konnten, wenn man ihnen freien Laufließ. Den antipietistisch eingestellten Geistlichen und Politikern genügte das, um nun mit entschlossener Härte durchzugreifen und so ein den Herborner Wirren vergleichbares Unheil abzuwenden. Auf der andern Seite mochten Berns Pietisten am Beispiel des Falles Horche gewahr werden, was ihnen von Seiten einer parteiischen Justiz wartete. Das war die Bedeutung, die der Nachricht vom Fall Horche in dem in Bern obschwebenden Verfahren zukam: Sie wirkte katalysierend, und eben diese Wirkung war seitens der Zürcher Geistlichkeit ohne Zweifel auch beabsichtigt. Der Fall Horche markiert in der Bekämpfung des Pietismus auch insofern eine Wende, als mit ihm jene Zusammenarbeit zwischen Berner und Zürcher Behörden einsetzte, dank der die inkriminierten und von den Pietisten beharrlich bestrittenen Tatbestände erst ans Tageslicht kamen. War Bern mit seinem Antrag, die reformierten Orte möchten in der Abwehr des 16 17

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D. Horchij Res 28. AP 222 („Herren Samuel Güldins . . . Andere Verantwortung . . .").

Pietismus zusammenarbeiten und der Verbreitung pietistischer und mystischer Literatur den Riegel schieben, 1695 noch auf taube Ohren gestoßen 18 , so wurde Zürich im Juli 1698 nun selber in dieser Richtung aktiv. Auch hier nämlich griffen die Umstände eigenartig ineinander: Durch den Fall Horche hellhörig geworden, war man innerhalb der eigenen Mauern auf ein pietistisches Nest gestoßen.

2. Die Rückwirkungen des „Locherischen und Laubischen in Zürich auf den Berner Pietistenprozeß19

Handels"

Am 11. Juli 1698 - die Akten zum Fall Horche mochten zu diesem Zeitpunkt Bern erreichen - fand in Zürich beim Kaufmann Heinrich Locher eine Hausdurchsuchung statt. Vor Tagen schon hatte man sechs Exemplare eines Schriftchens der Jane Leade konfisziert und war dann durch Befragung sämtlicher Buchhändler und Buchbinder daraufgestoßen, daß sich bei Locher eine ganze Bibliothek verbotener Literatur finden müsse. In der Tat: Der mit der Hausdurchsuchung beauftragten Abordnung, der neben zwei Zunftmeistern die beiden Theologen Johann Heinrich und Johann Kaspar Schweizer angehörten, fiel eine sorgfältig zusammengestellte Sammlung von mystisch-spiritualistischen, pietistischen und täuferischen Büchern in die Hände. Zudem mußte Locher zugeben, er stehe mit gleichgesinnten Freunden in Bern und Schaffhausen in brieflichem Austausch. Schließlich mußte er, als die Kommissare massiven Druck ansetzten, auch die Namen seiner Korrespondenten nennen. Aus Bern gab er an: Georg Thormann, Samuel Schumacher, Christoph Lutz, Samuel Güldin, Samuel Dick, Jakob Dachs, Daniel Knopf, Zofingens Stadtschreiber Suter, Hans Aebersold und Barbara May 20 . Die verbotenen Bücher wurden beschlagnahmt und auch die Briefe aus Bern, die herauszugeben Locher sich weigerte, später gefunden. Im weitern ergab die Untersuchung, daß durch Lochers Vermittlung Schriften der Jane Leade ins Deutsche übersetzt und in Amsterdam gedruckt worden waren. Nicht genug damit: Durch den gegen Locher erfolgten Coup aufgeschreckt, ging auch dessen Freund Laubi, Filialist in Schwamendingen, seinen Häschern ins Netz. Bei ihm fand man weitere 23 Briefe von 18

Vgl. o b e n S . 78 f. W a h r h a f f t i g e Erzellung deßen W a s j n d e m Locherischen u n d Laubischen Handel v o n d e m anfang bis zu d e m Ende, Sich zugetragen ( Z B Z H M s S 630, 67-104), zitiert: W a h r h a f f t i g e Erzellung. - [Johann J a k o b Hottinger], V e r s u c h u n g s - S t u n d U b e r die Evangelische Kich / D u r c h neue Selbstlauffende Propheten: O d e r / kurze u n d w a h r h a f t e Erzehlung / was sint A n . 1688. bis 1717. J n Z ü r i c h / w e g e n des übelgenenneten P I E T I S M I verhandelt w o r d e n . . . Z ü r i c h 1717, 33-35. Julius Studer 1877, 113-115 (fußt auf „Wahrhafftige Erzellung"). H a d o r n 1901, 49 f. u n d 117-119. Wernle 1923, 130 f. - Die hier zu nennenden Fakten sind z u m g r o ß e n Teil bekannt. Die bisherige Forschung hat n u r den Zusammenhang zwischen den beiden in Z ü r i c h u n d Bern laufenden Verfahren zu wenig beachtet. B a c h m a n n s bislang u n b e k a n n t e Briefe an Ulrich k ö n n e n einem d a f ü r die A u g e n öffnen. 19

20

W a h r h a f f t i g e Erzellung 75-77.

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Berner Pietisten. Die Auswertung des konfiszierten Materials ergab eine Reihe von die Berner belastenden Äußerungen. Endlich glaubte man jener geheimen Bruderschaft, die man in Bern lange schon vermutet hatte, auf die Spur gekommen zu sein, eine Spur, die weit über die Grenzen von Bern und Zürich hinauszuweisen schien. Johann Heinrich Schweizer erinnerte sich nun daran, wie schon im Jahr 1696 aus Deutschland zurückgekehrte Studenten berichtet hatten, August Hermann Francke in Halle habe sich „brüderlicher Uebereinstimmung" mit verschiedenen Herren in Bern gerühmt und gesagt, er stehe mit ihnen im Briefverkehr 21 . Heinrich Lochers Haus entpuppte sich als ein eigentlicher U m schlagsplatz verbotener, aus dem Ausland eingeschmuggelter Literatur, für die er auch in Bern seine Abnehmer gefunden hatte: Er mußte schließlich die Namen von Barbara May, Knopf, Christoph Lutz, Schumacher, Dick, der bereits erwähnten Elsbeth Anneler und des Kunstmalers Johannes Dünz preisgeben 22 . Am 23. August wurden die in Zürich konfiszierten Briefe durch einen Expreßboten nach Bern gebracht 23 . Bern hielt Gegenrecht: Es beschlagnahmte, soweit diese noch vorhanden waren, die entsprechenden Briefe aus Zürich 24 . So gelangte man in Bern wie in Zürich innerhalb weniger Wochen in den Besitzjenes belastenden Materials, das man benötigte, um endlich mit gezielten Verhören beginnen zu können 25 . Das von Locher lancierte Büch21

Copia eines Andtwort schreibens H. Prof. Schweitzers an Herrn Decanum Thorman in Lützelflüeh, ohne Datum, Herbst 1698 (ZB Z H Ms S 276, 6C, vgl. Bachmann an Ulrich 30. 9. 1698). 22 Wahrhafftige Erzellung 101. Zu Elsbeth Anneler vgl. oben S. 77. 23 Wahrhafftige Erzellung 94f. Vgl. Bachmann an Ulrich, 6. 8. und 20. 8. 1698. 24 Bachmann an Ulrich 20. 8., 30. 9. und 7. 10. 1698. 25 Bereits am 10. August konnte Bachmann Ulrich mitteilen, die Nachrichten aus Zürich hätten Licht in die pietistische Angelegenheit gebracht. Wie bereits oben, Anmerkung 7, angedeutet wurde, sieht auch der unbekannte Verfasser der Skizze „Vom Außtrag deß Pietistischen Wesens" im fast gleichzeitigen Eintreffen von Nachrichten über pietistische Umtriebe in Herborn und Zürich einen das Berner Verfahren erst eigentlich ermöglichenden und dieses beschleunigenden Umstand. Er schreibt: „Damals aber die [sc. von der Religionskommission] beschickte persohnen nichts bekennen wolten, als was sie durch briefen überzeuget u. gezwungen wurden zu bekennen, u. sie auch in antworten sparsam u. sehr bedacht waren oder, recht zu sagen, alles laugneten, so hat der Weise Gott zu gleicher Zeit einlauffen laßen deß obgedachten Horchen sein sach, u. sonderlich viel schreiben von Zürich, als welche Statt eben zu dieser Zeit beschäftiget war, ihre eingeschlichene pietisten abzuthun oder zu beßern gedancken zu bringen, welches Werck dann sie in kurzer Zeit, weyl es nit so tief eingewurzlet, vollbracht u. durch Gottes gnad abgeholffen: Jn solchen schreiben aber werden klar unsere Correspondenten mit ihren pietisten entdeckt, als H. Güldin, H. Lutz, H. Thormann, H. Joh. Müller, H. Knopf, H. Memming u. andere: und darauf konte man nun gründen, und wurden diese persohnen nach und nach beschickt, quästionirt und alles fleissigst aufgezeichnet." (Unterstreichung von mir) Memming (auch: Memmin), der in privaten Versammlungen als Redner auftrat (vgl. Relation I, 5), war nach Bachmann an Ulrich, 30. 9. 1698, Réfugiant. Er ist Ende September 1698 des Landes verwiesen worden, offenbar weil er sich geweigert hatte, vor der Religionskommission unter Eid auszusagen. König behauptet allerdings, er habe „von Lasteren wegen" gehen müssen (AP 172), und wehrt sich dagegen, daß vom Einzelfall Memming nun auf den Pietismus

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lein der Jane Leade fand sich auch in Bern, ferner k a m e n Schriften v o n Valentin Weigel u n d - recht zahlreich - solche v o n Christian H o b u r g z u m Vorschein 2 6 . D e k a n B a c h m a n n w a r n u n vollends d a v o n überzeugt, daß m a n es m i t einer eigentlichen labadistischen Bruderschaft zu tun habe 2 7 . B e v o r aber sein sehnlichster W u n s c h , d a m i t a u f z u r ä u m e n , in E r f ü l l u n g gehen k o n n t e , w a r n o c h ein harter K a m p f mit j e n e r B e h ö r d e durchzufechten, an der die Pietisten bisher ihren Rückhalt gehabt hatten: d e m Schulrat.

3. Die Ausschaltung des Schulrates. Samuel Lutz und Nikolaus

Tscheer

Eine eigentliche J u g e n d b e w e g u n g w a r der f r ü h e bernische Pietismus in keiner Phase seiner k u r z e n Geschichte. Menschen nicht n u r unterschiedlichen Standes, s o n d e r n auch verschiedenen Alters bekannten sich zu d e m neuen, allen A u ß e n s t e h e n d e n so s c h w e r verständlichen F r ö m m i g k e i t s - u n d Lebensstil. A b e r es w a r e n doch vier j u n g e T h e o l o g e n gewesen, die der B e w e g u n g z u m D u r c h b r u c h verholfen u n d unter den Studenten an der A k a d e m i e sogleich ihre A n h ä n g e r s c h a f t g e f u n d e n hatten. D a ß sie diese auch d o r t suchten, zeigt, daß sie ursprünglich nichts anderes als eine innerkirchliche R e f o r m anstrebten, in der sie der nachfolgenden T h e o l o g e n g e n e r a t i o n eine zentrale Rolle zudachten. Verständlicherweise k o n n t e n ihre Gegner diese B e s t r e b u n g e n n u r mit Sorge u n d A r g w o h n beobachten. A u c h sie hatten, w e n n sie der Lage endlich H e r r w e r d e n wollten, ein vitales Interesse daran, den theologischen N a c h w u c h s bei der Stange zu halten u n d auf S t u d e n t e n zielende R e k r u t i e r u n g s v e r s u c h e der Pietisten zu vereiteln. D i e s e m V o r h a b e n stand entgegen, daß diejenige Behörde, der die S t u d e n ten der A k a d e m i e unterstellt w a r e n , der Schulrat, einen u n v e r h o h l e n p r o pietistischen K u r s steuerte. D a ß dessen Präsident, J o h a n n B e r n h a r d v o n überhaupt geschlossen werde. Leider habe ich bis heute nicht herausfinden können, um wen es sich bei Memming handelt. Da Refuge und Pietismus sich in seiner Person offenbar verbunden haben, wäre es äußerst wertvoll, mehr über ihn zu erfahren. - Die oben Seite 78 f., Anmerkung 14 genannten Quellen ergeben folgendes Verzeichnis der zwischen Zürcher und Berner Pietisten ausgetauschten Briefe (Das Verzeichnis ist lückenhaft, da die meisten der ursprünglich vorhandenen Briefe von ihren Besitzern vor der Konfiskation vernichtet wurden.): Schumacher an Heinrich Laubi, 12. 10. 1695; Lutz an Laubi, 11. 8. 1696 und 21. 12. 1696; Locher an Schumacher, 8. 2. 1697; Laubi an Güldin, 27. 4. 1697; Güldin an Laubi, 10. 6. 1697; Laubi an Güldin, 9. 8. 1697; Güldin an Laubi, 14. 8. 1697; Laubi an Güldin, 18. 8. 1697 und 13. 10. 1697; Locher an Schumacher, 1. 11. 1697; Laubi an Dachs, 3. 11. 1697; Güldin an Laubi, 3. 11. 1697; Laubi an Knopf, Ende 1697 und 15. 1. 1698; Laubi an Güldin, 13. 3. 1698; Güldin an Laubi, 21. 3. 1698; Lutz an Laubi, 21. (22.?) 6. 1698; Bodmer an Dachs, ohne Datum (Sommer/Herbst 1698); Locher an Knopf, ohne Datum. Auch von diesen Briefen fehlt jede Spur. Wahrscheinlich sind sie nach der Auswertung durch die Religionskommission vernichtet worden. Die „Relation" enthält nur herausgegriffene, inkriminierte Passagen aus dieser umfangreichen Korrespondenz. 26 27

Bachmann an Ulrich, 20. 8. 1698. Bachmann an Ulrich, 10. 8. 1698.

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M u r a l t , i m Pietismus das F e r m e n t zu einer R e f o r m in Staat u n d Kirche sah, ist bereits a u s g e f ü h r t w o r d e n . A u c h v o n Nikiaus v o n R o d t , einem weiteren Mitglied des Schulrates, der durch Güldins Predigten z u m Pietismus gek o m m e n w a r u n d der Samuel K ö n i g U n t e r s c h l u p f gewährte, w a r schon die Rede 2 8 . N a c h z u t r a g e n bleibt nur, daß d e m Schulrat auch der nachmals b e r ü h m t e Schultheiß des Standes Bern, C h r i s t o p h I. Steiger (1651-1731), angehörte. D a ß er i m S o m m e r 1697, zu einem Z e i t p u n k t also, da die Scheidung der Geister bereits weit vorangeschritten war, eine Patenschaft f ü r Samuel Güldins drittes Kind ü b e r n a h m , darf fuglich als S y m p a t h i e k u n d g e b u n g betrachtet w e r d e n 2 9 . D e r K o n f l i k t w u r d e v o n d e m M o m e n t an unvermeidlich, als d e m Schulrat in der R e l i g i o n s k o m m i s s i o n ein mit u m f a s s e n d e n Vollmachten ausgerüstetes G r e m i u m g e g e n ü b e r s t a n d . Kompetenzstreitigkeiten w a r e n die n a t ü r liche Folge dieser neuen Konstellation. W e r w a r f ü r Studenten, die sich zu den Pietisten zählten, n u n zuständig: der Schulrat oder die R e l i g i o n s k o m mission? Die Frage w u r d e a m k o n k r e t e n Fall der drei Studenten Samuel Lutz, N i k o l a u s Tscheer u n d N i k o l a u s Massé durchgespielt. B e v o r gezeigt w i r d , wie sie entschieden w u r d e , sollen zwei v o n ihnen, Samuel Lutz u n d N i k o laus Tscheer, selber zu W o r t k o m m e n . Diese beiden haben später sehr verschiedene Wege eingeschlagen: Tscheer entwickelte sich z u m k o n s e q u e n t e n religiösen Individualisten, w ä h r e n d Lutz geradezu zur Symbolgestalt eines in die Kirche integrierten Pietismus w u r d e . Das ist hier n u r insofern bedeutsam, als es f ü r die innere H e t e r o g e n i tät j e n e r einen B e w e g u n g , aus der sie beide, nur eben j e auf ihre Weise, h e r v o r g e g a n g e n w a r e n , typisch ist. Wie sie diese B e w e g u n g erlebt haben oder besser: wie sie sich ihnen in der Rückschau darstellte, das haben sie beide festgehalten. Beginnen wir mit Samuel Lutz. In seiner posthum erschienenen Autobiographie schreibt er: „So bald ich aber die H. Schrifft um die Theologiam zu studieren, wieder zur Hand nahm, da regete sich auch die Gnad GOttes wieder, und leitete mich zu erleuchteten, eyffrigen Männern, welche GOtt damals zu vieler Menschen Heyl erwecket hatte, bey denen ich viel gute Anweisungen genoß, also daß ich vielmahl so kräfftig gerühret war, als wäre ich im Himmel verzucket, zerflösse offt in Thränen, und wo ich hin kam, redete ich von geistlichen Sachen, wolte andere bekehren, da ich doch selbst nicht bekehret wäre, sondern behielt ein unrein Hertz, darin Neyd, 28

Vgl. oben S. 60, 91, 95, 99, 108. Burger-Taufrodel XI (1689-1711) 287 (StAB B XIII, 527). Christoffel Güldins Patin war Anna Catharina Steiger geb. von Wattenwil, die Schwester Friedrich von Wattenwils, des Vaters des gleichnamigen Freundes von Zinzendorf. Bei der am 8. 1. 1696 vollzogenen Taufe von Güldins Tochter Maria Catharina fungierten Daniel Knopf, Catharina von Wattenwil geb. von Diesbach und Jungfer Ursula Hybner, die AP 244 als „Aebtissin" unter Berns Pietisten bezeichnet wird, als Paten. Zu Christoph I. Steiger vgl. H B LS VI, 523, Bioesch 1899, 97 f., BBG IX (1913) 45-51 und den an ihn gerichteten, undatierten Brief Samuel Güldins in der BBB, M.h.h. XIII102, Nr. 21. 29

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Ruhmgierigkeit unter den Frommen für etwas gehalten zu seyn, neben anderen Gelüsten herbergeten; Indessen hielte ich mich redlich zu den Kindern GOttes und obigen theuren Männeren, liebete sie ohne falsch, es eckelte mir vor der groben Welt, unangesehen des Hasses der Welt verbliebe ich bey der guten Parthey, weil mein Hertz mit ihnen verbunden war, ehrete sie als meine geistliche Vätter, fassete ihre Reden auf, und triebe Krämerey darmit, lüsterte sehr nach ihren Gaaben, äffete ihnen nach in allem, nähme mir vor Leute zu bekehren: Hier war wiederum niemand, der solchen Höllen-Wust gemercket und mich brüderlich gewarnet hätte . . . " 3 0

Drei Beobachtungen drängen sich hier auf. Erstens: Die Führer der pietistischen Bewegung waren für den immerhin bereits fünfundzwanzigjährigen Samuel Lutz unangefochtene Vorbilder und Autoritäten. Noch im Rückblick schlägt die Faszination, welche etwa Güldin, König und wahrscheinlich auch Christoph Lutz - Samuels Mutter war ja im Pfarrhaus Stettlen aufgewachsen - auf einen Theologiestudenten auszuüben vermochten, durch. Zweitens: Die Scheidung der Kirchgenossen in zwei getrennte Parteien, eine gute und deren Gegenteil, in Kinder Gottes und Kinder der Welt, erscheint selbst in der Erinnerung noch völlig ungedämpft. So war es damals, im Sommer 1698, auch: Die Kirche war faktisch gespalten. Drittens: Von geistlicher Betriebsamkeit, bei der oft auch fragwürdige Motive mitspielten, war die Bewegung nicht frei. Auch wenn Lutz diese Feststellung erst aus einer gewissen Distanz zu treffen vermochte, so ist sie doch nicht zu bestreiten und bei der Beurteilung des Prozesses mit in Rechnung zu stellen. Aus einem Abstand von nur zwei Jahren hat Nikolaus Tscheer beschrieben, wie er auf seiner verzweifelten Suche nach der wahren Religion, in deren Verlauf er den Katholizismus, das Täufertum und den Labadismus als Alternativen zum ebenfalls unbefriedigenden reformierten Christentum geprüft und bereits verworfen hatte - wie er auf dieser Suche auch eine pietistische Phase durchmachen und dabei zur Einsicht gelangen mußte, daß sein Vorhaben zum Scheitern verurteilt war: „Ich käme also in die Gesellschafft und Gemeinschafft der so genannten Pietisten / von welchen ich schon lange zuvor so viel gehöret. N u n meinte ich hier vollen Seelen-Frieden zu geniessen / und in ihre Gesellschaft als eine wahre Philadelphiam, wie es etliche dafür ausgaben / einzugehen. Ich hatte auch im Anfang in ihren Versammlungen sonderliche Vergnügung / und aus ihren Schrifften ward ich in meiner inwendigen Führung nicht wenig überzeuget; und weilen sie selbst unter einander / wenigstens nach dem äusseren Bilde / nicht alle eines Sinnes waren / hielte ich mich am meisten zu denen / welche mit mir nach einem Kleinod / in einer Lauff-Bahn lieffen; aber ungeachtet wir einem Grunde nachforscheten / und wie ich glaube / keine andere Absicht / als die Erbauung und Ermahnung zum Glauben und Liebe hatten / geschähe es dannoch / daß ich kaum mit 2. oder 3. in eine äusserliche 30 Samuel Lucii, . . . Letzte Posaunen-Stimm; in sich haltend, eine geistreiche PfingstPredigt . . . Dieser erbaulichen Predigt folget des seel. Authoris Merkwürdiger Lebenslauf, und gehaltene letste Reden . . ., Bern 1751, 288 f. Zu dieser Phase in Lutzens Leben vgl. Hadorn 1901, 264-269.

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G e m e i n s c h a f f t t r e t t e n k o n t e / da sich n i c h t bald in d i e s e m / bald in j e n e m / u n d f u r n e m l i c h in m i r d e r h e r r s c h s ü c h t i g e Geist des A n t i c h r i s t s / der falsche P r o p h e t / die V e r n u n f f t m i t i h r e r b e z a u b e r n d e n K r a f f t eines h e f f t i g e n N a t u r - E i f f e r s u n d d e r g l e i c h e n K r ä f f t e n / m ä c h t i g e r w i e s e n / w o r ü b e r ich d a n n in m e i n e m H e r t z e n u n d G e w i s s e n h e f f t i g b e s t r a f f t w u r d e ; also d a ß ich m i c h a u c h hier in m i r selbst b e t r o g e n f ä n d e ; an allem ä u ß e r l i c h e n G e w e r b / es schiene so heilig u n d g u t als es w o l l e / v e r z w e i f f l e t e / u n d m i c h m e i n e m J E s u in p u r e m Geist zu l e h r e n / zu u n t e r w e i s e n u n d in seiner G e m e i n d e zu e r h a l t e n / d a h i n g ä b e / da m i r d a n n die e w i g e E r b a r m u n g d e r h i m m l i s c h e n W e i ß h e i t m i t i h r e r edlen A u g e n - S a l b e n das A u g m e i n e s i n n e r e n M e n s c h e n e r ö f f n e t / u n d m i t d e m G l a n t z i h r e r K l a r h e i t e r l e u c h t e t / d a ß ich m i c h selbst so w o l in m e i n e r v e r d e r b t e n N a t u r / als in J E s u s - W e r c k der G n a d e e i n s c h a u e n konte."31

31

[Nikolaus Tscheer], Abbildung Des verborgenen Menschen des Hertzens / Jn der Unzerstörlichkeit des sanfftmüthigen und stillen Geistes / welcher ist köstlich in dem Angesicht GOttes. 1. Petr. 3,4. Vor die Augen gemahlet und gründlich vorgestellet in einem Einfältigen Gespräch über die 12. Articul der Christlichen Apostolischen Glaubens-Bekanntnuß. Samt einem nothwendigen Vorbericht in einer Zuschrifft an einige neu aufgeweckte Seelen in OberTeutschland und anderswo. Von einem Pilgrim nach der stillen Ewigkeit / der weder Namen noch Titul suchet. Zweyter Druck. Gedruckt im Jahr Christi 1721, Vorbericht (unpaginiert). Dieses Vorwort datiert vom 1. /2. November 1700. Tscheer hat in einer gegen Dippel gerichteten Streitschrift Wert darauf gelegt, er sei nicht als Ketzer aus Bern vertrieben worden, sondern habe sein Amt niedergelegt und darauf das Land verlassen, weil ihn des Amtseides und der kirchlichen Abendmahlspraxis wegen Skrupel beschlichen hätten: [Nikolaus Tscheer], Kurtze und resolute D E C L A R A T I O N Eines Treu-Gesinnten Schweitzers, Auff die falsche Beschuldigung CHRISTIANI D E M O C R I T I , Auffrichtigen Protestanten, und orthodoxen Annihilatoris, oder Zernichteren Der Microcosmischen neuen Schöpffung zum Vorspiel eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Jn zweyen Antwort-Schreiben An seine gute Freunde vorgestellt und publicirt. Franckfurt und Leipzig. An. M D C C X X X I V . , 17f. (Ein Exemplar dieser anonym erschienenen Schrift Z B Z H Ms S 277, 61.) Diese Darstellung Tscheers entspricht, soweit das noch nachprüfbar ist, dem historischen Sachverhalt. Tscheer hat sich nach seiner Emigration mit König und andern exilierten Schweizer Pietisten in der Umgebung Hochmann von Hochenaus (Renkewitz 21969, 49, 93 und 138), bei der Fürstin von Waldeck und schließlich in Holland aufgehalten (Zedlers Universal-Lexicon VL, Spalte 1367f.). Die Titel weiterer von ihm stammenden Schriften sind: Jesus Immanuels Göttliche Liebes-Geschichte; Von der Geburt und Erschaffung / Wieder-Geburt und Erneuerung / der Geschöpffen Gottes: fürnemlich aber des Menschen . . ., 1713 (eine mystische Auslegung der vier ersten Kapitel der Genesis), und: Die Reden und Worte Jesu Christi . . ., Mit kurtzgefaßten Betrachtungen Reim-weise vorgetragen . . ., Duisburg, publ. Georg Böttiger, 1726, sowie eine Boehme-Anthologie: Einleitung Z u m Wahren und gründlichen Erkänntnis Des grossen Geheimnisses der Gottseligkeit: G O T T geoffenbaret im Fleisch; Bestehende in einem Kernhafften Auszug Aller Theologischen / Theosophischen und Philosophischen Schrifften und Zeugnissen Des Hoch-erleuchteten Mannes GOttes und Philosophi Teutonici, Jacob Böhmens . . ., Ausgegeben von einem Theo-Sophiae Cultore. Amsterdam, . . . 1718. Werner Buddecke, Die Jakob Böhme-Ausgaben. Ein beschreibendes Verzeichnis, 1. Teil: Die Ausgaben in deutscher Sprache, Göttingen 1937, 100 bemerkt zu dieser Auswahl, sie sei eine „Frucht eindringlicher Böhmekenntnis". 1718 verfaßte Tscheer ein „Schreiben an die Freünde in dem Schweitzerland, von dem Dißmahligen Stand der Kirchen in Teütschland ansehend die Pietisterey" (AP 375-382), in dem er über den Kreis der Inspirierten, die Sozietäten von Gichtel und Ueberfeld und über die Schwarzenauischen Wiedertäufer berichtet. Die hochinteressante Gestalt Nikolaus Tscheers bleibt erst noch zu entdecken!

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Im letzten Satz dieses Zitats beschreibt Tscheer eine Wendung, die er erst nach seiner Berner Zeit erlebt hat. Man darf darin wohl schon Anzeichen seiner intensiven Beschäftigung mit der Literatur des mystischen Spiritualismus, insbesonderejakob Boehmes, sehen. Vorher hingegen dürfte Tscheer in sorgfältig verschlüsselter Form über seine Berner Erfahrungen berichten, auch wenn damit zu rechnen ist, daß Eindrücke, die er nach seiner Flucht in der Umgebung Hochmanns von Hochenau gewonnen hat, darin mitverarbeitet sind. Denn in die „Gesellschafft und Gemeinschafft der so genannten Pietisten" ist Tscheer in Bern gekommen. Wenn wir also seinen Bericht auch auf die Situation, wie sie sich 1698 dort herausgebildet hatte, beziehen dürfen, dann fallen vor allem zwei Beobachtungen ins Gewicht. Erstens: Anders als Samuel Lutz hat Nikolaus Tscheer den Pietismus neben dem reformierten Staatskirchentum, neben Katholizismus, Täufertum und Labadismus als eine Größe sui generis erlebt. Diese nicht unwesentliche Differenz zu Lutz hängt eng mit der zweiten hier zu machenden Feststellung zusammen: Tscheer lernte den bernischen Pietismus als ein in sich disparates Phaenomen kennen. Man konnte sich da zu den einen oder den andern Kreisen halten. Sie waren „nicht alle eines Sinnes". Was heißt das? Hier drängt sich die Vermutung auf, daß die führenden Theologen innerhalb des bernischen Pietismus diesen nach wie vor als eine innerkirchliche Reformbewegung verstanden, während andere Kreise, in denen wohl vorwiegend Laien den Ton angaben, eher bereit zu sein schienen, aus den mit dem herrschenden Staatskirchentum gemachten Erfahrungen die Konsequenzen zu ziehen und in die reine Innerlichkeit zu emigrieren. Die Quellen deuten nämlich darauf hin, daß Schriften der Jane Leade und andere, dem Geist des mystischen Spiritualismus verpflichtete Bücher, vorwiegend in Laienkreisen gelesen und propagiert wurden, während zum Beispiel Samuel Güldin und Christoph Lutz, aber auch Samuel König, eher davor warnten 32 . 32 Folgende Tatsachen stützen diese Vermutung: 1. Keiner der in der Bewegung führenden Theologen konnte der Teilnahme an Konventikeln überfuhrt werden. Sieht man von Schumachers ersten Anfängen in Lützelflüh ab, so scheinen sie sich in der Tat von Privatversammlungen konsequent ferngehalten zu haben. Eine Ausnahme bildet nur der junge Püntiner, dem in der Bewegung aber keine fuhrende Rolle zukam. 2. U m so leichter konnte in den Konventikeln ein eigenes geistliches Klima entstehen. Hier vor allem fand der Zürcher Banquier Heinrich Locher Subskribenten für die deutschsprachigen Ausgaben von Werken der Jane Leade. (Locher stand mit dem aus Nürnberg vertriebenen, nunmehr in Utrecht lebenden Uebersetzer Loth Vischer in Verbindung, vgl. Relation II, l . ) N u n h a b e n von den Pfarrern sich Schumacher und Thormann an dieser Subskription beteiligt, wobei freilich Thormann das nur aus Mitleid mit dem armen Uebersetzer getan haben will (Relation II, 2). Aber die eigentlichen Initianten in dieser Sache scheinen Burkhard Engel (vgl. oben S. 85 f.) und Daniel Knopf gewesen zu sein, und sie vermochten offensichtlich vorwiegend Laien wie den Maler Johannes Dünz, diejungfer Hybner und Barbara May, die auch Hiels „Ackerschatz" subskribierte, zum Mitmachen zu bewegen (AP 221 und 241. Relation II. Knopf war freilich nicht, wie Hadorn 1901, 99, meint, „gewissermaßen der Verleger" der Lead'schen Bücher). Wohl haben auch Güldin und Lutz Bücher der Leade zugestellt erhalten, sie konnten sich aber dafür nicht erwärmen. Güldin fand sie „schröklich obscur" und schlichtweg unerbaulich, wie er auch eine Schrift von Valentin Weigel ungelesen wieder zurückgeschickt haben will (AP 221), während Lutz nicht die Schrift-

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Gewiß ginge es zu weit, wollte man geradezu von zwei Lagern sprechen. Wenn, dann handelte es sich um zwei wenn auch grundverschiedene Tendenzen innerhalb einer Bewegung, die sich unter dem starken Druck, dem sie ausgesetzt war, immer noch als eine Einheit manifestierte. Aber ist es nur Zufall, daß Samuel Lutz in seinem Bericht die „erleuchteten, eyfferigen Männer", die er als seine „geistlichen Vätter" ehrte, so stark hervorhebt, während Tscheer sie mit keinem Wort erwähnt? Anhand dieser Beobachtungen und begründeten Vermutungen läßt sich die Situation, in der das gegen Lutz, Tscheer und Massé hängige Verfahren und die zwischen Religionskommission und Schulrat anstehende Kraftprobe ausgetragen wurden, wenigstens andeutungsweise rekonstruieren. Ihr Hauptmerkmal war ihre Unübersichtlichkeit: Kirchenreformerische, mystisch-spiritualistische und separatistische Tendenzen lagen im bernischen Pietismus schwer entwirrbar ineinander. In dieser Lage mußte die staatliche Gewalt, wollte sie die Übersicht nicht gänzlich verlieren, sondern das Heft endlich in ihre Hand bekommen, die Untersuchung zentralisieren. Konkret hieß das, daß sie die drei des Pietismus verdächtigen Studenten der Religionskommission zuwies. Der Schulrat mochte noch so sehr auf die Schulordnung pochen, nach der er im vorliegenden Fall zuständig sei. Der eigens einberufene Große Rat hielt ihm entgegen, daß in Religionssachen letzten Endes allein die Obrigkeit zu entscheiden habe33 So sanktionierte der Große Rat am 26. August das Vorgehen des Kleinen Rates, und zwar beinahe einhellig, wie Bachmann bemerkt 34 . Die drei Studenten wurden vor die Religionskommission zitiert, die Lutz die Konsekration bis auf weiteres

en der Leade, sondern Johann Arndts „Wahres Christentum" und die Bibel zur Lektüre empfahl (AP 241, vgl. 231). Schumacher gab vor der Religionskommission zu Protokoll, Jakob Boehmes und Hiels Schriften seien für ihn „Böhmische Dörfer". Er fuhr fort: „Freylich habe ich vorzeiten in den Authoribus Mysticis gelesen, aber jetz nicht mehr, dan da ich in den ersten Anfängen und im ersten eifer gewesen, da hab ich nach allen denjenigen Bücheren getrachtet, die da mächtig auff die Heiligung getrungen . . . Aber nun lese ich Lieber in der H. Schrifft, und in den Bücheren unserer seel. Reformatoren Lutheri, Calvini etc., alß in welchen die Lehr des glaubens und das pure Evangelium Lauter und Rein vorgestelt werde." (AP 253) Daß Samuel König die separatistische Tendenz des Büchleins „Die philadelphische Sozietät" (vgl. oben S. 112 f., Anmerkung 77) kritisiert hat, wurde bereits erwähnt. Johannes Müller will nur Bunyans „Pilgerreise" weitergegeben haben (AP 270) und Abraham Fueter (vgl. oben S. 85) hat Heinrich Locher von Jakob Boehmes Schriften abgeraten (AP 282). Es ergibt sich somit ein recht einheitliches Bild: Unter Berns pietistisch gesinnten Pfarrern standen die meisten den von Locher vertriebenen Autoren (Jane Leade, Jakob Boehme, Valentin Weigel, Hiel und - vgl. dazu Relation II, IV - Johanna Eleonora Petersen) distanziert gegenüber. Thormann und Schumacher ließen sich nur vorübergehend dafür erwärmen. N u r von Jakob Dachs ist bekannt, daß er eine neue, allerdings stark veränderte Ausgabe von Hoburgs „Mystischer Theologie" plante. (AP 245-251) O b die Laien, die in Bern Jane Leades Schriften lasen, die Tätigkeit der Philadelphischen Sozietät bloß mit Interesse verfolgten oder sich insgeheim selber dazu zählten, ist, obwohl Relation VIII, 6 das letztere suggerieren möchte, eine noch offene Frage. 33 34

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RM 263, 131-133. Bachmann an Ulrich, 9. 9. 1698.

verweigerte, während Tscheer und Massé zum Ministerium zugelassen wurden 3 5 . Nachdem so der Schulrat ausgeschaltet war 36 , konnte das Verfahren gegen den Pietismus endlich in Gang kommen. Unter den Hauptverdächtigen hatte Georg Thormann sich als erster vor der Religionskommission zu verantworten.

4. Die Verhöre

Thormann 3 7 hatte der pietistischen Bewegung in Bern den Weg bereiten helfen und dieser immer wieder neue Impulse verliehen. Als Autor erbaulicher Schriften, als Wohltäter der Flüchtlinge und Armen, als vorbildlicher Pfarrer stand er nicht nur bei den Pietisten in hohem Ansehen. Er galt, nicht nur als Dekan des Kapitels Burgdorf, viel und konnte der noch jungen Bewegung jenen Rückhalt geben, dessen sie so dringend bedurfte. Gewiß, Lützelflüh, wo er wirkte, war nicht Stettlen, nicht Bern und auch nicht Belp: Es ist unter seiner Amtsführung nie zu einem pietistischen Zentrum geworden, etwa derart, daß die Menschen dort von weit her zusammengeströmt wären. Aber - um hier nur gerade dies in Erinnerung zu rufen - Samuel Schumacher hatte in seinem Haus die entscheidende Wende erlebt 38 , der Weg ausländischer Pietisten führte dort vorbei 39 und zwischen Lützelflüh und Zürich gingen Briefe hin und her. Und doch sagte sich Thormann, als er vor der Religionskommission zu erscheinen hatte, von der pietistischen Bewegung los. Er gab eine Erklärung 4 0 ab, in der er sich Punkt für Punkt von dem, was doch nicht zuletzt von ihm ausgegangen war, distanzierte. Daß er sich dabei auf die geltenden Bekenntnisschriften berief und auf die „alten guten Reformatores, und Bullingerum, Hallerum, Musculum et Gualterum" 41 , war normal und 35 Dieser Ausgang mag auf den ersten Blick überraschen. Wenn es richtig ist, daß Lutz dem eher kirchlichen Flügel des Pietismus angehörte, Tscheer hingegen auf dem Rückzug in eine Art privater Innerlichkeit sich befand, warum ist dann ausgerechnet Lutz relegiert worden? Die Frage ist, da die Akten der Religionskommission fehlen, nicht mehr zu beantworten, und bei Mutmaßungen ist gewiß größte Vorsicht geboten. Darf man in Rechnung stellen, daß eine Haltung kritischer Solidarität in autoritären Systemen allemal gefährlicher und verdächtiger zu erscheinen pflegt als eine solche privater Innerlichkeit? - Zu Lutz vgl. den Entscheid des Kleinen Rates vom 7. 9. 1698 (StAB, Policey-Buch IX, 384f.). Zu Massé vgl. auch Relation I, 2. 36 Johann Bernhard von Muralt hatte, um die drei Studenten vor der Religionskommission zu retten, ein „Memorial" verfaßt, in welchem er die Religionskommission und die Stadtgeistlichkeit „harter dingen bezüchtiget", hatte aber damit vor dem Großen Rat keinen Erfolg (RM 263, 131-133). Vgl. dazu auch Relation VIII, 3. 37 Vgl. oben S. 30-33, 53-55 und 84. 38 Vgl. oben S.46f. 39 Vgl. obenS. 71. 40 Déclaration Hrn. Georg Thormans, Pfarrers zu Lüzelflüehen in dem Bernergebieth, und Decani Eines Ehrwürdigen Burgdorffischen Capitels (ZB Z H Ms T 410, Nr. 9). 41 Ebd., Punkte 1 u n d 4 .

