Hegel in Bern 9783787330799, 9783787315178

Vorwort – Hegel in Bern — Eine Vorerinnerung Erster Teil. HINTERGRÜNDE. A. Formen der deutschen Aufklärung zur Zeit des

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German Pages 244 [242] Year 1990

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Hegel in Bern
 9783787330799, 9783787315178

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Hegel-Studien Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler

Beiheft 33

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Hegel in Bern von Martin Bondeli

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der Auflage von 1990, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1517-8 ISBN eBook: 978-3-7873-3079-9 ISSN 0073-1578

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

VORWORT

Mit der vorliegenden Arbeit greife ich ein Thema auf, das bislang wenig und meist nur kursorisch behandelt worden ist: Hegel in Bern. Das Bild, das die diversen Studien und Forschungen zum jungen Hegel bezüglich seiner Berner Zeit entwerfen, ist im einzelnen recht kontrovers. Für viele Interpreten steht der Berner Hegel ganz im Zeichen einer nicht sonderlich schöpferischen praktischen Auseinandersetzung mit Kant und dem Kantianismus, die ihn vom eigentlichen Philosophieren, d. h. dem damaligen Gang der spekulativen Philosophie, abhalte. Jene, die ihn aus dem Zusammenhang der Französischen Revolution heraus deuten, wollen bei ihm indes die Wurzeln seines genialen politischen Denkens erkennen. Gemeinhin überwiegt aber die Auffassung, wonach Hegels Berner Zeit eine insgesamt unglückliche Lebens- und Schaffensperiode gewesen sei. Sein angeblich unausgegorenes und mitunter unselbständiges Denken wird dabei in der Regel mit der seiner Fähigkeiten unwürdigen sozialen und kulturellen Situation in Verbindung gebracht. Einseitige Betrachtungen zum Berner Hegel — damit oftmals einhergehende Abwertungen seiner damaligen Denkversuche — sind freilich nicht zuletzt auf den bisher nur marginal erforschten und thematisierten Kontext seines Schaffens zurückzuführen. Einzig Hans Strahm versuchte in den 30er Jahren, die biographische Seite von Hegels Aufenthalt etwas aufzuhellen und einige Materialien zum Hause Steiger, dem Aufenthaltsort des jungen Hofmeister Hegel, zusammenzutragen. Gut vor einem Jahrzehnt hat Ludwig Hasler erstmals auf ein Detail aus dem „philosophischen" Bern aufmerksam gemacht, ferner darauf hingewiesen, daß hierzu nach wie vor vieles im Dunkeln liege. Noch am ehesten ist das Umfeld des politisch interessierten Berner Hegel bekannt: namentlich Jacques d'Hondt ist hier einigen verborgenen Quellen des Hegelschen Denkens nachgegangen.

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Vorwort

Mit dem ersten Teil meiner Arbeit beabsichtige ich, das Dunkel in einigen Sequenzen zu lichten — soziale, kulturelle und biographische Hintergründe zum Berner Hegel darzustellen und zu problematisieren. Indem ich die vorliegenden Forschungsansätze aufnehme und weiterführe, verfolge ich schließlich nicht bloß das Interesse an einem „historischen" bzw. „biographischen" Hegel. Es geht mir vielmehr auch darum, aus dem thematisierten Hintergrund heraus die Interpretationsweise für seine Berner Schriften mit zu erarbeiten und einige pointierte Bezüge zwischen Kontext und Schriften herauszumodellieren. Hierfür sind, dies sei vorweggenommen, Hegels Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit dem bernischen Staat des „ancien regime", die sich allem voran in der Übersetzung der Vertraulichen Briefe niedergeschlagen haben, aber auch seine Affinitäten zu Problemaspekten bernischen Aufklärungsdenkens, etwa zum bernischen Kantianismus, besonders aufschlußreich. Der zweite Teil der Arbeit ist ganz den Berner Texten Hegels gewidmet, d. h. der sich entwickelnden Thematik innerhalb seiner Berner Fragmente der Jugendschriften. Hegels philosophisches Programm hält sich — auf einen einfachen Nenner gebracht — an eine Anwendung der Kan tischen „praktischen Vernunft" auf verschiedene empirische Gegenstände. Mit diesem Unternehmen bewegt er sich einerseits in einem Problemfeld, das man gemeinhin als nachkantische Vereinigungsphilosophie bezeichnet: es stellt sich die (vorerst pragmatische) Frage nach der Versinnlichung der Kantischen Auffassung von Moralität, systematisch gesehen sodann die Aufgabe der Überwindung des Kantischen Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit. Andererseits ist sein Denken emphatisch durch eine praktischkritische Intention charakterisiert. Die Versinnlichung der Moralität konvergiert mit einer scharfen Kritik der christlichen Religion, die sich allmählich geschichtsphilosophisch auffächert und in den sozialen Bereich diffundiert. Von Anbeginn ist sie mit Hegels Bemühung verklammert, eine neue, emanzipatorische Volksreligion zu konzipieren. Die Entwicklungen, Widersprüche und philosophisch-systematischen Konsequenzen, die sich im Zusammenspiel dieser Denkwege ergeben, stehen im Mittelpunkt der üntersuchung. Aufgezeigt werden kann dabei, wie Hegels Konzept einer konkreten Moralität auch abseits des Weges der neueren spekulativen Philosophie über das Kantische Vorbild hinauszugehen vermag und wie mit ihm das Fundament einer Dialektik praktischer Veränderung gelegt wird.

Vorwort

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Zwar darf die Arbeit insgesamt als Beitrag zu einem Ausschnitt der Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens gelesen werden, doch beabsichtigte ich mit ihr zugleich, Ansätze für eine Aktualisierung seiner Berner Entwürfe freizulegen. So enthält sein Konzept einer Kritik des Christentums Denkfiguren, die erstaunliche Parallelen zu linkshegelianischen Kritik- und Praxisverständnissen aufweisen. Für eine Kritik an neuzeitlichen Formen der Entfremdung wären sie durchaus weiter auszuschöpfen. Die vorliegende Arbeit ist von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern im Sommersemester 1986 als Dissertation angenommen worden. Für den Druck ist sie im ersten Teil gekürzt und insgesamt leicht überarbeitet worden. Den Professoren Georg Jänoska und Andreas Graeser sowie Dr. Jean-Claude Wolf möchte ich an dieser Stelle für ihre zahlreichen Anregungen und Korrekturen zur ersten Fassung danken. Mein besonderer Dank gilt auch Prof. Dr. Otto Pöggeler und Dr. Christoph Jamme, die die Arbeit mit viel Geduld mitbetreut und gefördert haben, sowie Prof. Dr. Friedhelm Nicolin, der mir freundlicherweise die Umbruch-Abzüge von Band 1 der „Frühen Schriften" Hegels zugesandt hat und mir bei der Umarbeitung für den Druck behilflich war. Danken möchte ich schließlich Ruth Schori, die sich stets darum bemüht hat, die Arbeit lesbarer zu machen.

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort Hegel in Bern — Eine Vorerinnerung

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Erster Teil HINTERGRÜNDE A. Formen der deutschen Aufklärung zur Zeit des frühen Hegel 1. Die Zeitperiode Hegels 2. Das Aufklärungsdenken Hegels im Tübinger Stift .... B. Der politisch-soziale Hintergrund des Berner Hegel — Seine Antwort mittels der Vertraulichen Briefe 1. Zu Hegels Auseinandersetzung mit dem bernischen Staatswesen 2. Der bernische Staat als „Gedankenstaat"

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C. Der geistig-kulturelle Hintergrund des Berner Hegel .... 1. Tendenzen einer bernischen Aufklärung — Bemerkungen zur These der geistig-kulturellen Enge Berns in den 90er Jahren 2. Stapfers kulturphilosophischer Kantianismus 3. Auseinandersetzung mit Fichtes „Hypermetaphysik" — Der dänische Dichterphilosoph Baggesen in Bern ....

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D. Der Berner Hegel — Eine philosophische Biographie 1. Der Hofmeister 2. Die Bibliothek 3. Die Französische Revolution — Eine Episode mit theoretischen Folgen 4. Vive Jean-Jacques! — Eine Interpretation zu Eleusis ...

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Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil HEGELS BERNER MANUSKRIPTE Zur Forschungslage A. Das sogenannte Tübinger Fragment 1. Denkwege einer Versinnlichung der Religion 2. „Subjektive Religion" und „Volksreligion" B. Subjektivierung der „objektiven Religion" — Die Berner Fragmente bis Ende 1794 1. Die Kritik der christlichen Religion a) Ohnmacht und konservierende Macht des Christentums b) Staat und christliche Religion c) Geschichte als darstellende Kritik der christlichen Religion d) Kritik als Diagnose der Entfremdung 2. „Volksreligion" und Emanzipation a) Das Dilemma des Christentums b) Der Versuch mit Kant c) Der Versuch mit Fichte d) Trotz allem: ein abstrakter Republikanismus C. Christentum und Positivität — Die Berner Fragmente ab 1795 1. „Das Leben Jesu" a) Die Erzählung b) Die Lehre Jesu c) Das Leben Jesu 2. Das „Positive" a) Zu allgemeinen Bestimmungen des „Positiven" . . . b) Die Darstellung der „Sache selbst" c) Das „Positive" des Christentums (a) Das Judentum (ß) Die spezifische Tugendreligion Jesu (Y) Die Anwendung der „positiven" Sekte auf die Gesellschaft d) Das „Positive" des Staates (a) Moralität und Legalität

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Inhaltsverzeichnis

(ß) Staat, Religion, Moralität e) Das „Positive" als entfremdete Geschichte (a) Deutsche Nationalphantasien (ß) Zur Dialektik des aufgeklärten Christentums 3. Wege einer ästhetischen und spekulativen Vereinigungsphilosophie a) Spuren einer ästhetischen Natur b) Unsichere Spekulationen Literaturverzeichnis

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Hegel in Bern — Eine Vorerinnerung „Dieser Meister ist am wenigsten vom Himmel gefallen." (Ernst Bloch, Subjekt-Objekt)

Hegel in Bern? Sauve qui peut! Rette sich wer kann! — Als ob damit etwas Erwähnenswertes, gar Gelungenes verbunden wäre — als ob der Weltgeist an diesem Ort etwas zu suchen hätte. — Solche Gedanken scheinen sich vorerst nicht unbegründet bei dieser Frage aufzudrängen, und der erste Schein trügt gerade nicht so sehr. Denn in der Tat, aus Hegels Berner Zeit spricht vornehmlich Ungereimtes, schier Unvereinbares, ausgesprochen Krisengeladenes: Weltbewegung trifft sich da mit rückständig erstarrter Provinz, poetischrevolutionäre Gesinnung läßt sich im Hause gemächUcher Reaktion nieder, — die Aufbruchstimmung des jugendlichen Genius eingehüllt in die Dekadenz des alternden; ein weltoffener, aufgeklärter Volkserziehergeist stößt sich am Kleinformat des feudalistischen Familiensinns, nochmals Herrschaft und Knechtschaft einübend. Die ansonsten gesellige Seele fühlt sich inmitten der festfreudig-frivolen Rokoko-Sozietät des Berner „ancien regime" einsam, flüchtet sich zur Trösterin Natur, unweit jenes Ortes, wo zuvor Rousseau in genußvoller Natureinsamkeit seine innere Ruhe zu finden glaubte. Und wie sollte sich dies nicht auf das eigene Schaffen niederschlagen: Die „Entfernung von den Schauplätzen literarischer Tätigkeit" (BI. 11), die Distanz vom Bund der engsten Freunde. Wird da nicht der Weg der gemeinsamen Spekulation unterbrochen, besteht da nicht die Gefahr des philosophischen Abseits? Die Schaffenskrise jedenfalls ist gewissermaßen prädestiniert: „. . . meine zu heterogene und oft unterbrochene Beschäftigung läßt mich zu nichts Rechtem kommen." (Ebd.) So entsteht auf den ersten Blick lediglich Essayistisches, Fragmentarisches. Erste Gehversuche unter dem Patronat Kantischer „praktischer Vernunft". Aus der Not der Zeit heraus wird die „praktische Vernunft" gar pädagogisch-praktisch, gesellschaftspolitisch-praktisch; die theoretische oder spekulative Vereinigungsarbeit an disparaten Begriffen verläuft stellenweise mit pragmatischem Unterton.

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Vorerinnerung

Häufig drehen sich die Gedanken um die mißlichen Zustände, drohen auf halbem Wege stecken zu bleiben oder verlieren sich im Detail. Historische und politische Studien tauchen vorerst als Nebenprodukt im Umgang mit „praktischer Vernunft" auf, wollen dann aber in die Systematik des Hauptgedankens aufgenommen werden. Alles in allem also nicht der Gang der glanzvollen Spekulation. Hegel — noch nicht bei sich. Am besten wäre es, diese Not in eine Tugend zu verwandeln. Zumindest der Anlaß dazu ist gegeben: obgleich Großes, Gelungenes in Hegels Berner Zeit und Schaffen nicht vorliegt, finden sich immerhin originäre — und dabei nicht unoriginelle — Gedanken. Neben dem umfangreichen philosophischen und literarischen Erbe macht sich ein gedanklicher Rohstoff bemerkbar, auf den Hegel später zurückgreifen wird. In manchen Apercus sieht man bereits die Vorwegnahme dessen, was den entwickelteren Hegel treffend kennzeichnet. Aber noch mehr; Denkansätze werden augenfällig, die später nicht mehr — oder nurmehr marginal — aufgegriffen und erst mit Feuerbach, Marx und Nietzsche zentral weiterverfolgt werden. Dazu gehört die emphatische Losung einer gesellschaftlichen Erneuerung, die sich auf dem Hintergrund eines kritischen Abarbeitens am Christentum abspielt und bereits die Verdoppelungsstruktur gesellschaftlich-religiöser Entfremdung thematisiert; ebenso die Entwicklung einer das gesellschaftliche Ganze durchdringenden Volksreligion oder -kultur, die eine revolutionäre Umgestaltung zu begleiten hat. Eine Vorform oder spezifische Ausprägung jener Theorie also, die zur „materiellen Gewalt" wird, „sobald sie die Massen ergreift" (Marx). Vieles bleibt im Versuch stecken, erhellt aber dennoch, läßt den roten Faden durchblicken. Kants „praktische Vernunft" ist dem Buchstaben nach der Ausgangspunkt; „praktische Vernunft" wird aber vornehmlich nicht entwickelt, sondern angewendet und führt dabei zu Schlußfolgerungen, die mit dem Ausgangspunkt nicht mehr so recht in Einklang stehen wollen. Die theoretische oder spekulative Seite der Vernunftphilosophie wird vorerst am Rande aufgenommen, die Anregungen kommen größtenteils von außen, führen dann zu ersten eigenen Entwürfen: zu Reflexionen über eine ästhetische Vernunft, zu einer Einheit von Vernunft und Volksmythologie, darauf aufbauend zu einer Annäherung an eine neue pantheistisch inspirierte Spekulation, dies alles immer mit der Verunsicherung, ob Gott oder das Alles überhaupt

Vorerinnerung

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wieder gedacht werden sollen, nachdem doch Kant „theoretisch" mit solchen Vorstellungen abgerechnet hatte. Die vorwärtsschreitende Rückkehr in diese Sphären hat mithin für Hegel zuweilen Experimentalcharakter. Bald verschwindet die Gottheit hinter Moralität und republikanischer Tugend, bald taucht sie pantheistisch auf, gar in mystisch-trunkener Gestalt. Damit verwoben, teils danebenliegend finden sich die ersten Studien zu Politik und Historie. Vermutlich hat gerade die Widersprüchlichkeit der Berner Situation den Anstoß gegeben. Der historische Blick, den Hegel gewiß bereits in Stuttgart und Tübingen ausgebildet hat, wird jedenfalls in Bern entscheidend geschärft. Historie wird bereits reflektierend gefaßt und nicht bloß als Füllstoff des zu groben Gedankens. Trotz überschwenglichem Freiheitspathos und idealisierender revolutionärer Optik wird über das genauere Ereignis, selbst über die Tagespolitik, nicht hinweggesehen. Erstaunlicherweise findet sich hier zu einem guten Teil ein empiriefreundlicher Hegel. Der Berner Zeitgeist, der historischen Niedergang erahnen läßt, macht zudem für eine kritische Sichtung von Staat und Verfassung empfänglich. Mit dem Staate Bern liegt Hegel ja geradezu das Paradigma seines kritisierten Objekts, ein oligarchischer Aristokratiestaat, vor Augen. Was sich bei Hegel später unter Politik und Ökonomie adäquater subsumieren läßt, wird in der Berner Zeit erstmals entscheidend aufgegriffen und erhält auch einen systematischen Aspekt. Die vorwiegend an der Theologie geschulte Optik Hegels wird in einen materiellen Raum verlagert. Deutlich schält sich damit die Tendenz zu einer spezifischeren, gegenständlicheren Kritik an der christlichen Religion heraus. Diese wird selbst immer stärker in ihrer Verflechtung mit der Politik begriffen. Der kritische Geist erhält insgesamt seine konkretere, politische Gestalt. Gerade diese historische und politische Denklinie Hegels, die sich thematisch wie systematisch mit der Problematik der Anwendung „praktischer Vernunft" mehr und mehr überschneidet, scheint für eine philosophiegeschichtliche Rekonstruktion dialektischer Denkstrukturen von nicht geringem Interesse zu sein. So entfaltet sich allmählich ein reich gegliedertes gesellschaftliches Ganzes, das aus der Vorstellung einer moralischen Vernunft sich entfaltet. Dies alles fügt sich freilich nicht bruchlos ineinander, und die Bestrebung um ein ganzheitliches Denken nimmt keineswegs eine beschwichtigende, versöhnlerische Haltung an. Das philosophische Bedürfnis nach Vereinigung reflektiert immer auch auf die tief erfahrene Entzweiung

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Vorerinnerung

des als Ganzheit zu erfassenden Objekts. Dadurch sieht sich das Desiderat einer Aufhebung der Entzweiung bei aller Überschwenglichkeit freilich in die Schranken verwiesen. Allein das Pathos der moralischen Tat stellt sich der zu kontemplativen und spekulativen Darstellung der Vereinigung entgegen. Die Dialektik gründet so vorderhand in der Kritik, in der radikalen Tat, die die gesellschaftlichreligiöse Entfremdung zurücknehmen soll. Mehr denn je will Philosophie dabei nicht bloß auf verschiedene Pormen der Praxis reflektieren, sondern sich in dieser realisieren. Vorerst etwas unscheinbar, zuweilen zurückgedrängt durch die nüchterne philosophische Gangart des Gedankens, gesellt sich eine ästhetische Dimension hinzu. Das griechische Harmonieideal, das Freiheit und Natur, Moralität und Sinnlichkeit durch ein sanftes Band zu vereinen vermochte, teilt Hegel schon von Beginn an mit Hölderlin. Doch wirkt es bei Hegel vergleichsweise zurückhaltend, da er offenbar um die veränderten Bedingungen einer harmonischen Gesellschaft der Gegenwart weiß. Nun soll Schönheit, auch wenn ihr tatsächliches Ideal verloren ist, wieder in die moderne Moralität zurückfinden. Hegel bedient sich ihr zunächst eher esoterisch, in der Ausgestaltung seiner Naturerlebnisse; allmählich aber wird sie zum Prinzip, das der Moralität ihr sinnliches Fundament zurückgeben soll. Sinnlichkeit und Phantasie fungieren am Ende als Momente einer Vernunft, die sich mit den Mythologien des Volks verbinden und zu einer Richtschnur für eine neue Volksreligion werden kann. Das gesellschaftliche Ganze zeigt sich dadurch um eine weitere praktische Dimension bereichert: Die anvisierte Aufhebung der gesellschaftlich-religiösen Entfremdung geht nachdrücklich mit der Frage nach einer möglichen emanzipatorischen Volkskultur einher. Die Entwürfe des Berner Hegel lassen sonach erstmals ein synthetisches gesellschaftlich-historisches Entwicklungsdenken ersehen, das die Konturen des „objektiven Geistes" antizipiert. Im Inhalt wie in der Form bleiben sie fragmentarisch. Das Bewußtsein, daß lediglich die reale Tat die Entzweiung auflösen kann, läßt in sich selbst den Widerspruch stehen, „versöhnt" sich — auch bei zu radikal vereinnahmender und damit selbstgetäuschter Subjektivität — noch nicht unterwürfig mit der bekämpften Objektivität. Im bereits sichtbaren Gang auf das grandiose System zu sind zahlreiche Fluchtwege offen. So gesehen — eine mögliche Tugend des Krisengeladenen.

ERSTER TEIL

HINTERGRÜNDE

A. Formen der deutschen Aufklärung zur Zeit des frühen Hegel 1. Die Zeitperiode Hegels Für die Darsfellung von Hegels Berner Zeif und Schaffen soll hier nicht mit seinen frühesten Stuttgarter und Tübinger Denkansätzen, gleichsam seinen philosophischen Wurzeln, begonnen und deren Entwicklung bis zum Berner Zeitraum skizziert werden; ebensowenig wird es erforderlich sein, den allgemeinen sozio-kulturellen Hintergrund, einen Zeitgeist seiner Jugendperiode im Detail nachzuzeichnen. ^ Das Spezifikum des Berner Hegel, das Bevorzugen einer praktischen Anwendung im Umgang mit Kants „praktischer Vernunft" und das damit verbundene Herausbilden eines Kritikstandpunktes am konkreten Gegenstand, ist vielmehr direkt zum thematischen Ausgangspunkt zu nehmen. Damit dieses Spezifikum hinreichend akzentuiert werden kann, erscheint es mir aber sinnvoll, auf einige allgemeine Merkmale im sozialen und geistigen Umfeld des frühesten Hegel zu rekurrieren. Die Zeitperiode, in die Hegel hineinwächst, läßt sich geistesgeschichtlich als Zeit einer fortgeschrittenen, reflektierten Aufklärung charakterisieren, einer Aufklärung, die maßgeblich aus der sozio-kulturellen Situation Deutschlands heraus verstanden werden muß. Der

1 Zum Stuttgarter und Tübinger Schaffen Hegels siehe etwa Carmelo Lacorte: II primo Hegel. Firenze 1959. Zu den sozialen und geisteshistorischen Hintergründen der frühesten Zeit Hegels z. B.: Jose' Maria Ripalda: The divided nation. The roots of a bourgeois thinker: G. W. F. Hegel. Assen 1977. Texte, Aufzeichnungen und Exzerpfe des frühesten Hegel sowie Dokumente über seine früheste Zeit finden sich in: Friedhelm Nicolin (Hrsg): Der junge Hegel in Stuttgart. Aufsätze und Tagebuchaufzeichnungen 1785—1788. Stuffgart 1970. (Marbacher Schriffen. 3); ferner in: Dok 1 — 192.

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1. Teil: Hintergründe

Begriff der Aufklärung steht hier nicht so sehr für ein verständiges Denken, das für die Realisierung subjektiver Zwecke die Naturgesetze erforscht^, vielmehr für den moralisch-religiösen Gebrauch des Verstandes im Hinblick auf einen endgültigen „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit"^, auf die völlige Autonomie und Moralität des Subjekts. Aufklärung zeigt sich darüberhinaus als vernünftige Erweiterung des Verstandes im Zuge der Rehabilitierung der Natursubjektivität. Sie gründet damit weniger in einem naturwissenschaftlichen Paradigma denn in einer reflektierten Gegenposition dazu; dem Verstandesdenken stellt sie mehr oder weniger pointiert ein Vernunft- und Freiheitsverständnis gegenüber, das Züge des Pietismus, des Sturm und Drang und der Frühromantik trägU. Diese Ausformung der deutschen Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts verbindet, Kant ausgenommen, wenig mit der nominalistisch-naturwissenschaftlichen Denktradition der englischen Aufklärungsphilosophie, ebensowenig kann sie sich gemeinhin für sensualistische oder streng rationalistische Spielarten des französischen Aufklärungsdenkens erwärmen. Die mechanistischen und materialistischen Philosopheme eines La Mettrie oder d'Holbach verschwinden völlig hinter der Begeisterung für den natürlichen Empfindungsgeist und Freiheitsdrang eines Voltaire oder Rousseau.5 Hin und wieder wird der Bogen geradezu in die Gegenrichtung gespannt, so wenn Jean Paul in satirischem Ernst den „Maschinenmann" bereits mit dem „Genius des 18. Jahrhunderts" gleichsetzt. ^ In dieser Ausprägung der deutschen Aufklärung nimmt in bezeichnender Weise eine Tendenz überhand, die ihren Stoff aus antiken Mustern bezieht, dabei vor allem das griechische Kunstverständnis sowie den griechischen Polis- und Sittlichkeitsgedanken in

2 Eine Auffassung, für die in der neuzeitlichen Philosophie besonders Bacon richtungsweisend ist. Der Mensch nähert sich der Natur instrumenteil an, spielt den listigen „Diener" der Natur, um sie seinen Zwecken gemäß „auslegen" zu können. Vgl. Francis Bacon: Neues Organ der Wissenschaften. Darmstadt 1981. 26. 3 So Kant in: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? AA 8. 35. Vgl. dazu Charles Taylor: Hegel. Frankfurt a. M. 1983. 13 ff, 24 ff. 5 Vgl. dazu etwa Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus. Frankfurt a. M. 1974. 332 ff, 406 ff. ^ Jean Paul: Der Maschinen-Mann nebst seinen Eigenschaften, ln: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 1, Bd 1: Satirische Jugendwerke. Hrsg, von E. Berend. Weimar 1927. 550.

A. Formen der deutschen Aufklärung

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modifizierter Form zum Vorbild erhebt.^ Diese historisierende Tendenz, die wesentlich von Lessing und Herder angeregt worden ist, zeichnet sich auch durch ein reges Studium der verschiedensten Volkskulturen, besonders durch das Interesse an der vergangenen germanischen Volkskultur aus. Als Folge davon wird nicht zuletzt das Moment des Geschichtlichen, Prozessualen des Aufklärungsdenkens auf ge wertet, bald gegen das statische System der Vernunft ausgespielt, bald in es verwickelt. Wiederum ist hier Herder mit seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit ein grundlegender Inspirator. Der Gedanke des Prozessualen wird aber auch von einer anderen Seite her zur Verdichtung getrieben, etwa durch das Reisemotiv dieser Zeit, wie es idealtypisch bei Georg Förster zum Ausdruck kommt. Das Denken als fahrendes, er-fahrendes arbeitet an der Entwicklung der Geschichtsphilosophie augenfällig mit.^ Philosophisch wird das deutsche Aufklärungsdenken einerseits durch das Kantische System kraftvoll zum Ausdruck gebracht, andererseits durch Strömungen, die dem strengen Rationalismus zuwiderlaufen und sich auf Gedanken des Pietismus, Neuplatonismus und ästhetischen Pantheismus berufen.^ Obschon gemeinsame Losungsworte wie Freiheit, Vernunft, Humanität in beiden Tendenzen auftauchen, besteht zwischen ihnen eine Kluft, die erst allmählich in ihrer Tiefe erkannt wird und bald zu zahlreichen Schlichtungs- und Versöhnungsversuchen Anlaß gibt. Der Pantheismus nimmt seinen Weg von Spinoza über das Bekenntnis Lessings zum Spinozismus zu Herder; Herder trägt seinerseits den Kraftbegriff Leibniz' in die pantheistische Grundanschauung hinein und verleiht dieser jenen universalistischen Zug, der für den klassischen deutschen Idealismus so kennzeichnend ist.^^ Kant, der mit der von ihm inaugurierten Transzendentalphilosophie die alte Metaphysik „kritizistisch" in die Schranken gewiesen hat, beeinflußt den Aufklärungsgeist vorerst mit seiner Parteinahme für den Primat der „praktischen Vernunft". Die Konsequenz, daß Erkenntnis ^ Zu den Entwicklungsstufen dieser Strömung siehe Charlotte Ephraim: Wandel des Griechenbildes im 18. Jahrhundert. Diss. Bern 1936. 8 Zum Reisemotiv der Aufklärung vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Die erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1980. ^ Diese Strömungen überschneiden sich meist mit einer Aufklärung der Empfindsamkeit. Vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd 1. Stuttgart 1974. Vgl. Moritz Kronenberg: Geschichte des deutschen Idealismus. Bd 2: Die Blütezeit des deutschen Idealismus. Von Kant bis Hegel. München 1912. 362 ff.

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1. Teil: Hintergründe

nun ausschließlich an die „theoretische Vernunft" verwiesen ist, Metaphysik dagegen in die reine Moralität fällt, worin sich Residuen der alten Metaphysik bloß noch unter dem Vorzeichen eines praktischen Postulats halten können, wird dabei weniger beherzigt als jene, daß nun eine radikale Autonomie des Subjekts, ein emphatischer Freiheitsgedanke entstanden istd^ Die Problematik des Widerspruchs der Systeme, die sich im Kantischen Dualismus selbst exemplarisch niederschlägt, versucht Kant in der Kritik der Urteilskraft, gleichsam sich durch sie selbst vermittelnd, zu bewältigen. Sein Versöhnungsvorschlag mittels ästhetischer Vernunft endet damit im Zirkulären, hat jedoch in der Folgezeit programmatischen Charakter.Das Ringen um eine Überwindung des Dualismus von „praktischer" und „theoretischer Vernunft", das sich teils in Kantischen Termini wie bei Schiller, teils in neuem Sprachgebrauch wie bei Fichte und Schelling abspielt, wird sozusagen zum Signum nachkantischer Vereinigungsphilosophie. Die deutsche Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist selbstverständlich ein Ereignis, das nicht allein geistesgeschichtliche Bedeutung hat. So sieht sie sich in die ideologischen Kämpfe gegen die alte Ordnung verwickelt, schafft sich neue Formen kultureller Öffentlichkeit und läßt sich auch auf sozialpolitische Reformbemühungen ein. Allerdings entbehren diese meistens einer gründlichen Analyse der bestehenden sozialen Tiefenstrukturen und beschränken sich auf reformerische Erziehungskonzepte wie bei Lessing und Schiller. Erst die Französische Revolution bewirkt eine — wenngleich zwiespältige — Wende im Verständnis des Sozialpolitischen. Die deutsche Aufklärung wird nun radikal von einem neuen revolutionären Geist herausgefordert, zugleich wird sie durch die Frage nach den Bedingungen für eine bürgerliche revolutionäre Veränderung schonungslos auf die Zurückgebliebenheit der sozio-ökonomischen Dazu Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Besonders 183 ff. 12 Die Überwindung des nun entstandenen Dualismus mittels ästhetischer Konzepte nimmt in der Frühromantik bei Schlegel und Novalis — aber auch bei Schiller — unmittelbar eine politisch-utopische Dimension an. Vgl. dazu Hans-Joachim Mähl: Der poetische Staat, ln; W. Vosskamp (Hrsg): Utopie-Forschung. Interdisziphnäre Studien zur neuzeitlichen Utopie-Forschung. Bd 3. Stuttgart 1982. 273—302; sowie Klaus Peter: Idealismus als Kritik Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1973. Besonders 46—58, 95—100. 13 Einen guten Überblick hierzu vermitteln die Aufsätze in: Hans-Erich Bödeker/Ulrich Herrmann (Hrsg): Aufklärung als Politisierung — Politisierung der Aufklärung. Hamburg 1987.

A. Formen der deutschen Aufklärung

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Verhältnisse im eigenen Lande aufmerksam gemachtd"^ Nach der ersten Begeisterung für die Ideale der Französischen Revolution sind die meisten Einschätzungen der deutschen Aufklärer zum Revolutionsgeschehen skeptisch bis ablehnend: Mit dem Beginn der Jakobinerherrschaft in Frankreich folgt in der Regel dem Enthusiasmus die kritisch-nüchterne Distanzierung oder die Trauer um den Verlust an lebendiger revolutionärer Kraft — ein Ergebnis idealistisch überspitzter Erwartungen an die RevolutionT^ Gerade die Zurückgebliebenheit Deutschlands ist schließlich ein Grund dafür, daß die Verlagerung der Aufklärungsideen in den sozialphilosophischen Bereich nur zaghaft vor sich geht. In ihren sozialpolitischen Konsequenzen wirken sie halbherzig, da sie nicht umhin können, sich mit der alten Gesellschaftsordnung zu arrangieren. In vielem bleiben sie im Bannkreis von Kants vorsichtiger politischer Aufklärungshaltung, wie sie in der Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? zum Ausdruck gekommen ist. Danach soll Aufklärung durch politische Revolution zwar den „Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger und herrschaftssüchtiger Bedrückung" zur Folge haben können, nicht jedoch die „wahre Reform der Denkungsart".In dieser Entgegensetzung ist im Endeffekt eine „wahre Reform der Denkungsart" selbst am Werk, die den Bereich des Politischen nur mittels eines verdrängenden Blicks von oben einzubeziehen vermag. Die politischen Konsequenzen beschränken sich ganz auf den „öffentlichen Gebrauch" der Vernunft und die „Toleranz" in „Religionsdingen" und vertragen sich gar mit dem Diktum Friedrichs II: „Räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!" Die Aufklärungsprinzipien sind bei aller Kritik an den herrschenden Zuständen vor einer Apologie des „aufgeklärten Despotismus" nicht gefeit. Zu dieser Problematik siehe etwa Karl Mannheim: Der Konservatismus. Frankfurt a. M. 1984. 138 ff. 15 Eine Ausnahme ist hier Fichte, der dem Geist des lakobinismus vielleicht am stärksten treu geblieben ist. Vgl. Bernhard Willms: Einleitung, ln: ]. G. Fichte: Schriften zur Revolution. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1973. Besonders 37 f. — Das idealistische Mißverständnis trifft ferner auch jene, die ihre Ideale weiterhin ungebrochen in Form eines Republikanismus auf eine gesellschaftUche Versöhnung hin reflektieren. Dies betrifft z. B. Friedrich Schlegel. Vgl. hierzu Andreas Huyssen: Republikanismus und ästhetische Revolution beim jungen Schlegel. In: F. Schlegel: Kritische und theoretische Schriften. Stuttgart 1978. 230. 1* Vgl. Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? AA 8. 36. 1^ Siehe zu diesem Problem auch Franz Mehring: Die Lessing-Legende. Frankfurt a. M.,

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1. Teil: Hintergründe

2. Das Aufklärungsdenken Hegels im Tübinger Stift In seiner frühesten Zeit huldigt Hegel einem aufklärerischen Bildungs- und Erziehungsideal, das wesentlich auf einer Verbindung von vernunftreligiöser und pietistischer Tradition beruht.!^ Im Tübinger Stift, wo er gemeinsam mit Hölderlin und Schelling eine theologische Ausbildung erfährt, finden sich neben pietistischen Gedanken Versuche der religiösen Erneuerung der Gesellschaft auf der Grundlage eines Amalgams von Elementen christlicher Vernunftreligion, griechischer Poliswelt und pantheistischer Weltauffassung. Die einheitsstiftende Tendenz in diesem Amalgam bildet das Verständnis einer vernünftig-lebendigen Freiheit, die gegen verstandesorientiertes mechanisches Denken sowie gegen Determinismen aller Art abgegrenzt wird. Kurz gesagt: mit ihm wird Sinnlichkeit gegenüber dem Verstand rehabilitiert, eine formalistische Weise der Aufklärung scharf kritisiert.Diese Einheit bleibt jedoch in sich diffus, ohne genauere Differenzierung werden Rousseau, Schiller und Kant für dieselbe Sache reklamiert, die Widersprüche zwischen oder innerhalb der einzelnen Denksysteme bleiben äußerlich oder werden übersehen. Das überwiegende Freiheitsmoment umgreift zudem eine breite Palette von Gegenständen: Gemeint ist nicht bloß eine subjektive, individuelle Befreiung von als obsolet empfundener Objektivität; Freiheit ist vielmehr auch ein zentraler Begriff, der in verschiedene Objekte versenkt wird, der in die Natur Spekulation treibt, schließlich zu einer harmonistischen Konzeption einer freien Nation nach dem modifizierten Vorbild der antiken Poliswelt führt. Das in die Praxis eingreifende aufklärerische Motiv, das mit diesem Freiheitsverständnis verklammert ist, beschränkt sich in dieser Zeit vorerst auf eine Popularisierung der Aufklärungsvernunft.^o Durch den Einfluß der Französischen Revolution erhält diese FreiheitsaufBerlin, Wien 1972. 70 ff, 119 ff. Mehring weist auf Überschneidungen des „aufgeklärten Absolutismus" Friedrichs II mit dem Aufklärungsdenken Lessings hin. Die Affinität dieses Beispiels mit jenem der Kantischen Aufklärungsschrift ist dabei offensichtlich. Hierzu Kurt Wolf: Die Religionsphilosophie des jungen Hegel. 1—20. Diese Grundhaltung bezeichnet Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik, 19—22, als „Tübinger Axiomatik". 20 Hegels Interesse an solchen Fragen scheint äußerst rege gewesen zu sein. Seine Exzerpte aus der Stuttgarter Zeit vermitteln einen stark pädagogisierenden Stil. Aber auch der Pädagogik als philosophischer Disziplin legt er, wie das umfangreiche und gründliche Exzerpt zu Feders neuem Emil zeigt, großes Gewicht bei. Vgl. Dok 55—81.

A. Formen der deutschen Aufklärung

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fassung ein pointierteres Pathos, das durch Kantische moralische „Autonomie" und später durch Fichtes spekulatives „Ich" untermauert wird, und steigert sich teilweise zu der für diese Zeit üblichen revolutionären Rhetorik. Doch werden gerade durch diese neue Sachlage auch neue systematische Zusammenhänge reflektiert. „Hen kai pan" und „Reich Gottes", die Losungsworte der freiheitlich gesinnten Tübinger Stiftler^i, bekommen bald einen mehr politischen Inhalt. ln der Tübinger Zeit kann Hegels Anteil an dieser philosophischen Tendenz kaum getrennt dargestellt werden. Auszumachen sind lediglich bestimmte Präferenzen, die ihn seinen engsten Freunden gegenüber kennzeichnen. Seinen Exzerpten und Tagebucheintragungen aus der Stuttgarter und Tübinger Zeit läßt sich ein vorzügliches Interesse an antiker griechischer Literatur und Geschichte, das möglicherweise jenes an der Geistesgeschichte seiner Zeit überwiegt, entnehmen; aber auch die Vorliebe für Universalhistorie oder für das akribische Studium der empirischen Wissenschaften, insbesondere der damals stark aufkommenden empirischen Psychologie.22 Aus diesen Präferenzen läßt sich wohl etwas von dem exzentrischen philosophischen Charakter, den man dem frühen Hegel nachsagt, herauslesen. Ob aus ihnen indes auf eine Zurückgebliebenheit des jungen Stiftlers in Sachen Metaphysik zu schließen ist, wie dies der Bericht des Magister Leutwein über die Stiftszeit nahelegt, ist fraglich. Obschon Hegel in dieser Zeit prinzipiell ein größeres Interesse an Rousseau als an Kant gehegt haben mag, scheinen die Bemerkungen, daß ihm „Vater Kant" nicht einmal „recht bekannt" gewesen und er im „Reiche des Wissens" durchaus eklektisch, „cavalierement" herumgeschweift sei, doch übertrieben zu sein.23

Das Losungswort „Reich Gottes" zirkuliert neben „Freiheit", „Vernunft" und „unsichtbare Kirche" noch in Hegels Berner Zeit gelegentlich zwischen Hegel, Hölderlin und Schelling. Vgl. B I. 9, 18. — „Hen kai pan" schreibt Hölderlin seinem Freund Hegel als „Symbolum" ins Stammbuch. Vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 4, Teil 1. Hrsg, von F. Nicolin. 16. Zur Losung „Reich Gottes" vgl. neuerdings Friedhelm Nicolin: Verschlüsselte Losung. Hegels letzte Tübinger Predigt. In: Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. A. Gethmann-Siefert. Bd. 1 Stuttgart-Bad Cannstatt 1988. 367—399. Siehe dazu die Exzerpte in Dok 101 — 104, 115—136. Vgl. Dok 428—430. — Zur Frage, inwieweit Leutwein Hegels Stiftszeit korrekt wiedergegeben hat, vgl. Dieter Henrich: Leutwein über Hegel. Ein Dokument zu Hegels Biographie. In: Hegel-Studien. 3 (1965), besonders 75 ff.

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1. Teil: Hintergründe

Die Französische Revolution hat neben der genannten Radikalisierung in der philosophischen Position der Stiftler auch eine Sensibilisierung für die Veränderung ihrer unmittelbaren Lebensformen zur Folge. Im württembergischen Tübingen trifft Hegel ähnliche politische und soziale Verhältnisse an wie später in Bern, nämlich einen aristokratischen Ständestaat auf feudaler Sozialstruktur. Allerdings finden sich darin, verglichen mit dem bernischen Staatswesen, einige fortschrittliche Verfassungsgrundsätze. Für die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts kann von einer Tendenz zu einem „aufgeklärten Absolutismus" gesprochen werden.^4 Auch die protestantische Staatsreligion Württembergs zeigt sich erneuernden aufklärerischen Strömungen gegenüber recht aufgeschlossen. So kann sich der Pietismus, den man gegen die lutherische Dogmatik richtet, unter ihr jedenfalls verbreiten. Besonders Oetinger übt mit seinem Pietismus, der lebensphilosophische und urchristliche („sensus communis") Inhalte vereinigt, eine nachhaltige Wirkung aus, welche die Stiftler auch in ihrer „revolutionären" Zeit prägt.^5 Die Institution freilich, in der die Auseinandersetzung mit dem württembergischen Staat für die Stiftler stattfindet, nämlich das Stift selbst, agiert wenig aufgeklärt. Die Auseinandersetzungen führen hier bald zu Protesten gegen die autoritäre Stiftsdisziplin, bald nehmen sie einen weitergehenden politisch-ideologischen Charakter an. Unter den Stipendiaten entstehen verschiedene revolutionäre Clubs, die zum Teil auch personelle Beziehungen zu deutschen und französischen Jakobinern unterhalten.26 Hier werden die Ereignisse in Frankreich eifrig besprochen, aus französischen Journalen und Flugschriften die neuesten Informationen bezogen. Diese Clubs sind zwar politisch eher harmlos und wohl kaum in bedrohlicher Weise konspirativ. Dennoch sind sie aufrührerisch genug, um den Herzog von Württemberg höchst persönlich zu einem Einschreiten zu bewegen. 22 24 Vgl. Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. 9 f. 25 Zur Geschichte des württembergischen Pietismus siehe Martin Schmidt: Pietismus. Stuttgart 1972. Besonders 113 ff. - Zur Bedeutung des Oetingerschen Pietismus für Hegel und Schelling vgl. Rainer Piepmeier: Aporien des Lebensbegriffs seit Oetinger. Freiburg, München 1978. 19 ff. 25 Zur Agitation deutscher Jakobiner siehe Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution. 13 ff. Einen umfassenden Überblick vermittelt Walter Grab: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner. Frankfurt a. M., Olten, Wien 1984. 22 Vgl. Karl Rosenkranz: Hegel's Leben. 33.

B. Der politisch-soziale Hintergrund

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Die Auflehnung gegen die Situation im Stift hat ihren Grund auch im Konflikt mit den dort vorherrschenden Lehrmeinungen. Die dominierende theologische Auffassung am Stift ist der Supranaturalismus, eine Auffassung, die auf der übernatürlichen, geoffenbarten Wahrheit des Christentums beruht. Um der gängigen rationalistischen Kritik an ihr standzuhalten, versucht diese Auffassung zugleich, rationalistische Momente des Leibniz-Wolffsehen Systems zu integrieren.28 Es ist vor allem dieser Supranaturalismus, dem die Stiftler dezidiert die Kantische Philosophie entgegenhalten. Kant gilt ihnen dabei geradezu als der neue Weltbeglücker, und Hegel erwartet noch in der Berner Zeit vom „Kantischen System und dessen höchster Vollendung . . . eine Revolution in Deutschland" (B I. 23). Daß allerdings der Tübinger Supranaturalismus auch Kant nach anfänglicher Ablehnung zu vereinnahmen vermag, indem er seine alten Dogmen schlicht in Postulate der „praktischen Vernunft" transformiert, ist Hegel nicht entgangen.

B. Der politisch-soziale Hintergrund des Berner Hegel — Seine Antwort mittels der „Vertraulichen Briefe" 1. Zu Hegels Auseinandersetzung mit dem bernischen Staatswesen Der politisch-soziale Kontext, in den Hegel in Bern sich gestellt sieht, ist mehr als nur eine äußerliche Umrahmung einer Zeitperiode seines Schaffens und Denkens. Die soziale Umgebung wird unmittelbar zum Stein des Anstoßes, dies umso mehr, als nun nach der Stiftszeit eine vertraute Umgebung und engere Freundschaften vorübergehend fehlen. Ein solcher Bruch beschränkt sich aber nicht auf die individuelle Situation, sowenig wie eine allmählich spürbare Empörung allein am Biographischen festgemacht werden kann. Hegel setzt sich vielmehr gerade auch mit dem auseinander, was man den sozialen Zeitgeist nennen könnte; und dies geschieht nicht nur in Form der bloßen Kenntnisnahme, bestimmt die Auseinandersetzung doch eminent seine philosophischen Überlegungen und Konzepte. Was Hegels Philosophie generell immer wieder attestiert wird, daß

Vgl. Kurt Wolf: Die Religionsphilosophie des jungen Hegel. 31 f.

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1. Teil: Hintergründe

sie bewußt auf ihre Zeit reflektiert, kann für die Berner Etappe geradezu exemplarisch gelten. Hegel denkt hier sehr unmittelbar aus seiner Zeit heraus — und zwar besonders aus der Not dieser Zeit. Diese Denkhaltung Hegels muß wesentlich für seine kritische Beschäftigung mit dem bernischen Staats wesen bedacht werden. Der Hinweis auf das rege Interesse, das er als scharfer Kritiker der christlichen Orthodoxie während der Berner Zeit dem Staat allgemein entgegenbringt, ist längst ein Gemeinplatz entwicklungsgeschichtlicher Hegel-Darstellungen. Unstrittig dürfte auch sein, daß seine unmittelbare Konfrontation mit dem bernischen Staat, allem voran mit dessen Abwehrhaltung gegen die Einflüsse der Eranzösischen Revolution, ihn hierfür sensibilisiert haben mag. Dabei ist wenig berücksichtigt worden, wie diese beiden Tendenzen miteinander Zusammenhängen, meist hat man denn auch Hegels Äußerungen zum bernischen Staat als Teil seines episodischen Philosophierens sehen wollen oder lediglich als Anlaß zur Debatte über seine damalige persönliche Situation genommen. i Daß eine solche Sicht ungerechtfertigt ist, wird dann deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie detailliert er sich über die bernischen Staatsmechanismen informiert hat und vor allem wie sehr die Kritik an ihnen auf sein Konzept der Kritik des abstrakten Staates abhebt.^ Das bernische Staatswesen in der Zeit um Hegels Aufenthalt ist von ausländischen Beobachtern gemeinhin als „vollkommenste Aristokratie" geschildert worden.^ Diese Einschätzung entbehrt aber nicht gewisser Ambivalenzen. Zwar wird damit in Form eines kritischen Seitenhiebs die strenge Abgeschlossenheit der aristokratischen Regierung, ihre oligarchische Depravation, angesprochen; umgekehrt wird aber auch ein gewisses Geschick in Sachen Staatsverwaltung, insbesondere die gekonnte Handhabung des Finanzhaushalts, ' Diese Debatte geht hauptsächlich zurück auf Hugo Falkenheim (Eine unbekannte politische Druckschrift Hegels. In: Preußische Jahrbücher. 138 (1909), 193—210), der Hegels Übersetzung der Vertraulichen Briefe als dessen Reaktion auf persönlich erlittenes Unrecht im Hause Steiger interpretiert. Die Gegenposition zu Falkenheim hat Hans Strahm: Aus Hegels Berner Zeit, eingenommen. 2 Siehe dazu besonders Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution. 50 f; Jürgen Habermas: Zu Hegels politischen Schriften. In: Theorie und Praxis. Frankfurt a. M. 1972. 148, 157; Otto Pöggeler: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt. 73 ff; Shlomo Avineri: Hegels Theorie des modernen Staates. Frankfurt a. M. 1976. 19 f; Wilhelm R. Beyer: Der alte Politikus Hegel. 14 ff. 3 Vgl. Hedwig Waeber: Die Schweiz des 18. Jahrhunderts im Urteile ausländischer Reisender. 8 f.

B. Der politisch-soziale Hintergrund

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herausgestrichen^. Abneigung, Respekt oder gar Bewunderung wechseln einander ab. Der bernische Staat, den Hegel vor Augen hat, ist genauer besehen ein oligarchischer Patrizierstaat, der sich aus einer städtischen Zunftorganisation heraus „aristokratisiert" hat. Die mit der Staatsverwaltung verzahnte ökonomische Grundlage bildet das patrimoniale Feudalsystem, dessen Reichtumsquelle in der Agrikultur liegt.^ Seinen legendären Reichtum erwirbt Bern aber durch einen Staatsschatz, der seit der Zwangssäkularisation der waadtländischen Kirchengüter angelegt werden konnte und nun durch zahlreiche Staatsanleihen an ausländische Souveräne vermehrt wird.^ Über die Höhe des Staatsschatzes ließ sich — infolge des bemischen Geheimhaltungsprinzips in Finanzsachen — trefflich spekulieren.^ Politisch gesehen ist der Staat Bern im Vergleich zum neuzeitlichen Nationalstaat ein lockeres Gemeinwesen, dessen Entscheidungskompetenz faktisch auf dem Zusammenspiel einzelner Machtansprüche der traditionsreichen Familien, formell auf der Zentralisierung dieses Zusammenspiels in den bemischen Räten, beruht. Die Verwaltung liegt bei den einzelnen Landvogteien, in die der Staat territorial gegliedert ist; eine Zentralisierung ist hierbei aufs Nötigste restringiert und wenig auf effektive Machtmittel ausgerichtet. So unterhält Bern selbst kein stehendes Heer, sondern verfügt im 18. Jahrhundert lediglich über eine „Marechaussee".® Der Absicherung der sozialen Herrschaft durch die Integration der unteren Schichten in den Staat kommt die Aufteilung des Staatsgebietes in Herren- und Untertanenland (die Waadt) sehr entgegen, wobei freilich gerade hier die politisch-sozialen Konflikte am heftigsten aufbrechen müssen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts geht die Oligarchisierung innerhalb der Patrizierschaft einher mit der Verlagerung der wahlaristokratischen zu erbaristokratischen Praktiken. Die Patrizierschaft übt sich in Selbstbehinderung: die Anzahl regimentsfähiger Familien nimmt be-

So bei Christoph Meiners: Briefe über die Schweiz. Teil 1. 135, 184. 5 Zur näheren Charakterisierung der damaligen bemischen Ökonomie vgl. Julius

Landmann: Die auswärtigen Kapitalanlagen aus dem Berner Staatsschatz im 18. Jahrhundert. Zürich 1903; Ernst Honegger: Ideengeschichte der bemischen Nationalökonomie im 18. Jahrhundert. Diss. Bern 1922/23. ^ Die genaueren Angaben zu diesen Finanzgeschäften siehe bei Landmann: ebd. ^ Vgl. ebd. 12, 15; ebenfalls Christoph Meiners: Briefe über die Schweiz. Teü 1. 237. ^ Vgl. Richard Feiler: Geschichte Berns. Bd 4. 25 ff.

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1. Teil; Hintergründe

trächtlich ab^, an der schmalen Spitze unterläuft eine rigorose Familienpolitik jedweden Sinn für ein ausgewogenes Wahl verfahren. Die Wahlen in die bernischen Räte sind denn auch prädominiert durch eine Mischung von Erblichkeit der Macht und Wahl der Tüchtigen, worin letztere zur Farce werden muß.^^^ Auch außenpolitisch wird Bern durch seine selbstbeschauliche Familientaktik paralysiert. Mit dem Ausbruch der Französischen Revolution, dem die Regierung mit einer vehementen Abwehr im Innern wie gegen außen begegnet, verwickelt sie sich rückhaltlos in ein diplomatisches Spiel mit den umliegenden Mächten. Hierin befehden sich schließlich die sogenannte „Kriegspartei" unter der Führung des Schultheißen Steiger, der sich an Preußen und England orientiert, und die franzosenfreundliche „Neutralisten- oder Friedenspartei" unter Frisching.^i Der Zwist der Parteien sollte wesentlich zum Untergang des alten Bern beitragen. Die institutioneile Verfassung und die Rechtspraxis des bernischen Staates präsentieren eine ähnliche Struktur sich isolierender Zentralgewalt. Die Oberhoheit liegt formell beim Großen Rat, de facto überantwortet man die wichtigen Entscheide der Exekutive, dem Kleinen Rat; die Außenpolitik liegt sozusagen allein in den Händen des Geheimen Rates.Ferner mangelt es an einer Trennung von politischer und judikativer Gewalt sowie an angemessenen Trennungen innerhalb der judikativen Gewalt selbst. Die Gerichtsbarkeit entwindet sich beispielsweise jeglicher sorgfältigen Beweisführung bei Prozessen und kennt keine unabhängige Verteidigung der Delinquenten. Daß Bern Ende des 18. Jahrhunderts einer aufgeklärten Rechtspflege kraß hinterherhinkt, ist schon damals ein gängiges Urteil. Die größte Empörung ruft dabei die Tatsache hervor, daß kein „peinliches" Gesetzbuch existiert, mithin auch durch diese fehlende Überprüfungsmöglichkeit der Willkür des Strafens Vorschub geleistet wird. Offenbar wendet man auch die Tortur nach wie vor an.

® Vgl. Eduard von Rodt: Bern im 18. Jahrhundert. 1 ff. Eine fast ironische Beschreibung des Wahlverfahrens findet sich bei Sigmund von Wagner: Novae Deliciae Urbis Bernae oder das goldene Zeitalter Berns. In: Berner Taschenbuch 1918. Bern 1919. Siehe hierzu Kurt von Steiger: Schultheiß Niklaus Friedrich von Steiger. Bern 1976. Besonders 101 ff. Vgl. Richard Feiler: Geschichte Berns. Bd 4. 343. 13 Siehe Hedwig Waeber: Die Schweiz des 18. Jahrhunderts im Urteile ausländischer Reisender. 48 ff.