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schied ihn von seinen pietistisch gesinnten Amtsbrüdern noch nicht. Auch war es nur konsequent, daß er jegliche nicht an das Schriftwort gebundene Inspiration ablehnte, folglich Autoren wie Boehme, Hiel, Hoburg, Tauler und die Bourignon verwarf und eine Ökumene, die bloß auf dem Kriterium der praxis pietatis, nicht auf der reformatorischen Rechtfertigungslehre aufbaute, kritisierte 42 . Wenn er sich aber in der Folge von allen nicht ordentlich berufenen Lehrern innerhalb der Kirche, von allem „Geläuff' und den „Collegia Pietatis", von den Tendenzen des Separatismus und des Perfektionismus, von Brudernamen, Bruderkuß und von chiliastischen Predigten distanzierte, dann traf er die Bewegung als ganze 43 . Man wird entgegenhalten, dem sei doch nicht so. Thormann habe sich damit nur vom schwärmerischen Pietismus losgesagt. Das ist zwar in der Theorie, nicht aber im Blick auf die damalige Situation richtig, gehörte es doch gerade zum Wesen des Bernischen Pietismus, daß sehr verschiedenartige Tendenzen sich darin verbanden und nicht so leicht in schwärmerische und gut reformierte Elemente zu zerlegen waren, ohne daß das Ganze sich in nichts auflöste. Daß Thormann die Bewegung als ganze treffen mußte, wird einem klar, wenn man sich die „Summa" seiner „Declaration" vor Augen hält: „Alle wahre pietet, und fromme Heilsbegierige Seelen, liebe u. Ehre ich von Hertzen, ohne partheylichkeit; alle Singulariteten aber, Spaltung, Trennung in der Kirchen, Enthusiastereyen, Mystische Weißen u. reden, sichtbahre Kirch u. Brüderschafften in der Kirchen, u. under der Brüderschaft, u. alß Brüder wieder Brüder, Kirch wieder Kirch, Jtem affectation, eingebildete Vollkommenheit, unsündtlichkeit, Zitteren, sonderbahre manieren, Verlaßung der Arbeit, u. des Haußwesens, unordnung in der Kirchen, unanständiges Kirchengeläuff, u. Hangen an dißen u. jenen Menschen, u. was dergleichen ding heütigs Tags mehr under dem nammen der Pietisterey verstanden werden, alles das approbiere ich nicht, sondern verwerffe es von Hertzen." 4 4

War Thormann am Ende gar kein Pietist? Mir scheint, die zahlreichen Fakten, denen wir im Verlauf dieser Arbeit begegnet sind und die ihn mit dem Pietismus verbinden, sprechen eine zu deutliche Sprache, als daß man im Ernst so von ihm denken könnte. Mangelte des Thormann denn an der nötigen Zivilcourage? Auch eine derartige Auskunft dürfte auf Abwege führen. Des Rätsels Lösung scheint mir vielmehr in der Beobachtung zu liegen, daß Thormann den Pietismus nie anders denn als individuelle Frömmigkeitsrichtung im Rahmen des vorgegebenen staatskirchlichen Systems der Spätorthodoxie verstanden und vertreten wissen wollte, nicht aber als eine Reformbewegung, die den Rahmen dieses Systems im Grunde sprengte 45 . Punkt 10 seiner „Declaration" mag diese seine Haltung veranschaulichen: „Sintemahl das Reich Gottes nicht kommen wird mit gepräng, sondern 42 43 44 45

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Ebd., Punkte 2, 4 und 3. Ebd., P u n k t e 5 - 9 u n d 11-12. Ebd., Summa. Vgl. oben S. 32 f.

inwendig ist, so halt ich darfur, das wie verborgener ein Christ seyn kann, j e beßer Er ein Christ ist . . . Achte also wie weniger sich ein Christ in unsündhafften Dingen v o m anderen underscheide, j e beßer ers seye. Wie weniger er in die Singularitet falle, j e freyer seye Er auffrichtig, u. ohne affectation Gott zu dienen: wie stiller, j e Gott wohlgefälliger." Von hier aus mußte Thormann einem Pietismus gegenüber, der sich als Reformbewegung verstand und der auch vor den herrschenden kirchlichen und gesellschaftlichen Strukturen in letzter Konsequenz nicht Halt machte, grundsätzliche Vorbehalte anbringen. Er hatte die Entwicklung von einer individuellen Frömmigkeitsrichtung zu einer kirchlichen Reformbewegung, die sich im Bernischen Pietismus abgespielt hatte, nicht mitvollzogen. Die Differenz, die zwischen ihm und seinen jüngeren, pietistischen Amtsbrüdern und deren Gefolgschaft von allem Anfang an bestanden hatte, ließ sich so lange zudecken, als der für die Entfaltung verschiedenartiger Tendenzen nötige Freiraum vorhanden war. Nun aber, als der Konflikt mit den staatlichen und kirchlichen Autoritäten unvermeidlich geworden war, mußte Thormann Farbe bekennen. Er hat dabei weder sich verleugnet noch den Pietismus, wie er ihn verstand, verraten. Der Bernische Pietismus ist in seiner Frühphase auch an seiner eigenen Heterogenität gescheitert. Eines freilich wird man Thormann bei allem Verständnis für seine Haltung anlasten müssen. Er hatte nicht begriffen, daß die zwar nicht intendierte, aber faktisch doch vorhandene Tendenz zur Separation, wie sie in der Bewegung sich mehr und mehr herausgebildet hatte, nicht nur den Pietisten angelastet werden konnte, sondern auch deren Gegenspielern, die, an den Schalthebeln der Macht sitzend, der Bewegung mit so viel Unverständnis begegneten, daß diese ins Abseits gedrängt wurde. Bedenkt man, daß er für die Schäden des staatskirchlichen Systems j a nicht blind war, dann hat seine „Declaration" zu sehr nur apologetischen Charakter. Aber so war es im Ansatz seines Denkens angelegt und kam nun als Schwäche an den Tag 4 6 . 4 6 T h o r m a n n s Auftritt vor der Religionskommission hatte ein für diesen bezeichnendes Nachspiel. In seinem Brief an Ulrich v o m 30. 9. 1698 mußte Bachmann zuhanden v o n J o h a n n Heinrich Schweizer nämlich mitteilen, es habe Thormann schwer getroffen, daß dieser ihn in einem Aufsatz v o m vergangenen Juli so hingestellt habe, als denke er „in der Lehre v o m Allmußen und der Taüferen Verweigerung die Waafen zu gebrauchen" nicht orthodox. D a s bezog sich auf Schweizers Gutachten mit dem Titel „Gründ und Ursachen, Warum die sogenante Philadelphische Societet oder Pietistische Bruderschafft, wie sie in Engelland, Teütschland und Holland dißmahlen ist, bey der Kirchen Gottes, und dem Gemeinen Wesen sonderlich in der Reformierten Eydgnoßschafft gfahrlich und hiemit unleydenlich seye", das er im Z u s a m m e n h a n g mit dem Verfahren gegen die Zürcher Pietisten erstellt hatte ( Z B Z H M s S 276, N r . 6B. A P 113-115. Eine knappe Zusammenfassung bei Hadorn 1901, 77f.). Dieses Gutachten bietet eine Zusammenstellung derjenigen theologischen Argumente gegen den Pietismus, die, denkt man an die 19 Thesen von 1696, bereits stereotyp waren. Schweizer ließ sich dabei auch von Erfahrungen und Beobachtungen leiten, die er 30 Jahre früher im Haus Jean de Labadies in Genf gemacht hatte. Wohl wollte Schweizer die Pietisten nicht diffamieren, sondern nur vor den ihnen und mit ihnen drohenden Gefahren warnen. Aber er schoß doch, auch gerade was Thormann anging, weit übers Ziel. So etwa, wenn er in den Punkten 14 und 15

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Thormann kam ungeschoren davon. Wie war dieser Ausgang zu deuten? Sollten auch Lutz, Güldin und Schumacher, welche die Bewegung doch ausgelöst hatten, eine Chance haben, sich vor der Religionskommission rechtfertigen zu können? Bei ihnen waren die Voraussetzungen im vorneherein anders als im Fall von Georg Thormann: Ihretwegen war es zujenem „Geläuff" gekommen, aus dem sich dann alles weitere entwickelt hatte. Uber sie waren denn auch die verschiedensten Gerüchte im Umlauf, gegen die sie sich, noch bevor sie verhört wurden, ihrerseits durch eine Erklärung zu schützen suchten. Dekan Bachmann zum Beispiel, formulierte, was er von ihnen hielt, so: „Es sind alles fräche Männer, von denen wir kein andere alß fräche Antworten zu erwarten haben . . ," 47 Es war also alles andere als unnötig, sich gegen derart massive Vorurteile vorzusehen.

seines Gutachtens argwöhnte, die Pietisten seien gefährlich, „weil etliche von dem Allmusen solche Hochsteigende pflichts Regeln treiben, daß wenig underschied zwischen der Widerteüfferischen Gemeinschafft der güteren und ihrer Lehr zu finden", und „weil sie zwar die N o h t wehr zur beschirmung deß Gemeinen Wesens, w o sie Oberkeitliches mißfallen befürchten, nicht laugnen, aber w o sie äussert gfahr, ein andere sprach fuhren, und auch dahin ihre Principia ziehlen". Das erstere bezog sich, ohne daß Schweizer den N a m e n des Autors nannte, auf einen „unlängst in der Eidgnoßschafft getrukten Tractat" über die christliche Pflicht zur Wohltätigkeit, dessen Verfasser eben Georg T h o r m a n n war. (Ich habe diese Schrift bisher nicht einsehen können.) T h o r m a n n beschwerte sich deswegen nicht nur vor der Religionskommission, sondern auch in einem nicht mehr erhaltenen Brief v o m 4. 11. 1698 bei Schweizer persönlich, worauf dieser entgegnete, er habe T h o r m a n n nicht eigentlich angreifen wollen. Dessen „Déclaration" mache ihn, Schweizer, glüklich. N u r T h o r m a n n s Befremden darüber, daß man ihn zu den Bernischen Pietisten zähle, könne er nicht so recht begreifen, da diese sich doch ständig auf ihn als ihren „sonderbahren fautoris" beriefen! (Copia eines A n d t w o r t schreibens H. Prof. Schweitzers an H e r r n Decanum T h o r m a n n in Lützelflüeh, Z B Z H Ms S 276, N r . 6 C.) Später hat T h o r m a n n seine Stellung zum Pietismus in der Schrift „Wohlgemeinte U n d in der Liebe abgefasste Untersuchung Der so genandten Pietisterey" von 1708 (vgl. oben S. 30f., A n m e r k u n g 6) ausführlich beschrieben und begründet. In den fünf ersten Kapiteln behandelt er darin folgende T h e m e n : „Von Spaltungen/Secten/Separation und T r e n n u n g " . II „Von der Philadelphia und Bruderschaft. . .". III „Von den Assemblées, Collegiis Pietatis und V e r s a m m lung neben und äussert dem öffentlichen Gottes-Dienst". IV „Von unserer wahren seligmachenden Religion und dero N o t h w e n d i g k e i t zur Seligkeit. U n d hiemit / O b m a n in allerley Religionen k ö n n e selig werden / wann man sich im übrigen eines f r o m m e n / stillen / der Welt abgestorbenen Wandels befleisset". V „ V o m Wort und Geist / und v o m Verstand des Worts". T h o r m a n n lehnt jegliche Separation ab, es sei denn, eine Kirche sei radikal verdorben. Das Modell der philadelphischen Sozietät bezieht er auf die Ortsgemeinde, stellt aber auch fragend fest: „Da ist kein rechte Bekandtschafft / kein rechte sommunication, recommendation, Fürbitt und Gemeinsame der Liebe? Was sind wir? Scopae dissolutae? Gantz under einandern separirt und zertrennt. Wer sollte dann nicht wünschen / daß die wahre Philadelphia, das ist / BruderLiebe / j e m e h r und mehr aufgienge durch Gottes Gnad. " (24) Aber eben: Die Erfüllung dieses Wunsches wünscht und erwartet T h o r m a n n nur im Rahmen der Ortsgemeinde. Konventikel sind angesichts des Angebots an öffentlichen Gottesdiensten unnötig und gefährlich, da sie den Keim zur Separation in sich tragen. - Wir gehen hier, da sie inhaltlich nichts Neues bringt und jenseits des zeitlichen Rahmens unserer Untersuchung liegt, nicht näher auf diese Schrift ein. Sie verdiente aber im Z u s a m m e n h a n g einer dringend zu wünschenden Studie über Georg T h o r m a n n eine eingehendere Würdigung. 47

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Bachmann an Ulrich, 31. 10. 1698, vgl. auch den Brief v o m 13. 1. 1699.

C h r i s t o p h Lutz, Samuel Güldin u n d Samuel Schumacher bekannten sich in ihrer E r k l ä r u n g 4 8 zur Heiligen Schrift, der Z w e i t e n Helvetischen K o n f e s sion, d e m Berner S y n o d u s u n d d e m „köstlichen Kleinot" des Heidelberger K a t e c h i s m u s als der G r u n d l a g e ihres Glaubens: „ D i s e m nach bezeügen w i r Heilliglich, daß w i r nicht n u r keinen n e ü w e n glauben u n d Religion haben n o c h lehren, sondern auch gentzlich entfernt seyend v o n allen u n d j e d e n Secten T r e n n u n g e n u n d Spaltungen ins g e m e i n . " I m einzelnen nannten sie hier die T ä u f e r , die Q u ä k e r - die Pietisten w a r e n des „ Z i t t e r n s " w e g e n i m m e r w i e d e r m i t ihnen in V e r b i n d u n g gebracht w o r d e n - u n d die E n t h u siasten. Sie unterstrichen, „daß wir hochachten das H . W o r t Gottes, als das ordentliche mittel welches der H . Geist braucht zu des Sünders B e k e h r u n g u n d als die allein V o l l k o m m e n e Regel u n d Richtschnur alles deßen, was j e d e m C h r i s t e n zur Sähligkeit zu glauben, zu w ü ß e n u n d zu ü b e n nötig ist, u n d daß w i r die läsung deßelbigen beständig r e c o m m e n d i r e n u n d e i n s c h e r p fen". Im weitern b e k a n n t e n sich Lutz, Güldin u n d Schumacher zur N o t w e n digkeit des Gebets - in radikalen Kreisen scheint dieses als u n n ö t i g abgelehnt w o r d e n zu sein - u n d zur reformatorischen Rechtfertigungslehre u n d n a h m e n gegen jeglichen P e r f e k t i o n i s m u s u n d A n t i n o m i s m u s Stellung. Z u m besonders heikein P u n k t der K o n v e n t i k e l stellten sie fest: „ O b w o h l vill reden v o n verdächtigen unerlaubten V e r s a m m l u n g e n u n d Bruderschafften, so bezeügen wir uffrichtigest, daß w i r dergleichen w e d e r j e m a n d gerathen, keinen niemahlen b e i g e w o h n t , u n d v o n H a l t u n g selbiger gäntzlich nichts w ü ß e n . " Aus alledem gehe zur G e n ü g e h e r v o r , „wie ungüetlich u n d u n g r ü n d t m a n in Z w e i f f e i zeüche den respect g e h o r s a m u n d T r e ü w , die w i r unserer v o n G o t t geordneter O b e r k e i t schuldig sind, alß welchen w i r mit theüren Eiden (neben sonst o b g e h a b t e r Christenpflicht) bestättiget, u n d d u r c h Gottes fernere Gnad beharrlich zu erfüllen gantz uffrichtig gewillet sind". Die Verfasser v e r b ü r g t e n sich dafür, „daß unsere Z u h ö r e r in allen Zeiten u n d nöten nicht m i n d e r alß andere f ü r die H a n d h a b u n g der Freyheit des Vatterlands u n d Wohlstand der Kirchen mit leib u n d läben sich schuldigst darstellen w e r d i n d " . Z u m Schluß anerboten sich Lutz, Güldin u n d Schumacher, weitere Rechenschaft ablegen u n d w o nötig „Brüderliche C o r r e c t i o n " a n n e h m e n zu wollen, nicht o h n e n o c h einmal ihren festen E n t s c h l u ß zu bekräftigen, „in diser alten Evangelischen R e f o r m i r t e n Glaubenslehr d u r c h Göttlichen Beistand in Lieb u n d leid zu verharren, zu lehren, zu läben u n d zu stärben". G e w i ß gingen Lutz, Güldin u n d Schumacher mit der B e h a u p t u n g , sie w ü ß t e n v o n K o n v e n t i k e l n ü b e r h a u p t nichts, etwas weit. D a ß sie selber sich daran nicht beteiligt haben, k a n n aber, wie gesagt, nicht in Z w e i f e l gezogen w e r d e n u n d wurde auch nicht in Z w e i f e l gezogen. Bei i h r e m Bekenntnis m u ß t e aber v o r allem ins G e w i c h t fallen, was darin nicht gesagt w u r d e : V o n 48 Confessio fidej. D. Lucij, D. Guldij et D. Schumacher]' (ZB Z H Ms S 360, 319'-320 v ). Bachmann legte diese Erklärung seinem Brief an Ulrich vom 13. 1. 1699 bei. Abraham Fueter (vgl. oben S. 85) schloß sich dem Bekenntnis von Lutz, Güldin und Schumacher an (AP 284).

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der umstrittenen Konsensusformel ist darin ebensowenig die Rede wie von dem Anstoß erregenden „Geläuff" und den verbotenen Büchern. Die Absicht ist deutlich: Anders als Thormann distanzierten sich die Verfasser dieser Erklärung zwar in der Sache von allen extremen Ausprägungen des Pietismus, nicht aber von den Menschen, die solche vertraten, denn mit ihnen saßen sie angesichts ihres Gegenübers im selben Boot, bildeten sie bei allen durchaus auch vorhandenen Unterschieden eine Bewegung. Ihr Bekenntnis zum reformierten Glauben, zum Staat, in dem sie lebten, und zu dessen Wehrhaftigkeit war gewiß ehrlich. Aber was hatte das angesichts der massiven Verdachtsmomente der Gegenseite, die sich gerade in diesen Passagen ihrer Erklärung spiegeln, denn schon zu bedeuten, wenn sie im selben Atemzug ebenso ehrlich durchblicken ließen, daß ihre Solidarität auch kritisch gemeint war? Und so mögen sie denn auch zu sehr von ihren eigenen Voraussetzungen her gedacht und sich infolgedessen im Ton vergriffen haben, wenn sie ihre Bereitschaft kundtaten, sich „Brüderlicher Correction" unterwerfen zu wollen. Nicht dies hatten sie zu erwarten, sondern ein Urteil. Anders als alle Beteiligten und Betroffenen es wohl erwarteten, ließ dieses noch recht lange auf sich warten. Thormann und Schumacher sind im September verhört worden, Christoph Lutz war im Oktober an der Reihe und Samuel Güldin erst im Dezember, dann aber gleich zweimal 49 . Daraus darf man nicht schließen, die Religionskommission habe sich Zeit gelassen. Da kein Protokoll mehr vorhanden ist, läßt sich nicht exakt feststellen, wie viele Personen verhört worden sind. Wir kennen nur gerade die Namen derjenigen, welche hinterher ein Einvernahmeprotokoll aufgezeichnet haben 50 . Sie wollten so - und das ist für diese Pietisten typisch - das, was im geheimen geschehen sollte, an die Öffentlichkeit bringen. Aber der Kreis der einvernommenen Personen war in jedem Fall viel größer, als die relativ geringe Anzahl der noch vorhandenen Protokolle einen annehmen lassen könnte. Nicht nur die führenden Theologen unter den Pietisten hatten vor der Religionskommission zu erscheinen, sondern auch viele namenlos gebliebene Laien, und schließlich wurden nicht nur Verdächtige zitiert, sondern auch eine ganze Anzahl Zeugen. Der Fragenkatalog war, nach den 49 Thormann: vor dem 30. 9. (vgl. Bachmann an Ulrich unter diesem Datum). Schumacher: 21. 9. (AP 251-265). Lutz: vor dem 22. 10. (vgl. Bachmann an Ulrich unter diesem Datum). Schumacher: 21. 9. (AP 251-265). Lutz: vor dem 22. 10. (vgl. Bachmann an Ulrich unter diesem Datum. AP 226-245). Güldin: 5. und 19. 12. (AP 196-225). A m 6. 1. 1699 orientierte Schumacher Francke über den Stand der Untersuchung, deren Abschluß innert einer Woche er damals erwartete. Er bemerkte, keiner seiner Freunde sei im Verhör derart hart angefaßt worden wie Güldin. (AFSt, D 81, 848f.) 50 Außer Samuel König und den bereits Genannten sind dies: Jakob Dachs (AP 245-251, fehlt bei Hadorn 1901, 97), Johannes Müller (AP 266-272), Abraham Fueter (AP 273-284), der für König eingenommene Theologiestudent Burkhard Fellenberg (AP 285ff.), Daniel Knopf (AP 291 ff.), Stadtschreiber Suter (AP 313ff.) und Gerbermeister Isaak Müslin (AP 329ff., vgl. Hadorn 1901, 109f.).

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vorhandenen Notizen zu schließen, stereotyp: Das „ G e l ä u f f d i e Konventikel und die daran beteiligten Personen, die Lektüre verbotener Bücher, der Kontakt mit auswärtigen Pietisten, hier und dort gegen die kirchlichen und politischen Autoritäten getane kritische Äußerungen waren seine hauptsächlichsten Themen. Meist wurden sehr gezielte, aus beschlagnahmten Briefen oder aus Zeugeneinvernahmen erhobene Fragen gestellt. Der T o n scheint bei weitem nicht immer sachlich, sondern oft geradezu rüde gewesen zu sein. Unter den Kommissionsmitgliedern stach einzig Professor Rudolf durch eine Haltung unbestechlicher Wahrheitsliebe und persönlicher Schonung hervor 5 1 . A m 6. Oktober erstreckte der Kleine Rat die Frist für die Berichterstattung durch die Religionskommission bis Martini, das heißt bis Ende N o vember 5 2 . Die Verhöre scheinen sich aber bis ins kommende Frühjahr 1699 hingezogen zu haben. Einer der letzten wohl, der vor der Religionskommission zu erscheinen hatte, war Samuel König. Nachdem er Ende November respektive Anfang Dezember ein erstes Mal stundenlang befragt worden war, wurde ihm verboten, weiterhin vom Tausendjährigen Reich zu sprechen. D a er sich nicht daran hielt, wurde er am 22. März erneut zitiert, und diesmal drohte man ihm, er werde seines Amtes als Spitalprediger enthoben, wenn er sich dem obrigkeitlichen Befehl nicht fuge. König sagte gleich, daß er sich nicht zu unterziehen gedenke, und zwar aus zwei Gründen: Er sei nie ausdrücklich vorgewarnt worden - in der Tat läßt sich kein derartiges Dokument nachweisen - und zweitens habe er sich anerboten, die Vereinbarkeit der Lehre v o m Tausendjährigen Reich mit der Bibel und dem Zweiten Helvetischen Bekenntnis zu erweisen. N u r wenige T a g e vergingen und König wurde ein drittes Mal vor die Kommission beschieden, diesmal, u m den obrigkeitlichen Entscheid entgegenzunehmen, daß er bis zum Abschluß des ganzen Verfahrens mit sofortiger Wirkung aller seiner Befugnisse enthoben sei 53 . A m 15. April 1699 endlich konnte Dekan Bachmann seinem Zürcher Kollegen Ulrich melden, die Religionskommission werde ihren Bericht demnächst abschließen. A u f Donnerstag, den 8. Juni schließlich wurden der Große Rat und, was die Bedeutung der Angelegenheit unterstreicht, alle Landvögte einberufen 54 . Die Zweihundert sollten die Urteile fällen. 5 1 D a Hadorn 1901, 86-100 und 109 f. ausführlich über diese Verhöre berichtet, fasse ich mich hier kurz. 5 2 R M 263, 384. 5 3 A P 161-195. Der Suspensionsbeschluß wurde K ö n i g am 29. März 1699 eröffnet, vgl. R M 266, 154f. (21. 3.) und 199f. (28. 3.). Schwer angelastet wurde König, daß er eine Apologie seiner chiliastischen Anschauungen verfaßt und verbreitet hatte (vgl. oben S. 110, A n m . 62). 5 4 Ursprünglich sollte der Große Rat auf den 5. Juni einberufen werden ( R M 267, 231). Das A u f g e b o t der Landvögte („Ambtleüt") des deutschen und welschen Landes wurde am 1. Juni erlassen ( R M 2 6 7 , 3 1 9 . Der Wortlaut des Schreibens im Mandatenbuch 10,446 f. im StAB). A m 5. Juni stattete die Religionskommission vor dem Kleinen Rat ihren Bericht ab ( R M 267, 351).

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5. Die

Urteile

Der Berner Pietistenprozeß war zu einer Staatsaktion ersten Ranges geworden. Drei ganze Tage lang nahm sich der Große Rat Zeit, um über das weitere Schicksal der Hauptangeklagten zu befinden. Der Donnerstag verstrich allein mit der Abstattung der „Relation" durch die Religionskommission 55 . Tags darauf, am 9. Juni, hatten sich die Zweihundert „by Eydt" erneut einzufinden, um „nach weitläufiger Verfechtung" über König, Lutz und Güldin die Urteile zu fällen56. Samuel König wurde wegen seiner Angriffe gegen Obrigkeit und Ministerium, wegen Verbreitung einer Apologie und wegen fortgesetzter Predigt über das Tausendjährige Reich seines geistlichen Charakters verlustig erklärt und des Landes verwiesen. König kam diesem Befehl noch am selben Tag nach, so daß der Großweibel ihm nicht einmal mehr den üblichen Bannisationseid abnehmen konnte 57 . Christoph Lutz und Samuel Güldin wurden für schuldig befunden, das „unordentliche Geläuff' verursacht, den gegen das „Zittern" und die irrigen Bücher ergangenen „Oberkeitlichen Intent nit secundirt", mit Landesfremden in „Religions- und Kirchen-Sachen" vertraulich korrespondiert und dabei mancherlei verdächtige Äußerungen getan und schließlich den Thesen von 1696 Widerstand entgegengebracht zu haben. Für sie beide lautete das Urteil: „Daß deßwegen diese beyde Herren um ihrer geschoßnen Fehler willen ihrer Pfründen entsetzt / und ihnen bey Poen der Zuckung des Characters alles heimliche und öffentliche Lehren und Unterweisen / wie auch alles conventiculiren / verbotten seyn solle; biß und so lange selbige sich erklären werdend / den Pietismus fahren zu lassen / und sich der Helv. Confession, wie auch andern Ordnungen / die meine gnädige Herren zu stabiliren gutfinden werdend / zu unterwerffen; damit ihro Gnaden ihrenthalben sicher seyn könnend: als denn zumalen ihro Gnaden sie mit andern / doch nit bessern / der Stadt entlegenen Pfründen versehen mögend." 5 8 Am Samstag, den 10. Juni, wurde Johannes Müller, der bereits im Sommer ohne formelle Anklage seines Amtes als Vikar in Belp entsetzt worden war, die „potestas concionandi" entzogen, und zwar wegen des seinetwegen entstandenen „Geläuffs" und „Zitterns" und wegen seines unmethodischen Predigens. Er sollte erneut die Schulbank drücken, das heißt homiletische Übungen besuchen müssen und den Charakter nicht vor einem Jahr wiedererlangen können 59 . Samuel Schumacher und Jakob Dachs wurden dazu verurteilt, vor der Religionskommission ihre Fehler zu bekennen und ihnen zu entsagen sowie alle Maßnahmen, welche die Obrigkeit zur ferneren 55 RM 267, 380. 56 RM 267, 381. 57 Der Wortlaut des Urteils vom Policey-Buch der Statt Bern 9, 403 f. (abgekürzt: PB) und S. 29 der „Relation". 58 PB 9, 404f. und Relation, S. 30. 59 R M 267, 387 und PB 9, 405 f. Müllers Absetzung muß nach dem Kapitel vom 15. Juni 1698 erfolgt sein, vgl. oben S. 80 und Bachmann an Ulrich, 22. 10. 1698.

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Bekämpfung des Pietismus zu erlassen für gut befinden werde, zu unterschreiben. Ihre Fehler bestanden in der Verbreitung irriger Bücher und im Korrespondieren mit Landesfremden 60 . Das im Fall von Schumacher und Dachs gewählte Vorgehen sollte auch bei anderen verdächtigen Prädikanten in Anwendung kommen. Schließlich erhielten am selben Tag mit Stadtschreiber Suter von Zofingen und Daniel Knopf zwei Laien Bußen von je 500 Pfund aufgebrummt, aus welcher Summe die Verfahrenskosten bestritten und der Sekretär der Religionskommission, Ratsexpektant Samuel Mutach, entschädigt werden sollten. Die Gründe waren in ihrem Fall dieselben wie bei Schumacher und Dachs 61 . Warum diese harten Urteile? Die Religionskommission war in ihrer „Relation" 62 zum Schluß gekommen, daß die mit dem Pietismus aufgetretenen „Jrrthümmer / irregularitäten und Confusiones" zwar „absonderlich genommen würcklich keine Kätzereyen" seien. Dennoch stehe fest, „daß solche zusammengenommen gnugsam sind / einen Anfang zu machen zu einem Schismate oder schädlichen Trennung / und folglich gefährliche Verwirrungen in der Kirchen / in der Republicq, in den Schulen / in der Oeconomie, und in der allgemeinen bürgerlichen Societät / anrichten können". Das wurde in fünffacher Beziehung ausgeführt. Vor allem fürchtete man für die Einheit und Reinheit der reformierten Berner Kirche, die, wie man feststellte, bereits „weit und breit verschryen" sei. Ein Irrtum bereits, wenn er nur um sich greife, genüge, um eine Kirche zu spalten, und im Pietismus habe man es doch mit einer ganzen Reihe von Irrtümern, Übertretungen von kirchlichen Ordnungen und weiteren Ansätzen zu einer Separation zu tun. Der Zündstoff für ein Schisma sei vorhanden. Ein Schisma aber, argumentierte die Religionskommission weiter, könne nicht ohne politische Folgen bleiben: „Darbey ist wol zu reflectiren und für eine unwidersprechliche Wahrheit anzunemmem / daß / wo eine Trennung in der Kirche entstanden / das Uebel daselbst nit bleibt / sondern sich in der Republic communicirt / und also selbige gleich der Kirchen in Verwirrung 60 R M 267, 387 f. und PB 9, 406 f. - Daß Schumacher im Vergleich zu Lutz und Güldin derart glimpflich davonkam, hing mit „gewißen Considerationen" (wohl hinsichtlich seines Gesundheitszustandes) zusammen (Schumacher an Francke, 3. 8. 1699). 61 R M 267, 388 f. und PB 9, 407 f. - Am selben Tag ordnete der Große Rat an, des Pietismus verdächtige Studenten seien solange zu bearbeiten, bis sie auf den rechten Weg zurückfänden. Im besonderen sei zu untersuchen, welchen Einfluß Professor Elisäus Malacrida auf sie ausgeübt habe. - A m 13. Juni wurde Nikolaus Tscheer vor die Religionskommission zitiert, weil er seiner Empörung über die vom Großen Rat gefällten Urteile Luft gemacht und gesagt hatte „es n e m e j h n e wunder, dass der Teüffel die Herren nicht ab dem Rahthauß trage, so gange mann umb mit solchen Frommen Leüthen". (RM 267, 483 und PB 420f.) Tscheer scheint der drohenden Ausweisung zuvorgekommen zu sein und das Land freiwillig verlassen zu haben (vgl. oben S. 126, Anm. 31). - Nach dem unbekannten Verfasser des Berichts „Vom Außtrag deß Pietistischen Wesens" (vgl. oben S. 117, Anm. 7) hatte auch Elisäus Malacrida, „als welchen man für dieses gantzen Wesens einigen Authorem haltet", vor der Religionskommission zu erscheinen. Über den Verlauf und das Ergebnis seines Verhörs ist nichts bekannt. 62

Vgl. zum Folgenden Relation, S. 23-29.

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gerathet." Man erinnerte sich da an das Beispiel Hamburg, das vor wenigen Jahren erst die um den Pietisten Heinrich Horb entstandenen Unruhen nur dank kaiserlicher Intervention heil überstanden hatte. Welche Brisanz gerade auch auf politischem Gebiet Chiliasmus und Perfektionismus in sich bargen, glaubte man aus der Geschichte des Münsteraner und des eigenen, bernischen Täufertums wohl zu wissen. Drittens äußerte die Religionskommission die Befürchtung, daß es des Pietismus wegen nicht nur um den guten Ruf der Hohen Schule, sondern auch um den Frieden innerhalb derselben geschehen sein könnte. Ausgehend von der selbstverständlichen Voraussetzung, daß der Pietismus eo ipso wissenschaftsfeindlich sei, sah sie auf weitere Sicht sogar das Niveau eines von diesem Geist infizierten Ministeriums in Gefahr. Das vierte Argument, das die Religionskommission dem Großen Rat zu bedenken gab, betraf die Stellung der Frau, und zwar in ihren Rollen als Gattin wie als Magd. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß auch in der pietistischen Bewegung in Bern Frauen in einer Weise hervortraten, die den ungeschriebenen, aber nichtsdestoweniger festgelegten Rollenerwartungen nicht mehr entsprach. Auch wer sich vor anachronistischen Übertragungen hütet, wird um die Feststellung nicht herumkommen, daß dem Pietismus auch auf diesem Gebiet emanzipatorische Ansätze innewohnten. Gewiß kann von Gleichberechtigung keine Rede sein, traten Ansprüche grundsätzlicher Art überhaupt nicht auf. Wenn aber Frauen Konventikel begründeten, Frauen auf eigene Faust in solchen sich einfanden und das Wort ergriffen, wenn Frauen Geistlichen anonyme Protestbriefe zukommen ließen 63 und, oft ohne ihre Männer, sich am „GeläufP beteiligten, dann wies das doch in eine Richtung, von der zwar kaum jemand einen klaren Begriff hatte und auch nicht haben konnte, die aber elementare Ängste weckte. Solche Ängste scheinen durch, wenn die Religionskommission fragte: „. . . solte das nit eheliche Liebe erstecken / grosen Argwohn erwecken / wann Eheweiber unter weiß nit was vor einem Vorwand nächtlicher Zeit ihre Haußhaltungen verlassen / in dergleichen Gesellschaft gehen / da sich fremde Ehemänner und Jüngling / die ihnen Verwandschafft halben nit zugethan sind / einfinden / und spaten Nacht wieder heimkommen?" Und was die Dienstmägde anging, so befürchtete man, „daß sie / unter dem Fürwand GOtt zu dienen / in ihrem Diensten / den sie ihren Herren und Frauen leisten solten / untreu und hinlässig werden". Schließlich - fünftens - gab die Religionskommission dem Großen Rat zu bedenken, wieviel Zwietracht in der Burgerschaft überhaupt erwachsen könne, ließe man die Pietisten unbehelligt, und sie schloß mit der Feststellung, die Burger würden aus allen diesen Gründen „sonder Zweifel gnugsam ersehen . . . / wie nothwendig es seyn wolle / zu Erhaltung der Ruh 63

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Ein Beispiel eines solchen Protestbriefes Z B Z H Ms S 630, 58-64.

und Einigkeit der Kirchen / auch Reinigkeit der Lehr / ein friedsames Einsehen zu thun". Dieses „friedsame Einsehen" nun bestand in den Urteilen, wie sie hier eben referiert worden sind. Freilich nicht nur in diesen, sondern zugleich in einer ganzen Reihe von „Remeduren" genannten Maßnahmen gegen den Pietismus. Doch mit ihnen beginnt ein neues Kapitel in der hier zu beschreibenden Geschichte.

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V Der Konflikt E n d e Juli 1699 erhielt Samuel Schumacher einen Brief A u g u s t H e r m a n n Franckes, in d e m dieser die H o f f n u n g ausdrückte, die „ V e r f o l g u n g " der bernischen Pietisten w e r d e dazu beitragen, „daß das Reich Gottes desto weiter ausgebreitet w e r d e " . Francke schrieb: „Gott gebe Euch, die Gott an die Spize stellet, daß Ihr Euch für Menschen nicht furchtet, noch aus dieser undjener Absicht, sonderlich um vermeynter längerer und mehrer Erbauung willen die völlige parrhesie und freudige Bekenntniß der Warheit fahren lasset, so wird Gott sich am herrlichsten verklären, und alles toben der Feinde zu mehrer Ausbreitung seiner Warheit gereichen lassen. Je frischer, getroster und freudiger man das Werck des Herren treibet, und gleichsam also handelt, als ob kein wiederwärtiger da sey, je besser gehets von statten, obsgleich inzuweilen scheinen solte, als werffe man auf einmahl alles üm. Hingegen wenn man behutsam handeln will, sich hier und darinnen accomodiren, nachgeben und weichen; so richtet man am wenigsten aus, behält ein unruhig Gewissen, und machet die Feinde der Warheit nur immer troziger und insolenter. Gott hat euch eine offene thür gegeben, lieben Brüder, welche niemand wird zuschließen können. Darum seyd getrost und sehr freudig, und stärcket euch in der Geduld und in der Liebe unter einander, und leget euer Zeugniß ab in aller Lauterkeit, so wird der Herr mit euch seyn in allem, was ihr thut. Vielleicht bedürffet Jhr unsers Trostes nicht, sondern seyd überfliessen in der göttlichen Krafft; doch trösten wir euch aus herzlicher Meynung. Gedencket, lieben Brüder, an das herrliche Reich unsers H.J.C., welches Jhr bekennet, und was vor einen Vorzug alsdenn diejenigen haben werden, die ihr Leben nicht geliebet biß in den todt, sondern durch viele trübsalen gegangen sind, und haben ihre Kleider helle gemachet in dem Blute des Lammes. Euer Bekenntniß, welches wir für die Wahrheit Gottes erkennen, würde so herrlich nicht seyn, wenn Ihr nicht in reicher Maße theilhafftig würdet der Leiden, die da sind i n j . C." 1 Dieser mit faszinierendem S c h w u n g und seelsorgerlicher S y m p a t h i e geschriebene Brief rief zu K a m p f u n d Bekenntnis a u f - in einer Situation, in der dies w o h l n o c h möglich, realistisch betrachtet aber k a u m m e h r aussichtsreich war. Francke k o n n t e , als er dies schrieb, nicht wissen, daß in B e r n die E n t s c h e i d u n g bereits gefallen war: Die T ü r , die er offen sah, war, v o r d e r h a n d wenigstens, geschlossen, das „herrliche Reich unsers H . J . C . " , an das er erinnerte, v e r p ö n t , u n d das Bekenntnis von Lutz, Schumacher u n d G ü l din, d e m er Wahrheit - göttliche Wahrheit - attestierte, abgewiesen. Francke schrieb in U n k e n n t n i s nicht n u r des Prozesses u n d seines A u s gangs, er schrieb auch in U n k e n n t n i s der zahlreichen vorsorglichen M a ß n a h m e n , die der Rat mittlerweile ergriffen hatte, u m ein Wiederaufflackern 1

August H e r m a n n Francke an Samuel Schumacher, 2. 7. 1699, zitiert nach Weiske 1933, 92 f.

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des eben erst gelöschten Brandes zu verhindern. Über diese Maßnahmen ist nun, im letzten Kapitel unserer Untersuchung, noch zu berichten. Wir beginnen mit einer wortgetreuen Wiedergabe der einschlägigen Passage aus Samuel Schumachers Antwort auf Franckes obigen Brief. Der Prozeß und die als „Remeduren" bezeichneten antipietistischen Erlasse erscheinen darin in der Rückschau eines direkt Betroffenen. Schumachers Berichterstattung entspricht, wie wir sehen werden, den aktenkundigen Tatsachen. Dann wenden wir uns der denkwürdigen Synode zu, die am 5. Juli 1699 in der Berner Bibliothek stattfand und deren Aufgabe darin bestand, einen theologischen D a m m gegen die pietistische Flut zu errichten. Die 20 Thesen, die bei diesem Anlaß zur Debatte standen, werden eingehend zu analysieren und auf den darin zum Vorschein kommenden Konflikt zwischen Pietismus und Spätorthodoxie zu befragen sein.

1. Die „Remeduren"gegen

den

Pietismus

Samuel Schumacher hat August Hermann Franckes Brief vom 2. Juli am 3. August folgendermaßen beantwortet: „Wol Ehrwürdiger Herr, in Gott Villgeehrter und geliebter Freünd und Bruder in S. Sein genemmes v o m 2. July samt beylag hab ich von ihm durch die trägerin, so bey ihme zu Hall gewesen, gar wol empfangen, noch vor anfang deß August; bedanke mich dienstfrüntlichst für diese große liebes-bezeügung; diser Brief war wol wie ein güldener Apfel in silbernen schalen in sich haltende solche Wort die sich in dise Zeit wol schickten für mich und meine lieben freünde, da wir insonderheit vonnöthen hatten, gestärcket zu werden in solchen gefährlichen und schwürigen Zeiten, da es insonderheit manglet auf der hut zu stehen, damitt wir uns nicht theilhaft machen der sünden und strafen, in die wir leichtlich fallen könnten; indem just in dieser Zeit ein Associations-Eyd ist von den 200 den Rähten und Burgern gemacht worden, dises inhalts: daß sie sich zusammen verbinden, alle heüt zu tag im schwang gehenden irrthümer auszutilgen, zu verstören und zu hindertreiben, und keine damitt behaffteten personen zu patrociniren; welcher eyd auch hernach allen Predigern im land nun auch solle aufgelegt werden; der auch nichts anders in sich haltet als die so genante Pietisterey i. e. das wahre Wesen in § und die Kraft der gottsäligkeit zu hindertreiben und auszutilden (sie); diser Eyd wird nun allen Synodis und Capitulis zu prüfen übersendet, und werden wir in unser Classe künftigen montag als den 7. Augustj selbigen samt noch 20. Thesibus die uns zu underschreiben übersendet worden, examiniren; aber da unanimi quasi voce in allen Classibus alles approbirt und gut geheißen wird, wird villeicht auch von unserem bezirck äußert wenigen ein gleiches herauskommen; der Eyd zwar in genere genommen könte wol geschworen werden, aber nicht in hypothesi et intentione j u r a m e n t u m deferentis et illius cuijuratur; deßen intent ist das heutige Wesen zu underdrucken als neiilich entstandenen irthumb, quo sensu kein wahrer Christ disem beypflichten könte; da sehen wir den leichtlich, so nicht eine andere Erleüterung herauskomt, was wir von unsern Kirchendiensten zu hoffen haben; Es ist zwar schon der anfang gemacht worden indem Herr König davon ich ihm auch schon meidung gethan deß

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Ministerij und characteris den 18. Junij 2 ist privirt und deß Lands verwisen worden under villem seüfzen so viller seelen und under begleit viller Studiosorum, auf selbigem tage ist auch Herr Güldin und Herr Lutz von ihren Kirchendiensten verstoßen worden, andere umb geltstraffen sind angelanget worden; mir ist zwar verschonet worden aus gewüßen Considerationen, allein nun wird ich selber müßen disen Kirchen-Dienst zu ihren füßen legen. Allein deß Herrn Will gescheh in Zeit und ewigkeit, wir sind getrost und freüen uns in den trübsalen; wir binden alle die greülichen lästerungen, höhn und spottreden als ein liberey 3 umb unsere Haüpter, und dancken Gott für dise Zeiten, die wir schon so lang zuvor erwünschet haben. O wie vill sprüch der Heil. Schrift gehen uns jez an, die uns zuvor in Emphasj noch nicht angegangen sind; Alle die in § wollen gottsälig leben, müßen Verfolgung leiden. Man hatt auch ein Mandat, das man den 7. Augusti uns vorlesen wird, daß man bey entsezung der Pfründen keine Correspondence über Religions-sachen mitt leüthen äußert unserem land halten solle. Hiemitt wan er mehr Brief an mich schicken wolte, so müßte er sie nicht mehr an mich adressiren, sondern an meinen Bruder Johann Jacob Schumacher Kauffmann in Zoffingen; sonst fanget man alle Briefe auf. - Ich höre unser liebe Bruder der Herr König habe sich zu der Frau [verbessert in: dem Herrn] Petersen begeben, hoffe, er werde auch zu ihme kommen; - Die Meinung von dem Tausendt-jährigen Reich ist verbotten zu lehren noch öffentlich noch heimlich. Man redt darvon die Vätter sollen macht bekommen ihre Pietistischen Kinder zu enterben; niemand zur ehe nemmen laßen, der darmitt angestecket seye; Jn summa es ist das Wätter formirt; man mag wol zu schermen gehen. Ich glaub Herr Lucius werde sich mitt Weib und Kind aus dem land begeben. Herr Güldj wird sonst keinen Kirchendienst begehren können; Es haben sich vast über die 40. Herren der Rähte für uns dargestellt; allein obgleich dise sach 3. Tag lang nach einander offt von morgen biß abends nach 4. Uhr ist mitt größter Hefftigkeit debatirt worden, daß villicht in 30. jähren keine sach ist also verfochten worden, tarnen invaluit Clamor condemnantium. Wir förchten übel, es seye villeicht ein großes Gericht ob unserem lande . . . " 4

Schumacher übertrieb nicht. Tatsächlich hatte der Große Rat nach der Urteilsverkündung sich vom 14. bis 16. Juni drei weitere Tage Zeit genommen, um ein von der Religionskommission vorgeschlagenes Maßnahmepaket gegen den Pietismus durchzuberaten 5 . Da, wie Schumacher berichtet, eine ansehnliche Minderheit der Burger sich für die Pietisten eingesetzt hatte, mußten vorerst die eigenen Reihen geschlossen werden. Das geschah 2 Schumacher irrt sich: Königs Verbannungsurteil ist am 9. J u n i ausgesprochen w o r d e n (vgl. oben S. 136, A n m e r k u n g e n 56 u n d 57). 3 Liberey = Bücherei, Bibliothek. Eine ironische Anspielung auf die neue Burgerbibliothek (vgl. unten zu A n m . 17) u n d auf den mittelalterlichen Ketzerhut? 4 Samuel Schumacher an A u g u s t H e r m a n n Francke, Melchnau, 3. 8. 1699. (Original AFSt, D 81, 850-853. Daselbst 853b auch eine Abschrift dieses Briefes. Wir zitieren nach d e m Original, in d e m G r o ß - u n d Kleinbuchstaben o f t k a u m zu unterscheiden sind.) 5 H a d o r n s Darstellung der „ R e m e d u r e n " ist weitgehend zuverlässig, aber lückenhaft (Hadorn 1901, 102-104). D a r a u f verweisend fasse ich mich hier so k n a p p wie möglich. Ich resümiere den ganzen M a ß n a h m e n k a t a l o g u n d liefere die entsprechenden Quellenbelege. Z u r E i d e s v e r w e i g e r u n g der zehn Pietisten, über die H a d o r n 102 berichtet, ist zu bemerken, daß sie, da sie erst im M ä r z 1701 stattfand, nicht in den vorliegenden Z u s a m m e n h a n g gehört.

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mittels des Assoziationseides, der folgenden Wortlaut hatte: Die Burger verpflichteten sich eidlich, „die Helvetische Confession und die uniformitet der glaubens-Lehr und Gottesdiensts wider meniglichen zuerhalten, zuschützen und zuschirmen, und hingegen alle darwider lauffende Meinungen und neüwerungen, Sonderlich aber die gegenwertig im schwang gehen, abzuschweren, zuhindertreiben, alles Vermögens zutilgen, und keineswegs einiche darmit verhaffte Persohnen zu patrocinieren" 6 . Die feierliche Eidesleistung fand am 14. Juni statt. Alle Burger bis auf einen leisteten ihr Folge, und dieser eine war Nikiaus von Rodt, der deswegen aus dem Rat ausgeschlossen und aller seiner Ämter für verlustig erklärt wurde 7 . Erledigt war sein „Fall" damit freilich noch nicht, man sollte recht bald wieder darauf zurückkommen müssen. Aber klar war nun, daß die Pietisten ihren Rückhalt im Rat verloren hatten. Daß das auch in Zukunft so blieb, dafür sorgten die Burger mit der Bestimmung, der Assoziationseid sei dem Ostermontagseid einzuverleiben. Zudem sollten alle Amtleute und Pfarrer darauf verpflichtet werden. Die leidige, vor allem für das französischsprachige Staatsgebiet folgenreiche Geschichte des Assoziationseides begann 8 . A m selben 14. Juni beschlossen die Burger ferner, die 19 Thesen von 1696 wieder zur Sprache zu bringen, u m eine, gegen den Chiliasmus gerichtete, zu erweitern und zu deren Vorberatung eine aus allen Kapiteln mit zwei Vertretern beschickte Synode einzuberufen. Von dieser Synode, die am 5. Juli stattfand, wird gleich die Rede sein. Was Schumacher Francke am 3. August mitteilte, entsprach also durchaus den Tatsachen. In der Tat hatte der Große Rat am 16. Juni allen seinen Untertanen verboten, mit Ausländern über Religionsangelegenheiten zu korrespondieren, und er hat später die Fischersche Post angewiesen, verdächtige Sendungen zu beschlagnahmen 9 . Was das hieß, hätte Schumacher um ein Haar am eigenen Leib erfahren müssen, hatte Francke doch in Unkenntnis der in Bern schlagartig veränderten Lage ein offenes Bücherpaket für ihn abgehen lassen und dieses an den regierungstreuen Buchhändler Tschiffeli adressiert. Tschiffeli konnte nur mit Mühe daran gehindert werden, die Sendung auf dem Rathaus zu deponieren 10 . Wenn Schumacher Francke im weitern mitteilte, es seien Bestrebungen im Gang, die es den Vätern ermöglichen sollten, ihre pietistisch gesinnten Söhne und Töchter v o m Erbe auszuschließen und ihnen damit faktisch die Heiratsfähigkeit abzusprechen, so war auch das nicht aus der Luft gegriffen: In der Tat war in R M 267, 418-420 (14. 6. 1699). Der volle Wortlaut der Eidesformel P B 9, 409. R M 268, 53 (30. 6. 1699) und 343 (23. 8. 1699). 8 Vgl. dazu R M 270, 63 und 72 (7. und 9. 12. 1699). Der Wortlaut der mit bezeichnenden Zusätzen respektive Präzisierungen versehenen französischen Übersetzung des Assoziationseides P B 9, 463. [Barthélémy Barnaud], M E M O I R E S Pour servir à l'Histoire D E S T R O U B L E S A R R I V É S E N S U I S S E A L ' O C C A S I O N D U C O N S E N S U S , Amsterdam 1726, 38-45. Vuilleumier 1930, 244f., 312-315 und passim. 9 R M 267, 435f., P B 9, 416 und R M 271, 511 (19. 4. 1700). 1 0 Samuel Schumacher an August Hermann Francke, 3. 8. 1699. 6 7

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der Sitzung des Kleinen Rates v o m 4. Juli v o n den H e r r e n Tillier, Jenner, Willading u n d den beiden H e i m l i c h e m ein entsprechender A n t r a g eingereicht w o r d e n , der überdies die Frage enthielt, „ob nicht burger, so nicht deß Standts, u n d j e m a n d v o n den pietisten patrociniren w o l t e n , von allen E h r e n u n d b e f u r d e r u n g e n usszuschliessen" seien 11 . Ja, u m Francke über alle gegen die Pietisten ergriffenen M a ß n a h m e n zu orientieren, hätte Schumacher weit ausführlicher w e r d e n müssen. D e n n n u n gab es einen Erlaß gegen die s o g e n a n n t e u n m e t h o d i s c h e Predigtweise der Pietisten, eine A n o r d n u n g , nach der M o n t a g f ü r M o n t a g i m T u r n u s j e ein Landpfarrer i m Berner M ü n s t e r eine P r o b e seines homiletischen K ö n n e n s u n d seiner R e c h t g l ä u b i g keit abzulegen hatte. Konventikel w a r e n bei h o h e r Strafe v e r b o t e n . Ein scharfer Erlaß sollte d e m Kirchengeläuf endgültig den Riegel schieben 1 2 . Eine „Liste der Mystischen u n d Phanatischen B ü c h e r n " existierte, auf der die N a m e n der Leade u n d der B o u r i g n o n , H o b u r g s , B ö h m e s , J o h a n n Wilh e l m Petersens, Hiels, Taulers, Poirets, Weigels, Schwenkfelds, Sebastian Francks u n d des M i g u e l de M o l i n o s figurierten13. Alle Gastwirte u n d „Feuergschauer" w a r e n angewiesen w o r d e n , auf des Pietismus verdächtige F r e m d e s o r g s a m zu achten u n d diese gegebenenfalls sofort zu „verleiden", u n d jegliches „ s c h m ü t z e n u n d s c h m ä h e n " w a r h ü b e n u n d d r ü b e n bei strenger Strafe untersagt 1 4 . Dies alles enthielt das gegen den Pietismus gerichtete M a ß n a h m e p a k e t , wie es a m 22. J u n i allen Dekanen, Freiweibeln u n d A m t m ä n n e r n s o w i e den Stadtpfarrern e r ö f f n e t u n d zur Weiterleitung an die j e Untergebenen übergeben wurde15. Ihren H ö h e p u n k t erreichten die antipietistischen M a ß n a h m e n aber in der Synode, die auf den 5. Juli in den Bibliothekssaal der H o h e n Schule einberufen w u r d e .