B. Der politisch-soziale Hintergrund

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was sich infolge der genannten Willkür schwer beweisen läßt, aber doch immer wieder gerüchteweise durchsickert. Hegel hat, obschon das aristokratische Musterexempel auch auf ihn einen historisch-exotischen Reiz ausgeübt haben mag, seine Ablehnung des Berner Staates mehr oder weniger offen kundgetan. Ähnlich wie Rousseau, der die „Republik" Bern unter die zur Erbaristokratie entarteten Wahlaristokratien subsumiert, mithin in die Nähe der „schlechtesten aller Regierungen" rückt^^, sieht auch Hegel in ihr das Negativbild einer freien Gesellschaft. Eine solche Beurteilung hält er übrigens, wie seine spärlichen Erwähnungen Berns in späterer Zeit verraten, bis zu seinem Lebensende aufrecht. Das wichtigste Dokument, woraus sich ersehen läßt, inwieweit Hegel die verschiedenen Aspekte des bernischen Staates gekannt und genauer kritisch verarbeitet hat, sind die von ihm übersetzten und kommentierten Vertraulichen Briefe. Im Original handelt es sich um eine eher ephemere politische Streitschrift gegen die Unterdrückung der Waadt durch Bern, Verfasser und Ankläger ist der waadtländische Advokat Jean-Jacques Cart.^^ Während nach wie vor der konkrete Entstehungszusammenhang der Übersetzung sowie die Absicht, die Hegel mit der Schrift verbunden hat, zum Teil ungeklärt sind^^, ist ihre zentrale Bedeutung für das politische Schaffen des Berner Hegel unumstritten. Die Schrift zeigt, daß er mehr als nur oberflächlich an die Sache herangegangen ist, sie spiegelt zudem ein Hegelsches Arbeitsfeld, das über ihren direkten Kontext hinausgeht. Neben der Auseinandersetzung mit der Waadt, für die Hegel weitergehende rechtshistorische Studien beiziehti®, eignet er sich offenbar auch zahlreiche allgemeinere Kenntnisse über die Funktionsweise Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag. Buch 3, Kapitel 5. 327. Siehe z. B. sein Urteil über Bern in der Spätschrift Über die englische Reformbill. In: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg, von G. Lasson. 288. Der Originaltitel lautet; „Lettres de Jean Jacques Gart ä Bemard Demuralt, Tresorier du Pays de Vaud, sur le droit public de ce Pays, et sur les evenements actuels" (Paris, Cercle Social 1793). Die Übersetzertätigkeit und Kommentierung Hegels sind erst 1909 durch Falkenherm bekannt geworden. Zum Entstehungszusammenhang der Schrift vgl. Wolfgang Wieland: Nachwort. In: Vertrauliche Briefe. 213—223; Wilhelm R. Beyer: Der alte Politikus Hegel. 14—20. Zur Absicht, die Hegel mit dieser Schrift hegt, siehe neben Falkenheim und Strahm auch Jacques d'Hondt: Hegel secret. 76 ff. — In Bern unterliegt die französische Ausgabe der Zensur; die deutsche Ausgabe erscheint 1798 anonym in Frankfurt. 18 Hegel bezieht sich z. B. auf Seigneux: Systeme abrege de Jurisprudence criminelle accommode aux loix et ä la consitution du pays. Lausanne 1756.

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1. Teil: Hintergründe

des bernischen Staates an. Christoph Meiners' Briefe über die Schweiz^^ und vermutlich auch Johann Georg Heinzmanns Mitte der 90er Jahre erschienene Beschreibung der Stadt und Republik Bern^^ werden ihm hierzu als wichtige Quellen gedient haben. In dieser Richtung ist zudem die Beschäftigung Hegels mit dem bernischen Finanzwesen zu erwähnen, auf die Rosenkranz hingewiesen hat. Er berichtet, daß Hegel die „Finanzverfassung Berns" durchstudiert habe, dies „bis in das kleinste Detail, bis zum Chausseegeld usw.'k^i Dieser kurze Hinweis von Rosenkranz auf ein Manuskript Hegels, das heute nicht mehr erhalten ist, wirkt allerdings etwas irreführend, ln Bern existiert nämlich damals keine öffentlich zugängliche, kodifizierte Finanzverfassung. Die bernischen Finanzverhältnisse basieren auf einem Gewohnheitsrecht, das, wie erwähnt, weitgehend geheim gehalten wird. Bei dieser Studie wird es sich deshalb höchstwahrscheinlich um eine Skizzierung sehr allgemeiner, offenliegender Finanzregelungen und wohl eher nebensächlicher Details des bernischen Finanzwesens gehandelt haben. Dabei konnte Hegel gerade auf Meiners und Heinzmann Bezug nehmen, die sich beide ebenfalls um eine Übersicht über bernische Einnahmen und Ausgaben bemüht haben. 22

2. Der bernische Staat als „Gedankenstaat'' Hegel teilt in den Kommentaren der Vertraulichen Briefe zwar weitgehend das Engagement von Cart, in der kritischen Argumentation weicht er jedoch von ihm ab. Während der waadtländische Advokat vornehmlich einheimische historische Rechte gegen die bernische Herrschaft vindiziert23, mißt Hegel den Berner Staat an staatspragmatischen und moralischen Kriterien. Ein wichtiges Werkzeug der Kritik bietet ihm die staatstheoretische Maxime Montesquieus, woHinweise Hegels auf Meiners siehe: Vertrauliche Briefe. Kommentar Hegel. 139; GWl. 386 f. 20 Heinzmann (1757—1802) ist im damaligen Bern bekannt als Herausgeber und Reiseschriftsteller. Hegel wird das genannte Werk kaum entgangen sein, fällt dessen Herausgabe (1. Ausgabe 1794, 2. Ausgabe 1796) doch in die Zeit seines Aufenthalts. 21 Karl Rosenkranz: Hegel's Leben. 61. 22 Vgl. Christoph Meiners: Briefe über die Schweiz. Teil 1. 232 ff; Johann Georg Heinzmann: Beschreibung der Stadt und Republik Bern. 1. Ausgabe. 120 ff. 23 Hin und wieder bezieht sich Cart auch auf naturrechtliche Argumente Montesquieus. Siehe Vertrauliche Briefe. 61, 162 f, 172.

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nach ein Staat seinen inneren Zusammenhalt nicht durch sein finanzpolitisches Instrumentarium gefährden dürfe, jeder Versuch, über Steuerpolitik politische Loyalität zu erkaufen, dem Gemeingeist des Staates schaden müsse.Nichts anderes praktiziert in Hegels Augen der bernische Staat, der seine Landbevölkerung mit Steuererleichterungen gängelt. In dieser Argumentationsrichtung wird der Untergang des alten Berner Staates für Hegel zum schlagendsten Beweis seiner fehlenden politischen Staatsklugheit. Der eigentliche kritische Gedanke, unter dem Hegel den bernischen Staat thematisiert, ist indes jener einer Kritik des abstrakten Staates oder — um terminologisch den Hegel der Verfassung Deutschlands zuhilfe zu nehmen — des „Gedankenstaates", dessen reale Grundlage ein „Nichtsein des Staats" ist.^^ Einem solchen „Gedankenstaat" liegt eine soziale Konstellation von Partialinteressen zugrunde, die den Staat als solchen lediglich als negative Macht konstituieren kann, d. h. als Abstraktum, das sich positiv als formalisierte, willkürliche Staatsaktion manifestiert. Diese kritische Denkfigur hat Hegel an einzelnen Mechanismen des bernischen Staates erproben können. Hier führen die Familieninteressen zu einem abstrakten Staatsgebilde, dessen Wille sich in Ritualen, Formalismen und Mystifikationen erschöpft. In der bernischen Ökonomie, so beschreibt Hegel, korrespondiert das Partialinteresse einem Kult des Verbergens — der Geheimhaltung der Finanzen. Mit dem Staatsschatz muß der politische Gemeinwille der „größeren Achtung", die man „für etwas unbekanntes" hat, weichen.^6 In dieser trefflichen Beurteilung taucht, nebenbei gesprochen, ein sozialkritisches Motiv Hegels auf, das zur Verdichtung seiner späteren Kritik am Kantischen „Ding an sich" beiträgt. In der detaillierten Deskription des Wahlverfahrens für die bernischen Räte läßt Hegel sodann durchblicken, wie die Selbstbehinderung der Familienpolitik sich mit einem Mythos der Kompliziertheit und mit blinder Schicksalsgläubigkeit in der Form des Verfahrens paart.27 Den Höhepunkt willkürlichen Formalisierens erblickt Hegel aber in der bernischen Strafrechtspraxis. Hier wird so gut wie von jedem inhalt-

2“* Vgl. Vertrauliche Briefe. Kommentar Hegel. 81 f. — Das entsprechende Theorem Montesquieus findet sich in; Vom Geist der Gesetze. Buch 13, Kapitel 12. 25 Vgl. Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg, von G. Lasson. 61 f. 26 Vertrauliche Briefe. Kommentar Hegel. 84. 27 Vgl. ebd. 196.

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1. Teil: Hintergründe

liehen Prozeßverfahren abstrahiert. An zwei Beispielen legt er dar, wie eine Verteidigung, weil sie formell eine Anklage ist und die Delinquenten deshalb zur Vorsicht und Verschwiegenheit verführt, auch dem Gehalt nach in einer verfehlten Anklage resultiert. ^8 Daß die Verteidigung dort, wo sie faktisch ausgeschaltet worden ist, noch formelle Realität haben kann, illustriert er ferner am Beispiel der Hinrichtungen in den bernischen Landstädten, die jeweils von einer Scheinverteidigung begleitet worden sind: „An dem zur Hinrichtung angesezten Tage nemlich versammelten sich die Ortsvorsteher unter Vorsiz des Landvogts auf einem öffentlichen Plazze; ein Ankläger tritt auf, auf ihn folgt nun ein Vertheidiger, der vor den Ohren des Delinquenten, dem schon einige Tage vorher das Todesurtheil angekündigt worden ist, sich die Lungen anstrengt, ihn zu rechtfertigen; hierauf läßt denn der Landvogt das zu Bern gefällte Todesurtheil öffentlich publiciren, und der Missethäter wird zur Hinrichtung geführt. Diese Gewohnheit, die dadurch, daß sie bloße Formalität geworden ist, ganz empörend war, hat man vor einigen Jahren abgeschafft, aber damit auch den noch übrigen Schatten eines der schätzbarsten Rechte der Bürger gesitteter Staaten vertilgt. Hegel moniert an dieser Szene nicht zuletzt ihre eigene Hilflosigkeit, ihre Ohnmacht. Durch den vorgezeichneten Gang, der gleichsam hinter dem Rücken der Beteiligten verläuft, ist die vordergründige Handlung zur Szenerie, zur leeren Tat verurteilt, wobei deren reale Wirkungslosigkeit durch ein Äußerliches, die Anstrengung der Lungen (die wohl jene des Begriffs zu ersetzen hat!), kompensiert wird. Dieses Motiv der Ohnmacht erörtert Hegel im Zusammenhang der Todesstrafe auch andernorts. In den von Rosenkranz mitgeteilten Fragmenten historischer und politischer Studien aus der Berner und Frankfurter Zeit empört er sich gleichfalls sehr eindringlich über die öffentlich zelebrierten Todesstrafen, die das Opfer ostentativ der völligen Wehrlosigkeit aussetzen (vgl. Dok 270 f). Das Ekelerregende ist die Tatsache eines wehrlosen Menschen, der, gebunden und bewacht, das „Bewußtsein des gegenwärtigen Augenblicks" nur „übertäuben" kann, indem er Zuruf und Gebet der Geistlichen „nachschreit".80 Der Gewaltmechanismus der „objektiven" oder „poVgl. ebd. 118 f. — Einer der Fälle ist auch erwähnt bei Christoph Meiners: Briefe über die Schweiz. Teil 1. 321 f. 29 Vertrauliche Briefe. Kommentar Hegel. 119 f. 30 Das Bild des Gefangenen, der sein Bewußtsein übertäuben muß, fungiert bei He-

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sitiven" Religion, um den Hegels Gedanken durch die Jugendschriften hindurch kreisen, offenbart sich hier in all seiner Schrecklichkeit, als ein tief in den menschlichen Leib eingeschriebenes Gewaltphänomen. Die strafende Gewalt zeigt sich bei Hegel von Anbeginn als der Gegensatz, der nicht zur Entwicklung führen kann. Bezeichnenderweise spricht er am Beispiel Berns von einem „peinlichen Rechtsgang“, der „eigentlich gar kein Rechtsgang ist"3i, denn hier kommt tatsächlich nichts in Gang, nichts zum Prozeß. Der „bloßen Formalität" des Rechtsganges korrespondiert aber nicht nur der fehlende lebendige Gegensatz oder die Vorentschiedenheit, anders gesprochen: die Ohnmacht des Verurteilten auf der Grundlage der Willkürherrschaft des Richtenden; sie birgt auch eine Tendenz zur isolierenden Entsinnlichung oder Abstraktion, die in ihrer positiven Konsequenz die Vernichtung zum Prinzip erhebt. Sowenig ein Missetäter sich darstellen und real den Kampf im Prozeß aufnehmen kann, sowenig wird der isolierte Vorgang der Missetat von außen zusammenhängend betrachtet, als lebendiger Kontext gestaltet. Die einzelne Tat ist gleich schon ein Abstraktum, eine bloße Formalität, deren Inhalt damit gleichgültig oder willkürlich ist oder gar in ihr selbst liegt. An der Tatsache, daß ein Mensch, der einen Mord begangen hat, ein Mörder sein soll, mithin durch eine „einfache Qualität" gerade „alles übrige menschliche Wesen" an ihm vertilgt wird, stößt sich Hegel offenbar noch lange sehr heftig. Nicht von ungefähr wird sie ihm ein Paradigma des „abstrakten Denkens" (vgl. Wer denkt abstrakt? WW Bd 17. 402). Durch die Todesstrafe wird die Formalisierung des Rechtsganges qua Abstraktion noch gesteigert, indem man die isolierte Tat zum Sein abstrahiert, besser: zur Frage von Sein oder Nichtsein, und schließlich durch den Tod vernichtet. Die Formalisierung löst sich damit auch noch von ihrer letzten Bestimmung und genügt nur noch sich selber. Das Resultat ist der abstrakte Tod, der in der allerrealsten Folge dieser Formalisierung als Akt selber noch weiterer Abstraktion unterliegt, die Bedeutung des Lebens auf eine winzige Punktualität gel offenbar als Mefapher für eine scheinhaft dialektische Lebendigkeit: „. . . die Begeisterung eines Gebundenen ist ein ihm selbst furchtbarer Moment, in welchem er sich verliert, sein Bewußtsein nur in den vergessenen, nicht totgewordenen Bestimmungen wiederfindet." (Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg, von G. Lasson. 139.) Vertrauliche Briefe. Kommentar Hegel. 120.

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fixiert. Er ist, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes konstatieren wird, selbst der „kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung, als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers" (GW 9. 320). Ein Bild, das für die französische Guillotine genauso gilt wie für die bernischen Todesstrafen. Hegel exemplifiziert die Abstraktion des Strafens aber nicht nur im Ealle der Todesstrafe, sondern auch in ihrer Funktion als Verdacht oder Verurteilung einer möglichen Absicht. In dieser Bedeutung nimmt die abstrahierende Formalisierung eine höchst absurde Gestalt an. Hier ist nicht einmal mehr die Tat, die auf den Tod hin abstrahiert wird, vorhanden, diese verflüchtigt sich, indem man auf sie aus einem Verdacht oder einer Absichtsäußerung schließt. Hegel hält dieses Moment in den Vertraulichen Briefen im Zusammenhang des geistigen Repressionsapparates, den Bern gegen die Waadt einsetzt, fest. Er nimmt dabei Bezug auf einen von Gart angeführten Fall der politischen Justiz Berns anläßlich gewisser Festivitäten der Waadt zu Ehren der Französischen Revolution. Die Berner Regierung, die hier unter anderem Hochverrat wittert, reagiert heftig, verurteilt eine Tat, die eigentlich nur als mögliche oder symbolische stattgefunden hat. Hegel vermerkt kritisch diese Unangemessenheit: Die „Handlungen", die zur Verurteilung durch Bern geführt haben, sind lediglich „Zeichen". Es sind „Zeichen" der „Absicht", des „Wunsches" oder der „Freude".^2 Bestraft werden mithin nicht mehr Taten, sondern bloße „Zeichen", dazu in aller Verkehrung noch solche, die der Moralität eines Volkes zuträglich und keinesfalls verurteilungswürdig sind. Auch diesen Aspekt der Strafe nimmt Hegel in der Phänomenologie des Geistes unter dem Stichwort des „Verbrechens" gegen den „allgemeinen Willen" wieder auf. Am Beispiel einer Schreckensherrschaft versucht er darzulegen, wie der allgemeine Wüle sich für den herrschenden Partikularwillen nicht mehr real — als effektive Tat, die Schuld hinterläßt — zu setzen vermag. Er erscheint für ihn nur mehr als Absicht: „Verdächtig werden tritt daher an die Stelle, oder hat die Bedeutung und Wirkung des Schuldigseyns, und die äußerliche Reaction gegen diese Wirklichkeit, die in dem einfachen Innern der Absicht liegt, besteht in dem trocknen Vertilgen dieses seyenden Selbsts, an dem nichts sonst wegzunehmen ist, als nur sein Seyn selbst." (GW 9. 320)

32 Ebd. 122.

B. Der politisch-soziale Hintergrund

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Bern hinterläßt aber nicht das reine Bild des abstrakten Strafens, sondern eine Mischung von Formalismus und Barbarei. Die Gewalt gegen den Körper, die der Formalismus bewirkt und zugleich verbergen möchte, ist in der Tortur oder den bestimmten grausamen Todesarten noch offen präsent. Die aufgeklärte Justiz, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts in den europäischen Ländern das Zeremoniell der harten Körperstrafen zurückdrängt und schließlich auch ein immer körperloseres Strafsystem durchsetzte^, ist in Bern noch im Stadium erster Reformversuche. Die Tortur erscheint hier durch das Fehlen eines Strafgesetzbuches und ihre Praktizierung außerhalb der Öffentlichkeit ähnlich geheimnisumwittert wie der Staatsschatz. Heinzmann bestätigt in seiner Ausgabe von 1794 ihre noch intakte Anwendung, wenn er behauptet, die Abschaffung der Tortur in der bernischen Rechtsgelehrsamkeit sei das Vorspiel zu ihrer Abschaffung in der Praxis.^^ ln seiner zweiten Ausgabe von 1796 präzisiert beziehungsweise verändert er, die Umstände etwas mildernd, seine Aussage: die Tortur sei zwar durch kein „förmliches Dekret" aufgehoben, durch einen Regierungsgrundsatz werde sie aber „seit vielen Jahren niemals angewendet als bei wirklich überwiesenen Missetätern, die ihre Mitgehülfen verläugnen . . ."^5 Auch Meiners äußert sich in dieser Frage zur genaueren Sachlage etwas euphemistisch. Er hält fest, die Tortur sei wohl durch die höchste Obrigkeit nicht abgeschafft, sie werde „aber nur selten, oder fast niemals mehr gebraucht".Hegels Einschätzung hebt sich insofern von den genannten ab, als er polemisch die Gegenthese vertritt und aus der „förmlichen" Existenz der Tortur auf ihre reale Anwendung schließt. Seiner Überzeugung nach wird gar „in keinem der Länder, die ich kenne, nach Verhältniß der Grösse so viel gehängt, gerädert, geköpft, verbrannt... als in diesem Kanton".^7 Dabei stellt er sich bewußt hinter diese Gegenbehauptung, mit dem berechtigten Hinweis darauf, daß sie erst durch die Öffentlichmachung des Strafwesens umgestoßen werden kann. Seine Bemerkung kann sich letztlich weniger auf den faktischen Gegenbeweis denn auf das Skandalen 33 Zu dieser Problematik siehe Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Frankfurt a. M. 1977. 15 ff. ^Johann Georg Heinzmann: Beschreibung der Stadt und Republik Bern. 1. Ausgabe. 136. 33 Ebd. 2. Ausgabe. 136. 33 Christoph Meiners: Briefe über die Schweiz. Teil 1. 320. 37 Vertrauliche Briefe. Kommentar Hegel. 120.

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1. Teil: Hintergründe

dieses bernischen Tabus, das ein Beweisen prinzipiell verhindert, konzentrieren. So ist sie ein Appell ans bernische Publikum, um seinetwillen diese Zustände endlich zu klären. Insgesamt enthält Hegels Kritik des abstrakten Staates, trotz ungleichzeitigem Studienobjekt, Gedankenansätze, die in Richtung einer Kritik der modernen bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Staates verlaufen. Selbstverständlich hat er mit dem Staate Bern keine ökonomischen Verhältnisse vorliegen, die zum Studium von Begriffen der ,politischen Ökonomie' wie Arbeit, Tausch, Wert usw. Anlaß geben.38 Er kann jedoch einen idealtypischen Zug des neuzeitlichen Staates, der sich mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft noch radikalisieren wird, in Erfahrung bringen; Ökonomische Partialinteressen prägen eine abstrakte Staatsform, in der die Ökonomie in ihrer Verschränkung mit politischer Machtausübung klar ersichtlich ist.

C. Der geistig-kulturelle Hintergrund des Berner Hegel 1. Tendenzen einer bernischen Aufklärung — Bemerkungen zur These der geistig-kulturellen Enge Berns Hegel hat sich zum bernischen Geistesleben kaum ausdrücklich geäußert. Bekanntlich beklagt er seine „Entfernung von den Schauplätzen literarischer Tätigkeit" (BI. 11), die ihn offenbar daran hindert, engeren philosophischen Interessen nachzugehen. Und aus den Zeugnissen über seine persönliche Niedergeschlagenheit, die Schelling mit der „Lage", die der Fähigkeiten seines Freundes „unwürdig" sein soll (B I. 37), in Verbindung bringt, ist des öfteren auf eine unbefriedigende geistig-kulturelle Situation, eine gewisse Enge des bernischen Geisteslebens geschlossen worden. Rudolf Haym etwa hat in diesem Sinne auf die beengenden äußeren Verhältnisse Berns auf3® Dazu wird Hegel erst in der Frankfurter Zeit durch die Lektüre von Steuarts An Inquiry Into the Principles of Political Economy angeregt. Wie Chamley aufgezeigt hat, ist in der Berner Zeit auch der ideelle Einfluß auf Hegels Ökonomieverständnis durch natur- und staatsrechtliche Theoreme bestimmt. Hegel begreift die ökonomische Sphäre vor dem Hintergrund eines fortgesetzten staatlichen Partikularismus. Vgl. Paul Chamley: Les origines de la pense'e economique de Hegel. In: Hegel-Studien. 3 (1965), 228 ff; sowie Otto Pöggeler: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt. 93 ff.

C. Der geistig-kulturelle Hintergrund

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merksam gemacht: „Seine Lage war seiner Kräfte wie seiner Ansprüche unwürdig, und das Gefühl davon steigerte sich bis zu entschlußloser Niedergeschlagenheit. Unter Hinweis auf die allgemeine Misere des damaligen Hauslehrerdaseins und die bornierte geistige Enge des untergehenden Bern hat auch Wilhelm Dilthey Hegels Grundhaltung als „gleichmütig. . . ohne jeden Gemütsanteil" charakterisiert.2 Diese Auffassungen, sosehr sie Hegels Stimmungslage in Bern auch treffend darstellen mögen, werden allerdings einer differenzierten Beurteilung der damaligen geistig-kulturellen Situation Berns wenig gerecht. Gewiß bleibt das bernische Geistesleben insgesamt stark der Mentalität des „ancien regime" verhaftet. Dennoch können sich in Gelehrtenkreisen aufklärerische Ideen ziemlich ungehindert entfalten, und zwar durchaus solche, die Hegel kaum gleichgültig lassen. Die Auffassung von einer geistig-kulturellen Enge Berns ist gerade für den Zeitraum ab Mitte 18. Jahrhundert in vielem unzutreffend. Mit dem Aufkommen eines regen geistigen Austauschs in Form einer ausgedehnten Briefkultur, mit der kosmopolitischen Öffnung der gelehrten Oberschichten hält in Bern Mitte des Jahrhunderts eine aufgeklärte Vernunft Einzug, die sich durchaus mit jener anderer geistig-kultureller Zentren Europas messen darf. 3 Das aufklärerische Gedankengut wächst hauptsächlich auf dem Fundament einer Rokokokultur der Patrizier Schaft, die zu einem guten Teil aus Frankreich „importiert" worden ist. Der traditionell schwerfällige bernische Zeitgeist erhält von dieser Seite seinen spielerischen Widerpart und beschäftigt sich fortan mit Fragen des Temperaments, des Geschmacks und der Einbildungskraft. Die Vorstellung des Vernünftigen trägt in Bern ganz die Züge eines geregelten Spiels der Phantasie oder eines natürlichen Empfindungsgeistes und ist in erster Linie der faden Gleichförmigkeit, der fatalen Bedächtigkeit oder auch der zügellosen Leidenschaft entgegengesetzt. ^ Rousseau gilt dabei als wichtiger Zeuge der neuen Natürlichkeit. Diese Geistesrichtung koinzidiert damals recht häufig mit einer Art Ratio, die der empirischen ' Vgl. Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit. 63. 2 Vgl. Wilhelm Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. 16. 3 Eine wertvolle Übersicht zum bernischen Geistesleben dieser Zeit findet sich bei

Kurt Guggisberg: P. E. von Fellenberg und seine Erziehungsanstalt. * Exemplarisch kommt diese Geisteshaltung zum Ausdruck in Julie Bondelis kurzer Abhandlung Über den moralischen Takt und den Beobachtungsgeist, ln: Julie Bondeli: Briefe.

29-39.

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1. Teil: Hintergründe

Naturwissenschaft, insbesondere der Physiologie und empirischen Psychologie, entstammt.^ Auch sie beruft sich auf eine Hinwendung zur Natur, in diesem Falle aber — wie bei Albrecht von Haller — auf eine natürliche Beobachtung und umfangreiche Naturforschung. Unter Natur wird hauptsächlich ein physiologisches oder anatomisches Objekt verstanden und nicht eine natürliche Moral oder Religion. Diese beiden Tendenzen können einander deshalb im konkreten Falle auch bekämpfen. Die auffallendsten geistigen Aktivitäten gehen in dieser Zeit von den fortschrittlichen Gesellschaften aus, namentlich von der „Patriotischen" und der „Ökonomischen Gesellschaft". In ihrem Umkreis entstehen literarische und philosophische Zirkel^, man bespricht hier die Werke führender Philosophen und Literaten, liest ausländische Journale und knüpft persönliche Kontakte im In- und Ausland. Mit größter Anteilnahme wird das Schicksal Rousseaus verfolgt, der sich Mitte der 60er Jahre in unmittelbarer Nähe aufhält und dessen behördliche Ausweisung aus dem Kanton Bern zu besonderer Erregung Anlaß gibt.^ Häufig im Gespräch sind aber auch Voltaire, Montesquieu und die Enzyklopädisten. Der aufgeklärt denkende Berner orientiert sich vor allem am französischen, daneben aber auch stark am englischen Gedankengut. Der scharfe englische Beobachtungsgeist gewinnt im philosophischen Bern gegenüber dem tradierten Leibniz-Wolffsehen System ab Mitte des Jahrhunderts mehr und mehr an Boden; das auf die Mannigfaltigkeit des empirischen Stoffs hinzielende Wissenschaftsideal setzt ein bedeutsames Gegengewicht zu einer rein mathematischen Methodik.® Ferner zeigt sich eine gewisse Vorliebe für englische Moralphilosophie (Adam Smith, Francis Hutcheson), die vor allem der Suche des kritischen bernischen Zeitgeistes nach dem „moralischen Gefühl" sehr willkommen ist.^ Diskussionsstoff liefert schließlich der englische Historiker Edward Gibbon, der sich in dieser Zeit des öfteren in der Waadt aufhält. 5 Vgl. hierzu Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert. Bd 2. 9 ff. 6 Der auffälligste Kreis ist dabei jener um Julie Bondeli. Vgl. Ernst Bodemann: Julie Bondeli und ihr Freundeskreis. Hannover 1874. 8 ff. ^ Siehe Julie Bondeli: Briefe. 141, 181. ® Dazu Kurt Guggisberg: P. E. von Feilenberg und seine Erziehungsanstalt. 50 ff; Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert. Bd 2. 159. 9 Vgl. Julie Bondeli: Briefe. 30, 32, 131. 10 Vgl. ebd. 46, 55, 96.

C. Der geistig-kulturelle Hintergrund

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Unter den neuen deutschen Geistesströmungen findet, mit einiger Zurückhaltung, der Sturm und Drang Einlaß; daneben sind Klopstock und vor allem Wieland von einiger Bedeutung.Wichtige Impulse für die philosophische Diskussion der Berner geben allerdings Herder und Moses Mendelssohn. Herders Programm des Übergangs der Philosophie in Anthropologie ist noch in den 90er Jahren aktuelP^^ und Mendelssohns Konzept einer neuen Moralphilosophie wird mitunter als die große neue Philosophie gefeiert. In den 90er Jahren verliert diese Art offener Geisteskultur klar an Bedeutung, die politische und militärische Geschichte verdrängt die Kultur- und Geistesgeschichte aus dem Mittelpunkt. Die „aufgeklärte" Moral wird nun vielfach in Anschlag gegen die angebliche Sittenlosigkeit und Freizügigkeit gebracht. Mit dem Ausbruch der Französischen Revolution verschärft sich die Abwehrhaltung der bernischen Obrigkeit gegen die Aufklärungsbewegung, bald wird die Zensur über revolutionsfreundliches Schrifttum verhängt. Von daher läßt sich gewiß von einer zunehmenden geistigen Enge Berns zur Zeit von Hegels Aufenthalt sprechen. Doch haben diese veränderten Bedingungen nicht zur Folge, daß sich aufklärerische Ideen nicht auch — mehr oder weniger kaschiert — forterhalten und weiterentwickeln können, ja daß eine in ihrer sozialpolitischen Konsequenz gezähmte Aufklärungshaltung nicht toleriert wird. Dies zeigt sich deutlich am Kantianismus, der im Bern der 90er Jahre Einzug hält. Vornehmlich einzelne Gebildete, die enge Beziehungen zu deutschen Universitäten unterhalten, wie Johannes Ith, Philipp Albert Stapfer, David Müslin oder Philipp Emanuel von Feilenberg nehmen Kant mit der damals gängigen Erneuerungsrhetorik auf.^^ Mit dem in Vgl. ebd. 277; sowie Kurt Guggisberg: P. E. von Feilenberg und seine Erziehungsanstalt. 48 f. — Christoph Martin Wieland, der mit den Bernern in Kontakt steht, wird seiner stürmischen Genialität wegen offen bewundert, aufgrund seiner schillernden Haltung, die sich unvermittelt zwischen frömmelndem Pietismus und ungezügelter Erotik bewegt, aber bald abweisend behandelt. In Bern hat er sodaim auch kein Glück mit der Verlegung seines „Agathon". Vgl. Christoph Martin Wieland: Briefwechsel. Briefe der Biberacher Amtsjahre. Berlin 1975. 152, 205. Siehe Kurt Guggisberg: P. E. von Feilenberg und seine Erziehungsanstalt. 86 ff. — Der Einfluß Herders ist besonders in Johannes Iths anthropologischen Studien spürbar. Siehe unten Anmerkung 26. Vgl. Kurt Guggisberg: ebd. 73. — Z. B. David Feilenberg setzt große Erwartungen in Mendelssohn, sieht er doch in ihm den Kreator eines Systems der praktischen Universalphilosophie. Mendelssohn widmet übrigens den ersten Teil seines Phaedon der bernischen „Patriotischen Gesellschaft". '■i Siehe ebd. 199 ff; Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert.

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1. Teil: Hintergründe

den 90er Jahren gegründeten „Politischen Institut" innerhalb der Berner Akademie, dem Ith und Stapfer vorstehen, kann sich der bernische Kantianismus sogar in gewisser Weise etablieren. Die meisten Ansätze dieser Strömung drehen sich um eine Anwendung Kantischer Moralprinzipien auf die Erziehung und auf die kirchlichreligiöse Praxis. Unverkennbar ist ihr moralisches Pathos, der Appell an Sittlichkeit. Hoch im Kurs stehen Überlegungen zur „Veredelung" und „Perfectibilität" des Menschen. Von der damaligen moralischen Mobilmachung der Berner Bevölkerung werden diese wohl nur allzu leicht vereinnahmt. Im Bereich der Religion wird schließlich auch die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat diskutiert. Der französischen Variante, die eine scharfe Trennung beider Anstalten befürwortet, steht dabei eine deutsche, kantianische gegenüber, die am Staatskirchentum unter dem neuen moralischen Ideal festhält. Doch wirkt auch in diesem Punkt der Aufklärungsgedanke ziemlich stumpf. Das bestehende protestantische Staatskirchentum wird nicht angetastet, sondern zur moralischen Konsolidierung empfohlen. Leicht verwandelt sich unter der Hand der alte religiöse Dogmatismus, der sich in Bern den Wolffianismus zunutze gemacht hat, unter formellem Rekurs auf Religionsfreiheit in jenen der einen Moral. Bern bleibt auch unter dem erneuernden kantianischen Einfluß stark dem Gewissenszwang verhaftet und bekämpft abweichen-

Bd 2. 208 ff. — Johannes Ith (1747—1813) ist Professor für Philosophie an der Berner Akademie; Philipp Albert Stapfer (1766—1840) ist Professor der Philologie am Politischen Institut, später Minister der Künste und Wissenschaften der Helvetischen Republik; David Müslin (1747—1821) ist bekannt als engagierter Prediger am Berner Münster und Inspirator einer Töchterschule auf der Grundlage kantianischer Erziehungsprinzipien; Philipp Emanuel von Feilenberg (1771 —1844) ist in den 90er Jahren ein radikaler Aufklärer, der seinem Vorbild Pestalozzi folgt; später Gründer von Erziehungsanstalten. Diesen Eindruck erwecken besonders die Predigten Müslins. Siehe Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert. Bd 2. 452 ff. « Vgl. ebd. 213. 17 Dieser Grundtenor bricht schließlich auch nach dem Franzoseneinmarsch 1798 nicht ab. Ith und Stapfer, die bis zu einem gewissen Grade den Idealen der Französischen Revolution folgen, halten in den Bereichen Moral, Religion, Erziehung ihre Auffassung aus den frühen 90er Jahren aufrecht. Ith z. B. sieht die Religion stets als notwendige Bedingung für den Zweck der Sittlichkeit. Beide sind darüber hinaus mit ihren Forderungen nach Zentralisierung in Religion und Erziehung weiterhin dem tradierten bernischen Staatskirchentum zugeneigt. Der Übergang vom alten bernischen Staatskirchentum zu neuen Zentralisierungen ist hier äußerst gering. Vgl. etwa den Brief von Ith an Stapfer vom 9. Juli 1798. In: Rudolf Luginbühl. (Hrsg): Aus P. A. Stapfers Briefwechsel. Bd 1. Basel 1891. 9 ff.

C. Der geistig-kulturelle Hintergrund

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de religiöse Bewegungen wie beispielsweise den Pietismus.^® Im Umkreis dieses eher zahmen Kantianismus sind indes auch radikalere, der Französischen Revolution kompromißlos zugeneigte Stimmen zu hören. Philosophische Leitfigur ist diesen wohl weniger der alte Kant als nunmehr der agile Jenaer Fichte, der sich Mitte der 90er Jahre kurz in Bern aufhält. Man darf aus diesem kurzen Überblick zur bemischen Aufklärungsbewegung die These vertreten, daß Hegel während seines Aufenthalts auf ein belesenes, für seine theoretischen Arbeiten anregendes Publikum stoßen kann. Rousseau, die französischen Aufklärer, Gibbon, Herder und Mendelssohn hinterlassen wohl nicht zufällig in seinen Berner Fragmenten ihre Spuren. Und ein engerer thematischer Bezug drängt sich natürlich im Falle des Kantianismus auf. Das Verhältnis von Kirche und Staat ist ja eine der zentralen Thematiken in Hegels Fragment Man mag die widersprechendsten Betrachtungen von 1795, und überhaupt tangiert die praktische Funktion des bemischen Kantianismus maßgeblich das Problem der Anwendung „praktischer Vernunft" auf Religion, Kirche und Staat, ein Problem, das Hegel mit zu seinem aufklärerischen Programm erhoben hat. Als radikalem Aufklärer muß ihm jene Problematik ins Auge springen, auf die er schon in der Tübinger Zeit sensibilisiert ist: die Möglichkeit, Kantische Theorie auf die alte Orthodoxie hin zu adaptieren, Hieraus ergibt sich nicht zuletzt das Bedürfnis, den Schein der äußerlichen Gleichheit in der Verwendung Kantischer Theorie abzutragen, indem diese einer genaueren Probe unterzogen wird. Mit dem bemischen Kantianismus, den man auf das alte Staatskirchentum zuschneidet, hat Hegel ein äußerst geeignetes und lehrreiches Objekt für dieses Unterfangen. Es liegt deshalb nahe, daß er dessen Diskurse vor Augen hat, wenn er auf Schellings Mitteilung über die leichtfertige Adaption des Kantischen Systems an die theologische Dogmatik Tübingens verständnisvoll entgegnet: „Was Du mir von dem theologisch-Kantischen (si düs placet) Gang der Philosophie in Tübingen sagst, ist nicht zu verwundern. Die Orthodoxie ist nicht zu erschüttern, solang ihre Profession mit weltlichen Vorur18 Vgl. Eduard von Rodt: Bern im 18. Jahrhundert. 34. 1^ Vgl. Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert. Bd 2. 218. 20 Repräsentativ hierfür sind die Kant-Rezeptionen von Hegels Lehrern Storr und Platt. Vgl. Mauri Noro: Das Problem der ethischen Autonomie und die „positive“ Religion in den Jugendschrißen Hegels. Helsinki 1976. 12 ff.

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1. Teil: Hintergründe

teilen verknüpft in das Ganze eines Staates verwebt ist. Dieses Interesse ist zu stark, als daß sie so bald aufgegeben werden sollte, und wirkt, ohne daß man sich's im Ganzen deutlich bewußt ist." (B I. 16) Hegel erfaßt hierbei sehr wohl die ganze Zwiespältigkeit des angepaßten Kantianismus, da er das aufklärerische Movens auch im Zustand erpreßter Versöhnung nicht verkennt. So schreibt er weiter: „Unter dem Bauzeug, das sie (die Theologen — M. B.) dem Kantischen Scheiterhaufen entführen, um die Feuersbrunst der Dogmatik zu verhindern, tragen sie aber wohl auch immer brennende Kohlen mit heim ..." (Ebd. 17) Daß sich Hegel besonders in der Berner Zeit in Kant vertieft, um der eklektischen und anpasserischen Kantrezeption ein kritisches Kantverständnis gegenüberzustellen, dürfte kaum nur auf fortgesetzte Tübinger-Problematik zurückzuführen sein. Auffällig ist jedenfalls die intensivierte Orientierung am Praktischen und damit an mehr funktionellen Aspekten der Theorie. Und dabei ist nicht mehr nur von der Praxis theologischer Theorien die Rede, sondern von einem umfassenden Praxisbezug. Das „Ganze eines Staates" fließt nun in diese Problematik ein.^i Man darf schließlich auch nicht davon absehen, daß sich aus dieser Konfrontation mit dem Kantianismus bei Hegel auch Zweifel an der tatsächlich revolutionierenden Kraft Kantischer Theoreme selbst anmelden. Zu denken ist hier an Kants 1793 erschienene Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, die für Hegel zentral ist und die auch auffällig im Kreis des bernischen Kantianismus zirkuliert.22 In ihr kommen einige Doppeldeutigkeiten zum Ausdruck, die sowohl dem versöhnlerischen Charakter des bernischen Kantianismus entgegenkommen wie auch der kritischen KantAuslegung Hegels. Kants Primat der Moralität gibt prinzipiell eine kritische Dynamik wieder, jedoch verfolgt er auch eine Art Kompromiß zwischen Moralität und Vernunftreligion einerseits, zwischen Vernunftreligion und historischem Kirchenglauben andererseits. Der „empirische" oder „historische" Glaube soll mit der Grundlage des Hegels Bemerkungen verraten hier einen recht komplexen Gegenstand einer praktischen Theorie. So versteht sich diese nicht nur als Anwendung Kantischer Postulate auf Staat und Geschichte oder als Bemühung um eine Realisierung philosophischer Ideale, sie schließt auch so etwas wie Momente einer theoretischen Praxis ein. Hegel begreift den Kantianismus gerade auch als hegemoniale Theorie im Kampf sozialpolitischer Kräfte. Zu dieser Bestimmung siehe Fausto Barcella: U Antike in Hegel e altri scritti marxisti. Urbino 1975. 81 f. Vgl. Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert. Bd 2. 209.

C. Der geistig-kulturelle Hintergrund

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„moralischen" derart vereinigt werden, daß dieser zur Richtschnur von jenem wird und ihn mithin in gewissem Sinne akzeptiert (vgl. AA 6. 109 ff). Diese Kompromißhaltung begünstigt natürlich die Tendenz, selbst Kant zur Legitimation des alten Glaubens beizuziehen. Die hin und wieder beißenden Polemiken Kants gegen das „Pfaffentum" und den „Afterdienst" müssen in diesem Fall dann nur geflissentlich überlesen werden. Hegel legt seinen Kant radikal gegen allen historischen christlichen Glauben aus. Dies führt ihn nicht nur zur Kritik am versöhnlerischen Kantianismus, sondern ansatzweise bereits über die Kritik des Kantianismus hinaus zur Kritik an Kant selbst. Seine spontanen Invektiven, die er gegen den neuen Dogmatismus in Fichtes Kritik aller Offenbarung richtet, sind leicht auch auf Kant zu beziehen. Auch dieser hat mit seiner Kompromißhaltung einer Erneuerung der alten Dogmatik ja „Tür und Angel geöffnet" (vgl. BI. 17). Erst recht sind sie auf die kirchenpolitischen Bestrebungen des bernischen Kantianismus zu applizieren.

2. Stapfers kulturphilosophischer Kantianismus Es wäre freilich präzisierend entgegenzuhalten, die These, wonach die Berner Situation Hegels Fähigkeiten unwürdig sei, beziehe sich nicht auf den philosophischen Bereich des Praktischen, konkret: auf die philosophische Verarbeitung anstehender kirchlicher und politischer Fragen, sondern auf die Ebene der theoretischen oder spekulativen Philosophie, also mehr auf die immanente philosophische Systementwicklung im Anschluß an die Kantische Philosophie, für die in dieser Zeit vor allem Reinhold, Fichte und Schelling vorbildlich sind. Auf dieser Ebene hat man denn auch stets wieder ein Defizit Hegels konstatiert und dieses mit seiner spezifischen Berner Entwicklung in Verbindung gebracht. Abgesehen davon, daß hier möglicherweise weniger ein Hegelsches Defizit denn eine philosophische Entwicklung, die seinen damaligen Neigungen und Interessen sehr entspricht, dokumentiert ist, erweist sich ein derartiger Einwand als zumindest partiell unzutreffend. Innerhalb des bernischen Kantianismus finden sich nämlich auch philosophische Überlegungen mehr theoretischer Natur. Auf den Sachverhalt eines in diesem Sinne „philosophischen" Bern hat Ludwig Hasler am Beispiel von Emmanuel Jacob Zeender, einem Theologen und späteren Lehrer an der damaligen Berner Akademie,

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1. Teil: Hintergründe

hingewiesen.23 Zeender findet mit seiner Kenntnis der aktuellen philosophischen Diskussion im Umkreis der Kantischen Philosophie nicht zuletzt bei Schelling Gehör. So bemüht sich dieser in einem Brief an Hegel ausdrücklich um ein Exemplar von Zeenders philosophischer Disputation (vgl. BI. 36). Bei der betreffenden Schrift handelt es sich, wie Hasler gezeigt hat, um eine Abhandlung über die Frage des Skeptizismus. Dies stellt an sich nichts Außergewöhnliches für diese Zeit dar; auffällig daran ist aber offenbar das tiefe Problembewußtsein dieser Schrift und auch die direkte Bezugnahme auf die aktuellen Kontroversen, die damals namentlich zwischen den Skepsis-Standpunkten von Reinhold, Schulze, Meiners u. a. ausgetragen werden. 24 Es muß in der Tat offen bleiben, ob Hegel sich jemals thematisch auf diese Schrift eingelassen hat. Ein Indiz, das dafür spricht, ist die Tatsache, daß sich Hegel durch seine Freundschaft mit dem deutschen Maler Valentin Sonnenschein, der in dieser Zeit am „Politischen Institut" der Berner Akademie unterrichtet, über die dortigen Verhältnisse, Diskussionen sowie Publikationen mühelos auf dem laufenden halten kann. 25 Ein näherer Blick auf die Publikationen, die im Rahmen des „Politischen Instituts" erscheinen, vermittelt den Eindruck, daß Zeenders Schrift für das „philosophische" Bern nicht unbedingt den Sonderfall darstellt. Namentlich von Johannes Ith und Philipp Albert Stapler sind philosophische Abhandlungen zu registrieren, die bei allem bloß reproduzierenden Kantianismus auch recht originelle Gedanken enthalten und durchaus den aktuellen Gang des Philosophierens mitverfolgen. Hervorzuheben ist besonders Stapfers Rede über Die fruchtbarste Entwicklungsmethode der Anlagen des Menschen, die in Bern 1792 veröffentlicht wird.26 In dieser Rede, die ganz dem Kantischen 23 Siehe Ludwig Hasler: Aus Hegels philosophischer Berner Zeit. 205 ff. — Bereits Heinzmann hat Zeender als kompetenten Philosophen geschildert, der mit seinen Schriften „bey allen Gelehrten grosse Achtung erworben" habe. (Johann Georg Heinzmann: Beschreibung der Stadt und Republik Bern. 2. Ausgabe. 314.) 24 Vgl. Ludwig Hasler: Aus Hegels philosophischer Berner Zeit. 208 f. 25 Vgl. ebd. 208, Anmerkung 16. 26 Philipp Albert Stapfer: Die fruchtbarste Entwicklungsmethode der Anlagen des Menschen /

zufolge eines kritisch-philosophischen Entwurfs der Culturgeschichte unseres Geschlechts. — Erwähnenswert erscheint mir ferner auch Johannes Iths Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen. 1. Ausgabe Bern 1794/95. In

diesem zweibändigen Werk legt Ith eine „Theorie der organischen Wesen" vor, in die wesentliche Gedanken Kants und Herders eingearbeitet sind. Hegel dürfte dieses

C. Der geistig-kulturelle Hintergrund

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Geist beipflichtet und sich auch den Kantischen Sprachduktus zu eigen macht, will Stapfer den Nachweis erbringen, daß dem klassischen Altertum, insbesondere der antiken Mythologie, eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten nach den Prinzipien der Kantischen Moralität zukommt. Den Zusammenhang zwischen antiker Sittlichkeit, die der Stufe ästhetischer Einbildungskraft entsprechen soll, und Kantischer Moralität illustriert er dabei mittels eines Entwurfs zur Kulturgeschichte des Menschengeschlechts. Dieses Unterfangen, das seinen hohen Anspruch freilich kaum einlösen kann, führt Stapfer zu einigen Gedankengängen, Verbindungen von philosophischen Denkwegen, aber auch zu einigen Schwierigkeiten, die teilweise eng mit der vereinigungsphilosophischen Problematik nachkantischer Philosopheme einherlaufen. Aus der „Vorrede" ist Stapfers völlige Anlehnung an Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht zu ersehen. Das beste Mittel zur Entwicklung der menschlichen Anlagen liegt nach ihm, er gibt dazu Kant wörtlich wieder, im „Antagonism" der Gesellschaft, in der „ungeselligen Geselligkeit" des Menschen, deren vorerst diffuse Dynamik zur Ordnung treiben bzw. nach einem „verborgenen Plan der Natur" ablaufen soll (AA 8. 20, 27). Der erweiterte Gedanke Stapfers liegt nun darin, daß er den Erkenntnis- oder Bewußtseinsstufen der Kantischen Philosophie den Leitfaden für die strukturelle Herausbildung der Vernunft in der Geschichte entnimmt, sie ihm gleichsam als „Enträthselungsmittel der Culturgeschichte des Menschen im Großen" dienen. „Weltgeschichte" soll damit nicht mehr „rhapsodisch" oder ereignisgeschichtlich gefaßt werden, vielmehr ist sie in eine festere Ordnung zu bringen, die sich „nach der inneren Entwicklung unserer Seelenvermögen" gliedert. Stapfer hält sich an die trichotomische Einteilung Kants, wenn er, in Analogie zu den Entwicklungsstufen des Menschen, die Werk kaum entgangen sein, sammelt er in dieser Zeit doch akribisch Materialien zu Fragen der Anthropologie und empirischen Psychologie (siehe dazu Ein Manuskript zur Psychologie und Transzendentalphilosophie (1794), in: GW 1. 167—192). Vieles, was Hegel dazu während der Tübinger und Berner Zeit zusammengetragen hat, soll er laut Hoffmeister später für die Enzyklopädie verwendet haben, vgl. Hegels erster Entwurf einer Philosophie des subjektiven Geistes. Hrsg, und eingeleitet von J. Hoffmeister. In: Logos. 20 (1931), 150. Es ist von daher nicht auszuschließen, daß Hegel auch dem Werk Iths Materialien für spätere Verwendungen entnommen hat. Eine interessante Parallele ergibt sich z. B., was die Darstellung des Verlaufs der Lebensalfer anlangt, zwischen Buch 6 von Iths Werk (Übersicht des Menschen im Ganzen) und dem Vorlesungszusatz zu §396 der Enzyklopädie. Vgl. WW 7, Abt. 2. 88-103.

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1. Teil: Hintergründe

Geschichte in drei Stadien unterteilt.^7 Der menschlichen „Stufenleiter der Veredelung" vom Kind über den Jüngling zum erwachsenen Menschen korrespondiert im Bereich der Kulturgeschichte eine Periodisierung, die nach dem inneren Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit komponiert ist: auf der ersten Stufe steht die Vernunft im Dienste der Sinne, auf der zweiten bekämpfen und verbinden sich die beiden Pole in „überlegender Urteilskraft", auf der dritten schließlich gewinnt die Vernunft die Oberhand, indem das „Intelligible" über das „Empirische" siegt. Übertragen auf Perioden der Kulturgeschichte ergibt sich ein Stufenbild, das bald historisch als Herausbildung der Vernunft in Abgrenzung von der Sinnlichkeit, bald logisch-historisch als Bildungsgang der Vernunft selbst erscheint.^s Der ersten Stufe entspricht die „ionisch-italische Philosophie"; hier ist die Vernunft unter dem „Joche der Sinnlichkeit" geknechtet. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, daß Stapfer diese Stufe auch unter der Optik der Vernunft selber beschreibt. Sie entspricht nämlich gleichfalls den „Verirrungen" der „dialektischen Vernunft" oder einem „Herumtappen" unter „leeren Ideen". Die zweite Stufe wird an der Hochkultur des griechischen Geisteslebens festgemacht. In ihr präsentieren sich Vernunft und Sinnlichkeit in der Urteilskraft versöhnt; zum einen in der ästhetischen, die den Bereich der Mythologie umfaßt, zum anderen in der ästhetischen und teleologischen, die sich im Geiste der Sokratik finden soll. Aus der letzten Ausprägung heraus kündigt sich das Reich der Moralität an, aber dieses entsteht aus einer Scheidung von „Einbildungskraft" und „Verstand", „Sinnlichkeit" und „Vernunft". Die erste Spielart der Moralität ist, so Stapfer, erst die „Vorbereitungsschule" der „praktischen Vernunft". Die dritte Stufe, die Moralität, muß sich nun weiter ausbilden, unterliegt einem Prozeß der „immerwährenden Veredelung" in der Gegenwart. An anderer Stelle präzisiert Stapfer nochmals seine trichotomische Einteilung, und es wird ersichtlich, daß er diese nicht bloß als formell betrachtet, sondern daß sie aus den — bezogen auf die historische Realität — plausibelsten Kombinationen von Vernunft und Sinnlichkeit bestehen soll.^^ Daß lediglich einer der beiden Pole auftritt, ist zweifach denkmöglich, sinnvoll vertretbar aber lediglich im Palle der allein auftretenden 27 Philipp Albert Stapfer: Die fruchtbarste Entwicklungsmethode. 22 f. 28 Vgl. ebd. 30 ff. 29 Vgl. ebd. 55 f Anhang.

C. Der geistig-kulturelle Hintergrund

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Sinnlichkeit, was dem Kindeszustand oder der ersten Stufe entspricht (1). Das Auftreten beider Pole zusammen dergestalt, daß sie sich einander gegenüber gleichgültig verhalten, ist wiederum denkmöglich, jedoch bezüglich der historischen Realität nicht sinnvoll vertretbar. Adäquater ist hier der Kampf, das Sich-gegenseitig-inSchach-halten oder die Harmonie beider Pole. Den Fall der Beziehung ohne versuchte oder faktische Dominanz — die Harmonie — verortet Stapf er, wie erwähnt, in der griechischen Hochkultur (2). Die Beziehung der Pole mit der Dominanz des einen erscheint schließlich als die dritte sinnvolle Variante, die gegenwärtige Moralität (3), wobei hier freilich mindestens zwei Fälle in Betracht zu ziehen wären. Wenn Stapfer dabei diese Variante allein für den Fall der Versöhnung beider Pole mittels Dominanz der Vernunft akzeptiert, so scheint er das Auswahlverfahren nicht mehr an das Kriterium des sinnvoll historisch Vertretbaren, sondern an die Norm der sich erfüllenden Vernunft zu binden. Zweifelsohne wird mit dieser Trichotomie bei Stapfer vieles erkünstelt. Inkonsistenzen ergeben sich, wenn wir die erste Darstellung mit der zweiten vergleichen. In der zweiten wird der logisch-historische Gang der Vernunft mehr oder weniger ausgeschaltet zugunsten einer dualistischen Siegesgeschichte der Vernunft. Dies zeigt sich daran, daß die Sinnlichkeit der Kindheitsstufe nun ohne oder mit völlig bedeutungsloser Vernunft ausgestattet und damit durch eine spätere Vernunft negiert wird. Hier wird abgesehen davon natürlich auch die Analogie von Menschengeschichte und Kulturgeschichte brüchig, denn der Kulturgeschichte muß doch auf der ersten Stufe, im Gegensatz zur Kindheitsstufe, eine — wenn auch wirre — spekulative Vernunft zugestanden werden. Stapfer scheint deshalb andernorts die Periodisierung der Kulturgeschichte wieder aus dem Zusammenhang seiner „logischen" Kombination der beiden Pole und aus jenem der Menschengeschichte herauszulösen. Offenbar handelt es sich eben um verschiedene, nicht zur Deckung zu bringende Trichotomien.^o Bedeutsames für die Entwicklung des nachkantischen Denkens scheint mir bei diesen Überlegungen Staplers dennoch in der Mehrdeutigkeit dieses trichotomischen Schemas zu liegen. In ihm tauchen nämlich triadische Ansätze amalgamiert mit Kantischem Dualismus, ^ Vgl. ebd. 69 Anhang. — Die Reihenfolge der kulturhistorischen Perioden stimmt hier nicht mehr überein mit jener der „logischen" Perioden und jener der geschichtlichen Stufen des Einzelmenschen.