2. Die Synode vom 5. Juli

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D a ß die Bibliothek z u m O r t der „Wichtigen H a n d l u n g " b e s t i m m t w u r d e , w a r w o h l k a u m Zufall. In sechsjähriger intensiver Arbeit w a r sie nämlich unter der Leitung des Schulrates eben erst neu geordnet, katalogisiert u n d in 11

R M 268, 85 f. R M 267, 423-426(15. 6. 1699) und PB 9,411-414. 13 PB 9, 422-426. Bereits im November 1698 war allen Buchhändlern und Buchbindern der Stadt Bern eine gleichlautende Liste zusammen mit einem Katalog atheistischer und deistischer Autoren wie Macchiavelli, Spinoza, Hobbes und Herbert von Cherbury vorgelegt und ihnen unter Eid verboten worden, die indexierten Bücher zu vertreiben. (StAB B III, 38, 601) 14 R M 267, 435 f. und PB 415 f. " R M 267, 482-485 und PB 9, 422-431. 16 Acta Deß von Mghh. Rhät und Burgeren beruffenen und auf den 5. Julij 1699 angestellten und gehaltenen Synodj wider dißmahlige so genante Pietistische, Jrr- und Trennungen: Rodel des Capitels zu Bern (Acta Capit. Bernens.) 1648-1699, StAB B III, 151a, unpaginiert, abgekürzt: Acta. Eine (nicht wortgetreue) Abschrift dieser Acta findet sich bei Johann Jacob Zehender, Kurzgefaßte Kirchen Geschichten Teütscher Landen Hochloblicher Statt und Republic Bern, Von der seligen Reformation Biß Auf gegenwärtige Zeiten fortgeführt, IV, 21-39 12

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einem eigens dafür hergerichteten R a u m i m ehemaligen Barfüßerkloster aufgestellt worden. J o h a n n Rudolf Rudolf, seit kurzem Inhaber des zweiten ordentlichen Lehrstuhls für Theologie und eine der treibenden Kräfte bei der Reorganisation, hatte zu ihrer Einweihung eine kleine Festschrift verfaßt, in der er seiner Freude und Genugtuung darüber, daß die stolze Republik Bern nun endlich auch eine ihrer würdige Bibliothek besitze, Ausdruck verliehen hatte. Dankbar hatte er darin weiter festgehalten, wie glücklich die Aarestadt sich schätzen dürfe, daß sie, während anderwärts in Europa altehrwürdige Bibliotheken infolge der Kriegsereignisse in Schutt und Asche sänken, selber eine derartige Institution einweihen könne 1 7 . D e r prächtige, auf d e m bekannten Gemälde von Johannes Dünz 1 8 festgehaltene Saal wird seine W i r k u n g auf die „Brüder ab dem Land", als sie sich zur Synode einfanden, nicht verfehlt haben. Wohl geordnet und schön aufgestellt präsentierten sich Berns Handschriften- und Bücherschätze in den neuen Regalen. Erlesene antike Funde, prächtige Globen und ein Modell des kopernikanischen Weltsystems schmückten den Raum, der auch eine Porträtgalerie verdienter Politiker, Professoren und Gelehrter enthielt. Hier hatte Berns Wille, mit der wissenschaftlichen Entwicklung der Zeit Schritt zu halten und zugleich die eigene Tradition nicht zu verleugnen, gleichsam seinen symbolischen Ausdruck gefunden - und hier nun sollte die pietistische Schwärmerei am Maßstab solider theologischer Wissenschaft gemessen werden. Z u r Synode fanden sich neben den vier weltlichen Mitgliedern der Religionskommission der gesamte städtische Geistlichkeitskonvent 1 9 und aus den Kapiteln Bern-Land, Büren, Nidau, Burgdorf, T h u n , Zofingen, Aarau und B r u g g j e zwei Abgeordnete ein. U n t e r den Delegierten befanden sich

(Ms. im S t A B B III, 4). - Trechsel 1882, 59f., H a d o r n 1901, 104 u n d Guggisberg 1958, 393f. gehen n u r a m Rande auf die Synode ein, H a d o r n u n d Guggisberg überdies m i t eindeutig n e g a t i v e m Vorurteil. Dieses läßt sich, sobald m a n sich auf den Inhalt der 20 T h e s e n v o n 1699 einläßt, meiner M e i n u n g nach so nicht aufrechterhalten. D e r Konflikt zwischen Pietismus u n d O r t h o d o x i e , der darin z u m Vorschein k o m m t , w a r echt. Trechsel hat das ansatzweise gesehen, aber nicht ausgeführt. 17 J o h a n n R u d o l f Rudolf, Kurze historische Beschreibung der bernischen Burgerbibliothek u n d ihrer A n f ä n g e , wie sie jetzt auf Befehl der H o h e n O b r i g k e i t z u m öffentlichen Gebrauch neu eingerichtet w o r d e n ist, 1699 (De Bibliotheca civica, n u p e r Illustriss. P r o c e r u m m a n d a t u ad u s u m p u b l i c u m instaurata), a b g e d r u c k t in deutscher Ü b e r s e t z u n g bei H a n s Strahm, Die Berner Bibliothek v o n ihren ersten A n f ä n g e n bis zur g r o ß e n Reorganisation v o n 1693: Bibliotheca Bernensis 1974. Festgabe zur E i n w e i h u n g des u m g e b a u t e n u n d erweiterten Gebäudes der Stadt- u n d Universitätsbibliothek Bern am 29. u n d 30. A u g u s t 1974, herausgegeben v o n der B u r g e r g e m e i n d e Bern, Bern 1974, 22-34. Trechsel 1882, 13. 18

Original in der B B B , R e p r o d u k t i o n in der Festgabe ( A n m . 17) gegenüber v o n S. 32. Dessen hierarchische R a n g o r d n u n g w a r folgende: 1. D e k a n (zugleich erster Praedikant), 2. Erster T h e o l o g u s (Theologieprofessor), 3. Z w e i t e r Praedikant, 4. Z w e i t e r T h e o l o g u s , 5. Professor f ü r Hebräisch (Altes Testament), Katechetik u n d Philosophie, 6. Professor f ü r Griechisch (Neues T e s t a m e n t ) u n d Ethik, 7. Dritter Praedikant, 8. Archidiakon (erster Helfer), 9. Z w e i t e r Helfer. 19

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auch Samuel Königs Vater und Georg Thormann. Die Versammlung sollte zu den 20 Thesen Stellung nehmen, welche die Theologen Wyss und Rudolf 2 0 im Auftrag des Großen Rates ausgearbeitet hatten. Es handelte sich dabei u m eine Neufassung der 19 Thesen von 1696. An der Zielsetzung freilich hatte sich nichts geändert: Das Dokument sollte den Pietismus als theologisch unhaltbar widerlegen, damit die gegen diesen ergriffenen Maßnahmen rechtfertigen und zugleich allen derartigen Neuerungen vorbeugen. Es handelte sich dabei also nicht u m ein neues Glaubensbekenntnis, sondern bloß u m eine antipietistische, auf das Zweite Helvetische Bekenntnis abgestützte Lehrnorm. Dennoch ist es bezeichnend, welche Bedenken dagegen sogleich laut wurden: Man erinnerte an das Befremden, welches die Formula Consensus vielerorts erweckt habe, und bemerkte, „mann k o m m e in Suspicion, daß man allzeit in der Religion nur blätze" 2 1 . D e m wurde entgegen gehalten, im K a m p f mit dem Pietismus gehe es u m Fundamentalartikel des Glaubens. U m welche Fundamentalartikel hatte es sich 1696 gehandelt? In dieser Fassung der Thesen war v o m Offenbarungsverständnis, vom Themenkreis u m Rechtfertigung und Wiedergeburt, v o m Verhältnis des wiedergeborenen Christen zu Staat und Gesellschaft, von der Person und dem A m t des Pfarrers und von Fragen der Eschatologie die Rede gewesen 2 2 . U m alle diese Fragen ging es auch im Juli 1699, und doch handelte es sich bei dieser Fassung der Thesen u m mehr als nur um eine ergänzte Neuauflage der ersten. Wyss und Rudolf hatten nämlich ihr Papier von Grund auf umgearbeitet, vieles darin präzisiert, gestrafft und umgestellt und wesentliches neu hinzugefügt 2 3 . Die Verhandlungen fanden unter Ausschluß der im Prozeß eben erst für schuldig befundenen Pietisten statt. Daß Elisäus Malacrida als Griechischprofessor von Amtes wegen zur Versammlung gehörte, gab denn auch zu denken. D a er selber versicherte, „seine Conscientz absolviere ihn vor Gott" von allen gegen ihn gehegten Verdächtigungen, „so daß er sich der Orthdoxei so wol erfreüe als immer einer hier zu gegen", da er ferner eine Loyalitätserklärung abgab und zudem das gegen ihn eingeleitete Verfahren noch 2 0 Johann R u d o l f Rudolf k a m am 4. Oktober 1646 in Z o f m g e n zur Welt. Von 1660 bis 1671 studierte er an der Berner Hohen Schule Theologie. Schon damals fiel er durch seine große B e g a b u n g und seine weitgespannten Interessen, die sich auch auf Physik, Mathematik und Philosophie (die cartesianische!) erstreckten, auf. Eine ausgedehnte akademische Studienreise führte ihn in den Jahren 1672 bis 1675 nach Genf, Saumur (!), Paris, England und Deutschland. Nach kurzer pfarramtlicher Tätigkeit in Seon wurde Rudolf 1676 zum Professor für Hebräisch (Altes Testament) und Ethik ernannt, und 1698 konnte er den neu geschaffenen zweiten Lehrstuhl für Theologie versehen. Nach dem T o d von David Wyss wurde R u d o l f Theologus Primarius und im Jahr 1716 Dekan der Berner Kirche. Leben und Werk dieses bedeutenden Gelehrten und Kirchenmannes sind längst noch nicht genügend erforscht. Vgl. Leu X V , 832 ff., Trechsel 1882 und Guggisberg 1958, 328-330. 21 22 23

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So ein unbekannter Votant in den Acta, Einleitung, 5. Seite. Z u den Thesen von 1696 vgl. oben 72-78 und Trechsel 1882, 45-47. Es läßt sich nicht mehr ermitteln, welcher von beiden dabei federführend war.

im Gang war, hatte man nicht genügend Handhabe, um auch ihn ausschließen zu können 2 4 . Nachdem einleitend Notwendigkeit und Wichtigkeit des zu behandelnden Dokumentes festgestellt waren, schritt man zu dessen Beratung. These für These wurde verlesen, nach Bedarf diskutiert und schließlich approbiert. Der T o n scheint sachlich, j a fast unterkühlt gewesen zu sein. Es ging nicht mehr um Personen, sondern um die reine, gute Lehre. A m Abend des 5. Juli hatte die Synode ihre Aufgabe erfiillt. An einer Zeitenwende entstanden, sind die 20 Thesen von 1699 vielleicht kein bedeutendes, aber sicherlich ein interessantes Dokument der bernischen Kirchengeschichte. Das Zeitalter der Orthodoxie, vom Pietismus dazu herausgefordert, meldet sich darin noch einmal zu Wort. Die es vertreten, tun es mit Würde. Sie sind sich ihrer hohen Verantwortung und ihrer theologischen Kompetenz wohl bewußt, und doch, so will es scheinen, ahnen sie, daß trotz des eben errungenen Sieges ihre Zeit bald vorbei ist und sie ihr Testament zu machen haben. Sie äußern sich zu einem Konflikt, den sie nicht lösen können, weil er als solcher nicht lösbar ist, zu dem sie aber auch nicht einfach schweigen können, ohne das, was sie vertreten zu müssen glauben, und damit sich selber aufzugeben. Ihre Thesen eignen sich trefflich dazu, die theologische und religiöse Problematik, um die es in der Auseinandersetzung zwischen Pietismus und Orthodoxie in Bern ging, herauszuarbeiten. Wir tun das im folgenden so, daß wir im T e x t vorerst These für These zusammenzufassen versuchen. In den Anmerkungen geben wir die Thesen jeweils im vollen Wortlaut wieder 2 5 . Hier sollen auch die relevanten Veränderungen im Vergleich zur Fassung von 1696 festgehalten und die Diskussionsvoten resümiert werden. Schließlich gilt es, sofern das nicht bereits Acta, Einleitung, 3. und 4. Seite. D i e T h e s e n sind in zwei handschriftlichen und in einer gedruckten Fassung erhalten: 1. Acta, 5. Seite ff. (Titel: Lehr-Sätz gezogen auß Helvetischer Confession, auß Befelch M g h h . Rhät und B u r g e r aufgesezt und in gegenwärtige Zeit eingerichtet). 2. In der im P B 9, 4 3 6 - 4 5 4 festgehaltenen amtlichen Fassung (Titel: Lehrsätze / gezogen aus etlichen Articlen Helvetischer Confession / aus befelch M n g h h . Rhät und Burgeren aufgesetzt und under / dem praesidio der hochgeachten Herren der Religions C o m m i t i e r t e n / von gesamter Geistlichkeit zu B e r n und der Herren Deputierten Capitulsbrüederen erleütert und in gegenwertige Zeit eingerichtet beschehen den 5. Julij 1699). 3. Die Thesen sind nie in einer amtlichen Veröffentlichung erschienen. Erst Samuel G ü l d i n h a t s i e 1718 ans Licht gebracht: Kurtze L e h r - und Gegensätze zu Erläuterung und Rettung der Göttlichen Wahrheit: J n sich haltend I. D i e falschen Theses, so wider den so genannten Pietismum zu B e r n in der Schweitz auffgesetzt / und um deren Widerstands willen einige Lehrer abgesetzt und verfolgt worden sind; II. D i e Gegensätze / dadurch die göttliche Wahrheit erläutert und gerettet wird. Z u r Ehre G O t t e s und zur B e f ö r d e rung der Wahrheit und seines Reichs aufgesetzt von Samuel Güldin / gewesenem Prediger und D i a c o n o in den dreyen Haupt-Kirchen daselbst. Gedruckt zu Philadelphia A n n o 1718 (Titel: Lehrsätze / Z u Erläuterung etlicher Artickel Helvetischer Glaubens-Bekanntniß auffgesetzt / und in gegenwärtige Zeit eingerichtet). D a der Vergleich dieser gedruckten Fassung mit den beiden handschriftlichen Fassungen nur geringfügige Abweichungen ergeben hat, zitieren wir hier nach Güldin. 24 25

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geschehen ist, auch zu zeigen, worin die der jeweiligen These zugrundeliegende pietistische Herausforderung bestand 26 . Erst wenn dies geschehen ist, werden die zwischen Pietismus und Orthodoxie vorhandenen Konfliktstellen näher zu bezeichnen sein.

3. Die 20 Thesen I Die „wahre und allein seligmachende Religion" besteht nicht bloß in tiefinnerlicher Frömmigkeit und einem f r o m m e n Leben. Sie lebt nicht weniger von gründlicher Erkenntnis und reiner, guter Lehre. Wer in Fragen der Lehre indifferent ist und bei sich und andern bloß auf die praxis pietatis achtet, wer eine mystische Theologie vertritt, irrt 27 . 26

N u r zu gerne möchte man Samuel Güldings „Gegensätze" (vgl. Anmerkung 25) zur Erhellung dieses Hintergrundes mit heranziehen. Das muß aber aus methodischen Gründen unterbleiben, da wir nicht wissen, wann sie entstanden sind. Gewiß muß das Druckjahr 1718 nicht besagen, daß Güldin seine Gegenthesen erst dann verfaßt habe, zumal ja auch hinsichtlich des Erscheinungsortes allerhand begründete Zweifel bestehen. Was diese letztere Frage angeht, so steht fest, daß das Impressum „Philadelphia 1718" fiktiv sein muß, da es in Pennsylvania eine deutsche Presse vor 1738, als Christoph Saur in Germantown seine Druckerei eröffnete, nicht gegeben hat. (Vgl. dazu zuletzt William J. Hinke, Ministers of the German Reformed Congregations in Pennsylvania and Other Colonies in the Eighteenth Century, o. O. 1951, 261. Hinke bezieht sich hier zwar nur auf Güldins „Apologie" - vgl. dazu oben S. 12, Anmerkung 7 - , seine Feststellung trifft aber auch auf die hier zur Diskussion stehenden „Kurtzen Lehr- und Gegensätze" zu, da diese im selben Gewand und mit demselben Impressum erschienen sind wie die „Apologie".) Wo denn sind die beiden Schriftchen gedruckt worden? Darüber herrscht bis heute Unklarheit. Während Emil Bioesch und Adolf Fluri Bern als Druckort vermuteten (Vuilleumier 1930, 745f.), brachten Hinke und andere amerikanische Forscher Berleburg in Vorschlag. Die mit freundlicher Hilfe des Westfälischen Landesamts für Archivpflege in Münster unternommenen Abklärungen hinsichtlich Berleburgs haben bis jetzt nicht zum Ziel gefuhrt, und gegen Bern als Druckort sprechen m. E. nach wie vor triftige Gründe, die aber hier nicht zu diskutieren sind, daja nicht der Druckort, sondern das Entstehungsjahr der „Gegensätze" der springende Punkt ist. Lange Zeit habe ich gehofft, anhand des zwar undatierten und nur mit „S. G." signierten Briefes an „Monsieur Steiguer, ancien seigneur Baillif de Lentzbourg ä Berne" (BBB M . h . h. XIII 102, Nr. 21) weiterzukommen. Denn dieser Brief stammt, da der Adressat darin als Pate eines Kindes des Verfassers angesprochen wird, mit Sicherheit von Güldin (vgl. dazu S. 124, Anmerkung 29), und zudem ist darin von einer „Apologie" die Rede, die der Absender, also Güldin, geschrieben hat und die zu seinem großen Bedauern noch nicht übergeben worden sei. Wem diese „Apologie" hätte übergeben werden sollen, ist nicht auszumachen. Güldin schreibt weiter, nun würden noch die „theses" erwartet. Der Zusammenhang dieses Briefes mit den beiden angeblich in Philadelphia 1718 veröffentlichten Schriften von Samuel Güldin ist also mit Händen zu greifen. Aber der Brief ist bis jetzt nicht datierbar; denn auf der einen Seite erscheint sein Verfasser darin noch als für Berns Behörden belangbar, also doch wohl noch im Land befindlich, und auf der anderen Seite findet man da mit „tocsin" (Sturmglocke) einen englischen Brocken. Weil demzufolge offen bleiben muß, wann Güldin diesen Brief geschrieben hat, ob noch zu der Zeit, da er sich in Bern befand, oder erst nach seiner 1710 erfolgten Auswanderung nach Pennsylvania, muß auch offen bleiben, wann die „Apologie" und die „Kurtzen Lehr- und Gegensätze" entstanden sind, und deshalb müssen die letzteren als Quelle für den pietistischen Hintergrund der Thesen von 1699 ausscheiden. 27

„Die wahre und allein seligmachende Religion besteht nit nur in auffrichtiger Profession und Uebung der Gottseligkeit / sondern auch in grundlicher Erkanntniß und ungefärbtem

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II Die „allgemeine Kirche Christi" hat in der Schrift als dem „wahren Wort Gottes" alles, was ein Christ zum Glauben und Leben benötigt, erzählt und gelehrt. Ein inneres Wort, das über jenem äußeren stünde, kennt sie nicht 28 . III Wohl versteht der Glaube die Heilige Schrift ohne „innerliche Erleuchtung und Salbung des Heiligen Geistes" nicht, aber Wort und Geist sind untrennbar. Wer neben Gottes einer Offenbarung in der Schrift andere Offenbarungen zu haben behauptet, wer die Schrift in mystisch-allegorisierender Weise anders auslegt, als sie selber verstanden werden will, trennt Geist und Wort in unzulässiger Weise 29 . Glauben der Geheimnisse unserer Seligkeit / o h n e welche auch weder H e y l zu h o f f e n ist / noch die w a h r e Gottseligkeit Platz finden kan. J o h . 17. v. 3. 2 T i m . 1/13. Hiemit verwerffen wir 1. Die M e y n u n g derjenigen / so v o n der B e w ä h r u n g des Unterscheids der Religionen nichts oder w e n i g halten / einen I n d i f f e r e n t i s m u m glauben / u n d die Leute bereden wollen / w a n n ein M e n s c h sich n u r eines f r o m m e n Wandels befleisse sich selbst verläugne / im C r e u t z gedultig seye / u n d in Abgeschiedenheit v o n der Welt lebe / so seye er ein guter Christ. 2. K ö n n e n wir nit gutheissen / vielweniger einfältigen u n d heyls-begierigen Seelen die Schrifften der so genannten Theologiae mysticae rathen u n d r e c o m m e n d i r e n : weilen die Werkheiligkeit darinnen mit grossem Eifer getrieben / aber die w a h r e Glaubens-Lehr / so da ist eine Lehre zur Gottseligkeit / Tit. 1/2. verschwiegen u n d unterlassen w i r d . " Diese T h e s e ist m i t d e m ersten Lehrsatz v o n 1696 weitgehend identisch. D e r erste V e r w e r fungssatz hat, v o r allem d u r c h die E i n f ü h r u n g des Begriffs „Indifferentismus", eine präzisere F o r m u l i e r u n g erhalten. D e r ersten Fassung gegenüber völlig neu ist der zweite, die „Theologia mystica" treffende Verwerfungssatz. Die Diskussion drehte sich denn auch v o r w i e g e n d u m diese beiden Verwerfungssätze, die im P r o t o k o l l als „Elenchi" bezeichnet w e r d e n . Es w u r d e angeregt, „ m a n solte deß Indifferentismi nit gedencken, damit die H e r r e n B r ü d e r auf d e m land nit meinten, m a n rede auf sie; da doch keiner sey, der solchem z u g e t h a n . " Das w a r eine Anspielung auf eine nach wie v o r e m p f i n d l i che Stelle im bernischen Staatskirchentum: das Verhältnis z u m T ä u f e r t u m . Diesem gegenüber sollte jegliche F o r m v o n Indifferentismus unstatthaft bleiben. Die A u t o r e n u n d die H e r r e n der R e l i g i o n s k o m m i s s i o n wiesen z u d e m auf Bestrebungen im deutschen Pietismus hin, w o n a c h gewisse Kreise mit M e n n o n i t e n u n d „Papisten" z u s a m m e n eine katholische Kirche anstrebten. M a n k ö n n e d u r c h Briefe d o k u m e n t i e r e n , daß dieselbe Gesinnung auch im eigenen Land v o r h a n d e n sei. Im weitern w u r d e an die H o c h s c h ä t z u n g erinnert, die T h o m a s a Kempis unter den bernischen Pietisten genoß, an Christian H o b u r g , dessen Bücher im U m l a u f w a r e n u n d der doch selber gestanden habe, „er habe seine beste lumina auß Schwenckfeld", u n d schließlich an den Besuch der Leipziger v o n E n d e 1695. Das reichte aus, u m v o n der S y n o d e das Einverständnis mit dieser These zu erlangen. 28 „In den biblischen Schrifften der P r o p h e t e n u n d Aposteln beyder T e s t a m e n t e n / als in d e m w a h r e n W o r t G O t t e s / hat die allgemeine Kirche Christi alles das aufs v o l l k o m m e n s t e erzehlet u n d gelehret / was z u m heilsamen Glauben u n d zu einem G o t t wolgefälligen Leben recht anzurichten u n d zu lehren dienet. C o n f . Helv. art. I. H i e m i t v e r w e r f f e n w i r die M e y n u n g e n derjenigen / die neben obgeschriebenem W o r t G O t t e s n o c h ein anders innerliches u n d lebendiges W o r t erkennen u n d r ü h m e n / in dessen Ansehen das geschriebene n u r ein s t u m m e r u n d todter Buchstab / u n d also u n v o l l k o m m e n seye / daß es nach d e m innerlichen W o r t / als einer v o l l k o m m e n e n Glaubens- u n d LebensRegul / geprüfet / erkläret u n d ergäntzet w e r d e n soll." Diese T h e s e entspricht der zweiten v o n 1696, u m r e i ß t aber den S t a n d p u n k t einer Inspirationstheologie k n a p p e r als diese. Keine Diskussion. 29 „ O b w o l aber die heilsame E r k ä n n t n i ß / der Glauben u n d die Fühlung dessen / was in

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IV D e m Verständnis der Heiligen Schrift, so sehr dieses auf den Heiligen Geist angewiesen bleibt, dient, recht verstanden, auch alle menschliche Gelehrsamkeit (Allgemeinbildung, Kenntnis der biblischen G r u n d s p r a chen, E x e g e s e , systematische Theologie, Kontroverstheologie). Sie ist neben der F r ö m m i g k e i t eine notwendige Qualifikation für einen Prediger 3 0 . GOttes Wort gelehrt und verheissen wird / von der innerlichen Erleuchtung und Salbung des Heiligen Geistes herkommt; Eph. 1/17.18. Phil. 1/9. 1. J o h . 2/20.27. So gibt uns dennoch der Heilige Geist keinen andern Verstand zu erkennen / als in dem äusserlichen Wort nach der Intention und Willen GOttes enthalten / und mit Beweisung des Geistes auf das Gewissen der Menschen daraus kan bewährt werden. 1. Cor. 2/4. 2. C o r . 4/2. Sintemal der Geist GOttes uns den Verstand seines Worts auch pflegt zu geben durchs Wort / also daß in der O e c o n o m i e der Gnaden das Wort und Geist nimmer soll getrennet werden. Jes. 59/11. Hiemit können wir nit gutheissen die M e y n u n g derjenigen 1. Welche von der innerlichen Erleuchtung und Salbung des Geistes also reden / als wann sie die Glaubigen nit nur zur Erkänntniß und Gehorsam des geoffenbahrten Willens GOttes / sondern auch zu gantz andern Dingen / als nemlich zu neuen Offenbahrungen / Gesichten / Träumen / etc. zubereiteten. 2. Welche einen solchen Sensum Mysticum der Schrifft rühmen / nach welchem auch die klaresten Historien / Außsprüch der Heiligen Schrifft und N a m e n der Vättern / ohne schrifftmässigen Grund in allegorias gezogen / und auf eine figürliche und so genannte mystische oder geheimnißvolle Weise gedeutet werden: wie solches in den Büchern Hiels / B ö h m s / und andern / zu sehen." Der erste Teil dieser These entspricht der dritten von 1696. Der erste Elenchus ist neu hinzugekommen, der zweite stammt aus These fünf von 1696. Eine Diskussion fand nicht statt. 3 0 „ D e n Verstand der heiligen Schrifft-Oertern zu erlangen / und andern durch Unterweisung mitzutheilen / dienen / neben glaubiger Anruffung des Heiligen Geistes / auch die Erkanntnuß der Grund-Sprachen und die Analysis, dardurch der Zweck und Meynung des Geists Gottes / theils aus der Verbindung der Worten mit vor- und nachgehenden / theils aus denen im Text enthaltenen Theilen und Red-Arten fleissig erforschet / und demnach zu gemeiner Erbauung einfältig und ohne eiteles Kunst-Gesuch / doch ordentlich / vorgetragen / und nach erheischender N o t h d u r f f t zur Widerlegung / Bestraffung / Ermahnung / angewendet wird. Allermassen auch der heilige Apostel das Wort GOttes recht zu theilen / und zu seinem Nutzen anzuwenden / deutlich befohlen. 2. T i m . 2/15. und 3/16. S o sind demnach nit zu verachten 1. Die Studia bonarum litterarum, welche / so fern sie zu GOttes Ehr und Dienst geheiligt werden / auch zu dem heiligen Ministerio Vorbereitungen sind. 2. Die aus heiliger Schrifft abgefaßte Systemata Theologiae, als Hypotyposis sanorum sermonum, 2. T i m . 1/13. dadurch die studirende J u g e n d theils zu heylsamem Verstand der heiligen Schrifft / theils zu ordentlicher Abtheilung und Erklärung derselben / angeführt wird. 3. S o kan auch die Widerlegung der J r r - und Wirr-Geistern nicht für ein unnöthiges Gezänck gescholten werden. Zumalen uns die Lehre Pauli / Tit. 1/9. und das Exempel vieler frommen Alten / sonderlich Athanasii, Augustini, ein anders lehrt. Demnach soll man auch bey der Ordination der Predigern / neben der Frommkeit / billig auch auf die nothwendige Gelehrtheit sehen. Derne dann nicht zuwider ist / was in der Apostolischen Kirchen / bey Erwählung gemeiner Handwercks- und Baurs-Leuten / geschehen. Sintemal sie wegen extraordinari-Gaben des Geistes ihre Tüchtigkeit nicht in den Schulen zu suchen nöthig achteten." Auch diese These entspricht inhaltlich weitgehend der vierten von 1696. Die Unterschiede liegen vor allem in der detaillierteren Aufzählung der einzelnen theologischen Disziplinen und darin, daß das letzte Alinea neu hinzugekommen ist. Dieses richtet sich nicht nur gegen die supponierte Wissenschaftsfeindlichkeit der Pietisten, sondern auch gegen deren Bestrebungen,

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V Gerecht wird der Mensch vor Gott allein durch die aus Gnaden zugerechnete und im Glauben ergriffene „vollkommene Genugthuung / Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi". Rechtfertigung, Wiedergeburt und Heiligung sind wohl zu unterscheiden. Gute Werke sind Folgen, nicht Teil der Rechtfertigung, die im Glauben allein geschieht 31 . VI Wenn das Heil allein aus der Predigt des Evangeliums herkommt, dann bedeutet das nicht, daß die Predigt des Gesetzes deswegen überflüssig oder wertlos wäre. Das Gesetz überfuhrt den Sünder seiner Schuld und dient dem Bekehrten als Lebensregel 32 .

die Stellung der Laien in der Kirche aufzuwerten. In der Diskussion w u r d e zwar darauf hingewiesen, auch sie, die Pietisten, hätten ihre „Systemata Theologiae", was aber mit der B e m e r k u n g abgetan w u r d e , ihre Systeme seien eben mit der Forderung v o n 2. T i m . 1,13 nicht vereinbar. 31

„Wir halten u n d glauben vestiglich / daß w i r a r m e Sünder v o n G O t t nicht anders gerecht w e r d e n als durch die v o l l k o m m e n e G n u g t h u u n g / Gerechtigkeit u n d Heiligkeit Christi / die w i r als eine G n a d e n - G a b / so uns von G O t t geschenckt u n d zugerechnet w i r d / mit w a h r e m lebendigen Glauben ergreiffen. Allermassen die Helv. C o n f . art. V. unser Catech. 59. u n d 60. Fr. aus Gottes W o r t m i t m e h r e r m lehret. H i e m i t irren neben vielen andern auch diejenigen 1. Welche da v e r m e y n e n / daß die Gerechtsprechung nicht allein darin bestehe / daß uns d u r c h den Glauben die Sünd vergeben u n d die Gerechtigkeit Christi zugerechnet / sondern auch zugleich das gehörte lebendige W o r t / die T u g e n d / Krafft u n d Geist des Lebens u n d der Gerechtigkeit Christi / m i t u n s e r m Geist oder Hertzen vermischet / H e b r . 4/2. u n d der M e n s c h daraus als aus einem unvergänglichen Saamen durch eine geistliche E m p f ä n g n i ß von n e u e m gezeuget / w i e d e r g e b o h r e n / u n d in das göttliche Leben übergesetzt w i r d etc. welches eine w u n d e r l i c h e V e r m i s c h u n g der Gerechtsprechung / Wiedergeburt und H e i l i g m a c h u n g ist. 2. Die da wollen / daß der Glauben v o n der Liebe u n d allerhand guten Wercken das Leben b e k o m m e / u n d auch in diesem Absehen / so fehr er d u r c h die Liebe thätig ist / den Menschen v o r G O t t gerecht mache. D a hingegen die Liebe u n d andere gute Wercke / als Früchte / das Leben des Glaubens o f f e n b a h r e n u n d an T a g g e b e n . " T h e s e VII v o n 1696 ist wesentlich allgemeiner gehalten als die hier wiedergegebene These V v o n 1699. D a f ü r hat sich hier ein Druckfehler eingeschlichen: Im ersten Alinea m u ß es „Helv. C o n f . art. XV" heißen. Die äußerst rege Diskussion drehte sich vor allem u m den forensischen C h a r a k t e r der Rechtfertigung. D e r Glaube lebe allein aus Gottes W o r t u n d e m p f a n g e Stärkung d u r c h die Sakramente, nicht aber d u r c h gute Werke. Wie bei einem B a u m die Früchte v o m Leben desselben zeugten, so beim Glauben die Werke. Aber, w u r d e gefragt, „ob nit der glaub gerechtmache, so fern er praegnans u n d durch die Liebe thätig ist? Wie die Pietisten u n d in specie D . Spener will." E b e n so, lautete die A n t w o r t , spreche m a n den Werken verdienstliche, letzten E n d e s also gerechtmachende B e d e u t u n g zu. A u s diesem G r u n d beschloß man, an der These in dieser F o r m festzuhalten, denn: „Eben diese unsere Lehr ist der w a h r e u n d rechte Haubtschlüßel alles lebendigen trosts in allen anfechtungen, daß der Glaub in d e m Z u f l u c h t n e m m e n zur Gerechtigkeit Christi bestehet, nit aber in unseren W e r k e n oder einigem absehen auf selbige." 32 „ O b s c h o n d u r c h des Gesätzes Werck n i e m a n d gerecht wird / u n d auch die heilsame Reu / B ü ß u n d Glauben / aus der Predigt des Evangelii / u n d die w a h r e B e k e h r u n g des Sünders / als eine C r e u t z i g u n g u n d A b s t e r b u n g des alten u n d A u f f e r s t e h u n g des neuen Menschen / auß der K r a f f t der C r e u t z i g u n g / des T o d s u n d der A u f f e r s t e h u n g Christi herfließt / u n d d a r u m in d e m P r e d i g a m t des N e u e n Testaments als einem Dienst des lebendigmachenden Geistes / das E v a n g e l i u m soll geprediget werden: so hat dennoch die bescheidene Predig des Gesätzes (als

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VII Das Maß an Glaubenserkenntnis und der Stand der Heiligung sind zwar von Mensch zu Mensch verschieden, die Vollkommenheit hingegen ist in allen ihren Spielarten keine menschliche Möglichkeit, folglich bloße Einbildung 33 . dessen Zweck ist Christus / Rom. 10/4.) auch ihren Nutzen; theils in Ansehen deren / die noch nicht bekehrt sind / als welche dardurch zur Erkänntniß der Art / Natur und Beschaffenheit / der Sünden / wie auch ihrer natürlichen Ohnmacht und gäntzlichen Untüchtigkeit zum Guten / gebracht werden; theils dann auch in Ansehen der Bekehrten / als welchen das Gesätz eine vollkommene und beständige Regul des Wandels ist. Conf. Helv. art. 12. Catech. Heid. p. 1. & 3. So irren derowegen diejenigen / welche vorgeben / daß das gantze Gesätz Mosis zeithero Christi Tod gäntzlich abgeschaffet seye / und dannenher die Prediger / so nicht einzig und allein vom Glauben / sondern auch von Lebens-Pflichten und guten Wercken / welche das Sitten-Gesätz vorschreibt / nun und dann predigen / als Gesätz-Prediger verwerffen und verlassen." Dieser Lehrsatz ist aus These VIII von 1696 hervorgegangen. War die Problematik Predigt des Evangeliums - Predigt des Gesetzes dort noch mit der Abwehr des Perfektionismus verknüpft, so ist sie hier alleiniges Thema. Im Hintergrund dieser These steht die pietistische Tendenz, in der Predigt allein den Glauben an Christus zu verkündigen. Wir haben diese Tendenz schon bei Christoph Lutz beobachtet (vgl. oben S. 64). Am deutlichsten tritt sie bei Samuel König in Erscheinung, hat er doch behauptet, man führe die Menschen auf Umwegen, wenn man ihnen Buße vor dem Glauben predige. Er sah hier angelsächsische Theologie am Werk, und die hielt er großenteils für arminianisch. Ihr gegenüber sei am Grundsatz, „quod fides sit prima bona cogitatio", festzuhalten. „Die wahre Büß folget auff den glauben, und ist nüt anders als eine erfahrung deß Kreütz Christi in tödung deß Alten Menschen." (AP 182f.) Heikel war, daß die Pietisten, wenn sie so argumentierten, sich auf den Berner Synodus berufen konnten. In der Tat wollte dessen Verfasser, der Straßburger Reformator Wolfgang Capito, die Predigt des Gesetzes an den Kontext der Judenmission gebunden wissen. Er betrachtete sie deshalb für seine Zeit und Situation als überholt. Wörtlich hatte er 1532 ausgeführt: „Drum wollen wir Pfarrer uns jene Art, zu predigen, vornehmen, derer sich die Apostel den Heiden gegenüber bedient haben. Ohne Gesetz, in Christus, haben diese die Sünde angezeigt und Gnade, Verzeihung der Sünde aus Christus und durch Christus verkündigt." (Berner Synodus mit den Schlußreden der Berner Disputation und dem Reformationsmandat, übersetzt von Markus Bieler, herausgegeben vom Synodalrat der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Bern, Bern 1978, 62. Vgl. auch die Kapitel 3, 9 bis 12.) Das und nichts anderes wollten auch Samuel König und seine Gesinnungsfreunde, und dies wiederum war im Kreis der Synodalen von 1699 bekannt, denn dort tauchte die Frage auf, ob man sich mit der in dieser These dem Gesetz gegenüber eingenommenen Haltung nicht zum Berner Synodus in Widerspruch setze. Mußte man, wenn man den Berner Synodus in dieser Frage ernstnehmen wollte, das nicht auch mit den Pietisten tun, und kam auf der andern Seite eine Ablehnung der pietistischen Ansicht in diesem Punkt nicht auch einer Distanzierung vom Berner Synodus gleich? So hart es war, man nahm das letztere in Kauf und behalf sich mit der Begründung, man sei auf das Zweite Helvetische Bekenntnis, nicht aber auf den Berner Synodus eidlich verpflichtet worden. (Vgl. dazu: Das Zweite Helvetische Bekenntnis. Confessio Helvetica posterior. Verfaßt von Heinrich Bullinger und erstmals erschienen im Jahre 1566 als Bekenntnis der schweizerischen reformierten Kirchen. Ins Deutsche übertragen und mit einer Darstellung seiner Geschichte sowie mit Registern herausgegeben von Rudolf Zimmermann und Walter Hildebrandt, Zürich 1936, Kapitel XII, 43-45.) 33 „Obgleich nach dem Unterscheid der Maas der heilig- und seligmachenden Gaben ein Glaubiger und Wiedergebohrner im Erkänntniß göttlicher Geheimnissen und Heiligung des Lebens weiter k o m m t als der andere / und auch nach der Lehre Pauli und Johannis etliche

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VIII O b w o h l die Wiedergeburt nicht nur in Herz und Seele des Menschen v o r sich geht, sondern sich auch in Worten und Werken des Wiedergeborenen kundtut, so gibt es doch keine untrüglichen Zeichen des Wiedergeborenseins beziehungsweise des Wiedergeborenwerdens, was w i e d e r u m nicht heißt, daß das „Urtheil der L i e b e " in der christlichen Kirche nicht seinen Platz hätte 3 4 . I X Christlicher Glaube und christliche Existenz können und sollen mit

Kinder / andere Jünglinge / und andere Männer / sind in Christo; kan dennoch in diesem Leben die Vollkommenheit / nach dero wir streben sollen / niemand erreichen. Bleibt also wahr / was unser Christi. Catech. 114. Fr. lehrt. S o bilden sich denn diejenigen zu viel ein / die da vermeynen 1. E s könne ein Mensch bey Leibes-Leben einen solchen Zustand erreichen / daß er ohne empfindlichen K a m p f der Sünden seye: welches wider das Exempel und die Lehre Pauli R o m . 7. Gal. 5. 2. E s könne der Wiedergebohrne nicht sündigen; (welches sie aber nicht in dem Verstand der Schrifft 1. J o h . 3/9. meynen:)ja weil er in Christo seye / so seye er mit ihme verchristet / so rein als Christus / so vollkommen als Christus / so wenig als Christus mehr unter dem Gesätz. 3. Es habe der Wiedergebohrne sich u m keine Sünde mehr zu bekümmern / noch vonnöthen um Verzeihung der Sünden zu bitten; m ö g e derowegen das Gebät des HErrn in eine pure Lobpreisung verwandeln: O himmlischer Vater! dein N a m e ist geheiliget in Christo; unsere Sünden hastu uns vergeben; du wirst uns in keine Versuchung noch Sünde fallen lassen! 4. Daß nur diejenigen zum Tisch des HErrn sich verfugen sollen / welche sich keiner frischbegangenen Sünde bewußt finden. 5. Wann die Wiedergebohrne schon etwa sündigen / so n e m m e das der Vollkommenheit ihrer Wiedergeburt und Heiligung nichts; weilen solches nur das Fleisch oder der auswendige Mensch thue." Diese den Perfektionismus ablehnende These ist aus den Thesen VIII, I X und X von 1696 zusammengezogen worden. Die sich daran anschließende Diskussion betraf nur einen nebensächlichen Punkt. 3 4 „ O b w o l die Wiedergeburt und Erneurung des Menschen nach dem Bild seines Schöpffers nicht nur nach dem innerlichen Grund des Hertzens und allen Kräfften der Seelen sich findet / sondern auch äusserlich in dem Gebrauch der Gliedern des Leibes sich offenbahret / also daß Christus und sein Bild in Worten und Wercken eines Wiedergebohrnen hervor leuchtet; so hat dennoch keinen Grund was etliche vermeynen und vorgeben: Nemlich / 1. Daß bey den Wiedergebohrnen (unangesehen sie sich sonst unter einander nit kennen) eine geistliche Sympathie und innerliche Zuneigung eines gegen den andern (wann sie einander begegnen) sich rege / krafft deren man merken könne / welcher wiedergebohren oder nicht. 2. Daß die Erschütterung des Leibes / verstellte und zitternde Gebärden / bey oeffentlicher Anhörung des Worts G O t t e s / oder sonsten / aufs wenigst für ein Zeichen des anfangenden Werks der Wiedergeburt zu halten sey. Darneben aber / obgleich ein Wiedergebohrner nicht ohnfehlbarlich wissen kan / ob andere auch wahrhafftig wiedergebohren Seyen; allermassen die Forcht des HErrn riechen (wissen in welchem Hertzen die wahre Gottesforcht sich befinde) eine Eigenschafft des Hertzenkündigers ist / Esaj. 11/3. Apoc. 2/23. soll dieses dannoch dem Urtheil der Liebe und daher hangender Liebes-Pflichten keinen Nachtheil gebähren." D i e These stammt zum Teil aus These XII von 1696, ist aber im wesentlichen neu. Sie war in der Synode unbestritten.