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1. Teil: Hintergründe

protodialektische Materialien unter Kantischen Denkformen auf. Die Bedingung der adäquaten Vereinigung als „Sieg" des Intelligiblen oder als Ordnungsprinzip der „Hierarchie" ist eine deutliche Konzession an den genuinen Kantischen Geist^^, ebenso scheint der Prozeß „immerwährender Veredelung" dem Kantischen Sollensprinzip nachgebaut zu sein. Auf der anderen Seite wird diese Denkhaltung aus der Perspektive antiker griechischer Urteilskraft umgedeutet, schließlich bis zu Ansätzen des Triadischen gewendet. Stapfer sieht die Essenz des Kantischen Vernunftbegriffs in einer Art höherer Urteilskraft, denn innerhalb der Urteilskraft hat die Vernunftmoralität ja den sicheren Weg zu weisen. Diese Deutung mag natürlich bis zu einem gewissen Grad auf Kantische Denkprodukte selbst zurückzuführen sein. Durch Stapfers lückenlose Verbindung von Kantischer Moralität und Vernunft mit „griechischer" Urteilskraft ergibt sich diese produktiv mißverständliche Kombination aber noch auffälliger. Stapfer, der den Bruch zwischen „theoretischer" und „praktischer" Vernunft im Werke Kants sehr wohl erkennU^^ meint gerade deshalb — und offenbar aus seiner Interpretation des Kantischen Selbstverständnisses heraus — die Kritik der Urteilskraft ins Zentrum stellen zu müssen. Die Tendenz, Triadisches einzubeziehen, d. h. in diesem Falle, die Pole Sinnlichkeit und Vernunft ineinander übergehen zu lassen, hängt freilich eng mit dem Entwicklungsgedanken schlechthin zusammen, der bei Stapfer in den Vordergrund tritt. Die Geschichte der Vernunft erfordert, wo sie nicht bloß als Resultat einer Bewegung, sondern eigens als Bewegung zu diesem Resultat hin in Betracht kommt, die Reflexion des Übergangs vom einen zum andern, das allmähliche Ineinandergreifen beider Pole, das den abstrakten Gegensatz zur Auflösung treibt. Der Geschichte wird so im Sinne eines präziseren Entwicklungsgedankens überhaupt erst zu ihrem Recht verholten. Obschon Stapfers Entwicklungstheorem nicht selbst derart auf sich reflektiert, ist in ihm programmatisch ein Gedankengang enthalten, der zu einer Ausführung in diese Richtung drängt. Mit der Übertragung der inneren Gliederung des Seelenvermögens auf Etappen der Kulturgeschichte, dem Bemühen, der Geschichte damit ihren verborgenen vernünftigen Plan zu entlocken, folgt er einer geschichtsphilosophischen Aufgabe, für die Kant lediglich den „Leitfaden" 31 Vgl. ebd. 23-28, 60 ff Anhang. 32 Vgl. ebd. 28.

C. Der geistig-kulturelle Hintergrund

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bereitgestellt hat und es hernach der Natur überlassen will, „den Mann hervorzubringen, der im Stande ist, sie darnach abzufassen". (AA 8. 18) Es dürfte nicht besonders schwierig sein sich vorzustellen, daß dieses Kantische Diktum für viele, und warum nicht auch für Stapf er, eine Herausforderung besonderer Art gewesen sein muß. Und was muß dies erst bei Hegel evozieren, wenn Kant im Kontext dieses „Leitfadens a priori" davon spricht, wie sich hier erst ein Gedanke von dem findet, „was ein philosophischer Kopf (der übrigens sehr geschichtskundig sein müßte) noch von einem anderen Standpunkte versuchen könnte". (Ebd. 30) 3. Auseinandersetzung mit Fichtes „Hypermetaphysik" — Der dänische Dichterphilosoph Baggesen in Bern Wie angetönt liefert auch Fichte Gesprächsstoff für das aufgeklärte Bern der 90er Jahre. Sein Name ist noch stärker in den Zusammenhang des Revolutionären in Philosophie und Politik involviert als jener Kants. Fichte verkörpert für viele in dieser Zeit geradezu die Figur des philosophischen Revolutionärs, da er die Wallungen und Radikalisierungen des Revolutionsganges in Frankreich sehr unmittelbar ins Philosophische übersetzt. Mit seinen anonym erscheinenden Revolutionsschriften versteht er es zudem sehr gekonnt, allerlei Mutmaßungen und Begeisterungen junger Intellektueller in seinen Bann zu ziehen. 33 Im Bern der 90er Jahre ist eine Person besonders hervorzuheben, die sich in Fichtes Geisteshaltung vertieft und mit der Diskussion um Fichte viele Geister in Bewegung bringt: nämlich der dänische Dichterphilosoph Jens Baggesen. Baggesen hat in diesem Zeitraum ein sehr enges philosophisches und freundschaftliches Verhältnis zu Reinhold und Jacobi, mit beiden steht er in einem langjährigen Briefwechsel. Daneben unterhält er zahlreiche weitere Kontakte zu Gelehrten seiner Zeit, in der Schweiz beispielsweise zu Lavater und Pestalozzi.34 Mit Bern verbindet ihn hauptsächlich seine Ehe mit der 1797 verstorbenen Sophie Haller, einer Enkelin Albrechts von Haller. Während seiner Aufenthalte in der Stadt und ihrer Umgebung betei33 An Diskussionen über Fichtes Philosophie ist in dieser Zeit auch FeUenberg beteiligt. Vgl. /. G. Fichte im Gespräch. Hrsg, von E. Fuchs. Bd 1. 61 f, 72 ff. 3^ Vgl. dazu das Tagebuch Baggesens vom 7.-9. Dezember 1793. In: ebd. 67 ff.

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1. Teil: Hintergründe

ligt er sich spürbar am dortigen Geistesleben; neben der Beschäftigung mit Fichte und der Revolution fällt seine intensive Liebe zur bernischen Landschaft und Bergwelt auf. Seine glühende Verehrung der Berner Gegend findet ihren Ausdruck in einem „Idyllischen Epos" mit dem Titel Parthenais oder der Jungfrauen Wallfahrt zur Jungfrau. Der Obrigkeit des alten Bern dürfte er seiner revolutionären Gesinnung wegen ein unangenehmer Gast gewesen sein.^s Für die Annahme, Hegel sei mit Baggesen während seiner Berner Zeit in Verbindung gestanden, spricht viel. Baggesen hält sich mit seiner Familie im Zeitraum von 1793 bis Anfang 1795 mehrmals in Bern auf. Hegel seinerseits kann dies nicht verborgen geblieben sein, wird er doch von Hölderlin im Sommer 1794 über Baggesens Berner Aufenthalt befragt (vgl. BL 10). Über Baggesens Rezeption der Fichteschen Philosophie in den 90er Jahren gibt sein Briefwechsel mit Reinhold näher Auskunft.^6 In den Briefen an Reinhold erweist er sich als ein in den neuesten Gang der Fichteschen Spekulation Eingeweihter und zugleich eigenwilliger, feinsinniger Denker. Den Zugang zu ihr findet er ganz aus seinem gelebten Denken heraus; Baggesen will alles andere als ein Schulphilosoph sein. Dies bringt ihn wohl von Anfang an in ein zwiespältiges Verhältnis zu seinem Vorbild. Mit Fichte teilt Baggesen allem voran die praktisch-politische Seite seines Philosophierens. Er nimmt wie Fichte deutlich Partei für den Republikanismus^^, und auch durch alle Schreckensnachrichten über die Französische Revolution läßt er sich kaum beeinflussen. Der notorische Klageton gegenüber dem Terror der Jakobiner, den viele Anhänger der Revolution im deutschen Sprachraum annehmen, geht ihm völlig ab. Wohl verkennt er nicht das Chaos, all das „Bluten" der Menschheit, doch noch Mitte der 90er Jahre scheint ihm die Freiheit darin emporzusteigen: „. . . und was freie Seele ist, jauchzt mit, trotz der blutigen Tränen, gen Himmel. "38 Entsprechend nimmt er Fichtes anonym erschienene Schrift über den Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, über die ihn Reinhold aufklärü^, enthusiastisch auf, ja er schätzt darin gerade den großen praktischen Sinn 35 Vgl. Richard Feiler: Geschichte Berns. Bd. 4. 380. 35 Vgl. Aus Jens Baggesen's Briefwechsel mit Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Heinrich Jacobi. 2 Teile. 37 Vgl. ebd. Teil 1. Brief Baggesen an Reinhold. Bellevue, 17. Juli 1794. 38 Ebd. Brief Baggesen an Reinhold. Bellevue, 8. Juli 1794. 355. 35 Vgl. ebd. Brief Reinhold an Baggesen. Jena, September 1793. 297.

C. Der geistig-kulturelle Hintergrund

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des Fichteschen Denkens. Nach einer ausführlicheren Lektüre bleiben allerdings Differenzen nicht aus. Vor allem in der Frage des von Fichte postulierten Rechts auf eine Revolution schließt er sich dem mäßigenden Urteil Reinholds an.^° jn seinem Tagebuch bestreitet er gegen Fichte gar dieses Recht und will es nur für den Ausnahmefall, daß eine Staatsverfassung die Sklaverei zum Zweck hätte, zugelassen wissen. Die spekulative Seite der Fichteschen Philosophie führt Baggesen indes zum eigentlichen, tieferliegenden Streitpunkt. Die Kritik an ihr, die ihm manch polemisches Sprachspiel entlockt, zeigt immer auch sein kongeniales Verhältnis zu Fichtes Spekulation, eine gewisse Befangenheit ihr gegenüber. Fichte spricht ihm auch hier in vielem aus der Seele, aber offenbar stört ihn bald dessen zu strenges Gemüt und vor allem die sterile orthodoxe Art des Philosophierens. Oft dringt er in Fichtesche Gedankengebäude nur ein, um deren überspitzte Kühnheit mit scharfem Witz ad absurdum zu führen. In die Grundzüge der Ich-Spekulation wird Baggesen von Fichte persönlich Ende 1793 — die beiden treffen sich in dieser Zeit kurz in Zürich und Bern —, also noch vor dem Erscheinen der ersten Eassung der Wissenschaftslehre, eingeführt. 42 Bald nach dieser Begegnung erhält Baggesen im folgenden Jahr das Manuskript der Wissenschaftslehre zugeschickt. Seine Beurteilung der Schrift verrät vorerst spontane Zuneigung, er bewundert sie, da sie seiner Meinung nach durch ihre „Schärfe, Bestimmtheit und Bündigkeit, die der Kantischen oft nahe, oft gleich kommt"43, ein bedeutendes philosophisches Werk zu werden verspricht. Zuweilen treibt ihn diese Sicht dazu, von dem spekulativen Charakter Eichtes etwas abzusehen und den „praktischen Theil" hervorzuheben.44 Eichtes Philosophie gilt ihm derart als „praktisch-theoretisch", als eine Verbindung von gedachtem und realem, empirischem Ich. Dies gelingt ihm allerdings nicht, ohne Fichte entscheidend umzudeuten oder wenigstens bona fide zu lesen. Den „praktischen Theil" der Fichteschen Philosophie interpreVgl. ebd. Brief Baggesen an Reinhold. Bern, 8. Juni 1794. 338. Vgl. das Tagebuch Baggesens von Mai/Jurd 1794. In: /. G. Fichte im Gespräch. Hrsg, von E. Fuchs. Bd 1. 94. Vgl. ebd. 61, 81; Jens Baggesen’s Briefwechsel. Teil 1. Brief Baggesen an Reinhold. Bern, 8. Juni 1794. 334 ff. Ebd. Brief Baggesen an Reinhold. Schloß Chätelar am Genfersee, 4. September 1794. 372. ^ Ebd. Brief Baggesen an Reinhold. Augsburg, 19. Dezember 1793. 376.

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1. Teil: Hintergründe

tiert er nämlich kaum im Sinne der „Thathandlung" eines spekulativen Ich^s, sondern mehr existenzphilosophisch als Beziehungsstruktur des Ich in seiner nicht-egoistischen Lebenswelt. Den spekulativen Satz „Ich bin" legt er zum einen als Satz des Bewußtseins „Ich bin Ich", zugleich aber als Satz des freien Daseins „Ich bin da" aus. Fichtes Auffassung des „Seyns", das im spekulativen Ich sich setzt und gesetzt wird, deutet er stillschweigend zu einem mehr leidenden als tätigen Sein des empirischen Menschen um. Wo ihm die Differenz aufgeht, versucht Baggesen Fichtes überrissene Ich-Spekulation als Psychologie des Revolutionären zu begreifen. Ähnlich wie der Ereignisgang der Französischen Revolution beschreibt ihm zufolge Fichtes Philosophie die unsichere Bahn eines Höhenfluges. Ohne fundamentum in re steigt das Ich in alle Höhen und schwankt notwendigerweise in der Spannung dieser Extremität herum, bevor es erst allmählich seine Mitte erreichen kann. So läßt er verlauten: „Fichtes System ist mir in der Philosophie das, was die revolutionäre Republik in der Politik ist. Der Mensch muß sich an den Extremitäten seiner Centrifugal- und Centripetalkraft im höchsten Grade erhitzt und abgekühlt haben, ehe er ins schöne Gleichgewicht kommt, lebenswarm wird, und sich sein wilder Cometenlauf in einen ordentlichen Planetengang concentriert. Diese „Extremitäten" mögen zwar für eine gewisse Phase des Ganges notwendig, sie dürfen jedoch nicht Selbstzweck sein. Baggesen morüert schließlich an Fichte, er verbleibe insgesamt in einer zu extremen Spannung des Alles oder Nichts, was unweigerlich einen gravierenden Seinsverlust nach sich ziehe. Den spannungsgeladenen universalen Gegensatz von „Gott" und „Nichts", den Baggesen für den Gang der Geschichte als notwendig erachtet, sieht er bei Fichte ins allzu Abstrakte hineingetrieben. Die vorgängige Dichotomie von Ich und Welt konzipiert Fichte so radikal, daß das postulierte allmächtige und freie Ich nurmehr im Medium des Denkens sich als Alles behaupten kann. Wo dieses Ich ein rein Gedachtes wird, ein bloßes Prinzip des Denkens, ist seine mitgesetzte Identifikation mit dem Gott oder dem Alles aber schlichtweg vermessen. Das Ich baut sich damit lediglich eine fiktive Allmacht auf, die bei einer Konfrontation mit der empirischen Welt in völlige Ohnmacht Umschlägen 45 Vgl. Fichtes Werke: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Bd 1. 91 ff. 4« ]ens Baggesen’s Briefwechsel. TeU 1. Brief Baggesen an Reinhold. Bern, 8. Juni 1794. 337.

C. Der geistig-kulturelle Hintergrund

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muß. Eine derartige Annahme des Alles korrespondiert einem Nichts im schlechtesten Sinne. Baggesen versucht mit dieser „All-Nichts-Lehre"^^, mittels der er zugleich stets die wirkliche, sinnliche Welt geltend machen will, nicht nur Fichtes Spekulation zu treffen, sondern die metaphysische Denkform schlechthin. Diese gilt ihm dabei genauer als das abstrakte oder reine Denken, das auf das Unbedingte angewandt wird. Wo das „Unbedingte" durch „Begriffe" und „Schlüsse" zur „wissenschaftlichen Erkenntnis" erhoben werden soll, ist es nach ihm nicht viel mehr als eine Metaphysik der Begriffe und Worte — ein Nichts. Fichte hat letztlich mit seiner Spekulation sein praktisches, freies moralisches Ich in ein solche Metaphysik zurückübersetzt. Der Praktiker Fichte entpuppt sich damit für Baggesen eigentlich als übersteigerter Metaphysiker. Selbst die Praxis, kritisches Movens gegen die Metaphysik, fällt dieser nun noch anheim. Treffend ist sonach die Bezeichnung, die Baggesen für die Fichtesche Philosophie reserviert hat: „Hypermetaphysik"! Baggesen nimmt hiermit nicht nur eine Tendenz der Fichte-Kritik Hegels und Schellings vorweg, er präfiguriert vielmehr gar Formen der nachhegelschen Kritik am „deutschen Idealismus", die unter dem Primat der Sinnlichkeit oder Praxis formuliert werden. Seine Gedanken kreisen zum einen speziell um die Frage des Egoismus. Deutlich wird, daß er in aller Schärfe gegen einen „theoretischen" Egoismus auftritt. Damit ist vor allem jene ungesellige, unlebendige, kontemplative Denkhaltung angesprochen, die dem metaphysischen Denken als solchem eignen soll.^® Dem Egoismus setzt er in diesem Kontext den Standpunkt des Praktischen, des Bezugs zum Anderen entgegen. Dieser Thematik entspringen sodann die Invektiven gegen einzelne Aspekte der metaphysischen Denkform, besonders gegen das hypostasierte reflexive, verstandesmäßige oder formelle Denken. Seine Argumentationen sind dabei zuweilen Kantisch, zum Teil Hegelisch, so wenn er, vom Standpunkt des Praktischen aus, Fichte bzw. den metaphysischen Menschen, weil dieser das, „was ihm frei ist, auf das Gebundene, das was ihm ewig ist, auf das Endliche, das

Vgl. ebd. Teil 2. Brief Baggesen an Jacobi. Worb ohnweit Bern, 21. September 1797. 211 f. Vgl. ebd. Teil 1. Brief Baggesen an Reinhold. Augsburg, 19. Dezember 1793. 374 f.

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1. Teil: Hintergründe

was in ihm übersinnlich ist, auf das Sinnliche transponiert"^^, gleichsam der falschen Verendlichung des Unendlichen überführt. Diese falsche Verendlichung beklagt er freilich nicht so sehr im Rahmen der Anwendung des Unendlichen auf das Sinnliche, vielmehr im Transponieren des Verstandes auf das Unendliche. Der Verstand ist ihm gemeinhin ein inadäquates Mittel, um das Höchste erfassen zu können. So bemängelt er gar — ähnlich wie Hegel in der „Einleitung" zur Phänomenologie des Geistes — den Werkzeugcharakter des Verstandes, der sich, da er nur zirkulär auf sich reflektiert, für die Erkenntnis des Absoluten als Hindernis erweist (vgl. GW 9.53 f). Baggesen beschreibt die „theoretische Philosophie" als ein „Selbstspiegeln" und vergleicht sie dabei mit einem „Hobel der Spekulation", der die „Weilchen" und „Unebenheiten" eines Baches weghobeln möchte, damit sich das menschliche Antlitz darin rein spiegeln kann.^o Indem der Hobel auf das Wasser angesetzt wird, zerstört er die glatte Oberfläche allerdings erst recht, die fiktive Vorstellung eines Herstellens des Spiegelns mittels eines Werkzeugs beruht letztlich gar auf der Zerstörung des gesuchten Objekts. Der Erkennende glaubt sein Spiegelbild zu finden, indem er ins Wasser springt. Fichtes Spekulation sieht Baggesen in dieser Beziehung als Spezialfall des „Selbstspiegelns". Sie ähnelt einem „Hohlspiegel", der verzerrend alles auf den Kopf stellt.51 In ihr ist der Verstand dynamisch geworden, er bewegt sich schnurgerade aufs Höchste zu, bleibt aber immer in sich gefangen. Im Gegensatz zu den bisherigen metaphysischen Systemen findet Baggesen im Fichteschen geradezu ein „ausgelassenes Spiel des Verstandes mit sich selbst".52 Die neue Variante der metaphysischen Denkform verhält sich zu den bisherigen „wie Frechheit zu Freiheit, wie Raserei zur Begeisterung". Darüber hinaus scheint Baggesen offenbar allem Begreifen des Höchsten, selbst wenn adäquatere Mittel der Erkenntnis als der reflexive Verstand zur Verfügung ständen, abgeneigt zu sein. Freilich zieht er sich nicht selbstgefällig auf einen kleinlaut gewordenen Verstand zurück, perhorresziert er doch mehr und mehr alles Verstandesmäßige, das ihm in die Quere kommt. Ein wichtiges, vielleicht das zentralste Motiv der Kritik am Verstandesdenken ist der Primat der Sinnlichkeit, den der Dichter Ebd. Brief Baggesen an Reinhold. Bern, 8. Juni 1794. 336. 50 Vgl. ebd. Brief Baggesen an Reinhold. Worb, 25. Dezember 1794. 399. 51 Vgl. ebd. Teil 2. Brief Baggesen an Jacobi. Kiel, 26. April 1797. 176. 52 Ebd. Teil 1. Brief Baggesen an Reinhold. Worb, 25. Dezember 1794. 399.

C. Der geistig-kulturelle Hintergrund

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Baggesen im Laufe seiner Überlegungen immer nachhaltiger vertritt. Noch zu Beginn der Auseinandersetzung mit Fichte hegt er die wohlmeinende Absicht, zum Fichteschen „Ich bin Ich" mit einem „sum ergo cogito" ein Korrektiv geben zu können.^3 Mit dieser Tendenz gerät er alsbald in immer schärfere Differenz zu Fichte, aber auch zum weniger spekulativen Kant. Mehr und mehr stört ihn das Verstandesdenken nicht mehr bloß als Aspekt der metaphysischen Denkform, sondern generell als Modus des abstrakten oder formellen Denkens. Ende 1796 schreibt er an Reinhold, daß bei ihm die „Stockkantianer" und „Stockfichteaner" kaum mehr auf Gegenliebe stoßen; „Nur das Abstracte, das Reine, die Form ist ihnen heilig; das Concrete, das Empirische, der Stoff, das Nicht-Ich ist ihnen ein Greuel. Mir aber ist nichts so sehr ein Greuel, als ihre grundlose, stoffleere Philosophie, worin sie, um ja alles Empirische zu verhüten, weder gesunden Menschenverstand, noch moralisches Gefühl, noch einige Scheu vor Gott aufnehmen. Mir hingegen ist, trotz meiner Überzeugung von der Richtigkeit der Kant'sehen Lehre von den Erscheinungen, dennoch das Concrete, das Empirische, das Gegebene überhaupt gerade das Wichtigste und das Heiligste . . ."^4 Baggesens Primat der Sinnlichkeit geht nicht auf ein Konkretes, Stoffliches im engeren Sinne, sondern auf ein Weltliches, Diesseitiges. Im Zentrum steht der diesseitig strebende und leidende Mensch, wobei der Dichterphilosoph mit dieser Sicht zuweilen auf ein ins Religiöse gewendetes Naturgefühl abhebt. Ein erster deutlicher Einfluß Fichtescher Theoreme auf Hegels Arbeiten zeigt sich anfangs 1795. Zweifellos sind dabei Anregungen mit im Spiel, die auf seine Freunde Hölderlin und Schelling zurückgehen. Im Januar 1795 schreibt Schelling an Hegel von seiner Lektüre der Fichteschen Wissenschaftslehre und macht ihn auf die Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten aufmerksam (vgl. B I. 14 f). Bald darauf weihen ihn Hölderlin und Schelling in ihre neuesten Reflexionen zu Fichtes „absolutem Ich" ein (vgl. ebd. 18 ff). Hegel erscheint in dieser Beziehung ganz als der Lernende. Mit den „neueren Bemühungen" der spekulativen Philosophie, besonders auch mit den „Reinholdischen", ist er angeblich wenig vertraut, sie scheinen ihm auch nicht „von großer AnwendVgl. ebd. Brief Baggesen an Reinhold. Schloß Chätelar am Genfersee, 4. September 1794. 372 f. 5* Ebd. Teil 2. Brief Baggesen an Reinhold. Friedrichsberg, 18. August 1796. 127.

1. Teil: Hintergründe

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barkeit auf allgemeiner brauchbare Begriffe zu sein ..." (Ebd. 16). Stellt man nun die Verbindung Hegels mit Baggesen, die, wie gesagt, wohl begründet ist, in diesen Zusammenhang, so muß zumindest das Bild von einem gegenüber neueren philosophischen Spekulationen unkundigen Hegel korrigiert werden. Mit Baggesen trifft Hegel jedenfalls auf eine Person, die ihn über die neuesten philosophischen Bemühungen Reinholds und Fichtes genauestens und verhältnismäßig früh — ab Mitte 1794 — informieren kann. Aus den Äußerungen Hegels zur neueren philosophischen Spekulation spricht denn auch weniger eine Unkenntnis denn eine resolute Skepsis ihr gegenüber. Für die praktisch-emanzipatorischen Bedürfnisse der Zeit scheint sie ihm eben wenig brauchbar zu sein. Hier trifft sich Hegels Meinung ganz mit jener Baggesens. In Baggesen kann er sich gerade in seiner anti-spekulativen Tendenz bestätigt sehen. Beide haben ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zu Fichtes Philosophie: Bei aller Begrüßung der neuen radikalen Freiheitsphilosophie trachten sie danach, sie nicht in eine dünne Höhe des Ich steigen zu lassen, sondern auf das Konkrete anzuwenden.

D. Der Berner Hegel — Eine philosophische Biographie 1. Der Hofmeister Hegels Aufenthalt in Bern dauert vom Herbst 1793 bis zum Ende des Jahres 1796 und scheint äußerlich gesehen durch kein besonderes Ereignis geprägt zu sein, das ihn mit dieser Stadt verbindet. Das große revolutionäre Geschehen, das er neugierig verfolgt, ist zwar auch hier spürbar, doch liegt dessen Mittelpunkt für ihn wohl zu sehr in der Ferne. Unter der allgemeinen Niedergangsstimmung, die sich bald in Form ängstlichen Abwartens, bald exzessiven Zerstreuens ausbreitet, ist die Umgebung seines Daseins eher farblos, eintönig; reizvoll lediglich durch das Fremde und Neue, das sie ihm darbietet. Aus dem allgemeinen Eindruck heraus, den dieser Zeitabschnitt bei uns hinterläßt, werden wir nachträglich leicht geneigt sein, Hölderlin zuzustimmen, wenn er an Hegel schreibt: „Deine Seen und Alpen möchte ich wohl zuweilen um mich haben. Die große Natur veredelt und stärkt uns doch unwiderstehlich. Dagegen lebe ich im Kreise eines seltenen, nach Umfang und Tiefe und Feinheit und Gewandtheit

D. Der Berner Hegel

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ungewöhnlichen Geistes. Eine Frau von Kalb wirst Du schwerlich finden in Deinem Bern." (B I. 9) Hegel ist in der Familie des Patriziers Carl Friedrich von Steiger als Hofmeister angestellt und trägt dort den verantwortungsvoll klingenden Titel eines „Gouverneur des enfants de notre eher et feal Citoyen Steiguer de Tschougg"^. Die Familie Steiger bewohnt in dieser Zeit einen stattlichen Sitz in Bern, im Sommer bezieht sie ihre Residenz in Tschugg, einem Landgut, das in der Nähe des Westufers des Bieler Sees liegt. Seine Anstellung im Hause Steiger, von der er sich offenbar persönliche Weiterbildung und Muße verspricht, scheint Hegels Dasein zeitlich größtenteils auszufüllen. Kaum etwas deutet darauf hin, daß mit ihr etwas Außergewöhnliches verbunden wäre. Die Jahre scheinen ruhig abzulaufen, ohne Höhe- und Tiefpunkte, ohne dramatische Zuspitzung — ein einfaches Anstellungsverhältnis? Eine geradezu auffällige Anonymität liegt über ihnen, und vielleicht wird diese nur durch den Eindruck evoziert, Hegel dürfe in dieser Umgebung wenig Spuren seiner selbst hinterlassen, dürfe seine Gesinnung nicht verraten. Anhaltspunkte zu Ereignissen, die den Rahmen des Hofmeisterdaseins sichtbar verlassen, liegen wenige vor. Rosenkranz berichtet von einer Reise nach Genf, die Hegel im Mai 1795 unternommen hat.^ Im Sommer des folgenden Jahres bereist er, wie der Bericht über eine Alpenwanderung belegt, mit drei sächsischen Hofmeistern die Berner Alpen. Die Reise nach Genf wird ihn für die Ferne von den großen Schauplätzen der Revolution wohl etwas entschädigt haben. Hier hat er jedenfalls Gelegenheit, die Ereignisse in der Waadt aus der Nähe verfolgen zu können. Anteilnahmen Hegels am bernischen Gesellschaftsleben, die über den Familienkreis der Steiger hinausgehen, sind kaum anzunehmen. Freundschaften knüpfen sich im Verborgenen, in einem Kreis von Gleichgesinnten. Ein Kontakt besteht zum bereits erwähnten Maler Sonnenschein, einem gebürtigen Stuttgarter, der seit längerer Zeit in

' Siehe Briefe von und an Hegel. Bd 4, TeU 1. Hrsg, von F. Nicolin. 70. Zum Biographischen von Hegels Berner Zeit siehe Hans Strahm: Aus Hegels Berner Zeit; Wilhelm R. Beyer: Aus Hegels Berner Zeit. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 26 (1978), 246-250. 2 Vgl. Karl Rosenkranz: Hegel's Leben. 43 f.; siehe dazu auch Briefe von und an Hegel. Bd 4, Teil 1. 70 f.

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1. Teil: Hintergründe

Bern weilt.^ Bei Sonnenschein ist Hegel laut Rosenkranz öfters zu Gast: . man spielte Klavier, sang, besonders Schillersche Lieder und ergötzte sich auch an einer Partie Bosten."'* Daß er in Bern sich zumindest bei Sonnenschein in einem Kreis von Leuten heimisch gefühlt haben mag, dokumentiert jene von Rosenkranz wiedergegebene Zeile aus einem Brief des Malers an Hegel von 1797: „,Freude schöner Götterfunken' wird oft genug zu Ihrem Andenken gesungen. Bedenkt man den damaligen revolutionären Gehalt dieses Liedes, so wird er im Kreise von Sonnenschein wohl auch mehr als nur gesellige Stunden verbracht haben. Das Leben eines Hofmeisters, das Hegel in Bern zu führen hat, ist allgemein gesehen weder als Tätigkeit besonders anregend noch vom sozialen Status her geachtet. Als Pflichtübung für angehende Pastoren, Beamte oder Gelehrte schafft es zwar Freiräume zum Selbststudium, da die geistigen Anforderungen nicht sehr hoch sind, andererseits aber auch Abhängigkeiten materieller und personeller Art. Im allgemeinen spiegelt sich in ihm die feudale Abhängigkeit in ihrer ganzen Problematik. Der Hofmeister ist Diener des Hausherrn oder der Hausherrin und genießt dadurch gewisse Freiheiten, er ist dafür aber sehr direkt vom Hause abhängig und seinen Vorgesetzten unmittelbar ausgeliefert. Welche Misere in der Regel mit diesem Status verbunden ist, hat etwa Lenz in seiner tragischen Komödie Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung eindrücklich nachgezeichnet. Der Hofmeisterberuf ist gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht bloß schlecht bezahlt, er ist auch ein Dienstverhältnis, das innerhalb der feudalen Familie und gegenüber der bürgerlichen Sozietät laufend Konflikte provoziert. So wird der Hofmeister in der feudalen Familie in seinem domestikalen Dasein leicht zum sexuellen Objekt; und aus bürgerlich-aufgeklärter Sicht gilt er in seiner Unterwerfungsrolle als Narr und lästiges Hemmnis bei den Bemühungen zur Errichtung einer allgemeinen öffentlichen Erziehung.^ Das Leben in dieser zugeschobenen Rolle ist in der Regel alles andere als leicht; die 3 Zu Sonnenscheins künstlerischem Schaffen siehe Owsei Breitbart: Johann Valentin

Sonnenschein 1749—1828. Diss. Zürich 1912. ^ Karl Rosenkranz: Hegels Leben. 43.

5 Ebd. ® Vgl. /. R. M. Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Stuttgart 1981. Besonders Akt 2, Szene 1. — Allgemein zum Bild des Hofmeisters: Ludwig Fertig: Die Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz. Stuttgart 1979.

D. Der Berner Hegel

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Hofmeisterkrankheit, von der Hölderlin bekanntlich befallen wird, scheint in dieser Zeit kein Einzelfall zu sein7 Die Lehrtätigkeit im Hause Steiger wird Hegel nicht sonderlich angestrengt haben, er unterrichtet zwei Zöglinge im Alter von 6 und 9 Jahren. Aus einem Brief eines früheren Hofmeisters an Steiger ist zu ersehen, was dieser zur Erziehung seiner beiden Kinder verlangt. Auf seiner Wunschliste stehen reformierte Religion, Sprachen, Geschichte, Geographie, Arithmetik und Musik. Auf „Zwanglosigkeit" und „gute Conduite" im Unterricht legt er großen Wert.® Trotz der geringen Anforderung und trotz der bestehenden Ereiräume kann Hegel die Zeit nicht zu seiner Zufriedenheit nutzen. Eintönigkeit wechselt mit Zerstreuung. Er klagt Schelling gegenüber, daß die zu „heterogene" Beschäftigung ihn zu „nichts Rechtem" kommen lasse (B L 11), spricht über „mancherlei Geschäfte" und „Zerstreuungen" (ebd. 23); und auch im Briefgedicht Eleusis ist das Bedürfnis nach nächtlicher Ruhe nach „des Tags langweil'ge(m) Termen" vernehmbar (ebd. 38). Als Diener im Hause werden die Ereiräume wohl des öfteren durch Kleinigkeiten unterbrochen, man ist hier ganz dem Rhythmus der Eamilie ausgesetzt. Weitere kleine Beschäftigungen kommen zum Unterricht hinzu, insbesondere wenn der Hausherr für längere Zeit abwesend ist. Im Hause Steiger ist es üblich, daß dann die höheren Hausangestellten eine vermehrte Aufsichtsfunktion erhalten. Zudem müssen die wichtigsten Vorfälle im Hause dem Hausherrn mittels eines schriftlichen Rapports festgehalten werden.^ In solchen Zeiten sind darüberhinaus manche Abende im Kreise der Eamilie zuzubringen, und auch hier sind mancherlei Beschäftigungen, etwa die Aufsicht über die Kinder, eingeschlossen. Zweifelsohne gehört Hegel zur privilegierten Dienerschaft des Hauses. Aus der Familienkorrespondenz Steigers und seiner Frau^o wird diese Abhebung ebenso deutlich wie die Tatsache, daß die hö-

7 Vgl. hierzu Peter Härtling: Hölderlin. Ein Roman. Darmstadt, Neuwied 1983, 257 ff. * Vgl. Tschugger Archiv Mss. h. h. L 103. Pag 5,6 (Brief von Schwindrazheim an Steiger vom 9. Januar 1793). ® Vgl. Hegels Notiz an Steiger B 1. 26. — Diese Art Rapport ist bei Abwesenheit des Hausherrn üblich und deutet auf kein engeres Vertrauensverhältnis zwischen Hegel und Steiger hin. to Die für den Zeitraum von Hegels Aufenthalt bedeutsame Familienkorrespondenz findet sich Tschugger Archiv Mss. h. h. L 100—106, L 117 f.

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1. Teil: Hintergründe

heren Hausangestellten stark ins Familiäre eingebunden sind. Die „feinen" Differenzen, die man dabei gegenüber der Dienerschaft zu machen pflegt, illustrieren vorzüglich einige Zeilen aus einem Brief Steigers an seine Frau: „Donnes moi de tes nouvelles, ce que vous faites, vous, nos enfants et Melle Rönner et Mr Hegel, j'espere que vous vous rassembles le Soir pour que les enfants ne soyent pas abandonnes aux Domestiques. Mr Hegel est-il contant d'eux?"ii Trotz dieser Sonderstellung darf man aber nicht schon auf ein engeres Verhältnis des jungen Hofmeisters zur Familie Steiger schließen. Die klare knechtische Stellung ist eine Selbstverständlichkeit. Im aristokratischen Haus ist es zudem gang und gäbe, daß die Dienerschaft „hinter den Kulissen" zu agieren hat. 12 Hegel bleibt auch in privilegierter Position bloße Person des Hauses, eine Person, die man zur Kenntnis nimmt und vielleicht sogar schätzt, ln der Korrespondenz taucht sein Name denn auch meist dort auf, wo von Erledigungen im Hause die Rede ist.^^ Und einzig die Tatsache, daß dem guten Monsieur „Heguel" von den Schwestern Steigers mitunter Grüße übermittelt werden^^, erweckt den Eindruck von einem auch etwas freundschaftlicheren Umgang. Das Dasein in dieser freundlich domestikalen Situation kann für Hegel freilich kaum konfliktlos verlaufen. Das republikanische Freiheitsideal muß notgedrungen mit der perennierenden alten Welt kollidieren. Da ist nicht bloß die einschränkende feudale Lebensform, die Abhängigkeit von der Eamilie, da spielt — die Sache verschärfend — die entgrenzende Aufbruchstimmung der jungen Re-

Ebd. L 118 (Brief von Steiger an Frau Steiger vom 25. Oktober 1795). Siehe hierzu die Ausführungen von Norbert Elias: Die Höfische Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1983. 68 ff, 74. 13 Ab und zu muß Hegel z. B. seinem Hausherrn die nötigen „Gazetten" besorgen. Vgl. Tschugger Archiv. Mss h. h. L. 118 (Briefe von Steiger an Frau Steiger vom 15. und 16. Oktober 1795). 1^ Erwähnungen Hegels finden sich: ebd. L 101. Pag 93 (Brief von Marianne Steiger an Steiger von 1793), Pag 109 (Brief von Marianne Steiger an Steiger vom 27. August 1795) ; L 104 (Briefe von Madame d'O Bernan an Steiger vom tember 1794, von Herbst 1794 „Frienisberg mercredi soir" — in letzterem werden auch Grüße an Mögling, einen Freund Hegels und Hölderlins (vgl. B I. 10), der offenbar im Hause Steiger hin und wieder zu Gast ist, übermittelt — sowie vom 21. Oktober 1794); L 106. Pag 16 (Brief von B. A. Kirchberger an Steiger vom 18. November (?) 1796; L 117. Pag 293 (Brief von Julie Steiger an Frau Steiger von November 1793); L 118 (Briefe von Steiger an Frau Steiger vom 15., 16., 25. Oktober 1795 sowie vom 9. Oktober 1796) .

D. Der Berner Hegel

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volutionäre mit hinein. Hieraus muß sich bald einmal eine Aversion gegen die unmittelbare Umgebung ergeben. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund hat man, Falkenheims These folgend, in der Herausgabe der Vertraulichen Briefe ein Indiz für die ungerechte Behandlung Hegels im Hause Steiger sehen wollen. Hans Strahm hat dem vehement widersprochen und in die Gegenrichtung argumentiert: Sofern ein Zusammenhang zwischen der Schrift und Hegels Situation überhaupt bestehe, gebe Hegel mit der Schrift eher den überlieferten „Familiengroll" der Steiger von Tschugg gegen das Berner Regime wieder. Die Steiger von Tschugg hätten sich nämlich, nachdem der Vater Carl Friedrichs im Kampf um das Schultheißenamt unterlegen sei, von der Berner Politik distanziert und ganz der Bildung und Kunst zugewandt, Strahm hat sicher recht, daß die persönliche Situation Hegels bei Steiger als Anlaß für die Herausgabe der Vertraulichen Briefe nicht überbewertet werden darf. Nicht sehr überzeugend ist jedoch sein Versuch, Steiger aufgrund der Bildungstradition der Tschugger Linie eine geistige Verwandtschaft mit Hegel zuzuschreiben. Der hohe Bildungsstand der Steiger von Tschugg sagt ja nicht sonderlich viel über ihre tatsächliche Haltung zur Berner Regierung und zu den Ereignissen in Frankreich aus.^^ Zudem ist Carl Friedrich von Steiger, Hegels Hausherr, im Gegensatz zu seinem Vater und älteren Bruder stärker in die bernische Politik involviert und verkörpert auch deutlicher den Typus des politisch und militärisch geschulten Patriziers. Es ist somit in der Tat von einiger Plausibilität, daß der junge Hofmeister mit dem Hause Steiger seine Differenzen hat und dadurch wohl auch die Konsequenzen zu spüren bekommt. Daß das „gute" Einvernehmen zumindest am Ende Vgl. Hans Strahm: Aus Hegels Berner Zeit. 524. Der These, Hegel gebe den Steigerschen Familiengroll weiter, hat auch Hans Haeberli widersprochen. Vgl. Hans Haeberli: Die Bibliothek von Tschugg und ihre Besitzer. 737, 741. ii" Die hohe Bildung eines bernischen Gelehrten sagt in der Regel auch nichts über dessen Beurteilung der sozialen Aufklärungsbewegung aus. Der Vater Carl Friedrich von Steigers z. B. läßt bei aller Hochschätzung der neueren französischen Literatur deutlich durchblicken, was er von der politischen Aufklärung eines Rousseau hält. So sieht er in dessen Gesellschaftsvertrag „. .. la source de tous ces malheurs qui ne seroient pas arrives, si J. J. Rousseau avait este toute sa vie un Oureng Outan." (Zitiert nach Hans Haeberli: Die Bibliothek von Tschugg und ihre Besitzer. 736.) 1® Zur Biographie Carl Friedrich von Steigers siehe die genannten Schriften von Strahm und Haeberli, sowie seine eigenhändig verfaßte Lebensgeschichte („Meine Karl Friedrich von Steigers, alt Landvogt zu Erlach Lebensgeschichte". In: Tschugger Archiv. Mss. h. h. L 92).

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1. Teil: Hintergründe

von Hegels Aufenthalt empfindlich gestört ist, geht aus einem Brief, den Steiger von seinem Bruder im November 1796 zugeschickt erhält, hervor: „Je suis fache du desagrement que le Sieur Hegel t'as cause. Je sais ce que valent les tetes du Wurtemberg, d'ailleurs la mauvaise tete est un apanage de la betise et il faudrait pas etre souabe pour ne pas l'etre."i^ Die Sprache des Hauses wird hier — im vertrauteren Kreise — sichtlich etwas kruder, aber auch klarer. Schade ist, daß der genauere Anlaß, auf den diese Bemerkung abzielt, nicht weiter rekonstruiert werden kann.^o Doch kommt auch so eine Sequenz der Schattenseite von Hegels damaligem Hofmeisterdasein zum Vorschein. Zieht man den Brief Hölderlins an Hegel Ende 1796 heran, worin von der neuen Anstellung im Hause Gogel in Frankfurt die Rede ist, so läßt sich vielleicht etwas von dieser Schattenseite weiter erschließen. Die Anstellungsbedingungen bei Gogel, die Hölderlin ihm mitteilt — „Du würdest zwei gute Jungen zunächst zu bilden haben, von neun bis zehn Jahren, würdest durchgängig ungeniert in seinem Hause leben können, würdest, was nicht unwichtig ist, ein eigenes Zimmer bewohnen, wo Du Deine Buben nebenan hättest, würdest mit den ökonomischen Bedingungen sehr zufrieden sein" (B 1. 41) — können sehr wohl als Kontrast zu den Verhältnissen bei Steiger verstanden werden.

2. Die Bibliothek Immerhin ist Hegel im Hause Steiger in bezug auf Studien zu einigen seiner philosophischen Interessengebiete und Vertiefungen in diverse Wissenschaften nicht zu kurz gekommen. Dies darf man annehmen, seit Hans Strahm auf die Bedeutung der Tschugger Bibliothek hingewiesen hat. Im Hause Steiger in Tschugg steht ihm nämlich eine Bibliothek zur Verfügung, wie, nach Meinung Strahms, „zu jener Zeit nicht leicht eine zweite gefunden werden konnte"^!. Von Bedeutung ist aber vor allem, daß sich die thematische Ausrichtung der Bibliothek größtenteils mit jenem Arbeitsbereich deckt, der

Ebd. L 102. Pag 181 (Brief von J. R. Steiger an Steiger vom 7. November 1796) Dazu bereits Hans Haeberli: Die Bibliothek von Tschugg und ihre Besitzer. 741. 20 Der entsprechende Brief von Steiger an seinen Bruder J. R. Steiger ist leider verschollen. Vgl. Hans Haeberli: ebd. 21 Hans Strahm: Aus Hegels Berner Zeit. 527.

D. Der Berner Hegel

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für Hegels Berner Zeit akzentmäßig im Blickfeld steht: dem philosophisch-politischen und philosophisch-historischen. Die Tschugger Bibliothek, die wesentlich unter dem Vater Carl Friedrichs aufgebaut wurde, ist ganz auf die Aufklärungsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts zentriert.^^ Mit dem Übergang an Carl Friedrich wird sie offenbar nicht mehr weiter systematisch ausgebaut. Der im Tschugger Archiv vorhandene Catalogue de la Bibliotheque de Tschougg, der gut 200 Seiten umfaßt, verzeichnet gegen 2 000 Titel und rund 3 500 Bände. Generell gliedert er die Titel in die Abteilungen Literatur/Philosophie (, Beiles Lettres'); allgemeine Geschichte/Geschichte verschiedener Länder/Naturgeschichte; Wissenschaften (,Sciences'); Geographie; Verschiedenes (,Melanges'). Unter der letzteren findet sich auch eine Sammlung von politischen Schriften und diversen Zeitschriften.^^ Strahm hat aufgrund eines später angefertigten Auktionskataloges rund 150 Titel vorwiegend aus der ersten Abteilung (,Belles lettres') herausgegriffen, die seines Erachtens für Hegel von Interesse gewesen sein konnten. Seine Auswahl bezieht sich in erster Linie auf Titel, die in seinen Berner Schriften zitiert oder von ihm nachweislich studiert wurden.24 Bemerkenswert in dieser ersten Abteilung ist, abgesehen von zahlreich vertretenen alten Klassikern (Platon, Aristoteles, Thukydides), die thematische Ausrichtung auf politische Philosophie und Sozialphilosophie. Hierin ist zudem der französische und englische Sprachraum gegenüber dem deutschen übergewichtig. Die deutsche Klassik ist prinzipiell untervertreten, die neuere deutsche Philosophie (z. B. Kant) fehlt völlig.25 Der Bereich der philosophischen Aufklärung wird hauptsächlich abgedeckt durch natur- und staatsrechtliche Titel von Machiavelli, Bodin, Grotius, Vgl. Hans Haeberli: Die Bibliothek von Tschugg und ihre Besitzer. 742. 23 Vgl. Tschugger Archiv. Mss. h. h. L 97 (Catalogue de la Bibliotheque de Tschougg). 2“^ Da Strahm der Bibliothekskatalog nicht Vorgelegen ist, sondern lediglich ein weniger Titel umfassendes Verzeichnis eines Auktionskataloges, ist seine Zusammenstellung der Werke, die für Hegel von Interesse sein konnten, zu ergänzen. Weiter aufzunehmen wären etwa: - Heroditi Opera, cura Th. Cale. London 1679. (Beiles Lettres); - Hesiodi Opera omnia, cura Hensy . . . 1631; - Epikur: La morale. Paris 1685. (Sciences); - Bacon: On laws and government of England. London 1739. - Foster: On natural religion and social virtue. London 1749. 25 An neuerer philosophischer Literatur hat es Hegel deshalb aber nicht durchweg gefehlt. Herder, Kant, Schiller, Fichte sowie einige theologische Journale dürften in seiner Privatbibliothek vorhanden sein. Vgl. Karl Rosenkranz: Hegel's Leben. 48.

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1. Teü; Hintergründe

Hobbes, Locke bis zu Montesquieu, Voltaire und Rousseau. Vertreten ist ebenfalls der vorkantische deutsche Rationalismus (Leibniz, Wolff) und weit ausgeprägter der Kreis der französischen Enzyklopädisten. Rückblickend dürfte auch die zweite, insgesamt geschichtswissenschaftliche Abteilung für Hegel relevant gewesen sein. Sie beinhaltet zum einen zahlreiche Detailstudien zu einzelnen Ländern, insbesondere zur eidgenössischen Geschichte; man trifft hier aber auch auf Werke, die für geschichtsphilosophische Studien reichlich Materialien und Ansatzpunkte bieten. Erwähnenswert scheint mir in diesem Zusammenhang die 45 Bände umfassende Histoire universelle — depuis le commencement du monde jusqu'ä present, die in einer übersetzten deutschen Ausgabe, Amsterdam und Leipzig 1742, vorliegt. Und selbstverständlich darf hier gleichfalls jener Ausschnitt der Historie nicht außer acht gelassen werden, der die Französische Revolution betrifft. Verzeichnet sind unter dem Titel Receuil de diverses Pieces sur la Revolution en France 1789—90 Aufsätze und Schriften, die bis 1793 datiert sind und mit Namen wie Rabaut de St. Etienne, Necker, Mirabeau, Claviere und Desmoulins in Verbindung stehen.Aus den anderen Abteilungen wird darüberhinaus mindestens ersichtlich, welche vielfältigen Möglichkeiten diese Bibliothek Hegel bietet. Er erhält hier nicht bloß einen leichten Zugang zu wissenschaftlichen Studien aller Richtungen, sondern auch zu Zeitschriften, mit denen er sich auf dem neuesten Stand der politischen Ereignisse halten kann. 27 Es ist nicht auszuschließen, daß die Tschugger Bibliothek Hegel in der historischen und politischen Denkhaltung innerhalb seines philosophischen Programms maßgeblich beeinflußt hat. Etwas seltsam ist dabei allerdings, daß er ihre Bedeutung für seine Arbeiten in der Berner Zeit zu verdecken scheint. Ein Brief Hegels an Schelling deutet 26 Diese Sammlung ist im Catalogue de la Bibliothekque de Tschougg registriert unter „Histoire generale/Brochures". Über die Ereignisse in der Waadt liegen einige Titel auf, die allerdings mehrheitlich nach 1796 erschienen sind. 22 Zu beachten sind hier diverse Schriften von Mitgliedern der „Ökonomischen Gesellschaft“, die Reiseliteratur sowie einige moralwissenschaftliche Studien zu ökonomischen Themen (siehe ebd. unter „Histoire naturelle"). Unter den Zeitschriften sind verzeichnet: - Politisch-Literarischer Kurier und Straßburger Kurier 1790—1792; - Bulletin National et Republicain 1793—1795; - Proces de Fouquier TinvUle 1795; - Gazette de Berne 1789—1797 (siehe ebd. unter „Melanges").

D. Der Berner Hegel

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auf einen recht verworrenen Sachverhalt hin. Im April 1795 schreibt er Schelling: „Fichtes Wissenschaftslehre nehme ich mir vor, auf den Sommer zu studieren, wo ich überhaupt mehr Muße haben werde, einige Ideen auszuführen, mit denen ich schon lange umgehe, wobei mir der Gebrauch einer Bibliothek abgeht, welche ich doch sehr nötig hätte." (B I. 25) Es ist kaum davon auszugehen, die Tschugger Bibliothek sei Hegel unbekannt geblieben. 28 Der Hinweis bezieht sich wohl auf die Situation in Bern, nicht auf jene in Tschugg. Doch könnte er freilich auch anders zu erklären sein. Die Bibliothek deckt, wie dargelegt, das Gebiet der politischen und historischen Philosophie ab und kaum jenes, das im Briefwechsel zwischen Hegel und Schelling verhandelt wird. Für Studien zur neueren spekulativen Philosophie muß in der Tat die Bibliothek Hegel als ungeeignet erscheinen. Wie dem auch genauer sei, man kann sich ganz allgemein bei dieser wie auch bei anderen Mitteilungen Hegels des Eindrucks nicht erwehren, daß er die verschiedenen Ansätze seines praktisch-politischen Philosophierens vorschnell ins Unwesentliche wendet, ja daß sie eine Interessenverlagerung anzeigen, die nicht ohne Interessenkonflikte verläuft. Diese Haltung gilt besonders für sein Verhältnis zu Schelling, in dem er die Rolle des Zögerers innehat. Die Bedeutung seiner Arbeiten spielt er ihm gegenüber herunter, sie scheinen den eigenen Ansprüchen und Plänen nicht zu genügen. Vielleicht steckt dahinter gerade auch eine taktische Bescheidenheit. Mit Recht hat meines Erachtens Ernst Bloch für die Berner Periode festgehalten, Hegel verstehe es gekonnt, in seinem Schaffen die „Spuren zu verwischen"29. In die heterogenen praktischen Gebiete seines Philosophierens will er wohl möglichst wenig Einblick gewähren. Bedenkt man darüberhinaus, wie ausgeprägt schon in seiner Frühzeit das Interesse an Politik und Historie ist, wie zentral der Bezug zum historischen und politischen Objekt für die Entwicklung seines philosophischen Systems geworden ist, so scheint die Annahme berechtigt, daß seiner Verwendung der Tschugger Bibliothek eine stärkere Bedeutung eignet, als Hegel es aus seinen damaligen Interessenerwägungen heraus selbst einschätzt oder gegen außen kundtut. Wie weit in diesem spezifischen Falle äußere Bedingungen und eigens gehegtes Interesse im Spiel sind, wäre müßig, weiter erörtern zu wollen. Der Verdacht, daß Hegel auch hier eine äußere Not zuweüen in eine Tugend verwan28 Vgl. Hans Strahm: Aus Hegels Berner Zeit. 526. 29 Vgl. Ernst Bloch: Leipziger Vorlesungen. Bd 4. Frankfurt a. M. 1985. 258.

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1. Teil: Hintergründe

delt, ist naheliegend und für eine biographische Geschichte eines recht unentschlossenen, sich kaschierenden Hegel ein aufschlußreiches Detail.

3. Die Französische Revolution — Eine Episode mit theoretischen Folgen Ende 1794 teilt Hegel Schelling mit: „Zufälligerweise sprach ich vor einigen Tagen hier den Verfasser der Dir wohl bekannten Briefe in Archenholz' Minerva — von O. unterzeichnet, angeblich einem Engländer. Der Verfasser ist aber ein Schlesier und heißt Oelsner. Er gab mir Nachricht von einigen Württembergern in Paris, auch von Reinhard, der im Departement des affaires etrangeres einen Posten von großer Bedeutung hat. Oelsner ist ein noch junger Mann, dem man ansieht, daß er viel gearbeitet; — er privatisiert diesen Winter hier." (B I. 11, 12) Was hier als knapper Hinweis aufscheint, deutet auf eine Bewandtnis hin, die Hegel näher, als man lange Zeit vermutet hat, an Theorie und Praxis des revolutionären Zeitgeschehens bindet. Die von Archenholtz gegründete Zeitschrift Minerva veröffentlicht in diesem Zeitraum vor allem historische und politische Beiträge zu den Ereignissen der Revolution.Ihre ideologische Linie entspricht in etwa der gemäßigten revolutionären Haltung des Girondismus, ohne daß dadurch allerdings andere Strömungen — z. B. jene von Robespierre oder Babeuf — dem Leserpublikum vorenthalten werden. Oelsner, der aufgrund seiner offenen Parteinahme für die Revolution aus Deutschland flüchten muß, ist zusammen mit Reinhard einer der engsten Mitarbeiter des Journals. Jacques d'Hondt hat in seiner Studie Hegel secret den personellen und ideellen Kontext der Zeitschrift beleuchtet und in diesem Rahmen die These von einem „geheimen" Hegel zur Debatte gestellt. Seine genauere Sichtung ergibt einen nicht bloß revolutionär gesinnten, sondern sogar konspirativ tätigen, geheimbündlerischen Hegel. D'Hondt streicht dabei die Tatsache heraus, daß der Kreis um die Minerva viele Affinitäten zur Freimaurerei aufweist. Indizien für Hegels Vertrautheit mit den Freimaurern sieht er, ähnlich wie Pierre

^ Vgl. Jacques d'Hondt: Hegel secret. 8 ff. Neben Oelsner erwähnt d'Hondt auch Baggesen als wichtige Mittlerfigur dieser Kreise. Vgl. ebd. 21 ff.

D. Der Berner Hegel

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Bertaux, in Hegels Briefgedicht Eleusis^^: Vor allem das darin thematisierte Motiv der Verschwiegenheit zeige sich zugleich als praktiziertes Freimaurerritual. Viele Wörter enthielten zudem verschlüsselte Mitteilungen, wie sie unter Freimaurern üblich seien. Man kann in der Tat Eleusis — auch in den Briefen Hegels an seine Freunde Hölderlin und Schelling — so etwas wie eine klandestine Kommunikation ausfindig machen. Es fragt sich dabei allerdings, ob diese nicht einfach der gängige Effekt eines gruppenspezifischen esoterischen Philosophierens ist und gar nicht gezielt die offene Sprache verschlüsselt. Es bleibt auch unklar, wie weit Hegel in die von d'Hondt erforschten Personenkreise um die Minerva eingebunden ist. Das „Geheimnis" Hegel stellt sich hier eo ipso gegen weitere Enthüllungen. Was d'Hondt sicherlich aufklärt, sind vorhandene Möglichkeiten, Spuren, die zumindest aufzeigen, daß Hegel mit geheimbündlerischen, revolutionär inspirierten Zirkeln zeitweilig Kontakte pflegt, daß er mit der geheimbündlerischen Mentalität kokettiert. Ein tieferer, vertrauter Bezug zur Freimaurerei scheint mir hingegen eher ausgeschlossen zu sein. In den Fragmenten der Jugendschriften aus der Berner Zeit äußert er sich deutlich ablehnend gegen die „Maurer", die sich durch äußere Zeichen „Hammer und Kelle" von der Allgemeinheit abheben (vgl. GW 1.119=N 33). Er nimmt zu ihnen eine ähnlich negative Stellung ein wie zu den religiösen Sekten. Weit wichtiger an dieser Episode eines „geheimen" Hegel sind insgesamt die theoretisch-politischen Anstöße, die Hegel als Leser der Minerva erhält. D'Hondt hat thematische Überschneidungen Hegels mit Autoren wie Rabaut de St. Etienne, Louis-Sebastien Mercier oder Volney nachgewiesen. Volneys Betrachtungen zu den Prinzipien des Historischen und des Revolutionären seien stellenweise fast wörtlich in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte eingegangen.^3 32 Vgl. ebd. 260 ff; Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution. 111, 114 ff. 33 Vgl. Jacques d'Hondt: Hegel secret. 83 ff. — Interessant ist vor allem Volneys Les ruines. Diese Schrift scheint mir nicht nur in bezug auf Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte wichtig zu sein, sondern auch in bezug auf die religionskritischen Motive in den Jugendschriften. Aus Les ruines spricht eine scharfe Religionskritik, die bald anthropologisch, bald materialistisch-senusaUstisch fundiert ist: „Non, non; la bizarrerie dont l'homme se plaint n'est point la bizarrerie du destin; l'obscurite oü sa raison s'egare n'est point l'obscurite de Dieu; la source des ses calamites n'est point revulees dans les cieux; eile est pres de lui sur la terre ..." (Oeuvres completes de Volney. 12 f). Auch andere Schriften Volneys dürften Hegels Aufmerksamkeit erregt

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1. Teil: Hintergründe

Auf solche Quellen hat er später nie mit Verweis auf den Autor Bezug genommen. D'Hondt meint dazu, dies habe nicht einfach mit schlecht identifizierbaren Reminiszenzen Hegels zu tun, sondern mit einem bewußten Schweigen, das er sich allmählich auferlegt habe und das er mit vielen Freunden teile: „Avec ses amis, il a pris part ä cette conspiration du silence, tragi-comique."34 Zum „geheimen" Hegel gesellt sich damit so etwas wie ein „unbewußter" Hegel hinzu, der sein Geheimnis in aller Sicherheit zu verwahren weiß, es gekonnt verdrängt und in ebendieser Form auch wieder preisgeben kann.^^ Unter den Anstößen, die Hegel aus dem Kreis der „Minerva" und aus anderen Studien dieser Zeit erhält, springt der geschichtsphilosophische Gedanke der Revolution in die Augen. Die Berner Zeit Hegels liefert hierzu allein biographisch und ereignishistorisch ein kardinales Wirkungsmoment: Im Zeitraum von 1793 bis 96 ist der philosophische Zeitgeist fast völlig im Banne der französischen Ereignisse. Die Jakobiner entfalten unter den Parolen der „Freiheit" und „Vernunft" ihre Herrschaft und treiben ihr revolutionäres Regiment unter dem Banner des „Höchsten Wesens" auf einen absurden Höhepunkt. Das abstrakte „Höchste Wesen" fällt am 9. Termidor 1794, Robespierre wird gestürzt, unter dem Direktorium folgt eine Zeit der Konsolidierung, der erneuten Radikalisierung aber auch der allmählichen Reaktion. Kein Zweifel, daß in dieser Zeitphase mit den Ereignissen gefiebert wird. Man reflektiert darüber, möchte die Revolution von einer Pervertierung verschont wissen. Wie unmittelbar sich dies auf das philosophische und literarische Denken niederschlägt, verrät etwa Hölderlins Hyperion, wo die verschiedenen Etappen der Revolution nachgezeichnet sind.^^ Die Revolution als Ereignis erfaßt Hegel sichtlich in dieser ganzen Zwiespältigkeit. Bei allem perennierenden Enthusiasmus, aller Symhaben, so vor allem die geschichtsmethodologischen Äußerungen in den Legons d'Histoire (vgl. ebd. 584 ff). 3'* Jacques d'Hondt: Hegel secret. 344. 35 In diesem Punkt erhält sicherlich die These von Hartmut und Gernot Böhme (Das Andere der Vernunft. Frankfurt a. M. 1983. 14), Hegel verdränge mit seinem Konzept der Vernunft sogar noch die Verdrängung, eine gewisse Plausibilität. Die Integrationskraft der Vernunft kann selber das Verdrängte in gezähmter Weise wieder aus der Dunkelheit hervorholen. Aber ist dies nur negativ zu beurteilen. Liegt nicht darin auch eine kritische, bewußt dosierte „List der Vernunft" Hegels? 35 Vgl. Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution. 95, 172 Anmerkung 46; Georg Lukäcs: Hölderlins Hyperion. In: T. Beckermann und V. Canaris (Hrsg.): Der andere Hölderlin. Frankfurt a. M. 1972. 20 ff.

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pathie für die stattgefundene Entwicklung lehnt er die Jakobinerherrschaft ab. Vielfach gibt er die Meinung der „Minerva" wieder, so auch wenn er sich mit der Bemerkung an Schelling wendet: „Daß Carrier guillotiniert ist, werdet Ihr wissen . .. Dieser Prozeß hat die ganze Schändlichkeit der Robespierroten enthüllt." (B I. 12)^7 Diese Einschätzung des Ereignisses ist schließlich richtungsweisend für die Entwicklung der eigenen philosophischen Reflexion. Hegel formuliert seine Philosophie der Revolution, wie Jürgen Habermas thesenhaft konstatiert hat, mit der Ablehnung der Jakobinerherrschaft zu einer revolutionären Philosophie als Kritik der Revolution um.^® Mit der Explikation der Philosophie der Revolution wird ihre abstrakte Form zugleich der Kritik unterzogen. Die Kritik der abstrakten Revolution drückt sich jedoch bei Hegel vorerst noch nicht so deutlich in dieser philosophisch-systematischen Denkart aus, sondern eher in einer Umakzentuierung des Freiheitsund Vernunftgedankens unter Kantischer Auffassung von Moralität. Die bald kaschierte, bald offenere Kritik am Kantischen Verständnis der Moralität, das sich bei aller Freiheitsversicherung doch auf eine domestizierende „Achtung" vor dem Moralgesetz versteift, ist dabei ein wichtiger Fingerzeig. ^9 Nicht ohne den Erfahrungshintergrund des Schreckens der Freiheit wenden sich die Hegelschen Philosopheme in den Jugendschriften allmählich intensiver einer versöhnlicheren, das Böse sanft integrierenden sittlichen Moralität zu, in der Frankfurter Zeit einem Vereinigungsideal der „Liebe". Hegel nimmt damit gleichsam am praktischen Beispiel vorweg, was etwa Adorno aus philosophischer Systemgegnerschaft heraus an der Kantischen Begrifflichkeit monieren wird: daß nämlich die Begriffe, die unter dem transzendentalen Bereich der Freiheit diese umschreiben sollen, allesamt „repressiv" sind.^*^ Hegel hat dazu bereits die Kantische Begrifflichkeit am konkreten historischen Objekt kritisch erprobt. 37 Jaccjues d'Hondt: Hegel secret, 39, konstatiert, daß Hegel mit dieser Auffassung ziemlich genau die Einschätzungen der Minerva wiedergibt. Oelsner z. B. nimmt entschieden Stellung gegen das Terrorregime der Jakobiner. Vgl. auch Otto Pöggeler: Philosophie und Revolution beim jungen Hegel, ln: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg, München 1973. 27 ff. 3® Vgl. Jürgen Habermas: Hegels Kritik der Französischen Revolution. In: Theorie und Praxis. Frankfurt a. M. 1972. 128. 39 Vgl. dazu Andreas Wildt: Hegels Kritik des Jakobinismus. In: O. Negt (Hrsg.): Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels. Frankfurt a. M. 1971. 279 ff. * Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. 231. — Es handelt sich vor allem um die Begriffe „Gesetz", „Nötigung", „Achtung", „Pflicht".

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1. Teil: Hintergründe

Mit dem Prinzip des Revolutionären beschäftigt sich Hegel bereits vor der Berner Periode. Schon während der Gymnasialzeit fasziniert ihn die Idee der Revolution als eines „Zufalls", als einer Reihe unmerklicher Veränderungen, die plötzlich als Eins sichtbar auftreten (vgl. Dok 139, 424 f). Diesen Gedanken finden wir modifiziert in den Berner Schriften, explizit im Zusammenhang mit der Entstehung und Ausbreitung des Christentums: „Den großen in die Augen fallenden Revolutionen muß vorher eine stille, geheime Revolution in dem Geiste des Zeitalters vorausgegangen seyn, die nicht jedem Auge sichtbar, am wenigsten für die Zeitgenossen beobachtbar, und ebenso schwer mit Worten darzustellen, als aufzufassen ist. Die Unbekanntschaft mit diesen Revolutionen in der Geisterwelt macht dann das Resultat anstaunen ..." (GW 1. 365 f = N 220) Hier kUngt nicht nur, bezogen auf den Blick des Außenstehenden, eine „List der Vernunft" an, hier präsentiert sich auch so etwas wie eine Struktur gesellschaftlichen Wandels, die auf den Momenten des Unsichtbaren und Sichtbaren, zeitrhythmisch auf dem Wechsel von stiller Allmählichkeit und blitzender Sprunghaftigkeit beruht. Wie weit diese Struktur für Hegel bereits ein konsolidiertes geschichtsphilosophisches Entwicklungsprinzip darstellt, bleibt fraglich; auch ihre Bewertung seinerseits hinterläßt einen ambivalenten Eindruck. Einerseits rezipiert Hegel dieses Revolutionsverständnis vor der Folie der melancholischen, zum Teil pessimistischen Betrachtungen eines Gibbon oder Volney. Die „funestes revolutions" sind beispielsweise bei Volney jene Ereignisse, die mit gewaltsamer Kraft vom Glück der alten Völker wegführen und Epochen der religiösen Tyrannei einleiten. Und die Vorstellung von einer Revolution, die diesen eingetretenen Zustand der Geschichte wieder beseitigen könnte, schlägt dabei nur schwach durch, scheitert an der allgemein wertnegativen Einschätzung des revolutionären Wandels. Andererseits aber gehört das Hegelsche Diktum der „geheimen Revolution in dem Geiste" einer aufklärerischen Tradition an, die bis zu Voltaires „revolution des esprits" zurückreicht und die Revolution im Sinne eines guten Fortschritts umdeutet.42 ^uf diese Tradition berufen sich denn auch die Tübinger Freunde mit ihrer Utopie von einem kommenden „Reich Gottes" — Hegel selbst erwartet in solcher Geisteshaltung von KantiVgl. CEuvres completes de Volney. 11, 22. Vgl. dazu Karl Griewank: Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Frankfurt a. M. 1973. 161 ff.

D. Der Berner Hegel

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sehen Prinzipien, „die vorhanden sind und nur nötig haben, allgemein bearbeitet, auf alles bisherige Wissen angewendet zu werden", eine „Revolution in Deutschland" (B I. 23 f). Offenbar rezipiert er beide Revolutionsverständnisse, letzteres, das historisch wenig konkret, mehr allgemein voluntaristisch-utopisch ist, überwiegt wohl in seiner Intention. Während der Berner Zeit hat Hegel durchaus auch die Möglichkeit, die Auffassung von einer fortschrittlichen Revolution schärfer zu konturieren. Beiträgen von Rabaut de St. Etienne kann er beispielsweise Überlegungen zu Formen des Widerspruchs im Revolutionsgang entnehmen.Und beim deutschen Jakobiner Georg Förster, der dem Kreis der „Minerva" indirekt angehört, werden ihn bestimmt dessen Reflexionen über die treibende Kraft des Widerspruchs in der Geschichte angesprochen haben.44 Bei Förster drücken Momente des abgründig-schreckhaft Widersprüchlichen und des lustvoll-ekstatisch Fortreißenden die Wechselhaftigkeit des revolutionären Kampfgeschehens aus. Die Revolution wird zum geschichtsphilosophischen Prinzip erhoben, der Widerspruch zum zentralen Movens allen Lebens. Daß es in der revolutionären Geschichte letztlich vernünftig zugehen soll, das Werden auf einen Zielpunkt der Vernunft hinsteuert, ist für Förster — im Gegensatz zu den meisten apologetischen Revolutionsverständnissen dieser Zeit — nicht mehr völlig gewiß. Der fragmentarische Charakter, der dem Widersprüchlichen eignet und für das Vorwärtstreibende verantwortlich zeichnet, verhindert zudem jeglichen toten Ruheplatz in der Geschichte. Ohne Widerspruch im Zielpunkt selber wird das, worauf man hinauswill, gerade vereitelt. 45 Die radikale Auffassung des bekannten deutschen Jakobiners oszilliert deshalb auch verständlicherweise zwischen dem revolutionären Treiben als möglichem Irrweg und als positiv befreiender Kraft. In den Ansichten vom Niederrhein finden wir zahlreiche Äußerungen, aus denen diese domi■*3 Vgl. Jacques d'Hondt: Hegel secret. 130 f., 140 ff. ** Hegel hat in der Berner Zeit Försters Ansichten vom Niederrhein rezipiert. Vgl. Dok 217 ff. 45 Vgl. dazu Hans Gerd Prodoehl: Individuum und Geschichtsprozeß. Zur Geschichtsphilosophie Georg Försters. In: Das Argument. Sonderband 87. Berlin 1982. 157 ff, wo diese Thematik anhand des Cook-Aufsatzes abgehandelt wird. Typisch ist hier vor allem die Einheit von Geschichtsziel und Geschichtsverlauf, die den Widerspruchscharakter besonders heraufbeschwört. Förster verklammert hier ein historisch-lineares Fortschrittsmodell mit einem zyklischen Modell des stets zwiespältigen, wechselhaften Verlaufs.

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1. Teil; Hintergründe

nant gewordene Widerspruchsauffassung hervorgeht. Widersprüchliches paart sich hier mit Tatendrang: Ewig ringen die „Urkräfte des Weltalls" miteinander, und dieser „Kampf" darf ja nicht enden, „wenn nicht das Weltall stocken und erstarren soll!" Und die Vernunft wäre nichts ohne die „Spontaneität", denn erst „im Streit entgegengesetzter Begierden und Vorstellungen" offenbart sie sich in ihrer „erhabenen Größe".^6 Bald läßt Förster den Widerspruch als bleibenden Kontrast stehen („Ewig schwankt daher das Menschengeschlecht zwischen Willkühr und Regel"), bald läßt er ihn Umschlagen in ein gewaltvolles Werden, in einen „Feuerstrom der Macht", am Ende in ein Werden, das noch die schreckhafte Seite des Gewaltigen ästhetisiert und sich auf die romantisierende Gewittermetaphorik einläßt: „Schön ist das Schauspiel ringender Kräfte; schön und erhaben selbst in ihrer zerstörendsten Wirkung. Im Ausbruch des Vesuv, im Gewittersturm bewundern wir die göttliche Unabhängigkeit der Natur. . . Die leidenschaftlichen Ausbrüche des Krieges haben ihren Nutzen wie die physischen Ungewitter . . Für Hegel müssen diese Schattierungen eines revolutionären Widerspruchsgeistes höchst lehrreich sein. Kaum wird zwar bei ihm das treibende, gefahrvolle Werden die sichernde Vernunft so weit zurückdrängen wie bei Förster. Doch wird ihm der Gegensatz in seiner „lebendige(n) Beziehung und Wechselwirkung", das die „absolute Entzweyung" vereinigende „Werden", immerhin zentraler Entstehungsort des philosophischen Bedürfnisses (vgl. GW 4.14). Ritters These, es gebe „keine zweite Philosophie, die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution" sei „wie die Hegels"48, scheint mir gerade in dieser Perspektive faßbar zu werden.

4. Vive }ean-Jacques! — Eine Interpretation zu „Eleusis" Im biographischen Raum der Berner Zeit ist noch ein anderer Bereich zu berücksichtigen, in dem Hegel sich aus der Entzweiung mit der alten Welt herauszuwinden versucht. Dieser ist allem Anschein Georg Förster: Ansichten vom Niederrhein. In; Werke in vier Bänden. Hrsg, von G. Steiner. Bd 2. Frankfurt a. M. 1969. 522 f. 47 Ebd. 523 f. 48 Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution. 18.

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nach nicht bloß Ort der Zuflucht, sondern auch Objekt im Hinblick auf die Erfüllung eigens gehegter Intentionen — gar Objekt der Utopie. Gemeint ist die Befreierin und Beschützerin Natur, der er sich zuzuneigen beginnt. Diese Zuwendung ist in gewisser Weise Zeichen einer Einsamkeit, vor der er bald zurückschaudert, zu der er sich bald, bei allem „Lärmen" des „Tags", hingezogen fühlt, da er sie als Muße geradezu herbeisehnt. Sie ist zugleich mehr als nur Einsamkeit, sie ist immer auch Ausdruck der verborgenen Liebe, einer Sehnsucht nach dem alten Bund mit Hölderlin; und als unsichtbare Gestalt scheint hinter diesen Regungen Rousseau seine Fäden zu spinnen. Rousseau ist eine Leitfigur der Stiftler während der Tübinger Zeit Hegels, die es ihm besonders angetan zu haben scheint. Hegel liest ihn offenbar mit Begeisterung, er verehrt ihn (vgl. Dok 430). Aber auch Hölderlin betreibt seinen Kult mit dem Freiheitsdenker und geistigen Vorbereiter der Revolution. Für viele Verehrer sind in dieser Zeit die Orte, an denen er sich in der Schweiz aufgehalten hat, fast magische Anziehungspunkte. Die Gegend um den Genfer See, ein Schauplatz seiner Tätigkeiten, ist Kontaktort und beliebtes Ausflugsziel vieler revolutionär Gesinnter.^^ Man weiß um die Liebe Rousseaus zu dieser Gegend, auch zu anderen in der Nähe gelegenen Orten; man weiß auch um die Schwierigkeiten, die er mit den jeweiligen Regierungen und gegen ihn aufgehetzten Bevölkerungskreisen hatte, man kennt die Geschichte seiner Leiden und Verfolgungen. Fühlt sich nicht auch Hegel im Banne dieser Bewegungen um die Person Rousseaus? Ist nicht vielleicht sein Aufenthalt in Bern auch mit der Absicht verbunden, der Umgebung Rousseaus möglichst nahe zu sein? Derartige Gedanken drängen sich unweigerlich auf, wenn man die Örtlichkeiten, an denen Hegel sich aufhält, bedenkt. Da fällt nicht bloß die Reise nach Genf ins Auge, da erhellt auch die Umgebung von Tschugg, der Bieler See. Tschugg, am Fuße des Jolimont gelegen, gibt den Blick frei auf einen schmalen Ausschnitt der Westseite des Bieler Sees („freundlich blinkt der helle Streif des Sees herüber") und ebenso auf die sanfte Hügelwölbung der St. Petersinsel. Und dies ist bekanntlich jene Gegend, worauf Rousseau alle seine Wünsche übertragen hatte und in den „einen Wunsch" zusammenfaßte.

Vgl. Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution. 44

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1. Teil: Hintergründe

„sie nicht mehr zu verlassen"50. Hier nahm Rousseau einst Abschied von der Menschenwelt, um sich für die restlichen Lebenstage endlich „den großen Plan, in Muße zu leben"5i zu verwirklichen. Und wie sollte Hegel davon nicht gewußt haben! Das zwiespältige Andenken an Rousseaus Zeit auf der Insel hält sich bei den Bernern noch manches Jahrzehnt aufrecht und dürfte nach wie vor Anlaß zu Gesprächsthemen unter bernischen Gebildeten sein.52 Seine Präsenz wird wohl schon in dieser Zeit zum Topos, zum besonderen Reizeffekt, die Insel als Ausflugsziel, als Ort der Festivität zu benutzen.^3 Kaum wird Hegel diese Geschichte, die bald zur Legende geworden ist, entgangen sein, und aus den Confessions wird er aus der Perspektive Rousseaus von dessen Versessenheit auf diese Gegend gewußt haben. Leicht, sich von daher vorzustellen, wie sehr Hegel hier die Stimmung Rousseaus aufspürt, wie sehr er ihn nacherlebt: seine Entzweiung mit der ihn kränkenden Gesellschaft, sein Rückzug in die Arme der Natur. Und ist dieses Nacherleben nicht auch ein gelebter Strang seines Schaffens, der damit nicht bloß von Erinnerung zehrt, sondern geradewegs zu Hölderlin führt, ein Strang obendrein, der nicht so leicht zu seinen sonstigen Denkwegen passen will? Nicht zu Unrecht hat d'Hondt die ersten Abschnitte des Briefgedichts Eleusis, im Sommer 1796 geschrieben, mit einer RousseauStimmung Hegels, die er Hölderlin übermittelt, in Verbindung gebracht. ^4 Die Landschaft des Bieler Sees, Hegels eigenes Dasein in Tschugg werden hier zur bewußten Folie gewählt, um die reale Versöhnung, die sich erst im Menschenbunde erfüllt, symbolhaft zu antizipieren:

50 Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse. 634. 51 Ebd. 629; siehe auch Die Träumereien des einsamen Spaziergängers. 5. Spaziergang. 52 Der Aufenthalt Rousseaus wird u. a. auch geschildert bei Christoph Meiners: Briefe über die Schweiz. Teil 1. 224 ff. 53 Siehe Hans Haeberli: Die Bibliothek in Tschugg und ihre Besitzer. 54 Vgl. Jacques d'Hondt: Hegel secret. 231 ff.

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„Um mich, in mir wohnt Ruhe, — der geschäftgen Menschen nie müde Sorge schläft, sie geben Freiheit und Müsse mir — Dank dir, du meine Befreierin o Nacht! — mit weissem Nebelflor umzieht der Mond die ungewissen Gränzen der fernen Hügel; freundlich blinkt der helle Streif des Sees herüber — des Tags langweil'gen Lermen fernt Erinnerung, als lägen Jahre zwischen ihm und izt; dein Bild, Geliebter, tritt vor mich ..." (GW 1. 399) Doch Rousseau spricht möglicherweise aus diesen Zeilen Hegels noch tiefer. Nicht nur die Gegend, auch die Erlebniswelt Rousseaus tritt hervor. Im Gegensatz zwischen geschäftiger, stets sorgender Menschenwelt und ruhiger, erlösender Natur, die in der Einsamkeit nicht zur Langeweile führt, vielmehr zu einer Muße, die sich durchaus mit Ereiheit verträgt, glaubt man bis in die Sprache hinein dessen Befinden auf der Insel wiederzuerkennen: „Ich habe gesagt, daß die Untätigkeit der Gesellschaften sie mir unerträglich machte, und nun suche ich wieder einzig die Einsamkeit, um mich in ihr dem Müßiggang zu überlassen. So bin ich nun aber . . . Der Müßiggang der Gesellschaften ist tötend, weil er erzwungen ist. Der der Einsamkeit ist reizend, weil er frei ist und aus eigenem Willen fließt, Das Erleben dieses Rousseauschen Motivs der befreienden Versöhnung mit der Natur muß Hegel nachhaltig berührt haben. Unverblümt taucht es in der Frankfurter Zeit in einem Brief Hegels an seine Geliebte Nanette Endel auf; hier bekennt er selbst offen: „. . . — ich muß gestehen, bei mir brauchte es einige Zeit, ehe ich mich von den Schlacken, die die Gesellschaft, das Stadtleben, die daraus entspringende Zerstreuungssucht in uns einmischt, von der Sehnsucht danach, die sich durch Langeweile äußert, — ein wenig reinigen konnte. Aus Frankfurt treibt mich jetzt immer das Andenken an jene auf dem Lande verlebten Tage, und so wie ich dort mich im Arme der Natur immer mit mir selbst, mit den Menschen mich aussöhnte, so flüchte ich mich hier oft zu dieser treuen Mutter, um bei ihr mich mit den Menschen, mit denen ich in Frieden lebe, wieder zu entzweien und mich unter ihrer Aegide von ihrem Einflüsse zu bewahren und einen Bund

55 Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse. 630.

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1. TeU: Hintergründe

mit ihnen zu hintertreiben." (B I. 53) Was hier anklingt, geht über die einfache Identifikation mit den Naturerlebnissen Rousseaus hinaus. Hieraus spricht zudem nicht bloß eine selbstgenügsame Flucht in die Natur, sondern stets auch das Ringen mit der Gesellschaft, das Bemühen, die Versöhnung auch auf dieser höheren Stufe erlangen zu können. Vielleicht verbürgt Natur hier quasi-utopisch das in Eleusis geäußerte Versprechen, den „Frieden mit der Sazung, die Meinung und Empfindung regelt, nie nie einzugehn" (GW 1. 399). Erstaunlich ist aber weiterhin, daß Natur hier bei Hegel diese Rousseausche Rolle spielt und die Affinität denn noch treffender ist, wenn man Rousseau etwa verzückt und gerührt ausrufen hört: „O Natur, o meine Mutter! Hier bin ich ganz unter deinem Schutz. p)ie Natur erscheint bei beiden — neben ihrer Kontrastierung zur Menschenwelt — schließlich geradezu in einem vielgestaltigen göttlichen Gewand. In Eleusis bahnt sich bei Hegel ein Naturmythos mit pantheistischen Neigungen an: „Mein Aug erhebt sich zu des ew'gen Himmels Wölbung, zu dir, o glänzendes Gestirn der Nacht! und aller Wünsche, aller Hofnungen Vergessen strömt aus deiner Ewigkeit herab; der Sinn verliert sich in dem Anschaun, was mein ich nannte schwindet, ich gebe mich dem unermeslichen dahin, ich bin in ihm bin alles, bin nur es." (399 f) Dieser Versuch, die völlige Unmittelbarkeit zur Natur herzustellen, sich selbst aus der Reflexion zu befreien und anschaulich in sie einzugedenken, gleicht sich vom Inhalt her sehr stimmig den Schilderungen Rousseaus über sein Aufgehen in der Natur an. Rousseaus Naturunmittelbarkeit ist in ihrem Ausdruck hingegen dem direkten Erlebnis näher und bricht zuweilen auch noch mit der letzten reflexiven Schranke. Natur und Freiheit kommen sich in genußvollen Augenblicken noch näher: „. . . ich schlendere am liebsten den ganzen Tag ohne Plan und Ordnung umher und folge in allem nur der Laune des Augenblicks . . . Behaglich durch Feld und Wald zu strei56 Ebd. 636. — Das Motiv der Flucht aus der Gesellschaft in die Arme der „Mutter Natur" ist bei Rousseau stets mit utopischen Einsprengungen versehen. Siehe auch Die Träumereien des einsamen Spaziergängers. 7. Spaziergang.

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fen, mechanisch bald hier, bald da eine Blume, einen Zweig zu pflücken, mein Futter fast nach dem Zufall abzuweiden, tausendund abertausendmals die gleichen Dinge stets mit dem gleichen Interesse zu betrachten, weil ich sie immer wieder vergaß — damit hätte ich die Ewigkeit zubringen können . . . Oft ließ ich mein Boot von Wind und Wasser treiben und überließ mich ziellosen Träumereien, die, wenn auch töricht, darum nicht weniger süß waren . . . Zuweilen springt allerdings Rousseau von der Erlebnisebene sporadisch auf eine philosophische Gedankenebene über. Was bei Hegel in dieser Form pantheistisch aufscheint, „Dem Sinne nähert Phantasie das Ewige, vermählt es mit Gestalt" (400) kommt auch bei Rousseau emphatisch zum Vorschein. Doch ist Gott der Schöpfer weniger als mit der Natur vereint gedacht, mehr nur aus einer bloßen Naturverehrung heraus entstanden und affektiv nachvollzogen: „Ich finde keine der Gottheit würdigere Huldigung als diese stumme Bewunderung, die die Betrachtung ihrer Werke erregt und die sich nicht in äußeren Handlungen ausdrückt. Ich begreife, warum die Bewohner der Städte, die nur Mauern, Straßen und Verbrechen sehen, wenig Glauben haben. Aber ich kann nicht begreifen, warum Landleute und vor allem einsam wohnende keinen haben können. Die philosophische Gedankenebene Rousseaus treibt schließlich nicht nur zu dieser nachempfundenen Gottheit, sie verlegt sich vielmehr ins Feld der Naturerkenntnis, der wissenschaftlichen Naturbeobachtung. Und hierin wird sie nahezu „hegelisch", wenn er gegen die bloße einförmige Naturbetrachtung, die das Einzelne unter einem abstrakten, isolierten Ganzen zergliedert, polemisiert: „. . . die anderen haben bei dem Anblick all dieser Schätze der Natur nur eine stumpfsinnige und einförmige Bewunderung. Sie sehen nichts im Einzelnen, weil sie nicht einmal wissen, was sie betrachten müssen, und sie sehen ebensowenig das Ganze, weil sie keine Vorstellung von dieser Kette der Beziehungen und Verbindungen haben, die den Geist des Beobachters mit ihren Wundern überwältigt. 57 Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse. 630, 631, 633. 58 Ebd. 632. 59 Ebd. 631.

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1. Teil: Hintergründe

Dieses für Hegel zentrale Denkmotiv ist in Eleusis zwar nicht mit den Begriffen des Einzelnen und Ganzen umschrieben; im Ringen um das Aussprechen des Ewigen, dem Hegel sich gedanklich zu nähern versucht, es dergestalt freilich gerade nicht erfassen kann, ist es jedoch als stets unbewältigtes Moment präsent. Hegels Bemühung, das Ewige in Form der Ganzheit („bin alles") auszusprechen, verläßt so notwendigerweise immer wieder die Gedankensphäre („Schon der Gedanke fast die Seele nicht"), ja stemmt sich letztlich gegen sich selbst und zerfliegt in alle Richtungen. Gegen des „Forschers Neugier" macht sich eine nicht näher zu begreifende „Liebe zur Weisheit" geltend, eine heilige Liebe, die bald gar nicht am Gedanken gemessen werden kann, bald nicht gemessen werden will, da „trokne Zeichen" ihrer ohnehin nicht würdig sind. Ein ausschweifender Hegel verläßt sich hier ganz auf Gefühle der „Schauer" und der trunkenen „Begeisterung", und in bezug auf den Aspekt der Naturbeobachtung ist er damit seltsamerweise weniger auf Reflexion bedacht, weniger rationalistisch als Rousseau. Das Denken und Fühlen des Ganzen ist bei Hegel mit „Begeisterung" geradezu angefüllt, mehr noch: es quillt davon über. Noch beim späteren Hegel wird es derart als „bachantischer Taumel" des Geistes nachklingen (vgl. GW 9. 35). Und schließlich ist es dem Worte gar ausdrücklich entzogen; es ist nurmehr ein Gewußtes — etwas, das die Weisheit selbst zu verschweigen auferlegt: „Was der geweihte sich so selbst verbot, verbot ein weises Gesez den ärmern Geistern, das nicht kund zu thun, was in heilger Nacht gesehn, gehört, gefühlt — (GW 1. 401) Hegels überraschend enge Vertrautheit mit den Naturerlebnissen Rousseaus ist mehr als eine simple biographische Sequenz, mehr als eine verkappte Seite seiner persönlichen Sphäre, die, kurz eingesehen, als diese stehen gelassen werden könnte. Naturerlebnis, Bewunderung, Freundschaft sind vielmehr in eine philosophische Problematik eingebunden, ja sie drängen gar auf eine philosophische Entscheidung, die einen etwas bitteren Nachgeschmack hinterläßt. Hegel ist hierin nicht bloß ein geistig Verwandter Rousseaus, er steht ebenso in intimster Freundschaft zu Hölderlin und tiefster Verbundenheit zu dessen Gedankenwelt. Eleusis ist ein Indiz dieser Freundschaft, das aufzeigt, wie sehr Hegel sich Hölderlins Gefühlsla-

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ge nähert. Seine Äußerungen über die Sehnsucht nach Stille und Muße verneinen gleichsam in bezeugendem Einklang Hölderlins Bemerkung: „Du bist mehr mit Dir selbst im Reinen als ich. Dir ist's gut, irgendeinen Lärm in der Nähe zu haben; ich brauche Stille." (B 1. 9) Überdies ist die Thematik, die er behandelt (die Natur, die Griechen) sehr wohl jene, die Hölderlin im Hyperion verarbeitet. Und Hegels Annäherung vollzieht sich sogar bis in die Wortwahl und Ausdrucksform hinein. Seine etwas prosaischen Verse sind sichtlich Ausdruck seines Versuchs, sich inniger in Hölderlins Sprachwelt hineinzubegeben. Hegel übernimmt Hölderlins Sprachgestus der hymnischen Verehrung, besingt überschwenglich eleusinische Motive. Die geistige und gefühlsmäßige Freundschaft zwischen Hegel und Hölderlin liegt damit für einen Augenblick in einer selten zu sehenden Offenheit vor. Aber liegt in dieser so offen mitgeteilten Nähe nicht bereits ein Anzeichen allmählicher Differenz? Bei allem Symphilosophieren Hegels und Hölderlins in der kommenden Frankfurter ZeiÜ° wird Hegel gerade auf diese Gefühls- und Sprachwelt nicht mehr zurückkommen, seine Philosophie verliert diesen Aspekt einer bekenntnishaften Offenheit. Hier scheiden sich Denkwege, obschon noch keine sichere Vernunft Hegels dieser Sphäre ihren Platz klar an weist oder beruhigt auf eine einstige Verwirrung des Geistes zurückblickt. Eleusis ist eine Art Kreuzpunkt verschiedener Denkwege, der Beunruhigendes hervorlockt, das vor allem Hegel in seinem Fortgang wird beschwichtigen müssen. Hegels Naturschwärmerei wirkt wohl schon von Beginn weg etwas zwiespältig, auch bewußt zurückhaltend. Ein Naturmythos im Zeitalter der Vernunft und Freiheit muß denn auch auf berechtigte Skepsis stoßen. Die Natur stellt sich zum einen sicherlich mit einem sympathischen Freiheitsdrang gegen das allzu Vernünftige, andererseits aber fällt sie für sich betrachtet zu leicht hinter alles Vernünftige wieder zurück. Die Mutter Natur zur Gottheit zu deklarieren, „befreit" möglicherweise zu einem Zustand, der, allein da er das damit assoziierte Weibliche nicht befragt, die Autonomie der Vernunft preisgibt. Aus diesem Dilemma ist nur schwer herauszufinden, denn die Vernunft, die dazu anleiten soll, darf selbst nicht wieder mit dem Gewußten repressiv verfahren. Vielleicht ist Hegels Eleusis bereits Ausdruck eines Denkvorgangs, der mit dieser Gratwanderung der

“ Vgl. Christoph Jamme: Ein ungelehrtes Buch. 141 ff.

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1. Teil: Hintergründe

Vernunft das Zwiespältige schlichten will. D'Hondt etwa sieht in Eleusis bereits die Tendenz Hegels, kritisch über den Naturmythos des Vernünftigen hinauszugehen und damit die Positionen Rousseaus und Hölderlins hinter sich zu lassen.Seine ekstatische Naturempfindung halte nur in einer ersten Phase an, dann allerdings werde die Naturerfahrung, die aus sich das Ewige konstituiere, verlassen. Ohne auf die Natur zurückzukommen oder an sie zu erinnern kehre er sich der Menschenwelt und daraus entspringenden Götterwelt zu: „Willkommen, ihr erhabne Geister, hohe Schatten, von deren Stirne die Vollendung strahlt!" (GW 1.400) In der Tat bezieht Hegel die Menschenwelt, das Gesellschaftliche, stärker in seine Naturerfahrungen ein. Die versuchte Versöhnung mit der Natur steht im engen Bezug zum Bunde mit den Menschen, den sie eben mitanstrebt oder hintertreibt. Offenbar ist Hegel mehr als Rousseau und Hölderlin damit beschäftigt, Natur- und Menschenwelt als Ganzes in eine ausgewogene Einheit zu überführen, und es fragt sich dabei, ob dies gelingen kann, ohne daß innerhalb dieser Ganzheit Prioritäten gesetzt werden. Wohl befinden sich Hölderlin und Hegel in dieser Zeit in einer ähnlichen Stimmungslage: das jugendliche Ideal einer Rückkehr griechischer Natur Schönheit zerbricht, wird nurmehr als schöne-schmerzliche Erinnerung besungen.Während Hölderlin sich mit dieser Erfahrung der versöhnenden Natur nun noch tiefer zuwendet^^^ sucht Hegel den Ausweg über die Menschenwelt. In Eleusis ist bereits die feine Andeutung zu

Vgl. Jacques d'Hondt: Hegel secret. 256. — In eine ähnliche Richtung zielt Hubert Anton: Eleusis. Hegel an Hölderlin. In: Hölderlin-Jahrbuch 1975—77. Tübingen 1977. Er betont, daß Hegel im Vergleich zu Hölderlin den Verlust vergangener Naturharmonie stoischer anerkennt und demzufolge seine Harmoniesehnsucht stärker ins Politische wendet (291 f, 301 f)® Gleichsam als Pendant zu Eleusis kann Hölderlins Hymne An die Natur gelesen werden: „Tot ist nun, die mich erzogen und stillte, / Tot ist nun die jugendliche Welt, . . ." {Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd 2. Lieder und Hymnen. 230). ® Von den „klugen Ratgebern" will Hölderlin sich auch fortan nichts vorschreiben lassen: „Begrabt sie nur, ihr Toten, eure Toten, / Und preist das Menschenwerk und scheltet nur! / Doch reift in mir, so wie mein Herz geboten, / Die schöne die lebendige Natur." (Ebd. 273).

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vernehmen, von einem Naturmythos der Vernunft zu einer entwikkelteren Stufe des Geistes übergehen zu müssen. Erst in der Phänomenologie des Geistes kann man die daraus folgende radikale Entscheidung im Resultat erblicken. Die „alten Eleusischen Mysterien" sind dort eindeutig in die sinnlichen Schranken verwiesen. Hegel stellt sie auf die unterste Stufe des „Bewußtseins", die „sinnliche Gewißheit" (vgl. GW 9.69), und sie entsprechen darin der „untersten Schule der Weisheit", einer Weisheit, die sich direkt auf die Realität sinnlicher Dinge stützt, dabei aber zugleich diese erfahrungsgemäß schon übersprungen haben muß. Denn der Rekurs dieser Weisheit auf sinnliche Dinge gelangt schließlich zum „Zweifel" und zur „Verzweiflung" an ihnen. Ihre Wahrheit kann nur in der Erfahrung der „Nichtigkeit" dieser Dinge liegen.^ Eleusis hätte dergestalt lediglich noch Symbolwert: sinnliches, augenblickliches Erscheinen des erhabenen Geistes. Zwischen Hölderlin und Hegel ist es Kreuz- und Scheidepunkt geworden. Eleusis hat viele Gesichter und ist in diverser Hinsicht für Hegels Berner Denkentwicklung aufschlußreich. Man hat das Brief gedieht bisher, sofern man seine philosophische Bedeutung überhaupt in Betracht gezogen hat, vor allem als Dokument einer Hegelschen Wende zum Pantheismus bzw. „mystischen Pantheismus" gedeutet. Eine solche Sicht ist nicht nur allzu einseitig, sondern scheint auch über das Ziel hinauszuschießen. Zwar ist Eleusis ohne Zweifel ein wichtiges Indiz für Hegels Vertrautheit mit pantheistischen Vereinigungsgedanken. Und die Tatsache, daß er sich in dieser Zeit mit Eckhart und Tauler beschäftigt^^, läßt gewiß auch den Schluß zu, Hegel befin^ Weist Hegel solcher Naturmystik ihren beschränkten Platz an, so auch der Symbolik, die auf dieser Stufe auf tritt. Damit trifft er wohl oder übel auch den ganzen Geheimniskult der Freimaurerei. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie lesen wir zur Funktion bildlicher Symbole: „Die abstractesten Bestimmungen kann man wohl in diesem Elemente ausdrücken; aber will man weiter gehen, so giebt es Verwirrung. Wie eben die Freimaurer Symbole haben, die für tiefe Weisheit gelten — tief, wie man einen Brunnen tief nennt, dessen Boden man nicht sehen kann —: so kommt leicht den Menschen das tief vor, was verborgen ist, als stecke etwas Tiefes dahinter. Aber werm es versteckt ist, so ist auch der Fall möglich, daß Nichts dahinter ist, wie bei den Freimaurern das außerhalb und Vielen auch innerhalb ganz Verborgene, woran sie nichts Ausgezeichnetes in Kenntnissen und Wissenschaften, am wenigsten in der Philosophie besitzen." (WW 13. 105) — Eine späte Abrechnung Hegels mit der eigenen Vergangenheit? Eher eine Erfahrung, die schon früh gemacht worden ist. ® Dies in Anlehnung an Wilhelm Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. 36 ff. ^ Siehe Karl Rosenkranz: Hegel's Leben. 102.

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1. Teil: Hintergründe

de sich in einer mystischen Stimmung. Aber ist Hegel deswegen schon Pantheist oder Mystiker? Von einer klaren Wende zu einer pantheistischen oder mystischen Vereinigungsphilosophie kann in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht die Rede sein. Verglichen mit seinen Freunden Schelling und Hölderlin ist er ja auch weniger auf eine derart deutliche Position im Spekulativen aus. In Eleusis beläßt er es ganz beim Versuch, sich in verschiedenen Konfigurationen dem Höchsten zu nähern. Bedenkt man die kontemplative, sich dem Höchsten anvertrauende Sensibilität Hegels im Briefgedicht, die seltsam genug mit seinem sonstigen Appell an ein aktives moralisches Subjekt kontrastiert, so hat schließlich gerade die These, Eleusis sei ein Ausdruck von Hegels damaliger persönlicher Krise, etwas für sich.^® Hegels offensichtliche Niedergeschlagenheit am Ende der Berner Zeit ist ja nicht bloß als Schaffenskrise oder intellektuelle Krise zu diagnostizieren, sie ist vielmehr Zeichen einer Resignation, die mit der erfahrenen Entzweiung im Sozialen einhergeht.^^ Die großen Hoffnungen auf die neue Zeit, die mit der Revolution anbrechen sollte, sind zerflogen^o, das Ideal subjektiver Ereiheit ist an der harten Wirklichkeit zerbrochen. Es ist nur allzu gut verständlich, wie daraus der Gang zur tröstenden Natur erfolgen, wie das vermeintlich souveräne Subjekt sich plötzlich dem Objekt zuwenden kann. Eehl geht man dabei jedoch, wenn man In bezug auf den Versuch, das Höchste über verschiedene Vorstellungsarten erfassen zu wollen, ist Eleusis auch auf dem Hintergrund von Platons Symposion, das Hegel in den Jugendschriften anmerkt (vgl. GW 1. 110 f = N 27), zu sehen. Das Nachdenken über den Eros führt bei Platon ja ganz ähnlich zu einer ungefestigten Vielheit von Entwürfen und treibt stets wieder zu einer Koinzidenz von reflexiven, anschaulichen und emotiven Gehalten. Selbst im Entwurf der Diotima, in dem der Eros auf höchster Stufe zur Selbsterkenntnis gelangt, liegt ein sich öffnender, vielfältiger Blick vor. Die Erkenntnis des Eros, wo sie abstrahiert von aller Körperlichkeit, ist immer noch ein „Schauen" des „Schönen" (vgl. Platon: Symposion. Steph. 211 f). ® Vertreten wird diese, in Anlehnung an Lukäcs anti-theologische Lesart des jungen Hegel formulierte These besonders bei Antonio Negri: Stato e diritto nel giovane Hegel. 183 ff; Mario Tronti: Hegel politico. 50 ff. ® Siehe dazu auch die Interpretationen von Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. 78 ff, 100 f; Georg Lukäcs: Der junge Hegel. Bd 1. 173 ff; Henry S. Harris: Hegel's development. 259, 265 f. 70 YVjg (jgf ggrade diese Enttäuschung zu einer persönlichen Niedergeschlagenheit führt, zeigt eine Bemerkung im Brief Hegels an Nanette Endel anfangs 1797. Er schreibt, er habe sich „nach reiflicher Ueberlegung entschlossen, an diesen Menschen nichts bessern zu wollen, im Gegenteil mit den Wölfen zu heulen." Verglichen mit einem tugendhaften Leben, das die Menschen bessern wolle, habe „der heilige Antonius von Padua sicherlich mehr ausgerichtet ... da er den Fischen predigte ..."(BI. 49).

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meint, Hegel bewältige die krisenhafte Entzweiung durch die plane Flucht ins Naturobjekt oder — was aufs selbe hinausläuft — durch eine sich aufhebende Subjektivität, die sich in völliger Selbsttäuschung der Sache entwindet. Eleusis kann gerade zeigen, wie Hegel die erfahrene Krise selbstkritisch wendet: Das enttäuschte Subjekt muß sein gebrochenes Verhältnis zum Objekt aushalten und es vorwärtstreibend zu neuer Konstellation entwerfen. Eleusis ist so gesehen nicht nur Ausdruck, sondern auch Lernprozeß der Krise.

ZWEITER TEIL

HEGELS BERNER MANUSKRIPTE Zur Eorschungslage Die Berner Fragmente der Jugendschriften sind bisher nicht gesondert, in eigenständigem Zusammenhang, dafür sehr häufig und kontrovers im Rahmen entwicklungsgeschichtlicher Rekonstruktionen des Hegelschen Denkens diskutiert worden. Eine zentrale Kontroverse in der Literatur zum jungen Hegel kreist dabei um den Kantianismus Hegels, d. h. um die Frage seiner Auseinandersetzung mit Kants Konzeption der „praktischen Vernunft" und damit verbunden seiner Übernahme des strengen Kantischen Dualismus von vernünftiger, moralischer und empirischer, sinnlicher Welt.^ Daß Hegel zumindest bis zur Frankfurter Zeit verbal mit Kants Auffassung von freier Moralität einig geht, ist bei den meisten Interpreten unumstritten; umstritten sind indes die Art und Weise seiner Anknüpfung, die diversen damit einherlaufenden Bedeutungsverschiebungen sowie die daraus resultierende implizite Kant-Kritik. Die Auseinandersetzungen kulminieren gerade in den Problemen, welche die Berner Schriften aufwerfen. Zu den radikalsten Verfechtern der These, der Berner Hegel sei vom Moralitätskonzept Kants abhängig, gehören Hans-Otto Rebstock (1971) und Panajotis Kondylis (1979). Rebstock zeigt in seiner Studie zur Mythosauffassung des jungen Hegel, wie der Berner Hegel seinen Blick verengt, Vernunft und Moralität zulasten von Sinnlichkeit und Phantasie aufwertet. In der Schrift Das Leben Jesu soll Hegel ganz „im Banne Kants" stehen.^ Kondylis, der in seinem Werk über die

1 Zur Kantianismus-Frage im Zusammenhang des jungen Hegel siehe auch den Literaturbericht bei Bernhard Dinkel: Der junge Hegel und die Aufhebung des subjektiven Idealismus. Bonn 1974. 2 Vgl. Hans-Otto Rebstock: Hegels Auffassung des Mythos in seinen Frühschriften. 193.

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2. Teil: Hegels Berner Manuskripte

Entstehung der Dialektik von einem sich steigernden „Berner Kantianismus" Hegels spricht, geht insofern noch über Rebstock hinaus, als er diese Charakterisierung abwertend beurteilt, den Berner Hegel als nicht sonderlich originellen, epigonalen Kantianer präsentiert. Hegel sei in Sachen Vereinigungsphilosophie bzw. Dialektik in einem Zustand relativer Unterentwicklung, am Ende seiner Berner Zeit befinde er sich gar in einer „philosophischen Sackgasse", aus der ihm erst seine Freunde während der Frankfurter Periode heraushelfen würden.3 Ebenfalls unter dem Aspekt des Wandels der Hegelschen Philosophie in Frankfurt hat zuvor bereits Dieter Henrich (1970) den Berner Hegel als „dezidierten Kantianer" gesehen'^, diese Einschätzung neuerdings (1986) etwas modifiziert und abgeschwächt wiedergegeben. Hegels Berner Kantianismus bilde die Verlängerung seiner kritischen Konfrontation mit der kantianisierenden Tübinger Orthodoxie. In seiner resoluten religionskritischen Haltung stehe er zumindest bis 1795 unter dem Einfluß des radikalen Kantianismus von Carl Immanuel Diez.^ Diesen Positionen stehen ältere und neuere Auffassungen gegenüber, die zum einen dem Einfluß Kants auf Hegel allgemein weniger Gewicht beimessen, zum anderen in Hegels Umgang mit Kantischen Theoremen einen un-kantischen Impetus, sogar eine anklingende Kant-Kritik geltend machen. Der Gang über Kant hinaus soll vor allem durch Hegels Programm einer Historisierung und Versinnlichung der Kantischen Postulatenlehre präformiert sein.^ Den extremen Kontrapunkt zur Kantianismus-These markiert hier wohl nach wie vor die werkgeschichtliche Hegel-Darstellung Theodor Haerings (1929). Haering betont an Hegels Neigung zu einer aufs Gemeinschaftliche hin modifizierten Moralität eine „kritisch-polemische" Haltung gegenüber Kant. Diese Haltung reklamiert er durchaus auch für die Berner Fragmente, selbst für die nach gängiger Meinung am stärksten von Kantischem Geist durchdrungene Schrift

3 Siehe Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. 235, 442. ^ Siehe Dieter Henrich: Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1975. 22 f., 51 ff. 5 Siehe Dieter Henrich: Der Weg des spekulativen Idealismus. In: Jakob Zwillings Nachlaß. Eine Rekonstruktion. Hrsg, und erläutert von D. Heruich und C. Jamme. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 28.) 84 ff. 6 Bereits Haym hat den Berner Hegel unter dem Aspekt eines „historisch" und „mystisch" vertieften Kantianismus plastisch zu machen versucht. Vgl. Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit. 45, 50.

Zur Forschungslage

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Das Leben JesuJ Wohl registriert er einen „äußeren" Zusammenhang zwischen Kant und Hegel, meint jedoch, daß allein mit diesem kein Anlaß gegeben sei, von einem Kantianismus Hegels zu sprechen. Von anderen Voraussetzungen her hat auch Georg Lukäcs (1948) in seiner Studie zum jungen Hegel versucht, beim Berner Hegel einen anti-kantischen, gesellschaftlich-historischen Gehalt unter Kantischem Buchstaben freizulegen. Ihm zufolge stellt sich heraus, daß trotz aller Übereinstimmung mit der abstrakten Subjektivität des Sollensprinzips, „das Subjekt, das Hegel eigentlich meint, nicht mit dem Kantischen moralischen Subjekt identisch ist".® Einige Interpreten zum jungen Hegel thematisieren das Verhältnis Hegels zu Kant nicht im Sinne einer allgemeinen Tendenz, stattdessen schicken sie sich an, genuine Hegelsche Gehalte unter Kantischer Terminologie anhand einzelner Problemaspekte ausfindig zu machen. Zu nennen sind hier Fritz Ephraim (1928) und Adrien Peperzak (1960), die beide die Bedeutungsverschiebungen aufgespürt haben, die der Moralitätsbegriff im Übergang von Kant zu Hegel erfährt. Hegels Moralitätsauffassung enthält entgegen der Kantischen ihrer Meinung nach Merkmale der Befreiung von Gewissensangst, der Absage an jedwede kasuistische Moral.^ Ferner hält Ingtraud Görland (1966) Anzeichen für eine implizite Wende fest, die mit der Kritik der „positiven" Religion in den Fragmenten ab 1795 einsetze. Während Hegel bis 1794 deutlich eine — unter Kantischer Anleitung stehende — Verwandlung der orthodoxen „objektiven Religion" in eine moralische oder „subjektive" verfolge, sei mit der Betonung des „Positiven" in der Religion die Perspektive des „Nur-Subjektivmachens" bereits verlassen. Noch klarer in diese Richtung weist schließlich Hugo Barmettler (1979), der Hegels Verhältnis zu Kant und Fichte im Zeitraum von 1792 —96 nachgegangen ist. Barmettler gelangt zur Einsicht, daß das Prinzip der Subjektivität, das Hegel mittels „subjektiver Religion" begrifflich herausarbeitet und gegen das Objektive oder Heteronome stellt, schon in der Berner Zeit ins Wanken gerät. Dies sei vor allem eine Folge der näheren inhaltlichen Bestimmungen die-

^ Siehe Theodor Haering: Hegel. Bd 1. 191, 194. — Eine ähnliche Sicht auch bei Theodor Steinbüchel: Das Grundproblem der Hegelschen Philosophie. Bd 1. Bonn 1933. 160 f. 8 Georg Lukäcs: Der junge Hegel. Bd 1. 57. ^ Vgl. Fritz Ephraim: Untersuchungen über den Freiheitsbegriff Hegels. Teil 1. 69, 72; Adrien Peperzak: Le jeune Hegel et la Vision morale du monde. 83. 10 Vgl. Ingtraud Görland: Die Kantkritik des jungen Hegel. 3 ff.