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den politischen Pflichten v o n Obrigkeit und Untertanen, einschließlich der militärischen und juristischen, vereinbar sein 3 5 . X D i e Gemeinschaft der Heiligen hat nicht ausschließenden Charakter. Wie sie die Unterschiede von Stand, A m t , Funktion und E i g e n t u m nicht aufhebt, so soll sie sich auch nicht in Konventikeln und heimlichen B r u d e r schaften abschließen. D a s Bedürfnis nach brüderlicher E r b a u u n g und Erm a h n u n g darf den öffentlichen Gottesdienst und das ordentliche Predigtamt nicht beeinträchtigen 3 6 . X I D a s Gebet nach Vorbild und Worten der Bibel ist neben d e m freien Gebet nicht minderwertig oder gar verwerflich 3 7 . 3 5 „ D i e christliche Selbst-Verläugnung / gedultige Willens-Gelassenheit / arbeitsame B r u der-Liebe / wie hoch dieselbige immer durch die Krafft des Heiligen Geistes und tägliche Glaubens-Uebung k o m m e n / so können und sollen sie dennoch neben und mit allerley oberkeitlichen und Unterthans-Pflichten / darunter auch der rechtmässige Gebrauch des Schutzund Rach-Schwerdts begriffen / R o m . 13 / 4.5. wol bestehen."

Diese These - sie entspricht These X I von 1696 - wurde von der Synode ohne Widerspruch approbiert. 3 6 „Gleichwie die Gemeinschafft der Heiligen den Unterscheid der Ständen / Aemtern / Diensten / und eigenthumliche Besitzung zeitlicher Gütern / nicht aufhebt: so schliesset sie auch niemand unter denen / die sich in der äusserlichen Kirchen befinden / aus. U n d weil alle wahre Heils-begierige und das Reich J E s u liebende Christen / als geistliche Propheten und Priester / einander mit Worten und Exempel erbauen und zur Liebe und guten Wercken schärffen sollen: Hebr. 10. muß solches geschehen 1. Ohne Nachtheil der Gemeinschafft / so alle Glieder der Kirchen einander schuldig sind. 2. Ohne Nachtheil öffentlicher Versammlung zum gemeinen Gottesdienst; ohne Eingriff in das ordentliche Predigamt und Verachtung deren die es bedienen; ohne Z u s a m m e n l a u f f vieler Personen von allerley Stand / Zustand / Alter / Geschlecht / etc. mit B e s t i m m u n g Zeit und Orts. Conf. Helv. art. 22. 3. Ohne Schein suchender Trennung und Stifftung heimlicher Religions-Bruderschafft / daraus dann nichts anders als lieblose Urtheil / Verachtung anderer als unheiliger Leuten / Verwirrung / U n r u h der Kirchen / etc. erwachsen könte." Ein Vergleich dieser These mit der mit ihr korrespondierenden These XIII von 1696 ergibt eine Verschärfung der ablehnenden Haltung gegenüber den Konventikeln. Z w a r scheinen die Synodalen zu wissen, daß deren Verbot v o m Evangelium her nicht zu rechtfertigen ist, aber man drückt sich doch wesentlich vorsichtiger aus als noch vor drei Jahren. Punkt 1 hatte 1696 nämlich noch folgende Ergänzung enthalten: „. . . wie auch ohne ausschließung anderer, die ihren gottseligen gesprächen beywohnen wollten." Dieser Nachsatz fehlt hier. Keine Diskussion. 3 7 „Weil der Heilige Geist / so fern der Unterscheid seiner Oeconomie im Alten und Neuen Testament zugibt / in den Hertzen der Wiedergebohrnen zu gleichen Begebenheiten auch mehrentheils gleiche Wirckungen hat; so ist es derowegen nicht zu verwerffen / wenn gottselige Männer die Seuffzer und Gebät der Heiligen / so in heiliger Schrifft aufgezeichnet sind / zusammenlesen / und in gewisse Formuln verfassen / und auf allerley Nothfäll einrichten; andere aber / mit Vorhaben G O t t anzurufen / dieselbige zum Behelff ihrer Schwachheit aus den Büchern mit glaubiger Andacht und einstimmender Hertzens-Begierd lesen oder in die Gedächtniß fassen / und mit gebührender Andacht vor G O t t ausschütten: zumal auch unser Heyland in dem Gebät / das er seine Jünger und uns gelehrt / nicht nur eine Ideam oder Muster deren Dingen / darum wir bitten sollen / sondern auch eine Formulam zum beständigen Gebrauch / vorgeschrieben. U n d weilen unser Heyland uns auch u m das tägliche B r o d zu bitten befohlen / so ist das Gebät um leibliche Nothdurfft nit zu verwerffen."

Es ist mir bis jetzt nicht gelungen, den pietistischen Hintergrund dieser 1699 neu hinzuge-

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XII Zur gründlichen Vorbereitung der Predigt gehören das demütige Gebet, die allein auf Gottes Ehre und die Erbauung der Kirche ausgerichtete Intention, die Konzentration auf Christologie, Rechtfertigung und Heiligung als Kernstücke christlicher Lehre und die kritische Selbstprüfung des Predigers 38 . XIII Wiedergeburt und Heiligung sind Vorbedingungen für das Amt des Predigers, nicht aber für die Autorität des von ihm verkündigten Wortes und der von ihm verwalteten Sakramente. Wer einen ordnungsgemäß eingesetzten Prediger in der Meinung, er sei unwürdig, meidet, mißachtet diese Unterscheidung 39 . kommenen These zu erhellen. Äußerungen von Berner Pietisten, die in die hier abgelehnte Richtung weisen, sind m. W. nicht aktenkundig, was aber nicht heißen soll, der Lehrsatz sei aus der Luft gegriffen. Die Diskussion betraf nur nebensächliche Punkte. 38 „Kein Prediger soll ohne gebührende praeparation auf die Cantzel steigen / in praesumtion, der Geist werde ihn inspiriren / und lehren / was und wie er vor der Gemejne reden soll. Weil aber die Predigt göttliches Worts nicht nur ein negotium judicii, memoriae & linguae, sondern auch fürnemlich devotionis ist; so müssen die Predigten 1. Mit einbrünstigem Gebät und Außlärung des Hertzens von allen menschlichen Affecten und eignem Trieb gestudirt / 2. Ohne Gesuch menschlicher Weißheit und Wolredenheit in Einfalt und aufrichtiger Intention, allein GOttes Ehre zu fordern / und die Kirche Christi zu erbauen / gehalten werden; 3. Auf Christum zielen / und hiemit den Glauben an Christum und die Gerechtsprechung durch den Glauben / die heilsame Krafft des Glaubens in der Heiligung / die Natur der Wiedergeburt / die Verläugnung sein selbst / die Tödtung des alten Menschen / die Creutzigung des Fleisches samt seinen Lüsten / die Verachtung der Welt und ihrer Eitelkeiten / die arbeitsame Liebe / die gedultige Nachfolg Christi unter dem Creutz / mit nachdrücklichem Eifer lehren und einschärffen; als welche Lehrstück auf den Grund und das wahre Wesen des Christenthums gehen. 4. Soll ein Prediger auch selbsten das / was er mündlich lehrt / mit dem Exempel evangelischen Lebens bekräfftigen / und darum / ehe und zuvor er andern predigt / sich selbst darüber examiniren / und ihme selbst auch predigen / damit er aus eigner Erfahrung und Empfindung seines Hertzens / und also mit wahrer devotion, predigen könne. Also wird er in Lehr und Leben erweisen / daß er die Salbung des Geistes empfangen / und sein Ministerium lebendig und kräfftig seye." Diese These entspricht mit zwei gewichtigen Ausnahmen These XIV von 1696. Diese Ausnahmen sind: 1. Bei Punkt 4 ist der Hinweis auf die Kapitel 5 bis 9, 37 bis 39 und 44 des Berner Synodus fallengelassen worden. 2. Dafür ist Punkt 3, der 1696 kurz und bündig gelautet hatte: „. . . die predigen sollen Evangel. seyn", um eine inhaltliche Bestimmung dessen, was als „evangelisch" zu gelten hat, erweitert worden. Wer diesen Punkt 3 unvoreingenommen liest, wird mit Erstaunen feststellen, daß hier, wenigstens was die Begriffe angeht, lauter „pietistische" Zentrallehren aufgezählt werden. Ein solches Erstaunen ist auch dann am Platz, wenn man weiß, daß die Orthodoxie durchaus so sprechen konnte und gesprochen hat. Die Annahme nämlich, daß wir es hier auch mit einem Ergebnis pietistischer Rückwirkung zu tun haben, ist nicht ohne Grund, wurde doch die These in diesem Punkt dahingehend erläutert, daß auf diese Weise der pietistischen Kritik an der landläufigen Predigtweise der Wind aus den Segeln genommen beziehungsweise „der mund gestopft" werden solle. Auf diese Beobachtung wird, sobald wir aus der Analyse der Thesen Schlüsse zu ziehen versuchen, noch zurückzukommen sein. Hier ist nur noch festzustellen, daß in der Diskussion der Antrag, in dieser These müsse der Begriff der „Salbung" vorkommen (hatte er ursprünglich gefehlt?), erwogen und vorerst offenbar abgelehnt wurde. 39

„Obwol ein wiedergebohrner Prediger mehr Segen von GOtt über seine Amts-Verrich-

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X I V D i e Predigt soll schriftgemäß, das heißt wenn i m m e r möglich mit der Schrift belegt sein, damit die Hörer in der L a g e sind, sie kritisch zu beurteilen und nicht in Gefahr geraten, ihren Glauben auf die Autorität der Kirche oder auf die Inspiration des Predigers abzustützen, wie das bei den Katholiken beziehungsweise bei den Enthusiasten der Fall ist 4 0 . X V Z u r A u f g a b e des Pfarrers gehört nicht nur die Predigt, sondern auch die Seelsorge, in der er seine Gemeindeglieder kennenlernen, unterweisen, ermahnen, trösten und erbauen und so den „ W i n c k e l - V e r s a m m l u n g e n " entgegenwirken soll 4 1 .

tung zu hoffen hat / und keiner / der / nach gewissenhaffter und unpartheyischer Prüfung seiner selbst / sich nit wiedergebohren befindet / das heilige Ministerium auf sich nehmen solte; allermassen ein Seelsorger nicht nur mit dem Wort / sondern auch mit dem E x e m p e l / vorleuchten soll / als ein Fürbild im Wort und Wandel: 1. T i m . 4/12. so hanget dennoch die Krafft des verkündigten Worts und der heiligen Sacramenten nicht an der Frommkeit des Predigers. Folget derowegen auch nicht / daß die Zuhörer ihren ordentlich-verordneten Lehrer / den sie nit für wiedergebohren halten / als einen falschen Propheten / Matth. 7/15. meiden und verlassen können: woraus dann nichts anders als gefahrliche praesumtion, U n o r d n u n g und Spaltung / erfolgen kan / wie vorzeiten das E x e m p e l der Donatisten erwiesen. Daher auch unter dem N a m e n eines Jrrthums der Donatisten in der Helv. Conf. die Meynung .derjenigen verworffen wird / welche die Lehr und die Sacrament kräfftig achten / wann der Diener f r o m m und gut ist; unkräfftig / wann er böß und sündig ist. Dann wir wissen wol / daß wir das Wort Christi auch aus der Sünder Mund hören sollen: dieweil der Heyland selbst spricht Matth. 23. Was sie euch sagen / das thut: aber nach ihren Wercken thut nicht.' art. 18. halt entgegen art. 1 . " Hier ist These X V von 1696 nur u m das ausgeschriebene Zitat aus dem Zweiten Helvetischen Bekenntnis erweitert worden. In der Diskussion wurde Matthäus 7, 15-17 („An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.") dahingehend erläutert, unter einem falschen Propheten sei hier nicht ein Prediger zu verstehen, dessen Lehren zu seinem Leben im Widerspruch stünden, sondern ein Prediger, der im Gegensatz zu guter falsche Lehre verbreite. 4 0 „Ein Prediger göttliches Worts soll sich als einen solchen auch darin erweisen / daß er seine vortragende Lehre allzeit mit heiliger Schrifft erkläre und auf das Gewissen der Menschen beweise / und also / so weit möglich / immerdar mit der Schrifft / und als aus G O t t vor dem Angesicht G O t t e s / rede / 2. C o r . 2/17. und zu dem End nach bißhero in unsrer Kirchen gewohntem Gebrauch bequeme Zeugnisse heiliger Schrifft anziehe / damit die Zuhörer nit entweders auf die Autorität der Kirchen / wie bey den Papisten / oder auf die eigne Gedancken des Lehrers / als wären es Eingeistungen / wie bey den Enthusiasten zu geschehen pflegt / gewiesen werdend / sondern nach dem Exempel der Beroenser die Schrifft selbst aufschlagen / darin forschen / ob sich die gepredigten Dinge also halten / Apost. Gesch. 17/11. und also durch U e b u n g des ihnen anbefohlnen Judicii discretionis 1. Thess. 5/21. 1. J o h . 4/1. ihren Glauben wol gründen / erbauen / prüfen und bewähren m ö g e n . "

Diese These ist neu. Sie ersetzt These X V I von 1696, die feststellt, daß Studien gelehrter und f r o m m e r Autoren für die Predigtarbeit mit Gewinn zu benützen seien, wenn der Prediger sich nur nicht davon dispensieren lasse, durch Gebet, Meditation, Kritik und Selbstprüfung zu einer eigenen Überzeugung zu gelangen. Statt dessen wird nun hier, in These X I V von 1699, allein auf die Schrift verwiesen. Das war die Lehre, die man aus den Erfahrungen mit dem Pietismus glaubte ziehen zu müssen. Diskutiert wurde darüber nicht. 4 1 „Auch soll ein Prediger göttliches Worts sich nit einbilden / er thue seinem Dienst genug /

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XVI Wenn die Schrift auch zwischen der ganzen christlichen Kirche und deren auserwähltem Kern unterscheidet, so ist die Kirche doch unteilbar. Es geht nicht an, sie in einen sichtbaren und einen unsichtbaren Teil zu scheiden, derart etwa, daß zwischen einer reinen, über allen Konfessionskirchen stehenden Kirche und den unreinen vorfindlichen Kirchentümern unterschieden würde 42 .

wann er zu bestimmten Tagen und Stunden die Predigten haltet / und / was sonst der öffentliche Gottesdienst erheischen will / verrichtet. Nothwendig / sonderbar-erbaulich und wider die Winckel-Versammlungen dienstlich / ist es / daß er seine Gemeins-Genossen / als ihm eingezählte Schaaf der Heerde Christi / wol kenne / so weit es sich thun läßt / selbige absonderlich offters in ihren Wohnhäusern besuche / unterweise / vermahne / tröste / und nach Nothdurfft zu erbauen trachte / mit Sanfftmuth / Freundlichkeit / und Bezeugung tragender Hertzens-Liebe und Heyls-Begierd gegen sie / wie die Apostel gethan haben. Dann / wie der Synodus Bern, sagt / ,besonder Bericht viel baß zu Hertzen geht / weder das / das öffentlich zujederman geredt wird. 'Jedoch daß diese Besuchungen dem öffentlichen Gottesdienst nicht hinderlich seyen / vielweniger vorgezogen werden. Zudem auch ein Lehrer bey jederman / wo die Noth nit ein anders erfordert / von geistlichen Sachen zu reden Anlaß nemmen und suchen / und also in Worten und Wercken bey allerley Gelegenheiten an allen Orten sich geistlich erweisen soll." Abgesehen von der Einschränkung, daß die Seelsorge den Predigtdienst nicht beeinträchtigen dürfe, ist diese These mit These XVII von 1696 identisch. Von den in der ersten Fassung der Thesen noch zahlreichen Hinweisen auf den Berner Synodus ist dieser hier als einziger stehengeblieben. Die Diskussion über diese These war auffallend rege. Zuerst mußte von Seiten der Verfasser begründet werden, weshalb man das Thema Seelsorge überhaupt aufgegriffen habe, da man bei ihm doch keinen Irrtum der Gegenseite feststellen könne. Die Seelsorge gehöre eben zum Pflichtenheft eines Pfarrers, nicht zuletzt als Möglichkeit zur Rückmeldung auf die Predigt. Der Pfarrer werde die Zuneigung seiner Gemeindeglieder dann gewinnen, wenn er mit ihnen nicht nur über die ihm zustehenden Einkünfte spreche, sondern sich auch um ihr Heil kümmere, „welches dann nit die wenigste maxime wäre etlicher, derenwegen man versammlet ist dißmahlen". Man gab also unumwunden zu, von den Pietisten in dieser Sache gelernt zu haben - nicht ohne Bedenken freilich: Es wurden Stimmen laut, die darauf hinwiesen, daß man sich so eine pietistische Strategie zu eigen mache, daß man doch vor nicht zu langer Zeit einen diesbezüglichen Vorstoß der Lausanner Synode abgewiesen habe und daß die Größe verschiedener Gemeinden eine Intensivierung der Seelsorge nicht zulasse. Dieser letzte Hinweis hatte dann die oben erwähnte Einschränkung zur Folge. Sonst aber machte man sich die These zu eigen, nicht zuletzt in der Meinung, so dem Konventikelwesen am besten entgegenwirken zu können. 42

Es ist zwar nach heiliger Schrifft ein Unterscheid zu machen zwischen der gantzen christlichen Kirchen und zwischen dem außerwählten Kern derselben / den GOtt der Herr unfehlbar siehet und kennet. 2. Tim. 2/19.20. So irren hiemit diejenigen / 1. Welche aus der sichtbaren und unsichtbaren Kirchen eine zwiefache Kirche machen. Zumal es nur eine Kirche ist / welche von dem bessern Theil / nemlich den Außerwählten und Glaubigen / ihren Namen hat / und theils sichtbar / theils unsichtbar ist / je nachdem man sie ihrem innerlichen oder äusserlichen Wesen und Zustand nach betrachtet. 2. Die sich eine reine / doch allgemeine / Kirche einbilden / welche in allen Religionen gefunden werde; und dahero Anlaß nemmen / von allen particular-Kirchen als verfallenen und babelhafften und unreinen Gemeinden sich zu entziehen: wie vor diesem Schwenckfeld und Weigel gethan / und noch andere zu unsern Zeiten thun."

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XVII Die Gemeinschaft Christi mit seiner auserwählten Gemeinde, die ein großes Geheimnis ist, darf nicht so verstanden werden, als ob sie enger wäre als die innertrinitarische Einheit 43 . XVIII Die Lehre vom Tausendjährigen Reich als eine noch unerfüllte Weissagung ist bislang von den meisten reformierten Theologen für problematisch gehalten und folglich von der reformierten Kirche nicht angenommen worden. Weil sie kein fundamentaler Glaubensartikel ist, geht es nicht an, sie zu verbreiten oder gar die Gewissen der Gläubigen damit zu bedrängen. Man soll sich vielmehr in diesem Punkt in brüderlicher Liebe gegenseitig ertragen 44 . Diese These fehlt in der Fassung von 1696. Für ihre Notwendigkeit wurde auf die vorhandenen separatistischen Tendenzen hingewiesen. Kaspar Schwenkfeld, die Mennoniten, Pierre Poiret, Antoinette Bourignon und Balthasar Klopfer wurden ins Feld geführt. Die These war unbestritten. Gefragt wurde nur, ob nicht der zweite Elenchus die „Papisten" vor den Kopf stoßen könnte, zumal auch gottselige Christen in der katholischen Kirche verborgen seien. Die Antwort war, man habe zu unterscheiden: zwischen „seducentes" und „seductos", zwischen den Zeiten vor und nach der Reformation und schließlich zwischen Katholiken, die von der reformierten Religion nichts wüßten, und andern, denen sie bekannt sei. 43 „Obwol zwischen Christo und seiner außerwählten und erkaufften Gemeind eine so nahe und genaue Gemeinschafft ist / daß sie der Apostel ein grosses Geheimniß nennet / ungeachtet sie uns in heiliger Schrifft mit vielfältigen Gleichnissen und Worten vorgebildet und beschrieben wird; Eph. 5/32. so kan dennoch ohne Nachtheil göttlicher Wahrheit und Gefahr grosses Anstosses bey einfältigen Leuten nicht gesagt werden / daß die heilige Schrifft diese Gemeinschafft zu erklären solche Red-Arten brauche / welche eine genauere Gemeinschafft bedeuten / als zwischen den göttlichen Personen ist. Darzu denn nichts hilfft der Ort Gal. 3/28. wann er mit Eph. 2/15. \. Cor. 6/17. und 12/11.12. Joh. 17/22. verglichen / und nach der Aehnlichkeit des Glaubens erkläret wird. " Diese These - auch sie ist neu - geht offenbar auf eine Predigt Samuel Königs zurück. Er hatte im Anschluß an Galater 3,28 darauf hingewiesen, daß die Vereinigung Christi mit seiner auserwählten Gemeinde dort im Urtext mit EÌg bezeichnet werde, während der Apostel sonst die Gemeinschaft der Gläubigen untereinander durch ein EV charakterisiere. Er stellte kategorisch in Abrede, aus dieser Beobachtung Schlüsse ziehen zu wollen, wie sie in These XVII abgewehrt werden (AP 178f.). Gab es in Bern Pietisten, die zu solcher Abwehr Anlaß boten? Die Acta weisen nur ganz allgemein auf Mystiker und Quietisten hin, die über die Vereinigung der Gläubigen mit Gott in unakzeptabler Weise lehrten: „Man werde verchristet, ein Geist und Wesen mit Gott, und Gott k o m m e alßdann wiederum in sein Centrum, wie ein Tropfen Waßer ins meer versencket, und dergleichen." Die These wurde diskussionslos gutgeheißen. 44 „Weilen / was einige von tausend Jahren eines herrlichen Reichs Christi auf Erden aus der Offenbahrung 20/1.8. in Meynung / daß selbige noch nit erfüllet / heut zu tag halten und glauben / von den meisten unsern Gottsgelehrten mit bedencklichen Sprüchen widersprochen / und bißhero von unsern Kirchen nit angenommen / auch für keinen fundamentalArtickel des Glaubens kan gehalten werden; finden wir 1. Daß man sich dißfalls in brüderlicher Liebe vertragen / und niemand nichts wider sein Gewissen zu glauben aufdringen solle. 2. Daß man die Lehr von dem Chiliasmo dogmatico, wie er genennet wird / nicht für einen zur Seligkeit nothwendigen Glaubens-Artikul / oder aufs wenigst für eine gewisse Erklärung des 7. Artikuls Symb. Apost. von der Zukunfft Christi zum Gericht / und der andern Bitte des Vater-Unsers / halten / und dessentwegen auch nothwendig auf die Cantzel bringen / und der christlichen Gemeinde vortragen / oder sonst durch privat-Unterweisung und Schrifften gemein machen könne und möge.

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X I X Bei den in „diesen letzten Zeiten" vermehrt auftauchenden und herumgebotenen neuen Offenbarungen und Weissagungen ist zwischen Aussagen, die Lehre und Lebensführung, und andern, die politische und gesellschaftliche Veränderungen betreffen, wohl zu unterscheiden. Jene sind als in der Regel schriftwidrig sofort zu verwerfen, diese anhand der Schrift kritisch zu überprüfen 45 . X X Von einer oder mehreren christlichen Kirchen formulierte und von christlichen Obrigkeiten in ihrem Gebiet als verbindlich erklärte Glaubensbekenntnisse stellen keinen Gewissenszwang dar. Niemand wird gezwungen, etwas gegen sein Gewissen zu glauben. Das Bekenntnis soll nur jener Gefährdung der Einheit vorbeugen, die aus einer falsch verstandenen christlichen Freiheit erwachsen kann 46 . 3. D a ß man also bißhero nicht Ursach habe von dem Verstand des 11. Art. Helv. C o n f . betreffend das Aureum Seculum, wie selbiger Art. aus des Autoris Schrifften und der gemeinen traditiva bekannt ist / abzuweichen." In dieser T h e s e drücken sich die Verfasser theologisch merklich präziser aus als in der mit ihr korrespondierenden T h e s e X V I I I von 1696. War dort der Chiliasmus noch mit „propheceyungen von künftigen revolutionen und änderungen in der Kirche und Ständen" in einen T o p f geworfen worden, so ist hier deutlich v o m sogenannten Chiliasmus subtilior die Rede. Soviel hatte man unterdessen gelernt, gelernt auch „daß man sich dißfalls in brüderlicher Liebe vertragen / und niemand nichts wider sein Gewissen zu glauben aufdringen solle". Dieser trotz des V e r b o t s chiliastischer Propaganda eher versöhnliche T o n ist neu. Die T h e s e „ist wegen außdrucklich vorhandener Oberkeitl. Erkantnuß ohne disputieren a n g e n o m m e n worden; Ist darbey andeütet worden, daß ein Oberkeit gewalt habe zu verbieten etwas zu lehren, aber nit, diese oder j e n e meinung zu haben, dann diß stehe allein G o t t zu". 4 5 „Weilen auch nun und dann / sonderlich bey diesen letzten Zeiten / unter dem N a m e n f r o m m e r und gottseliger Leuten Offenbahrungen und Weissagungen herumgetragen / und von vielen für göttlich angesehen und a n g e n o m m e n werden; so ist vor allem aus w o l zu unterscheiden zwischen Offenbahrungen von neuer Glaubens-Lehr und Lebens-Regul / und zwischen anderen / so da künfftige Revolutionen / Aenderungen und dergleichen B e g e b e n h e i ten in der Kirchen und Ständen / ansehen. D a n n j e n e / als mehrentheils wider die aus heiliger Schrifft erhaltene Glaubens-Lehre streitende / wie die heutige Erfahrung bezeuget / alsobald zu verwerffen: diese aber nach der heiligen prophetischen Schrifft / welche offt von künfftigen Dingen indefinite redet / w o l zu erforschen sind; damit man nit von dem W o r t G O t t e s / welches die einzige unfehlbare und v o l l k o m m e n e Richtschnur unsers Glaubens und Lebens ist / abgezogen und a u f f J r r w e g e verfuhrt w e r d e . "

Diese T h e s e - sie entspricht T h e s e X I X von 1696 - war in der Diskussion umstritten. D i e einen Votanten waren der Meinung, man könne sie, da Prophezeiungen sich ohnehin i m m e r als falsch erwiesen hätten, geradesogut weglassen, während andere an der T h e s e festhalten und darin eine pauschale Verurteilung aller Weissagungen und Offenbarungen ausgesprochen wissen wollten. D i e Auseinandersetzung endete mit der A n n a h m e der T h e s e in der vorgelegten Form. 4 6 „Wann g e s a m m t e Brüder und Glaubens-Genossen einer oder mehr Provincial- oder National-Kirchen dasjenige / was sie aus G O t t e s W o r t erlernet / zu Bezeugung der Einigkeit im Glauben / in confessiones fidei publicas und andere dergleichen libros S y m b o l i c o s zusammengezogen / und darob zu halten sich einmüthiglich verbunden; demnach auch christliche O b r i g k e i t e n solche Confessiones fidei & c. unter ihren Schutz und Schirm g e n o m m e n / und nach ihrer diß Orts habenden Autorität ihren Kirchen- und Schuldienern / denselbigen gemäß zu lehren / anbefohlen: kan und soll solches nicht als ein antichristischer und babylonischer G e w i s s e n s - Z w a n g durchgezogen und ausgeschryen werden; Zumalen niemanden wider sein

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Dies sind, knapp zusammengefaßt, die 20 Thesen, wie sie die Synode in zwei Sessionen durchberaten und einhellig approbiert hat. Ohne Zögern leitete der Große Rat das Vernehmlassungsverfahren ein: Die Kapitel sollten zu den Thesen Stellung nehmen 4 7 . Samuel Schumacher erwartete davon, wie wir seinem Brief an August Hermann Francke v o m 3. August entnehmen konnten, nichts Gutes. Er rechnete damit, daß „unanimi quasi voce in allen Classibus alles approbirt und gut geheißen" werde. Das aber war dann offenbar nicht ganz der Fall. Das Kapitel Bern zum Beispiel bescheinigte, die Thesen seien orthodox, konnte sich aber nicht darüber einigen, ob überhaupt und wenn ja, von w e m sie zu unterschreiben seien. Auch in der Frage, ob das Dokument den andern reformierten Orten mitgeteilt werden solle, war man nicht einer Meinung 4 8 . Vermutlich lauteten die Stellungnahmen der andern Kapitel nicht viel anders. Nur der Assoziationseid wurde den Pfarrern, Politikern, Amtleuten und schließlich sogar allen Burgern und Einwohnern der Stadt Bern auferlegt 49 . U m die 20 Thesen wurde es, wie 1696 schon, bald einmal still. Als Instrument staatskirchlicher Disziplinierung haben sie dieses Schicksal verdient, nicht aber als Dokument sorgfältiger und verantwortungsbewußter theologischer Reflexion mitten in einer Zeit des Umbruchs. Die reine Lehre war für Dekan Bachmann vorwiegend ein Mittel der Repression 50 , für Johann Rudolf Rudolf mochte sie Ziel und Ergebnis einer drin-

Gewissen etwas zu glauben aufgedrungen / sondern den sonst unvermeidentlichen J r r - und Verwirrungen / die aus der unter dem Vorwand christlicher Freyheit von vielen gesuchten unbeschränckten Libertate prophetandi erfolgen würden / auf eine von uralten Zeiten her der christlichen Kirchen gewohnte Manier vorgebogen und gesteuret w i r d . " Diese „appendicus l o c o " stehende These ist neu. Die Verfasser wollen damit einem in pietistischen Kreisen offenbar verbreiteten Mißverständnis vorbeugen. In den Verhören vor der Religionskommission scheinen nämlich verpflichtende Glaubensbekenntnisse verschiedentlich mit der B e g r ü n d u n g abgelehnt worden zu sein, „der Geist könne nit bunden werden. Mann solle die freyheit zu prophetiren in N . T . nit n e m m e n " . Dieser irrigen Auffassung gegenüber sollte hier festgestellt werden, daß „die Obrigkeit niemand zwinge, so er etwas anders glaubet, wann es nur nit under ihrer bottmäsigkeit gelehrt werde". Die These wurde diskussionslos akzeptiert. R M 268, 146f. (13. 7. 1699). Das Schreiben an alle Kapitel P B 9, 432f. Acta deß von Mghh. extraordinari beruffenen Capituls, so da gehalten worden zu Bern den 2. Augustj 1699 (Rodel des Capitels zu Bern . . . 1648-1699, S t A B B III, 151 a). 4 9 R M 269, 2 (4. 9. 1699); 79-82 (18. 9. 1699); 97 (19. 9. 1699). Acta deß wegen deß Pietistischen Wesens abgelegten Eyds; so da beschehen den 20. 7bris 1699 (Rodel des Capitels zu Bern . . . 1648-1699, S t A B B III, 151a). R M 2, 167(11. 3. 1701), P B 9, 518 und R M 2, 229f. (19. 3. 1701). 5 0 Mit Brief v o m 15. 7. 1699 berichtete Dekan Bachmann seinem Zürcher Kollegen J a k o b Ulrich über die Synode. Darin bezeichnete er die 20 Thesen als einen „ Z a u n . . ., künftig allen irrthummen Vorzubiegen". Was er über die beiden Theologiestudenten Burkhard Fellenberg u n d j a k o b Knecht, zwei Anhänger Samuel Königs, schrieb, verrät seine wahre Gesinnung: „ E s were freilich, auch nach meiner meinung, weit beßer, daß man solche Leüth wurde einsperen, 47

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gend notwendig gewordenen theologischen Klärung sein. Unter diesem Gesichtspunkt nehmen wir sie hier auf.

4. Die 20 Thesen als Dokument

eines religiösen und theologischen

Konflikts

Der Konflikt, wie er in den 20 Thesen zum Vorschein kommt, liegt nicht nur auf theologischer Ebene, also zwischen Pietismus und Orthodoxie, sondern auch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, zwischen Pietismus und Staatskirchentum. Obwohl diese Unterscheidung naturgemäß schwer durchzuhalten ist, konzentrieren wir uns vorerst aufjene Ebene der Auseinandersetzung. Die Thesen sind das Dokument einer Partei. Das gilt es stets zu bedenken. Der Konflikt erscheint darin in der Sicht der einen von zwei Seiten. Das kann in einer Auseinandersetzung, in der eine übergeordnete, neutrale Instanz fehlt, nicht anders sein. Es bedeutet aber nicht, daß das, was die Synode am 5. Juli als Pietismus abgelehnt hat, das Produkt ihrer Phantasie gewesen sei. Die Thesen sind tendenziös. Ihre Tendenz ist aber nicht einfach falsch. Wer die im Verlauf dieser Untersuchung mehr und mehr zutage getretene Heterogenität des bernischen Pietismus in Rechnung stellt, wird von einer Gegenschrift nicht erwarten, daß sie die historische Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht, ganz abdecke. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß Samuel Güldin in seinen „Gegensätzen" zu den vorliegenden Thesen nicht deren historische Richtigkeit, sondern deren theologische Wahrheit bestritten hat. Hatte er 1696 noch zu Recht sagen können, die damaligen Thesen verfehlten die Wirklichkeit des Pietismus, so ließ sich das 1699 nicht aufrechterhalten. Was damals noch weithin als Konstruktion erschienen war, hatte inzwischen mehr und mehr Gestalt gewonnen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ließ sich zeigen, worin die jeweilige pietistische Herausforderung bestand, die dann die Abwehrreaktion der Thesen hervorrief. Daß die Verfasser der Thesen sich um Objektivität bemüht haben, verrät auch ihre Argumentationsweise. Sie verläuft nicht streng antithetisch, sondern differenzierter, häufig nach dem Muster: Obwohl gilt, daß . . ., so bedeutet das doch nicht, daß . . .; somit irren diejenigen, welche . . . Diese Differenzierung kann im folgenden, wenn wir den Konflikt zwischen bernischem Pietismus und Berner Orthodoxie herauszuarbeiten versuchen, nicht immer durchgehalten werden. Es sei deshalb vorgängig festgehalten, daß wir es dabei nicht durchwegs mit einander ausschließenden Gegensätzen,

sie schlechtlich speißen, ihnen alle T a g kreftig zusprechen, u n d sie so lang eingespert laßen, biß sie in i h r e m sinn wieder nüchter w u r d e n . " Fellenberg u n d Knecht verhielten sich v o r der Religionskommission renitent und w u r d e n schließlich am 7. A u g u s t 1699 des Landes v e r w i e sen (PB 9, 451 f.).

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sondern mit konträren Ausprägungen häufig ein und desselben Ansatzes zu tun haben. Worin also bestand in Bern nach den Thesen von 1699 der Konflikt zwischen Pietismus und Orthodoxie? Wir versuchen drei Aspekte zu unterscheiden: einen theologischen, einen historischen und einen spirituellen. Erstens: der Konflikt war theologischer Natur. Er betraf vor allem das Schriftverständnis, den Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung, den Kirchenbegriff und die Eschatologie. Betonen die Pietisten vorwiegend das Zeugnis des Heiligen Geistes im Innern des Gläubigen und binden sie demgemäß das äußere Schriftwort an den Geist, so stellen die Thesen ihnen die Priorität des äußern Wortes, an welches der Geist gebunden bleibt, gegenüber. Akzentuieren die Thesen in der Rechtfertigungslehre das „extra nos" des Heils - und dies nicht zuletzt aus triftigen seelsorgerlichen Gründen - , so unterstreicht der Pietismus das „in nobis" des Rechtfertigungsgeschehens, das er mit der Erfahrung der Wiedergeburt verbindet und bruchlos in die Heiligung, die er forciert, übergehen läßt. Dies wiederum erscheint in der Perspektive der Gegenseite, die vom „simul iustus simul peccator" ausgeht und das Gesetz neben dem Evangelium in Geltung sieht, als Tendenz zu Synergismus und Perfektionismus. Formuliert man die auf dem Gebiet der Ekklesiologie bestehende Spannung überspitzt, so wird man sagen dürfen, Kirche stehe gegen Kirche: Volkskirche, Kirche als corpus permixtum gegen Geistkirche und reine Kirche; Kirche der Getauften gegen Kirche der Wiedergeborenen; Amtskirche und Kirche als Institution gegen mündige Gemeinde und Kirche als Bewegung; Kirche mit einem verpflichtenden Bekenntnis gegen Kirche mit einem verpflichtenden Erlebnis. Schließlich: Beide, Pietismus und Orthodoxie, haben je auf ihre Weise eine lebendige Zukunftshoffnung: Der Pietist streckt sich nach dem, was kommt, aus und nimmt es in seiner Erfahrung zeichenhaft vorweg, während der orthodoxe Theologe auch hier das „extra nos" unterstreicht, die Tradition hochhält und das Neue auf sich zukommen läßt. Auf eine Formel gebracht: Ein mehrheitlich objektives und ein mehrheitlich subjektives Glaubensverständnis stehen sich gegenüber. Zweitens: Der Konflikt hatte seine historischen Implikationen. Wir beschränken uns bewußt auf einen für Bern symptomatischen Punkt. Ein Vergleich der Thesen von 1696 mit denjenigen von 1699 zeigt nämlich, daß die zahlreichen Referenzen auf den Berner Synodus, welche die erste Fassung enthielt, in der zweiten bis auf eine Ausnahme allesamt getilgt worden sind 51 . Der Grund für diese auffallende Veränderung liegt in der Vorliebe, welche die Pietisten gerade für dieses Dokument der Berner Reformation hegten. Sie fanden in der vermittelnden Theologie Wolfgang Capitos, der im Gespräch mit Täufern selber erfahren und spiritualisierenden Tendenzen persönlich durchaus nicht abgeneigt war, viele ihrer Anliegen wieder. Je 51

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Das hat bereits Trechsel 1882, 59 f. beobachtet.

m e h r die K o n f r o n t a t i o n sich zuspitzte, desto m e h r beriefen sich ihre G e g e n spieler auf Heinrich Bullingers Z w e i t e s Helvetisches Bekenntnis, in w e l c h e m die e r n ü c h t e r n d e n E r f a h r u n g e n der Reformationszeit stärker m i t s c h w a n g e n als i m Berner Synodus. 1699 entschied m a n sich in B e r n unter a n d e r e m b e w u ß t gegen eine theologische Linie, die in der eigenen T r a d i t i o n w e n n auch nicht ihren U r s p r u n g , so d o c h einmal ihren Platz gehabt hatte. Drittens: D e r K o n f l i k t zwischen Pietismus u n d O r t h o d o x i e hatte einen allerdings s c h w e r faßbaren - spirituellen Aspekt. Wir versuchen das a n h a n d v o n T h e s e XII v o n 1699 auszufuhren. D o r t w e r d e n die theologischen Inhalte evangelischer Predigt benannt: „So m ü s s e n die Predigten", heißt es da, „auf C h r i s t u m zielen / u n d hiemit den Glauben an C h r i s t u m u n d die G e rechtsprechung d u r c h den Glauben / die heilsame K r a f f t des Glaubens in der H e i l i g u n g / die N a t u r der W i e d e r g e b u r t / die V e r l ä u g n u n g sein selbst / die T ö d t u n g des alten M e n s c h e n / die C r e u t z i g u n g des Fleisches samt seinen Lüsten / die V e r a c h t u n g der Welt u n d ihrer Eitelkeiten / die arbeitsame Liebe / die gedultige N a c h f o l g Christi unter d e m Creutz / mit nachdrücklic h e m Eifer lehren u n d einschärfen; als welche Lehrstück auf den G r u n d u n d das w a h r e Wesen des C h r i s t e n t h u m s g e h e n . " M a n w i r d auch bei n ä h e r e m Z u s e h e n nicht b e h a u p t e n k ö n n e n , zumindest ein Vertreter des kirchlichen Flügels des bernischen Pietismus hätte v o n einer rechten Predigt andere Lehrinhalte erwartet. K o m m e n sich Pietismus u n d O r t h o d o x i e in dieser T h e s e nicht überraschend nahe? G e w i ß ist auch d a m i t zu rechnen, daß w i r es hier bereits mit einer R ü c k w i r k u n g des Pietismus auf seine kirchliche U m g e b u n g zu tun haben, aber das M a ß dieses Einflusses ist schwer abzuschätzen u n d darf keinesfalls zu h o c h veranschlagt w e r d e n . O f f e n b a r reicht der theologische Dissens allein nicht aus, u m den K o n f l i k t , w i e er zwischen O r t h o d o x i e u n d Pietismus entstanden war, zu erklären. W o d e n n liegt der springende Punkt? M a n k o m m t i h m näher, w e n n m a n d e m W o r t l a u t v o n T h e s e XII weiter folgt: „Soll ein Prediger auch selbsten das / was er m ü n d l i c h lehrt / mit d e m E x e m p e l eines evangelischen Lebens b e k r ä f f t i g e n / u n d d a r u m / ehe u n d z u v o r er andern predigt / sich selbst darüber examinieren / u n d i h m e selbst auch predigen / d a m i t er aus eigener E r f a h r u n g u n d E m p f i n d u n g seines Hertzens / u n d also mit w a h r e r d e v o t i o n predigen k ö n n e . " Spätestens hier hätte ein pietistischer Leser eingehakt u n d entgegnet, es gehe nicht d a r u m , daß ein Pfarrer auch sich selber predige, sondern in erster Linie d a r u m , daß der Heilige Geist aus i h m rede, daß er, u m in der Sprache des Pietismus zu sprechen, w i e d e r g e b o r e n u n d v o m Heiligen Geist gesalbt sei. M i t andern W o r t e n : Die G l a u b w ü r d i g k e i t des Predigers, in der Sicht der T h e s e n eine Frage des Berufsethos, w a r in den A u g e n der Pietisten eine solche des Charismas. Das w a r zumindest einem der S y n o d a len v o n 1699 durchaus b e w u ß t . In der Diskussion w u r d e nämlich e i n g e w e n det, „ m a n n solte . . . der Salbung gedacht haben, ohne welche keine rechte predig k ö n n e gehalten w e r d e n , u n d welche die Pietisten d a r u m so h o c h

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treiben". Der Einwand wurde vorerst mit dem Hinweis abgetan, der Begriff der Salbung sei in demjenigen der Devotion bereits enthalten. Die Differenz, um die es hier geht, ist subtil und, wie gesagt, schwer faßbar, und doch trennt sie Welten. Sie ist spiritueller Art. Als Erweckungsbewegung trug der bernische Pietismus auch stark charismatische Züge. Das „Geläuff zu Pfarrern, die dogmatisch wohl gar nicht so anders und dennoch viel „herrlicher" predigten als alle ihre Kollegen, das in ihren Gottesdiensten beobachtete „Zittern", die Offenbarungen und Gesichte, die neuen, im Streben nach Heiligung gemachten beglückenden Erfahrungen, die Abneigung gegenüber dem gebundenen Gebet, die Entdeckung religiöser Spontaneität - all dies gehört in den Zusammenhang charismatischer Heilserfahrung und findet, wenn überhaupt, erst hinterher seine theologische Artikulation. Nicht nur und wohl nicht einmal primär lehrmäßige Eigentümlichkeiten trennten den Pietismus von der Orthodoxie, sondern neue spirituelle Erfahrungen. Die vom Pietismus heraufbeschworene Auseinandersetzung hatte aber nicht nur ihre religiöse und theologische Seite, sie war zugleich unlösbar mit politischen und sozialen Problemen verquickt. Wie zur Orthodoxie, so stand der bernische Pietismus auch zum staatskirchlichen System seiner Zeit quer, und dies wiederum war von erheblicher politischer und sozialer Tragweite. Wir versuchen den Konflikt auch noch unter diesem Aspekt zu betrachten. 5. Der politische

und soziale Aspekt

des

Konflikts

Wir haben den bernischen Pietismus als eine in sich vielfältig differenzierte religiöse, kirchliche und in Ansätzen soziale Reformbewegung kennengelernt. Ihre ursprünglichsten und bleibend zentralen Motive waren ohne Zweifel religiöser Natur. Angeregt durch den am Ende des 17. Jahrhunderts in den verschiedensten Ländern und Kirchen Europas massiv sich manifestierenden Aufbruch, bewegt von der tiefen Sorge um die Gesundheit und Lebendigkeit der eigenen Kirche und vor allem umgetrieben von der Sorge um das Heil des einzelnen, strebte sie eine radikale, letzten Endes alle Gebiete des privaten und öffentlichen Lebens umfassende Reform des religiösen Lebens an. Seit den Tagen der Reformation hatte die Berner Kirche keine ihr an Stoßkraft und Größe vergleichbare Erneuerungsbewegung gekannt. Ihre ursprüngliche Erfahrung wie ihr eigentliches Anliegen war die Wiedergeburt des einzelnen, das Werden des neuen, in Christus geheiligten und sich stetsfort heiligenden Menschen, und damit die Umformung des kirchlichen und sozialen Lebens nach biblisch-evangelischen Prinzipien. Die neue Reformation, die sie anstrebte, verstand sie nicht als ihr Werk, sondern als Gottes im Vorfeld des Tausendjährigen Reiches sich ereignende Tat. Kirche war demnach primär Bewegung, nicht Institution. Die Anliegen des Pietismus prägten sich in ihr vielfältig aus: als intensivierte Seelsorge, als neues 164

Ernstnehmen der Sakramente und der Kirchenzucht, in der Form charismatisch-enthusiastischer Manifestationen, in der Weise eines neuen, dem gewohnten gegenüber revolutionär wirkenden Predigtstils. Dynamisch, wie sie war, hielt die Bewegung sich nicht mehr an die herkömmliche kirchliche Ordnung: Sie hielt sich weder an parochiale, noch an konfessionelle, noch an nationale Grenzen, unterminierte die kirchliche und religiöse Monopolstellung des ordentlich beamteten Pfarrers und scheute vor öffentlicher, oft harter Kirchenkritik nicht zurück. Neben den Sonntagsgottesdienst, j a oft an dessen Stelle, trat die spontane Erbauungsversammlung Gleichgesinnter, das Konventikel. A u f diese Weise und in solchen Zellen entwickelte die Bewegung nicht nur einen neuen Frömmigkeitsstil, sondern geradezu einen neuen Lebensstil: Man schied sich von der „Welt", hielt untereinander fest zusammen und hatte seine eigenen Wertvorstellungen. Man versuchte alles, was man in beruflicher, in wissenschaftlich-kultureller und in politischsozialer Beziehung vermochte, im Horizont des kommenden Reiches zu sehen. Innerhalb kürzester Zeit war in Bern eine Art von religiöser Subkultur entstanden, in der zum Teil neue Normen galten, die neue Formen religiösen Lebens und sozialen Zusammenlebens erprobte, die ihre eigenen Zentraldogmen entwickelte und ihre eigenen Bücher las und produzierte. N u n war diese Bewegung innerhalb einer Gesellschaft entstanden, in der die Kirche nicht nur ein, sondern nach wie vor das wichtigste Instrument der Sozialdisziplinierung darstellte. Wer die Einheit dieser Kirche gefährdete, der gefährdete zugleich die Einheit und Geschlossenheit dieser Gesellschaft, und eben dies taten die Pietisten wenn auch nicht willentlich, so doch faktisch, indem sie auf den Gebieten der kirchlichen Lehre und Ordnung, des persönlichen Lebensstils und des sozialen Zusammenlebens neue Wege einschlugen. Bedenkt man, daß der bernische Staat am Ende des 17. Jahrhunderts ohnehin mit großen inneren und äußeren Problemen zu kämpfen hatte, dann läßt sich ermessen, eine wie schwere Belastungsprobe der Pietismus in dieser Lage darstellten mußte. Denn nach wie vor litt dieser Staat an den mit dem Stichwort „Standeskrankheiten" bezeichneten Mißständen, fühlte sich die Landschaft der Stadt gegenüber benachteiligt, war das Verhältnis zwischen den konfessionell verschiedenen Orten und Ländern gespannt, das politische Klima in Europa vor allem infolge der französischen Hegemonialpolitik unstabil. Denkt man an die den Pietismus bewegenden chiliastischen Hoffnungen, dann scheidet die Möglichkeit, daß er sich der kirchlichen Disziplin völlig hätte unterordnen können, wohl aus. So, wie er geworden war, hätte er unter den eben beschriebenen Umständen in diesem Staat vermutlich nur dann Bestand haben können, wenn es ihm gelungen wäre, eine Mehrheit unter denjenigen, die das Sagen hatten, für seine Ideen zu gewinnen. Das aber war nicht der Fall, konnte wohl auch nicht der Fall sein, denn die Zeiten, da eine religiöse Bewegung gesamtgesellschaftliche Erneuerungskraft hätte entfalten können, waren in diesen Breitengraden vorbei, und 165

zugleich war die Entwicklung noch nicht so weit gediehen, daß dem Pietismus die Stellung einer kirchlichen Minorität hätte eingeräumt werden können - eine Stellung, die er selber in diesem Stadium seiner Geschichte wohl auch kaum begehrt und durchgehalten hätte. Im Verlauf der Auseinandersetzungen um den Pietismus war es im bernischen Ministerium und in der bernischen Kirche zu einer Spaltung gekommen, die auch auf die Politiker überzugreifen begonnen hatte. Längst ging der Riß durchs gesellschaftliche Leben. Der Pietismus allein stellte für das bernische Staatswesen keine tödliche Gefahr dar. Zusammen mit den genannten inneren und äußeren Problemen half er aber eine Lage schaffen, die auf die Dauer nicht haltbar war. Die Urteile und „Remeduren" v o m S o m mer 1699 sind auch vor diesem politisch-sozialen Hintergrund zu sehen.