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ser Subjektivität; durch sie werde auch der Kantische transzendentale Ansatz allmählich in einen immanent-tätigen Bereich verlagert, der sich über eine Subjekt-Objekt-Relation ausweisen müsse. Das „pädagogische Element" der Subjektivität trete insgesamt zurück zugunsten der Frage nach der „Struktur allgemeiner praktischer Subjektivität".ii

Eine Wandlung Hegels in seinem Verhältnis zum Kantischen Moralitätskonzept ergibt sich aber nicht nur durch dessen Anwendung auf die soziale und historische Sphäre, sondern auch durch den Bezug zum Ästhetischen. Besonders die Fragmente am Ende der Berner Zeit lassen durchblicken, daß Hegel sein praktisch-politisches Denken mit einem ästhetischen zu verweben beginnt und in dieser Verbindung in der Forderung einer neuen Mythologie des Volkes kulminieren läßt. Zugleich wird die Moralität mit der Wende ins Ästhetische systembildend: Hegel vermittelt in der ihm eigenen Weise die Vorstellung von einem moralischen Ganzen im Keim mit einem spekulativen Vereinigungsdenken. Eine ästhetische Naturbetrachtung, wie sie gelegentlich am Ende der Berner Periode durchdringt, ist für Hegel kein Novum; Kunst, Poesie bringt er ja als selbstverständliche Äusdrucksformen seines gemeinschaftlichen Tübinger Philosophierens mit.^^ Nun kommt aber mit Kants Kritik der Urteilskraft und mit den daran anschließenden Entwürfen von Schiller, Fichte, Hölderlin und Schelling entscheidender der Systemgedanke einer vereinigenden Vernunft und Freiheit hinzu. Das Zusammenspiel dieser Denkwege kann im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus verfolgt werden, Den Ansatzpunkt einer Hegelschen Spekulation hat von dieser Seite her Otto Pöggeler (1965) beschrieben. Der Intention des Systemprogramms folgend, geht er auf Hegels Diktum, wonach die künftige Me-

Vgl. Hugo Barmettler: Die Überwindung der bloßen Vernunft. Hegels Auseinandersetzung mit Kant und Fichte in Tübingen und Bern (1792—96) Frankfurt a. M., Bern, Las Vegas 1979. 9, 85, 94. 12 Näheres dazu siehe bei ]ose Maria Ripalda: Poesie und Politik beim frühen Hegel, ln: Hegel-Studien. 8 (1973); zu Hegels frühromantischen Wurzeln siehe auch Robert Legros: Le jeune Hegel et la naissance de la pensee romantique. Bruxelles 1980. 1^ Vgl. die kritische Edition in MdV. — Zu Hegels ästhetischen Versuchen in diesem Kontext vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Die geschichtliche Funktion der „Mythologie der Vernunft" und die Bestimmung des Kunstwerks in der Ästhetik, ln: MdV. 225—260; dies.: Die Funktion der Kunst in der Geschichte.

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taphysik in die Moral fallen soll, eind^ Das Umkreisen dieser neuen Metaphysik, die ein „vollständiges System aller Ideen" oder „aller praktischen Postulate" enthalten (Natur, Geschichte, Staat, Kunst und Wissenschaft umfassen) soll, gilt nach Pöggeler als die „,esoterische' Mitte" des Hegelschen Denkens in Bernd^ Mit ihr werden sozusagen die erarbeiteten Resultate der Berner Studien Hegels in einen ersten Systemzusammenhang gestellt. Die Wende bzw. reflexive Konkretisierung innerhalb des Systemprogramms, die darin besteht, daß Hegel von einer „Ethik" ausgeht, dann aber die „Idee der Schönheit" als Schlußstein aller Ideen setzt, mithin die Metaphysik als Ästhetik zu erwägen beginnt, führt Pöggeler auf den Einfluß der beginnenden philosophischen Gemeinschaft mit Hölderlin in Frankfurt zurück. Daß Hegel aber schon am Ende seiner Berner Zeit auf eine solche Wende vorbereitet ist und daß er auch in mannigfacher Weise von Philosophemen spekulativer Vereinigung inspiriert sein kann, hat schließlich Christoph Jamme (1983) aufgezeigt. Falsch sei die Annahme, Hegel sei nur von außen, durch Hölderlin auf die spekulative Vereinigungsphilosophie gestoßen worden. Hegels Abkehr vom Kantianismus hat auch auf diesem Gebiet eine „Vorgeschichte", die deutlich in die Berner Periode fällt. Es wird deshalb für die Untersuchung der Berner Fragmente angebracht sein, Hegels Verhältrds zu Kant sowohl in seinen zeitlichen Entwicklungsschritten wie auch hinsichtlich der unterschiedlichen Anwendungsgebiete der Moralität näher zu erörtern.

Zu einer zweiten bedeutsamen Kontroverse hat die Frage nach der grundsätzlichen philosophischen Ausrichtung des jungen Hegel geführt. Die gegensätzlichen Ansichten haben sich hier allem voran durch die Polemik von Lukäcs gegen die Betitelung der Jugendschriften als „theologisch" (Nohl) und gegen Diltheys Darstellung eines „irrationalistisch-mystischen" Hegel zugespitzt. Lukäcs' scharfe Vgl. Otto Pöggeler: Hegel, der Verfasser des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus. In: MdV. 131.

15 Vgl. ebd. 132. 15 Siehe Christoph famme: Ein ungelehrtes Buch. Besonders 119 ff. 11'Vgl. Georg Lukäcs: Der junge Hegel. Bd 1. 14 ff. — Die scharfe Gegenposition zu Dilthey, die Lukäcs hier einnimmt, ist natürlich mitgeprägt durch seine Empörung über die faschistische Vereinnahmung Hegels, zu der gewisse lebensphilosophische Interpretationen Hand bieten konnten. Siehe hierzu auch Georg Lukäcs: Die Zerstörung

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Kritik der „theologischen" und „irrationalistischen" Deutungen stellt nicht zuletzt auch den Interpretationskontext der Hegelschen Fragmente zur Diskussion. So wirft er Dilthey den zu aufdringlichen romantisch-lebensphilosophischen Deutungshorizont vor, der die tatsächliche Situation, woraus Hegels Philosophie entstanden sei, verzerre. Sich explizit auf den Kontext der Französischen Revolution stützend, setzt er der „theologischen" Ausrichtung eine „politische" bzw. „ökonomische" entgegen. Diese Kontroverse ist, wie ersichtlich wird, nicht bloß von den Angriffspunkten her äußerst vielschichtig. Einerseits ist die immanente Lesart unweigerlich mit externen Momenten — dem Kontext, der spezifischen Textgewichtung — belastet. Da diese Belastung nicht zu verhindern ist, wäre es erforderlich, sie selbst möglichst offen als Prämisse der Interpretation darzulegen und zu rechtfertigen. Zum zweiten ist für eine genauere Bestimmung unbedingt zu differenzieren zwischen Hegels eigenem Blickpunkt oder seiner Perspektive und dem Untersuchungsgegenstand, in dem er sich bewegt. Bereits Lukäcs hat dazu präzisiert, daß Hegel bei aller „politischen" Ausrichtung stets unter „religiösem", „idealistischem" Vorzeichen stehe, besonders von der Perspektive her in der „Kantischen Ethik" verbleibe, Hegels Perspektive ist freilich — allein durch dieses Kantische Erbe, aber auch durch den Blick auf eine neue „Volksreligion" — in moralisch-religiöser Art vorstrukturiert. Betrachtet man dagegen die politischen und sozialen Gehalte, die er verarbeitet, so ist seine „politische" Ausrichtung in bestimmter Weise ebenso einzusehen. Man kann etwa auch feststellen, daß sich mit der Arbeit an diesen Gehalten seine Perspektive konkretisiert, um Nuancen verschiebt. Der Gegensatz zwischen „theologisch" und „politisch", der diese Differenzierungen nicht berücksichtigt, ist demzufolge für die Diskussion ziemlich unfruchtbar. In der Eolgezeit ist diese Kontroverse um den jungen Hegel deshalb auch teils verebbt, teils differenzierter ausgetragen worden. Um Reduktionen zu umgehen, hat man zwischen den verschiedenen Seiten vermittelt, mithin ein überwiegend synthetisches Interpretationsder Vernunß. Berlin, Weimar 1988. 437—460. Vor Lukäcs hat bereits Herbert Marcuse in Vernunft und Revolution versucht, Hegel dezidiert gegen den faschistischen Zeitgeist zu lesen und dadurch den sozialkritischen Impetus des jungen Hegel zur Geltung zu bringen. Vgl. Georg Lukäcs: Der junge Hegel. Bd 1. 59, 129.

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verfahren bevorzugt. Exemplarisch hierfür steht Günter Rohrmoser (1961), der nicht bloß den Gegensatz „theologisch" oder „politisch" zur Scheinalternative deklariert, sondern damit auch die Behauptung aufstellt, der „aporetische" Zustand, der sich aus der Verschiedenheit der Deutungen ergebe, werde von Hegel selber ja gerade auf gedeckt und „ohne einseitige Preisgabe eines der Momente" selber gelöst. Damit soll sich Hegel bereits auf dem Reflexionsstand bewegen, den seine Interpreten posthum einnehmen. Ähnlich vermittelnd urteilt Roger Garaudy (1962), der prinzipiell vom „politischreligiösen Problem" des jungen Hegel ausgeht.Doch zeigt sich bei ihm aus dem dargelegten Problem, daß auch innerhalb der Vermittlungsposition sich gewisse Akzentuierungen nicht vermeiden lassen. Schließlich geht der junge Hegel ja zumindest mit der Theologie und der christlichen Religion äußerst hart ins Gericht und bezieht auch klar Position gegen die freiheitsfeindlichen metaphysischen Systeme. In dieser Hinsicht muß präzisiert werden, inwiefern man Hegels Ausrichtung denn tatsächlich auch als „religiös" bezeichnen kann. Zu diesem Problem haben besonders einige Studien zum jungen Hegel im englischen Sprachraum wertvolle Überlegungen beigesteuert.21 Walter Kaufmann (1951) etwa bezeichnete die Hegelschen Jugendschriften kurz und bündig als „antitheological essays"; er wollte hiermit zum Ausdruck bringen, Hegels Ausrichtung sei wenn auch nicht anti-religiös, so doch pointiert anti-theologisch und anti-klerikal.^2 In der Folge hat man diese Auffassung verdeutlicht und gerade auch auf Hegels Versuch, bei aller Religionskritik einen neuen Volksglauben konzipieren zu wollen, hingewiesen.23 Vor diesem Hintergrund scheint mir unter den neueren Studien vor allem Henry Silton Harris (1972) den Hegelschen Ansatz fruchtbar zu präzisieren. Er geht davon aus, daß Hegels Grundproblematik nicht eine metaphysiVgl. Günter Rohrmoser: Subjektivität und Verdinglichung. 25. Vgl. Roger Garaudy: Gott ist tot. Das System und die Methode Hegels. Frankfurt a. M. 1965. 10, 20. Siehe zu dieser Frage auch die Ausführungen von Michael Theunissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat. Berlin 1970. 11 ff. Als Überblick zur Diskussion des jungen Hegel im englisch-amerikanischen Sprachraum vgl. James Schmidt: Recent Hegel Literature: General Surveys and The Young Hegel. In: Telos. Nr 46. 1980/81. 124 ff. 22 Vgl. Walter Kaufmann: The Young Hegel and Religion. In: A. Maclntyre (Hrsg): Hegel: A coUection of Critical essays. Garden City, New York 1972. 63. 23 So etwa T. Malcolm Knox: Hegel's attitude to Kant's ethics. In: Kant-Studien. 49 (1957/ 58), 73. Raymond Plant: (Hegel. Bloomingten; London 1973. 32 ff, 49 f) umschreibt Hegels Religionskonzept als „civil theology".

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sehe, sondern eine „moralische" sei.24 Die kritische Abgrenzung verlaufe nicht gegen das Religiöse als solches, vielmehr gegen eine metaphysische Erörterung desselben. Im Blickpunkt stehe damit auch die Tatsache, daß Hegels Religionskonzept weder vom politischen Ganzen noch vom Motiv sozialer Befreiung losgelöst behandelt werden kann. Anderweitige Beiträge zeigen sodann auch, wie innerhalb des „politisch-religiösen Problems" Hegels „politische" Ausrichtung genauer zu verstehen ist. Hier bietet sich besonders das von Hegel thematisierte Phänomen der Entäußerung bzw. Entfremdung an, das man — ähnlich wie beim jungen Marx — als Moment einer umfassenden „humanistischen" Sichtweise, in der das Ganze der sozialen Beziehungen die Ereiheit des einzelnen Menschen garantieren soll, umschreiben kann.25 Vor allem im italienischen Sprachraum ist diese „humanistische" Lesart, meist mit großer Gewichtung der geschichtsphilosophischen und politisch-sozialen Dimension, fast durchgehend vertreten worden.26 Geht man mit der vorliegenden Kontroverse speziell an die Berner Eragmente Hegels heran, so wird der Auffassung von einem „politischen" Hegel sicherlich Vorschub geleistet. Die meisten Interpreten streichen denn auch den praktisch-politisch interessierten Berner Philosophen heraus. Der Nachweis, in welcher Eorm sich Hegels politische Haltung auf die Systematik seines Denkens niederschlägt, bleibt dabei jedoch ebenso im Vagen wie die angesprochene Unterscheidung zwischen Perspektive und Methode kritischer Objektdarstellung.

24 Vgl. Henry S. Harris: Hegel's development. 157. 25 Überlegungen dieser Richtung siehe bei Paul Asveld: La pensee religieuse du jeune Hegel. Paris 1953. 67, 93, 100; Adrien Peperzak: Le jeune Hegel et la Vision morale du monde. 116 f; Hans Joachim Krüger: Theologie und Aufklärung. Besonders 78. 26 Zur Übersicht siehe Adrien Peperzak: Neue italienische Studien über den jungen Hegel. In: Hegel-Studien. 2 (1963), 363 ff. — Eröffnet hat die Diskussion über den jungen Hegel hier Galvano Deila Volpe: Hegel romantico e mistico. Firenze 1929. Besonders Kapitel 2. 48 ff. Bedeutende politisch-soziale Akzente in der Interpretation des Berner Hegel haben sodann gesetzt: Antonio Negri: Stato e diritto nel giovane Hegel; Mario Tronti: Hegel politico; den geschichtsphilosophischen Berner Hegel thematisieren spezieller: Arturo Massolo: Prime ricerche di Hegel. Urbino 1959; ders.: Das Problem der Geschichte beim jungen Hegel. In: Hegel-Jahrbuch 1961. Halbband 2. München 1961; Leo Lugarini: Hegel a Berna. In: F. Tessitore (Hrsg): Incidenzia di Hegel. Napoli 1970.

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Die beiden genannten Kontroversen überschneiden sich vielfach mit einer weiteren problemgeladenen Frage zum jungen Hegel: nämlich jener nach der Entstehung der dialektischen Denkweise. Gemeinhin bezieht sie sich genauer auf philosophiehistorische und strukturelle Entwicklungsmomente des dialektischen Denkens, dies besonders im Hinblick auf dessen ab 1801 hauptsächlich von Hegel und Schelling reflektierte und systematisierte Form.27 Die Sache polarisierend, ist in Anknüpfung an die vorangehende Kontroverse meist mit zur Diskussion gestellt worden, aus welcher Problematik heraus — kurz: der metaphysischen oder humanistisch-gesellschaftstheoretischen — die dialektische Denkweise primär ihre Bedeutung gewinnt. Verknüpft hat man diese Erwägung auch des öfteren mit der Folgefrage, welche spezifischen Beiträge von Hegel, Hölderlin, Schelling, Fichte, Schiller und anderen zu ihrer Herausbildung geleistet worden sind. 28 Für die Untersuchungen zu diesen Fragen ist es selbstverständlich folgenreich, wie weit man den Begriff der Dialektik fassen und wie vielfältig man ihn strukturell bestimmen will. In neuerer Zeit hat sich besonders Panajotis Kondylis mit seiner Studie Die Entstehung der Dialektik in markanter Weise dieser Probleme angenommen. Kondylis rekonstruiert die Herausbildung der Dialektik ausschließlich über die nachkantische spekulative Vereinigungsphilosophie; perspektivisch zeichnet er eine Entwicklungslinie zur Struktur der „Identität der Identität der Nichtidentität" nach. In diesem Zusammenhang ergibt sich seine These, für die Herausbildung der „dialektischen Strukturen" gelte der „Primat des Metaphysischen". Kondylis bestreitet dabei nicht gewisse sozialgeschichtliche Beweggründe, ebensowenig will er von der ursprünglichen Bedingung des „Metaphysischen" durch 27 Zur Rekonstruktion und Definition von Hegels Dialektikverständnis im engeren Sinne siehe Hans-Friedrich Fulda: Unzulängliche Bemerkungen zur Dialektik. In: R. P. Horstmann (Hrsg): Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels. Besonders 37; Thomas Kesselring: Die Produktivität der Antinomie. Frankfurt a. M. 1984. Besonders 33; Manfred Baum: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik. Bonn 1986. 28 Für eine ausgewogene Klärung der Frage, welche philosophischen Bereiche die Entstehung und Entwicklung der Dialektik hauptsächlich befördert haben, sind freilich nicht nur die Jugendschriften, sondern auch die späteren Werke Hegels mitzuberücksichtigen. Horstmann erwähnt im Zusammenhang der Logik programmatisch vier Bereiche, die man hierzu näher diskutieren müßte: einen theologischen, einen politisch-ökonomischen, einen psychologischen und einen erkenntiustheoretischen oder metaphysischen. Vgl. Rolf-Peter Horstmann: Einleitung. Schwierigkeiten und Voraussetzungen der dialektischen Philosophie Hegels, ln: ders. (Hrsg): Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels. 20 ff.

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die „soziale Konstellation" absehen. Genauer genommen behauptet er so etwas wie eine relative Autonomie des „Metaphysischen" gegenüber dem Sozialen, die für die Formulierung der Dialektik ausschlaggebend sei: „. . . gewisse konkrete Lagen machen den Primat des Metaphysischen vor dem Sozialtheoretischen im ideellen Bereich sehr wahrscheinlich, obwohl dieser Bereich an sich — wenigstens für profane Augen — zum Sozialen und nicht zum Metaphysischen gehört. "^9 Es dürfte klar sein, daß unter diesem Maßstab einer DialektikRekonstruktion der praktisch-politische Berner Hegel als weitgehend unergiebig erscheinen muß. Kondylis porträtiert ihn denn auch überdeutlich als vordialektischen Denker. Mit dieser Einschätzung stellt er sich nicht zuletzt gegen „neomarxistische" Autoren (namentlich gegen Lukäcs), die die Genesis des dialektischen Denkens im Sozialtheoretischen verorten und dabei auf die „Eortschrittlichkeit" der Dialektik — auf ihre Einsicht in die Widersprüche der modernen bürgerlichen Gesellschaft — abheben.Leider unterläßt Kondylis es dabei, auf die Bedeutung des Sozialtheoretischen beim jungen Hegel näher einzugehen. Lukäcs hat in der Entwicklung des jungen Hegel eine Beziehung zwischen Ökonomie und Dialektik hersteilen wollen, genauer: eine Beziehung zwischen dem Arbeitsbegriff der klassischen politischen Ökonomie und der Hegelschen Subjekt-Öbjekt-Dialektik.^i Dies gelingt ihm deshalb nicht so überzeugend, weil eine systematische Rezeption der politischen Ökonomie beim jungen Hegel relativ spät erfolgt, sich vor 1800 kaum strukturelle Zusammenhänge in dieser Beziehung nachweisen lassen.^2 Was allerdings für die Struktur der dialektischen Denkweise schon von der Berner Zeit an prägend sein dürfte, ist eine Subjekt-Öbjekt-Dialektik, die in Auseinandersetzung mit dem „Positiven" im sozialtheoretischen Bereich die Entzweiung reflektiert und die verschiedenen Momente dieses Bereichs hinsicht29 Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. 13 f. 30 Vgl. ebd. 15 ff. 31 Vgl. Georg Lukäcs: Der junge Hegel. Bd 1. 275. 32 Eine systematische Ausführung des Arbeitsbegriffes und anderer Kategorien der politischen Ökonomie, die dialektische Strukturen enthalten kann, folgt bei Hegel erst eigentlich in der Jenaer Zeit. Der engere Zusammenhang zwischen dialektischer Struktur und politisch-ökonomischem Gegenstand zeigt sich dort vor allem in der Form einer Darstellungsdialektik. Vgl. dazu Gerhard Göhler: Dialektik und Politik in Hegels frühen politischen Systemen. In: G. W. F. Hegel: Frühe politische Systeme. Hrsg, und kommentiert von G. Göhler. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1974. 359 ff.

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lieh eines sozialen Ganzen erfaßt. Hier findet sich in der Tat so etwas wie eine Gesellschafts- und Geschichtsdialektik^s, die besonders am Gegenstand des Staats zur Verdichtung getrieben wird. Auf diesen Ausgangspunkt der dialektischen Denkweise beziehen sich denn auch jene Studien zum jungen Hegel, die den umfassend humanistischen Standpunkt ins Zentrum rücken. Hegels Vereinigungsphilosophie konstituiert sich ihnen zufolge nicht hauptsächlich über den Bereich der Spekulation, sondern über eine Konkretisierung des Phänomens der Entzweiung und der Darstellung einer gesellschaftlichen Totalität. 34 Eingehender wird dieser Hegelsche Dialektikansatz von Werner Hartkopf (1974, 1976) erörtert. Vorgängig konstatiert er, daß die dialektische Denkweise Hegels nicht wie bei Schelling aus einer „philosophischen Grundsatzentscheidung" heraus entstehe, sondern über zahlreiche „einzelwissenschaftliche" Analysen gleichsam „von unten" erarbeitet werde.35 Den Einsatzpunkt einer Hegelschen Dialektik sieht er hauptsächlich in dessen Idee einer Rekomposition der ursprünglichen Einheit im Bereich des Humanen, die nur im Sinne einer komplexen Ganzheit reflexiv dargestellt werden kann.36 Diese Idee, die zentral im Berner Fragment Jedes Volk . . . von 1796 (GW 1. 365—378 = N 219—231) auftaucht, trage zwar deutlich die Handschrift Schellings, weise jedoch auch eigenständige, von Schelling abweichende Merkmale auf. So sei Hegels dialektischer Ansatz nicht primär im Metaphysischen oder einer metaphysisch konzipierten Naturphilosophie fundiert, sondern von Beginn weg im „Humanbereich". Hegels dialektisches Denken erweise sich dadurch auch strukturell als stark gesellschaftlich-historisch geprägt. Die Geschichtsphilosophie sei ihr wesentliches Konstituens.37 33 Vgl. Georg Lukäcs: Der junge Hegel. Bd 1. 135, 138. 3* Vgl. die Ansätze bei Günter Rohrmoser: Subjekt und Verdinglichung. 25; Antonio Negri: Stato e diritto nel giovane Hegel. 3, 10, 153. — Die Herausbildung dialektischen Denkens muß dabei gerade auch in bezug auf den Innenbereich der Moralität verfolgt werden, d. h. auf die praktisch werdenden, sich in die Praxis verstrickenden moralischen Prinzipien. Vgl. die Überlegungen von Bernhard Lypp: Über die Wurzeln dialektischer Begriffsbildung in Hegels Kritik an Kants Ethik. In: R. P. Horstmann (Hrsg): Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels. 297, 302 f. 35 Vgl. Werner Hartkopf: Die Anfänge der Dialektik bei Schelling und Hegel. 546; siehe auch ders.: Kontinuität und Diskontinuität in Hegels Jenaer Anfängen. Königstein/Ts 1979. 5, 17 ff. 36 Vgl. Werner Hartkopf. Die Anfänge der Dialektik bei Schelling und Hegel. 549 f. 37 Vgl. ebd. 555.

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2. Teil: Hegels Berner Manuskripte

Hegels Entwicklungsgang zur dialektischen Denkweise ist vielschichtig, nimmt insgesamt seine Konturen über ein recht disparates Konkretes an. Keinesfalls sollte sich deshalb eine Rekonstruktion der Dialektik allein am Bereich des Spekulativen orientieren, keinesfalls sollte sie sich zudem auf eine einzige Denkfigur beschränken. Für Hegels Begriffsarbeit ist nicht allein das Vereinigungsmotiv wichtig, sie wird über mehrere Denk- und Argumentationsfiguren (z. B. Totalität, Entzweiung, Darstellung, Kritik) vorangetrieben.^^ Vor diesem Hintergrund kann man, wie sich zeigen wird, Hegels Berner Fragmenten gerade einige spannende Theoreme abgewinnen.

A. Das sogenannte Tübinger Fragment Hegels Berner Fragmente der Jahre 1793 und 1794 schließen thematisch unmittelbar an die Tübinger Entwürfe von 1792/93 an. Bei der Interpretation von Hegels Berner Denkversuchen kann man deshalb nicht umhin, auf diese einen Blick zu werfen, insbesondere auf das längere Fragment Religion ist eine der wichtigsten Angelegenheiten . . . (GW 1. 83—114 = N 3—29). ln diesem Fragment präsentieren sich facettenartig jene Aufklärungsgedanken, die in der Tübinger Stiftszeit als eine Art Allgemeingut unter den Stiftlern kursieren: ein aufklärerischer Vernunftglaube wird teils kontrastiert, teils bereichert mit einer subjektivierenden Natur- und Herzensfrömmigkeit; der erstarrten, sinnlichkeitsfernen Dogmatik christlicher Religion steht ein lebendiger, mit leichtem aber nicht zerreißbarem Band an Natur und Polis gebundener griechischer Geist gegenüber. Die Gedanken sind völlig durchzogen vom Pathos des aufbrechenden „jugendlichen Genius". Hinzu kommt im Hegelschen Fragment nun aber deutlicher die Bemühung, konkret eine neue freie „Volksreligion" zu entwerfen. Durch Versuche einer Versinnlichung der Religion („subjektive Religion") soll gerade eine vermittelnde Vorarbeit zur gesellschaftlichen Befreiung geleistet sein, ln diesen Gedankengängen treten

38 In Betracht zu ziehen ist besonders, daß Hegels an der Zeitkritik orientierte Analysen sehr früh mit dialektischen Figuren der Entgegensetzung oder des Widerspruchs einhergehen. Vgl. dazu Heinz Kimmerle: Explikation des Hegelschen Begriffs der Dialektik als Begründungshorizont für die Erforschung ihrer Entstehungsgeschichte. In; Hegel-Jahrbuch 1974. Köln 1975. 225 f.

A. Das sogenannte Tübinger Fragment

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Motive der philosophischen Kritik und Vereinigung in mehreren Konstellationen hervor. 1. Denkwege einer Versinnlichung der Religion Am Ausgangspunkt des Hegelschen Denkweges steht der religiöse Mensch, der über sich nachzudenken beginnt, in fortgeschrittener Entwicklung seiner sinnlichen Bedürfnisse inne wird. Nimmt man Religion im gewöhnlich praktizierten und aufgefaßten Sinne, so ist sie bald ein von Kindheit an eingeübtes Ritual, bald das höchste Ziel unseres Tuns, zu dem uns eine „besondre Klasse von Menschen" anleitet (GW 1. 83 = N 3). Der reflektierende religiöse Mensch begnügt sich damit nicht mehr, entlarvt die schlechte Unmittelbarkeit und entsinnlichende Formalität dieser Auffassung. Er fragt nach „Natur und Eigenschaften" des religiösen „Wesens", ebenso nach dem „Verhältnis der Welt zu diesem Wesen". Im Nachdenken über das „Wesen" der Religion stößt er vorerst auf Anthropologie: Religion soll als Movens der „menschlichen Natur", als „natürliches Bedürfniß des menschlichen Geistes" exemplifiziert werden. (GW 1. 83 f = N3 f) Mit dieser anvisierten Versinnlichung bzw. Verweltlichung der Religion hält Hegel sich zum einen an die Kantische Vorstellung einer empirischen praktischen Vernunft. ^ Sein philosophisches Interesse konzentriert sich ganz auf die berühmten Kantischen „Triebfedern" der reinen Moralität. Zum anderen bewegt er sich von Anbeginn in der Problematik einer Vereinigung von sinnlichem und rationalem Denken, die bereits die ästhetischen Philosopheme zur Frage der Individualität und Ganzheit ab Mitte des 18. Jahrhunderts eminent beschäftigt haU und nun zum eigentlichen Signum der nachkantischen spekulativen Philosophie wird. Sehen wir zu, in welchen genaueren Konstellationen Hegel diese Denkwege verfolgt. Die mit dem anthropologischen Blick verbundene Aufwertung des Sinnlichen bringt er gegen zwei Seiten in Anschlag: gegen religiöse 1 Siehe dazu die Unterscheidung in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zwischen dem „rationalen“ Teil der Ethik, der „Moral", und dem „empirischen“, der insbesondere in die „praktische Anthropologie" fallen soll (AA 4. 388). 2 Dazu etwa Alfred Bäumler: Das Irrationalismusproblem in der Aesthetik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. Darmstadt 1981 (Nachdruck der 2. Aufl. von 1967). 232 ff.

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2. Teil: Hegels Berner Manuskripte

Handlungen, die formell geworden sind, sowie gegen religiöse Theorien, die sich durch Entsinnlichung auszeichnen. Dabei ist die Sinnlichkeit als lebendige Sinnlichkeit, die „HauptElement bei allem Handeln und Streben der Menschen ist" (GW 1. 84 = N 4), sowohl der Gegenpart des bloßen Begrifflichen oder Verständigen innerhalb der Religion als auch Metapher oder Reflexionsmoment der Einheit von Vernünftigem und Natürlichem. Bald ist sie kritischer Kampfbegriff, bald Chiffre der utopischen Vereinigung. Hinsichtlich der Vereinigung gegensätzlicher Kräfte steht der Begriff des „Herzens" als Integrationsbereich religiöser Gefühle und Handlungen in großer Gunst, ebenso — aber etwas zurückgedrängt — die „reine schöne Phantasie" (ebd). Der durch sie repräsentierte Vereinigungsgedanke ist in der Eolge mehrdeutig konzipiert. Es geht nicht nur um eine begrifflich-systematische Vereinigung, sondern auch um klar ausgesprochene pragmatische Absichten. So sind „Herz" und „Phantasie" stets auch Momente, die für eine „Volksreligion" einen Nutzwert aufweisen (vgl. GW 1. 103 = N 20). Im Zusammenspiel von Kritik und Vereinigung ist zudem das Versöhnungswerk stets neu zu bestimmen, zu korrigieren, selbst als Prozeß zu verstehen. Leicht ergeben sich Inkonsistenzen, die durch Begriffsarbeit behoben werden müssen. So sind die Versöhnungstermini „Herz" und „Phantasie" stets auch Gegenspieler der „kalten Vernunft" und noch mehr des „kalten Verstandes" (GW 1. 86 = N 5, 11). Dieser Gegensatz erscheint zwar oft etwas abgeschwächt, da die Vernunft bzw. die vernünftige Moralität in die Sinnlichkeit gleichsam eingelassen ist und nicht über sie gestellt, jedoch muß der Verstand aus der Vereinigung weiterhin herausfallen. Es ist ersichtlich, daß er sozusagen als Korrelat der nicht bewältigten, unvernünftigen Sinnlichkeit fungiert. Hegel bezeichnet ihn als „Hofmann, der sich nach den Launen seines Herrn gefällig richtet", letztlich ist er Diener „jeder Leidenschaft" und „Eigenliebe" (GW 1. 94 = N 12). Insgesamt fällt Hegel dadurch aber nicht einem Irrationalismus des Herzens anheim, wie ihn etwa Pascal, der auch noch die Vernunft vollends zum Hofmann deklariert, vertritt: „Die Vernunft bietet sich an, aber sie ist nach jeder Richtung zu biegen, also gibt es keine. Vielmehr soll das Herz die Vernunft anerkennen, soll mit ihr verwandt sein; es anerkennt sie genau dann, wenn es selbst „damit erfüllt ist" (GW 1. 84 = 3 Blaise Pascal: Gedanken. Eine Auswahl. Stuttgart 1956. 139.

A. Das sogenannte Tübinger Fragment

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N 4). In dieser gegenseitigen Einwirkung von Herz und Vernunft sieht sich Hegel wohl im Geiste von Lessings Nathan, bei dem trotz der Absage an die vernünftelnde Buchgelehrsamkeit der Religion eine einheitsstiftende Vernunft zu ihrem Recht gelangt. Entgegen einer selbstgenügsamen Herzensreligion, wie sie der orthodoxe Patriarch vertritt, will Nathans Herzensreligion den kritisch-vernünftigen Gang, „die Willkür des, / Der die Vernunft erschaffen, nach Vernunft / zu untersuchen", gerade eingeschlossen wissen.^ Der Versuch, die Gegensätze zu überwinden, beruhigt sich damit aber kaum, denn immer ist mit der Vereinigung auch die tiefe Entzweiung eingesehen worden. Die Spannung bleibt mit der Hegelschen Erage, „wie weit sich Räsonnement einmischen darf, um Religion zu bleiben", erhalten (GW 1. 96 = N 14). Vorerst löst er sie mehr durch bildliche Metaphern auf denn durch Räsonnement. Hegel vollführt die Vereinigung von Vernunft und Sinnlichkeit in reflexiver Eorm dort am ausgeprägtesten, wo er die vernünftige Moralität deutlicher in den Mittelpunkt stellt. Er thematisiert sie derart, daß die Vernunft sich in der Sinnlichkeit der menschlichen Natur in unentwickelter Form aufhalten oder daß sie gleichsam ins Ganze der Vielfalt der sinnlichen Erscheinungen, als unsichtbares, inneres Band, zerstreut sein soll. Auch der „blinde Instinkt" und die „sinnlichen Neigungen" sind im ersten Falle auf Vernunft hin zu betrachten: „. . . die Natur des Menschen ist mit den Ideen der Vernunft gleichsam nur geschwängert" (GW 1. 85 = N 4), sie sind unentwikkelt in ihr angelegt. Im zweiten Falle durchziehen die „Ideen der Vernunft" ein ganzes „Gewebe" von „Empfindungen", die Vernunft selbst ist zerstreut, in die Sinnlichkeit verteilt, sie darf — wie das Salz in einem Gericht — „nirgends in einem Klumpen sich zeigen" (ebd).^ Vernunft durchdringt lediglich alles, kann aber selbst nicht als „Substanz" dargestellt werden. Mit diesem Vergleich gibt Hegel die Moralität als Mittelpunkt auf und bedient sich zwischendurch metaphysischer Vereinigungsterminologie. Erinnert wird sichtlich an die sich unendlich aufgliedernde Substanz Spinozas^, die Hegel stark in Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Werke. Bd 2. 297. 5 Das Bild des Klumpens verwendet Hegel übrigens nicht zufällig, denn in ihm scheint sich geradezu ein Anti-Affekt seines Philosophierens ausdrücken zu wollen. In der Jenaer Schrift Glauben und Wissen stützt der „formlose Klumpen" bekanntlich das ästhetische Argument für die Aufhebung des Kantischen „Ding an sich" (vgl. GW 4. 332). ^ Vgl. Spinoza: Die Ethik. Teil 1. Lehrsatz 10, wo die „Substanz" gefaßt wird als ein

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Richtung einer sich zerstreuenden, ausströmenden Anschauung deutet^. Die Einheit des Ganzen tritt auf in der Symbolgestalt des „Lichts" oder der „feinen Materie". Die vorerst angesetzte Reflexion kann (oder soll) an dieser Stelle nicht weiterhelfen. Wo die Poliswelt bei Hegel stark durchbricht, wird die vereinigende Moralität zudem auffällig mit dem alten Tugendideal drapiert. Unübersehbar hält er von Beginn weg der entsinnlichten Religion des Christentums eine natürliche, d. h. in alle Lebensbereiche harmonisch eindringende, griechische „Volksreligion" entgegen, deren inneres Prinzip die auseinanderstrebenden Teile des Vernünftigen und Sinnlichen durch „Phantasie" und „Weisheit" zusammenhält. Die „Ideen der Vernunft", mit denen der Aufklärer Hegel zuweilen eine allzu rohe Sinnlichkeit und allzu wilde, abergläubische Phantasmen zu bannen pflegt, treten in den Passagen, wo solch Utopisches wiedererinnert wird, in starkem Maße zurück. Die „Fülle des Herzens" (GW 1. 97 = N 15) setzt Hegel in diesem Falle dann emphatisch gegen alle bloß verständige Aufklärung. Dies hängt freilich damit zusammen, daß sein Blick hier an eine noch ungebrochene Natürlichkeit geheftet ist. Als oberste versöhnende Richterin tritt nun gar die alte „Weisheit" auf, die nur wenig räsoniert, sich wenig einmischt und über das Wechselspiel von sinnlichen Eindrücken und erkauftem Verstand erhaben ist. Eine Aufklärung mittels Autonomie des Verstandes und der Vernunft ist ihr gar derart fremd, daß sie beinahe ein gegenaufklärerisches Programm zu propagieren beginnt. Hegel spielt nun „Weisheit" gegen aufklärerisches Räsonnement aus: „Aber Weisheit ist nicht Wissenschaft — Weisheit ist eine Erhebung der Seele, die sich durch Erfahrung verbunden mit Nachdenken über Abhängigkeit von Meinungen wie von den Eindrücken der Sinnlichkeit erhoben hat und nothwendig, wenn es praktische Weisheit, nicht bloß selbstgefällige oder prahlende Weisheit, von einer ruhigen Wärme, einem sanften Feuer begleitet seyn mus; sie räsonnirt wenig.

Seiendes, welches „aus unendlich vielen Attributen besteht, deren jedes eine gewisse ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt". 7 Dies läßt vermuten, daß hier neben Spinoza noch andere Quellen im Spiel sind. Liebrucks etwa sieht in diesen Passagen Hegels „das christliche Bild des Salzes irut dem platonisch-plotinischen BUd des Lichtes gepaart". (Vgl. Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein. Bd 3. 132.) Interessant ist freilich, daß Hegel auch später stets auf Vergleiche der spinozistischen Substanz mit der Vorstellung der „Emanation" bzw. des sich erleuchtenden „Lichts" hinzielt (z. B. Logik GW 11. 378).

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sie ist auch nicht methodo mathematica von Begriffen ausgegangen, und durch eine Reihe von Schlüssen in Barbara et barrocco zu dem, was sie für Weisheit nimmt gekommen ..." (GW 1. 97 = N 15) Frappant ist, daß die utopische Perspektive im eingeholten utopischen Material nahezu stecken bleibt. Sie hat streckenweise eine große Affinität zu einer unmittelbaren Transposition griechischen Geisteslebens, wie sie Flölderlins Hyperion kennzeichnet. Über weite Sequenzen ist sie rückwärtsgewandt — und dies nicht bloß aus mangelnder Weitsicht nach vorne, sondern aus bewußter Suche nach der nicht mittels Reflexion zurückzugewinnenden Natureinheit. Das Vereinigungsmotiv ist bezeichnenderweise stets wieder an Metaphern des Natürlichen wie der „ruhigen Wärme" oder dem „sanften Feuer" festgemacht; und das Moment der begrifflichen Durchdringung hält sich an sinnlich aufgeladene Vorgänge eines „Verwebens" und „Verflechtens" (z. B. GW 1. 102, 112 = N 19, 28). Durch diese rückwärtsgerichtete Perspektive Hegels erhält das Fragment insgesamt eine Spannung, die sich in den folgenden Denkversuchen noch verschärfen wird. Der Rekurs auf eine unentstellte Natürlichkeit kommt einerseits seinem Vereinigungsideal sehr entgegen, andererseits wird er im Hinblick auf eine realistische Perspektive aus der modernen Aufklärung heraus zu einem Hindernis. Das Wissen um diese Situation wirft das Denken aus der Bahn, führt jedoch auch ständig zum Bedürfnis, eine vermittelnde aufgeklärte Vernunft einzubeziehen, zurück. Der Aufklärer Hegel weiß wohl nur zu gut, daß die durch Reflexion und räsonierende Aufklärung destruierte Natureinheit nicht durch ein simples Nachspiel unmittelbarer Natürlichkeit wieder herzustellen ist. Was die Reflexion des Verstandes und der Vernunft auseinandergetrieben hat, ist nicht mehr jenseits, sondern nur mittels dieser Reflexion selbst wieder einzuholen — und dies immer nur unvollständig. In diesem Punkt geht Hegels Kritik des Räsonnements implizite bereits über die „nächtlichen" Ideen einer harmonischen Ursprungsnatur, wie sie gewisse Frühromantiker vertreten, hinaus. Novalis etwa, der die Verletzung der Phantasie durch die protestantische Ratio beklagt, sieht im aufklärerischen Geist zu sehr bloß noch das „Klappern einer Mühl", die „ohne Baumeister und Müller" sich perpetuiert.®

® Novalis: Die Christenheit oder Europa. Stuttgart 1962. 34.

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Dort, wo Hegels Begriffsarbeit auf einer vereinigenden Moralität weiter beharrt und sich der Kantischen Konzeption annähert, gelingt freilich die Vereinigung von vernünftigem und sinnlichem Bereich nicht mehr so leicht. Der Kantische Dualismus wird — soweit er deutlicher ins Problembewußtsein dringt — zum Teil etwas vorschnell überspielt. Die Dichotomie von „Pflicht" und „Neigung", von „Achtung fürs Gesetz" und „Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbringen sollen" (KdprV AA 5. 81), die Kant in Ansehung der subjektiven „Maximen" des objektiven Gesetzes hinterläßt, scheint Hegel wenig zu berühren. Und auch das Kantische Diktum von dem „natürlichen Hang des Menschen zum Bösen" (Die Religion AA6. 29) beunruhigt ihn offenbar nicht sonderlich. Seine Einsicht geht etwa so weit, daß „in einem System der Moral reine Moralität von Sinnlichkeit in Abstrakte gesondert werden mus", diese unter jene zu „erniedrigen" ist (GW 1. 84 = N 4). Bei der Anschauung der praktischen, sinnlichen Triebfedern ebnet er diese „Erniedrigung" problemlos wieder ein. Der Gegensatz ist kaum mehr störend, da die Natur nun mit Vernunft „geschwängert" ist. Die Unstimmigkeit einer solchen Vereinigung wird Hegel wohl am deutlichsten in jener Passage, in der er im Anschluß an seine Apergus zum griechischen Geistesleben die „Liebe" zum Vereinigungsideal erhebt. Hegel sieht eine Analogie der Liebe zur Vernunft von der gemeinsamen Beziehungsstruktur her; die Liebe findet sich selbst „in anderen Menschen" oder setzt sich „sich selbst vergessend" aus der Existenz des einzelnen Menschen vielmehr heraus, so daß sie „gleichsam in anderen lebt, empfindet und thätig ist ..." (GW 1. 101 = N18). Sie gleicht damit der gesetzgebenden Vernunft, deren allgemeine Prinzipien in jedem „vernünftigen Wesen" als die seinen erkennbar sind. Hegels Ideal der Liebe, fern allem Verständnis der „verfeinerten Selbstliebe", ist hier nahe an jenem griechischen Eros, den Diotima in Platons Symposiorfi als Stufenleiter der vereinigenden Schönheit, in höchster Form als Selbstzweck, Selbstanschauung statuiert. Es ist jenes Ideal, das, um den ästhetischen Aspekt bereichert, dem Hegel der Frankfurter Zeit als kardinales Prinzip dient. Mit der Analogie von Liebe und Vernunft führt Hegel nun allerdings die Kantische Dichotomie ^ Vgl. Platon: Symposion. Steph. 211 c. i'' Vgl. Hermann Timm (Fallhöhe des Geistes. Das religiöse Denken des jungen Hegel. Frankfurt a. M. 1979. 47), der dieser Stelle eine „Schlüsselrolle" für Hegels kommende philosophische Entwicklung zuschreibt.

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mit ein. Die Liebe als vereinigendes Ideal wird dadurch lediglich zum „Grundprinzip des empirischen Charakters", während die Vernunft selbst der „intelligiblen Welt" angehört. Sie ist damit nicht schon selbst Vernunft, sondern bildet diese als tätiges Prinzip sozusagen empirisch nach. Hieraus ist Hegels Bemühung spürbar, aufklärerische Vernunft Kantischer Herkunft mit griechischen Vereinigungsidealen zu einer modifizierten aktuellen Aufklärungstheorie zu verbinden. Doch zeigt sich dieser Versuch vor dem Hintergrund der Kantischen Dichotomie als nur bedingt durchführbar. Die empirisch gedachte „Liebe" muß ja Kant zufolge der intelligiblen Vernunft unterstellt werdenii, so daß das Vereinigungswerk mittels Liebe diese schließlich gerade ausgrenzt. Hegel kann so die angestrebte Einheit nur in pragmatisch-pädagogischer Hinsicht retten. Die empirische Seite der Vernunft ist zwar unzureichend für die Formulierung von Prinzipien, sie wird jedoch auf ge wertet im Hinblick auf die Wirkung, die verite ä faire einer Theorie. So schließt Hegel: „Zur Aufstellung von Grundsätzen taugt der Empirismus freilich schlechterdings nicht — aber wenn davon die Rede ist, wie man auf die Menschen zu wirken hat, so mus man sie nehmen, wie sie sind, und alle gute Triebe und Empfindungen aufsuchen, wodurch wenn auch nicht unmittelbar seine Freyheit erhöht, doch seine Natur veredelt werden kan. . ." (GWl. 101 = N 19) Man sieht aus diesem skizzierten Denkweg einer Versinnlichung der Religion, daß Hegels Vereinigungsdenken vielschichtig ist, vielseitig ins Offene drängt. Einen wichtigen Entwicklungsstrang finden wir im Bereich der empirischen praktischen Vernunft; er zeigt sich als eine Art anthropologisch fundierter Moral bzw. Religion, die sich begrifflich-systematisch im Spannungsfeld zwischen einer vernünftigen Herzensreligion und einem Kantischen Vernunftglauben herausbildet. Ein zweiter hebt mit Vereinigungsidealen der griechischen Phantasiereligion an („Weisheit", „Liebe"), überschneidet sich und konfligiert zum Teil mit dem Kantischen Vernunftkonzept. Metaphysische Vereinigungsideale im strengeren Sinne („Substanz") tauchen nur sporadisch auf, insgesamt sind sie eher von metaphorischer Bedeutung. •1 Kant hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß die Liebe — auch als reinstes Gebot — mit der Ausführung eines Gesetzes oder der Bindung an Pflicht zu tun hat: „Gott lieben heißt in dieser Bedeutung, seine Gebote gerne tun; den Nächsten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne ausüben." (KdprV AA 5. 83)

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Hinzu kommt, daß sich in der vereinigungsphilosophischen Intention ein begrifflich-systematischer und ein pragmatischer Aspekt überschneiden. Dabei ist Hegels überwiegende Orientierung am Wirkungszusammenhang der Vereinigung unumstritten. Zudem muß von einem ausschließlich begrifflich-systematischen Vereinigungsmotiv auch abgesehen werden, zumal Hegel als Kritiker vor aller Vereinigung die bestehende Entzweiung zu diagnostizieren hat. Deshalb auch sein Festhalten an pointierten Abgrenzungen. 2. „Subjektive Religion" und „Volksreligion" Die andere Richtung, in der Hegel das Phänomen der Religion einer näheren Erörterung unterzieht, folgt mehr der zweiten Bestimmung über das „Wesen" der Religion: nämlich dem „Verhältnis der Welt zu diesem Wesen". Hegel untersucht die „Triebfedern" der Moralität hier spezieller in bezug auf die Religion eines Volkes. Gefragt wird, welche sinnlichen Potentiale einer öffentlichen Religion der „Veredlung des Geists einer Nation" dienlich sind (GW 1. 86 = N5).

Diese Seite des Hegelschen Unternehmens läuft einher mit der Erwägung, ob und inwiefern die tradierte christliche Religion als emanzipatorische „Volksreligion" noch tauglich sein kann. In ihr wird insgesamt eine religionskritische Problematik weitergeführt, die wesentlich Kants Religionsschrift aufgeworfen hat, aber eigentlich schon in Spinozas Theologisch-Politischem Traktat vorliegt^^. Hegel kritisiert die christliche Religion nicht aus einer materialistischen oder explizit atheistischen Sicht heraus, sondern aus der Position einer philosophischen Vernunft, die auf den Glauben ein wir kt und ihm dabei eine neue Rolle in Gesellschaft und Staat zuweist. Die alte kirchlich-institutionelle Religion wird infolge einer Subjektivierung des Glaubens aufgelöst, Religion soll dem freien Gewissen des Einzelnen anheimgestellt und als Vernunftglaube oder natürlicher Glaube auf die Idee des bürgerlichen Staates zugeschnitten werden. Siehe dazu Spinozas Forderung, Theologie und philosophische Vernunft derart zu trennen, daß sie nicht wechselseitig instrumentalisierbar werden, sowie seine Parteinahme für eine von allem Gewissenszwang befreite Religion und für einen freien Staat, auf dem diese erst gedeihen kann (vgl. Spinoza: Theologisch-Politischer Traktat. Besonders Kapitel 15 und 20. 221 ff, 299 ff).

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Dieser religionskritischen Tendenz folgt Hegel, indem er vorerst die begriffliche Unterscheidung von „subjektiver" und „objektiver Religion" einführt und thematisiert. „Objektive Religion" ist der allgemeinen Definition zufolge „fides quae creditur", eine Religionsform, die sich als rituelle Einübung in der Kindheit äußert, im Bereich des Denkens als System von Glaubenssätzen oder „praktischen Kenntnissen", die bloß „Verstand" oder „Gedächtnis" affizieren können (vgl. GW 1. 87 = N 6). Unter die Bezeichnung „objektive Religion" fallen jedoch auch mittelbar der traditionelle, „historische" Glaube (vgl. GW 1. 85 = N 5) und die Glaubenssysteme der offiziellen Theologie (vgl. GW 1. 89, 92 = N 8, 10). Ferner schließt Hegel auch etwa die institutioneilen Organe, um die herum sich die religiösen Handlungs- und Denkweisen konstituieren, mit ein: die „Gebräuche", „Zeremonien", „Anstalten", in einem weiteren Sinne ebenso die „Staatshandlungen" (vgl. GW 1. 90, 103, 107 = N 8, 20, 24). Die „subjektive Religion" überschneidet sich vorerst weitgehend mit jenen Gefühlsmomenten, Handlungen und Denkweisen, die im Rahmen der erörterten Versinnlichung der Religion eine Hauptrolle spielen. Allgemein überwiegt in ihr die bildliche und emotive Seite des Religiösen. Vorwiegend angesprochen sind „Herz", „Gemüt" und „Phantasie" (GW 1. 87 f, 90 f == N 6 f, 9), und im Medium des Denkens kann lediglich eine Vernunft, die sich als praktischer Wille manifestiert, quasi eine Vernunft des Tatbeweises, in Frage kommen. Ihre Motivation schöpft „subjektive Religion" hauptsächlich aus einer „inneren" Wirkung, die sich lediglich in einer reineren Herzenstat nach außen setzt. Somit erscheint sie vorerst als ein eher differenzloses Lebendiges-Individuelles-Praktisches, das seine Opposition gegen alles Erstarrte, Abstrakte, Theoretische nicht krasser zum Ausdruck bringen könnte: „Subjektive Religion ist etwas individuelles, objektive die Abstraktion, jene das lebendige Buch der Natur, die Pflanzen, Insekten, Vögel und Thiere, wie sie untereinander eins vom andern lebt, jedes lebt, jedes geniest, sie sind vermischt, überall trift man alle Arten beisammen an — dise das Kabinet des Naturlehrers, der die Insekten getödtet, die Pflanzen gedörrt, die Thiere ausgestopft oder in Brantwein aufbehält. . ." (GWl. 88 = N7) Es fragt sich bei diesem skizzierten Gegensatz von „subjektiver" und „objektiver Religion", inwieweit Hegel bedeutungsgemäß die Kantische Unterscheidung von „Maxime" und „Gesetz" der „praktischen Vernunft" aufgreift und weiterführt. Rein programmatisch ist

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eine gewisse Anlehnung an diese recht naheliegend In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten hat Kant die „Maxime" als „subjektives Prinzip des Wollens" vom „objektiven Prinzip", dem „Gesetz" der reinen Moralität selbst, unterschieden (vgl. AA4. 400 Anm.); in der Kritik der praktischen Vernunft führt er dies weiter aus (vgl. AA 5. 81) und spricht sodann in der „Methodenlehre" die Art und Weise an, „wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüt, Einfluß auf die Maximen derselben verschaffen, d. h. die objektiv-praktische Vernunft auch subjektiv praktisch machen könne" (ebd. 151). Diese Subjektivierung des Gesetzes, das Auffinden von Beweggründen, die diesem adäquat sind, ist die Bedingung dafür, daß mit der „Legalität" auch „Moralität der Gesinnung" erreicht werden kann. Ohne diese würde Befolgung des Gesetzes mittels sinnlicher „Anlockungen" oder „Androhungen von Schmerz und Übeln" angemahnt. Der Gehorchende wäre gerade durch diese gesetzesfremden sinnlichen Mechanismen zu einem „Maschinenwerk" verdammt (vgl. ebd. 152). In pädagogischer Hinsicht treibt Kant schließlich seine Apologie sinnlicher Triebfedern so weit, daß er ein vorgängiges Räsonieren über Moralität zurückstellt zugunsten einer Erörterung des „sittlichen" Werts verschiedenster Handlungen empirischer Natur (vgl. ebd. 153). Wie man sieht, kann sich Hegel hier gar dem Sinne nach, besonders bei der Aversion gegen das Maschinelle, an Kant halten. Wenn er allerdings das Kantische Programm der Subjektivierung von den systematischen Voraussetzungen her fortzuführen glaubt, so sieht er sich einem Irrtum ausgesetzt. Während nämlich Kant auch bei moralisch zu würdigenden sinnlichen Triebfedern immer doch die Systematik der „Pflicht" über alles stellen muß (vgl. ebd. 155 Anm.), sprengen bei Hegel die Potentiale der „subjektiven Religion" gerade diesen vorgegebenen Rahmen. Und das „objektive Gesetz", das Kant bei aller Subjektivierung selbstverständlich an oberster Stelle beläßt, ist bei Hegel eindeutig dem Primat eines sinnlich-subjektiven Prinzips unterstellt. „Subjektive Religion" schließt, falls überhaupt, die „objektive" als untergeordneten Bereich ein und ist nicht — wie im

Vgl. auch GW 1. 350 = N 211. — Die terminologische Unterscheidung von „subjektiver" und „objektiver Religion" ist bereits ein Produkt der kantianisierenden Tübinger Orthodoxie. Vgl. Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. 176.

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übertragenen Sinne bei Kant — subjektive Ausstaffierung eines je schon qua Vernunft gegebenen objektiven Gesetzes. Die klare Differenz resultiert freilich auch daraus, daß Hegel die „objektive Religion" vornehmlich im Gegenstandsbereich der Herrschaft religiöser Institutionen ansiedelt, die „subjektive" im Bereich der Moralität, während Kant sowohl eine subjektive wie objektive Seite unter der Moralität abhandelt. Strenggenommen übt Hegel an Kant dennoch — trotz unterschiedlichem Gegenstandsbereich — eine implizite Kritik. Seine Kritik der „objektiven Religion" trifft strukturell stets auch die objektive Seite Kantischer Moralität, kurz: die Gesetzesform freier Moralität. Was den Gegenstandsbereich anlangt, so trifft sich Hegels Bestimmung vielleicht noch am ehesten mit der von Kant in der Religionsschrift vorgenommenen Unterscheidung von „natürlicher", von vernünftiger Moralität geleiteter Religion und sogenannter „geoffenbarter Religion", die an den historischen Glauben gebunden sein soll (vgl. AA 6. 153 f). Allerdings ist hierbei eine klare Zuordnung der Prädikate „subjektiv" und „objektiv" bezüglich beider Religionstypen nicht vorhanden (vgl. auch ebd. 164). Ebensowenig ist die von Kant kritisch konzipierte „natürliche Religion" vom Gehalt her bedeutungsidentisch mit Hegels „subjektiver Religion". Das objektive Gesetz ist bei Kant auch in diesem Falle oberster Richter. Nun ist allerdings Hegel im weiteren Verlauf seiner Bestimmung Von der näheren Bedeutung her hat Hegels Unterscheidung von „subjektiver" und „objektiver Religion" einen gewissen Rückhalt in Mendelssohns religionskritischen Distinktionen, ln Jerusalem (264 ff) unterscheidet Mendelssohn innerhalb des religiösen Pflichtgebots zwischen „Handlungen" und „Gesinnungen". Erstere betreffen das, „was die Pflicht erfordert", letztere sind dafür zuständig, daß etwas „aus ächten Beweggründen geschehe". Auf die „öffentlichen Anstalten" bezogen entspricht dies der Unterscheidung von „Regieren" und „Erziehen". Der Primat der Gesinnung kommt bei Mendelssohn darin zum Ausdruck, daß die „Güte einer Regierungsform" an der Zahl der Sitten und Gesirmungen, mittels deren sie „regiert", gemessen wird, also an einem möglichsten Absehen von Gesetzesvorschriften. Mendelssohns Primat der „Gesinnung" geht hier, ähnlich wie Hegels Verständnis „subjektiver Religion", über das Vorschriftsgemäße — auch innerhalb des Gesirmungsbereichs selbst — hinaus. — Die Problematik des Verhältnisses von Moralgesetz und Subjektivierung qua Auffindung empirischer Triebfedern dürfte Hegel ferner auch aus Fichtes Versuch einer Kritik aller Offenbarung bekannt sein. Fichte, der eine subjektive Wirkung des Moralgesetzes gleichsam herausdeduzieren möchte, unterstellt aber noch radikaler als Kant das Subjektive — weil bloß Empirische — dem Moralgesetz. Fichte spricht in diesem Zusammenhang etwa von einer „Entäußerung" des Moralgesetzes, einer „Übertragung eines Subjektiven in ein Wesen außer uns" (vgl. Fichte: Werke. Bd 5. 55).

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der „subjektiven Religion" gezwungen, ihren krassen Gegensatz zur „objektiven" zu relativieren, d. h. beide Pole genauer aufeinander zu beziehen. Die etwas differenzlose „subjektive Religion" bestimmt Hegel vor allem dort präziser, wo seine Auffassungen von „subjektiver Religion" und „öffentlicher" oder „Volksreligion" sich zu überkreuzen beginnen. In diesem Falle tritt die Vernunft gegen die sinnlichen Potentiale des Aberglaubens und der „VolksVorurtheile" (GW 1. 95, 103 = N 13, 20 f) stärker auf den Plan; Räsonnement darf sich weitgehender einmischen. Gleichzeitig wird jenes Moment der „objektiven Religion", das als die institutioneile Sphäre der Religion bestimmt worden ist, aufgewertet, als Teil „subjektiver Religion" anerkannt: „Von objektiver Religion spreche ich aber nur insofern auch, als sie einen Bestandtheil der subjektiven ausmacht" (GW 1. 90 = N 8). Hegels Augenmerk richtet sich dabei auf die besonderen „Anstalten", die zur Beförderung der „subjektiven Religion" günstig zu sein scheinen. Wo es um Volksaufklärung geht, müssen die moralische Vernunft und das institutioneile Fundament der Religion gezielt auf das Ideal der „subjektiven Religion" ausgerichtet werden. Dieser Denkakt führt nun zu feinen Veränderungen in der Systematik des Gegensatzes. Bei genauerem Hinsehen vollführt Hegel eine Subjektivierung „objektiver Religion", die deren Form nicht unangetastet läßt. Da die „objektive Religion" nun auch als „Bestandtheil" der „subjektiven" zu verstehen ist, wird die „objektive" auf die „subjektive" hin neu konzipiert. Der damit verbundene umgekehrte Vorgang, die Objektivierung „subjektiver Religion", fällt hier noch nicht in Betracht. Erst in den späteren Berner Fragmenten thematisiert ihn Hegel erstmals, wenn auch nicht in aller begrifflichen Konsequenz. Aus dieser Subjektivierung der „objektiven Religion" ergeben sich mithin auch zwei unterschiedlich zu bewertende Verständnisse des Objektiven. Zum einen stellt sich nun ein Objektives heraus, das formbares Objekt der „subjektiven Religion" sein kann, zum anderen eines, das sich als kritisiertes Objekt gegen diese in Differenz hält; in dieser Struktur ist es so etwas wie ein entfremdetes oder verdinglichtes Objektives. „Objektive Religion" als Nicht-Be-

15 Verfolgt man den Weg der inhaltlichen Kritik Hegels, wird man bald auf erste Denkfiguren stoßen, die in der später ausformulierten Kritik des „subjektiven Idealismus" gang und gäbe sind. So die Kritik an der bloßen Reflexion, an der verinnerlichten Autonomie oder am abstrakten Sollen.

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standteil der „subjektiven" wäre gleichsam Erscheinung ihrer verdinglichten Form. Mit seinen Überlegungen zur „öffentlichen" oder „Volksreligion" verlagert Hegel schließlich auch den Gegensatz von „subjektiver" und „objektiver Religion". Mehr in den Vordergrund tritt nun jener zwischen „Volksreligion" und „Privatreligion", der den vorangehenden gewissermaßen in sich aufgehoben enthält (vgl. GW 1. 102 ff = N 19 ff). „Volksreligion" korrespondiert nämlich insofern der „subjektiven", als sie auf „Herz" und „Phantasie" stets rekurrieren muß, ja eine Art versinnlichten Volksgeists sein soll (GW 1. 103, 107 = N 20, 23 f); sie muß, wie angetönt, aber ebenso Potentiale der „objektiven Religion" mit einbeziehen. Die „Privatreligion" auf der anderen Seite erhält implizit Potentiale der „subjektiven Religion" zugeschoben: sie hat nämlich den „einzelnen" in seinen inneren Beweggründen anzusprechen (vgl. GW 1. 102 = N19) — so etwa bei der „Belehrung über Collisionsfälle der Pflichten" —; andererseits identifiziert sie Hegel wesentlich mit der „objektiven Religion", da sie ihr Hauptgeschäft der Aufklärung über das „Wirkenwollen durch Verstand" betreibt (GW 1. 94, 102 = N 12, 19).Dieser neu konzipierte Gegensatz läuft nun vornehmlich mit einer Kritik an der verständigen Aufklärung einher, die sich zwar hauptsächlich gegen „objektive Religion" richtet, andeutungsweise aber auch gegen eine zu isolierte „subjektive". Mit der „Volksreligion" als kritischem Movens tritt Hegels pragmatische Aufklärungsabsicht noch deutlicher als bisher zutage. Die Herausbildung einer neuen „Volksreligion" problematisiert er zwar durchaus auch unter dem Aspekt einer reinen Norm der mit Vernunft vereinten Sinnlichkeit, doch ist diese eine Modifikation der praktischen, d. h. auf „Wirkung" bedachten Aufklärungsnorm. Letztlich geht es ihm ja um eine wirkungsvolle Theorie der Aufklärung, eine Theorie, welche die Vernunft des Intellektuellen mit der sinnlichen Phantasie des Volkes verbinden könnte. Gelegentlich blitzt bereits in diesem frühen Fragment der Gedanke einer VerbinDie miteinander kontrastierenden Begriffe „Privatreligion" und „Volksreligion" scheinen in dieser Verbindung von „subjektiver" und „objektiver Religion" aber auch je für sich deren Differenz weiterzuführen. Hegel kennt offenbar auch eine gute und schlechte Form der „Privatreligion" bzw. „Volksreligion". Vgl. dazu Hubertus Busche: Das Leben der Lebendigen. Hegels politisch-religiöse Begründung der Philosophie freier Verbundenheit in seinen frühen Manuskripten. Bonn 1987. (Hegel-Studien, Beiheft 31.) 56 f.

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düng der Vernunftreligion mit sinnlichen „Mythen" auf, der im Ältesten Systemprogramm im Mittelpunkt stehen wird. Die ungezügelte Sinnlichkeit soll durch eine solche Verbindung von Anbeginn zu einer schönen Vernunft animiert werden (vgl. GW 1. 107 = N 24). Hin und wieder steigert Hegel seinen pragmatischen Ton indes allzu sehr ins Verfängliche: so spricht er von religiösen Lehren, die für das Volk „einfach" zu halten sind (vgl. GW 1. 104 = N 21), so konstatiert er im Stile eines Kulturhistorikers, Religion sei in ihren spezifischen sinnlichen Gehalten auf die jeweilige Kulturstufe eines Volkes hin zu adaptieren.Und teilweise wird das Volk, das nach Hegel hin und wieder zum „Pöbel" oder „grossen Haufen" zurückfällt, auch auf der Stufe entwickelter Moralität noch mit einem Residuum des alten Supranaturalismus abzuspeisen sein; ein Stück weit muß es die religiösen Rituale weiterhin auf „Treu und Glauben" befolgen (vgl. GW 1. 96, 107 = N 14, 24). Mit solchen Redeweisen fällt Hegel nur allzu leicht dem pädagogisierenden Hochmut des elitären Aufklärers anheim. Doch immerhin zeigt sich dabei ebenfalls seine produktive Kritik, die am aufzuklärenden Objekt differenziert arbeitet. Nochmals muß die „objektive Religion" nämlich in ihrer Durchdringung mit der „subjektiven" klarer bestimmt werden. Die „objektive Religion" wird in diesem Kontext zwar gegeißelt, doch geschieht dies mit dem Bewußtsein, daß an sie inhaltlich anzuknüpfen ist, sofern eine Subjektivierung — eine Befreiung des Volkes — reüssieren soll. Der gemeine Menschenverstand, durch den sie repräsentiert ist, erscheint zwar als gängiger Topos der „VolksVorurtheile" (GW 1. 95 = N13), doch kommen aufklärerische Religionsprinzipien letztlich ohne seine positive Seite, den „gesunden Menschenverstand", nicht aus, wenn sie einleuchtend sein wollen. Hegels pragmatische Überlegungen ähneln hier den apodiktischen Forderungen Rousseaus an die auf den modernen Staat zugeschnittene „bürgerliche Religion": „Die Dogmen der bürgerlichen Religion müssen einfach, gering an Zahl, klar im Ausdruck, ohne Erklärungen und Auslegungen sein." (Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaßsvertrag. Buch 4, Kapitel 8. 389.) Freilich geht Hegel nicht so weit wie Rousseau, der wiederum auf „positive Glaubenssätze" rekurriert und diese gar unter Strafandrohung durchzusetzen gedenkt. 18 Nicht unerwähnt lassen möchte ich hier die Verwandtschaft von Hegels Ringen um eine ins soziale Leben und in den Alltagsverstand eindringende „Volksreligion" mit den kulturpolitischen Überlegungen eines Antonio Gramsci. Zur Kritik des Alltagsverstandes bei Gramsci vgl. Antonio Gramsci: Marxismus und Kultur. Ideologie, Alltag, Literatur. Hamburg 1983. 75 ff. Eine vergleichende Studie würde hier ein äußerst fruchtbares Feld vorfinden.

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Vieles, was Hegel hier in pragmatischer, gesellschaftsverändernder Absicht reflektiert, hat bereits Methode. Bereits ist so etwas wie eine historisierende Vorstellung von „Volksreligion" zu erkennen. Die Konkretisierung der These, wonach verschiedene Völker ähnlich wie verschiedene Charaktere der Menschen unterschiedlich sinnenvermittelte Religionen haben sollen („Bei sinnlichen Menschen ist auch die Religion sinnlich" (GW 1. 85 f = N 5)) läßt die Fäden einer beginnenden strukturierten Geschichtsphilosophie sichtbar werden. Die griechische Gesellschaft, die alle Gegenstände des Lebens zu verflechten wußte, ist Norm und auch realer historischer Ausgangspunkt des geschichtlichen Verlaufs. Aus ihr heraus zeichnet sich, der geschichtspessimistischen Auffassung Rousseaus ähnlich, eine Geschichte der allmählichen Auflösung und des Zerfalls einer natürlichen Welt ab. Wo die christliche Religion sich mittels Priesterherrschaft zu etablieren versteht, tritt Hegel zufolge eine notwendige „Scheidewand zwischen Leben und Lehre" ein (GW 1. 109 = N 26). Auf die natürliche, sinnliche Religion, die den Menschen überall hin begleitet hatte, folgte eine sinnlichkeitsabgewandte, „frömmelnde" christliche Religion. Hegel beläßt es allerdings nicht bei einem Ideal der bloßen Rückkehr zur natürlichen Religion des griechischen Lebens, mithin bei einem Zustand, der „nur ein schmerzliches Sehnen nach dem Original erwekken" kann (GW 1. 112 = N 29). Aus der Geschichte des Zerfalls heraus vertritt er, wenn auch noch sehr undezidiert und ohne ausgemalte Perspektive, ein Ideal, das das griechische Vorbild mit den Prinzipien der modernen Aufklärung in Einklang zu halten versucht. Das Ideal beschränkt sich größtenteils auf ein Pathos der Freiheit, das vom Griechentum auf die nun wogende Französische Revolution überstrahlt. Neben der Kontrastierung des Griechentums mit dem Christentum ist Hegels historische Anschauungsweise relativistisch. In Anlehnung an Lessings Nathan empfindet er den historischen Glauben als nebensächlich (vgl. GW 1. 92 = N 10). Entscheidend ist allein die „Sache des Herzens", die von mehreren Religionssystemen und auf verschiedenen historischen Stufen realisiert werden kann. Mit seinem stark pädagogisierenden Geschichtskonzept, das die Entwicklung des einzelnen Menschen in die eines Volksgeistes projizieren läßt, knüpft Hegel zudem an eine aufklärerische Denklinie an, die besonders von Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts und Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen geprägt ist. Dabei dürften nicht zuletzt Lessings Wiederaufnahme des Gedankens von

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2. Teil: Hegels Berner Manuskripte

einem „dreifachen Alter der Welt" sowie dessen Eschatologie eines „dritten Zeitalters" für Hegels Geschichtsphilosophie anregend

sein.^^

Was Hegels historisierende Denkweise über diese Schematisierungen hinaus kennzeichnet, ist die beginnende Fundierung der „Volksreligion" im Politischen. Es geht ihm um die empfindsame Moralität eines Menschen, der prinzipiell in den staatlichen, sozialen Bereich eingelassen ist. Diesen Aspekt der „Volksreligion" deutet er mit dem Begriff des Geistes, bestimmter: des „Geists einer Nation" oder „Geist des Volks" an (GW 1. 86, 109, 112 = N 5, 26 f). Offenbar läßt sich Hegel in dieser Bezeichnung von Montesquieus Verständnis von einem Geist, der die Gesetze umgibt, leiten. Dabei verwendet er den Begriff des Geistes noch deutlicher als Montesquieu auch im Sinne einer geordneten Struktur, einer Ganzheit oder Totalität des gesellschaftlichen Lebens, die sich über ihre verschiedenen Momente konstituiert. 20 Der Geist des Volkes ist nachgerade der den Zusam-

Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts. Werke, Bd 8. §§ 88 f. 508 f. 20 Montesquieu verwendet den Begriff „Geist der Gesetze" in der Regel zur Bezeichnung einer inneren Struktur oder eines Bezugs von Gesetzen oder Dingen: „Dieser Geist steckt in den verschiedenartigen Bezügen, in denen die Gesetze zu den verschiedensten Dingen stehen können." (Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. Buch 1, Kapitel 3. 102.) Wenn von einem „Gemeingeist" oder dem „Geist der Nationen" die Rede ist, so bezeichnet dagegen Geist weniger eine Struktur denn ein „Ergebnis" der verschiedenen Dinge: „Mehrere Dinge regieren die Menschen: Klima, Religion, Gesetze, Staatsmaximen, Beispiele aus der Geschichte, Sitten, Lebensstil: Aus all dem bildet sich als ihr Ergebnis ein Gemeingeist." (Ebd. Buch 14, Kapitel 4. 288.) ln dieser Variante ist Montesquieus Ansatz eine Art Vorform des Marxschen Basis-ÜberbauTheorems (vgl. dazu Kurt Weigand: Montesquieu und die höhere Gesetzlichkeit. Einleitung in ebd. 64), allerdings darf hier „Geist" nicht allzu simpel als Produkt einer materiellen Grundlage begriffen werden: „Ich behaupte durchaus nicht, daß etwa das Klima Gesetze, Sitten und Lebensstil dieser Nation großenteils hervorgebracht habe, sondern lediglich, daß Sitten und Lebensstil dieser Nation in innigem Bezug zu ihren Gesetzen stehen müßten." (Montesquieu: ebd. Buch 19, Kapitel 27. 306.) — Haering hat die Meinung vertreten, Hegel übernehme zwar von Montesquieu den „Namen", aber kaum den „Gedanken". Hegel habe ein Volksganzes im Auge, das in seine verschiedenen Seiten auseinanderlegbar sei, während Montesquieus Geistverständnis das Resultat oder Produkt von mehreren einzelnen Seiten darstellen wolle (vgl. Theodor Haering: Heget. Bd 1. 93 ff). Mit dieser Einschätzung vernachlässigt er jedoch gerade das Bezugs-Moment, das bei Montesquieu wie bei Hegel vorhanden ist. — Zu Hegels möglicher Anlehnung an Herder und die historische Rechtsschule im Falle des Begriffs des „Volksgeistes" siehe ferner Theodor Haering: ebd.; sowie Norberto Bobbio: Hegel et l'ecole du droit naturel.

B. Subjektivierung der „objektiven Religion'

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menhang stiftende Bereich des Ganzen, dessen einzelne Teile nicht sinnvoll isoliert zu betrachten sind: „Geist des Volks, Religion, Grad der politischen Freiheit — lassen sich weder nach ihrem Einflüsse aufeinander noch nach ihrer Beschaffenheit abgesondert betrachten — sie sind in ein Band zusammenverflochten — wie von 3 Amtsbrüdern keiner ohne den andern etwas thun kan, jeder aber auch vom andern etwas annimmt..." (GW 1. 112 = N 27) Diese Ganzheitsvorstellung beinhaltet eine klare methodische Anleitung zur Analyse des Gegenstandes der „Volksreligion", zugleich ist sie aber auch als Imperativ, als Norm eines zu realisierenden Gegenstandes zu nehmen. Die Ausführungen über die „Volksreligion" finden ihren Abschluß im Posfulat einer Freiheit des Volkes. Hegel malt sie rousseauistisch aus: als selbstbewußte Tätigkeit im eigenen „Häuschen", das selbst gebaut worden ist — in scharfem Kontrast zur Tätigkeit am zusammengesetzten Bau eines Hauses, der dem einzelnen Tätigen als heteronomer „Pallast" erscheinen muß (vgl. GW 1. 99 = N 17). Freiheit, auch wenn sie nun auf das einzelne Selbst hinauswill, ist aber gerade nicht sinnvoll zu denken ohne den Rekurs auf ihre Geschichte und politische Grundlage, schließlich nicht ohne ihre Bindung an eine mit Vernunft vereinte Natur. So neigt denn Hegel dazu, Freiheit nicht bloß als Befreiung von einer unvernünftigen Natur, sondern auch als Zuwendung zu einer auf Vernunft hin befragten Natur zu interpretieren. Ein schicksalhaftes Gebundensein an die Natur ist ihm zuweilen gar notwendige Bedingung der Freiheit, so etwa, wenn er den sittlichen Wert der griechischen goigd heraushebt, eine Achtung vor dem „Strome der Naturnothwendigkeit" (GW 1. 106 = N 23), die aller gemeinen Weltflucht widerstehen soll.

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B. Subjektivierung der „objektiven Religion" — Die Berner Fragmente bis Ende 1794 1. Die Kritik der christlichen Religion Hegels Berner Fragmente von 1793/94 (GW 1. 115—164 =N 30—71, 359 f)i sind leitmotivisch noch stärker als die Tübinger Denkversuche durch die Bemühung um eine Fundierung einer in die Praxis eingreifenden „Volksreligion" gekennzeichnet. Das Augenmerk liegt ganz auf der christlichen Religion, die im einzelnen kritisch ausdifferenziert, teils verworfen, teils in neu konzipierter Form zu retten versucht wird. Hegels Kritik am Christentum ist nun eindeutig schärfer, ausgefeilter, und wo es ausdrücklich gegen die Ideologen des Christentums — „die Champions der Orthodoxie" (GW 1. 121 = N 359) — geht, ist sie als sublime Polemik am Werk. Das Tübinger Vereinigungsdenken tritt als Problembereich merklich hinter diese Kritik zurück. Aus Hegels Theorie einer praktischen Veränderung kristallisieren sich Ansätze zu einer praktischen Theorie, einer Theorie, die auf ihre tatsächliche Realisierung hinauswill.

a) Ohnmacht und konservierende Macht des Christentums ln der Auseinandersetzung mit der historischen Rolle, die das Christentum in bezug auf die Moralisierung und Emanzipation der Völker de facto gespielt hat, beurteilt Hegel die Aufklärung und den progressiven Gang der Wissenschaften nun positiver als im vorangehenden Fragment. Nicht die christliche Religion war hierzu, wie sie prätendiert, das entscheidende Movens, sondern die Philosophie^

1 Zur Datierung und Chronologie der Berner Fragmente siehe die Studie von Gisela Schüler: Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften. In: Hegel-Studien. 2 (1963), 111 — 159, deren Ergebnisse auch der neuen Edition der Frühen Schriften (GW 1) zugrundeliegen. — Wichtig ist hier festzuhalten, daß der Übergang von den Tübinger zu den Berner Fragmenten fließend, im Text nicht exakt feststellbar ist. Erst ab GW 1. 115 = N 30 läßt sich mit Sicherheit von Berner Fragmenten reden. Vgl. dazu den Editorischen Bericht von Friedhelm Nicolin (GW 1. 469, 475 f). 2 Hegels religionskritische Haltung bewegt sich hiermit in einer Strömung, die neben Kant wiederum wesentlich auf Spinoza zurückgehf. Man denke vor allem an Spinozas Trennung zwischen einem Glauben, der auf „Gehorsam" und „Frömmigkeit" beruht, und der philosophischen Vernunft, die auf Begründung und mithin

B. Subjektiviemng der „objektiven Religion'

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und die Wissenschaften. Hegel fragt deshalb rhetorisch: „Wo hat man vor einer glüklichen Veränderung in dem Gange der w^issenschaftlichen Kultur eine Veränderung in den Religionsbegriffen vorhergehen gesehen, von welcher jene bewirkt worden wäre — hat nicht vielmehr Erweiterung der Wissenschaften — der Prüfungsgeist in denselben Aufklärung der theologischen Begriffe immer erst nach sich gezogen, und zwar unter der möglichsten Entgegenstimmung der Verwahrer dieser Begriffe ..." (GW 1. 122 = N 360) Was Hegel im folgenden generell anspricht, ist die faktische historische Ohnmacht der christlichen Religion, die sich stets kaschiert durch ihr Versprechen, die reine Lehre zu konservieren und sie sodann zum Zwecke der moralischen Besserung der Menschen anzuwenden. Ihre Streitbarkeit und Wirksamkeit hat sich damit vor allem in den Bereich der Querelen um angeblich verbesserte „Kompendien" verlagert. Nicht daß die christliche Religion dabei ein völlig machtloses Gebilde geworden wäre, versteht sie es doch nur allzu gut eine Macht im Sinne der Akkommodation ans Bestehende auszuüben. Und diese erstreckt sich — wie Hegel durchgängig zeigt — von der feinsten Disziplinierung im Wortstreit bis zur greifbaren Legitimation der Macht durch ihre Standesvertreter und zur handfesten Verstrickung in die sogenannte weltliche Macht. Hierzu wiederum die rhetorische Erage Hegels: „Hat sie sich dem Despotismus widersetzt?" (Ebd.) Machtlos ist sie aber offenbar dort, wo sie zu einer freien „Volksreligion" werden sollte. Von Grund auf ist die christliche Religion — darauf kommt Hegel noch ausführlicher zu sprechen — mit Eigenschaften des Abgesonderten, Privativen versehen, und deshalb kommt sie in ihrer extensiven Praktizierung der Gemeinschafts-Ideologie eines privaten Standes sehr zupaß.^ Sie entpuppt sich dabei als weitabgewandte Haltung, die sich immer verdoppeln, das äußere Private in eine innere gesellschaftliche Form des Privaten transformieren muß. Dezidiert greift Hegel diese Doppelgestalt an, wenn er auf die letztliche Unvereinbarkeit von christlichen Geboten und Prin-

„Wahrheit" aus ist. Die Philosophie wird für die Theologie zum Maßstab. Vgl. Spinoza: Theologisch—Politischer Traktat. Kapitel 14 und 15. 3 Zum Verständnis einer Kritik der christlichen Religion als Kritik der Privation kann Hegel ebenfalls auf Spinoza (ebd. Kapitel 19) zurückgreifen. Wichtig ist hierfür freilich auch Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag. Buch 4, Kapitel 8. Besonders 382 ff.

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zipien der (bürgerlichen) Gesellschaft aufmerksam macht (vgl. GW 1. 129, 133 f = N 41, 44). Damit dieses weltlich-überweltliche Wesen christlicher Religion sich aufrechterhalten kann, ist es auf eine weltliche Herrschaft angewiesen, die es entweder selbst repräsentiert oder mit der es die nötigen Kompromisse schließt. Die Geschichte des Christentums ist denn auch die Geschichte seiner Verstrickung in weltliche Herrschaft, die auch diese sonderbar pervertiert hat. Hegel betrachtet dabei innerhalb des Zusammengehens von kirchlicher und weltlicher Herrschaft nicht bloß dieses sonderbare Produkt, sondern auch den Gegensatz beider Mächte, ihr Ringen um die Vorherrschaft. Die kirchliche Herrschaft gebärdet sich in diesem Ringen äußerst listig, versucht sie doch, den Kampf mit ihren Gegnern durch eine Angleichung an diese post festum zu vollziehen, indem sie die Errungenschaften der Gegner als die eigentlich ihren reklamiert. Diese List allerdings schlägt nur zu leicht in eine List gegen kirchliche Herrschaft selbst um. Indem sie die Errungenschaften ihrer Gegner listig annimmt, wird sie selbst in deren Fänge verstrickt. Hegel vergleicht ihr Vorgehen mit einem General, „der am Abend des Treffens das Schlachtfeld noch inne gehabt und die blasenden Postillions seinen Sieg in der Hauptstadt verkünden lies und dem Pöbel dabei imponirt, der beruhigt Te deum anstimmt, — doch oft nicht der eigentliche Sieger ist, sondern durch die folgende Räumung der Gegend sich verräth ..." (GW 1. 121 = N 359 f) b) Staat und christliche Religion Aber nicht nur von Philosophie und Wissenschaft ist die christliche Religion als historisches Movens abhängig, sondern auch von weltlicher Herrschaft, mithin vom Staat. Hegels Überlegungen kreisen um eine Denkweise, die historisch-materialistisch anmutet: Der Fortschritt zur Freiheit und Moralität kann nicht erfolgen, ohne daß das materielle Fundament, Staat und Gesellschaft, verändert und mit diesen Idealen in Einklang gebracht wird. Er geht hier zwar nicht auf die genauere Struktur des modernen bürgerlichen Staates ein, jedoch erstmals prägnant auf die Machtfunktion des Staates. Wenn Hegel bemerkt, „wie wenig die objektive Religion für sich ohne korrespondirende Anstalten des Staats und Regierung — ausgerichtet hat" (GW 1. 127 = N 39), so ist dies nicht als bloße Anklage gegen ein Christentum zu verstehen, das alle Greueltaten der Geschichte legiti-

B. Subjektivierung der „objektiven Religion'

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miert hat^, oder als simple Klage über die Indienstnahme christlicher Religion durch die weltliche Herrschaft, sondern als Faktum geschichtlicher Entwicklung. Staat und Regierung sind nach Hegel eben notwendige Momente des Ganzen eines Volksgeistes oder der „Volksreligion", Momente, die selbst an der Moralität teilhaben. Im Staat sieht Hegel demnach auch eine Macht, welche die Realisierung der Moralität übernehmen soll. Er postuliert geradezu, die Subjektivierung der „objektiven Religion" solle „das große Geschäft des Staats seyn ..." (GW 1. 139 = N 49) Der Staat ist somit Machtmittel, doch beläßt es Hegel hier nicht bei einem funktionalen Machtverständnis; der Staat selber soll nämlich mittels „Verfassung" und „Geist der Regierung" auch je schon moralisch zielhaft agieren. So müssen sich die Anstalten „mit der Freiheit der Gesinnungen vertragen, dem Gewissen und der Freiheit nicht Zwang anthun, sondern indirekte auf die Bestimmungsgründe des Willens wirken ..." (Ebd.) Der Staat fällt zwar mit dem Ziel der Moralität nie völlig zusammen, denn letztlich stößt er an die Grenze, wo diese jedem Menschen selbst überlassen werden muß.® Als Beförderer der Moralität hat er aber Teil am Ziel der Moralität. Damit stellt sich Hegel dezidiert gegen ein Verständnis des Staates als eines Maschinenwerks oder eines Organs der Legalität. Nur wenn er sich dieser Funktion entledigt, kann freie Moralität sich entwicklen; erst dann wäre auch die Religion (samt ihren Anstalten) frei von ihrer Abhängigkeit von weltlicher Herrschaft im instrumenteilen Sinne, sie hätte ihre „eigne wahre selbständige Würde erhalten . . ."(GW 1. 164 = N 71) Religion wäre hier ihres eigenen Unvermögens enthoben. Zweifelsohne resultiert diese Auffassung Hegels aus der virulent gewordenen Erfahrung über das leichtfertige Zusammenspannen von Staat und Religion („Religion und Politik haben unter einer Decke gespielt" B I. 24). Bei einer Kritik des Christentums ist für ihn * Hegel kritisiert die christliche Religion nicht mittels gemeinplätziger Hinweise auf die Untaten christlicher Herrschaft; nur moralische Empörung wäre fehl am Platz, würde der politischen Geschichte des Christentums wenig gerecht (vgl. GW 1. 128 = N40). 5 Die Subjektivierung „objektiver Religion" ist an dieser Stelle eine Art Gratwanderung zwischen staatlicher Einflußnahme und Freiheit, die dem einzelnen Menschen zuerkannt wird (vgl. GW 1. 139 = N 49). Zweifellos ist Hegel in dieser Problematik von Humboldts ein Jahr zuvor verfaßten Überlegungen über eine mögliche Beförderung von Religion und Moral durch den Staat angeregt worden. Vgl. Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Besonders 75-98.

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daher der christliche Staat ein unabdingbarer Verhandlungsgegenstand. In Abgrenzung davon entspringt schließlich seine positive Einschätzung eines politischen und moralischen Staates, der das Verhältnis von Politik und Religion neu bestimmt.^ c) Geschichte als darstellende Kritik der christlichen Religion Mit der schärferen Kritik an der christlichen Religion gewinnt neben dem Einbezug von Philosophie, Wissenschaft und Staat die historische Betrachtung des ganzen Phänomens an Bedeutung. Hegel erörtert historische Entstehungszusammenhänge und Entwicklungsmuster, erwägt Möglichkeiten einer Tradierung vergangener Volksphantasien für die aktuelle Situation. Ein objektiviertes Geschichtsmodell tritt noch nicht hervor, ebensowenig sind einzelne historische Bruchstücke systematisiert. Was beim späten Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte unter dem substantialisierten Plan der Vernunft fixiert ist (vgl. WW 9. 11 ff), liegt hier noch als Sammelsurium von Gedankensplittern vor. Zum einen historisiert Hegel die christliche Religion, indem er nach der Rolle und Funktion der Person Jesu, nach dessen Auseinandersetzung mit den „verkehrten und unmoralischen Begriffe(n) der Juden" fragt (GW 1. 121 = N 359) (1). Zum anderen, indem er den „Kindessinn", der in aller Religion nach wie vor stecken soll, problematisiert. Daraus ergibt sich nicht zuletzt die Frage nach einer geschichtsphilosophischen Periodisierung vernünftiger Religion (2). (1) Die Person Jesu, die Hegel bald ausführlicher und tiefgreifender beschäftigen und berühren wird, ist ihm so etwas wie ein Prüfstein für die Qualifizierung des Christentums im Hinblick auf eine mögliche „Volksreligion". Die Person Jesu steht bei ihm ganz im Zeichen der These von dem privaten Charakter seiner Lebensweise und Religion. Zwar evoziert die Lebenshaltung Jesu den Idealtypus einer reinen personifizierten Moralität, somit Hegel zufolge eines Aktes der „subjektiven Religion". Denn Jesus setzt einen inneren, subjektiven Glauben gegen die abstrakte Gesetzlichkeit der jüdischen Reli® Hegel vertritt damit eine ähnliche Forderung nach politischer Emanzipation des Staates wie später der Linkshegelianer Bruno Bauer. Der Staat als wirklich politischer Staat ist nur über die Befreiung von dem System der christlichen Religion möglich. Vgl. dazu David Mc Lellan: Die Junghegelianer und Karl Marx. München 1974. 80 ff.

B, Subjekt!Vierung der „objektiven Religion"

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gionspraxis (vgl. GW 1. 129, 147 f = N 41, 56). Doch ist für Hegel hier der Umstand ausschlaggebender, daß die Grundsätze der Lehre Jesu nur der Bildung „einzelner Menschen" angemessen sind, somit deren Anwendung im Großen zu „absurden Konsequenzen" führt. Jesus repräsentiert zwar etwas Allgemein-Menschliches, das jeden Einzelnen betrifft; dieses allgemeine Einzelne ist aber ein inneres, abgesondertes, das sich jenseits des Gemeingeistes herausgebildet und den gesellschaftlichen Verhältnissen „entschlagen" hat. Zu diesem inneren Allgemeinen kommt als Kehrseite ein äußeres abstrakt Allgemeines hinzu, eine Art äußeren Zeichens der Abgespaltenheit. Hegel sieht ein Beispiel dieser Beziehung des Allgemeinen in der Bildung der Jüngerschaft Jesu, die sehr bald rituelle Form angenommen hat: „Christus hatte 12 Apostel, die Zahl 12 war eine feste, bleibende Zahl..." (GW 1. 117 = N 32) Dem Mißverständnis, die Aussendung seiner Lehre über ein „äußeres Zeichen" vorzunehmen, wurde damit wesentlich vorgearbeitet. Und ein „äußeres Zeichen" schwächt nur allzu schnell die Moralität und zieht „Sektirerei" und „Entfernung von andern" nach sich (GW 1. 118 = N 32).^ Schließlich wagt sich Hegel gar zur Behauptung vor, daß bereits in den Wurzeln der christlichen Lebensform und Lehre eine Anlage zu einer Religion, die „General- und Hofmarschallstellen" zu vergeben hat, vorhanden sei. Der positive Gegenpart zur Person Jesu ist Sokrates. Dessen Moralität hatte sich von den sozialen Verhältnissen nicht entfernt; und die Prinzipien seiner Lehre waren weder an eine feste Anzahl von Jüngern gebunden, noch waren diese gezwungen, ihr bürgerliches Leben aufzugeben (vgl. GW 1. 118 f = N 33 f). An anderer Stelle fragt Hegel eingehender danach, was die Person Jesu als historische Person denn eigentlich zum Spezifikum religiöser Attraktion erhebt. Die Reinheit der Moralität allein kann es nicht sein, denn hier kämen Sokrates, aber auch andere historische Persönlichkeiten als gleichwertige Kandidaten in Frage. Das Spezifikum Jesu macht Hegel am Ende an der „Beimischung" des „Göttlichen" seiner Person fest. Jesus ist gleichsam ein menschlich-übermenschliches Tugendideal, das „kalte

^ In der Verschmähung äußerlicher Glaubenszeichen wird Hegel stets wieder zum Vertrauten Lessings. Sittahs Antwort im Nathan auf die Rechthaberei der Christen — „Um den Namen, um den Namen /Ist ihnen nur zu tun" {Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Werk,e. Bd 2. 238) — könnte als kritisches Leitmotiv Hegels gelten (vgl. auch GW 1. 152 = N 60).

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Abstraktum" der Tugend ist in ihm verlebendigt, individualisiert; in Jesus erscheint die „makellose, doch nicht entkörperte Tugend" (GW 1. 149 = N 57). Sokrates indessen kennt dieses individualisierte „Göttliche" nicht, denn an ihm finden sich stets die weltlichen Spuren eines Kampfes, über den er sich zur Reinheit der Moralität emporgerungen hat. Doch die Einschätzung der Person Jesu bleibt trotz dieser scharfen Kontrastierung ambivalent. Einerseits hält Hegel der religiösen Ausstrahlung Jesu das Moment der Versinnlichung des abstrakten Moralitätsprinzips zugute, andererseits ist ihm daran offenbar das phantastisch Sinnliche besonders dort, wo es für sich genommen wird, verdächtig. Letztlich ist dieser phantastische göttliche „Zusatz" an der Person Jesu nämlich mit dem mißlichen Umstand verbunden, daß alle Nachahmung des Moralischen durch die Unmöglichkeit, sich diesem Ideal „anzunähern", hochstapeln oder resignieren muß. Auch das versinnlichte reine Ideal ist vor falschen Abstraktionen nicht gefeit. Hegel konzipiert deshalb ein Ideal, das auf Immanenz angelegt ist. Der übersteigerten Nachahmung hält er entgegen, daß ein „guter Nachahmer" selbst „ein Stük von einem Original seyn mus" (GW 1. 149 = N 58). Die ambivalente Haltung Hegels in seiner Kritik der Person Jesu hängt wohl, im größeren Kontext gesehen, damit zusammen, daß er nun akzentuierter als im Tübinger Fragment die reine Moralität gegenüber dem mysteriösen Sinnlichen geltend macht, dabei aber nach wie vor die Versinnlichung der Religion ein gewichtiges Desiderat bleibt. So sieht er sich nun gezwungen, ein phantastisch Sinnliches von einem moralisch Sinnlichen abzugrenzen. Diese scharfe Abgrenzung macht er allerdings sogleich wieder rückgängig, wenn er das phantastisch Sinnliche zugleich als historische Stufe betrachtet und als verlorenen „Kindessinn" des Religiösen betrauert. (2) Den Gegensatz dieser Sinnlichkeiten über eine Darstellung historischer Entwicklungsstadien aufzuheben, drängt sich für Hegel im folgenden geradezu auf. Mit der Rede vom „Kindessinn" in der Religion ist ein erster Denkansatz historischer Darstellung gegeben. Hegel spricht vom „Kindessinn" in der Religion zum einen unter dem Aspekt der historischen Ungleichzeitigkeit, nämlich der Existenz von vergangenen religiösen Gehalten. Diese können sich beispielsweise als Überreste in den modernen Religionssystemen konservieren: „Die Staatsverfassungen, Gesezgebungen und Religionen der Völker tragen lange noch Spuren ihres ursprünglichen kindlichen Geistes an sich, auch wenn dieser schon längst verflogen

B. Subjekt!vierung der „objektiven Religion'

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ist." (GW 1. 123 = N 36) Den „Kindessinn" bezieht Hegel dabei speziell auf einen Gemeinschaftszustand, in dem die Gewalt in den Händen eines Einzigen liegt, etwa dem Falle, wo die väterliche Gewalt auf den Fürsten eines Volkes übertragen worden ist. In dieser Situation ist das „kindliche Vertrauen" leicht zu mißbrauchen, so daß mit dem erwachenden Bewußtsein der Freiheit der Ruf nach Einschränkung der Gewalt des Einzigen durch Gesetze ertönt. Unter dieser Optik entspricht der „Kindessinn" für Hegel eindeutig dem Verständnis der „objektiven Religion" oder Herrschaftsreligion. Nun versucht er mit der Reflexion über die Ungleichzeitigkeit des „Kindessinns" stets auch, diesen selbst als historisches Stadium in seiner ursprünglichen lebendigen Einfalt festzuhalten. Dies gelingt freilich nur, wenn der gegenwärtige Geist ihn retrospektiv, als tatsächliches historisches Stadium anerkennt und ihn nicht als leere Hülse oder schlechten Mythos abtut. Unter diesem Blickwinkel mag der „Kindessinn" zwar nach wie vor dem Standpunkt der vernünftigen Moralität widersprechen, doch ist er nun für sich gesehen aufzuwerten; er besticht durch die der Vernunft fehlende Sinnlichkeit und Phantasie, enthält durchaus Potentiale, auf die „subjektive Religion" angewiesen ist. Dem Geiste erscheint er jedenfalls als „erhaben" und „rührend" (vgl. GW 1. 124 = N 37). Der geschichtliche Blick läßt nun nicht bloß diese Gehalte der Sinnlichkeit besser erkennen, versöhnt er doch auch in starkem Masse Vernunft und Sinnlichkeit bzw. verschiedene Formen der Sinnlichkeit. Dem Standpunkt der unhistorisch denkenden Vernunft erscheint das kindliche Stadium als etwas Ausgeschlossenes und historisch Abgeschlossenes, der historisch denkenden — und damit immer auch zu versinnlichenden — Vernunft erscheint es als ihre eigene noch unvernünftige Gestalt. Die zu versinnlichende Vernunft bedauert den Verlust natürlicher Einfalt, die Schwächung der „Empfindungen" und „rührende(n) Associationen der Einbildungskraft", welche die bloße Vernunft bewirkt hat (ebd.). Sie versucht über das historische Kontinuum eine Versöhnung zu erreichen. Die Versinnlichung der Vernunft wird als Prozeß der Sinnlichkeit auf Vernunft hin konzipiert. Die vernünftig werdende Sinnlichkeit zeigt sich an dieser Stelle bereits als rudimentäre Geschichtsphilosophie. Eine Periodisierung der Völker beginnt sich abzuzeichnen. Die vierstufige Einteilung, die beim späten Hegel den gesicherten Gang der Weltgeschichte abstekken wird (vgl. WW 9. 103—107), läßt hierfür einen durchaus interessanten Vergleich zu. Der Einfluß der Herderschen Entwürfe zu einer

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den Menschenaltern gemäß periodisierten Geschichte ist dabei unübersehbar. Sowohl in diesem Stadium wie auch in der späteren Geschichtsphilosophie ist Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit prägend.^ Unter dem Stichwort des „Kindessinns" der Religionen und Verfassungen tauchen im vorliegenden Text Hegels bereits die „Fürsten des Orients" auf (GW 1. 123 = N 36), freilich noch nicht so eindeutig in ihrer despotischen Rolle wie in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichtet Die Griechen, die später dem Jünglingsalter entsprechen, durchziehen thematisch und auch vom Pathos her eigentlich den ganzen Text; Hegel idealisiert sie in ihrer historischen Realität und zugleich normbildenden utopischen Kraft hier noch stärker als später. Die Römer schließt Hegel zwar in der Regel nahe an das griechische Tugendideal an, doch macht er gelegentlich die Differenz, die nun die „saure Arbeit des Mannesalters der Geschichte" (ebd. 105) setzt, einsichtig. Die Römer kennen nur „Eine Tugend", nämlich jene, die mit der Natur ihres Staates verknüpft ist und damit etwas Äußerliches, Objektives an sich hat: „es gab nur Römer in Rom, keine Menschen" (GW 1. 117 = N 31). Der größte Unterschied, ja das völlig Konträre zur späteren Geschichtsphilosophie liegt in der Geschichte des Christentums. Jener Abschnitt des Geistes, der in der Apotheose des mit sich versöhnten christlich-germanischen „Greisenalters" endet, ist dem Berner Hegel eine Geschichte der Entzweiung; und er beschreibt sie fast im Stile des seine spätere Antiquiertheit ironisierenden Diktums des jungen Marx, wonach die Römer die „Rationalisten" und die christlichen Germanen die „Mystiker des souveränen Privateigentums" gewesen sein sollen.Die Geschichte des Christentums ist für ® Vgl. Herder: Sämtliche Werke. Bd 5. 457 ff. — Herder beginnt seinen „Gang Gottes über die Nationen" im kindlichen Orient, zieht weiter zum griechischen Jünglingsalter und römischen Mannesalter. Darauf folgt eine scharfe Zäsur, der kulturlose „neue Mensch" des Nordens tritt in die Geschichte ein. Erst die durch die Reformation geläuterten Christen sollen in der neuen Zeit zur Aufklärung des Geistes und der Humanität beigetragen haben. ^ Vgl. dazu auch die von Rosenkranz mitgeteilten Fragmente historischer und politischer Studien, in denen Hegel ausführlicher auf den „Geist der Orientalen" eingeht (Dok 256 ff). Hier kommt weit deutlicher der despotische Charakter der Orientalen zum Zug; Hegel schildert ihn als Geist roher Entgegensetzung, in dem tote Ruhe und verwirrendes Wechselspiel bloßer Mannigfaltigkeit miteinander kontrastieren. So läßt er die Sklaverei bei den Griechen unerwähnt. Der spätere Hegel wird dies dahingehend korrigieren, daß bei aller „schönen Ereiheit" eben tatsächlich nur „Einige" frei gewesen sein sollen (vgl. WW 9. 21 f, 104 f). Vgl. MEW 1. 313.

B. Subjektivierung der „objektiven Religion

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Hegel grundsätzlich Geschichte des Zerfalls, der Partikularisierung — der tiefen Entzweiung. Er zeichnet einen Geschichtsverlauf nach, der mit der verinnerlichten Privatreligion der Person Jesu anhebt und mit dem privativ-gesellschaftlichen Herrschaftssystem der christlichen Orthodoxie, der Priesterherrschaft, seinen konsolidierten Fortgang nimmt. Die Geschichte des Christentums zeigt schon früh die Spuren einer Kirchenzucht, die in der Folge „empörendste Auswüchse von Gewaltsamen Einrichtungen und Bethörungen der Menschheit veranlast..." (GW 1. 131 = N 42). Die „Reformatoren" haben an diesen Zuständen wenig geändert, im Gegenteil: sie haben die ganzen Verkehrungen der christlichen Religion qua Verweltlichung noch vervielfacht und perfekter verschleiert. Das Christentum wurde nun der weltlichen Macht unterworfen, ohne daß bei aller Bemühung um einen Rekurs auf eine reinere christliche Moralität der Unterschied zwischen einer „Volksreligion" und einer nach „privatGesetzen" regierten „partiellen Gesellschaft" problematisiert worden wäre. Die Kirche als „sfatus in statu“ wurde nicht angetastet, sondern unter dem Vorwand der Entstaatlichung verfeinert. So benahm Luther den Geistlichen die Macht, „durch Gewalt und über die Beutel zu herrschen", nicht aber die Macht über die „Meinungen" (ebd.). Damit entsteht eine Verweltlichung des Christentums, die sich von einer instrumenteilen Verstaatlichung nicht real emanzipieren kann. Im Zusammenspiel von religiöser und weltlicher Macht hat sich unter dem Vorzeichen einer moralisierten Religion faktisch lediglich das Kräfteverhältnis verändert. Gerade in diesen letzten Punkten wird der späte Hegel seine gravierendsten Umdeutungen und Akkommodationen vornehmen. Er wird nicht nur die „christlich-germanische Welt" rehabilitieren, sondern gerade auch die Reformation als das Vorbild der Aufklärung hinstellen. Sie ist ihm dann — im Gegensatz zur Französischen Revolution — ein Ereignis, das die adäquate „Beruhigung über die sittliche und rechtliche Wirklichkeit" (vgl. WW 9. 439) bewirkt hat und deshalb für die letzte Stufe der Weltgeschichte ausschlaggebend sein soll. Hegels weltgeschichtliche Gedankensplitter entbehren, was die künftige wie die vergangene Geschichte betrifft, jeglicher Eindeutigkeit. Ein sich selbst explizierender, befriedigter Weltgeist ist in weiter Ferne, und die Vorstellung eines Völkeraufstiegs zu Vernunft und Freiheit vermischt sich merklich mit einer Geschichte des Niedergangs. Der historische Weg zur Vernunft vollzieht sich nicht ohne die historische Last ihrer Entfremdung. Hierin scheint er sich in vie-

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lern an Rousseaus Gedanken über den gesellschaftlichen Sündenfall in der Geschichte, der den Ausgang aus dem befriedeten Urzustand markiert, anzulehnend^ Im Zusammenhang mit dem „Kindessinn" der Religionen erörtert Hegel nämlich einen weiteren Aspekt, der noch nachdrücklicher die vorzüglichen Qualitäten dieser Seinsweise heraushebt, ln diesem historischen Zustand des Geistes ist es durchaus möglich, daß die „Einfalt der Sitten" bei einem Volke noch „allgemein" ist (GW 1. 125 = N 38), die Religion dem ganzen Volke, mitsamt Priestern und Fürsten, als gleicherart heilig gilt. Konkrete Gestalten dieses frühen Zustandes sieht Hegel im „Glük der Südseeinsulaner" und in der Lebensweise der „Peruaner vielleicht vor dem Streite Athahualpa's und Huaskar's ..." (ebd.). Den Verlust dieses „Geists der Einfalt" bringt er daraufhin in Verbindung mit der sich verfestigenden sozialen Absonderung, die für die Freiheit gefährlich ist, „weil es einen esprit de corps geben kan, der bald dem Geist des Ganzen zuwider wird" (ebd.). Hegel verfolgt damit die Dynamik einer Absonderung und Widersprüchlichkeit in einem Volksganzen anhand des Problems der Herausbildung von „Ständen" und „Klassen". Diese nämlich ordnen religiöse Rituale an, werden dem zuvor übergeordneten Mysteriösen nun „teilhaftig", das Volksganze seinerseits wird „ein Haufe, dem seine Führer heilige Empfindungen abloken ..." (ebd.). Mit dieser Absonderung ist eine Entäußerung der Freiheit, eine Geschichte sozialer Herrschaft in Gang gesetzt, für die die christliche Religion die geeignete ideologische Struktur anbieten wird. Die genaueren historisch-chronologischen Zusammenhänge sind Hegel hier offenbar unwichtig, zentral ist ihm das historisch-gesellschaftliche Movens der Absonderung. An diesem Punkt trifft er sich auch genauer mit Rousseaus Gedanke über die Trennungsprozesse im politisch-religiösen Bereich, die zugleich als Bekanntlich bewertet Rousseau jeden Schritt über das „Jugendalter der Welt" hinaus als den fortschreitenden „Verfall" des Menschengeschlechts. Die entscheidende Wende zum Schlechten sieht er im sozialen Tausch von Überschüssen und, auf der Ebene der Produktivkräfte, in der Metallbearbeitung und im Ackerbau (vgl. Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. 100 f). Mit dieser Anlehnung an Rousseau übernimmt Hegel naturgemäß gewisse konservative Tendenzen, die in dieser pessimistischen Geschichtsphilosophie stecken. Allerdings leistet diese Art eines Konservatismus immer auch eine produktive Kritik an der feudalen und der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft und enthält zudem ja, was die politische Willensbildung betrifft, klare antikonservative Impulse. Vgl. dazu bring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Frankfurt a. M. 1975. 15 ff.

B. Subjektivierung der „objektiven Religion'

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Zersetzung des antiken Gemeinschaftsideals zu diagnostizieren sind. Rousseau beschreibt darunter eine horizontale Aufsplitterung politisch-religiöser Systeme: die Vielzahl der Götter proportioniert der Vielzahl der Völker. Die horizontale Aufsplitterung hat jedoch bereits eine vertikale zur Grundlage, die mit der allmählichen Identifikation der Götter mit den weltlichen Herrschern einhergeht und mit der Abtrennung des politischen vom religiösen System ihren Kulminationspunkt erreicht. Rousseau antizipiert vom Konzept her gerade an dieser Stelle am deutlichsten Hegels kritische Sicht über die Genese des Christentums. Die vertikale Trennung ist faktisch nicht ablösbar von der Geschichte des Christentums. Das geistige Reich Jesu hebt das theologische System vom politischen ab, zerstört damit die alte Einheit des Staates, was schließlich jene „inneren Spaltungen" hervorrief, „die nie mehr aufgehört haben, die christlichen Völker zu erschüttern". Hegel teilt mit Rousseau die Vorstellung einer Entfremdungs- oder Verfallsgeschichte; beiden ist auch die Entgegensetzung von Partikulärem und Ganzem zur Erklärung sozialer und religiöser Herrschaft zentral. Doch ist das Hegelsche Geschichtsbild generell gesehen weit komplexer als jenes von Rousseau, da wie erwähnt auch eine etwas verkappte Aufstiegsgeschichte in ihm steckt. Zweifellos ist er von einer Seite her tief ins Erbe einer pessimistischen Geschichtsphilosophie verstrickt, ein Erbe, das auch Hölderlin in seinem Hyperion mit sich trägt und gelegentlich auf künftige Geschichte hin zu wenden sucht: „Von Kindesharmonie sind einst die Völker ausgegangen, die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein. "13 Doch kennt Hegel eben noch eine andere Seite, die mit der verlorenen Harmonie offenbar leichter zu Rande kommt. Der Struktur nach liegt sie in der Linie des diskreten Geschichtsoptimismus von Kant und Schiller. Näher betrachtet mögen hier der Kantische „Leitfaden" der Geschichte und noch mehr Schillers reflektierende moralische Geschichtsoptik maßgebend sein. Hegels Geschichtsbild erinnert vor allem dort ans Schillersche, wo eine vernünftige Moralität sich anschickt, die Geschichte in ihre vielfältigen Momente aufzugliedem und in den universalen Zusammenhang zu stellen. In Schillers Rede Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalge13 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag. Buch 4, Kapitel 8. 388 ff. Ebd. 382. 15 Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd 11. Hyperion 2. 658.