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Nachwort 1. Rückblick Gegen Ende August 1699 - die Behandlung des „Pietistengeschäfts" hatte die Räte und die Gemüter der Bevölkerung fast drei Monate lang andauernd beschäftigt - glaubte man in Bern endlich wieder zur Tagesordnung übergehen zu können. Da sorgte alt Landvogt Nikiaus von Rodt, Königs Patron und Pate und Güldins Freund, für neue Aufregung. Als einziges Mitglied des Großen Rates hatte er den Assoziationseid verweigert und war deswegen aus dem Rat und aus allen Kammern ausgeschlossen worden. Es war am Sonntag, den 27. August. In allen Kirchen des Landes wurde das Heilige Abendmahl gefeiert. In der Nähe der Stadt, auf Nikiaus von Rodts Landgut im Breitfeld, versammelten sich an die dreihundert Menschen. Sie waren gekommen, um drei deutsche Pietisten zu sehen und zu hören. Man traf sich am hellichten Tag, auf freiem Feld. Einer der Fremden predigte. Er ermahnte seine Zuhörer zur Standhaftigkeit und betete für die Stadt Bern. Tags darauf führte von Rodt seine Gäste, nachdem er ihnen vorher schon die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt, die Kirchen, das Zeughaus und die Bibliothek gezeigt hatte, ins Oberland. Die Reise führte nach Spiez, w o man bei Samuel Dick einkehrte, nach Grindelwald und schließlich nach Interlaken, von Rodts früherem Amtssitz. V o n Spiez an waren Güldin, Johannes Müller, der Kandidat der Theologie Friedrich von Wattenwyl und Hauptmann Gabriel Frisching mit von der Partie. Als man in Bern von diesen Vorgängen hörte, befürchtete man eine offene Rebellion und entschloß sich zu raschem Handeln. Schließlich wußte der Rat, wie beliebt von Rodt im Gebiet seiner ehemaligen Landvogtei nach wie vor war. Aber als der Großweibel mit seinen Soldaten in Unterseen eintraf, um die mutmaßlichen Aufrührer gefangenzunehmen, da hatten die Fremden, von Bern aus vorgewarnt, über den Brünig bereits das Weite gesucht. An ihrer Stelle wurden von Rodt, Güldin und Müller gefangen nach Bern geführt. Im anschließenden Prozeß verwies man von Rodt des Landes. Güldin, Müller und Daniel Knopf, der die Reisegesellschaft in Unterseen durch einen E x preßboten hatte avisieren lassen, wurden zu hohen Geldstrafen verurteilt. Ein Manuskript Samuel Güldins über die Apostelgeschichte, das offenbar voller Anspielungen auf den derzeit mißlichen Zustand der Berner Kirche war, wurde beschlagnahmt. Als ich mich mit der Geschichte des bernischen Pietismus zu beschäftigen begann, schwebte mir vor, die Untersuchung mit dieser Episode, auf die im übrigen gleich zurückzukommen sein wird, beginnen zu lassen. Ich ging 167

damals von der Überzeugung aus, die Geschichte der Anfänge des Pietismus in Bern sei geschrieben und es sei nun meine Aufgabe, den bernischen Pietisten in ihrem Exil nachzugehen. Das Vorhaben lockte. Im Verlauf ausgedehnter Archivstudien vor allem in der Bundesrepublik Deutschland sowie durch Anfragen in Archiven der Deutschen Demokratischen Republik und in Pennsylvania/USA sammelte sich denn auch so viel neues und schönes Quellenmaterial an, daß der ursprüngliche Plan hätte gelingen müssen - wäre mir nicht im selben Arbeitsgang nach und nach aufgegangen, daß der gemeinsame Ausgangspunkt aller dieser vertriebenen Berner Pietisten, die Zeit der Anfänge des Pietismus in Bern, auch einer neuen Beleuchtung bedurfte. Als ich dann die im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle aufbewahrte Korrespondenz zwischen Samuel Schumacher und August Hermann Francke einsehen durfte, ließ ich mich davon in die bernischen Archive und von diesen wiederum in die Handschriftenabteilung der Zürcher Zentralbibliothek leiten, und als 1979 das dem Thema „Die Anfänge des Pietismus" gewidmete Jahrbuch „Pietismus und Neuzeit" erschien, beschloß ich endgültig, meinen einstmaligen Plan zurückzustellen und mich an die nun vorliegende Untersuchung heranzuwagen. So kam es, daß nun am Schluß steht, was ursprünglich am Anfang stehen sollte. Wie die eben erzählte Episode zeigt, hat der bernische Pietismus die Ereignisse v o m Sommer 1699 überlebt. Er ist der staatlichen und kirchlichen Repression nicht erlegen. Er hatte bereits zu tief Wurzeln geschlagen, als daß er durch Zwangsmaßnahmen hätte ausgerottet werden können. Berns Pietisten, ob sie nun ins Exil geschickt oder im eigenen Land neutralisiert worden waren, ließen sich nicht bevormunden und fuhren fort, für ihre Sache zu agitieren. Aber die erste Phase des bernischen Pietismus, die Phase seiner Entstehung und seiner oft stürmischen Ausbreitung, war vorüber. Die Kirche, in der er entstanden war und die er hatte reformieren wollen, hatte ihn ausgeschieden. Nur negativ ist der K a m p f um den Pietismus in Bern freilich nicht ausgegangen. Das gilt für beide Seiten. Wenn die Berner Kirche, wie wir es anhand der 20 Thesen eben beobachten konnten, sich auf die evangelische Lehre, eine schriftgemäße Predigt und die Aufgabe der Seelsorge neu besann, so war das, auch wenn es unter dem Vorzeichen der Abwehr geschah, nicht zuletzt ein Ergebnis der pietistischen Herausforderung. A u f der andern Seite sah sich der Pietismus, sofern er aus den gemachten Erfahrungen nicht die Konsequenz der Separation zog, unmißverständlich in die Schranken der kirchlichen Lehre und Ordnung gewiesen. Der von Samuel Lutz in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beharrlich verfolgte und schließlich auch erfolgreiche Kurs eines kirchlichen Pietismus basiert auf den in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts gewonnenen Einsichten. Diese auf weitere Sicht positiven Auswirkungen eines in mancher Beziehung tragischen Konflikts sind nicht zu übersehen. Aber der dafür entrichtete Preis war hoch. Der bernische Pietismus hat in diesem Konflikt an 168

gesellschaftlicher Erneuerungskraft verloren. Er konnte in einem kirchlichen und politischen System, das er teils willentlich, teils faktisch sprengte, nur dann überleben, wenn er sich weitgehend in die private Innerlichkeit zurückzog. Diese Beschränkung hatte nicht unabänderlich zu seinem Wesen gehört, sie war auch das Resultat eines schmerzlichen Prozesses. Gewiß waren sich Berns Pietisten über die politischen und sozialen Implikationen ihres Wollens zu wenig im klaren, ging ihnen, den revolutionären Charismatikern, der Sinn für die politischen Realitäten ab. Aber es fehlte auch der Freiraum, in dem ein solches Bewußtsein sich hätte bilden können. Längere Zeiträume und andere Impulse waren nötig, damit die Erneuerungstendenzen, die im bernischen Pietismus erst ansatzweise zum Vorschein gekommen waren, zur Entfaltung gelangen konnten. Die Ereignisse vom Sommer 1699 kommen in der Geschichte des bernischen Pietismus einer Zäsur gleich. Wir stehen, indem wir hier angelangt sind, am Ende unserer Untersuchung. Deren Zielsetzung bestand darin, anhand neuer Quellen und Fragestellungen die erste Phase des Pietismus in Bern an einigen Stellen neu zu beleuchten. Ausgegangen sind wir von zwei kritischen Beobachtungen, zu denen die bisherige Forschung Anlaß gab: Diese hat - erstens - den bernischen Pietismus vorwiegend als autochthones Gewächs verstanden und meist nur in Parallele, nicht aber in echter Relation zu den entsprechenden Vorgängen auf europäischer Ebene gesehen. Mangels eines exakten chronologischen Rückgrates ließ sie - zweitens - verschiedentlich eine überzeugende Darstellung der in der Genese und Krise des bernischen Pietismus ineinandergreifenden Motive vermissen. Durch Fragestellungen der neueren Pietismusforschung angeregt, haben wir versucht, in beiden Richtungen ein wenig klarer zu sehen. Da wir die Einzelergebnisse unserer Untersuchung jeweils an Ort und Stelle festgehalten haben, können wir uns hier auf das für die neuere Diskussion um den Pietismusbegriff relevante Resultat beschränken. Erstens: Johannes Wallmanns Vorschlag, im Bereich des Luthertums zwischen einem weiteren und einem engeren Pietismusbegriff zu unterscheiden, hat sich auch in den vorliegenden Studien zum reformierten Berner Pietismus als hilfreich und fruchtbar erwiesen. Auch in der Berner Kirche des 17. Jahrhunderts gab es aller Wahrscheinlichkeit nach eine neue Frömmigkeitsrichtung, die stark mystische und asketische Züge trug, aus dem englischen Puritanismus, dem niederländischen Präzisismus und dem mystischen Spiritualismus schöpfte und bei der die spätere pietistische Bewegung anknüpfen konnte und angeknüpft hat. Wir drücken uns mit Absicht vorsichtig aus: Es ließen sich zwar recht zahlreiche Spuren einer derartigen Frömmigkeitsrichtung nachweisen, aber deren Umfang und Bedeutung liegen noch weitgehend im dunkeln. Vieles deutet daraufhin, daß wir es hier nicht nur mit einem zeitlichen Nacheinander, sondern auch mit einem Nebeneinander zweier verschiedener Ausprägungen von „Pietismus" zu tun haben. Das Beispiel Georg Thormanns, dem die pietistische Bewegung viel 169

verdankte, der sich aber von ihr nie ganz mitreißen ließ und sich, als sie die Grenzen der vorgegebenen kirchlichen Lehre und O r d n u n g überschritten hatte, auch wieder von ihr distanzierte, weist am deutlichsten in diese Richtung. Zweitens: D e r bernische Pietismus ist als eine kirchliche R e f o r m - und E r w e c k u n g s b e w e g u n g , die den Rahmen der Staatskirche und der O r t h o d o xie faktisch sprengte, von 1693/94 an hervorgetreten. Er ist in keiner Phase seiner kurzen Geschichte aus dem Z u s a m m e n h a n g des Pietismus auf europäischer Ebene herauszulösen, und er ist auch als eine in diesem Z u s a m m e n hang stehende Größe, wenn auch nicht i m m e r zu Recht, bekämpft worden. Seine teils persönlich, teils literarisch vermittelten Beziehungen reichen v o m englischen Puritanismus über die präzisistische Reformrichtung innerhalb der niederländisch-reformierten Kirche, den Labadismus, den deutsch-reformierten Pietismus, den lutherischen Pietismus franckescher und spenerscher 1 Prägung und den radikalen Pietismus in seinen vielfältigen Ausprägungen bis hin zur katholischen Mystik. Aus allen diesen Richtungen haben Berns Pietisten Impulse erhalten. Gewiß ist die Entstehung des bernischen Pietismus nicht über solche Beziehungen zu erklären, haben die Pietisten das, was ihnen widerfuhr, subjektiv als göttliches Wirken erlebt. Aber sie waren überall dort mit Interesse dabei, w o sie das Reich Gottes am Werk sahen und ließen sich, oft recht u n b e k ü m m e r t geltende Tabus mißachtend, davon in ihrer H o f f n u n g auf eine Erneuerung der Kirche bestärken. Diese Mannigfaltigkeit der Beziehungen zu verwandten zeitgenössischen Strömungen, wie sie am Beispiel des bernischen Pietismus zutage tritt, unterstreicht doch wohl die Berechtigung von Wallmanns Forderung, der Pietismusbegriff sei in territorialer und konfessioneller Hinsicht offenzuhalten. Berns Pietisten haben sich von allen den genannten Richtungen inspirieren lassen, weil sie diese als verwandt, als „pietistisch", einstuften. Wenn Wallmann anregt, man solle überdies den Jansenismus, den Quietismus und den Chassidismus nicht außer acht lassen, so lehrt das Beispiel Bern, daß auch das T ä u f e r t u m , zu d e m sich der Pietismus im positiven Sinn als kirchliche Alternative verstand, mit zu berücksichtigen ist. Zugleich ist allerdings festzuhalten, daß die pietistische B e w e g u n g in Bern nicht zuletzt an dieser ihrer Weite, an ihrer Heterogenität und mangeln1

Philipp Jakob Spener hat am Schicksal der Berner Pietisten lebhaft Anteil genommen. A m 3. Juli 1699 war er über den Ausgang des Prozesses, was das Strafmaß anlangte, bereits im Bild, hatte aber von den Namen der Verurteilten und den ihnen zur Last gelegten Vergehen noch keine Kenntnis (Consilia 3, 787). In einem undatierten, wohl aber um dieselbe Zeit geschriebenen Brief erkundigt er sich nach den in Zürich und Bern angeklagten Pietisten: „Qui quaeso illi in gremio Reformatae Ecclesiae? quae studia? quae accusationum capita?" (Consilia 3, 786) In einem Brief vom 5. August 1699 schließlich zeigt sich Spener dankbar für die ihm über die Berner Ereignisse zugekommenen genaueren Nachrichten. Er habe keinen der betroffenen Pietisten gekannt und mit keinem von ihnen Briefe gewechselt. Aber er hat Kenntnis von einem von Bern nach Berlin gesandten Brief, der ihn auf die Unschuld der Verurteilten schließen läßt. (Consilia 3, 782 b) Freundliche Mitteilung von Herrn Prof. Dr. Johannes Wallmann, Bochum.

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den Identität gescheitert ist. Die neuen religiösen Erfahrungen, welche die Bewegung konstituierten, haben in ihr nie einen adäquaten und verbindenden theologischen Ausdruck gefunden, und die mannigfaltigen Anregungen, die ihr zuflössen, sind nie zu einer Einheit integriert worden. An Theologen, die beides hätten leisten können, fehlte es dem bernischen Pietismus nicht. Aber diesen blieb dafür zu wenig Zeit. Kaum waren sie mit sich selber ins reine gekommen, sammelten sich auch schon die Menschen scharenweise um sie, und bald auch setzten die staatlichen Repressalien ein. Die pietistische Bewegung ist in Bern zu rasch groß geworden. Sie wurde nicht zuletzt das Opfer ihres eigenen unkontrollierten Wachstums, denn um in dem Konflikt, in den sie bald hineingeriet, bestehen zu können, hätte sie einer größeren Geschlossenheit bedurft, als sie sie tatsächlich aufzuweisen hatte2. Dieser mißliche Umstand hängt nicht zuletzt mit der recht großen Bedeutung, welche den Laien innerhalb der Bewegung zukam, zusammen. Diese machten, einmal zur Mündigkeit befreit, von ihrer neuen Freiheit rege Gebrauch. So kam es, daß die Theologen die Kontrolle über die von ihnen ausgelöste Bewegung weitgehend verloren. Selbst was in ihren Gottesdiensten sich ereignete, entzog sich ihrem Zugriff, ganz zu schweigen von dem, was in den Konventikeln geschah, denen sie doch, ohne ihre Ziele endgültig zu kompromittieren, nicht beiwohnen durften. Der andere Grund für das Scheitern der pietistischen Bewegung in Bern ist in der kritischen Situation, in der der bernische Staat am Ende des 17. Jahrhunderts sich befand, zu suchen. Im Land selber war das Täufertum nach wie vor stark und wurde mehr denn je unterdrückt. In den Augen vieler Berner verlor die Kirche gerade dadurch an Glaubwürdigkeit. Korruption und Machtkonzentration hatten im regierenden Stand eine Krise heraufbeschworen. Das im Verhältnis zwischen Stadt und Landschaft herrschende Ungleichgewicht stellte eine ständige Gefahr für den Frieden im Staat dar. Das konfessionelle Klima war gespannt und der in Europa entbrannte Machtkampf zwang Bern zu einer Haltung kluger Vorsicht und äußerster Wachsamkeit. Diese Konstellation ist dem bernischen Pietismus vorerst zugute gekommen. Weite Kreise setzten auf ihn große Hoffnungen, weil sie in ihm ein Ferment der Erneuerung für Kirche und Staat sahen. Als aber die Bewegung immer mehr zunahm, die kirchliche Lehre und Ordnung zu durchbrechen und die ständische Schichtung der Gesellschaft anzutasten begann, als sie schließlich stellenweise in Wildwuchs überging, da erlaubte eben diese Konstellation ihre Duldung nicht mehr. Die Bewegung stellte einen zu großen inneren Risikofaktor dar und wurde als solcher ausgeschaltet. 2 In dieser Hinsicht bezeichnend ist, was Samuel Mutach, ehemals Sekretär der Religionskommission, aus einer Distanz von nahezu zehn Jahren über die pietistische Bewegung schreibt. Er erinnert sich daran, „que les pietistes n'avoient point de Systeme uni parmi Eux, mais que la plupart se formoit des sentiments singuliers . . .". (Undatierter Brief an Unbekannt, Beilage zur Mutachschen Originalversion der „Relation", StAB B III, 178).

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2.

Ausblick

Versuchen wir nach diesem kurzen Rückblick die weitere Geschichte des frühen bernischen Pietismus, die Geschichte seines innern und äußern Exils, wenigstens noch zu skizzieren 3 . U m bei der oben geschilderten Episode von Ende August 1699 anzuknüpfen: Wer waren denn die drei Fremden, diese „drey Teütsche Kerli", wie Dekan Bachmann sie bezeichnete, die bei Berns eben gemaßregelten Pietisten so großes Interesse gefunden hatten? Es handelte sich bei ihnen um Ernst Christoph Hochmann von Hochenau, George Henry Krafft und - vielleicht - um Gottfried Arnold. Samuel König war es gewesen, der sie in die Schweiz geschickt und ihre Reise arrangiert hatte. Er war, nachdem er Bern hatte verlassen müssen, in Frankfurt mit ihnen zusammengetroffen und hatte sie an seine Berner Freunde gewiesen, damit sie diese in ihrer Überzeugung bestärkten und zu unnachgiebigem Widerstand ermutigten. Das Unternehmen schlug fehl: Wie bereits gezeigt wurde, endete es damit, daß der Große Rat von Rodt, Güldin, Müller und Knopf wegen Unbotmäßigkeit und Begünstigung landesfremder Agitatoren schwer bestrafte. Das geschah am 11. September 16994. Tags darauf mußte sich der Kleine Rat mit einem Schreiben der Marburger Theologischen Fakultät befassen, in dem diese Auskunft über Samuel König erbat. König war nämlich unterdessen nach Eschwege weitergezogen, wo er mit Heinrich Horche und Johann Henrich Reitz zusammen öffentlich gepredigt hatte. Er hatte sich unter anderem in Marburg und am Kasseler Hof aufgehalten und dort für seine pietistischen Ideale geworben. Im September wohl war er wieder nach Frankfurt zurückgekehrt. Die Stadt, in der einst Philipp Jakob Spener und Johann Jakob Schütz gewirkt hatten, war zu diesem Zeitpunkt ein eigentlicher Stützpunkt des radikalen Pietismus. Neben König und den ihm ins Exil gefolgten jungen Bernern hielten sich Hochmann von Hochenau, Dippel und zeitweilig auch Gottfried Arnold und Johann Wilhelm Petersen dort auf. König scheint in diesem Kreis eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Jedenfalls trat er in den folgenden Monaten in Laubach und beim Versuch, am Berleburger Hof ein enthusiastisches Kirchenmodell zu verwirklichen, mit Hochmann von Hochenau zusammen führend in Erscheinung 5 . 3 D a ich das Folgende später ausfuhrlich darzustellen gedenke, beschränke ich mich hier auf die wichtigsten Belege u n d Verweise. 4 R. von Diesbach, Artikel „Nikiaus R o d t " und „Maria R o d t " : SBB III (1898) 5 - 1 0 u n d 1 0 12. H a d o r n 1901, 111 f. A u f H a d o r n f u ß t Renkewitz 1969, 47 f. R. von Diesbach u n d H a d o r n schöpften aus derselben Quelle: „ H r n . Niclaus Rodts v o n Hinderlachen H i s t o r j " (AP 549-553). D e r V o r g a n g ist aber a u f g r u n d von R M 268, 374f. (29. 8. 1699), 389 (31. 8.), R M 269, 44 (11. 9.) u n d anhand von B a c h m a n n s Brief an Ulrich v o m 27. 9 . 1 6 9 9 neu zu untersuchen u n d zu beschreiben. Insbesondere ist abzuklären, ob es sich bei d e m „Jungen A r n o l d " (AP 551. G o t t f r i e d A r n o l d w a r im Jahr 1699 i m m e r h i n 33 Jahre alt u n d u m 3'/2jahre älter als H o c h m a n n ! ) resp. „ A r n a u d " ( R M 269, 44) wirklich, wie H a d o r n stillschweigend a n n i m m t , u m Gottfried A r n o l d gehandelt hat. 5

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R M 269, 48f. (12. 9. 1699). Dazu liegen u m f a n g r e i c h e handschriftliche Quellen aus

Aber nicht nur in Hessen sorgte der steckbrieflich gesuchte Erzpietist und Erzketzer Samuel König für Unruhe, auch in Bern selber mußte man sich mit ihm wohl oder übel weiterhin befassen. Dorthin war nämlich gegen Ende des Jahres 1700 eine anonyme Flugschrift eingeschleust und in Hunderten von Exemplaren verbreitet worden. Sie trug den Titel: „Der Weg Des Friedens gebahnet Jn einem Send-Schreiben an die Seinigen Durch Einen der geringsten Knechten des H E R R N . " Die Kritik, welche darin an der Berner Kirche geübt wurde, war radikal, der Aufruf zur Umkehr leidenschaftlich. Der Verfasser war kein anderer als Samuel König. Der Rat hatte seine liebe Mühe damit, aller bereits im Umlauf befindlicher Exemplare habhaft zu werden, um diese „abschaffen" zu können. Aber er leistete ganze Arbeit. Kein einziges Exemplar des Pamphlets scheint in Bern erhalten geblieben zu sein. Bis vor kurzem konnte man sich über dessen Inhalt nur anhand einiger weniger Zitate daraus, die immer wieder kolportiert worden sind, ein Bild machen. N u n ist die Schrift im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle wieder zum Vorschein gekommen. Damit liegt eine lange Zeit vermißte, für die Erforschung von Königs Gedankenwelt im entscheidenden Jahr 1700 und damit für die Geschichte des radikalen Pietismus in Deutschland bedeutsame Quelle wiederum vor 6 . Zur selben Zeit, da in Bern Königs „Weg des Friedens" die Runde machte, hatten der Kleine und schließlich auch der Große Rat sich mit einem weiteren „Fall" zu beschäftigen. Beat Ludwig von Muralt, der in eingeweihten Kreisen schon damals bekannte Verfasser der nachmals berühmten „Lettres sur les Anglois et les François", hatte sich geweigert, weiterhin am öffentli-

folgenden Archiven gesammelt vor: BBB (AP), StAB, Z B ZH, Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Detmold, Gesamthochschul-Bibliothek Kassel (Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel), Archiv der Brüder-Unität in Herrnhut, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Familienarchiv des Fürstlichen Hauses Sayn-Wittgenstein-Hohenstein zu Wittgenstein in Laasphe, Graf zu Solms-Laubach'sches Archiv in Laubach, Archiv des Fürsten zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg im Westfälischen Landesamt für Archivpflege in Münster/Westf. - Vgl. den 1729 entstandenen Bericht „Von der ,Secta der Pietisten'" aus dem Dodenauer Kirchenbuch: Mitteilungen aus der Geschichte und Heimatkunde des Kreises B i e d e n k o p f l l (1917) Sp. 6-15: „Die ersten Urheber dieses Wesens in dem Wittgensteinischen waren Herr König, der General-Prophete unter ihnen war, wie sie ihn unter sich selber genannt haben, und Herr Knecht, beide aus der Schweiz bürtig und daselbsten um dieser Händel wegen vertrieben. Dann finge mit an einer namens Püntner, einer namens Hohmann, ein Edelmann (wie gesagt wurde) bei Nürnberg zu Hause, und einer namens Reitze, ein abgesetzter Inspektor zu Braunfels . . ." (Freundlicher Hinweis von Prof. Dr. Hans Schneider). Vgl. ferner Spener an Francke, 25. 5. 1700, und Francke an Spener, 2. 6. 1700: Gustav Kramer, Beiträge zur Geschichte August Hermann Franckes enthaltend den Briefwechsel Franckes und Speners, Halle 1861, 456f. und RM 272, 49 (26. 4. 1700). - Goebel 1852, 73f>-777. Hochhuth 1876, 102-104 und 209-211. G. Hinsberg, Streifzüge durch Berleburgs Vergangenheit, Berleburg 1915, 5970. Renkewitz 1969, 44-151. Fehringer 1971. 6 Die Schrift, die Hans Schneider im AFSt ausfindig gemacht hat, ist ohne Angabe des Druckortes erschienen. - Vgl. zwischen RM 1, 69f. (2. 12. 1700) und RM 2, 420 (21. 4. 1701) passim.

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chen Gottesdienst teilzunehmen u n d d a f ü r Gewissensskrupel geltend gemacht. E r sei v o m Pfarrer seiner G e m e i n d e „auffs H ö c h s t e u n d t biß a u f f d a s innerste seiner Seel geärgert w o r d e n " . Alle v o n seiten der O b r i g k e i t , der Pfarrer u n d der V e r w a n d t e n u n t e r n o m m e n e n Versuche, v o n M u r a l t doch n o c h u m z u s t i m m e n , blieben erfolglos. A m 15. Februar 1701 m u ß t e auch er das Land verlassen. Gleich nach seiner A u s w e i s u n g gab er sich in einem „ A p o l o g u e en faveur de la séparation du culte public de nos Eglises" als ü b e r z e u g t e n Pietisten zu erkennen 7 . Wie ist der weltoffene, aufgeklärte u n d keineswegs auffällig f r o m m e Verfasser der „Lettres sur les Anglois et les François" z u m Pietisten g e w o r den? Die M u r a l t f o r s c h u n g hat sich i m m e r wieder neu, bisher aber erfolglos, u m eine K l ä r u n g dieser Frage b e m ü h t . So m u ß n o c h der Verfasser der sicher gründlichsten neueren Studie über v o n M u r a l t feststellen: „ Q u a n d o e in quale misura egli abbia aderito a questo m o v i m e n t o religioso n o n sappiamo."8 Es gibt aber Spuren, die einen der Lösung des Rätsels wenigstens n ä h e r bringen. Z u r selben Zeit, a m selben O r t u n d mit derselben B e g r ü n d u n g wie v o n M u r a l t ist nämlich auch Samuel Güldin d e m Gottesdienst ferngeblieben. Es w a r in M u r i bei Bern, w o s o w o h l Güldin wie v o n M u r a l t zu diesem Z e i t p u n k t w o h n t e n , vielleicht sogar auf v o n Muralts Landsitz z u s a m m e n w o h n t e n . Die V e r m u t u n g , daß sie beide, als sie der Kirche fernblieben, k o o r d i n i e r t v o r g i n g e n , liegt auf der H a n d - eine V e r m u t u n g , in der einen der Vergleich v o n Güldins u n d v o n Muralts apologetischen Schriften, die sie nach ihrer Exilierung verfaßten, n u r n o c h bestärkt. Aber das ist hier nicht weiter a u s z u f u h r e n . D e r H i n w e i s darauf, daß Samuel Güldin in Beat L u d w i g v o n M u r a l t s E n t w i c k l u n g z u m Pietisten eine wesentliche Rolle gespielt haben dürfte, m u ß vorerst genügen 9 . A u c h f ü r Samuel Güldin w a r in Bern auf die D a u e r keine Bleibe m e h r . Z w a r ließ er sich, u m seine theologische Ü b e r e i n s t i m m u n g mit den r e f o r matorischen Bekenntnisschriften zu demonstrieren, E n d e Mai 1701 zur Leistung des Assoziationseides b e w e g e n u n d w u r d e dafür z u m Pfarrer der G e m e i n d e Boltigen im S i m m e n t a l gewählt. Aber er m u ß t e bald einsehen, daß die W i r k u n g , die er mit der Eidesleistung beabsichtigt hatte, ausblieb, 7 R M 1, 61 (30. 11. 1700), 122f. (7. 12.), 152f. u n d 170f. (31. 12.), 290-293 (19. 1. 1701), 481 f. (15. 2.). B B B , M . h . h . III 272, 686-694. - E u g è n e Ritter, Q u e l q u e s d o c u m e n t s sur Béat de M u r a l t , Genève 1894, 5-18. 8 Gian C a r l o Roscioni, Beat L u d w i g v o n Muralt e la ricerca dell'umano, R o m a 1961, 165. B. L. de Murait, Lettres sur les Anglois et les François et sur les Voiages (1728), éditées par Charles G o u l d , Genève 1974 ( N a c h d r u c k der Ausgabe Paris 1933). - Aus der umfangreichen Muralt-Literatur n e n n e ich hier neben Roscioni nur: O t t o von Greyerz, Beat L u d w i g von M u r a l t , Frauenfeld 1888. A r t h u r Ferrazzini, Béat de Muralt et Jean-Jacques Rousseau. E t u d e sur l'histoire des idées au XVIII e siècle, La Neuveville 1951. Jânos Riesz, Beat L u d w i g von Muralts „Lettres sur les Anglais et les Français et sur les Voyages" u n d ihre Rezeption. Eine literarische „Querelle" der französischen Frühaufklärung, M ü n c h e n 1979. 9

R M 274, 316 (5. 11. 1700), R M 1, 168f. (7. 12.), 190 (21. 12.), 290-293 (19. 1. 1701), 485 (15. 2.).

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indem die Gegner seinen Schritt gegen die Pietisten propagandistisch ausschlachteten. Von Gewissensskrupeln geplagt, bat er sogleich um Entbindung vom Eid und wurde darauf, noch bevor er es angetreten hatte, seines Amtes wiederum enthoben und am 18. Januar 1702 des Landes verwiesen. Er scheint sich vorübergehend, bis er auch von dort vertrieben wurde, auf dem Gebiet des Bistums Basel aufgehalten zu haben. Dann zog er mit seiner Familie über Frankfurt nach Norddeutschland, vermutlich nach Hamburg. Später finden wir ihn beim Ehepaar Petersen in Niederndodeleben und in Magdeburg. Vier seiner Kinder begegnen zwischen 1705 und 1708 in den Schülerverzeichnissen der Franckeschen Stiftungen in Halle. 1710 ist Samuel Güldin mit seiner Familie nach Pennsylvania ausgewandert. Er war der erste reformierte Pfarrer deutscher Zunge, der amerikanischen Boden betrat. Aber er tat sich kaum mehr als solcher hervor, sondern lebte zurückgezogen auf seinem Gut, das er selber bewirtschaftete. N u r einmal noch, als alter Mann, trat er hervor, dann aber vehement: 1742 stemmte er sich Zinzendorfs Versuch, die in Pennsylvania verstreuten Protestanten unter dem Dach des Herrnhutertums zu vereinen, mit aller Kraft entgegen, weil er dessen theologische Begründung für verfehlt hielt 10 . Beat Ludwig von Muralt hatte unterdessen nach langen Jahren unsteten und unfreiwilligen Wanderns in Colombier bei Neuchätel, auf preußischem Territorium also, eine Bleibe gefunden. Er blieb der Kirche fern und ließ sich ganz von der göttlichen Inspiration leiten - eine eigenwillige, ebenso vielbewunderte wie rätselhafte Gestalt im Grenzgebiet von Pietismus und Aufklärung, deren theologisches Werk immer noch nicht genügend erhellt ist 11 . Samuel König hat sich nach dem Scheitern der Laubacher und Berleburger Experimente entweder für einige Zeit in Schwarzenau aufgehalten oder ist direkt nach Magdeburg weitergezogen, wo er sich sicher bis 1706, 10 RM 2, 391 f. (16. 4. 1701), 430ff. (23. 4.), 484f. (30. 4.), RM 3, 44 (9. 5.), 188 (28. 5.), 208f. (31. 5.), RM 4, 293f. (18. 8.), 364 (29. 8.), 383f. (1. 9.), 388f. (2. 9.), R M 5 , 8 - 1 0 ( 7 . 9.), RM 6, 233(16. 12.), 345 (4. 1. 1702), 375 (10. 1.), 433 (18. 1.). - Unveröffentlichte apologetische Schriften und Briefe Samuel Güldins aus folgenden Archiven: BBB, ZB ZH, AFSt, Archiv des Fürsten zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (vgl. Anm. 5), Archiv des Historical Council der United Church of Christ in der Philipp Schaff Library, Lancaster Pa. - Für die recht zahlreiche Titel umfassende amerikanische Literatur über Güldin verweise ich hier nur gerade aufJames I. Good, History of the Reformed Church in the United States, 1725-1792, Reading PA 1899 und Joseph Henry Dubbs, Samuel Guldin, Pietist and Pioneer: Reformed Quarterly Review 1892, 309-325, sowie Hinke 1951. - Güldins gegen Zinzendorfs Unionspläne gerichtete Schrift trägt den Titel: Samuel Güldins Gewesenen Predigers in der Haupt-Kirchen zu Bern in der Schweitz Sein Unpartheyisches Zeugnuß Uber die Neue Vereinigung Aller Religions-Partheyen in PenSylvanien. Wie auch von andern nöthigen Puncten wie die Vorrede und Register ausweisen. 1. Cor. 6: 17. Wer aber dem H E R R N anhanget der ist ein Geist i n j h m . Gedruckt bey Christoph Saur in Germantown. 1744. - Vgl. Ernst Staehelin, Schweizer Theologen im Dienste der reformierten Kirche in den Vereinigten Staaten: Schweizerische Theologische Zeitschrift 36 (1919) 152-171 und 196-238. Fritz Blanke, Zinzendorf und die Einheit der Kinder Gottes, Basel, 1950. 11

Rudolf Dellsperger, Treffpunkt Natur. Jean-Jacques Rousseau und Beat Ludwig von Muralt: Reformatio 27 (1978) 447-456.

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vielleicht bis 1710/11 in der Gemeinschaft anderer vertriebener Berner Pietisten und zeitweise in der Umgebung des Ehepaars Petersen aufgehalten hat. Dort befanden sich nämlich auch Nikiaus von Rodt und dessen Tochter Maria, die sich inzwischen mit Burkhard Fellenberg verehelicht hatte, ferner Nikolaus Tscheer und eben auch Samuel Güldin mit seiner Familie. Diese kleine Berner Kolonie hat auch in Magdeburg und weit darüber hinaus für Aufsehen und Unruhe gesorgt. Wahrscheinlich hat sich König zwischendurch in Halle aufgehalten, wo 1707 eine seiner Predigten im Druck erschienen ist. Im Jahr 1711 fand er schließlich eine Anstellung als Inspektor und erster Pfarrer in Büdingen. Selber zur Ruhe gekommen, hat er dort und von 1715 bis 1730 als Pfarrer an der französischen Gemeinde in Waldensberg (Vogelsberg) gewirkt und eine ganze Reihe bedeutender wissenschaftlicher Werke und erbaulicher Schriften verfaßt, bis er 1730 endlich in Bern wieder ins Bürgerrecht aufgenommen und zum Extraordinarius für Orientalistik und Mathematik ernannt wurde. Obwohl man ihn auf diese Weise für Theologie und Kirche unschädlich machen wollte, ist er bis zu seinem Lebensende gerade auf diesen Gebieten in Wort und Schrift unermüdlich für seine pietistischen Ideale eingetreten 12 . Z u m Schluß ist auf einen Vorgang hinzuweisen, der für den in Bern selber im „Exil" lebenden Pietismus signifikant ist: Berns erstes Bankhaus „Malacrida & Cie." ist von Männern gegründet worden, die am 19. März 1701 aus ihrer pietistischen Überzeugung heraus den Assoziationseid verweigert hatten und deswegen aus ihren Ämtern ausgeschieden waren 13 . Wir haben zu zeigen versucht, daß vom frühen bernischen Pietismus auch nach seiner im Sommer 1699 erlittenen Niederlage weitreichende und bedeutende Wirkungen ausgegangen sind. Die Geschichte dieser Wirkungen bleibt noch zu schreiben. Das Material dafür liegt bereit.

12

Samuel König, Paßions-Gedancken / Zu Erbauung Heils-begieriger Seelen einfältig mitgetheilet von S. K. HALLE / gedruckt bey Johann Montag / 1707. - Aus Königs Büdinger und Waldensberger Zeit liegen umfangreiche Materialien aus dem Fürstlich Ysenburg- und Büdingenschen Archiv in Büdingen sowie aus dem Hessischen Staatsarchiv Marburg vor. Für Königs literarisches Werk verweise ich auf meinen Artikel „König, Samuel": N D B 12 (1980) 349f. Zur ersten Phase von Königs Exilszeit vgl. jetzt Rudolf Dellsperger, Samuel Königs „Weg des Friedens" (1699-1711). Ein Beitrag zur Geschichte des radikalen Pietismus in Deutschland: JGP (1983) 152-179. Hadorn 1901, 159-166. Wernle 1923, 282-286. 13 W. F. von Mülinen, Law und Malacrida: Neues B T 1897, Bern 1896, 137-162.

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ANHANG

I Samuel Schumachers Brief an August Hermann Francke vom 22. März 1695 1. Einleitung D a das wichtigste Quellenstück f ü r das erste Kapitel der vorliegenden U n t e r s u c h u n g , Samuel Schumachers Bericht über die A n f ä n g e des Pietism u s in Bern, bis h e u t e unveröffentlicht geblieben ist, soll es hier i m vollen W o r t l a u t w i e d e r g e g e b e n w e r d e n . Schumachers Brief an A u g u s t H e r m a n n Francke ist i m Archiv der Frankeschen Stiftungen in den beiden folgenden A b s c h r i f t e n enthalten: „1689-1695. Schweitz. H e r r n Samuel Schumachers Brieffe an H r n . Prof. Francken" (Signatur D 61, S. 1-52) u n d „2 Brieffe aus der S c h w e i t z " (Signatur D 60, Bl. 51-76). Bei diesen Abschriften d ü r f t e es sich u m v o n e i n a n d e r u n a b h ä n g i g e K o p i e n des nicht m e h r v o r h a n d e n e n Originals handeln. Aus O r t h o g r a p h i e u n d I n t e r p u n k t i o n darf m i t g r ö ß t e r Wahrscheinlichkeit geschlossen w e r d e n , daß D 61 die d e m S c h u m a c h e r schen A u t o g r a p h näherstehende Abschrift ist. D e r Kopist v o n D 60 hat Schumachers o f t geradezu w u c h e r n d e n Stil stellenweise nicht unerheblich geglättet. Z w a r scheint der Abschreiber v o n D 61 mit Schumachers nicht i m m e r sehr leserlichen H a n d s c h r i f t seine liebe M ü h e gehabt zu haben, u n d er hat d u r c h eine recht nonchalante H a n d h a b u n g der W o r t e n d u n g e n , der G r o ß - u n d Kleinschreibung u n d der I n t e r p u n k t i o n die Schwierigkeiten f ü r den späteren Leser n o c h zusätzlich v e r g r ö ß e r t , aber dies alles entbindet nicht v o n der A u f g a b e , hier seinen, den älteren T e x t wiederzugeben. D a ß das n u r a n n ä h e r u n g s w e i s e gelingen k o n n t e , ist m i r n u r zu sehr b e w u ß t . Die beiden A b s c h r i f t e n w u r d e n miteinander verglichen, D 60 aber n u r da zu Rate gezogen, w o in D 61 unverständliche Stellen oder offensichtliche Verschreib u n g e n vorlagen. A u f einen textkritischen A p p a r a t w u r d e verzichtet, weil es sich in allen diesen Fällen bloß u m Fragen stilistischer A r t handelte. Die Frage, ob dieses Quellenstück nicht einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich g e m a c h t zu w e r d e n verdiente, hat mich o f t beschäftigt. Ich w a g t e sie, der eigenen Befangenheit m i ß t r a u e n d , nicht bloß v o n mir aus zu bejahen. Als aber die Mitglieder der Historischen K o m m i s s i o n zur E r f o r s c h u n g des Pietismus ihrerseits m i t d e m G e d a n k e n an mich herantraten, bin ich ihrer A n r e g u n g gern gefolgt. Ich habe also Schumachers Brief erst nach A b s c h l u ß meines Buches f ü r die Edition vorbereitet. D a er in dessen erstem Kapitel so weit als i m A u g e n b l i c k möglich ausgewertet u n d erschlossen w i r d , erübrigen sich an dieser Stelle weitere E r l ä u t e r u n g e n . Die hier beige-

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fugten Anmerkungen verweisen zur Hauptsache nur auf den dort gegebenen Kommentar. Die kursiven Ziffern in eckigen Klammern markieren die Seitenzahlen der Abschrift D 61, nach denen auch im ersten Kapitel zitiert wird. 2. Der Text Hochwerther lieber Herr und Freund, geliebter Bruder in Christo Jesu unserm Herrn. Ich wünsche Ihm viel Gnade von Gott durch unsern Heylandt und Herrn Christum, der unß so hochgeliebet und von welchem wir die Salbung empfangen, zur Vermehrung göttlicher Liebe und Gedult in den manigfaltigen Trübsahlen Christi zum Lob und Preis seines ewigen Nahmens. Ich nehme die Freyheit, ob gleich dem Angesichte nach unbekant Ihme meinem hochwertesten Herrn und Freund zuzuschreiben, der guten Hoffnung lebend, Er werde (wenn Er derjenige ist, den ich höre daß Er sey) dieses mein wohlmeinendes Schreiben und Ansprechen mir nicht verübeln, sondern zum Besten deuten, ja mit Freuden annehmen, Krafft der Liebe, die die Kinder Gottes einander schuldig seynd, und der Gemeinschafft der Heiligen, die wir untereinander, so viel immer müglich zu allgemeiner Erbauung pflantzen, öffnen, erhalten und cultiviren sollen. Der GrundGütige Gott leite selbst meine Handt und Feder, daß alles, was ich schreibe gereichen 'möge zur Beförderung der Ehre Gottes, Ausbreitung des Reichs seines lieben Sohnes, vielfältigen Erbauung unserer Seelen, Öffnung einer aufrichtigen Liebe und Gemeinschafft, zur Schärffung der Liebe, Ermunterung des Eyffers, Stärckung des Glaubens, und Vermehrung unseres Trostes durch Jesum Christum in Krafft des Heil. Geistes. Amen [3/4] Ich kan nicht gnugsam beschreiben die große Vegnügung und Freude, die ich empfunden, alß ich erstl. in Hollandt von einem guten Freund Dieterich Dobeler 1 von Hamburg gebührtig in einem mit Ihm gehaltenen Discours gehöret, von den so ungemeinen Bewegungen, so hin und her in der Christenheit zu einer wahren und eifferigen Übung des Christenthums sich erzeigen, sonderl. aber wie in Teutschlandt so viele Personen sich hervorthun, die mit einem neuen und ungewohnten Eyffer auf das wahre Christenthum dringen, aber (welches das meiste) selbiges auch leben. Sonderlich auch, daß Gott treue Diener ausgerüstet habe unter den Geistlichen und einige Kinder Levi geleutcrt habe, damit Sie reine Speiß = Opfer bringen mögen in Gerechtigkeit; sagte mir auch damahls (ist ohngefehr 5 Jahre) daß Gott auch mit den Augen seiner Barmherzigkeit in großen Gnaden Ihn (meinen liebwerthen Herren und Freund) angesehen, und ihn kräfftiglich gewißen aus dem Reich der Finsternis und versetzet habe in das Reich seines lieben Sohnes, und ihn gemachet zu einem seeligen und gesegneten Rüst1

Zu Dietrich Dobeler vgl. oben S. 28 (Anmerkung 2) und zum zeitgeschichtlichen Hintergrund von Dobelers Mitteilungen oben S. 28 f.

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zeug, auszubreiten die Ehr unsers Herren und Heylandes Jesu Christi; redete mir auch von einigen Collegiis Pietatis, die theil von ihm, theil von andern seyen gehalten worden zur aufweckung noch vieler ander Seelen und ihrer reichen Erbauung; habe aber hernach auch selber aus unterschiedlichen von Ihm herausgegebenen Schrifften nicht nur solches alles confirmiret; sondern noch mit mehreren umbständen vermehret und deutl. beschrieben lesen und [4/5] vernehmen können. Weil auch Gott nun seythero in unserem lieben Vaterlande, zu Stadt und Landt, wunderherlich gewürcket hat, und noch würcket, so ist meine Freude deßenthalben so groß, daß ich mich nicht enthalten können, auch diese Freude andern guten Seelen bekant zu machen, unter denen mir Er, allezeit, (ein Bewehrter Herr undt Freundt) obgeschwebet, habe auch schon vor etwaß Zeits Lust gehabt Ihme von freyen Stücken zuzuschreiben, bis ich entlich so gar gute Occasion bekommen, die Brieffe durch eine dritte Gottliebende Person 2 zuzusenden, so habe ich mich nicht bedacht noch gezweiffeit; sondern übersende gegenwärtiges Schreiben an Ihn, damit Er sich auch freuen könne wegen des frölichen Wachsthums des Reichs Christi auch in unserm Lande; U n d daß umb desto so viel mehr, weil ich gedachte, ihnen sey dieses gantz unbekant, weilen noch nichts von einigen unter den Freunden von diesem Zustande der Seelen und Beförderung des Reichs Christi in unserm Lande im Druck ist herausgegeben worden, dadurch auch Sie könten dieser Zeitung, oder hätten können berichtet werden. Weil man hiemit nicht das Licht soll verbergen unter den Scheffel; sondern in dem Hause der Kirchen auf den Tisch zum besten der Hausgenoßen und auf den Leuchter setzen; damit auch die sich allerseyts mögen erfreuen, ob der Beförderung des Reichs der Gnaden, und dannenhero mögen veranlaßet werden Gott herrl. zu loben, zu rühmen und herrlich zu machen in ihren Hertzen umb aller der Wercke willen seine Gnade, die Er in den [5/6] Kindern des Neuen Testaments so herlich würcket, also habe ich mir vorgenommen umbständlich die ersten anfange selbst, den fortgang bis hierher, und den gegenwartigen Zustandt des Reichs Christi unter unß vorzustellen. Es seyndt ohngefehr 7 Jahr, da man von diesen Sachen etwaß mehr alß sonst hörete, da Gott erweckete unsern lieben Bruder, den so treueyfferigen und frommen Mann Georg Thormann 3 der ein Trost der Armen und eine Hülffe so vieler Vertriebenen ist, mein dismahliger liebwerther Kostherr, der ihnen durch einige Schrifften ohne Zweiffei (sonderlich der Reunions Tractat, wie zwischen den Protestanten könte ein Syncretismus angestellet werden) bekant seyn wird. Dieser nun hat durch seinen Gottseeligen Wandel und große Liebe, anders theils aber durch einige Gottseelige Schrifften sehr viel Leuthe gleichsam alß aus einem sehr tieffen Schlaff aufgewecket, welcher Tractaten waren folgende: Le Baume de Galad & Jesus in unß und wir 2 Der Überbringer des Briefes war der Kunstmaler J o s e p h Werner, vgl. oben S. 70 (Anmerkung 98) und im vorliegenden Brief 51. 3 Z u J o h a n n Georg Thormann vgl. oben S. 30-33 und 53-55.

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in Ihm. Eine Erklärung des Vaters Unsers. Ein Tractat wieder die Wieder= T e ü f f e r . Bald d a r a u f k a m Hr. Professor Malacrida 4 gewesener Prediger der Schweitzerischen Colonien in Brandenburg, der durch Herrn Poirets Conversation in Hollandt mit großem Eyffer nach Bärn in sein Vaterlandt zurück k o m m e n , und durch seine erbauliche Discursen und eyfferige Predigen sehr viel Seelen erwecket, und vermehrte sich die Anzahl der Gläubigen. Die eifferigen Predigen Herrn [6/7] Straussii 5 contribuirten auch nicht w e nig dazu; aber alß das werck k a u m anfing, da kam in unsere Lande ein gewißer Walther [korr.: Wolters] 6 aus Lüneburg, der dise Seelen zimlich verwirret, und Anlaß zu einer starcken Traubein gegeben, daß m a n damahls (war Aö 1689) Herrn Professor Malacrida zu seiner Glaubens Bekantnis öffentlich vor convent hielte, und viel Seelen für das Consistorium forderte. N u n eben zu derselbigen Zeit, nemlich in dem M a j o 1689 leitete es die Fürsehung Gottes, daß unser 4 Studiosi ohngefehr die Resolution faßeten mit einander eine Reise zu thun ad Academias, die wir doch alle eines gantz wiederwärtigen humeurs waren, und zwar nicht nur keine Freundschafft; sondern eine gantz capitale Feindschafft wieder einander hatten; der eine mehr der andere minder, so meistentheils aus der Gifftigen Quelle der Eigenliebe herrührete, da einer den Andern aus H o c h m u t h und Eigenfallen seiner Studien und Profectuum halber beneidete; demnach ohngeacht aller Hinderniße, fiigete es die weißlich herrschende Fürsehung Gottes, daß wir die Reise antraten, und in gedachtem M o n a t erstl: nach Genf unß etwaß verfügeten; Die N a h m e n aber meiner Cameraden waren 1. m. C h r i s t o p h e rus Lucius, Samuel Guldi, Samuel Dick; von welchen ich hernach weiters particulisiren werde. Da wir aber k a u m 2 M o n n a t zu Genf 7 aufhielten und unß in Erlernung der frantzösischen Sprache übeten, und auch sonderlich in Disputationibus Publicis unß wacker hervor getahn hatten, u m unserem [7/8] verfluchten H o c h = M u t h ein Genügen zuleisten (wie den auch die gantze Reise aus solchen fleischlichen Einsichten v o r g e n o m m e n worden) so hat die Barmherzigkeit Gottes sich unser, da wir alß in unserm eigenen Blute lagen, erbarmet, und hatte Gott es beßer gemeinet; und da wir nichts an ihn gedachten, hat er unß gesuchet, da wir in den Weg des Verderbens der Höllen zu renneten, hat er unß zurück geruffen; da wir seiner vergeßen, hat Er unser doch nicht vergeßen; sondern ist unß in unserm elenden und erschröckl. lauf in den Weg gestanden; O große Gedult und Langmuth! O himmelbreite Gnade! o unaussprächl. und unermäßliche Barmherzigkeit! O Länge! o Tieffe! o Breite der unbegreiffl. Weißheit Gottes! Denn Er legete unsern lieben Bruder Lucium in das Siech=Bette, und führte ihn heim, mit einem hitzigen Fieber, welches ihm den T o d t dräuete. Weil er aber zuvor ein sehr ippiges Epicurisches w e l t = l e b e n geführet, rührete Gott sein Hertz und 4 5 6 7

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Z u Elisäus Malacrida vgl. oben S. 33 f. Zu Johann Rudolf Strauss vgl. obenS. 34. Zu Wolters vgl. oben S. 37f. Vgl. zum Folgenden oben S. 38-41.

winkete seinem Gewißen, welches ihn so hefftig ängstete, daß Er in Höllische Schrecken u n d Aengste gerathen, daß Er heulete und brüllete vor U n r u h e seines Hertzens, die Räch Gottes wieder ihn gewaffnet, das Z e u g haus der Gerichten Gottes geöffnet, voll blutender Räch Pfeile vor Ihm sähe. [8/9] Er war mit höllischen Pfeilen gleichsam verwundet, so klägl. stellete Er sich! O wie seuffzete und ächzete Er gantze Nächte. Ich hätte viel zu schreiben, wenn ich den eigentlichen Zustandt und die große traurigkeit mit der Er überschattet w o r d e n nach Weitläuffigkeit erzehlen solte; Alß wir drey diesen klägl. Zustand unseres zuvor so lustigen Cameraden sahen, ließe Gott auf unser Hertz, alß durch einen Streich v o m H i m m e l einen großen Schrekken fallen, und N a h m e n unß vor durch Gottes = Gnadenbeystandt ins k ü n f f tige ein ander Leben anzustellen. U n d alß unser lieber Bruder wieder allgemählich gesundt w o r d e n war, hielten wir unß stets zusammen mit flehen und Gebeth, ermunterten unß miteinander, beklagten unser voriges Gottlose Studenten Leben; U n d waren unser Studiorum halber gantz anders gesinnet, setzten alles unser disputiren samt allen anderen Theologischen zänckischen Controversen beyseits, lasen fleißig in Gottes Wort, und andern Geistreichen Büchern die unß den Weg zu einem heiligen Leben und eifferigen C h r i s t e n t h u m vorwiesen; fingen auch an zu Trost der A r m e n nach V e r m ö g e n auszutheilen; Es waren aber unsers lieben Bruders Lucij Seelen W u n d e n noch blutendt, und w a r er noch lang in einer lebendigen E m p f i n d nus seiner Sünden und in einer großen Traurigkeit, und war also dieser unser liebe Bruder (der zuvor der Ruchloseste war) am ersten kräfftig herausgezogen u n d zu Gott bekehret; Da wir andern noch ziml. schwach waren; die wir zuvor nicht so tieff gefallen waren; also sind die letzten die ersten [9/10] und die ersten die letzten. D u r c h waß für wege aber Gott unß übrige drey geführet habe, will ich kurtz hernach beschreiben. Wir verblieben zu Genf bis zu anfang des 8bris selbigen 1689 Jahres, wir verfügten unß aber von Genf nach Losann u m b alldort zuüberwintem; U n d brachten unser Zeit im lesen und beten und guten gesprächen in der Furcht des Herren zu; N u n an diesem gesegneten O r t h fing auch Gott an an meiner Seelen kräfftig zuwürcken und den Grund zu legen zu meiner wahren Bekehrung, durch einen sehr wunderbahren Weg, welcher dahin ging, daß ich extra ordinarie m u ß t e geleutert u n d gedemüthiget werden; welches also geschähe, daß Gott mich erstl. mit Himmlischer Süßigkeit erfullete, hernach aber alles dieses mir nur nicht entzogen; sondern noch darzu mit der höchsten Traurigkeit heimsuchte. Der Anfang war also: Es ließ mir Gott einmahl, alß ich zu Losannen war im Januario 1690 (alß ich allein in meinem Musaeo war) diese mir damahl w u n d e r = und sonderbahre Begäbnis wiederfahren: Alß ich im Gebeth begriffen war, begab es sich, daß mein Hertz auf eine extraordinaire Weise gerühret wurde. Denn damals w u r d e meine Seele bestrahlet mit einem mir gantz u n g e w o h n t e n Gnadenlicht, mein Hertz w u r d e sänfftiglich aufgezogen zu Gott, und empfand wie süß u n d liebl. der Herr sey, daß ich aus E m p f i n d u n g dieses Vorgeschmackes der Himmlischen Freuden mit lautem Thränen

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geschrey also ruffte: O wann schon hier auf Erden solche Dinge geschehen, was wird dann unß im Himmel für eine Freude [10/11] und Wohlleben seyn; U n d diese kräfftige Bewegung wärete fast ein Viertheil Stunde lang; Ich wußte damahls nun nicht wie mir war; so frembd war mir dieses alles; Das wäre wohl eine süße conception, da Gott seine Gnade zuerst in meine Seele, alß den Saamen der Geistl. Geburth ausgegoßen. Aber, o Gütiger Gott! waß große Geburth Schmertzen ließest du hernach auf meine Seele fallen? Diese Begäbnis dieser herrlichen Heimsuchung hat hernach wohl bittere Früchte gebracht, wie wir hernach deutl. hören werden, wenn ich in Beschreibung unserer Reise werde fortfahren, nach aller Weitläuffigkeit. Alß wir nun noch zu End des Februar 1690 Jahres unß in der Furcht des Herren, in läßen, beten, Liebeswercken übende und einander stärckende zu Losannen beysammen wohneten und alß Brüder unß wohl begingen, brachen wir entlich bey anbrächendem Früling auf, und verreiseten von Losannen ein wenig nach Haus; Aber also balt traten wir eine andere Reise an nach Holland 8 , nahmlich Hr. Gildy und Hr. Dick und ich. Hr. Lutz aber konte wegen vielen Verhinderungen die Reise mit unß nicht antreten; sondern blieb in der Schweitz. Auf dieser Reise nach Hollandt hatte ich große Empfindungen und zerschmelzende Liebe Gottes zu unterschiedl: mahlen empfunden. Alß wir nach Franckfurt kamen, haben wir heimgesucht den seel. Hrn. Schützen 9 Jurisconsultum, der damahls eben auf seinem Todtbette läge; deßen Exempel unß sehr herrl. erquicket und auch aufgemuntert hat. [11/12] Dann wir sahen eine Augenscheinliche, ja Himmlische Fröligkeit an dieser Seelen und eine Leib und Seel durchtringende und zerschmelzende Liebe Gottes; Wir reiseten aber fort und kamen bey eingehendem Junio nach Utrecht an; So balt ich dort hin kam, segnete Gott meinen Eintrit mit einer herrl. Beute, einer nunmehr in Gottes Augen sehr herrlichen und erleuchteten Seelen. Denn so balt ich in Utrecht kam, vernahm ich, daß einer meiner bekanten Landsleuthen von Zürich aus der Schweitz gebührtig, sich auch zu Utrecht aufhielte; so balt ich dieses hörete empfand ich eine unaussprächliche Begierde mit ihm zu reden, ruhete auch nicht, bis ich ihn erfragete; sein N ä h m e ist Johan Jacob Hirzel 10 einer treffl. Familie von Zürich der zu dieser Zeit ein großer Heiliger auf Erden ist, und der sich in der Stille ohnweit von Leyden dißmahl aufhält in einem Dorff, daß da heißet Ost=Geest. So balt ich zu ihm kam, suchte ich bey ihm in eine genaue Freundschafft z u k o m men, endlich alß ich einsmahls mit ihm u m b die Stadt Utrecht spazierte, erzehlete ich ihm unser Begäbnis zu Genf, wie Hr. Luz, Hr. Gildy und Hr. Dick und ich so wunderbahr feyn aufgewecket worden ein ander leben 8 Z u r Studienreise nach Deutschland, Holland u n d England, zu der Güldin, Dick u n d S c h u m a c h e r im Frühling 1690 aufbrachen, vgl. oben S. 41-43. 9 Z u m Besuch bei J o h a n n J a k o b Schütz vgl. oben S. 41 ( A n m e r k u n g 29). 10 O b J o h a n n J a k o b Hirzel mit Hans Caspar Hirzeis (gest. 1712) f ü n f t e m Sohn identisch ist, der als Capitaine-Lieutenant in den Niederlanden diente u n d bereits 1709 unter unglücklichen U m s t ä n d e n starb (Leu X 185), m u ß hier offenbleiben.

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zufuhren, und daß dismahl unser Dessein dahin allein ginge auf dieser Reise, wie wir unß in der Gottseeligkeit und w a h r e m Christenthum übeten. Dieses faßete dieser Mensch also zu Hertzen, daß er also balt Hrn. Gildy, Hrn. Dick und mich ersuchete [12/13] wir solten ihn laßen auf unsere C a m m e r n k o m m e n , damit er sich auch möchte bey unß auferbauen, welches wir dan mit Freuden ihm zusagten: Also waren wir nun bis zu Ende des Junij zusammen; Mittler Zeit aber ward ich unpäßl. daß ich mir nicht trautte mit meinen Herren C a m m e r r a d e n Hrn. Dick undt Hrn. Gildy unsere zuvor gestellete Reiß nach Engellandt anzutreten; ließ sie also von mir ziehen und bliebe bey meinem lieben Freundt Hirtzel zu Utrecht des Vorhabens, auf unserer zwe Freunden Wiederkunfft beyeinander zuverbleiben, Wir blieben also von Anfang des Julij bis fast mitten in A u g u s t = M o n a t beysammen, diesem eintzig obliegende, daß wir möchten unser Heil würcken mit Furcht und Zittern; Ich sähe aber und merckte augenscheinlich wie dieser aufrichtige Mensch und liebe Freund Hirtzel zu n a h m in der Gnade und Erkäntnis Jesu Christi; und wie er alß ein Hirsch und Rehe auf den Scheide Bergen in vollen Sprüngen daher rente in den Wegen der Gottseeligkeit, ich sähe ihn wachsen mich aber abnehmen, sähe wiederumb wie der letzte der erste werden, und der erste der letzte, und n u n m e h r ist er ein unvergleichlicher Mensch und ein großer und in genauer Familiarität mit Gott wandelnder Heiliger und Freund Gottes, so daß ich Gott nicht gnugsam dancken kan, daß er mich hat dieser so großen Ehr gewürdiget und zu einem Instrument hat brauchen wollen diese herrliche Seele Christo Zugewinnen. Alß wir nun ohngefehr 6 Wochen lang unß in Utrecht aufhielten, änderten wir unsren Dessein und Vorhaben u m zubleiben in Hollandt und zuwarten auf die Z u r ü c k K u n f f t unserer beyden Freunde [ 13/14] die aus Engelland bis zu Ende des Decembris solten zurück k o m m e n ; und nahmen unß vor miteinander in die Schweitz zu kehren und die route durch Frießlandt auf Brehmen, von dannen mit den Kauffleuthen nach Franckfurt, und folgends in die Schweitz zu reisen miteinander. Also nahmen wir unß zwar vor, allein Gott leitete es anders, alß deßen gedancken nicht wie unsere gedancken, und seine Wege nicht wie unsere Wege; Wir reiseten zwar aus Utrecht in Frießlandt, giengen aber von Leüwarden aus, nach Wiewart zu der heiligen Societet des Hrn. Lobadien 1 1 unß dort ein paar Tage aufzuhalten, und dann unsere v o r g e n o m m e n e Reise fortzusetzen; Allein der O r t h gefiel meinem Reisgespan so w o h l daß ich ihn mit keinen Gründen konte überreden, daß er mit mir ginge; Weil ich aber gedachte, ich könte Gott an allen O r t h e n dienen in meinem Vaterlande so wohl, alß in Frießlandt, und sonderlich, weil es ziml. ungesundt dort war, so nahm ich mir vor zuverreisen, und n a h m von ihm mit großem Hertzeleyd Abschied und reisete nach Brehmen, verlaßen von allen meinen Gespanen in ein Landt, da mich Niemandt kennete; D a w a r nun der T u m m e l = P l a t z den Gott erwehlet, Bremen war der Ort, da mich 11

Jean de Labadie. Z u den Labadisten in W i e w e r t vgl. R E 3 X I 194 f.

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Gott selbst anfing zu nehmen in seine Schule 12 , in deren ich mehr gelernet, alß alle 1000 Professores und Doctores in so vielen Jahren mich hätten lehren können. O gesegnete Schul! O Glückseelige Reiß! Ich langte dort an in September 1690; meldete mich an bey Herrn Le B r u y n fuhrnehmen H a n delsmann (der ein sehr Gottliebender M a n n ist) an welchen ich aus Hollandt recommendation Schreiben von Hrn. [14/15] Zacharia Wenzel, aus dem Franckenlandt gebührtig (qui olim Studiosus erat) an ihn adressiret, mitbrachte, der sich hiermit meiner a n g e n o m m e n und mich dorten an einen feinen ort adressirte, da ich könte zu Tische gehen: Da war ich nun anfangs T a g und Nacht beschäfftiget mit d e m großen Wercke der Bekehrung. Ich befandt aber, daß ich ohngeachtet alles eigenen mitwürckens nicht f o r t r ü k kete, Alle auch die besten Vorsätze und Gelübden w u r d e n zu Wasser deßenthalben meine Seele gantz betrübt und mit großer Sorgfalt u m b und u m b u m f a n g e n war; ich förchtete, daß ich vielleicht in der Frembde möchte sterben, ehe ich meiner Seeligkeit recht versichert were; welches mir tag und nacht eine Begierde nach der wahren Bekehrung erweckete, daß ich wegen dieser großen Haupsorge der Seeligkeit alle andere Studia nebenseits setzte u n d nach dieser allein trachtete! aber ich rückte nirgendts fort; ich läse aber ohngefehr in einigen Büchern, von den so genandten Labadisten aufgesetzet, wie auch in des Cardinal Bona Principiis Vitae Christianae, und in dem dritten Theil der Send=Schreiben Hiels, darinnen ein Anhang ist von einem andern erleuchteten Mann, der in N o r d t Hollandt gelebet, welches ein recht Güldenes Werck ist, bestehend in 12 Episteln darinnen Er von der wahren Wiedergeburth gar herrlich meines geringen Bedünckens nach, geschrieben, alß ich jemahls etwas gelesen; nun in diesen Büchern, die ich mit mir auß Holland gebracht hatte, läse ich, da fand ich eine so herrliche Lection und Direction [15/16] für mich, daß ich nicht genug meinem Gott verdancken kann und diese Direction bestünde darinne: „Der Mensch so noch nicht wiedergebohren aber der von Hertzen begehrte zu derselben zugelangen solle diese G r u n d t = R e g e l n vor allen andern beobachten, nehmlich verleugnen alle seine eigene Kräffte und eigene Gerechtigkeit, erkennen, er könne nichts, und v e r m ö g e nichts, in diesem großen Werck; Gott m ü ß e den ersten Stein legen zu diesem Gebäud, der Mensch m ü ß e ruhen von seinen eigenen Wercken, und Gott durch seinen Geist in ihm würcken laßen; Er solle Gott sein Hertz alß eine leeren Taffei darreichen, daß Er darin sein Ebenbild, das in A d a m verblichen w i e d e r u m b mahle nach seiner Verheißung Hebr. 8. Jer. 31. Das ist das Testament das ich machen will etc. Ich will mein Gesetz in ihr Hertz schreiben u n d in ihren Sinn will ich es geben. O h n e diesen werde der Mensch vergeblich lauffen und rennen." Alß ich dis hin und her aus diesem Tractat gesehen, da erfreuete ich mich ob dieser Wahrheit mehr, alß wenn mir j e m a n d t einen großen Schatz gezeuget hätte; Denn ich befandt, daß ich 12 Zu Schumachers Bremer Erlebnissen vgl. oben S. 42f. und 45 f. Es ist mir bislang nicht gelungen, die von Schumacher erwähnten Herren Zacharias Wenzel und Le Bruyn zu identifizieren.

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bis dahin an diese g r o ß e M a x i m e n des C h r i s t e n t h u m s w e n i g gedacht hätte, u n d sey also kein W u n d e r , daß ich so lange Zeit keine progressen g e m a c h t in d e m w a h r e n C h r i s t e n t h u m , Ich bediente m i c h also dieses so erfreulichen G l a u b e n s = W e g e s , u n d stellete m i c h nach anleitung dieser B ü c h e r G o t t dar, daß er in m i r das Werck der B e k e h r u n g selbst wolle anfangen; Verleugnete alle m e i n e eigene K r ä f f t e ginge nicht m e h r mit W e r c k e n u m b , sondern hielte den Sabbath [16/17] welchen d a n n auch G o t t reichl. gesegnet; denn alß ich also eine Zeitlang in dieser V e r l ä u g n u n g gestanden, u n d mit sehnlicher Begierde gewartet, bis das G o t t in m i r zu w ü r c k e n anfangen w ü r d e , so hat mich G o t t endlich in seine C r e u t z = Schul a u f = u n d a n g e n o m m e n u n d das Werck der B e k e h r u n g auf eine w u n d e r b a h r e Weise in m i r angefangen, in d e m er m i c h zuerst erniedrigen wollen, ehe er m i c h erhöhete, daß er m i c h zuerst v e r w u n d e t e , ehe er mich heilen wolte. Alß ich o h n g e f e h r 6 oder 7 W o c h e n m i c h in dieser T h e o l o g i a Passiva hielte, so k a m G o t t u n d fing an auf diese Weise zu w ü r c k e n , daß er m i c h zuerst gleichsam alß mit v e r b u n d e n e n äugen d u r c h ein finstertahl der T r a u rigkeit geführet, bis er mich wieder in ein schönes Licht der Freuden gebracht, E r w o l t e m i c h gleichsam zur P f o r t e n der Höllen f u h r e n , u n d dann erst hernach zu den P f o r t e n des H i m m e l s ; u n d das geschähe auf diese Weise: Ich geriethe in diese schreckliche sorgfältige Gedancken: Ich habe wieder den Heiligen Geist gesündiget; alß Gott mich so gar o f f t fallen ließ, in M u t h w i l l i g e Sünden, da ich mit a u f g e h o b e n e r h a n d t so o f f t ex o d i o et Diabolica malitia petulanter destinatä operä contra Scientiam et C o n s c i e n tiam gesündiget odio q u o d a m directö contra D e u m ; n o n semel t a n t u m sed aliquoties, da ich m i r selbst v o r n a h m die Sünde wieder den heil. Geist zu begehen; Ich hatte auch wieder die protestirende Religion zuvor in H o l l a n d t bey einigen Leuthen geredet, u n d wieder die erkante Wahrheit des Evangelii mich gesetzet, darauf fing n u n das G e w i ß e n an zu brüllen [17/18] u n d m i c h anzuklagen der unvergeblichen Sünd in den heil: Geist. M i r k a m also balt sehr lebendig f ü r der Spruch Pauli H e b r 6. die so einmahl erleuchtet sindt u n d geschmecket haben das gütige W o r t Gottes etc. so ist u n m ü g l . daß sie solten zur B u ß e erneuert w e r d e n etc. N u n aber sagte mein G e w i ß e n Ich sey ein solcher Apostat, d a n n zu Lausannen hatte ich (wie d r o b e n gemeldet) gehabt eine herrliche Erleuchtung, ich hatte geschmeckt das gütige W o r t Gottes, u n d die K r ä f f t e der z u k ü n f f t i g e n Welt; N u n aber auf diese so herrliche in Losannen g e f u n d e n e E r l e u c h t u n g w a r ich nicht n u r gefallen, s o n d e r n gäntzlich abgefallen in d e m ich m u t h w i l l i g et elatä m a n u aus H a ß wieder G o t t gesündiget u n d auch selbst die Wahrheit des Evangelii bey einigen Leuthen in Hollandt verleugnet hatte wieder Wißen u n d G e w i ß e n , hierbey sey es n u n u n m ü g l . , daß ich wieder k ö n t e zur B u ß e erneuert w e r d e n , es sey alß nach dieser m u t h w i l l i g e n V e r l e u g n u n g der Wahrheit u n d gäntzlichem Abfall kein O p f f e r m e h r v o r h a n d e n , sondern ein schrecklich W a r t e n des Gerichts u n d Feuer-Eyffers, der m i c h W i e d e r w ä r t i g e n verzehren w e r d e . Ich b e f a n d t bey mir antecedentia peccati in Spir. Sancti illumina-

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tionem, et g u s t u m virtutum futuri Seculi; peccatum ipsum, so da bestundt in einem gäntzlichen Abfall von allem guten, in einem muthwilligen leben, und auch geschehener ungezwungenener Verleugnung der Wahrheit: C o n sequentia hujus peccati waren auch bey mir, in dem ich e m p f u n d eine gäntzliche Verhärtung und Verstockung, daß ich nicht könte [18/19] Buße thun, sondern ich war alß ein harter stein, konte auch nicht mehr beten, und hierauffing in meinem Hertzen eine gäntzliche desperation an, Gott k a m mit seinen Schrecken daher, in meinem Herzen klingete eine gantz schröckliche Stimme, mein Gewißen brüllete in mir, ich war gäntzlich überzeuget, daß die Sünde von mir sey begangen worden, ich war in einer Verzweiffelung, und doch auch zugleich in einer Verstockung und Verhärtung; ich sähe die Eitelkeit der Welt, die Schreckligkeit der Höllen, die Herrligkeit des H i m mels sehr lebendig für mir, und dennoch konte ich nicht Buße thun; sondern ich führe in meinem ungebundenen Leben fort, und war da kein aufhören; welches mich den tägl j e mehr und mehr überzeugete; daß ich diese Sünde ohne Zweiffei begangen habe, weilen der Apostel sage: Es sey u n m ü g l . daß sie können zur Buße erneuert werden: N u n empfand ich, daß ich gantz und gar nicht könte aufhören Böses zu thun und zu keiner Büß könte erneuert werden; und wäre gleich in denen Verdamten in der Höllen; die zwar Höllische Schrecken fühlen aus Empfindnis ihrer Verderbnis, und Furcht mehrerer Straffen, die sie in ewigkeit ausstehen müßen, aber bey diesen allen sind die doch gantz unempfindlich. U n d wann man mich trösten wolte, ich hätte diese unvergebliche Sünde nicht begangen, sintemahl ich Reu und Leid über dieselbe habe, welches aber nicht sein könte, wenn ich mich dieser Sünden hatte schuldig gemacht; aber ich antwortete dieses sey keine wahre Buße und sey nicht mehr, alß waß die Verdamten auch haben [19/20] sintemahl sie auch trauren und immerdar trauren, und doch unbußfertig seyn. Meine Sünden kamen mir zwar mit großen Schrecken vor, ich verfluchte mein voriges Leben, die Sünden meiner Jugend waren mir alß viel tausendt Schwerter in der Seel und doch konte ich mich nicht ändern: U n d also war ich auf Erden gleichsam in d e m Standt der Verdamten. Ich weiß mich noch zu erinnern eines kläglichen Brieffs, den ich aus Brehmen an meinen Vater geschrieben, deßen Inhalt ohngefehr dieser war: Hertzgeliebter Vater! Ich n e h m e mit diesem Brieffe Abschied von euch für i m m e r und ewig; Ich dancke euch für alle eure Liebe und Gutthaten, die ihr mir lebenslang erwiesen habet; Ich m u ß gestehen daß ihr an mir nichts erspahret und daß ihr sehr Viel an mich gewendet; allein ich m u ß euch leyd klagen, daß diese Kosten wohl übel seynd angewendet worden, und da ich anstatt euch solte ein Stab seyn in eurem Alter bin ich w o h l ein Unglückseeliger R o h r = S t a b Aegypti, der cuch euer Hertz verwundet und da ihr Freud und Ehre hoffetet an mir zu erleben, habet nichts alß Herzeleyd K u m m e r und Schmach von mir unglückseeligem Menschen zu erleben, denn ich m u ß leyd klagen und

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sagen: Ihr habt ein Kind zur Höllen gezeuget; Ja ich glaube von Anfang der Welt bis hieher sey kein elender Mensch und Unglückseeligere Creatur gewesen, [20/21 ] denn durch ein schrecklich Gerichte Gottes hat Gott mich laßen in die schreckliche und unvergebliche Sünde in den Heil. Geist fallen, so daß ich so gewiß weiß, daß ich in die Hölle fahren muß, alß ich nun auff Erden bin. Ich erwahrte nichts andres alß nun den letzten Streich seiner rachübenden Gerechtigkeit, und daß er die verfluchte Seele vom Leibe abfordere und für seinen Richterstuhl stelle; ich werde nicht mehr nach Hause kommen, und in diesem Leben werde ich euch nicht mehr sehen; daß erstemahl, daß ich euch sehen werde, wird seyn an dem letzten erschröcklichen Gerichtstage, da ich zur ewigen Schmach vor Engel und Menschen an die lincke seyte werde müßen gestellet werden, derohalben ist mein inständiges Bitten an cuch, ihr wollet doch dahin trachten, daß ihr doch nicht auch auf die lincke Seite zu eurem unglückseeligen Sohn kommen müßet. Haltet an bey dem sonst barmhertzigen Gott (aber deßen Barmherzigkeit mir nun nichts mehr angehet) daß er euch wolle bekehren, denn ohne die wahre Wieder=Geburth könnet ihr nicht in Himmel kommen; laßet euch mit keiner Schein=Gnad begnügen; wie ich mich damit betrogen habe, o, daß ich in einem Zustande wäre, daß es noch mügl. were Gnad zu erlangen; Aber mit mir ist es zu spatt, vielleicht aber läßet sich Gott an mir unglückseeligem und an meiner Straffe begnügen, und erbarmet sich vielleicht des armen [21/ 22] alten Vaters. O haltet dan an. Ich nehme hiemit nochmahlen Abschied für das letzte mahl, grüßet mir alle Freunde, und vermahnet sie daß sie sich an mir spiegeln: Euer Unglückseeliger Sohn S. Schumacher Datum in der Holl den 8bris 1690 Alß ich diesen Brieff schriebe, da war ich deßen, waß ich schriebe, so gewiß überzeuget, alß ob ich selbst in der Höllen were. O mit waß für Hertz brechender Traurigkeit war ich doch damahls befangen, ohne einige Hoffnung! welche sich umb so viel vermehrte weil ich vor Großem Kummer 1 3 mit einer Hectica Febri angegriffen, die mich bis auf die Knochen ausgezehret, und war ich alle Tage in der Meinung, ich würde selbigen Tag nicht mehr überleben, und war also 4 Monadt lang in Gefahr des zeitlichen und ewigen Todes. O des großen Schreckens! Alß ich nun zu Bremen bis in den Decembr deßelben 1690 Jahres verbliebe wurd ich den Leuthen bey denen ich logirte eine unerträgliche Last, alß die sich in einen solchen Zustandt nichts zurichten wußten, weil sie aber nirgends mit mir hin wußten, so schriebe Hr. Le Bruyn an denjenigen der mich an ihn adressiret hatte, nehml. an Hrn. Zachariam Wenzel, daß Er von Amsterdam nach Brehmen kom13

B e o b a c h t u n g e n zu Schumachers psychischer Verfassung oben S. 49 ( A n m e r k u n g 56).

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men solte, umb mich mit nach Hollandt abzuholen; denn man mich zu Bremen nicht mehr behalten wolle noch könne. Da er den balt nach Bremen kommen und mich abgeholet, alß ich nun nach Amsterdam mit Herren Wenzel gereiset, quartirte er mich ein, bey meinem alten und lieben Freundt Hirtzel, den ich bey den Labadisten gelaßen, [22/23] der aber einige Zeit hernach (weil damahls zu Wiewart für ihn kein Plaz und Gelegenheit in ihrer Societät war) sich nach Amsterdam begeben, nun bey diesem Freund verbliebe ich den Winter durch bis zu Anfang des Martij 1691. Und suchte mich dieser liebe Freundt mit allerley Trost zu unterstüzen, allein mein Hertz konte nichts annehmen, mein Hertz konte sich nicht trösten laßen; Ja wenn schon ein Engel vom Himmel kommen wäre, so hätte ich doch ihm nicht geglaubet, daß noch einige Hoffnung und Gnade übrig wäre. Ich hatte gesagt ex Gal: 3. So auch ein Engel aus dem Himmel ein ander Evangelium verkündigen würde, der sey verflucht: N u n aber hat Paulus gesagt: Hebr: 6. v. 10. daß für solche keine Gnade fürhanden; und also wenn schon ein Engel vom Himmel kommen were, so hatte ich doch nicht können getröstet werden: Ich war hiemit in großer Angst und Traurigkeit, und wenn ich zu Amsterdam herumbginge gedachte ich es seye seit der Erbauung der Stadt kein armseeligerer Mensch gewesen der Amsterdam betreten habe alß ich, ja wenn ich etwa durch die Juden=Gaße ging, gedachte ich, ach daß ich doch an dem Jüngsten Tage so glückseelig were, alß die Juden, aber unter allen Menschen diejemahls gestorben, seye ich der, der am schrecklichsten würde gestraffet werden; sähe hingegen wie mein lieber Freund Hirtzel so herrlich aufwuchs in der Gnade und Erkäntnis Jesu Christi; waß für Freude in Gott und Friede mit Gott er fühlete, wie ich hingegen verdorrete; Ich gedachteich sey ein Instrument gewesen zu seiner Bekehrung und müße ich nun selbst [23/24] aus dem Himmel geschloßen seyn, da hieß es bey mir: zwey werden auf einem Bette liegen, der eine wird angenommen, der andere wird verworffen werden. Ich verblieb bey ihm in Amsterdam wegen des strengen Winters halben bis zu Anfang des Martij, da ich dann auf Befehl meines Vaters nach Hause reisete mit Hrn. Gildy, und sobalt ich nach Basel kam empfing ich einen Brieff im Nahmen Hrn. Georgij Thormanni Pfarherren in Lützelflühe 14 , einem Dorff das 4 Stund von Bärn liegt, in diesem Brieff böte er mir sein Losament an, u m b ein Paedagog seines Sohns zu seyn, welche proposition ich auch mit großem Vergnügen angenommen und mich dorthin verfügetin dem 7br. 1691. Dis nun war der bestirnte Ort meiner andern geburth, welchen der allweise Gott erkohren hatte. Ich blieb in diesem Orth allezeit in diesem betrübten Zustande, in der völligen Conviction, daß diese Sünde von mir sey begangen worden, ich sagte auch ein gantzes Jahr meinem geliebten Herren Tormann kein einiges Wort von meinem Zustande, gedachte es sey vergebl. einigen Trost zusuchen nachdem diese Sünde sey 14

Zu Schumachers Aufenthalt bei Georg Thormann in Lützelflüh und zu seiner Bekehrung vgl. oben S. 44f. und S. 47.

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begangen worden. Ich wartete hiemit, alß ein vor Gottes Gericht verurtheilter Uebeltähter auf die erschröckliche Execution des erzürnten Richters Himmels und der Erden. Ich war unsäglich gepeiniget von dem nimmer sterbenden Sturm des Gewißens und doch ertrug ich dieses alles mit höchster Gedult und sagte niemand nichts, sondern steckte meinen Mündt in den Staub. [24/25] Ich durffte bey Gott nun nicht mehr anhalten, daß er mich solte seelig machen; sondern diese eintzige Gnade begehrte ich; daß ichkönte absterben mit Ehren, daß man nicht wüßen möchte, daß ich in die Hölle kommen were, dann ich ersorgete, ich würde mit großer Verzweiffelung dahin sterben zu großem Aergernis der ganzen Welt; ich wünschte nur daß ich noch diese einige Gunst genießen könte, daß ich nemlich in aller Stille in die Verdamnis kommen möchte. Ich sagte zwar offt bey mir selbst: O daß es doch mögl. were, daß Gott sich meiner erbarmen könte, o wie wolte ich ihn doch lieben; ich wolte gern 20tausendjahr in Sack und in der Aschen Buße thun; aber das Gewißen brüllete alß baldt, und benahm mir alle Hoffnung, daß in alle ewigkeit für mir kein Gnad vorhanden sey. Ich war also in diesem Zustandt bis auf den in diesem beyliegenden nach Brämen gesandten Brieff 15 marquirten Tag nahm!, den 18 Decembris 1692. Da Gott wieder alle meine Hoffnung mir wieder in der Finsternis und Schatten des Todes aufgegangen, mit den lieblichen Strahlen seiner Liebe, da ich nichts mehr an einige Erlösung gedachte, kam er und erlösete mich aus den großen Banden der eußersten Verzweiffelung, wie er es selbsten aus beyliegendem Brieff wird ersehen können. Aber je größer zuvor die Traurigkeit gewesen, je herrlicher [25/26] nun auch die Freud ist, so ich nun genieße; eine einige Stunde in diesem neuen Zustande versüßet alle zuvor gehabte traurigkeit, O du wunderbahrer und verborgener Gott, wie wunderbahr bist du in allen deinen Wercken, alle seine Fußstapffen trieffen von Fettigkeit, o wie wunderbahr hastu mich doch geleitet! Diß ist nur ein geringer Entwurff deßjenigen waß Gott meiner Seelen hat wiederfahren laßen, durch waß wunderbahre Wege er mich geleitet und gefuhret; Wenn ich alles hätte sollen weitläuffig beschreiben, waß sich zuvor begeben, in dem betrübten Zustand, und auch sonderl. mit waß großer Gnad Gott mich seithero angesehen, waß für wunderbahrliche Gnaden er mir bis hierher erwiesen, so hätte ich wohl ein gantz Volumen zu schreiben 16 ; welches ich auch (so der Herr Gesundheit und Leben geben wird) zu thun gesinnet bin, dieses aber kan ihm gnugsam seyn für diesesmahl, ja ich besorge ich sey ihm vielleicht nur zu weitläuffig, deßenthalben ich denn auch umb günstige Vergebung bitte. Es ist aber leucht zu erachten, daß Gott eine so große und schier unerhörte Leuterung nicht umbsonst werde fürgenommen haben; sondern, daß Gott umb anderer Seelen willen, dis große Werck an mir getahn hat; und weil Er eine reiche Ernte vorhatte, so hat er auch zuvor getreue Arbeiter rüsten wollen; Er will die Kinder Levi leutern [26/27] wie man das Golt und Silber 15 16

Vgl. dazu oben S. 44 und S. 50f. (Anmerkung 57). Mehr über Schumachers religiöse Erfahrungen nach seiner Bekehrung oben S. 47 f.

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leutert, damit sie hernach reine Speißopffer bringen mögen in Gerechtigkeit Mal. 3. Der Außgang hat es auch genugsam erwiesen: denn also baldt, innerhalb 8 tagen mußte ich in mein Vaterlandt nach Zoffingen einer Stadt im Bärner=Gebieth zu den meinigen reisen, da mir Gott eine weite Thür geöffnet, und dajetzund seyt selbiger Zeit an das Reich Christi sehr herrlich wachset und zunimt. Es starb letzl. dort eine dieser guten Seelen, auf eine so bedenckliche und erfreuliche Weise, daß ich mich nicht enthalten mag, sondern muß es en passant kürtzlich erzehlen: Sie war in ihrer langwierigen Kranckheit die über ein Jahr wehrete, mit hohen anfechtungen belägert; daß sie wünschete, daß sie doch noch vor ihrem Abschied möchte wieder erquicket werden, welches sie auch von Gott erhielte; Und begab es sich, daß 2 Tag vor ihrem Abschied aus dieser Zeitligkeit, sie in eine Himlische Freude gerieth, daß sie für Freuden frolockete, ja jauchzete und die Hände für freuden ob dem Haupt zusammen schlug und sagte: Sie müße sich gantz weiß kleiden, den sie müße an die Himmlische Hochzeit; da sie befraget wurde, waß sie bey dieser Mahlzeit thun wolte, da antwortete Sie: Ich will dort singen und Gott zu Ehren Tag und Nacht loben; Und sonderlich [27/ 28] wolle Sie diesen Englischen Gesang singen: Ehre sey Gott in der Höhe Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen: Sie sagte vor ihrem Ende: Sie habe das Heimweh nach ihrem Himlischen Vaterlandt, sie möge gleichsam der Stunde nicht erwarten, bis sie bey ihrem liebsten Braütigam Jesu anlangen werde. Sie jauchzete vor Freuden, alß man ihr den 1. und 2 Vers des 28 Psalms vorgesprochen: Hertzlich lieb hab ich dich o Herr meine Stärcke, mein Felß, daß hab ich wollen, sprach sie, und wiederholete diese 2 Vers etliche mahl, zu selbiger Zeit sähe man sie mit einem so freudigen und lieblichen Antlitz, und da man sie befragte, warumb sie einmahl so frölich wäre? da antwortete sie: Sie seye in einem so herrlichen Saal, und ruffte aus Wie zierlich schön ist doch dieser Ort, ich hätte mein Lebetag dieses nicht geglaubet, daß ein so zierlicher Ort gefunden würde; Sie befahle man solle doch den Prediger holen, daß er doch ietzund sehe, wie sie der Herr so herrl. getröstet habe und noch tröste; und ist hernach sänftiglich in dem Herrn entschlaffen. Diese hat überwunden, Gott gebe unß auch den Sieg durch unsern Herren Jesum Christum: Dis war nun eine der Seelen die mir der Herr geschencket hatte; es sind noch überdis sehr herrliche Seelen an diesem gemeldeten Ort, neml. zu Zoffingen. Ich reise auch alle Jahr 2 mahl dorthin und besuche die Pflantzen wie sie wachsen. [28/29] Nach einigen Monaten hernach nemlich in demJunio 1693 da hat mir Gott eine große Thür geöfnet in dieser Gemeind Lützelflüeh und benachbarten Gemeinden 17 , da ich anfing bekant zu werden durch eine und andere gehaltene Predigt, da Gott das Wort so reichl. gesegnet; daß sie hin und her von vielen und weit entlegenen Orten zu mir kamen zu fragen: Was sie thun 1 7 Weitere Einzelheiten über die von Schumacher in Lützelflüh und U m g e b u n g durchgeführten E r w e c k u n g s v e r s a m m l u n g e n , deren Verhältnis zum Täufertum und die gegen diese V e r s a m m l u n g e n entstandene Opposition oben S. 5 2 - 5 7 .