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schichte aus dem Jahre 1789 finden sich dazu wegweisende geschichtsphilosophische und -methodologische Einsichten versammeltd^ Schiller verteidigt emphatisch das „große Ganze der Welt", das der „philosophische Kopf" bei der Geschichtsbetrachtung im Auge hat, gegenüber dem „abstrahierenden Verstand" des fachhistorischen „Brotgelehrten".Mit dem Ganzen meint Schiller dabei sowohl das Zusammentragen der verschiedensten geschichtsbildenden Momente eines Volkes oder einer Epoche^^ als auch die Aufgliederung der Völker oder Epochen zu einer universellen Gestalt, kurz: zu dem, was den Namen „Weltgeschichte" oder „Universalgeschichte" verdient!^. Der Primat des Ganzen ist ferner nicht bloß ein methodisches Prinzip der Betrachtung, den universellen Zug unterstellt Schiller mit der Sichtweise über den „Gang der Welt" auch als „teleologisches Prinzip in der Weltgeschichte"^^. Schillers Geschichtsphilosophie wirkt nicht durchgängig optimistisch, doch ist sie eindeutig als Aufstiegsgeschichte konzipiert. Der Weg zu Ereiheit und Moralität kann nur über die Gegenwart führen; er kennt keinen harmonischen Ursprungsort, der vermittelt als Vorbild zu nehmen wäre. Das Bild nämlich, das die Völker von ihrer Kindheit geben, ist nach Schiller alles andere als glücklich oder harmonisch, es ist schlichtweg „beschämend und traurig"2k Der Aufstieg zu Moralität und Freiheit erfolgt wohl gerade deshalb mit gebrochenem Optimismus. Er verläuft unruhig, unstetig; die vernünftige Freiheit ist gezeichnet durch ihre ausgefochtenen Kämpfe. Des öfteren erscheint sie mehr in der Rolle der Vergelterin denn einer letzten Versöhnerin. Der Aufstieg zur Moralität ist gleichsam der Prozeß eines „Weltgerichts", der mit der Vergangenheit und Gegenwart abzurechnen hat. 22

Vgl. dazu vor allem die „Einleitung" zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Zum Vergleich zwischen Schiller und Hegel das Problem einer Einheit von historischer Forschung und geschichtsphilosophischer Darstellung betreffend siehe auch Claus Daniel: Hegel verstehen. Frankfurt a. M., New York 1983. 102 f. Vgl. Schiller: Historische Schriften. Hrsg, von E. Bonjour. Basel 1945. Bd 1. 34 f. 18 Ebd. 46. 19 Ebd. 37 f. 20 Ebd. 48, 51. 21 Ebd. 38. 22 Der Gedanke des „Weltgerichts" findet sich u. a. in Schillers Gedicht „Resignation", aus dem Hegel zitiert (vgl. GW 1. 119, 145 = N 34, 54). Schillers Geschichtsoptimismus wirkt hierin gebrochen, der Wandel zu seinem späteren, pessimistischeren Geschichtsbild scheint sich anzubahnen.

B. SubjektiVierung der „objektiven Religion

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d) Kritik als Diagnose der Entfremdung Hegels Kritik an der christlichen Religion ist eingangs kurz als Reflexion über eine sonderbare Entzweiung oder Verdoppelung charakterisiert worden. Dies soll nun näher zur Sprache kommen. Wenn Hegel „objektive Religion" einer Kritik unterzieht, deren inhaltliche Potentiale herauslöst und in die „subjektive" auf nimmt, so konkretisiert er damit stets wieder den kritisierten Gegensatz. Den ursprünglichen Gegensatz von Vernunft und Sinnlichkeit löst Hegel derart auf, daß in den beiden Gegensatzpolen selbst zwei Seiten ausdifferenziert werden. Der neu auftretende Gegensatz hebt sozusagen den vorangehenden in sich auf und modifiziert dessen einzelne Seiten: Die Aufhebung vollzieht sich dahin, daß nun zwei Seiten oder Bedeutungen von Vernunft und Sinnlichkeit entstanden sind, mithin der vermeintliche Gegensatz sich als ein anderer entpuppt hat. Während im Tübinger Fragment der Gegensatz zwischen Vernünftigem und Sinnlichem in der „Volksreligion" aufgehoben wird — und sich als neuer Gegensatz zwischen „Volks- und Privatreligion" darstellt —, präzisiert Hegel ihn hier nun weiter, indem er ihn historisch darstellt. Allmählich resultiert daraus eine umfassende Entgegensetzung von jenseitiger und diesseitiger Lebensform, von lebensfeindlicher und lebensfreundlicher Religion in verschiedenen Ausprägungen. Zudem treibt gerade der Bezug zur Geschichte dazu, die Entzweiung am kritisierten Gegenstand selbst festzumachen. Während der einfache Gegensatz von „subjektiver" und „objektiver Religion" noch als Gegensatz zwischen einem mangelhaften Seinszustand und einem postulierten Ideal erscheint, ist mit der historischen Darstellung die Entzweiung mehr in ein historisches Sein selbst verlegt. Es entsteht so etwas wie ein historisches Entfremdungskonzept, das Verdoppelungen am Objekt studiert. Unter der Form politisch-religiöser Herrschaft ist das Phänomen der weltlichen Entfremdung, der Abgabe der Selbsttätigkeit an eine äußere weltliche Macht, mit einer religiösen Entfremdung verkoppelt.^3 Die religiöse Entfremdung ist Ausdruck der politischen, dies

Hegel hat damit einen ähnlichen doppelten Gegenstand vor sich wie der junge Marx in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Die Religion, das „verkehrte Weltbewußtsein", entspricht der „verkehrten Welt", die sie produziert (vgl. MEW 1. 378). Während Marx die Auflösung dieser Verkehrungen in der weltlichen Kerngestalt fordert, der Religion bestenfalls eine schwache „Protestation gegen das wirkliche Elend"

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jedoch ohne die Annahme, das Religiöse könne deshalb auf eine politisch-soziale Problematik reduziert werden.24 Die Entfremdung zeigt sich grundsätzlich als die Entzweiung diesseitig-weltlicher Macht, die aus der Konstellation verschiedener Trennungsprozesse resultiert. Hegel untersucht vor allem jenen zwischen politischem und religiösem System, innerhalb des religiösen Systems jenen zwischen Leben und Lehre.25 Die Aufhebung der Entfremdung hätte konsequenterweise nicht bloß die vereinigende Macht im Weltlichen, sondern auch jene zwischen Religiösem und Weltlichem überhaupt zur Eolge. Die „Volksreligion" wäre alles vereinigendes Prinzip. Die Entgegensetzung von diesseitiger und jenseitiger Lebensweise veranschaulicht Hegel am Verhältnis von christlicher und griechischer Religionspraxis, auf das er in den Fragmenten am Ende der Berner Zeit gesondert und mit besonderem Nachdruck rekurrieren wird (bes. GW 1. 365 ff = N 219 ff). Mit sichtlicher Bewunderung beschreibt er, wie die griechische Religion selbst noch den Tod — den tatsächlichen Kontrapunkt lebendiger Diesseitigkeit — mit einem guten Leben in Einklang hält. Während das christliche Leben eine einzige „meditatio mortis“ darstellt (vgl. GW 1. 136 f = N 45 f), die den zuerkennt, legt Hegel einen bedeutsamen Akzent auf die emanzipatorische Macht einer nicht-entfremdeten Volksreligion. 24 Die Religion als allgemeine Bestimmung des menschlichen Bedürfnisses führt Hegel nicht derart auf einen irdischen Kern zurück, daß sie reines Produkt irdischer Entfremdung bleibt. In der Phänomenologie des Geistes wird er explizit auf die Nichtreduzierbarkeit der Religion eingehen. Die Religion als allgemeine menschliche Sphäre wird dort unterschieden vom „Glauben", „insofern er die Flucht aus der wirklichen Welt" darstellt (GW 9. 266). In unserem Text gibt eine solche Unterscheidung ihm die Möglichkeit, die Religion als spezielle, christliche, kritisieren und von einer utopischen „VoUcsreUgion" abgrenzen zu können. 25 Bei Hegel findet sich in diesem Stadium freilich keine Entfremdungst/ieorie, vielmehr eine präzise Deskription eines Ausschnitts der entfremdeten Welt: Entfremdung wird eher an Fallbeispielen thematisch denn an einer reflexiven Denkstruktur. In unserem Text werden Entfremdungsphänomene wie Privation, Entzweiung auch noch nicht exphzit mit dem Begriff „Entfremdung" bezeichnet. Angezeigt werden sie durch Ausdrücke wie „verkehrte Begriffe" (z. B. GW 1. 121 = N 359) oder „fernes Wesen" (z. B. GW 1. 160 = N 67), besonders aber auch durch sprachliche Gegensatzpaare wie Selbst, Eigenes/Fremdes, Inneres/Äußeres (z. B. GW 1. 160—164 = N 67—71). — Schließhch gilt es zu beachten, daß Hegel die Entfremdungsphänomene vorwiegend am Gegenstand einer Religion thematisiert, die in einem engen Zusammenhang zur menschlichen Natur und zur Sozietät steht. Die Entbemdungsursache wird dadurch in den innergesellschaftlichen Bereich verlagert; sie ist nicht nur individuell orientiert, nicht nur am Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft festgemacht. (Zu dieser Unterscheidung vgl. das Klassifikationsschema bei Joachim Israel: Der Begriff der Entfremdung. Reinbek 1972. 29.)

B. Subjektivierung der „objektiven Religion

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Schrecken des Todes nur deshalb überwinden kann, weil sie ihn zum Gegenstand des verachteten Lebens gemacht hat, ist bei den „Helden der Nationen" noch der Tod sterbender Akt des Lebendigen, ist noch ihr Jenseits diesseitig. Und wie sollte die „meditatio mortis" den Augenblick des Todes ertragen können, ihn als lebendige Wirkung hinnehmen, wo doch schon das Leben selbst als geringere Wirkung verschmäht worden ist.^^ Der Augenblick des Todes unter ihr ist deshalb der Schrecken, der nurmehr durch die Wiederholung der „vorgeschriebenen Seufzer" oder der „in der Schule mit Schweiß erlernten" Reime abgewendet werden kann (GW 1. 137 = N 46). Er ist beinahe ein karikiertes Abbild des eh negierten Lebens, während er bei den Griechen sanft an das volle Leben gemahnt: „Wie verschieden die Bilder, die von dem Tode in die Phantasieen unsers Volks und der Griechen übergegangen sind — bei diesen ein schöner Genius, der Bruder des Schlafs . . . bei uns der Knochenmann, dessen grauser Schedel über allen Särgen paradirt." (GW 1. 137 = N 47) Das Motiv des ans Diesseits erinnernden Todes greift Hegel nochmals mit dem Ideal der Unsterblichkeit des republikanischen Geistes auf und hält es emphatisch aller Abstraktion des Todes entgegen. Ein Volk, das seine Tätigkeit in sich trägt, die Ideen und Pflichten als die seinen begreift, benötigt keine Zeichen und Wunder als „Versicherung" für ein künftiges Leben, bindet es doch auch die Unsterblichkeit an das Ideal seines eigenen Lebens, nicht an einen abstrakten, entlastenden Gegenpart des geleisteten Lebensgehorsams (vgl. GW 1. 163 = N 70). Der Tod des Sokrates, auch wenn er bereits ein Anzeichen der Entzweiung des griechischen Lebens birgt, bleibt für Hegel hierzu das eindrückliche Vorbild. Noch der vom Tode gezeichnete Sokrates ist der Grieche im Kreise seiner Freunde — er spricht über die Unsterblichkeit der Seele, „wie ein Grieche spricht zur Vernunft und zur Phantasie ..." (GW 1. 119 = N 34). 27 Hegel spürt die Entgegensetzung von lebensabgewandter- und zugewandter Haltung in den Stilformen und Details des gewöhnlichen Lebens noch und noch auf, er schildert sie zum Teil bereits in den Tübinger Arbeiten gleichsam mit dem Blick des Hyperion, des stau\Yie der Tod das Leben zeichnet, so zeichnet das Leben den Tod. Die Unerträglichkeit des Lebens spiegelt sich im Bild des Todes. Für das „Sterben heute" hat dies Adorno bündig zusammengefaßt: „Je weniger die Subjekte mehr leben, desto jäher, schreckhafter der Tod" (Theodor JV. Adorno: Negative Dialektik. 363). 27 Die Sterbeszene des Sokrates hat Hegel schon während der Gymnasialzeit beschäftigt. Vgl. Dok 86. 26

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nenden Griechen, der sich „unter die Deutschen" verirrt hat^®. Allein die Bauart der Griechen läßt den großen Unterschied zu den Deutschen hervortreten: . jene wohnten frei, in weiten Strassen, in ihren Haüsern waren offene, unbedekte Höfe — in ihren Städten häuffige Grosse Pläze . . . Die Bilder der Götter — die höchsten Ideale des schönen . . . keine Bilder der Verwesung ..." (GW 1. 81 = N 358 f). Dagegen: „Unsre Städte haben enge stinkende Strassen — die Zimmer sind eng, dunkel getäfelt, mit dunklen Finstern — grosse Säle niedrig und drüken, wenn man drin ist — um ja nichts freyes zu haben wurden Saülen in der Mitte angebracht. . . Die gothische Bauart schauerlich erhaben." (GW 1. 81 f = N 358) Freude, Ausgelassenheit und Trunkenheit sind bei höchster Annäherung krassester Unterschied: „Wenn die Phantasie griechischer Bachantinnen überschnappte bis zum Wahn, die Gottheit selbst gegenwärtig zu sehen, und zu den wildesten Ausbrüchen einer regellosen Trunkenheit — so war dies eine Begeisterung der Freude, des Jubels — eine Begeisterung, die bald wieder ins gemeine Leben zurückkehrte." (GW 1. 146 = N 54) Die religiösen Ausschweifungen des unterdrückten christlichen Geists sind indessen „Ausbrüche der traurigsten, ängstlichsten Verzweiflung, die die Organe von Grund aus zerrüttet" (ebd.).^^ Aber es sind nicht nur diese äußeren Lebenshaltungen und Sitten christlicher Praxis, die Hegel auffällig negiert, vielleicht noch stärker geißelt er deren Innenwelt, nämlich den mittels Kirchenzucht herausmodellierten Gewissenszwang. Eine Art Kirchenpolizei geht gerade auf die Reformation zurück, die den Wert der „subjektiven Religion" erkannt hat und darauf losarbeitet, sie in ein „System der Worte" zu kleiden (vgl. GW 1. 76 = N 356). „Subjektive Religion" depraviert, in Dogmatik gepreßt, freilich zur „objektiven", und Hegel erkennt denn auch in aller Deutlichkeit, daß die Lehrform des Inhalts einer „subjektiven Religion" letztlich der entscheidende Verhandlungsgegenstand sein muß, oder vielmehr überhaupt die Äußerungsform, unter der das religiöse Gewissen auf tritt. Dementsprechend thematisiert Vgl. Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd 11. Hyperion 2. 774 ff. 29 Ähnlich kontrastiert Hegel an anderer Stelle die griechischen Bacchantinnen mit den Hexen des Mittelalters: „Dort Hexen, hier Mänaden, dort der Gegenstand der Phantasie teuflische Frazzen, hier ein schöner, weinbelaubter Gott..." (Dok 267). 30 Wo „subjektive Religion" nicht auch der Form nach als solche konzipiert wird, fällt sie kaschiert in „objektive" zurück. Mit Recht hat Werner Hamacher: Pieroma, 31 ff, diese Form-Kritik Hegels mit dessen Verständnis eines „FetischGlaubens" (GW 1.

B. Subjektivierung der „objektiven Religion

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er eine Moralität des Gewissens, die sich in ihrer Verinnerlichung veräußert, in ein falsches Außen gesetzt hat. Dies zeigt er genauer am Beispiel der Transformation des moralisch gedachten Gewissens in die orthodox-kirchliche Mechanik von Sünde, Buße, Besserung oder in eine Maschinerie der empirischen Psychologie, welche die verschiedenen Gewissenszustände an Körperempfindungen, insbesondere an deren unterschiedlich krankhaften Funktionen zu fixieren trachtet. Moralität verwandelt sich hier in eine Religion der Psychologie und Medizin, sie reduziert sich auf das Hervorbringen von Seelenzuständen über einen psychologisch-medizinischen Umweg, dem sie zum Opfer fallen wird. Das derart gegängelte Gewissen erreicht indes seine höchste Unruhe und tiefste Gespaltenheit in der Qual, welche die Erlangung „ewiger Glückseligkeit", oder besser: die Umgehung „ewiger Verdammnis", mit sich bringt. Hegel perhorresziert diesen Zustand der Qual; in ihm sieht er die „fürchterliche Alternative" (GW 1. 136 = N 46), einen Drang zu einem leeren Ideal, das den Schrecken, den es flieht, selbst ja dem höchsten Ausdruck zuführt. Er hält dieser „fürchterlichen Alternative", wo es „kein mittleres" (GW 1. 148 = N 56) gibt, die vermittelnde Vernunft entgegen. Sie wäre gleichsam das dialektisch Mittlere oder Dritte. Was Hegel faktisch anstrebt, ist ein moralisches Gewissen, das in seinem Drang auch zur „Ruhe" kommen kann, mit einem „System" der „Beruhigung" verträglich sein müßte (vgl. GW 1. 148, 157 = N 56, 64).Dies bedingt aber eine vorgängige Abstimmung des Ideals der Moralität auf ihren Gegenstand. An diesem Punkt nun erfährt Hegels Anlehnung an die Kantische „praktische Vernunft" eine stillschweigende Korrektur. Ein moralisches Sollen, das sich von der Natur in abstracto entfernt hat, führt leicht zu einem Abstraktum, das sich lediglich in der Perfektionierung des zu transzendierenden schlechten Seins verwirkt. Besonders trifft dies nach Hegel auf die christliche Lehre der Glückseligkeit zu. Das Ziel der Glückseligkeit, das an die Moralität, an die Eorderung, ein guter Mensch zu sein, geknüpft ist, ist so hoch angesetzt, daß es zwar angestrebt wird, faktisch aber nicht erreicht werden kann. Die der Lehre zugrundeliegende Prämisse von 99 f = N 17) in Verbindung gebracht. Der Fetisch muß gerade aus dem Formaspekt eines religiösen Inhalts begriffen werden. 31 Nach Fritz Ephraim: Untersuchungen zum Freiheitsbegriff des jungen Flegel, 69 ff, ist dieses „System der Beruhigung" der eigentliche Dreh- und Angelpunkt von Hegels allmählicher Distanzierung von Kant. Mit Freiheit verbinde Hegel im Unterschied zu Kant eine Freiheit von Gewissensangst.

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der grundsätzlichen Verdorbenheit der menschlichen Natur prädiziert die Unmöglichkeit, überhaupt ein „guter Mensch" werden zu können. Die wohlverdiente Glückseligkeit ist somit stets nur der „freien Gnade Gottes" anheimgestellt (vgl. GW 1. 155 = N 63). An diesem Punkt rüttelt Hegel nolens volens auch an der Kantischen Vorstellung von Glückseligkeit. Kant hat in der Kritik der praktischen Vernunft die Glückseligkeitslehre von der Moralität im Hinblick auf den Bestimmungsgrund pflichtgemäßen Handelns scharf getrennt, diese Trennung aber insofern relativiert, als der „Anspruch" auf Glückseligkeit dadurch noch nicht aufgegeben werden solle. Unter gewissen Umständen „kann" es sogar „Pflicht sein", . . . für seine Glückseligkeit zu sorgen" (AA 5. 93). Klar hält Kant aber auch stets fest — dies führt er im Rahmen der kritischen Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft aus —, daß eine „natürliche und notwendige Verbindung" zwischen Moralität und Glückseligkeit sich lediglich als „möglich" denken läßt, letztere aus der ersteren „moralisch-bedingt", aber doch „notwendig" folgt — also aus einer Art notwendigen Möglichkeit (ebd. 119). Hegel seinerseits bezieht sich nicht in einer ähnlichen Terminologie auf diese Problematik, aber es läßt sich eine leise Kritik an der Kantischen Auffassung herausinterpretieren, lehnt er doch ein moralisches Sollen ab, das lediglich mit einem formellen Verdienst der Glückseligkeit verkoppelt ist. Auch Hegel setzt die Moralität als Bestimmungsgrund des sittlichen Handelns über die Glückseligkeit, nur gilt ihm die Moralität als ein bereits konkretisiertes Sollen, das seine Prinzipien auch zu realisieren vermag. Während Kant den möglichen Zusammenhang bloß am Modus der Notwendigkeit thematisiert, meint er bei Hegel das inhaltliche Vermögen oder die Realisierbarkeit. Hegel kritisiert implizit die zu abstrakte, formelle Kantische Beziehung von Moralität und Glückseligkeit prinzipiell. Diese Differenz wird er in seiner kommenden Kritik am moralischen Sollen verdeutlichen.^2

32 Zur Sollenskritik Hegels siehe Odo Marqmrd: Hegel und das Sollen. In; ders.; Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1982. 37 ff.

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2. „Volksreligion" und Emanzipation a) Das Dilemma des Christentums Die pointierte Kritik am Christentum hat ihren Maßstab am Ziel einer möglichen Aufhebung der entzweiten Gesellschaft, das mittels einer neuen „Volksreligion" zu realisieren ist. Vorerst gilt es zu betrachten, daß Hegel diesen Versuch zwangsläufig mit der Intention verbindet, am Christentum zu retten, was noch gerettet werden kann. Die weitgehende Fixierung der Kritik auf das Christentum läuft nur zu selbstverständlich mit seinem meist unausgesprochenen Desiderat einher, im Revier christlicher Observanz die verhimmelten Schätze auf die Erde zurückzuholen, aus den verdinglichten christlichen Zeichen heraus den lebendigen Sinn zurückzurufen. Darin liegt sicherlich auch der Fundus von Hegels „kritischer" Apologie des Christentums, die ihm den Vorwurf Nietzsches eintragen wird, er habe als „Verzögerer par excellence" des Atheismus fungiert^^. Freilich ist die Fixierung in dieser Phase nicht durchgängig, Hegel erwägt nämlich äußerst gründlich die möglichen kulturellen Volkstraditionen, an die eine neue „Volksreligion" anknüpfen könnte. Das Vorbild der griechischen Polis erscheint nach wie vor als Kontrapunkt zur christlichen Welt, allerdings bleibt unklar, wie weit Hegel real eine Rückkehr zum griechischen Geistesleben ins Auge faßt. Unbestreitbar gehen Ideale der griechischen Welt in den von ihm postulierten republikanischen Geist ein, aber eben bloß Ideale. Denn Hegel scheint sich von der Faktizität der aktuellen historischen Situation nicht leichtfertig loslösen zu wollen. Der Trennungsgeist, den die Verstandesaufklärung praktiziert, ist nicht einfach mit einem theoretischen Kunstgriff zum Verschwinden zu bringen, und auch das „höchsten Wesens", das der französische republikanische Geist statuiert hat, ist nicht mit einer Empörung zu verdammen, die aus der Sicht allzu billiger Harmonisierungswünsche erwächst. Hegel bleibt hier in der Schwebe: einerseits bedarf die Verstandesaufklärung dringend eines sinnlichen Korrektivs und neuen Vereinigungsideals — hierfür ist das griechische Erbe normbüdend —, andererseits will er hinter eine unmittelbare Auseinandersetzung mit 33 Vgl. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Werke. Bd 2. Hrsg, von K. Schlechta. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1979, 227.

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neuen historischen Verhältnissen nicht zurückfallen. Dadurch ist er im Hinblick auf sein Programm einer neuen „Volksreligion" genötigt, auch auf die aktuellen geistig-kulturellen Verhältnisse näher einzugehen. In diesem Falle drängt sich eine unmittelbare Beschäftigung mit dem Christentum freilich wieder stärker auf. Die Gründe sind naheliegend. Hegel hat ja bei seinen Denkversuchen deutsche und bernische Zustände vor sich; diese lassen nicht viel anderes übrig als eine Auseinandersetzung mit dem Christentum, denn andere kulturelle Traditionen kennt das Volk hier eigentlich gar nicht. Das Fehlen einer freiheitlichen Gesinnung christlicher Provenienz wiegt allerdings schwer. Da bleibt oft nichts anderes übrig, als sich zum wiederholten Male fluchtartig zu den vorbildlichen Griechen zurück zu begeben. Doch spricht in solchen Fällen aus Hegel mehr und mehr ein Griechenbewunderer, der sich mit der Not der Zeit zu arrangieren hat. Eine Wiederaufnahme des Griechentums in seiner vollen Gestalt muß in der Tat scheitern, und auch der Rekurs auf die ureigene Freiheitstradition, gleichsam der Abgesang auf die teutonischen Wälder, kommt für Hegel nicht mehr in Betracht.Dazu ist der ebenfalls zu sehr aufklärerischer Rationalist. So bleibt denn also bei den ganzen Erwägungen ein Christentum übrig, das zwar keine freiheitliche Religion, wenigstens aber in der gegenwärtigen Volkskultur verankert ist. Ein Konzept der „Volksreligion" ohne dieses kulturelle Fundament wäre ferner gegen Hegels Absicht. Die gesellschaftliche Emanzipation will er gerade nicht auf einen bloßen republikanischen Geist oder eine politisch-j uristische Veränderung des Staates beschränken. Er sucht vielmehr nach einer religiös-kulturellen Vermittlung mit dem noch abstrakten Republikanismus des Staates. Was Hegel als vorläufigen Ausweg aus diesem Dilemma weiterverfolgt, ist so etwas wie ein Zuschneiden christlicher Religion auf Moralität hin, ohne sie durch reine Moralität bloß zu ersetzen. Zur reinen Moralität führen Hegel zufolge mehrere menschliche Beweggründe, die Religion ist darunter einer der vorzüglichsten. Die christliche Religion speziell ist unter den Religionen, wie besprochen. 34 Mit der fehlenden Freiheitstradition Deutschlands werden sich bekanntlich auch die kommenden Kritiker der deutschen Ideologie herumschlagen müssen. Der Rekurs auf heilige Frühe nützt, wie sich auch da bald zeigen wird, wenig. Marx wird das ganze Problem ironisch auf die Spitze treiben, wenn er in Sachen „teutonische Urwälder" meint: „Wodurch unterscheidet sich aber unsere Freiheitsgeschichte von der Freiheitsgeschichte des Ebers, wenn sie nur in den Wäldern zu finden ist?" (MEW 1. 380).

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eine der ungeeignetsten. Hegel trachtet deshalb danach, sie so weit wie möglich unter dem Zielpunkt einer in sie eingreifenden Moralität zu begreifen und ihr Äußerliches, ihre Heterogenitäten möglichst wegzuschneiden. So konzipiert er zuweilen ein Mittelding zwischen neuer christlicher Religion und idealer Religion. Das Dilemma läßt sich damit im Kern aber nicht ausschalten, Hegel ringt mit ihm, wie noch zu zeigen sein wird, weiter.3^

b) Der Versuch mit Kant Die spezifische Moralisierung christlicher Religion erfordert nun freilich einen stärkeren Kantischen Impetus. Strategisch wertet Hegel die Moralität gegenüber der Sinnlichkeit auf. Die schöne Phantasie der Religion, die er als Norm der Vereinigung nie beiseite zu stellen intendiert, findet an dieser Stelle weniger Platz. Hegel spricht nun äußerst Kantisch von der Moralität als „höchstem Zweck des Menschen", von der „Selbstgenügsamkeit der Pflicht" und dem notwendigen Übergewicht „abstrakter Ideen über das sinnliche" (GW 1. 138 f, 141, 148 = N 48, 50, 56). Die anti-sinnliche Tendenz vertritt Hegel in erster Linie im Zusammenhang mit den Invektiven gegen „mysteriöse theoretische Lehren" der christlichen Religion. Gegenstand der Kritik ist damit stets eine bestimmte Sinnlichkeit; die obskure sinnliche Kehrseite christlicher Dogmatik. Eine moralisch gefärbte Sinnlichkeit läßt Hegel hinwiederum zu. Moralität deutet er des öfteren im Sinne des Tugendhaften; und zur „mysteriösen" christlichen Sinnlichkeit hält er fest, daß sie nicht bloß dem Verstand und der Vernunft unvorstellbar sei, sondern gleichfalls der Phantasie zuwiderlaufe (vgl. GW 1. 142 = N 51). Insgesamt steht das Theorem des Vernunftglaubens akzentuierter im Mittelpunkt. Die Vernunft ist dabei nicht derart rigoros, dem Glauben (auch dem historischen) keine Berechtigung mehr zu lassen, sie schränkt ihn vielmehr gezielt ein, macht ihn zu ihrem Glauben. Was die Vernunft glaubt, sind lediglich Tatsachen, 35 Das Dilemma, in das Hegel hier gerät, rvird nicht nur ihn, sondern schließlich die deutsche Geistes- und Sozialgeschichte bis in unsere Gegenwart weiter beschäftigen. Für die „Konservative Revolution" in Deutschland wird das Auseinanderfallen von realer Kultur und an den verschiedenen Wurzeln der Volkstradition gesuchter idealer Norm, wie es Hegel hier aufzeigt, zur Aporie und Verzweiflungstat. Vgl. dazu Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. Frankfurt a. M. 1986. Besonders 19, 284, 347.

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die in ihr Prüfungsfeld fallen, mithin von ihr in der Tat mitgeprüft werden können. Was außer ihr steht, sich als unvernünftig oder übervernünftig deklariert, ist für sie eben in der Tat ohne Bedeutung (vgl. GWl. 145 = N53f). Mit dieser Betonung des Vernunftglaubens scheint Hegel den Grundzügen nach die schon genannte Kantische Unterscheidung von „moralischem" und „historischem" oder „geoffenbartem" Glauben in dessen Religionsschrift zu problematisieren. Für Kant bedarf die Moralität zur Begründung keines anderen, ihre Erweiterung oder Anwendung führt jedoch „unumgänglich" zur Religion (vgl. AA 6. 3—6). Diese deutliche Unterscheidung reproduziert er innerhalb der Religion selber, er zieht Trennungsstriche zwischen reineren und empirischeren Gehalten der Religion. Seine Bemühungen laufen der Programmatik gemäß darauf hinaus, den „empirischen" Glauben unter Anleitung des „moralischen" mit diesem zu „vereinigen" (z. B. ebd. 109 f). Hegel folgt Kant ziemlich genau in der Absicht, dem natürlichen Bedürfnis des Menschen nach ein der Vernunft analog Sinnliches im Glauben herauszuschälen. Während Kant diesen Akt vollführt, indem er den auf Moralität hin dressierten „historischen" oder „empirischen" Glauben als eine Art Zusatz akzeptiert, de facto damit den (christlichen) Glauben als historisch gewachsenen Kirchenglauben partiell aufrecht erhält (vgl. ebd. 115), agiert Hegel in diesem Unterfangen eigentlich Kantischer als Kant selbst, denn er lehnt den „historischen" oder „empirischen" Glaubensgehalt weit radikaler ab als Kant. Unter diesem Blickwinkel dürfte er auch das Kantische Verständnis einer „metaphysica specialis" von sich weisen, d. h. jenes Kantische Unternehmen, das auf der Basis der transzendentalen „metaphysica generalis" die Disziplinen der alten Metaphysik kritisch zu restituieren versucht.^6 Die radikale Auslegung des Moralitätsprinzips durch Hegel ist an dieser Stelle wesentlich bedingt durch seine unmittelbare Konfrontation mit Kantrezeptionen der kirchlichen Orthodoxie. Diese bleiben fernab der kritischen Erneuerung der christlichen Religion, sie vollziehen sich lediglich im Rahmen einer Neugewichtung des Praktischen, die im Klartext auf eine erneuerte Praktizierung alter Dogmen 3^ Zur Unterscheidung der beiden Formen von Metaphysik und speziell zur Frage der Begründung der „metaphysica specialis" siehe Georg Jdnoska: Abgrenzung und Grundlegung der metaphysica specialis bei Immanuel Kant, ln: Kant-Studien. 56 (1966), 277 ff.

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hinausläuft. So ist man besonders in neueren Zeiten eifrig darum bemüht, wie Hegel konstatiert, „von jeder dogmatischen Lehre das praktische Moment auszubilden und aufzusuchen" (GW 1. 145 = N 53). Die Durchführung einer Versinnlichung der Religion stößt genau hier an eine Grenze; jene nämlich, wo die über die „subjektive Religion" aufgewertete Sinnlichkeit in die alte Dogmatik umzuschlagen verleitet. Allzu leicht sind nämlich christliche Lehrsätze, die das Übernatürliche betreffen, über verständig aufbereitete und durch sinnlich-empirische Anreize versehene Popularisierungen zu restaurieren. Die unvernünftige Spekulation wäre bloß an ihr notwendiges Korrelat, die schlechte Empirie, verwiesen. Solchen falschen Versinnlichungen der Religion begegnet Hegel nun gerade betont mit einem reineren Kantischen Standpunkt. Er lehnt die Sinnlichkeit oder Empirie ab, sofern sie zur Begründung moralischer Prinzipien herangezogen wird. Bevor Vernunft und Sinnlichkeit sich durchdringen sollen, muß Vernunft von der freiheitsfeindlichen Sinnlichkeit der alten Dogmatik gereinigt werden. Seine intensivierte Kantische Optik bringt Hegel schließlich auf der Ebene der Verbindung von Religion und Politik noch pointierter und unter erweiterten Aspekten zur Geltung. Die Kritik tangiert nun auch die empirischen Bestimmungen, die „in den ganzen Zusammenhang des Staats aufs innigste eingewebt sind" (GW 1. 144 = N 53). Die vernunftlose empirische Sinnlichkeit ist dabei geradezu Zeichen der lasterhaften Agenten der bürgerlichen Gesellschaft oder Ökonomie. Und der reinen Moralität kommt die Aufgabe zu, im Namen des Staates den allgemeinen Willen gegen ökonomische Interessen zu verteidigen. Um diese Kritik in aller Schärfe durchführen zu können, läßt Hegel die progressive Rolle der Sinnlichkeit beiseite, ja, er führt die Vernunft derart rigoros ins Feld, daß er nahezu den „Verstand" dem „Herzen" vorzieht. Hegels gesteigerter Kantianismus mutet hier ziemlich strategisch an. Wie im Falle des bernischen Kantianismus gezeigt, geht es Hegel vor allem darum, Kant gegenüber den eklektischen Auslegungen in seiner Authentizität zu verteidigen. Trotzdem (oder vielmehr deshalb) schlägt sich diese Tendenz auf sein sinnliches Moralitätskonzept nicht entscheidend nieder. Der Verlust an Sinnlichkeit, den die stärkere Vindikation reiner Moralität zur Folge hat, wird durch die dynamische Sinnlichkeit der griechischen Phantasiereligion, die nachhaltig wirkt, wettgemacht. Hegel unterscheidet Kantisch zwischen Begründungs- und Wirkungszusammenhang unter der Prämisse einer je schon weit konkreteren.

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historisierteren Moralitätsauffassung. Daher kann er zugleich immer auch am Versinnlichungsmotiv und am Entfremdungsgedanken in kritischer Absetzung von einer abstrakten Moralität festhalten. Der Begründungszusammenhang ist bei ihm mehr in Richtung Weltimmanenz angelegt als bei Kant.

c) Der Versuch mit Fichte Hegels radikaler Standpunkt eines Vernunftglaubens, der empirische Sinnlichkeit gegen natürliche Vernunft ausspielt, liegt zuweilen in der Nähe von Fichtes Konzept einer voluntativen Vernunft, welche die negierte Sinnlichkeit in sich selbst aufzuheben gedenkt. In seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung, erstmals 1792 erschienen, strebt Fichte danach, den Gegensatz von Vernunft und Sinnlichkeit durch eine Aufhebung empirischer Gehalte in eine wollende, selbsttätige Moralität zu überbrücken. Das „Sittengesetz" sieht er ausdrücklich als „Wesen", das von der „Natur" nicht mehr „leidend afficiert" wird, sondern, „welches die Natur durchaus selbstthätig bestimmt".Den Vorrang vernünftiger Moralität, der bei Kant durch den ausdrücklichen Gegensatz zur Sinnlichkeit konstituiert ist, verwandelt Fichte zu einer einseitig in die Moralität aufgehobenen Einheit. Die Natur wird stufenförmig moralisiert, durch abgestufte Deduktionen der moralischen Vernunft auf Empirisches in diese hinein transformiert. Dasselbe geschieht bei der Anwendung der Moralität auf die Religion: der Offenbarungsglaube, um den sich Fichtes kritische Untersuchung leitmotivisch dreht, ist aus der Moralität heraus zu deduzieren. Fichte folgt im Gebiet der Religion der Kantischen Distinktion von „natürlicher" und „geoffenbarter Religion".38 Da er eine Natur-Vernunft-Einheit innerhalb der Moralität vertritt, sieht er sich aber radikaler als Kant vor das Problem gestellt, zwecks Wirkung der Moralität eine Verbindung zwischen deren reiner Form und den sinnlich-empirischen Gegenständen herzustellen, in diesem Falle eine Allianz von „natürlicher" und „geoffenbarter Religion". Fichte leistet die Deduktion, die vereinigen soll, über eine sublim durchgeführte Dressur der Offenbarung auf Moralität hin. Er erreicht

37 Fichte: Werke. Bd 5. 40. 38 Vgl. ebd. 42 f, 59 ff.

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damit eine weitgehende Rationalisierung des Offenbarungsglaubens, muß dabei aber zur Kenntnis nehmen, daß ein Rest des empirischsinnlichen Gegenstandes, des Offenbarungsglaubens, sich der Deduktion entzieht. Sowenig eine Religion in concreto rein von Sinnlichkeit sein kann, da sie auf ein „Bedürfnis der Sinnlichkeit" letztlich abgestützt ist^^, sowenig kann bei realisierter Deduktion der Sinnlichkeit diese völlig vernünftig oder moralisch gemacht werden. In beiden Fällen muß Fichte den Offenbarungsglauben anerkennen, er erachtet ihn gar als „nöthig".40 Sein Festhalten am Offenbarungsglauben untermauert er darüberhinaus mit der These von der prinzipiellen Gespaltenheit des Menschen in ein Naturwesen und ein moralisches Wesen, darauf aufgebaut: der Unfähigkeit des Menschen, ohne Hilfsmittel zur Moralität zu gelangen. Fichte zeigt sich in diesem Punkt als strenger Rationalist, der den Naturzustand und den Naturmenschen deutlich abwertet, obschon er generell dem Menschen durchaus eine seiner Natur nach realisierbare moralische Bestimmung zubilligt.Letztlich läßt er mit dieser zweideutigen Haltung aber den Spielraum offen, dem Menschen je nach Situation moralische Fähigkeit zu- oder absprechen zu können. Ein Hegel, der mit Fichtes Terminologie des „Ich" und „Nicht-Ich" zu experimentieren beginnt, taucht zwar erst anfangs 1795 auf (vgl. GW 1. 195 = N 361). Doch ist ein Fichtescher Einfluß auf Hegels religionskritische Versuche natürlich schon vorher präsent, und es ist nicht auszuschließen, daß Fichtes Unterscheidung von „Ich" und „Nicht-Ich" auf Hegels Moralitätsverständnis schon vorher einen gewissen Einfluß hat, so z. B. auf das Verhältnis von „subjektiver" und „objektiver Religion". In den Tübinger Entwürfen hat Hegel auf Fichtes Unterscheidung von Theologie und Religion angespielt (vgl. GW 1. 75 = N 355), nun nimmt er sie im Zusammenhang der Reformulierung des Verhältnisses von „subjektiver" und „objektiver Religion" wieder auf. Unter „objektiver Religion" oder auch „Theologie" versteht Hegel nun das „ganze System von dem Zusammenhänge unserer Pflichten und Wünschen", das sich nicht nur auf

39 Ebd. 64. 40 Ebd. 85 ff. 41 Vgl. dazu auch Fichtes Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution (1793), wo die Berufung auf eine „ursprüngliche Bösartigkeit" des Menschen zurückgewiesen wird (/. G. Fichte: Schriften zur Revolution. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1973. 159).

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Gotteserkenntnis bezieht, sondern auch besonders auf die Erörterung dieser Erkenntnisse „in Beziehung auf die Menschen und die Bedürfnisse ihrer Vernunft..." (GW 1. 138 = N 48). „Objektive Religion" erscheint dieser neuen Bestimmung gemäß als theoretisches, objektiviertes Fundament der „subjektiven", sie ist nicht mehr bloß das tote Theoretische oder das äußerliche Zeichen und bezeichnet nun auch weniger den Gegenstand des Institutioneilen und Rituellen denn das objektive Gesetz „subjektiver Religion" selbst. Ebenso umfaßt nun die „subjektive Religion" in einem abgeschwächten Gegensatz zur „objektiven" die bereits bekannte praktische Seite der „praktischen Vernunft", also die Erörterung des mehr sinnlichen und empirischen Aspekts des objektiven Gesetzes der Moralität. Betont wird deutlicher als bisher ihre tätige Beziehung zur „bürgerlichen Gesetzgebung". So muß „subjektive Religion" auf die Gesetzgebung direkten Einfluß nehmen, damit diese nicht bloß eine Sache der „Legalität" bleibt. Die eingreifende Rolle schreibt er hier bald den „religiösen Anstalten", bald dem Staat zu (vgl. GW 1. 138 f = N48f).

In seiner Bestimmung des Verhältnisses von „subjektiver" und „objektiver Religion" im Tübinger Fragment hat sich Hegel gezwungen gesehen, den scharfen Gegensatz seines Ausgangspunktes abzuschwächen, indem er objektive Potentiale — die Einmischung von Räsonnement, die gesellschaftlich-institutionelle Dimension der „Volksreligion" - in die „subjektive Religion" aufgenommen hat. Nun erreicht er auf dem Wege des Subjektivierens des objektiven Gesetzes der Moralität und der gesellschaftlich-institutionellen „Legalität" ein ähnliches Ergebnis. Allerdings wird seine Bestimmung nun stärker von den Moralitätskonzepten Kants und Lichtes getragen und gibt damit im Grunde neue Probleme der Systematik auf. Was von der ursprünglichen Intention Hegels nach wie vor bleibt, ist das hauptsächliche Erkenntnisinteresse an einer „subjektiven Religion" als „Volksreligion". Über die Neuformulierung des Verhältnisses von „subjektiver" und „objektiver Religion" hinaus ist der Fichtesche Impuls bei Hegel in seiner Bemühung um eine gezieltere Theorie praktischer Veränderung, um ein Verständnis praktisch-selbsttätiger Realisierung theoretischer Prinzipien zu spüren. In seinen vorangestellten Überlegungen, wie Moralität auf die Empirie anzuwenden sei, macht Fichte in der Kritik aller Offenbarung deutlich, daß die Darstellung eines Begehrungsvermögens, das sich zu einem selbsttätigen Wollen verfeinern

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soll, die eigentliche Crux seiner Denkbemühungen istd^ Die negierte Sinnlichkeit kann mit der Moralität lediglich dann vereinigt werden, wenn man diese als selbsttätig unterstellt, wenn diese völlig praktisch geworden ist. Hegel geht mit seinen Vorstellungen von einer praktischen Verwirklichung „subjektiver Religion" ganz in diese Richtung, wobei allerdings noch ein weiteres Moment hineinspielt. Der Aspekt verändernder Praxis ist bei ihm neben der gedachten und sich selbst realisierenden Tat nach wie vor stark geprägt durch das Motiv praktischer Vermittlung. Hier ist Hegels Praxis Verständnis wohl auch tiefer als jenes Fichtes. Hegel kümmert sich in seiner TatKonzeption gerade auch um die Form der theoretischen Tat; er überlegt sich dezidiert, wie die theoretische Tat auf das Handeln und Denken des Volkes übergreifen kann. Die Lehrform z. B. ist für ihn ein entscheidender Gesichtspunkt. Die theoretische Praxis muß direkt in die Volkskultur, in die Mythen und Gebräuche eingeschrieben werden, es genügt nicht, daß sie „blos in Büchern existirt" (GWl. 138 = N48). Die Tat als reale scheint bei Hegel am Endpunkt seiner Theorie der Praxis zu stehen, keine noch so praktische Theorie kann sie ersetzen. Er ist sich zudem bewußt, daß er zur „Auflösung" des „Problems", „wie ein Volk überhaupt zur Empfänglichkeit für moralische Ideen und zur Moralität großgezogen" werden kann (GW 1. 161 = N 68), selbst nur einen kleinen theoretischen Teil beitragen kann, nämlich den „Antheil, den die christliche Religion beilaüfig durch die Umwege ihres Glaubens daran nehmen will." Doch behält er sich eine gründlichere und weitläufigere Theorie hierzu sichtlich als Zukunftsprogramm vor. Ganz in diesem Sinne hält Hegel in einer Notiz anfangs 1795 fest, alle Erkenntnisse der Vernunft sollten auf die Ausführung ihrer Rechte hin abgefaßt sein. Sein Ton antizipiert dabei fast das appellierende Praxis-Pathos der Marxschen Thesen über Feuerbach: „Die Gottheit — die Macht — die Rechte, die die Vernunft ertheilt hat, auszuführen, geltend zu machen — durch diese Bestimmung mus die Erkenntnis aller anderer Eigenschaften derselben bestimmt sein." (GW 1. 196 = N 362) Diese eher beiläufig hingeworfene Sentenz Hegels erinnert auch inhaltlich an das Praxis-Verständnis des jungen Marx, besonders an dessen Forderung, die „gegenständliche Wahrheit" des Denkens an einer „praktischen Fra« Vgl. Fichte Werke. Bd 5. 23 ff.

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ge", an der Frage praktisch-verändernden Denkens, zu bemessen.^3 Erkenntnis soll bei Hegel wie beim jungen Marx am Kriterium einer zu realisierenden, diesseitigen, menschlichen und gesellschaftlichen „Macht" zu prüfen sein. Das von Hegel quasi-utopisch artikulierte Desiderat einer in ihre Rechte eingesetzten Vernunft koinzidiert schließlich sehr wohl mit Marxens Imperativ der „Aufhebung" qua „Verwirklichung der Philosophie"^. — Die Theorie der Praxis hätte hier ihr gelungenes Ende gefunden. Hegels Anlehnung an Fichte betrifft insgesamt den Aspekt der vereinenden, selbsttätigen Moralität. Er vertritt ihn dabei mit mehr realpolitischem Sinn als Fichte und legt ihn dadurch offenbar auch radikaler gegen die politisch-religiöse Gegnerschaft aus. Fichte hat, wie dargelegt, bei seiner Anwendung der Moralität auf den Glauben einen nicht-rationalisierbaren Rest des Offenbarungsglaubens akzeptiert. Hegel sieht hierin wohl eine unbewältigte Vereinigungsproblematik, aber unter seinem strategischen Blick noch viel mehr eine verbleibende Konzession an die christliche Orthodoxie. Fichtes Kritik des Offenbarungsglaubens schlägt damit in einen kritischen Rettungsversuch um, der der Orthodoxie wieder als brauchbar erscheinen kann. Was an diesem Punkt schon an Kant hätte moniert werden können — die letztlich sublime Legitimation christlicher Dogmen —, spricht Hegel nun im Brief an Schelling vom Januar 1795 als klares Verdikt gegen Fichte aus: „Zu dem Unfug (der Vereinnahmung Kants durch die Orthodoxie — M. B.), wovon Du schreibst und dessen Schlußart ich mir darnach vorstellen kann, hat aber unstreitig Fichte durch seine ,Kritik aller Offenbarung' Tür und Angel geöffnet. Er selbst hat mäßigen Gebrauch gemacht; aber wenn seine Grundsätze einmal angenommen sind, so ist der theologischen Logik kein Damm und Ziel mehr zu setzen. Er räsoniert aus der Heiligkeit Gottes, was er vermöge seiner reinen moralischen Natur tun müsse usw., und hat dadurch die alte Manier, in der Dogmatik zu beweisen, wieder eingeführt..." (B I. 17) Aus diesem Einwand Hegels gegen Fichte spricht eine äußerst radikale rationale Auslegung des Vernunftglaubens. Die Absage an die Sinnlichkeit scheint noch emphatischer zu sein als bei Fichte, damit noch der letzte Rest christlicher Sinnlichkeit — realiter: die letzte Bastion christlicher Dogmatik — wegfällt. Hegel treibt, wo es um « Vgl. MEW 3. 5. « Vgl. MEW 1. 391.

B. SubjektiVierung der „objektiven Religion

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christliche Lehren geht, die kritische Funktion der Moralität auf die Spitze. Nicht nur im Begründungszusammenhang will er das empirisch-sinnliche ausgeklammert wissen, sondern weitgehend auch im Wirkungszusammenhang. So bekundet Hegel nun noch größere Mühe als Kant und Fichte, die reine Moralität auf empirische Begriffe des Christentums anzuwenden. Doch betrifft diese Radikalität Hegels immer nur eine Seite seines Denkweges. Zugleich enthält der Einwand gegen Fichte auch die radikale Forderung nach einer weltlichen Moralität, einer Moralität, die sich nicht deifizieren lassen will. Hegel konzipiert eine natürliche Moralität, die auf der reinen Immanenz des menschlichen Daseins aufbaut. Bei aller Fixierung an reine Moralität hält er am Naturwesen Mensch, am griechischen Vorbild des sinnlichen politischen Menschen fest. Von dieser Deutung der Moralität her bietet ihm die Dichotomie von einem „natürlichen" und „moralischen Wesen" des Menschen wenig Probleme, sie erlaubt es ihm sogar, diese Dichotomie zu attackieren. Jenen, die sie mit der Unfähigkeit des natürlichen Menschen zu moralischem Handeln begründen, unterstellt er Herrschaftsideologie: „Ach man hat uns überredet, daß diese Vermögen fremdartig, daß der Mensch nur in die Reihe der Naturwesen, und zwar verdorbener gehöre — man hat die Idee der Heiligkeit gänzlich isoliert und allein einem fernen Wesen beigelegt, sie mit der Einschränkung unter eine sinnliche Natur für unvereinbar gehalten . . . Diese Erniedrigung der menschlichen Natur erlaubte es uns also nicht, in tugendhaften Menschen uns selbst wieder zu erkennen, — für ein solches Ideal, das uns Bild der Tugend wäre, bedurfte es eines Gottmenschen." (GW 1. 160 f = N 67) Das konkretisierte Sollen einer einseitig in die Moralität aufgehobenen Natur geht an dieser Stelle über in ein anthropologisches Entfremdungskonzept, wie es Feuerbach und der junge Marx vertreten werden. Erst aus der faktischen weltlichen Erniedrigung des Menschen könne dieser überhaupt für ein fernes religiöses Ideal empfänglich sein. Die Knechtung seiner Natur ermögliche Herrschaft und Religion. Man könnte hier einwenden, Hegels Bejahung des Naturmenschen widerspreche seiner Moralitätsauffassung; auch wenn Moralität noch so immanent weltlich gefaßt werde, unterliege sie der Vorstellung einer abstrakten Natur. Dies mag aus einer pointierteren anthropologischen oder materialistischen Perspektive durchaus zutreffen, zentral bleibt aber Hegels klar ausgesprochene Vorstellung einer Versinnlichung mittels einer diesseitigen menschlichen und ge-

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sellschaftlichen Tätigkeit. Damit erhält seine Auffassung reiner Moralität eine Bedeutung, die den Denkweg Kants und Fichtes verläßt. Reine Moralität ist reine immanente Tätigkeit, die je schon den Gesellschafts- und Naturmenschen eingeschlossen hat. Auch in ihrer Psychologie geht sie a limine von lebensfreundlichen sinnlichen Gehalten aus. Auffälligerweise steht die Hegelsche Moralität in weitgehendem Einklang mit dem antiken Tugendideal. Tugend, höchstes Gut und Moralität bilden für ihn eine zu vereinbarende Begriffsreihe, während bei Kant und Fichte diese Begriffe, dem Dualismus von Vernunft und Empirie entsprechend, gegensätzlich angeordnet sind. Hegels Radikalisierung der Moralitätsauffassung entlang dem Denkweg Kants und Fichtes nimmt damit insgesamt eine interessante gegenläufige Verschiebung an, die auf bereits bestehenden und nun verdeutlichten Voraussetzungen beruht. Sein Moralitätsideal ist in der Auseinandersetzung mit empirischen Gegenständen der christlichen Religion kritischer, empiriefeindlicher als jenes von Kant und Fichte. Es erscheint als Steigerung des Kantischen und Fichteschen Moralismus. Doch soll reine Moralität in Anlehnung an das Griechenideal bereits mit dem Natur- und Gesellschaftswesen Mensch eins sein. Diese Denkstruktur, die sowohl die empirischsinnliche wie die ideelle Seite des Ghristentums als Jenseitsglauben verwirft, läuft den Moralitätsauffassungen von Kant und Fichte zuwider. Die explizite Kritik Hegels an ihnen ist allerdings erst punktuell; bemängelt wird die Deifikation reiner Moralität (bei Fichte) und die faktische Anerkennung empirischer Gehalte der christlichen Religion (gilt für Fichte und Kant, wobei Hegel Kant nie direkt angreift). Feine Differenzen in den Moralitätsauffassungen bleiben meist eben auch unausgesprochen. So fällt einem bei vergleichender Lektüre bald auf, daß Hegel weniger an asketischem Idealismus zuläßt als Kant und Fichte. Hegel bringt Moralität leichter in einen Zusammenhang mit dem „Genuß von Glükgütern" und einer rechtmäßigen Entfaltung der „Triebe". Das christliche Faktum des Triebverzichts ist ihm anstößig (vgl. GW 1. 196 = N 361 f). d) Trotz allem: ein abstrakter Republikanismus Hegels Konzept einer „Volksreligion" kann nach diesen Denkversuchen nicht umhin, weitgehend dem abstrakten Republikanismus,

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ZU dem es Korrektiv sein will, anheimzufallen. Da der Bezug zu einer Volkskultur kaum möglich, das historische Christentum höchst ungeeignet ist, bleibt vor allem die bloße Tat, der Appell an Freiheit, Selbsttätigkeit der Menschen übrig. An dieser Stelle mag man der These von Mario Rossi zustimmen, Hegel sei in der Berner Zeit nicht imstande, die Wiederaneignung des entfremdeten Wesens in zeitgemäßen politischen und historischen Begriffen zu formulieren, er bleibe in der Frage der sozialen Erneuerung vage und breche die Reflexion an entscheidenden Stellen ab.^^ ln der Tat wirkt Hegels Perspektive unklar; als abstrakt erscheint sie nicht allein durch die Aufforderung zur nackten Selbstbestimmung, sondern auch durch das antike republikanische Ideal, das Hegel bei aller Vorsicht allzu unvermittelt auf die politisch-sozialen Zustände seiner Zeit überträgt. Im Mittelpunkt steht ganz der „freie Republikaner, der im Geiste seines Volks für sein Vaterland seine Kräfte, sein Leben aufwand, und diß aus Pflicht that..." (GW 1. 163 = N 70). Sein Ziel ist die Wiederaneignung des „Schönen" und der „menschlichen Natur". Sofern man dabei aus vereinzelten Hinweisen eine genauere politisch-historische Perspektive Hegels herauslesen darf, ist es die nach vorne gerichtete Orientierung am griechischen Staatsdenken. Im Hintergrund steht die Kritik der sozialen Privation, des privaten Eigentums und Reichtums, bei der sich Hegel auf die ihm wohlbekannten staatspragmatischen Maximen von Thukydides stützen kann. Für Thukydides gilt etwa die Regel, daß jede kluge Volksordnung von der übermäßigen Sorge um private Güter absehen muß. Der private Charakter des Staatslebens kettet die Menschen an Dinge und falsche Ideale. Vergessen wird: „. . . jene Sachen besitzen nicht die Menschen, sondern die Menschen sie."^^ Durch Rousseaus Staatsideal, in dem die Politik dank kleingehaltener Ökonomie den Primat behält, dürfte Hegel in dieser Tendenz noch bestärkt worden sein. Vor diesem Hintergrund beschreibt Hegel denn auch die Auflösung der antiken Republiken und den Charakter der modernen Staaten. Nicht bloß in einer ideellen oder sozialen Privation („esprit de corps"), sondern auch in einer ökonomischen sieht er die historische Triebkraft, die zur Zersetzung der antiken Republiken geführt Siehe Mario Rossi: La formazione del pensiero politico di Hegel. Roma 1970. 120. Thukydides: Der große Krieg. Übersetzt und eingeleitet von H. Weinstock. Stuttgart 1938. 17. — Zu Hegels Begeisterung für Thukydides vgl. Karl Rosenkranz: Hegel's Leben.