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solten, daß sie mögen Seelig werden; Ich wurd hin und her zu den Seelen beruffen: Ich traff offt in die 40. 50. ja 90 Personen an, Wir versamleten unß offt balt auf diesem balt auf jenem Mayer=Hoff, ich trug ihnen fuhr die Lehre des Glaubens, und wie dann dieser Glaube durch die Liebe thätig sey; ich weckte sie auf, und zeigete ihnen den großen Verfall des Christenthums, nach dem ich offt bey ihnen in einer solchen Versamlung in die 3.4. Stunden verharret und mich mit ihnen unterhalten; so fielen wir entlich auf die Knie und baten dan daß Gott dieses alles wolte in unsere Hertzen schreiben, Gott hat offt in solchen Versamlungen die Hertzen solcher Gestalten zerschmolzen, daß wir mit lautem Trähnengeschrey von einander schieden, daß ich offt vor Weinen kaum konte fort kommen und alle zuhörer mit mir, dieses ist unß offt ja fast alle mahl begegnet, dann Gott erfullete seine Verheißungen: Wo ihrer 2. oder 3. zusammen seyn in seinem Nahmen, da sey er mitten unter ihnen. O wie offt [29/30] haben wir diese süße Gegenwart Jesu in unsern Hertzen in solchen Versamlungen empfunden! Es entstund dadurch eine Hertzl. liebe unter denen Seelen, daß es zuverwundern war, sie bezeugeten, daß sie in einer einigen solchen Zusammenkunfft mehr proficiret hätten, alß offt in 1000 Predigten; sie sagten erst ietzund verstehen sie die Predigten, erst ietzund achteten sie drauf, ja es duncket sie ihre Prediger predigen gantz anders, gar viele unter diesen Seelen sind, die durch hohe anfechtungen seithero seynt geprüffet worden; welches mich wohl hertzlich erfreuet; ich bin auch in benachbarthe Gemeinden beruffen worden; da offt von 2-3 Gemeinden Leuthe zusammen kamen. Dieses hat schon fast ein gantzesjahr gewähret. Aber der Teuffei ruhete nicht, und ließ vor drey Monaten eine große Attaque thun wieder mich, die Prediger in der Nachbahrschafft fingen an sich wieder mich aufzumachen, die Landt Vögte desselbigen gleichen, sie predigten von falschen Propheten die in Schaffskleidern kämen, inwendig aber reißende Wölffe seyn; Sie Predigten von denen die in die Haüser schleichen, und die armen Weiblein gefangen nehmen; man gab alle Anstalt, so ich eine solche Versamlung betreten würde, daß mich ein Landsvogt wolte gefangen auf sein Schloß führen. Man kam und warnete den lieben Herrn Tormann, meinen geliebten Kostherrn, er solle mir bedeuten, daß ich mich desen gäntzl. entschlüge. Diß seyn Winckel Predigten, Wiedertäufferische Versamlungen, die Seelen wurden auch verspottet [30/31] und sagten die Ismaelitischen Spötter: diese ist wiedergebohren, und diese auch etc. Andere sagten sie sindt taub und unsinnig etc. Ich gedachte ich würde hiermit müßen mein Talent in die Erde vergraben, den alle diese Versamlungen wurden mir verboten, dennoch aber kamen die Seelen deßen ohngeachtet zu mir, aber nicht in großer Mänge wie vorher; sondern offt 3. offt 4. offt mehr; ja es wachset je länger je mehr, in dem allezeit neue sich bey mir anmelden, die ich zuvor noch niemahl gekannt habe, die mich ersuchen, ich solle mich ihrer armen Seelen annehmen; so daß auf diese Weise das Werck des Herren immer wachset, und hilfft hier alles Wehren nichts; und wenn ich 191

offt gedacht: itzt werde es alles aufhören, so brach es gewaltig an einem andern Ort aus. Unsere Worte bestehen nicht in Worten, sondern in der Krafft, und wenn Gott seine Diener sendet, so kommen sie mit reichem Seegen zurück. N u n in dieser gegend stehe ich schon eine Zeitlang alß auf einem gesegneten Posten zu Heil und Trost vieler Seelen, und bin auch in einer sehr gesegneten Haushaltung, nehmlich unsers lieben Herrn Tormanns, die da mehr eine Hauskirche 18 alß eine Haushaltung zu nennen ist, sintemahl so viel gute Seelen sich in diesem Hause beysammen finden; Denn der Hr. ein Exemplar eines frommen Dieners Jesu Christi ist, voll Liebe und Sanfftmuth und Demuth. Seine Ehegeliebte ist auch eine in Christo geliebte Schwester, [3i/32] die von Paris gebührtig, eine rechte Mutter der Armen, Vertriebenen und Bedrängeten, die schon viel Jahr im Stande der Gnaden gewesen und herrliche Gaben besitzet; es ist auch 2. Monat nach mir eine Französische Weibsperson (so sich schon 7 Jahr hier in Luzelflüeh bey Hrn. Tormann aufgehalten) in einen seeligen Zustand gerathen; nachdem mich Gott auf eine so kräfftige Weise aus der Finsternis an sein Licht gebracht und ich anfing die großen Tahten Gottes zuerzehlen, so bewegte Gott dadurch ihr Hertz solcher Gestalt, daß sie zu anfang des Februarii 1693 mit hoher Hand aus ihrem Nathürlichen Zustand hinübergebracht worden in das Reich der Gnaden zu unser aller Verwunderung und Erstaunung; denn sie kam in einen hohen Grad der Gnade; sie ist solcher gestalten in einer süßen Familiarität mit ihrem Heylande jesu, daß ich wohl ein gantzes Buch von ihr zuschreiben hätte; Sie heißet Madame la Valette gebührtig aus Vivarer 19 ; Unsere Magd ist auch eine durch Gottes Krafft herrl. erleuchtete und wiedergebohrene Seel; wir haben auch einen Knecht den unß die Fürsehung Gottes Wunderbahr zukommen laßen; Vor einem Jahr da er kam alß ein Bettler und begehrete bey unß eine Nachtherberge, in dem wir ihn an der Mahlzeit hatten gefiehl er unß sehr wohl, daß ihn der Hr. ad tempus zu einem Knechte annahm. Alß er aber kaum 6 Wochen bey unß wohnete und auch die kräfftige Mittel des Heils und eyfferige Predigten hörete, so rührete und öffnete ihm Gott sein Hertz, er fiel in eine tieffe Traurigkeit, und kam in große Seelen Aengsten, [32/33] und meinete es sey mit ihm getahn; wenn er solte die offen einheitzen, so war er in seinen Gedancken schon in der Holl, Gott aber hat ihn wiederumb reichlich getröstet, ist ein Mensch voll Liebe und Demuth und Sanftmuth; und in Summa der umbgekehret und worden wie ein Kind. Es hat sich Gott auch nicht unbezeuget gelaßen an Hrn. Tormanns Söhnlein, dan 7 Tage vor meiner Gnadenreichen Erleuchtung 18

Z u m Begriff Hauskirche vgl. oben 34 f. Z u der unter dem Druck der Religionspolitik Ludwigs XIV. im Vivarais entstandenen Inspirationsbewegung vgl. Robert P. Gagg, Kirche im Feuer. Das Leben der südfranzösischen Hugenottenkirche nach dem Todesurteil durch Ludwig XIV., Zürich/Stuttgart 1961, 55-77 und 81-94. Folgt man Schumachers Angaben, dann dürfte Madame la Valette 1688 oder 1689 in die Schweiz geflohen sein. Da über sie nichts Weiteres bekannt ist, muß auch offenbleiben, ob sie mit dem in der Inspirationsbewegung bekannten Propheten Louis Valette in Verbindung stand. 19

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nahmlich den 11 Decembr 1692 hat sich dieses mit ihm zugetragen; Es erklärete Hr. Tormann damahls ex Math. 3. v 12. In der Predigt wurde dieser junge Knabe solcher Gestalt touchirt, daß er in ein groß Schrecken und Angst fiel, und alß er nach Hause kam, ging er zu seiner Frau Mutter und weinete und schrie: O Mama ich bin auch mit unter die spreuen, ich werd auch mit unauslöschlichem Feuer verloren werden, denn ich habe seythero nichts anders alß Gott erzürnet; o wie ist mir doch zuhelffen, wie soll ich es anfangen, Gantze Ströme von Thränen flößen herab, er wolte selbigen Tag bis in die späte nacht nichts eßen; seine Eltern stehen ihm vor, Jesum den Gnaden=Thron und Fürsprecher bey dem Vater, den er auch mit großer Begierde ergriff. Und also habe ich wohl große Ursach Gott zu dancken der mich hierher in dieses gesegnete Haus gebracht hat, und da in einem einigen Hause so viel seiner Kinder läßet beysammen wohnen. O gesegnete Lufft, da das Oel und der Balsam von dem Haupt Aaronis herabfließet, und unsere Hertzen [33/34] mit dem Geruch der Liebe durchräuchert: Ich freue mich hier zu bleiben, bis es dem Großen Ertz=Hirten der Schaffe gefallen wird mich einer Gemeinde zum Hirten vorzustellen. Ich habe aber vorhero verheißen, ich wolte auch meiner Reis=Gespane Historie beschreiben, nachdem ich nun weitläuffig meinen Zustandt in diesem Brieff, wie auch im beyliegenden manifest 20 ihm deutlich vorgestellet habe; So viel mir nun im Wißen, will ich auch von ihnen melden, und zwar hätte ich viel zu melden: Erstl. von meinem lieben Bruder Christophoro Lucio 21 den Gott alß einen auserwehlten Rüstzeug in unsern Landen ausgezieret mit extraordinairen Gaben und Gnaden. Alß Hr. Güldi, Hr. Dick und ich in Hollandt waren ward zu Bärn seine Disputation gehalten pro Cathedra Hebraico-Catechetica, da dieser unser liebe Bruder sich so extraordinarie wohl gehalten, daß er vor allen aus, den Preiß erhalten, und weil man einen Aelteren der sich auch wohl gehalten zum Professor erwehlete, so gäbe man unserm lieben Bruder zum recompens 200. Reichsthaler, daß er eine Reise ad Academias thäte, welche er auch gethan, und ist er aus Holland auch nach Hamburg gereiset, da er den Herrn Horbium besuchet, und nach Berlin, da er auch mit dem sehr frommen und berühmten Hrn. D. Spener geredet, und mit Herren Kirch und vielen andern guten frommen Seelen; dadurch er wohl erquicket worden. In dem er aber reisete, und nach dem er wiederumb nach Hause kam, war er noch in großer Traurigkeit, und hatte viel zu streuten und zu kämpffen, allein Gott hat ihm entl. wohl aufgeholffen, daß er nun im Glauben stehet, wachset und wurtzelt [34/35] alß ein Baum gepflanzet an den Waßerbächen; Nach dem er nun in der Gnade selbst wohl bevestiget, so ließ Gott ihn vor einem Jahr in der Stadt Bärn in der Spitthal=Kirch zu einem Prediger erwehlen, da ihm nicht ohne sonderbahre Fürsehung Gottes 20

Damit ist Schumachers nach Bremen gerichteter Brief gemeint, vgl. Anmerkung 15. Z u Christoph Lutz vgl. oben S. 43 (Studienreise) und S. 62-65 (Wirksamkeit an der Spitalkirche in Bern). 21

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ein anderer Mit-Arbeiter gegeben worden mit Nahmen Jacob Dachs, der auch gute Anfänge hat in der wahren Gottseeligkeit, diese 2 Studiosi predigten mit solcher Krafft und Nachdruck, daß ihr Lob durch das gantze Landt erschollen, und bekamen einen solchen Zulauf von Leuthen, daß man letzl. die Spitthai=Kirche um ein merckliches erweitern müßen, wegen großer Menge des Volcks, das nicht mehr in die Kirche herein mochte; die Fürnemsten Leuthe in der Stadt gehen ordinarie dahin selbsten von den äußersten Orten der Stadt; sonderlich finden sich dort gantz geflißen ein die Seelen, so einen Schmack von der wahren Wiedergeburth empfangen, sie trieben das Werck des Herrn mit gesamter Handt, sie predigten herlich von dem Verfall des Christenthums, Verleugnung sein selbst, den Glauben an Christum. Die Zahl der Gläubigen wachset sehr in Bärn zu unser aller großen Freude und Vergnügung; U n d wenn ich nach Bärn offt reise, so finde ich allezeit neue Exempel, Ich fuge hier bey einen kurzen extrait aus einem Brieffe den mir mein 1. Freund Lucius vor etwaß Zeit geschrieben. „Inzwischen bezeuget sich der Herr mit seinem Wort bey vielen jeniehr und mehr: Es kommen Leuth von N . N. (welches auf die 3 Stunden von Bärn lieget) anhero. Ich kan nicht unterlaßen die [35/36] Wunderbahre hohe Gnade Gottes zu preisen an einer armen Magdt, welche seyt einem halben Jahr mit schnellen Adlers = Flügeln ob sich fähret dem Himmel zu, sonderl. aber seyt den zwey Predigten, die ich unwürdiger gehalten über Rom 7. v. 4.5.6. De Spirituali conjugio Christi cum anima Fideli. Sie sagt durch die erste habe sie eine solche Begierde nach ihrem Heylande bekomen, daß sie gleich der Braut kranck worden vor Liebe auch dem Leibe nach. Durch die zweyte aber sey sie so innig mit ihrem Bräutigam vereiniget worden, daß sie keine Ruhe habe bis sie ihn vollkommen besitze: Sie hat aber zuvor eine hohe Probe ausgestanden, da ihr vorkommen, wann sie ihren Herrn Jesum wolle vollkomlich besitzen, so müße sie ihre Seele und seeligkeit verliehren, und also habe sie sich gantz in ihren Heyland versenckt alß verlohren, wie einer der ins Meer fället und keinen Grund siehet. Seythero ist sie so kranck gewesen vor brennender Liebe und Begierde ihren Heyland vollkommen zugenießen, daß sie einen gantzen Tag in großer Hitze und Schweis gelegen, da sie vor und nach gantz gesundt und lebhafft war und ist; sie sagt: sie sehe ihren Jesum in seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit und darumb könne sie nicht ruhen, bis sie ihn also besitze. Sie wünschet daß Jesus also in ihr lebe, daß auch ihr natürliches Leben gantz verschlungen worden, Sie begehret keine Freude noch Empfindnis, da sich die natur daran belustigen könne. Sie habe Jesum bey sich selbst im Glauben, Sie frage nichts nach dem Himmel, und habe keine Furcht für der Hölle: Sie begehr nur, daß Sie gantz in dem Willen Gottes seye, und verlange keinen andern Himmel. [36/37] Diese Magd ist sehr einfältig, O wundersamer Gott, wie herrl. bistu in den Kleinen, billich mögen wir sagen: Ich dancke dir Vater und Herr Himmels und der Erden, das du diese Dinge verborgen hast den Weisen etc. Im übrigen dancke auch Gott für mich, daß der Herr mein Licht ist und mein 194

Heil, meine Krafft und meine Stärcke, in meinem öffentlichen und besonderen Beruff." Hactenus ille. Er hat mir auch ein herrliches Exempel von einem Knaben von 8 oder 9 Jahren geschrieben, welchen Gott schon durch eine so hohe Probe geflihret mit solchen Umständen, daß ich mich sehr wundern muß. Ein Knab 22 (des N. N. Herrn Söhnlein) hat stäts eine große Lust zu Gottes Wort bezeuget, und ging aus eigenem Triebe (oder viel mehr aus trieb des Heil. Geistes) ohne Wißen seiner Eltern in die Predigten die wir hielten in unserer Spittahl=Kirche, konte auch selbige summarisch wiederholen. Seine Eltern aber aus Furcht, der Knabe möchte sich bey diesem Alter allzuvest in diesen Sachen vertieffen, fingen an ihm zu wehren, er solle nicht also offt in diese Predigten gehen. Aber er bäte man solte ihme doch dieses vergönnen, er würde sich sonst an Gott versündigen. Einsmahls an einem Abend fragte Er seine Mutter viel von den Anfechtungen und dem großen Leiden des geduldigen Mannes Jobi und fiel darauf in eine solche Angst und Bekümmernis daß er zitterte und der Schweis an ihm ausbrach, sagte immerdar: Es sey keine Hoffnung für ihn vorhanden, konte auch alle Trost=Sprüche, so ihm vorgehalten wurden, wiederlegen, sagende: daß gehe ihn alles nicht an, [37/38] er sey ein viel zu großer Sünder, er habe viel zu lange gewartet etc. Das werete eine gute halbe=Stunde lang, daß er in diesen großen Aengsten lag; Nach dem aber ging gähling in seinem Hertzen eine große Freude an, änderte sich plötzlich sagte mit frölichem Angesicht voller Freuden: O Mutter ich bin erlöset! Und alß er gefragt; warumb er itzo anders rede alß zuvor, sprach Er: Ich habe in meinem Hertzen diese Stimme gehöret: Du bist gesegnet, du bist gesegnet, falt drauf auf die Knie und betet und dancket von sich selbst wohl eine halbe Stunde lang, Von derselbigen Stunde an verspührete man in seinem Lebwesen eine gantz andere conduite; schaffete ab alle seine kindische Divertissement; 3 Wochen hernach fiel er in eine schwere Kranckheit und begehret also balt, daß man mich holen solte. Alß ich käme, so fragte ich ihn ob er gern sterben wolte. R. ja ich mag schier nicht warten bis mein Heyland komt. Q. Bistu aber nicht ein großer Sünder, wie darffstu dan vor Gott erscheinen, furchtest du dich den nicht für seinem Zorn? Wohl, aber mein Heyland ist für mich gestorben Er hat für mich genug getahn. Q. Wie weißtu daß er für dich gestorben ist R. Er ist für alle Gläubigen gestorben; und wiewohl ich ein armer Sünder bin, so ist er kommen die Sünder seelig zu machen. Ich sprach, so übergib dich hiemit diesem Heylande; Begehrest du dich Ihm also zuüberlieffern und aufzuopffern. R. ja ich wünsche nichts mehr alß ihn zulieben. Q. Aber fürchtest du den Todt nicht! R. Nein. Q. reuet dich nichts auf der Welt? R. nein es ist doch alles nur Eitelkeit. Q . Solte es aber deine Eltern nicht gereüen, wann du sie also 22

Über diesen Knaben ist weiter nichts bekannt. Es ist aber angesichts dieses Beispiels (man vergleiche dazu das, was Schumacher im vorliegenden Brief 33 über Georg Thormanns Sohn zu berichten weiß) nicht unverständlich, wenn ein Teil der Pfarrerschaft gegen den Pietismus Bedenken hegte. Diese entsprangen auch pastoraler Verantwortung.

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verlaßen wirst? [38/39] R. Es soll sie vielmehr erfreuen, wenn sie ein Kind im H i m m e l haben. Q . w a r u m b wünschest du zu sterben? R. damit ich aufhöre zusündigen, ich thue doch hier gar offt sündigen. Q . W a r u m b wilstu so gern in H i m m e l , oder waß ist im Himmel? R. Die Liebe, denn Gott ist die Liebe, hucusque ille. Das Reich Christi bricht mächtig zu Bärn auf; plura adhuc allegare possem. Waß unsern lieben Bruder Guldium 2 3 betrifft, so ist derselbe schon vor 2 Jahr Pfarrherr worden, in einer kleinen, doch herrlichen Gemeinde, da Gott seinen Dienst so herlich mit reichem Seegen begleitet, daß er Gott nicht gnugsam dancken kan, Er bezeugete unß vor einigen Tagen, er sehe das Reich Christi augenscheinlich wachsen: Einsmahls an einem Bettag, alß er so kräfftig geprediget, stunde seine gantze Gemeinde auf, und weineten alle Z u h ö r e r in der Kirchen, eine einfaltige f r o m m e Weibsperson stunde auf, und verhieße mit lauter Stimme vor der gantzen Gemeinde: Sie wolle dem Herren Jesu anhangen, und gäbe i h m das ja Wort. Sein Gerücht breitet sich, alß ein liebliches Balsam in allen benachtbarten Gemeinden aus, und k o m m e n von vielen O r t e n her die Leuthe ihn zu hören: Er ist in einer großen D e m u t h , und achtet sich u n w ü r d i g (wiewohl er ein sehr Gelehrter und f r o m m e r M a n n ist) daß er Prediger seye; Er hat sehr hohe Proben seyt 2 Jahren ausgestanden; Er war so gar verlegen, daß er sagen konte mit Job: Gott hat mich niedergedruckt, und hat sein Garn u m b mich her gespannet, Er hat meinen Weg verzäunet, und hat Finsternis auf [39/40] meine Steige geleget. U n d mit David: Deine Fluthen rauschen daher, daß hie eine tieffe und da eine tieffe brausen; alle deine Waßerwogen gehen über mich etc. Der Herr wolte diesen Sohn Levi auch läutern, wie m a n das Gold und Silber läutert, daß er ein reines Speiß O p f f e r bringen m ö g e . Er hat aber vor etwaß Zeit durch einen Tractat meines Herren Hospitis ein großes Licht und Milderung empfunden, da er die Materie v o m Glauben sehr deutlich verhandelt funde in selbigem Tractat. Er ist in einer solchen D e m u t h gestanden, daß er offt in einem Zweiffei gestanden, ob er seinen Dienst wolte aufgeben, Es ist diese T u g e n d der D e m u t h desto w u n derbahrlicher und herrlicher an ihm, weil von N a t u r sein Vitium praedominans ein unerträglicher H o c h m u t h gewesen, Allein Gnade ü b e r w u n d e die N a t u r verwunderlich, und ist er nun ein Demüthiges Lam worden; U n d dannen hero auch Gott der den Demüthigen Gnade giebt seinen Dienst reichl. gesegnet. Er besuchet seine Z u h ö r e r von Haus zu Haus, sondirt ihren Seelen Zustand: Gott sey gelobet für seine Große Gnade. Vor den Heil. Zeiten da m a n communiciren will, gehet er zuvor durch die gantze Gemeinde u n d redet mit seinen Zuhörern, wie sie sich befinden, und rahtet den einen und andern, sie sollen nicht k o m m e n , w e n n er siehet ihren gefährlichen Standt, andere aber frischet er an, daß sie k o m m e n sollen, welches eine tieffe impression in den Hertzen der Z u h ö r e r machen kan, es ist aber eine zimlich u n w e h r t e Arbeit. [40/41] Der 4te auß uns H r . Samuel Dick 2 4 ist vor 23 24

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Z u Samuel Güldins Wirken in Stettlen vgl. oben S. 57-60. Z u Samuel Dicks Tätigkeit in Spiez vgl. oben S. 65.

a n d e r = h a l b Jahren auch einer Gemeinde fürgesetzet worden. Alß Er derselben Gemeinde praesentiret wurde, lüde er des folgenden Tages eine trouppe Hauß = A r m e in sein Haus, gab ihnen eine Mahlzeit für den Leib und auch für die Seele; unterwiese sie in wehrender Mahlzeit, und discurirte mit ihnen, da dann Gott sein Hertz mit solcher Liebe zerschmolzen, daß er von ihnen m u ß t e einen Abtrit nehmen und seine trähnen=volle Augen und Hertz vor Gott in seiner K a m m e r ausschütten; welches in der Gemeinde also balt eine große Liebe erwecket hat und alß ein lieblicher Geruch sich ausgebreitet in den benachtbahrten Gemeinden: Es segnet Gott seinen Dienst sehr herrl.; Alß er zuerst in seine Gemeinde k a m und so herrlich die N o t h w e n d i g k e i t und N a t h u r der Wahren Wiedergeburth vorgestellet hatte; so begab es sich, daß sehr viel seiner Z u h ö r e r wolten zu der W i e d e r = T a ü f f e r Sect treten, weil sie meineten, w e n n sie wolten seelig werden, so werden sie m ü ß e n Wieder= T a ü f f e r werden, weil unter d e m großen Hauffen eine solche große Verderbnis sey; Alß er sie aber eines andern berichtet, so hat er nun eine schöne Anzahl f r o m m e r Seelen; Es ist auch ein gutes Zeugnis daß sein Wort kräfftig sey, weil eine und andere ruchlose Welt Kinder ihme haben bedeuten laßen; daß w e n n er nicht werde aufhören so scharff predigen, so wollen sie in andern benachtbarten Orten die Predigten anhören, und seine Gemeinde verlaßen. Er stellet auch die privat Besuchungen an, [41/42] und findet einen herrlichen N u t z e n dabey. Also hat es hiemit Gott belieben wollen, aus diesen so kleinen und geringen ja kindischen Anfängen zu Genf bis anjezo eine so große E r w e c k u n g und r e m ü e m e n t anzustellen; aus dem M u n d e dieser u n m ü n d i g e n ihme eine Macht zuzubereiten. N u r seit diesen 5 Jahren daher w a ß für große Veränderungen sind bey mir vorgegangen? Also wird ein jeglicher meiner Gespanen sagen m ü ß e n von sich; U n d diese Veränderungen sind auch sonsten sehr ausgebrochen hin und her in unserm Lande. Das ist n u n eine Beschreibung desjenigen, waß Gott mit unß 4 Reis=Gespanen so unverhofft v o r g e n o m m e n hat. Es hat aber Gott (neben vielen die unß vieleicht unbekandt sind) noch viel andere erwecket; Es ist durch die gesegnete Reise des H e r r n Lucii ein anderer N a h m e n s Bachmann 2 5 auch auffgewecket, kräfftig erleuchtet und zu Gott bekehret worden, der n u n m e h r o in einem großen u n d starcken Glauben stehet und der für einem Jahr auch einer Gemeinde ist vorgestellet worden; der hat auch die Hausbesuchungen in seiner Gemeinde angestellet. Es ist auch noch ein Ander mit N a h m e n A b r a h a m Fueter 2 6 Candidatus Ministerii, der wohl ein Jüngling in Christo mag genennet werden, der durch scharffe inwendige und auswendige P r o ben ist gelaütert worden; Aber nun in einer hohen Staffel der Gnade und des Glaubens stehet, u n d der alß ein lieblicher Lerch und Nachtigall andere zu loben und zu dancken i m m e r aufmuntert, der alß eine Rose von Liebe trieffet und das Leben des Lobes lebet hier in dieser Zeit. [42/43] Es thun sich auch viel j u n g e Studiosi herfür; der Anlaß war dieser. V o r ohngefehr 6 Monaten 25 26

Nikolaus Bachmann wirkte seit 1693 als Pfarrer in Koppigen. Zu Abraham Fueter vgl. oben S. 85 (Anmerkung 39).

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ward ich in meiner Seele sonderbahr angetrieben zu beten, daß Gott auch nach unß solche treue Lehrer wolte ausstoßen in seine Ernte, Ich bat also sehr offt durch Gottes Krafft, daß doch Gott auch aus den j u n g e n Studiosis wolle eine u n d andere erwecken, u n d balt darauf reisete ich anderer Geschafften halben nach Bärn, und alß ich einsmahls die Stadt herab ging folgete mir auf d e m Fuß nach ein j u n g e r Studiosus, den ich nicht kante; und niemhal kein W o r t mit ihm geredet, Dieser bäte mich u m b instruction; wie er es doch machen solte; w e n n er ja wolle heil und seelig werden; Waß ich ihme gerathen, hat er mit großen Freuden a n g e n o m m e n . Weiter hatte ich auch einen andern Studiosum der mir zuvor unbekant u m b anderer Sachen angeredet; n a h m aber sur le champ Anlaß auch ihn anzusprechen von dem Zustand seiner Seelen, von der wahren Wiedergeburth, dem Glauben an Christum, welches diesen Menschen so afficirte daß er also balt mit 3 seiner andern Cameraden redete, und diese wieder mit andern, daß Gott damahls mein w i e w o h l schwaches Gebet reichl. erhöret, Diese halten nun zusammen, ermuntern sich in dem Herrn, und trachten nach diesem einigen N o t h w e n d i g e n , sind sehr eifferig in diesem hohen Studio, und laßen sich nicht wirr machen von den andern Studiosis, die Sie deßenthalben schon haßen, verachten u n d verfolgen; Es [43/44] ist auch noch ein ander Studiosus, Lucius 27 , der allem Ansehen nach ein herrliches Instrument in seiner lieben Kirchen werden wird: Diß ist nun der Zustand in unser B ä r n e r = G e biet. Es ist ja zu m u t h m a ß e n , daß eine große Ernte anfange weiß zu werden und reiffe, weilen Gott in dem Geistlichen=stand so viel Arbeiter und Schnitter gerüstet hat. Z u Zürich 2 8 einem andern Evangelischen C a n t o n o hat Gott auch schon einige herrliche Seelen erwecket, die schon eine Zeit lang in einem guten Gnadenstand sich befunden: Gott hat auch sonderl. dort 2 treffl. Diener gestellet, die in einer Kirche dienen, der eine Pfarrherr, der j ü n g e r e Bruder Diaconus, die einen großen Applausum in gantz Zürich haben; der eine hat erst kürzl. ein Collegium Pietatis angestellet. Z u Basel hat Gott gestellet einen j u n g e n herrlichen Prediger Friedrich Battier 2 9 , der mit letztl. also schriebe unter anderem. „Daß ihr das Predigt A m t so schwer findet, nimt mich nicht wunder, mir wird es von Tage zu Tage schwerer u n d seuffze ich tägl über meine Schwachheit, daß ich selbiges nicht mit solchem Nachdruck, Eyffer und ernst verrichte, alß w o h l seyn solte, hoffe aber zu Gott, Er werde mich j e mehr und m e h r stärcken und tröste mich damit, daß in meiner Schwachheit schon viel Nutzen geschaffet durch seine Gnad, und manche Seele, so in Finsternis gestecket durch meinen Dienst ist erleuchtet und bekehret w o r d e n . " So daß auch in Basel 27 Samuel Lutz, dem die später erfolgte Integration des Pietismus in die bernische Landeskirche vor allem zu verdanken ist. Vgl. über ihn oben S. 124f. und 127-129. 28 Z u m Pietismus in Zürich vgl. oben S. 121-123. 29 Friedrich Battier (1659-1722), bedeutender Hebraist und Pfarrer zu St. Alban. Leu II 277279.

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Gott eine Kerze angezündet. Es ist zu Basel auch eine herrliche Weibes Person [44/45] genant Ursula Werdenmännin 3 0 , so ein schön Buch hat laßen ausgehen von den Anfechtungen und auch Göttlichen Vertröstungen aus eigener Erfahrung. Z u Schaffhausen hat Gott seine Zelten auch ausgespannet; es ist vor z w o Jahren dort ein j u n g e r Prediger gestorben in dem 35 Jahr seines Alters N a h m e n s Leonhard Huber 3 1 , der ein herrlicher M a n n war, und sehr viel Seelen aufgewecket hat, Er hat auch Collegia Pietatis gehalten in seinem Hause; wie kräfftig sein Dienst gewesen hab ich vor 3 Monatten selbst gesehen; da ich die Gläubige dort besuchet, die durch seinen Dienst zu Gott sind gezogen w o r d e n , unter welchen auch unterschiedliche A d e l s = P e r s o nen sind; Es hat sich in seinem Todtbette ein sehr bedencklicher Casus mit ihm zugetragen: N e m l . daß er in eine Ecstasin gefallen die fast einen gantzen T a g gewehret, so daß er mit keinen auch starcken Spiritib. aus der Apotec. so i h m unter die Nase gehalten worden, noch auch durch andere Mittel, alß Blattern ziehen, noch auch durch ruffen und schreien nicht können erwecket werden; Entlich aber k a m er zu sich selbst gähling, und befahle man solle doch Tinte u. Feder holen, und aufzeichnen waß er gesehen und erfahren habe; und sprach: Er sey seithero in d e m H i m m e l gewesen mit seinem Geist; vor die H i m m e l s = T h ü r seyen mit ihm [45/46] 3 Seelen angelanget (derjenigen die damahls erst gestorben, theils aber todt kranck waren) diese 3 Seelen seyend recta in den H i m m e l hineingegangen, J h m e aber sey befohlen w o r den still zustehen, und vor der T h ü r zuwarten; denn er habe nicht nur für sich; sondern für seine Gantze Gemeinde Rechenschafft zu geben; die andern haben für sich selbsten zu antworten; Er aber für sich u n d die gantze Gemeinde, w o r a u f er bezeuget, daß ein sehr großer Schrecken auf ihn gefallen; ut putaverit se ad T a r t a r u m c o n d e m n a t u m esse, alß der Richter eine so genaue und scharffe Rechnung forderte; dennoch aber sey ihm auch entlich erlaubet w o r d e n hinein zugehen: Worauf er balt hernach gestorben; Er hat sehr viel gute Seelen von h o h e m und niedrigem Stand hinterlaßen; in seine Arbeit ist ein ander Hr. N a h m e n s Martin Mayer 3 2 getreten, der ein aufrichtiger f r o m m e r M a n n ist und der des seel. Herrn Hubers bester Freund gewesen ist. Also habe ich i h m den Zustand des Reichs Christi in unserm Schweitzerland eröfnet; zu d e m End, damit Er und andere Gläubige bey i h m Gott hertzl. dancken, für seine große Gnade, die er den Kindern des N e u e n Testaments läßet wiederfahren zu diesen Zeiten, und daß das Reich Christi hin u n d her so wunderlich wachset; zugleich aber damit sie doch alle den Herren bäten und i h m keine Ruhe laßen, bis daß Er Jersusalem [46/47] setze z u m Preiße auf Erden; U n d daß sie auch für fernere progressen der christlichen Waffen wieder unsern Erbfeind den Teuffei und sein Reich anhalten; 30

Uber sie habe ich bislang nichts Näheres in Erfahrung bringen können. Leonhard Huber, seit 1690 Diakon zu St. Johann. Leu X 341. 32 Johann Martin Meyer (1662-1742), 1692 Abendprediger am Münster, später Pfarrer daselbst, Verfasser zahlreicher theologischer Schriften. 31

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diß ist meine sehnliche Bitte an sie und insonderheit an ihn meinen H o c h werten Freund, daß er für die Gläubigen in unserm Lande bäte, denn sie in kurzem gar schnell gewachsen, und an allen O r t e n auszubrechen scheinen. Ich hoffe auf einen so weitläuffigen Brieff und auf diese g e n o m m e n e M ü h e w a l t u n g werde ich ohne Zweiffei so glückl. seyn, daß er mir auch werde zuschreiben und notificiren die Beschaffenheit der Gläubigen in dem O r t , da er sich befindet. Ich bitte so er mir will zuschreiben, daß er es nur an Herr Morell 3 3 (der bey ihre Fürstl. Gnaden den Graffen zu Schwarzburg sich befindet, und meines Behalts zu Arnstatt wohnet) wolle senden, so wird er es dann schon an mich übermachen. Ich habe ihn noch z u m Beschluß mit diesem Dienst unterthänigst ersuchen wollen, welches auch viel andere meiner Mitgespanen wünschen, daß Er nemlich doch wolte eine der Kirchen sehr nützl. Arbeit unterfangen, neml. ein Lexicon 3 4 zu componiren oder aber sonsten den Capitteln des N e u e n Testaments nach vorzustellen die Emphases Phrasium N . T. welches einem Prediger sehr n o t h w e n d i g und nützl. were, alß zum Exempel das W o r t JiXriQOcpoQia quod plenam phrasionem seu fiduciam notat, w o v o n [47/48] Coccejus eine herrliche Emphasin zeuget, daß es eine Gleichniß sey desumpta a nave, qua plenis et expansis velis ad p o r t u m fertur, sie fides pleno corde et expansis quasi velis ad p o r t u m Salutis defertur. Sic: 1 Petr. 1.5. xcwg ev öuvd^iEL 0eo"D cpQOUQOimevoug in quo vocabulo qpQ0UQ0U[iEV0'ug egregia Emphasis a Praesidio Urbis desumta latet, Wann hiemit ein solches Werck fürhanden wäre, so w ü r d e dieses einen sehr großen N u t z e n verursachen denen Predigern; Also were auch in eben diesem Werck von N ö t h e n offt die propriam significationem Vocabulorum aus dem Fundament zu erklären, ne in Verbis S. Sancti Tautologia appareat [ . . . ] in Epist. ad Gall. 5 v. 20 oporteret probe explicare quod proprie in quovis h o r u m vocabulorum lateret: e^Ooai, EQEIC;, £fjXoi, ih3|xoi, eoifteiai etc. Sic in descriptione charitatis 1 Cor. 13. Ich habe schon bey vielen Herren hin und her mich erkundigen wollen, ob ein solches opus vorhanden were, hat aber niemand nichts sagen können; w a n n er aber ein solches O p u s wüßte, so bitte er wolle unß selbiges zuwißen thun, wenn er aber keines wüßte, daß er selber die m ü h e n e h m e und z u m Besten des Reichs Christi ein solches Werck zu unterfangen, D a n n zu einem solchen O p e r e hat er just diese 2 Qualiteten, die darzu erforderlich sind, 1. eine herrliche Cognition der Sprachen, 2. eine erleuchtete Seele, die da die Krafft dieser Worte des Heil. Geistes deutl. sehen und hernach auch andern solches vorstellen könte. [48/49] Denn ein purus Minister literae were zu diesem Werck nicht genugsam, sondern ein erläuchtetes Hertz kan erkennen die Klahrheit Gottes in dem Angesichte Jesu Christi und anschauen die W u n d e r in dem Göttlichen Gesetz.

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Zu Andreas Morell vgl. oben S. 70 (Anmerkung 98). Vgl. darüber oben S. 68.

Einer unter den Guten Seelen Freunden Nahmens Daniel Knopf 35 der auch ein seeliger Mann von großer Gelaßenheit, Aufrichtigkeit und Liebe ist, der vor einem Jahre anfing zu unß zutreten, hat auch ein herrliches für die Kirche Gottes sehr nützliches Werck unter Händen, in dem er ein sehr herrliches Buch translatiret des Theodori Brackels Trappen des Geestlichen Levens, welches ohne Zweiffei mit großem applausu aller Orten wird aufgenommen werden. Dann es beschreibet das Englische Leben, welches dieser große Heilige (der auch ein Vater in Christo worden) in diesem Leben gefuhret hat, wie derselbige in einer so genauen Freundschafft mit Gott gestanden, wie ein Freund mit dem andern; wie seine Seele ist hinaufgezogen worden in Gott umb Ihn zu kennen in seinen Herrlichen Eygenschafften, Gerechtigkeit Barmherzigkeit etc. Von seiner zarten Jugend an wie er sey von Gott geleitet worden. In Summa ein Buch, so vielen Seelen in Teutschland! ein Vergnügen bringen wird. Gleich wie wir nun hier ein solches herrliches ouvrage unter Händen haben zum besten und aufnehmen der Gläubigen weil wir Glieder [49/50] eines Leibes sind, so hoffen wir auch, er werde auf seiner seiten nicht ermangeln alles das zu contribuiren, was da kan dienl. seyn zu allgemeinen Wachsthum des unsichtbahren Geheimnis=reichen Leibes Christi. Und also hoffen wir, er werde dieses nützliche Werck anfangen. Es wünschen einige meiner lieben Freunden, die sich Gott mit allem aufgeopffert, diese quaestion36 gründlich erläutert zu wißen, nemlich: Ob einer der Weib und Kind hat, der doch für dieselbe ein genügsames Capital hat, so, daß wenn er sterben solte, sie sich wohl und gnugsam erhalten könten, hernach noch weiter etwaß von seinem Einkommen solte zu dem Capital legen? Oder ob er nicht daßelbige alles Gott zu Ehren und den Armen zu Trost und zu andern heiligen Gebräuchen anwenden, und also nach genugsahmem Capital nichts mehr bey seite legen solle? Ich bitte ihn lieber Freund er wolle samt andern guten desinteressirten Seelen=Freunden nechst eyfferigem Gebeth zu Gott ihr unpartheyisch sentiment hierüber geben; denn diese Freunde nicht aus einiger curiosität dieses fragen, sondern aus heiliger Begierde den Willen Gottes hierin zu wißen, und demselben in Puncto Folge zuleisten; wie wohl es eine vor der Welt wunderliche quaestion ist; Ich hoffe zu ihm, er werde hier innen sich unß nicht entziehen; ich sehe auch nicht, daß er deßenthalben einiges Bedencken machen könne. Der Herr leite hierin sein Hertz. In der Zeit, alß ich sinns war, diesen Brieff zu versenden, haben sich noch sehr viel Sachen zugetragen bey vielen Seelen, die der liebe Gott in großer Menge in hiesiger Gegend erwecket [50/51 ] und die von vielen Orten zu mir kommen sind: Allein ein lieber Herr, nemlich der berühmte und erfahrne 35 Zu Daniel Knopf und dessen Übersetzung des Brakeischen Buches vgl. oben S. 68 f. und S. 82. 36 Vgl. dazu oben S. 69 f.

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Künstler in der Mahler Kunst Hr. Werner 37 komt ohngefehr daher, seine Reise nehmende in Brandenburg, deme ich diesen Brieff kommlich mitgeben konte, macht, daß ich wegen seiner schleunigen Abreise selbiges nicht melden kan: Ich hoffe aber, so er mir wieder die Freude gönnen, und einer Antwort würdigen wird, daß ich dann diß und noch viel Anderes werde schreiben können. Ich überlaße ihn aber hierin der gnädigen Regierung Gottes, der ihn leite dahin es ihm gefält, entweder mir zu schreiben oder zu schweigen. Der Gott aber aller Gnaden der unß beruffen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit, der stärcke, gründe, ermahne und bevestige unß alle, er breite aus sein Gnaden Reich, daß vom Aufgang der Sonnen bis zu ihrem Niedergang groß gemacht werde der Nähme des Herrn und alle Lande seiner Ehren voll werden. Ich bitte (so er es thun kan) in meinem Nahmen freundl. zu grüßen Hrn. M. Johann Caspar Schad 38 , wiewohl er mir auch unbekant; dennoch hat sein Herrliches Tractätlein, Die Herzens Gespräch genannt mich herrlich erbaut, und bin sonst von einem lieben Freund seines herrlichen Zustandes berichtet worden. Der Herr erwecke dergleichen Lichter noch mehr in dem lieben Teutschlandt. [51/52] So er an mich liebwerther Hr. und Freund zuschreiben gesinnet, so wünschte ich, er wolte die Brieffe nur adressiren an Hrn. Andreas Morell von Bärn gebürtig, der zu Arnstatt wohnet, und in hochgräffl Diensten ist bey ihro Durchlauchtigkeit zu Schwartzburg, so werden mir seine Brieffe ohnfehlbahr communiciret werden. Er vergebe mir nochmahlen die Freyheit, die ich gebraucht habe, ihm der ich Ihme doch unbekant bin zuzuschreiben: Allein die Liebe zur Gemeinschafft der Heiligen hat mich dahin vermöget. Der Herr laße es dennoch dahin dienen, daß sein Nähme möge dadurch verherrlichet werden, durch vieler Seelen Dancksagung zu Gott für alle seine Wercke; Es sollen dich loben alle deine Werck, und alle deine Heilige sollen dich preisen. Amen. i r i .. , . Lutzelilueh im Bärn Gebiet den 22 Martij Ao. 1695.

Verbleibe Euer Liebe und Fürbitte wünschender und aufrichtiger, wiewohl schwacher Diener S. Samuel Schumacher S. S. Minist: Candid:

37

Anmerkung 2. Vgl. über ihn Helmut Obst, Der Berliner Beichtstuhlstreit. Die Kritik des Pietismus an der Beichtpraxis der lutherischen Orthodoxie, Witten 1972 (AGP 11). 38

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II August Hermann Franckes Brief an Samuel Schumacher vom 31. Oktober 1695

1.

Einleitung

August Hermann Franckes Antwortbrief auf Samuel Schumachers ausfuhrlichen Bericht über die Anfänge des Pietismus in Bern vom 22. März 1695 galt bis jetzt als verloren 1 . Man wußte nur, daß die Leipziger Studenten ihn Ende 1695 nach Bern gebracht hatten 2 . N u n ist er in einer Abschrift wieder zum Vorschein gekommen: Ich bin glücklich auf ihn gestoßen, als ich mich in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich nach neuen Quellen zum bernischen Pietismus umsah 3 . Da er, wie mir Herr Dr. Jürgen Storz vom Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale freundlicherweise versichert hat, wirklich bis heute unbekannt geblieben ist, soll er hier im vollen Wortlaut erscheinen. Mitten aus rastloser Tätigkeit heraus schreibt Francke am 31. Oktober 1695 an seinen Berner „Bruder" und Freund. Die Armenschule ist eingerichtet, der Grundstein zum Pädagogium gelegt und die Einrichtung eines Waisenhauses beschlossene Sache. Die um die „Observationes biblicae" entstandenen Kontroversen nehmen Francke stark in Anspruch. Dennoch nimmt er sich Zeit, um Schumacher über den Stand des begonnenen Werkes, über die Motive und Ziele, die ihn dabei leiten, ins Bild zu setzen. In ihm eigener Weise nützt er die Gelegenheit, um seinen neuen Korrespondenten für seine Pläne zu interessieren und dessen Mitarbeit zu erbitten. Gegen Ende seines Briefes k o m m t Francke, von Schumacher diesbezüglich u m Auskunft gebeten, auf die Eigentumsproblematik zu sprechen. Er tut auch das in einer Art, die für ihn typischer nicht sein könnte. Der Brief vermittelt kaum neue Einsichten in Franckes Leben und Werk. Aber er ist, in einer entscheidenden Phase seines Lebens entstanden, ein sprechendes Zeugnis für seine Persönlichkeit und verdient deshalb hier abgedruckt zu werden.

1

Weiske 1932, 41. Vgl. oben S. 71 f. 3 Abschrifft des 1. Brieffs v. Mag. August Hermann Frank, abgegeben auß Hall in Saxen den 31. 8br. 1695, in: Acta Pietistica . . . Miscell. zu Bern (ZB Z H Ms J 256, Nr. 29). Orthographie und stellenweise verwirrliche Interpunktion nach der Zürcher Abschrift. 2

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2. Der Text Die Gnad und Warheit, so durch Jesum Christum worden ist, seye reichlich mit Ihm, und allen die unßeren Herren Jesum Christum liebhabend in der Wahrheit! Mein außerwehltester Bruder in dem Herrn Jesu! Er hat mit seinem sehr wehrten und lieben schreiben, welches er den 22. Martij h. a. 4 an mich abgelaßen, im geringsten nit geirret, in dem Ich Ihm solches keines wegs verüblet, sonder es mit gar herzlicher Freüd angenomen, und nicht allein Ich, sonder auch viele andere, denen ich solches aus wolmeynen gezeiget, um dardurch Ihren glauben zu stärken, und zur Christenlichen Nachfolg zu reizen, wie ich den hoffe, oder vilmehr spüre, daß durch solchen Brief nit geringer segen uns zugewachßen, und daher wünsche, daß dißes ein anfang seye, fehrner nicht allein unsere, sonder auch viler anderer glaübigen herzen, so sich nach dem angesichte nit kenen, under einanderen zu verbinden, und den schaden der trenung ohne hülff derer, die fleischlich und irdisch gesinet, im Bande des Geistes und der liebe zu heilen 5 ; Ich häte ja um deßwillen selbs nicht gemeinet, daß ich die antwort so lang verzögern wolte, wie auch Beylagen bezeügen könen; welche damahls Gute Freünd von Studiosis aus herzlicher Meinung nach leßung des Briefs mir zugestellet, um Sie meiner antwort beyzufüegen 6 , und mich dardurch einiger maaßen, was den Bericht von hiesigem Zustand betrifft, der Müh zu überheben; Aber es ist, traun! mein Zustand hie so beschaffen, daß ich mein selbs nit mächtig bin, sonder offtmals dasjenige, was ich wol am liebsten thäte, zurückstellen muß, wegen der von allen Seiten harzutringenden arbeit und Verhinderungen; Muß auch wol bekennen, daß ich jezo mit so mancherl e i dingen überhaüfet bin, daß ich nit nach wünsch außfuhrlich genug antworten kann; jedoch habe ich es der liebe halber unmöglich länger aufschieben könen, und sonderlich die gute gelegenheit in acht nehmen wollen, da mir Herr Gottlieb Kirch, Mathes. Studios., deßen auch in dem L. schreiben gedacht worden 7 , die hoffnung gemachet gegenwertiges selbs einzuhändigen, oder doch auff das allergewüßest zu befördern, da dan im fahl des erstem der Ueberbringer auch von vilen umstähnden eine grundliche Nachricht Ihnen ertheilen, und nicht wenige von Ihnen, durch brüeder4

Huius anni beziehungsweise hoc anno. Z u Franckes ökumenischer Gesinnung vgl. Erich Beyreuther, August Hermann Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung, Leipzig 1957, vor allem 54-83. Andreas Lindt 1974, 148-154. Siehe auch oben S. 72. 6 Francke legte Briefe seiner Mitarbeiter Nicolaus Kunold (wohl identisch mit dem bei Gustav Kramer, August Hermann Francke, I, Halle a. S. 1880, 140 genannten Kühnholz), Johann Anastasius Freylinghausen, Ludolph Christoph Deichmann (von Einbek in Sachsen) und Heinrich Lucht bei. Sie sind in der Zürcher Abschrift mitenthalten, Kunolds Brief allerdings nur in einer Zusammenfassung. Besonders aufschlußreich ist Luchts detaillierter Bericht über die jeden Sonntag von morgens 7 bis abends um 8 Uhr von Francke und Breithaupt geleiteten funf(!) Gottesdienste, Katechesen und Gebetsstunden. 7 Vgl. Schumacher, Bericht 34 und oben S. 43. 5

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liehe Erwek- und Ermahnungen erbauet werden könte; habe doch auch einige wie wol nur obenhin entworfne Nachricht von einem wolgemeinten Jnstituto das Education und Jnstitutions werk betreffend, beyfligen wollen 8 ; so wol, weil ich das vertrauen habe, man werde alles auf das Beste aufnehmen, und es zur Ehr Gottes anzuwenden wüßen; als auch, weil mein herzlicher wünsch ist, wan in dißem geringen entwurff Ihnen etwas vorkomen solte, darinen Gott ihres Ohrts ein klährer erkantnuß verliehen, wie der Jugent nachtruklicher gedienet werden könte, solches von Ihnen zu lehrnen, und Ihrem guten Rath so dan nachzukommen; wie dan der vornehmste Zwek der ganzen sach dißer ist, daß man hiemit die sach selbs in ipsa praxi versuche, wie alles auf das Beste mit der jugent angefangen werden könte, und darbey verständiger Leüthen Rath und Gutachten einzuhollen nicht versäumte, damit man sodan nicht ein in der bloßen Speculation, sonder in praxi ipsa et Experientia fundiertes Werk zu viler 1000 Menschen Bestem für das angesicht der ganzen Christenlichen Kirchen legen könte; Bißharo findend wir, Gott lob! sehr guten successum, so wol was die einpflanzung der Gottsforcht, als was die Studia betrifft; äußert solchem Jnstituto laßet Gott sonst noch eine Gnad nach der anderen widerfahren, woraus wir öffentlich erkenen müßen, daß seine hand mit uns ist; wie uns dan der Herr in dißem jähre zur Grundlegung einer Armenschuel seine gnad verliehen; darzu kein ander Capital ist, als was von liebreichen herzen darzu aus freyem Willen gesteüret wird; doch aber in solchem stand ist, daß wir keinem armen Kind, oder auch erwachsnen nun versagen dörffen Ihm fälligen Unterricht im leßen, schreiben, rechnen, und im grund eines Wahren Christenthums geben zu laßen; darzu wir aber allerhand Vortheile gebrauchen 9 müßen, die Bettelleüth herbeizuziehen, welche layder! am wenigsten nach gutem Unterricht fragen; Z u m Beyspiel, theilet man wöchentlich, wenigstens 3 mal in den Schulen Gelt aus; Jtem auff den Winter hat man die armen Knaben mit gefilterten Müzen, die Mägdlein mit guten diken Strümpfen versehen; Büecher werdend Ihnen auch gegeben, doch die zu Ihrem Ordenlichen Gebrauch sind, in der Schuel allezeit wider verschloßen, weil sie solche sonst verkauffen, und nicht wider bekomen; mit der Zeit gedenket man auch die Knaben auff ehrliche Handtwerke zu bringen; durch dergleichen Vortheil gewünet man entlich ihre gemüther, daß Sie sich einer beständigen Zucht und Anweisung unterwerffen; nach dem uns diß gelungen ist, und unßere Sorge auf ein Waysenhauß gerichtet, daß arme Elternlose Kinder könten aufgenomen, und so wol zur wahren Gottseligkeit, als zu nuzlichen Künsten 8

U m Ostern 1695 hatte Francke die Armenschule, bald nach Pfingsten desselben Jahres das Pädagogium eröffnet. Vgl. August Hermann Francke, Die Fußstapfen Des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen G O T T E S . . .: August Hermann Francke, Werke in Auswahl, hg. von Erhard Peschke, Berlin 1969, 33 f. Kramer 1880, 162-169. Wolf Oschlies, Die Arbeits- und Berufspädagogik August Hermann Franckes (1663-1727). Schule und Leben im Menschenbild des Hauptvertreters des Halleschen Pietismus, Witten 1969 (AGP 6), 15-17. 9 Vortheile gebrauchen: Kniffe anwenden. Im Berndeutschen hat der Ausdruck bis heute diese Bedeutung: Vörteli.

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u. Wüssenschafften auferzogen werden 10 ; An welcherley guten Anstalten es layder! unserer Ohrten gar sehr manglet; wir habend es doch bereits so weit gebracht, daß schon einige Kinder jährlich erzogen werden könen, auch einiges Capital schon darzu vermachet ist; wird uns auch von denen Reichen dißer Welt, die den Herren keiien lehrnen so die Hand gebotten, daß wir hoffend auch in dißer sach bald zu unserem Zwek zu gelangen; da wir Gott lob unter solcher hoher Oberkeit schuz lebend, die ihnen gute Ordnungen nit entgegen seyn lassend, sonder solche vilmehr aufs beste befördern 11 ; Ich habe zu solchem end schon die Verordnung des Waysenhauses zu Hamburg bringen, und so auch ihres Ohrts guter Rath könte beigetragen werden, würde es alles zur Ehre Gottes angewendet werden; Ich muß wohl bekenen, daß mir hierbey sonderlich zu gemüth komt daß in deßen schreiben mir die frag vorgeleget worden; „ob einem, der Weib und Kinder hat, der doch für dieselben ein genügsames Capital hat, so daß wan er sterben solte, sie sich wol und genugsam erhalten könten: hernach noch weiters etwas von seinem einkommen solle zu dem Capital legen? oder ob er nit dasselbige alles Gott zu ehren, und denen armen zu tröste, und zu anderm heiligen Gebrauche anwenden, und also nach genügsamem Capital nicht mehr beyseits legen soll" 12 . Dißer Frag sage ich, erinnere ich mich wol hierbey, und muß wol bekenen, wan solche in unßeren landen wären, ich würde zur erhaltung unserer armen schulen, und anordnung eines Waysenhaußes gewüß das übrig erbitten; da man gewüß seyn könte, daß alles auff das sorgfältigste zur Ehr Gottes, und gleichsam zur grundlegung des Haußes des Herren, ich meine zur gewünnung der seelen angewendet werde, wie dan auch zu dergleichen undernehmungen nicht geringe, sonder sehr große Capitalia erfordert werden! Ich häte auch um deßwillen kein Bedenken, daß man gern einem jeden land das seinige ließ für seine armen; in dem es auch bey uns an armen Schweizern nit ermanglen würde, denen man an Ihren armen Seelen darmit dienen könte 13 , deren gnug hier im land sind, wie ich mich hier mit freüden eines armen Schweizermägdleins erinnere, welches den Unterricht im wahren Christenthum selbs bey mir gesuchet, und eine wahre ernstliche Gottesforcht von sich spühren laßet! Es möchte aber scheinen, daß ich also nit gar desinteressiert wäre, auff die frag nach der lauterkeit der Wahrheit zu antworten, so vil versichere ich aber von Herzengrunde, Ich wil es keinem eben zur sünde machen, wan er nach genügsamem Capital noch etwas von seinem einkomen hinleget, wo nur diß darbey fest und gewüss ist, daß er sein Herz nit zuschließet, wan er seinen bruder sihet darben; aber mir wäre es 10 Sieht man von einem Knaben, der bereits am 3. Oktober 1695 aufgenommen worden war, ab, so trafen die ersten Waisenkinder unmittelbar nach Abfassung dieses Briefes, nämlich vom 4. November an, bei Francke ein. August Hermann Francke, Die Fußstapfen . . . (vgl. oben Anm. 8), 35f. und Oschlies 1969, 17f., Anm. 1. 11 Klaus Deppermann, Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.), Göttingen 1961. 12 Schumacher, Bericht 50 und oben S. 69 f. 13 Ob Francke dabei wohl an Kinder von Schweizer Kolonisten denkt? Vgl. oben S. 33.

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eine Unmöglichkeit, mein gewüßen darbey zu retten, da es mir niemahls an armen fehlet, wan ich nur etwas habe Ihnen mitzutheilen; und also mich stets vor einen heüchler halten würde, der mit Worten liebete, doch nit in der that und Wahrheit; Jedoch sayet einer kärglich, so wird er auch karglich ernden, sayet er aber im segen, so wird er auch im segen ernden; Ich riethe einem solchen, er wendete sich mit einem ernstlichen Gebett flehend zu Gott, und bette Ihn nit allein um erkanntnuß seines Willens, sonder auch um eine herzlichere und erbarmende liebe gegen die Brüedern, damit sein Gutes nit käme aus dem Gesaz, sonder auß dem Geist des Evangelij, der foll guter früchten ist, und foller mitleidens und erbarmens ist, so zweifle ich nit, der Herr würde Ihn würdig machen seine Herrlichkeit in die Stadt Gottes zu bringen, und die zeitlichen schäze Egypti aufzuthun auf den lOOfältigen wuecher, der Math. XIX versprochen worden, und auf die Belohnung zu sehen, die denen widerfahren wird, die sich der dörfftigen glideren Christi anehmend; Im Summa: der Herr laße mich solches in meinen Gedanken nimmermehr beylegen laßen 14 ; der Herr aber, der allein die Herzen gewüß machet, gebe Ihme zuthun nach seinem guten Wolgefälligen, ja auch follkomnen Willen; Den mir gethanen Vorschlag de Componendo Lexico Emphatico 15 , wird der Herr zeigen, wie auch dißfals das verlangen seiner Kinderen nach und nach erfüllet werden köne; Man sagt, daß Stollbergii Wittembergensis Lexicon Emphaticum bald an das liecht sol gegeben werden 16 ; Ich habe mit denen monatlichen Observationibus Biblicis 17 jezo zuthun, welche doch von solchem Zwek nicht entfehrnet; schicke im übrigen einen Catalogum von denen von mir edierten Sachen, und erbiete mich, wo etwas verlanget wird, solches gern zu übermachen; Mit Herrn Morellen 18 bin bekant, so er noch zu Arnstadt ist, wie ich meyne, oder da bleibet, wird er mir gern beförderlich seyn etwas zu schiken;

14 Francke möchte nicht einmal mehr auf den Gedanken kommen, zu einem für den Lebensunterhalt ausreichenden Kapital noch weitere Gelder hinzuzulegen. Ist das der Sinn dieser schwer verständlichen Stelle? Zum Problem vgl. immer noch Ernst Bartz, Die Wirtschaftsethik August Hermann Franckes, Harburg-Wilhelmsburg 1934, vor allem 47-59. Carl Hinrichs, Der hallische Pietismus als politisch-soziale Reformbewegung des 18. Jahrhunderts: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 2 (1953) 177-189, wieder abgedruckt in: Zur neueren Pietismusforschung, herausgegeben von Martin Greschat, Darmstadt 1977 (Wege der Forschung CDXL), 243-258. Vgl. auch Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, 301-351. 15 Schumacher, Bericht 48f. und oben S. 68. 16 Ich habe noch nicht ermitteln können, auf welches Werk Francke hier hinweist. 17 Zu Franckes „Observationes biblicae" vgl. Kramer 1880, 144ff. Gedachte Francke die Reihe trotz aller Angriffe, die er ihretwegen über sich hatte ergehen lassen müssen, zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Briefes noch weiterzufuhren? 18 Zu Andreas Morell vgl. oben S. 70, Anm. 98.

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Jezo hat uns Gott auch den Herren Lic. Antonium 1 9 zum Professore Theologiae und getreuen Mitarbeiter gegeben auf hiesiger Academie, dardurch nit wenig segens fehrner zuhoffen, so Ich nur bald antwort bekome und erfahre, ob dises wol zurechtkomen; verspreche in herzlicher liebe mit mehrerem Bericht von unserem Zustand zu dienen; Jezo wird mir allezeit zu kurz; die Geliebte Brüder, deren gedacht worden, bitten von mir unschwer, auf das allerherzlichst und inniglich zu grüeßen und Sie meiner und anderer Gläubigen Liebe und Gebetts zu versicheren; Wormit der Gnad des Lebendigen Gottes erlassende; verharre Tit. deßen Gebetsschuldigster August Hermann Frank.

19

Paul Anton (1661-1730), in den Leipziger Jahren Franckes Mitstreiter, wurde 1695 Professor der Theologie in Halle.

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Verzeichnis der Abkürzungen

ACB ADB AFSt AGP AP Apologie

BBB BBG BT DHGE HBLS JGP Leu NDB PB RE 3 RGG 2 /RGG 3 Relation

RM SBB SM StAB StA Z H StUB TRE U B BS ZB Z H ZSKG

Acta Capituli Bernensis (Staatsarchiv Bern, B III, 151 a) Allgemeine Deutsche Biographie Archiv der Franckeschen Stiftungen in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Johann Rudolf Gruner, Acta Pietistica (Burgerbibliothek Bern, M . h . h. X, 62) Samuel Güldin, Kurtze A P O L O G I E oder Schutz-Schrifft Der unschuldig verdächtig-gemachten und verworffenen Pietisten zu Bern in der Schweitz, Philadelphia 1718 Burgerbibliothek Bern Blätter für bernische Geschichte, Kunst und Altertumskunde Berner Taschenbuch Dictionnaire d'histoire et de géographie ecclésiastiques Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus Hans Jacob Leu, Allgemeines Helvetisches / Eydgenössisches / Oder Schweitzerisches Lexicon Neue Deutsche Biographie Policey-Buch der Statt Bern (Staatsarchiv Bern) Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Auflage Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. resp. 3. Auflage Haupt Relation Meiner HochgeEhrten Herren der ReligionsCommission über das gegenwärtige Wäsen (Staatsarchiv Bern B III, 178), von Samuel Güldin 1718 unter dem Titel „RELAT I O N Der Herren Committirten über die dißmalen obhandene Religions-Geschäffte" herausgegeben Raths-Manual der Statt Bern (Staatsarchiv Bern) Sammlung Bernischer Biographien Schulrath Manual (Staatsarchiv Bern) Staatsarchiv Bern Staatsarchiv Zürich Stadt- und Universitätsbibliothek Bern Theologische Realenzyklopädie Öffentliche Bibliothek der Universität Basel Zentralbibliothek Zürich Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte

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Literaturverzeichnis Vorbemerkung: D e m Beispiel Johannes Wallmanns (Philipp J a k o b Spener und die A n f ä n g e des Pietismus, T ü b i n g e n 1970, 336) folgend, verzichte ich hier auf eine systematische Z u s a m m e n s t e l l u n g der meiner Studie zugrundeliegenden Quellen und verweise dafür auf die A n m e r k u n g e n . Auch f ü h r e ich nur gerade die zitierte, nicht aber die insgesamt benützte Literatur an und übergehe dabei Artikel aus Lexika u n d S a m m e l w e r k e n wie Heinrich Zedlers Grossem Universal-Lexicon, Leu, SBB, A D B , N D B , RE 3 , T R E , R G G 2 , R G G 3 und HBLS. Aland, Kurt, Philipp J a k o b Spener und die Anfänge des Pietismus: J G P 4 (1977/1978) 155-189. - Ecclesia reformanda. Philipp J a k o b Spener und die Anfänge des deutschen Pietismus: R e f o r m a t i o Ecclesiae. Beiträge zu kirchlichen R e f o r m b e m ü h u n g e n v o n der Alten Kirche bis zur Neuzeit. Festgabe für E r w i n Iserloh, hg. v o n Remigius B ä u m e r , Paderborn 1980, 831-846. Bähler, Eduard, Z w e i Briefe v o n Pfarrer J o h a n n Erb: B B G 3 (1907) 149-152. - Kulturbilder aus der Refugientenzeit in Bern (1685-1699): Neujahrsblatt hg. v. Historischen Verein des Kantons Bern für 1908, Bern 1908. - Der Freischarenzug nach Savoyen v o m September 1689 und sein A n f ü h r e r Jean Jacques Bourgeois v o n N e u e n b u r g : J a h r b u c h f ü r Schweizerische Geschichte 42 (1917) 1-86. Bartz, Ernst, Die Wirtschaftsethik August H e r m a n n Franckes, H a r b u r g - W i l helmsburg 1934. Bauch, Hermann, Die Lehre v o m Wirken des Heiligen Geistes im Frühpietismus, H a m b u r g - B e r g s t e d t 1974. Beck, Hermann, Die religiöse Volkslitteratur der evangelischen Kirche Deutschlands in einem Abriß ihrer Geschichte: Z i m m e r s Handbibliothek der praktischen T h e o logie, Xc, Gotha 1891. Bernard, Auguste, Le Piétisme à Berne à la fin du dix-septième siècle, Berne 1867. Beyreuther, Erich, August H e r m a n n Francke u n d die Anfänge der ökumenischen B e w e g u n g , Leipzig 1957. - Geschichte des Pietismus, Stuttgart 1978. Blanke, Fritz, Zinzendorf und die Einheit der Kinder Gottes, Basel 1950. Bioesch, Emil, Geschichte der schweizerisch-reformierten Kirchen, II, Bern 1899. Buddecke, Werner, Die J a k o b B ö h m e - A u s g a b e n . Ein beschreibendes Verzeichnis, 1. Teil: Die Ausgaben in deutscher Sprache, Göttingen 1937. Brecht, Martin, Philipp J a k o b Spener und das Wahre Christentum: J G P 4 (1977/1978) 119-154. Corrodi, Hans Heinrich, Kritische Geschichte des Chiliasmus, I—III, Frankfurt und Leipzig 1781-83. Dellsperger, Rudolf, T r e f f p u n k t N a t u r . Jean-Jacques Rousseau u n d Beat L u d w i g v o n Muralt: R e f o r m a t i o 27 (1978) 447-456.

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Namenregister Achenbach, Kirchenrat 119 Aebersold, Hans 85,121 Aellen, Katharina 77 Aellen, Madlena 77 Aland, Kurt 5, 16-19 Allein, Joseph 36 Allein, Richard 36 Aisted, Johann Heinrich 107 Altmann, Johann 52 Anneler, Elsbeth 77, 122 Anton, Paul 29, 33, 208 Arndt,Johann 16f., 29, 51 f., 64,113, 128 Arnold, Gottfried 172 Athanasius 150 Augustinus, Aurelius 104, 150 Bachmann, Franz Ludwig 36 Bachmann, Nikolaus 68, 197 Bachmann, Samuel 83, 88f., 91,108, 113,115,117,119,121-123,128,131136,160, 172 Bähler, Eduard 30, 33, 41 Barnaud, Barthélémy 143 Bartz, Ernst 207 Battier, Friedrich 68, 198 Bauch, Hermann 98, 107 Bauernkönig, Abraham 87-89 Baxter, Richard 35 f. Beck, Hermann 36 Bengel, Johann Albrecht 98 Berg, Johannes van den 37 Bernard, Auguste 13 f. Bernoulli, Jakob 97 Beyreuther, Erich 204 Bieler, Markus 152 Blanke, Fritz 175 Blaufuß, Dietrich 29 Bioesch, Emil 13-15, 71, 93, 124, 148 Bodmer, J. Heinrich 123 Böhme, Jakob 33,126-128,130,144, 150

Böttiger, Georg 126 Bona, Giovanni 42, 44, 48, 79, 184 Bondeli, Emanuel 99 Boor, Friedrich de 16 Bourgeois, Jean Jacques 41 Bourignon, Antoinette 33,79,130,144, 158 Brakel, Theodorus a 69, 82, 201 Brecht, Martin 16, 18-20 Breckling, Friedrich 42, 44 Breithaupt, Justus Joachim 204 Bucer, Martin 35 Bucher-Fischer, Ehepaar 85 Buddecke, Werner 126 Bullinger, Heinrich 25, 129, 152, 163 Bunyan, John 128 Calvin, Johannes 59, 128 Canivez, Joseph 42 Capito, Wolfgang F. 25, 152, 162 Cherbury, Herbert von 144 Christen, Wolfgang 36 Coccejus, Johannes 96, 100, 106, 200 Corrodi, Hans Heinrich 112 Cromwell, Oliver 24 Dachs, Jakob 9-11, 38,62-65,67, 81, 89, 100, 121, 123, 128, 134, 136 f., 194 Deichmann, Ludolph Christoph 204 Dellsperger, Rudolf 175 f. Deppermann, Klaus 12, 206 Dick, David 85 Dick, Samuel 38,41-44, 63, 65-67, 81, 89, 121 f., 167,180, 182 f., 193, 196f. Diesbach, R. von 14, 60, 172 Dippel, Johann Konrad 126, 172 Dittmar, Johannes 28 Dobbeler, Dietrich 28f., 178 Dooren, J. P. van 37 Dorner, Isaak August 98 Dorsche, Johann Georg 18 Dubbs, Joseph Henry 14, 175 217

Dünz, Johannes 122, 127 Dürsteier, Ehrhard 30 Durie, John 24 Engel, Burkhard 85, 127 Engel, Samuel 86 Erb, Johannes 35f., 38, 40, 66 Escher, Heinrich 87 Eyen, Samuel 115-117 Fabian, Ekkehart 83 Fasnacht, David Friedrich 58 Fasnacht, Maria Salome 58 Faulenbach, Heiner 20, 46, 100, 106 Fehringer, Norbert 28,113,117-119, 173 Fellenberg, Burkhard 134, 160f., 176 Feller, Richard 15, 23, 41 Ferrazzini, Arthur 174 Fetscherin, Wilhelm 33 Fischer, Hans Rudolf von 83 Fluri, Adolf 88, 148 Franck, Sebastian 144 Francke, August Hermann 16, 27, 2830, 33,38, 39, 44, 52, 66, 68-72, 74, 78,82, 84, 91,116,122,134,137,140144, 160, 168, 173, 177, 203-208 Freylinghausen, Johann Anastasius 204 Friedrich III. (I.) 206 Frisching, Gabriel 167 Frutiger, Max 30 Fueter, Abraham 68, 85, 128, 133f., 197 Gagg, Robert P. 192 Geiger, Max 78, 96 Geiser, Samuel H. 53-55 Geizer, Heinrich 11 Gernler, J. H. 44, 53 Gernler, Lukas 96 Gichtel, Johann Georg 126 Goebel, M a x l l 7 f . , 173 Goeters, Wilhelm 35, 69 Good, James I. 14, 175 Gotthelf, Jeremias 28, 50 Gould, Charles 174 Graf, Johann H. 93, 96 Grafenried, F. von 85, 115 Greschat, Martin 18, 207

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Greyerz, Hans von 23 Greyerz, Otto von 174 Grimm, Johann 34 Grünberg, Paul 38, 65 Gruner, Johann Rudolf 11, 30 Güder, Herr 71, 85 Güldin, Christoffel 124 Güldin, Maria Catharina 60, 124 Güldin, Maria Magdalena, geb. Malacrida 57 f. Güldin, Samuel 9-11,12,14, 38-44, 5764, 66f., 73, 75, 77, 79, 81, 88, 89, 94, 99,100,108,109,120,121-125,127, 132-134,136 f., 140,142,147f., 161, 167,172,174,175 f., 180,182f„ 188, 193,196 Güldin, Samueljun. 58 Guggisberg, Kurt 13,15,23,35, 38, 78, 94, 95, 145 Gutzwiller, Hellmut 95 Guyon, Madame de 33 Gwalther, Rudolf 129 Haag, Friedrich 90, 95, 100 Hadorn, Wilhelm 13-15,27, 37, 38, 39, 55, 71, 73, 77, 80, 83, 94,100,106, 108,112,116,117,121,125,127,131, 134 f., 142, 145, 172, 176 Hagenbach, Karl Rudolf 11 Hall, Joseph 36 Haller, Albert 95, 98 Haller, Berchtold (Johannes?) 129 Haller, Frau 85, 86 Hase, Cornelius de 42 Heidegger, Johann Heinrich 96 f., 100, 106, 118 Helfenstein, Ulrich 96 Heppe, Heinrich 45, 46, 48, 98 Hiel, Immanuel (Jansen, Heinrich) 42f., 127 f., 130,144, 150, 184 Hildebrandt, Walter 152 Hinke, William J. 148, 175 Hinrichs, Carl 207 Hinsberg, G. 173 Hirzel, Hans Caspar 182 Hirzel, Johann Jakob 42, 182f., 188 Hobbes, Thomas 144 Hoburg, Christian 18,65, 67, 79, 88, 123,128, 130, 144, 149

Hochhuth, C. W. H. 113, 117-119, 173 Hochmann von Hochenau, Ernst Christoph von 118, 126 f., 172 f. Hoiningen-Huene, Christine Freifrau von 98 Horb, Johann Heinrich 28, 43, 138, 193 Horche, Heinrich 10, 28, 117-121,172 Hottinger, Johann Jakob 121 Huber, Leonhard 68, 199 Huber, Marx 87-89, 91 Hutter, Karl 96, 106 Hybner, Ursula 60, 85, 86, 124, 127 Im Hof, Ulrich 95 Im Thum, Wilhelm 79 Isle, Marthe de 1' 30 Jansen, Heinrich (Hiel, Immanuel) 42f., 127 f., 130, 144, 150, 184 Jenner, Frau 86 Jenner, Samuel 83, 144 Jken, J. Fr. 46 Junod, Louis 41 Kautzsch, Emil Friedrich 98 Kilchberger, Johann Anton 95 Kirch, Gottlieb 14, 71 f., 74, 78, 204 Kirch (Vater von Gottlieb Kirch?) 43, 71, 193 Kißner, Elisabeth 41 Klingler, Anton 118 Klopfer, Balthasar Christoph 118f., 158 Knecht, Jakob 50, 160f., 173 Knopf, Daniel 60, 69, 82, 85,121-123, 124, 127, 134, 137, 167, 172, 201 König, David 94 König, Emil 94 König, Katharina Judith, geb. Perret 94 König, Margaretha, geb. Zehender 94 König, Samuel (Vater) 94, 146 König, Samuel 10f., 12,14, 50, 91, 93114,122,124-128,134-136,142f., 152, 158, 160, 172 f., 175f. Koepp, Wilhelm 51 Kohler, Frau 86 Krafft, George Henry 172 Kramer, Gustav 38, 173, 204, 205, 207 Krieg, Gustav A. 33, 43

Kunold (Kühnholz?), Nicolaus 204 Labadie, Jean de 39, 45, 67, 131, 183 Lang, Frau 71 Langhans, Eduard 13 Laubi, Heinrich 78, 79, 80,100,121,123 Laud, William 107 Leade, Jane 100,106f., 112f., 121,123, 127 f., 144 LeBruyn, Herr 184, 187 Lehmann, Hartmut 16,18-20, 22, 40, 109, 114 Lerber, Herr 85 Leube, Hans 16, 29, 36, 94 Lindt, Andreas 5, 16, 27, 116, 204 Locher, Heinrich 79, 121-123, 127 f. Lohner, Carl Friedrich Ludwig 62, 117 Louis XIV. 24,40, 53, 70, 192 Lucht, Heinrich 204 Lücke, Friedrich 12 Luther, Martin 17f., 128 Lutz, Christoph 9,11, 38-41,43, 51,6267, 71, 74, 75, 78, 79, 80, 81, 87, 89, 96,100,108,121-123,125,127,132, 133,134,136,137,140,142,152,180182, 193 f. Lutz, Markus 93 Lutz, Samuel 22, 58,59, 68,123-125, 127-129, 168, 198 Macchiavelli, Niccolö 144 Mack, Rüdiger 28 Malacrida, Elisäus33f., 36,38,57, 58, 66, 79, 94, 119 f., 137, 146, 180 Malacrida, Johanna Katharina 58 Margrethli 37 Marrer, Pius 44 Maschke, Erich 95 Massé, Nikolaus 124,128 f. May, Barbara 121 f., 127 Meister, Leonard 11 Memming, Herr 85, 122f. Meyer, Johann Martin 68, 71, 199 Meyer, Urs 13 Mohr, Rudolf 50, 78,119 Molinos, Miguel de 144 Morell, Andreas 70, 200, 202, 207 Morgenthaler, Hans 63

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Mülinen, W. F. von 176 Müller, Ernst 53, 55 Müller,Johannes 10f., 80, 81, 89,122, 128, 134, 136, 167, 172 Müntzer, Thomas 112 Müslin, Daniel 95, 98 Müslin, Isaak 134 Muralt, Beat Ludwig von 14, 90,173175 Muralt, Johann Bernhard von 87, 89-91, 123 f., 129 Muralt, Rudolf Albert von 89 Musculus, Wolfgang 129 Mutach, Samuel 137, 171 Neander, August 12 Nielsen, Fr. 45 Nielson, Paul-Anton 58 Nordmann, Walter 112 Obst, Helmut 70, 202 Oschlies, Wolf205 f. Peschke, Erhard 51, 205 Petersen, Johanna Eleonora 128, 142 Petersen, Johann Wilhelm 112 f., 142, 144, 172 Petersen, EhepaarJ. E. undj. W. 100, 106 f., 112, 175 f. Pfister, Oskar 49 Pfister, Rudolf 15, 38, 39, 78 Poiret, Pierre 33, 38, 43, 67, 79,144, 158, 180 Postma, Férènç 104 Prätorius, Stephan 113 Püntiner, Karl Anton 50, 84f., 87,127, 173 Rasdorff, Herr 14, 71 f., 74, 78 Reitz, Johann Heinrich 50f., 78, 172f. Renkewitz, Heinz 118, 126, 172f. Rhenferd, Jakob 98 f. Ridderus, Franziskus 36 Riesz,Janos 174 Ringier, Johann Heinrich 36 Ritsehl, Albrecht 12, 45 Ritter, Eugène 174 Rodt, Maria von 14, 60, 172, 176

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Rodt, Nikiaus von 14, 60, 91, 95, 99, 108,124, 143, 167, 172, 176 Romang, Johann Peter 13 Roscioni, Gian Carlo 174 Rousseau, Jean-Jacques 175 Rubin, Johann 85 Rudolf, Johann Rudolf12, 72-77, 83, 94 f., 110, 135, 145 f., 160 Sachsse, Eugen 112 Saur, Christoph 148, 175 Schade, Johann Kaspar 29, 33, 70, 82, 84, 202 Schärer, B. S. Friedrich 93 Schaffen, Hans 96 Schindler, Alfred 5 Schleiermacher, Daniel Ernst Friedrich 12 Schmidt, Martin 16, 18, 35, 45, 46, 117 Schneider, Hans 173 Schütz, Johann Jakob 17, 41, 43, 67,172, 182 Schuler, Melchior 11 Schumacher, Johann Jacob 49, 142 Schumacher, Samuel 9-11, 27, 28-70, 71 f., 74, 78,79,81,82, 83, 89, 91, 116,121-123,127-129,132-134, 136 f., 140-144,160,168,177-202, 203f., 206f. Schurman, Anna Maria van 17 Schweizer, Alexander 78, 96 Schweizer, Johann Heinrich 97,121 f., 131 f. Schweizer, Johann Kaspar 121 Schwenckfeld, Kaspar 144, 149, 157f. Simmler, Johann Jakob 11 Solms-Laubach, Benigna von 41 Spener, Philipp Jakob 16-18, 28, 38, 39, 41,43, 65, 96, 98,113,117,151,170, 172 f., 193 Spinoza, Baruch de 144 Staedtke, Joachim 107 Staehelin, Ernst 94, 112, 175 Statius, Martin 113 Steiger, Anna Catharina, geb. von Watten wyl 124 Steiger, Christoph I. 124 Steiger, Christoph von 23, 56, 89 f.

Stelling-Michaud, Sven 38 Stoeffler, ErnestF. 16, 36 Stollberg 207 Storz, Jürgen 203 Strahm, Hans 145 Straube, H. 28 Strauss, Johann Rudolf 34, 38, 180 Studer, Julius 14, 38, 77, 121 Studer-Trechsel, F. 12 Suter, Herr 121, 134, 137 Sydow, Jürgen 95 Tauler, Johannes 88, 130, 144 Taylor, Jeremy 35 Tholuck, August 98 Thomas a Kempis 79, 88, 149 Thormann, Georg 30-34, 36, 38, 40,44, 47, 51, 53-55, 57, 58, 59, 66, 71, 79, 81, 84,121 f., 127-132,134,146,169, 179, 188, 192 f., 195 Thune, Nils 28, 113 Tillier, Abraham III. 83, 144 Tillier, Anton von 11 Tillier, Johann Rudolf 95 Toon, Peter 107 Trechsel, Friedrich 11-15, 38, 55, 58, 71, 93 f., 117, 145 f., 162 Triet, Max 44 Tscheer, Nikolaus 123-129, 137, 176 Tschiffeli, Herr 143 Ueberfeld, Herr 126 Ulrich, Jakob 88,108,113,115,117, 119, 121-123, 128, 131-136, 160, 172 Undereyck, Theodor 20, 42f., 46, 117 Valette, Louis 192 Valette, Madame [de] la 192 Varenius, Heinrich 18 Vischer, Loth 127 Vitringa, Campegius 98 Voetius, Gisbert 35

Vuilleumier, Henri 15, 36, 39, 143, 148 Vulliemin, L. 11 Wackernagel, Hans Georg 44 Waeyen, Johannes van der 98,104 Waldkirch, Herr 85 Wallmann,Johannes 16-20, 36f., 38, 39, 41, 107, 169 f. Wattenwyl, Catharina von, geb. von Diesbach 124 Wattenwyl, Friedrich von 124, 167 Wattenwyl, Johann Franz von 11, 108 Weber, Edmund 52 Weigel, Valentin 123,127f„ 144, 157 Weiske, Karl 27, 28, 48f., 71, 82, 203 Wenzel, Zacharias 42, 184, 187 f. Werdenmann, Ursula 68, 199 Werenfels, Samuel 97 Werner, Joseph 70, 179, 202 Wernle, Paul 15, 23, 27,36,38,59,94, 176 Wesley, John 35 Wetzel, Catharina Elisabeth 28 Wieser, Max 33 Willading, Johann Friedrich 83, 90, 144 Wolff, Paul 113 Wolters, Herr 37f., 180 Wurstemberger, C. 115 Wyss David 72-77, 83, 94, 99,110, 146 Wyss, Frau 86 Zeerleder-Lutz, Margret 59-61, 83 Zehender, Johann Jacob 144 Zeller, Eduard 12 Ziegler, Herr 77 Ziegler, Johann Kaspar 93 Zimmermann, Rudolf 152 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 175 Zumstein, Frau 86 Zwinger, Theodor III. 49 Zwingli, Huldrych 23

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Arbeiten zur Geschichte des Pietismus (AGP) Im Auftrag der Historischen K o m m i s s i o n zur Erforschung des Pietismus hrsg. von Kurt Aland, K o n r a d Gottschick und Erhard Peschke

17 Gustav A. Krieg • Der mystische Kreis Wesen und Werden der T h e o l o g i e Pierre Poirets. 1979. 2 3 0 Seiten, geb. „ D e r Verfasser unternimmt den Versuch, eine Gesamtdarstellung der T h e o l o g i e des französisch/niederländischen Mystikers Pierre Poiret ( 1 6 4 6 - 1 7 1 9 ) zu liefern. Dabei belegt er die Kontinuität im Leben und Werk Poirets aus den Quellen. Die Arbeit Kriegs bedeutet einen Fortschritt in der Poiret-Forschung ebenso wie in der Erforschung des radikalen Pietismus." Das Historisch-Politische Buch

18 Sigrid Großmann Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung Versuch einer Analyse seiner T h e o l o g i e . 1979. 321 Seiten, geb. „ Z u m Verständnis der D e n k b e w e g u n g e n des Aufklärungsjahrhunderts liegt mit diesem B u c h eine nützliche Hilfe v o r . " Gregorianum

19 ManfredJakubowski-Tiessen Der frühe Pietismus in Schleswig-Holstein Entstehung, E n t w i c k l u n g und Struktur. 1983. 188 Seiten, geb. E i n e Gesamtdarstellung des frühen Pietismus in Schleswig-Holstein gab es bisher nicht. Diese Arbeit untersucht den schleswig-holsteinischen Pietismus von seinen Anfängen bis zum E n d e des dritten Jahrzehnts im 18. Jahrhundert. Dabei wird auch ein Beitrag zur Frühgeschichte des allgemeinen deutschen Pietismus geleistet.

20 Martin Schmidt Der Pietismus als theologische Erscheinung G e s a m m e l t e Studien zur Geschichte des Pietismus, B a n d II. In Verbindung mit K . Breuer und E . Stove hrsg. von Kurt Aland. 1984. 3 3 8 Seiten, geb. D i e Aufsätze des N e s t o r s der deutschen Pietismus-Forschung markieren gewichtige Stationen der Erhellung des Phänomens „Pietismus" in der Nachkriegszeit.

21 Friedhelm Groth - Die „Wiederbringung aller Dinge" im württembergischen Pietismus Theologiegeschichtliche Studien zum eschatologischen Heilsuniversalismus bergischer Pietisten des 18. Jahrhunderts. 1984. 432 Seiten, geb.

württem-

D i e theologiegeschichtliche Untersuchung der Apokatastasis panton-Lehre wird an den E n t w ü r f e n J . A. Bengels, F. C h r . Oetingers und M . Hahns durchgeführt. Ein wirkungsgeschichtlicher Ausblick auf die beiden Blumhardts beschließt den Band.

23 Jörg Ohlemacher Das Reich Gottes in Deutschland bauen Ein Beitrag zur Vorgeschichte und theologischen P r o g r a m m a t i k der deutschen G e m e i n schaftsbewegung. 1984. C a . 3 2 8 Seiten, geb. Gegenstand der Untersuchung ist die Frage, wie sich unterschiedliche Traditionsströme zu einer gemeinsamen B e w e g u n g in der Gnadauer Konferenz verbinden konnten. Ausfuhrliche Literaturangaben und der A b d r u c k bisher unveröffentlichter Quellen verbessern die Basis für künftige Forschung.

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Pietismus und Neuzeit Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hrsg. von Martin Brecht, Friedrich de Boor, Klaus Deppermann, Hartmut Lehmann, Andreas Lindt und Johannes Wallmann Band 4: Die Anfänge des Pietismus. 1979. 389 Seiten, kart. Band 5: Schwerpunkt: Die evangelischen Kirchen und die Revolution von 1848. 1980. 316 Seiten, kart. Band 6: Schwerpunkt: Landesherr und Landeskirchentum im 17. Jahrhundert. 1981. 294 Seiten, kart. Band 7: Die Basler Christentumsgesellschaft. 1982. 277 Seiten, kart. Band 8: Der radikale Pietismus. 1983. 306 Seiten, kart. Band 9: Schwerpunkt: Kirche und Frömmigkeit im Ubergang v o m 18. zum 19. Jahrhundert. 1984. 310 Seiten, kart. Band 10: Schwerpunkt: Friedrich Christoph Oetinger. 1984. 300 Seiten, kart.

Texte zur Geschichte des Pietismus Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hrsg. von Kurt Aland, Konrad Gottschick und Erhard Peschke Abt. V: Gerhard Tersteegen, Werke. Hrsg. von Winfried Zeller Band 1: Geistliche Reden Hrsg. von Albert Löschhorn und Winfried Zeller. 1979. XXI, 666 Seiten, Leinen Von Gerhard Tersteegen (1697-1769) sind 33 geistliche Reden überliefert. Soweit ihre Datierung feststeht, gehören sie der Zeit von 1751 bis 1756 an. „Es sind Äußerungen aus .einfachen, nicht-liturgischen protestantischen Gottesdiensten', die umfassende biblisch-theologische Bildung und kirchengeschichtliche Belesenheit d o k u m e n t i e r e n . "

Deutsches Allgemeines

Sonntagsblatt

„Eine längst fällige wissenschaftlich exakte, nicht allein für die Geschichte des Pietismus, sondern auch für die gegenwärtige praxis pietatis höchst aufschlußreiche Edition des beachtlichen literarischen Werkes Tersteegens." Deutsches Pfarrerblatt Band 8: Briefe in niederländischer Sprache Hrsg. von Cornelis Pieter van Andel. 1982. XXII, 312 Seiten, Leinen In diesem Band sind alle 203 bisher bekannten Briefe Gerhard Tersteegens enthalten, die er in niederländischer Sprache verfaßt hat. Soweit möglich, sind die Briefe in chronologische Reihefolge gebracht und die Adressaten ermittelt worden. Jedem Brief ist eine deutsche Zusammenfassung des Inhalts vorangestellt. Ein Personenregister rundet diese erste wissenschaftliche Edition der meist seelsorgerlich gehaltenen niederländischen Briefe ab.

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