8.

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hat. Der „unverhältnismäßige Reichtum einiger Bürger" ist ihm in vergangenen Zeiten wie im Falle der „Staaten der neueren Zeit" neuralgischer Punkt in bezug auf Wiederaneignung sozialer Freiheit (vgl. Dok 268 f). Erst ein Volk, das diese Form eines „Privatlebens" führt, benötigt ja eine Religion, die allerlei überirdische „Versicherungen der Gottheit" enthält (GW 1. 163 = N 70). Mit dieser Einschätzung der modernen Staaten aus der Optik des antiken Staatsideals trifft Hegel sicherlich ein wichtiges Moment der gemeinschaftszersetzenden Dynamik des aufkommenden modernen bürgerlichen Staates, doch unterschätzt er letztlich diese Dynamik, wenn er meint, sie ließe sich durch einen neuen politisch-sittlichen Staat in Grenzen halten. Sofern Hegel wirklich sein Staatsideal mit dem modernen idealen Staat, der die mit der Französischen Revolution beginnende Epoche repräsentieren soll, identifiziert, befindet er sich wohl näher bei den abstrakten Positionen gewisser Jakobiner — etwa Robespierres und St. Justs — als ihm lieb sein kann. Auch diese nämlich rekurrieren auf antike Ideale und setzen, wie Marx treffend einschätzen wird, der modernen bürgerlichen Gesellschaft einen quasi ökonomielosen antiken „politischen Kopf" auf.^^ Insgesamt darf man konstatieren, daß Hegel, unbeschadet seiner allzu groben Einschätzung des modernen Staates und des allzu unvermittelten Gemeinschaftsideals, wichtige Überlegungen für die kommende Kritik an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und an der formalen Demokratie anstellt. Angegriffen wird indirekt ein modernes Privateigentum, das über sich eine illusorische staatliche Gemeinschaft formiert. Im Zentrum vermittelter Kritik steht aber auch der politisch verwaltete Staat. Unter Berufung auf das Wir-Pathos des Thukydides und gestützt auf Rousseaus Aversion gegen den Repräsentativ-Staat, lehnt Hegel auch die Privation ab, die bei der „Nationalhandlung" eines zu großen Volks entsteht (vgl. Dok 263). Der universale Nationalstaatsgedanke ist ihm zuwider.

47 Vgl. MEW 2. 129. 48 Dazu Hans-Joachim Krüger: Theologie und Aufklärung. 67 ff.

C. Christentum und Positivität

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C. Christentum und Positivität — Die Berner Fragmente ab 1795 1. „Das Leben Jesu“ Die Evangelienharmonie Das Leben Jesu ist in ihrer genaueren Aussage und in ihrer Bedeutung für Hegels philosophische Entwicklung innerhalb der Berner Zeit ziemlich stark umstritten. Während einige Interpreten in ihr keine eigentliche philosophische Arbeit sehen, sie als Gelegenheitsarbeit oder Nebenprodukt einstufen, neigen andere dazu, ihr eine Sonderstellung einzuräumen. Der Text soll eine entscheidende Entwicklung, ja eine Zäsur signalisieren. Mit welcher Perspektive diese sich vollzieht, darüber scheiden sich wiederum die Geister entlang der Kantianismus-Kontroverse: Den einen ist Das Leben Jesu Höhepunkt des Hegelschen Kantianismus, den anderen Ausdruck der beginnenden Kritik Hegels an Kants Moralitätsverständnis oder seiner Wende zu einem neuen Pantheismus.^ Das Leben Jesu ist der einzige genau datierte längere Berner Text Hegels (9. 5. bis 24. 7. 1795), zugleich der einzige Text, der so etwas wie eine abgeschlossene Eorm aufweist. Verglichen mit dem anstrengeri^en gebrochenen Reflexionsstil der anderen Berner Texte wirkt er eher unproblematisch, um so mehr als Hegel sich mehrheitlich auf ein bloßes Erzählen der Geschichte Jesu beschränkt. Man hat aufgrund dieser seiner Besonderheit den Text dem exoterischen Philosophieren Hegels zugerechnet und dabei auch vermutet, Hegel könnte ihn für eine Publikation vorgesehen gehabt haben. Wie dem auch genauer sei, die Annahme eines exoterischen Phüosophierens hat hier in der Tat etwas für sich; aber sie wird gerade erst dann fruchtbar, wenn man sie nicht nur zur Erklärung der Eorm, sondern auch zum inhaltlichen Verständnis des Textes heranzieht, und besonders: wenn man die Wechselwirkung von exoterischem und esoterischem 1 Einen radikalen Kantianismus Hegels in Das Leben Jesu sehen besonders Hans Küng: Menschwerdung Gottes. 100 ff („Das Leben Jesu nach Kant"); Hans-Otto Rebstock: Hegels Auffassung des Mythos in seinen Frühschriften. 87 („Jetzt ist Hegel ausschließhch Schüler Kants geworden!"); Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. 418. Auch Antimo Negri: Introduzione. In: G. W. F. Hegel: Vita di Gesü. Roma, Bari 1980. 15 ff, 51, geht davon aus, Hegel identifiziere sich mit dem ästhetischen Kantianismus seines religiösen Helden. — Die Gegenposition finden wir am deutlichsten bei Theodor Haering: Hegel. Bd 1. 192 ff. Die These, wonach Hegel mit Das Leben Jesu eine „metaphysische Wende" vollziehe und zu einem neuen Pantheismus übergehe, hat besonders Kurt Wolf: Die Religionsphilosophie des jungen Hegel, 95 ff, vertreten.

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Philosophieren mit in Anschlag bringt. So gilt es beispielsweise zu beachten, daß es Hegel in Das Leben Jesu vorderhand um die Darstellung, Problematisierung eines historischen Exempels reiner Moralität geht und nicht wie bisher um die Explikation seiner eigenen philosophischen Position. Man wird den Text deshalb zur Identifizierung von Hegels Position nicht einfach ä la lettre nehmen können. Das heißt nicht, daß Hegels esoterisches Denken nicht mit im Spiel wäre bzw. nicht mit auf dem Spiel stünde. Das Leben Jesu liegt ja klar im Bereich der bisherigen Hegelschen Absicht, die Kantische Moralität auf verschiedenste empirische Gegenstände anzuwenden, noch deutlicher im Bereich der bisherigen Religionskritik, welche die Wurzeln der „objektiven Religion" bereits in Lehre, Leben und Persönlichkeit Jesu ausfindig zu machen sucht. Die ganze Ambivalenz der Person Jesu hinsichtlich moralischer Aufklärung steht erneut zur Diskussion. Nun aber werden gerade diese Problematiken hauptsächlich in exoterischer Weise entwickelt, d. h. in Form einer Geschichte, die aus sich heraus sprechen soll. Hegels eigene Position läßt sich nur vermittelt, durch den Gang der Geschichte hindurch verfolgen. Was auf den ersten Blick Das Leben Jesu in Hegels Argumentationsweise merklich von den bisherigen Schriften abhebt, ist die offenbar günstigere, sympathetischere Beurteilung der Person Jesu. Zwar ist Jesus als Personifikation der reinen Moralität uns auch bisher schon in seiner progressiven Rolle — als Moment der „subjektiven Religion" — begegnet, jedoch hat dabei nie der scharfe Kontrast zur weit wertvolleren griechischen Volksreligion gefehlt. Hier nun skizziert Hegel vordergründig ein Bild der Person Jesu, das nicht bündiger mit reiner Moralität und Vernunft übereinstimmen könnte und aus dem heraus sich alle „objektive Religion" (bald wird Hegel sie kurz „Positives" nennen) kaum deutlicher zurückweisen läßt. Den vorangehend dargelegten Gegensatz von „subjektiver" und „objektiver Religion" exemplifiziert Hegel an der Kritik Jesu an den starren jüdischen Gesetzen, die für sich eine lebendige und allverständliche Moralität in Anspruch nimmt. Derart erscheint Das Leben Jesu tatsächlich abgehoben von der bisherigen emphatischen Kritik des Christentums. Will Hegel nun seine scharfe Kritik des Christentums weitgehend zurücknehmen, die ursprüngliche Reinheit des christlichen Gedankens doch noch als aktualisierbares Vorbild gelten lassen? Dies scheint in toto kaum der Fall zu sein. Naheliegender ist meines Erachtens die Annahme, daß Hegel Leben und Lehre Jesu als eine Art Folie benutzt, an der die Frage nach der Entstehung der „ob-

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jektiven Religion" konkreter formuliert werden soll.^ Dieser Vorgang wird zum Teil bereits innerhalb der Erzählung selbst herausmodelliert. Hegel stellt nämlich darin nicht nur die reine Moralität in Lehre und Leben Jesu dar, sondern auch das tatsächliche Leben dieser reinen Moralität, ihr Schicksal, ihre Ohnmacht der weltlichen Macht gegenüber, schließlich ihren Untergang. Reine Moralität bleibt nicht ruhig, sie verwickelt sich in eine dramatische Geschichte. Zieht man ferner die anschließenden Fragmente von Mitte/Ende 1795 heran und bedenkt deren leitmotivische Frage nach der Entstehung des „Positiven" (vgl. GW 1. 285 ff = N 155 ff), so wird man in dieser Annahme noch bestärkt. Hegel zeichnet ein möglichst reines Bild der Person Jesu nach, um daraus zu entwickeln, welche Momente des „Positiven" in der Konfrontation mit weltlichem Leben sich ergeben, bzw. welche Momente erst später hineingetragen worden sind.

a) Die Erzählung Das Leben Jesu ist eine Erzählung, die zu einer Art Lehrstück wird und deshalb bewußt den traditionellen Vorlagen über das Leben und die Lehre Jesu kritisch gegenübertritt. Die Methode, die Hegel zur Bearbeitung verwendet, ist des öfteren in einen Zusammenhang mit dem Kantischen Diktum in der Religionsschrift über die rationale Exegese religiöser Schriften gestellt worden. Nach Kant sollte der reine Vernunftglauben, der über jedem historischen Glauben steht, auch als höchster Ausleger der historischen Glaubensschriften gelten (vgl. AA 6. 112). Das Ziel eines solchen Umgangs mit den Schriften sah er dementsprechend in einer möglichst direkten Beförderung des moralischen Verhaltens der Menschen. Zweifelsohne ist eine Tendenz zu dieser Kantischen Intention bei Hegel spürbar. Nicht zu überhören ist der pädagogische Ton, die appellierende Stimme der Moralität. Würde man nur die Lehre Jesu als vorbildlichen Gehalt der 2 Insbesondere neigt Theodor Haering {Hegel. Bd 1. 186 f) dazu, Das Leben Jesu als eine „Vorarbeit" zu sehen. Hegel versuche darin die Moralität Jesu als eine „historische Tatsache" festzuhalten, damit er sodann besser beurteilen könne, inwieweit sie sich tatsächlich als „Volksreligion" eigne. Haering geht sogar noch einen Schritt weiter und meint, daß Hegel bereits in dieser „Vorarbeit" sein Urteil zu sprechen beginne. Diese Einschätzung scheint mir etwas für sich zu haben, allerdings muß Haering entgegengehalten werden, daß es Hegel um mehr geht als nur um die Sehnsucht nach dem lebendigen Ganzen.

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Erzählung beiziehen, so hätte sie eine Ähnlichkeit mit den strengen kantianisierenden Sittenpredigten, die in den 90er Jahren in Bern das neue Erziehungsideal begleiten. Ferner dürften auch die rationalistische Lesart der Lehren Jesu sowie die auf die Beförderung der Moralität hin selektierte Wiedergabe der Lebensgeschichte auf Kantischen Einfluß zurückgehen.^ Das allzu Wundersame bleibt ausgeklammert: der Geburtsmythos, die Wunder sind völlig ausgespart, die Person Jesu ist ohne charismatische Umhüllung wiedergegeben; die Lehren Jesu interpretiert Hegel ganz im Lichte einer Moralität, die sogar das ansonsten gängige christliche Liebestheorem beiseite läßH. Der Erzählstil ist, dem beschriebenen Gegenstand angemessen, äußerst prägnant und realistisch. Wo das Leben Jesu akzentmäßig in den Blickpunkt rückt, nähert sich die Erzählung einem trockenen historischen Bericht an. Besonders in der Schilderung der harten Konfrontation Jesu mit der jüdischen und römischen Welt nimmt der realistische Stil überhand. Das Opfer Jesu, seine Leiden, der Akt der Kreuzigung sind in nüchternen Details festgehalten. Wie schon bei seinen Bemerkungen zu den Hinrichtungsszenen der bernischen Justiz scheut Hegel auch hier nicht vor einer Darstellung schreckhafter Realität zurück. Die harte Aufopferung des Körpers ist offenbar eine Erfahrungssequenz, die modifiziert auf seine theoretischen Motive übergreift. Reine Moralität kommt nicht ohne Leiden und Aufopferung zum Prozeß; der Bewegungsgang des Bewußtseins erinnert nachträglich noch immer an die „Gewalt", die es zu „leiden" hatte (vgl. Phänomenologie GW 9. 57). Obschon die rationalistische Lesart überwiegt und sich gegen historisch Tradiertes wendet, verzichtet Hegel keineswegs auf eine Einheit von dargestelltem und historischem Gegenstand. Der Zweck der Lesart liegt zwar primär in der Nachzeichnung eines Bildes der Moralität, nicht in der Annäherung ans historische Faktum, was die Arbeit eines Fachhistorikers wäre. Trotzdem will Hegel von der historischen Dimension seines Unternehmens nicht absehen. Seine 3 Vgl. Wilhelm Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. 19 ff — Zur Anlehnung Hegels an Kants moralische Christologie siehe auch Ferdinando Ormea: La religione del giovane Hegel. Roma 1972. 189 ff. Sofern Hegel sich von Kants Vorstellung des „Gott wohlgefälligen Menschen" (siehe z. B. Religionsschriß AA 6. 60 f) leiten läßt, güt dies gewiß nur für die Darstellungsebene, nicht auch für die Bewertung. Es ist evident, daß Kant die christliche Religion in seinem Moralitätskonzept leichter unterbringen kann als Hegel. 4 Dieses findet sich einzig GW 1. 265 = N 125.

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punktuellen Rückgriffe auf die Evangelien weisen jedenfalls darauf hin, daß er sich um eine genauere Geschichtsschreibung bemüht. Ob und wie weit er sich dabei bereits von geschichtsmethodologischen Überlegungen leiten läßt, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden. ^ Die Anregungen, die er von Schillers Bemerkungen über den philosophischen Geschichtsforscher erhalten kann, lassen allerdings gezieltere Vermutungen zu. Die Kombination rationalistisch-moralischer und historisch-faktischer Rekonstruktion scheint hier für Hegel wohl schon ein Leitprinzip zu sein. Mit der vorgängigen Distanz zum historischen Faktum, mithin dem Blick auf ein vernünftiges Regulativ, das an den historischen Fakten zu prüfen sein wird, erhält er ein adäquateres Geschichtsbild vom Leben Jesu, als wenn er sich nur beim historischen Faktum aufhielte. Mit letzterem würde er vielleicht „näher" am geschichtlichen Einzelobjekt bzw. an der historischen Überlieferung stehen, allerdings verbürgen die einzelnen Fakten, da sie schließlich meist auch noch legendenbeladen sind, noch kein genaueres Geschichtsbild. Hegel stellt sich bei alledem nicht zuletzt gegen historische Faktenwahrheiten, weil diese den Zugang zu einem vernünftigen Verständnis des Historischen in der Regel paralysieren, nicht weil er sie prinzipiell als irrelevant erachtet. Die Vernunft hat demnach auf den „historischen Glauben" derart zu reagieren, daß sie „die heilige Geschichte wie ein anderes Werk behandelt", d. h. all seinen Mystifizierungen zum Zwecke eines instrumentalisierten Volksglaubens Rechnung trägt (vgl. GW 1. 160 = N 67). b) Die Lehre Jesu Die Lehre Jesu, die Hegel aus den historischen Vorlagen herausmodelliert, gleicht der Position des Vernunftglaubens, die er in der Linie seines Kantisch-Fichteschen Denkweges Ende 1794 expliziert hat. Die vernünftige Moralität dominiert die Sinnlichkeit oder verbindet sich mit ihr im Medium verschiedener Schattierungen einer natürlichen Moralität; die Gottheit, wo sie überhaupt auftritt, wird 5 Hans-Otto Rebstock: Hegels Auffassung des Mythos in seinen Frühschriften, 86 f, deutet Hegels Methode in diesem Punkt als Zwischenform von „historisch-kritischer" und „rationaler" (Vemunftmaßstab) Bearbeitung des Stoffs. Für den Geschmack von WolfDieter Marsch: Gegenwart Christi in der Gesellschaft, 93, bewegt sich Hegel etwas allzu stark in einem aktualisierenden Freistil. Er sieht die Erzählung als „teilweise belustigende Umdeutung der synoptischen Tradition des Leben Jesu".

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im Immanenzzusammenhang der Moralität gedeutet. Ganz im Sinne der zur höchsten immanenten Selbsttätigkeit gesteigerten vernünftigen Moralität scheint Hegels einleitende Äußerung gelesen werden zu können: „Die reine aller Schranken unfähige Vernunft ist die Gottheit selbst — Nach Vernunft ist also der Plan der Welt überhaupt geordnet..." (GW 1. 207 = N 75)^ Dieser Grundgedanke Hegels, der philosophisch-systematisch recht unterschiedliche Deutungen zuläßt^, wird im folgenden nicht eigentlich konzeptuell weiterreflektiert, vielmehr in der bekannten Weise als Aufforderung zur Moralität thematisiert. Die Lehre Jesu, die Hegel emphatisch als gelebte Lehre darstellt, besteht in nichts anderem als der Rückbesinnung der Menschen auf sich selbst, auf den ihnen ein wohnenden göttlichen Willen. Die Vernunft erhält dabei oft neben dem strengen Kantischen Sinn einen bildlich-affektiven Gehalt zugeordnet. Vernunft ist „Quelle der Wahrheit und der Beruhigung", „Erkenntnis der ächten Moralität" oder steht in Verbindung mit der „gelaüterten Verehrung Gottes" (GW 1. 207 = N75). Obschon Kantische Begrifflichkeit und Kantischer Sinn generell stärker in Einklang zu stehen scheinen als in den bisher thematisierten Schriften, finden sich vereinzelt klare Umdeutungen. Reine Moralität oder Vernunft zeigen sich — auf den einfachen Menschen ausgerichtet — als die „unverfälschte Stimme" des „Herzens und Gewissens" (GW 1. 234 = N 98); und die Erkenntnis der „Pflicht" für jeden soll etwas sein, was jedes „unverdorbene Herz" selber wird „fühlen" können (GW 1. 238 = N 102). Aus dem Munde Jesu läßt Hegel so etwas wie eine popularisierte Fassung des Kantischen Moralitätspathos sprechen. Mit Hegels mittelbarer Formulierung einer Moralität, die sich den Kantischen Pflichtbegriff zu eigen macht, verschärft sich freilich der von uns verfolgte Gegensatz von Vernunft und Sinnlichkeit. Sofern der Versuch, ihn zu überwinden, von Hegel hier überhaupt beabsichtigt ist, liegt er in einer Fichteschen Moralisierung der Natur, die zugleich die Natur als solche, die Natur mit ihren Schranken respektieren will. Die Rechte der Es dürfte nicht unbedeutend sein, daß Hegel sich mit diesem Grundgedanken auf das Johannes-Evangelium stützt. Die Auslegung der Geschichte Jesu nach diesem — quellenhistorisch recht ungesicherten — Evangelium kommt gewiß Hegels Skizzierung eines Jesu, der mit reinster Vernunftmoralität alles Objektive des jüdischen Glaubens von sich weist, sehr entgegen. Zur Kritik des johanneischen Jesu als eines Thoraüberwinders siehe Pinchas E. Lapide: Der Rabbi von Nazareth. 55. 7 Kurt Wolf: Die Religionsphilosophie des jungen Hegel, 198, Anm. 10, sieht in ihm ein Indiz für Hegels beginnenden Pantheismus.

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Natur kommen gegenüber der Vernunft insofern zur Geltung, als die Vernunft die „Triebe der Natur" nicht „verdammt", sie vielmehr „leitet" und „veredelt" (GW 1. 212 = N 80). Daneben soll Natur in ihrer Unschuld belassen sein, da kein „körperliches Ding" von sich aus den Menschen zu „verunreinigen" vermag (GW 1. 230 = N 95); sie wird, wie das Beispiel des seine Übermenschlichkeit erwägenden Jesu zeigt, akzeptiert. Denn es ist „unter der Würde des Menschen", die Naturschranke gegen außen zu überschreiten, da er diese „Macht" lediglich im Innern besitzt (GW 1. 209 = N 77).® Was bereits mit der historischen Darstellung der Moralität angesprochen worden ist, nämlich das Entwicklungsmotiv und das retrospektive Aufsuchen unentwickelter oder analogischer Formen der Moralität, ist hier im Text indirekt durch die traditionelle christliche Metaphorik vertreten. Im Zusammenhang mit Johannes dem Täufer, dem Vorläufer Jesu, ist von einem „göttlichen Funken" die Rede, der Moralität gleichsam in mystischem Gewand erstmals auftreten läßt (vgl. GW 1. 207 = N 75). Die Inhalte der reinen Moralität sind meist in Metaphern gekleidet, zeigen sich in Bildern des Lebendigen und Ersprießlichen. Die Lehre Jesu, wie sie von den Jüngern ausgebreitet wird, gleicht dem „Salz der Erde", den „Lichtern der Welt" (GW 1. 215 = N 82); die Quelle des Lichts ist Wandlungen unterworfen, wird von der „Finsternis" bedroht, erhält sich auch in dunklen Zeiten als „schwacher Schimmer" (GW 1. 207 = N 75). Dabei ist das Gleichnis des „Saamens", der ausgesät wird, sich gegen das „Unkraut" zur Wehr setzen muß, „aufschist", „volle Ähren trägt" (GW 1. 228 f = N 93), auch als ein geschichtsphilosophisches Bild zu nehmen, das für Hegel von konzeptueller Bedeutung ist. Analog zur Metamorphose im Bereich des organisch Lebendigen durchwandert der Geist die verschiedenen Formen des Körpers. Seinen Jesus läßt Hegel, dieses Bild ins Tragische wendend, verlauten: „Wie ein Saatkorn, das in die Erde gelegt wird, erst abstirbt, daß sein Keim zu einem Halm aufschieße — so verlange auch ich nicht, die Früchte von dem zu erleben, was der Zwek meiner Arbeit war, — so hat auch der Geist in der Hülle dieses Körpers seine Bestimmung nicht vollendet." (GW I.

* Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, Bd 3, 152 f, meint zu dieser Stelle — der Versuchung Jesu —, Hegel akzeptiere bei aller radikalen Parteinahme für die lebendige Moralität ein gewisses Moment des „Positiven". Die Naturschranke als solche werde vom moralischen Wesen nicht angetastet. Eine nicht uninteressante These, bedenkt man die kommenden Differenzierungen im Begriff des „Positiven".

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258 = N 119). Selbstverständlich kommt dieses Bild einem Gemeinplatz christlicher Mythologie gleich, so daß sich uns hier a priori keine tiefere Bedeutung für Hegels eigene Reflexion aufdrängt. Da solche Metaphorik schon in der Entstehungszeit der christlichen Religion als Veranschaulichung des Lehrgehalts fungiert, wird Hegel in ihm auch keine tiefere Wahrheit der Vernunft wahrnehmen müssen.^ Jedoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Hegel in der Tat mit diesem und anderen Bildern kokettiert, sie ernsthaft als mythische Eormen der vernünftigen Moralität in Erwägung zieht und sie deshalb auch begrifflich mit dieser zu verbinden gedenkt. Sie in der Erzählung als simple Wiedergaben christlicher Stoffe sehen zu wollen, wäre inadäquat, ginge völlig an Hegels Interesse einer Versinnlichung der Religion vorbei. Auch die Annahme, Hegel schließe sich in der Beurteilung christlicher Metaphorik der Kantischen Auffassung an, wonach diese als Illustration der Moralität in pädagogischer Absicht Verwendung finden soll, greift zu kurz. Man darf vielmehr mit einiger Berechtigung die These vertreten, daß Hegel solchen Bildern eine geradezu systematische Bedeutung zuerkennt. Offenbar geht es ihm auch hier um dasjenige Problem, das sich im Rahmen der Mythologisierung und Asthetisierung der Vernunft immer deutlicher heraussteilen wird, nämlich um eine der Vernunft gemäße und mit ihr zu vereinbarende Auffassung von den Gehalten der Mythen und Parabeln. Hegel führt mit seiner Erzählung ein Beispiel vernünftig gemachter Mythologie aus; faktisch versucht er zu leisten, was im Ältesten Systemprogramm bald darauf offen postuliert wird; „. . . ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen . . . die Mythologie muß philosophisch werden . . Das bedeutet selbstredend, daß der Gehalt der Mythologie wieder ernster zu nehmen, ihre hinfällig gewordene Punktion zurückzuholen und mittels Vernunft zu re-interpretieren ist.ii ^ Die Gleichnisreden werden vom Meister offensichtlich als exoterische Darstellung verwendet — seinen Jüngern erklärt er ihren Sinn. Vgl. etwa Matthäus 13, 34—52; Markus 4, 10—34; Lukas 8, 9—21. 10 MdV. 13. Z. 21-23. 11 Zu Hegels Absicht, christliche Mythen mit dem philosophischen Logos zu vereinen, siehe besonders Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. 30 f. — Obschon diese Absicht von Hegel gewiß erst dort gezielt verfolgt wird, wo er das Christentum als progressive historische Kraft akzeptiert, ist nicht auszuschließen, daß er bereits hier, in seiner Phase der Kritik des Christentums, einer Vereinheitlichung von christlichem Mythos und philosophischer Vernunft vorarbeitet. Man muß deshalb keineswegs, wie Löwith dies tut, von der prinzipiellen Annahme ausgehen, Hegel habe „sein ,Begrei-

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Hegels Gedankengänge sind aufgrund der Vielschichtigkeit der Erzählung insgesamt schwer auf eine bestimmte Richtung festzulegen. Da er, wie eingangs problematisiert, seine Position mittelbar über Leben und Lehre Jesu darstellt, ist zudem seine eigene Überzeugung von der referierten (von ihm nicht geteilten) Position nicht immer leicht zu unterscheiden. Dem von Jesus vertretenen Moralitätsverständnis steht er sichtlich geteilt gegenüber. Einiges an der Lehre Jesu trifft sich mit Hegels eigenem philosophischen Konzept, anderes wird gerade durch die Art der Darstellung mit einer selbstkritischen — und dies gilt auch für Hegels eigene Position — Nuance versehen. Der Weg der Selbstkritik ergibt sich, wenn man die Frage der Metaphorik beiseite läßt und die Funktion der Lehre Jesu genauer verfolgt. Diese entspricht ziemlich genau dem, was Hegel mit der ersten, noch sehr polaren Unterscheidung von „subjektiver" und „objektiver Religion" geäußert hat: Jesus bekämpft auf der Grundlage einer inneren Vernunftmoralität alle äußeren Rituale, alle Mechanik der mosaischen Gesetze der Juden (vgl. GW 1. 222 f = N 88 f.) Den Krämergeist des Judentums jagt er zum Tempel hinaus, er bricht mit den jüdischen Ritualen während des Sabbats, da die Moralität über aller Legalität stehen soll. Die Befolgung des „Buchstabens" genügt nicht, es muß ganz Kantisch „im Geiste des Gesetzes aus Achtung für Pflicht" gehandelt werden (GW 1. 216 = N 83). Dabei geht es Jesus, so Hegel, weniger um ein prinzipielles Brechen der Gesetze denn um „Erfüllung" der Gesetze mit der richtigen Gesinnung. jefen' des Christentums niemals als Negation verstanden, sondern als eine Rechtfertigung des geistigen Gehalts der absoluten Religion" (ebd. 39). In die andere, die Sache ebenfalls verkürzende Richtung geht meines Erachtens Splett. Da er auf einen Berner Hegel stößt, der das Christentum scharf attackiert, sieht er von möglichen Hegelschen Rationalisierungen christlicher Gehalte grundsätzlich ab. Vgl. ]örg Splett: Die Trinitätslehre G. W. F. Hegels. Freiburg, München 1965. 13 ff. Meines Erachtens hat Hamacher nicht unrecht, wenn er in Hegels radikalisiertem Verständnis von Moralität eine Art „Lateralstrategie" erblickt. Er beschreibt diesen Vorgang als „Beispiel eristischer Dialektik, die die Position des Gegners bezieht, um ihn um so sicherer zu schlagen . . ." (Werner Hamacher: Pieroma. 53.) Allerdings würde ich nicht behaupten wollen, daß Hegel diese Strategie hier dezidiert gegen Kant und Fichte anwendet, zumal er deren Moralitätskonzepte immer noch für seine Sache einzuspannen versucht. 13 Offenbar muß die legalitätsfeindliche Moralität Jesu in concreto nicht unbedingt mit den bestehenden Gesetzen kollidieren. Die Grundtendenz der Hegelschen Interpretation hält sich an einen Jesus, der darauf aus ist, die Gesetze mit seinem Geist zu „erfüllen" (z. B. GW 1. 210 = N 78). Gebrochen werden sie lediglich dort, wo sie offen moralitätshemmend sind. Auf einem Notizenblatt von 1795 finden wir ausdrücklich die Bemerkung: „So Jesus, stellte das Princip der Tugend auf, beiher grif er auch di-

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sus trachtet danach, den leeren Gesetzen ihren Sinn zurückzugeben, „diesem todten Gerippe Geist einzuhauchen" (GW 1 216 = 82 f). Gesamthaft zeichnet Hegel das Bild einer reinen, abgehobenen Lehre Jesu, und er folgt an diesem Punkt den Absichten, die dieser selbst mit seiner Lehre verbunden hat. Jesus spricht nicht zuletzt auch über seine Lehre: er will sie möglichst rein erhalten, warnt vor möglichen Verfälschungen, vor dem verfehlten Glauben an seine „Person", d. h. vor einem Messiasglauben, der die Sektenbildung begünstige (vgl. GW 1. 258 ff = 119 ff). Diese Hegelsche Vermittlung einer reinen Lehre Jesu möchte nun offenbar eine gezielte Differenz hervortreten lassen. Widerspricht nicht die radikal abgehobene Vernunftund Herzensmoralität Jesu dem von Hegel nun mehrfach konkretisierten Verständnis der „subjektiven Religion"? Verhält sich die betont verinnerlichte reine Moralität der Lehre Jesu nicht zu gleichgültig gegenüber der Gesetzeslegalität und anderen weltlichen Dingen? Aus der Sicht der bisher von Hegel konkretisierten Kritik am Christentum sind diese Fragen zu bejahen. Besonders dort, wo die Lehre Jesu mit dem Weltlichen in Konflikt gerät, oszilliert sie zwischen radikaler Verinnerlichung der Moralität und unglücklicher Adaption ans gegebene Gesetz. Das Gegebene wird so lediglich vergeistigt. Nur wo sie das Individuum allein im Auge hat, erfüllt sie die Bestimmung „subjektiver Religion". Hegels (immer auch selbstkritisch gemeinter) Vorwurf der Weltferne christlicher Religion schimmert unverkennbar durch. Deutlich kommt er zum Vorschein bei der Rede vom „kommenden Reich Gottes", das nur „inwendig", in den einzelnen Menschen errichtet werden kann und nicht in einer „aüssern glänzenden Vereinigung von Menschen . . ., etwa in der aüssern Form eines Staates, in einer Gesellschaft..." (GW 1. 250 = N 112). Vergleicht man die Lehre Jesu mit dem realen Leben Jesu, so ist dieser Konflikt, dem Hegels dargestellte Kritik entspringt, in seiner ganzen Schärfe zu ersehen.

rekt die Moralitätzerstörenden Sazungen der Juden an, oder suchte sie zu nXriQcooaL, ihnen den Geist derselben zu geben ..." (GW 1. 198 = N 363) Vielleicht verfehlt Hegel damit nicht einmal so sehr den tatsächlichen historischen Jesus. Nach Lapide soll dieser nämlich ein durchaus „thoratreuer Jude" gewesen sein; innerhalb der jüdischen Religion habe er lediglich eine klare „liebespharisäische" Stellung eingenommen. Vgl. Pinchas E. Lapide: Der Rabbi von Nazareth. 52, 57.

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c) Das Leben Jesu Die Lehre Jesu ist zu einem guten Teil sein Leben selbst, sein Leben als Lehrtätigkeit. Zugleich ist sie immer auch Ausdruck seines Lebens. Dieses wäre dabei als prinzipielles Fundament zu sehen, aus dem die Lehre überhaupt erwächst und mit dem sie bald in Konflikt gerät. Das besondere Gewicht, das auf der Betrachtung des Lebens Jesu liegt, hängt sicherlich mit Hegels Absicht der Entmystifizierung der Jesus-Personifikation zusammen. Was die rationale Exegese und die Darstellung der einzelnen Lehrgehalte bewirken, wird mit der Diffundierung der Lehre ins reale Leben Jesu noch verdichtet: Leben und Lehre Jesu tendieren zum Realistischen, das Besondere der Geschichte Jesu, ihre moralische Qualität, soll als realer Gehalt zum Vorschein gebracht werden. ln einem ersten Abschnitt skizziert Hegel Geburt, Erziehung, Nachdenken und öffentliches Auftreten als Lehrer der Person Jesu im Stile eines historischen Berichts (GW 1. 207—212 = N 75—79). Im Mittelteil, der vorwiegend der Lehre gewidmet ist, ergibt sich ein erster wichtiger Konflikt im Leben Jesu: das Verhältnis des schönen, moralischen Individuums zur Bevölkerung wird auf die Probe gestellt. Der Zulauf des Publikums erregt die Aufmerksamkeit der Pharisäer und jüdischen Priesterschaft (GW 1. 222 = N 88), die allmählich um ihren Einfluß fürchten. Zudem sieht sich Jesus gezwungen, seine Individualität in seinem Publikum zu fundieren. So kommt es zur Aussonderung von 12 Jüngern, die ihn in der Ausbreitung seiner Lehre unterstützen (GW 1. 225 = N 90). Im letzten Teil der Erzählung spitzt sich der Konflikt zu, der Stil der Schilderung nähert sich noch pointierter einem historischen Bericht an. Der Konflikt kulminiert über die Stufen Verrat, Gefangennahme, Verhör in der Kreuzigungsszene, und er löst sich auf mit dem Tode, schließlich dem Begräbnis des Toten. Deutet man die Lehre Jesu aus seinem Leben und Schicksal heraus, so wird ersichtlich, worauf Hegel leitmotivisch hinauswill: die Lehre Jesu spiegelt die einfache Lebensform des Individuums, die mit der Ausdehnung auf die Gesellschaft scheitern muß. Jesus bildet sich selbst in aller Abgeschiedenheit von der Gesellschaft als Individuum heraus, er sucht die „abgelegene Gegend" (GW 1. 208 = N 76), entsagt den weltlich-sinnlichen Bedürfnissen, sein „Nachdenken" betreibt er vorgängig in aller „Einsamkeit". Er phantasiert über Mög-

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lichkeiten der weltlichen Macht, sieht sich, da seiner Phantasmen allmählich bewußt, auf seine einsame Individualität zurückgeworfen (vgl. GW 1. 209 = N 77). Als reines moralisches Individuum oder schöne Einzelseele kommt er daraufhin unter die Menschen, tritt mit seinem SOsten Lebensjahr „öffentlich" als Lehrer auf (vgl. GW 1. 210 = N 78). Er spricht somit zu Menschen und nicht zum Volk, aber er spricht unter den Menschen lediglich den individuellen Einzelmenschen an, nicht den Einzelmenschen, der sich durch die Gemeinschaft hindurch gebildet hat. Hierin liegt nicht zuletzt seine moralische Größe und sein anfänglicher Erfolg auf seinem Weg jenseits der elitären dogmatischen Religionsfehden. Dieser Weg bringt ihn aber bald in einen ausweglosen Widerspruch mit Gesellschaft und Staat, da seine Lehre in diese eingreifen soll, dies aber von ihrer Grundstruktur her eigentlich nicht zu tun vermag. Der intendierte, in der Tat harmlose Eingriff provoziert zudem die „Reaktion" der jüdischen Orthodoxie. Sie moniert Gesetzesbrüchigkeit, auch wenn diese — punktuell begangen — lediglich aus einer nicht sonderlich auf die Legalität hin reflektierten reinen Moralität resultiert, eo ipso zufällig ist. Die moralische Unschuld ist gleichsam durch ihr negatives Tun, durch ihre unterlassene Reflexion, schuldig. Die Individuierung der Moralität kann Jesus auch mit der Heranbildung einer Jüngerschaft nicht durchbrechen. Diese nämlich sieht sich aus dem Publikum herausgehoben, da sie dem Leben den Rücken zukehren muß; die Abgespaltenheit des Individuums ist damit nur vervielfacht. Die Individualität Jesu wird zwar erweitert, jedoch nicht der Lebenssubstantialität, sondern nur der Zahl nach. Der Fetisch, der um die bestimmte Zahl der Jünger entsteht, erreicht seine Vorstufe. Die „Vergesellschaftung" einer solchen Individualität mag im kleinen Kreise noch möglich sein, wo man sie auf eine größere Gesellschaft ausdehnt, zerbricht sie. Dies offenbaren bereits die Machtphantasien der Jünger in bezug auf das kommende Reich Gottes. Die Individuierung schlägt gleich um in einen „Streit über den Rang" (GW 1. 235 = N 99), im Ringen um den Vorteil der Privation. Der Verrat an Jesus ist deshalb kein Zufallsakt. Wo der enge Kreis der Jüngerschar auseinanderbricht und weltliche Ansprüche nun Jesus, so hält Hegel fest, stellte seine Tugendgebote über den alten jüdischen Zwistigkeiten auf, d. h. ohne in diese direkt eingreifen zu wollen. Alle argumenta ad hominem waren dadurch vorerst unwichhg, denn ein neues Prinzip der Vernunft sollte nun den Ton angeben (vgl. GW 1. 198 = N 363).

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auch real auftreten, steht die Individualität ohnmächtig da und läßt sich leicht korrumpieren. Ihr Umschlagen in die machtaneignende Privation mag vorerst befremden, so wie auch die Jünger befremdet sind, als sie von Jesus vom Verrat vernehmen, der auf sie zukommen wird. Für Jesus erscheint er nahezu als logische Konsequenz, gleichsam als Faktum eines Widerspruchs, dem nicht mehr auszuweichen und der damit in aller Konsequenz auf sich zu nehmen ist. Zu Judas kann Jesus deshalb nicht viel mehr bemerken als: „ . . . was du thun willst, das thue bald." (GW 1. 265 = N 124) Die notwendige Kehrseite der schönen Individualität ist der abgründige Schrecken, die unaufhaltsame Zerreißung. Weil die reine Moralität Jesu bald in ihr tatsächliches Fundament Einsicht gewinnt, erblickt sie auch das Schicksal, auf das sie nolens volens zugeht. Noch bevor er seinem persönlichen Schicksal entgegensieht, macht Jesus, als ob er vor sich selbst zu warnen hätte, auf das Schicksal seiner Lehre aufmerksam: „Glaubt ihr etwa, ich habe euch zu einem ruhigen Lebensgenuß eingeladen? eine kummerfreie, glückliche Zukunft sey auch das Schicksal das ich für mich erwarte, und verlange? Nein, Verfolgung wird mein Loos seyn, so wie das eure! Uneinigkeit und Streit die Folge, die meine Lehren haben werden — Dieser Streit zwischen Laster und Tugend . . . wird Freunde und Familien entzweien — Dieser Streit wird dem bessern Theile der Menschheit Ehre machen, aber unseelig wird er seyn, wenn die, die das Alte stürzten, weil es der Freiheit der Vernunft Fesseln anlegte, und die Quellen der Sittlichkeit verunreinigte — an seine Stelle, wieder einen befohlnen Glauben an Buchstaben gebunden, sezten, der von neuem der Vernunft das Rechte nähme, aus sich selbst das Gesez zu schöpfen ..." (GW 1. 242 f = N 105 f) Das Schicksal der Lehre fordert nicht bloß ihren unmittelbaren Untergang, sondern treibt auch zum nachträglichen Kampf um sie und führt zur Verzerrung der auferstandenen Lehre. In ihm sind schließlich die Wurzeln jenes „Positiven" der christlichen Lehre, das sie selbst anfangs vehement bekämpft hat. Es ist hier fraglich, ob Flegel seinem Jesus eine klare Einsicht in das mitverschuldete Schicksal und die mißlichen Folgen seiner schönen Individualität zuschreiben will; letztlich geht auch nicht explizit hervor, wie weit Flegel das Schicksal Jesu und seiner Lehre tatsächlich seinem moralischen Leben selbst zurechnet. Wie erwähnt erzählt Flegel das Leben Jesu, ohne es ausdrücklich zu kommentieren, er läßt die Erzählung selber sprechen. Unverkennbar ist die allgemeine Tendenz einer Kritik an der abstrakten Individualität. Erst aus einem

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Fragment aus der Frankfurter Zeit, das Nohl mit Das Schicksal Jesu betitelt hat, geht in aller Klarheit hervor, daß Hegel die Wurzeln des „Positiven" unmittelbar im Leben Jesu sieht und der Person Jesu auch ein Bewußtsein ihrer Zerrissenheit zuerkennt. Hegel argumentiert in einigen Passagen dieses Fragments (vgl. N 325—31) wiederum ganz im Tone der Jesus-Kritik, den man bereits in den Fragmenten bis 1794 vernommen hat. Er beschreibt das Leben Jesu unter dem Aspekt seines Rückzugs aus Familie und Gesellschaft, als Leben der sich vervollkommnenden Individualität, das durch Weltflucht geprägt ist. Die Verweltlichung dieser Weltflucht terminiert deshalb in der Hypostasierung einer „Privatperson", einem „Bürger des Reich Gottes", der ganz isoliert einem „feindseligen Staate" entgegentreten muß (N 327). Sie gleicht — im Hinblick auf realisierte Verweltlichung — dem abstrakten Staatsbürger auf der Grundlage des privat organisierten Gesellschafts- und Staatslebens, das Hegel an den modernen Staaten kritisiert. Jesus läßt das „Schicksal der Nation" unangetastet. Das Band zum Gesellschaftsleben zerschneidet er von vornherein, und was an „Menge der Beziehungen, an Mannigfaltigkeiten froher und schöner Bande ,verloren geht', ersetzt sich durch Gewinn an isolierter Individualität, und dem engherzigen Bewußtsein von Eigentümlichkeiten" (N 327 f). In der Situation, wo die Bande zerrissen sind, wird Jesus schließlich zu einem Menschen, der an einem unglücklichen Bewußtsein leidet. Er erfährt den Widerspruch seines Geistes „mit Bewußtsein leidend" (ebd.). Im ohnmächtigen Kampf sieht er seine Gemeinde von ihrem Gegenüber zerrissen werden, aus der Heiligkeit ins radikale Gegenteil verfallend: „ . . . der Kampf des Reinen mit dem Unreinen ist ein erhabener Anblick, der sich aber bald in einen gräßlichen verwandelt, wenn das Heilige selbst vom Unheiligen gelitten ..." (N 329) Die Gräßlichkeit dieser Zerrüttung hat er selbst prophezeit und damit offenbar die Folge seiner Individuierung vorausgesehen. Die Schuld nimmt er deshalb auch willig auf sich; seine Individualität opfert er auf in der Hoffnung, die Moralität möge in ein gemeinschaftlicheres, versöhnteres Prinzip übergehen. In Das Leben Jesu tritt diese kritische Beurteilung der Person Jesu natürlich nicht derart scharf und ausdrücklich auf, sie wird hier eher Es zeichnet sich jene Denkfigur ab, die bekanntlich bei Marx unter dem Aspekt der Verdoppelung des Menschen in einen „bourgeois" und einen „citoyen" thematisch wird (MEW 1. 355).

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in indirekter Weise deutlich gemacht. Daß Hegel dadurch auch entscheidend in seiner anti-kantischen Tendenz bestärkt wird, dürfte klar geworden sein. Hegels eigene Position kann nun weit weniger in seiner partiellen Identifikation mit dem dargestellten kantianisierenden Jesus gesucht werden, Die bisherige Hegelsche Versinnlichung der Kantischen Moralität setzt sich um einen weiteren Schritt vom Kantischen Vorbild ab. Keineswegs führt dieser Schritt insgesamt aber schon zu einer gegen die Moralität gerichteten metaphysisch-pantheistischen Wende, das Korrektiv zum bisherigen Moralitätsverständnis Hegels zeigt sich vielmehr in der Erkenntnis des Schicksals und der sozialen Macht, in die Moralität je schon verwoben ist. Die These, wonach es Hegel vorab um den aufgezeigten Konflikt, mithin um das Leben und Schicksal Jesu geht, wird noch einhelliger durch den letzten Teil der Erzählung — die Gefangennahme, Aburteilung und Kreuzigung — gestützt. Die individuierte Gemeinde fällt mit der Gefangennahme Jesu vollends auseinander. Mit ihr beginnt ihre völlige Ohnmacht, die sich in der Differenz zu ihrem auftretenden Schicksal wider spiegelt. Das Individuum Jesu erfährt die Eerne zum Anderen nun als dessen Reaktion, die ihm ganz und gar unverständlich erscheinen muß („sie wissen nicht, was sie thun!"), die aber dennoch Teil des eigenen Tuns ist. Das Nicht-Wissen trifft auch das Individuum selbst. Gesetze und weltliche Macht empfindet das Individuum lediglich als äußeres Schicksal, — ein Schicksal, das als blinde Notwendigkeit auftritt, in sich aber zufällig und unberechenbar agiert — als eine Logik, die ihm als Außenstehendem nicht einsichtig sein kann. Das Individuum ist, während es allen Ernstes aufgeopfert wird, Spielball der Mächte, die sich untereinander formieren und ihre innere Logik von Vereinigung und Differenz abwikkeln. Die Entzweiung zwischen Individuum und seinem Schicksal gibt ein gegenseitiges Mißverständnis zum besten, aber derart, daß bei allem makabren Zwischenspiel das tragische Ende für das Individuum unerbittlich naht. Die Anklage Jesu verläuft in dieser Konstellation äußerst formell; entschieden ist sie ohnehin aufgrund der

Die Annahme einer solchen Identifikation läßt sich nun auch nicht mehr dadurch retten, daß man, wie Hans Küng: Menschwerdung Gottes, 118, glaubhaft zu machen versucht, Hegel anerkenne die moralische Religion Christi zumindest im Bereich der „Privatreligion". Da ist Hegel doch allzu eindeutig gegen allen Privatcharakter der Religion eingestimmt.

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„Maxime" des jüdischen Hohepriesters, „Einen zum Besten des ganzen Volkes aufzuopfern sei Pflicht"!^ (GW 1. 270 = N 129). Zum Todesurteil genügt deshalb ein Abstraktum; der Vorwurf der Gotteslästerung. Um dieses Todesurteil vor Pilatus, dem römischen Statthalter, zu legitimieren, muß eine Reihe von Anklagepunkten das Abstraktum ausfüllen. Während Jesus das jüdische Gesetz somit als feindliches, forderndes Schicksal erfährt, erlebt er mit der Welt des Pilatus ein gleichgültiges. Der römische Statthalter möchte sich nicht in innerjüdische Angelegenheiten einmischen. Er erkennt in seiner Distanz auch treffend, was dieses Individuum gegenüber weltlichem Schicksal darstellt, er erkennt die Abstraktion noch als das, was sie de facto ist: die Anklage der Juden erscheint ihm als unerheblich, und dementsprechend sieht er in Jesus einen „Schwärmer", der sich für ein „Wort", für eine „Abstraktion" aufopfert (GW 1. 273 = N 132). Selbst der weniger mild gestimmte Herodes, dem die Aburteilung übertragen wird, kann in dieser Abstraktion nur „Gegenstand des Spottes" sehen, keinesfalls etwas Strafwürdiges. Das Schicksal, das Jesu ereilt, erweist sich im Endeffekt von innen gesehen als Kompromiß und zugleich Akt der Loyalität im jüdischrömischen Herr Schaf tsverhältnis. Die Aufopferung Jesu für seine Lehre ist von daher das äußerliche Opfer einer restaurierten inneren Stabilität. So kann sich etwa die unterbrochene Freundschaft zwischen Pilatus und Herodes, da jener die Gerichtsbarkeit des Herodes über den Galiläer Jesus respektiert hat, wieder hersteilen (vgl. GW 1. 274 = N 132). Die jüdische Priesterschaft mitsamt Pöbel schwingt sich, um Pilatus umzustimmen, zu einem Akt der freiwilligen Unterwerfung auf, in dem sogar an die „Ehre Cäsars" appelliert, ja mit dieser gegen Pilatus gedroht wird (vgl. GW 1. 276 = N 134). Pilatus sieht sich darauf genötigt, auf die Forderungen der Juden einzugehen, damit sich deren Loyalität nicht noch gegen ihn selbst wendet. Da alle Beruhigungsversuche mittels Spott und Spiel nichts ausrichten können, gibt er nach und läßt die Kreuzigung zu. Seinen Willen setzt er immerhin symbolisch durch, indem er zur Verärgerung der jüdischen Priesterschaft den Ausspruch „dies ist der König der Juden" am Kreuz anbringen läßt. Mit der Kreuzigung ist der Akt der Loyalität abgeschlossen, er geht über in den kommenden Festtag der Juden. Das Individuum Jesus opfert indessen seinen Körper unter Man beachte hier die Sprache: Kantische Begriffe aus dem Munde des jüdischen Hohepriesters!

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größtem Schmerz auf und endet im Tod. Mit dem Tod und dem Begräbnis beendet Hegel die Erzählung. Der Abbruch an dieser Stelle läßt das Schicksal in aller Härte stehen und wirken. Es folgt keine Beschönigung, keine Auferstehung, die dem Opfer nun einen versöhnenden Sinn verleihen könnte. Der Gedanke liegt nahe, daß Hegel das Opfer Jesu als mißlungene Aussöhnung auf möglicher höherer Stufe deutet. Dafür spricht nicht zuletzt das besondere Augenmerk, das er auf die Kreuzigungsszene richtet. Mit ihr gehen die Intentionen Jesu, die er mit dem Opfergedanken verbunden hat, unter, eine erneute Entzweiung kann sich fortsetzen. Hinsichtlich seiner erfüllten Bestimmung spricht Jesus von einem „Vermächtnis" der Liebe, von einer Hinterlassenschaft der Vernunft, die nun nicht mehr an ihn als geistigen Führer geheftet sein, vielmehr in der Erfahrung und „Selbständigkeit" der Jünger liegen soll (vgl. GW 1. 266 = N 125 f). Seine künftige Bestimmung sieht er indes im Eintritt in eine „höhere Laufbahn in besseren Welten", wo der Geist „schrankenloser sich zum Urquell emporschwingt" (GW 1. 266 = N 126). Die höhere Bahn des Geistes symbolisiert er dabei mit dem Essen des Brotes und Trinken des Weines: Im Mahl negiert der Geist Leib und Blut des empirischen Körpers, versöhnt sich auf höherer Stufe mit ihnen, indem er beide symbolisch wieder-verkörpert, an das Reale mittels eines höheren, symbolischen Realen erinnert.^® Für Hegel ergibt sich nun offenbar diese von Jesus prophezeite neue Verkörperung des Geistes realiter nicht. Der Untergang Jesu endet als tragischer Konflikt der Moralität mit dem objektiven Gesetz, der bestehen bleibt und sich in der kommenden christlichen Religion reproduziert. Wo der neue Geist auftritt, trägt er nichts als die Spuren einer verzerrten Vermählung mit dem Körper, und keineswegs führt er zur gewünschten Durchdringung mit dem Gesellschaftskörper. In den Frankfurter Fragmenten, die unmittelbar an Das Schicksal Jesu anschließen (N 332 ff), führt Hegel diesen Gedanken weiter aus. Die Einschätzung einer mißlungenen Versöhnung bleibt selbst dort erhalten, wo er versucht, die Sache des „Geschichtsforschers" zuDiese Verkörperung erscheint als höher, weil sie symbolisch ist. Jedoch ist hier auch eine höhere reale Verkörperung mit im Spiet, wovon die symbolische Ausdruck ist: die Verkörperung im gemeinschaftlichen Geiste. In beiden Auffassungen sind die verkörperten Objekte nicht mehr bloß physische, sondern — mit Löwith gesprochen — „eine gegenständlich gewordene Gemeinschaft im Geiste“ {Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. 352). Siehe dazu auch Wolf-Dieter Marsch: Gegenwart Christi in der Gesellschaft. 95.

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rückzustellen und dem genuin religiösen Bedürfnis nachzugehen, d. h. wo er die Bedeutung der Auferstehung Jesu aufgreift. Die Auferstehung erweckt seiner Interpretation nach das Bild der Göttlichkeit wieder zum Leben, jedoch ist nur allzu gut die Scheidegrenze ersichtlich, die sich zwischen die „Deifikation" Jesu und den Menschen Jesu, der mit dem „Makel aller Menschlichkeit" behaftet ist, schiebt (vgl. N 335). Es ist gerade die historische Wirklichkeit des Leben Jesu, die eine Scheidung herbeiführt und vergöttert, da sie gleichsam „dem Vergötterten immer wie Blei an den Füßen hängt, das ihn zur Erde zieht" (ebd.). Diese „Deifikation" einer empirischen Realität macht den Charakter der „Zweierleiheit der Naturen" aus, wie sie für die christliche Seele so kennzeichnend ist. Hegel erblickt in ihr nachgerade eine „ungeheure Verbindung"; an ihr haftet die deifizierte individuelle Emotionalität des „am Kreuze Hängenden", mit der nun „Millionen gottsuchender Seelen" sich abzumühen haben. Gegenstand der Anbetung ist nun eine leidende Individualität, die das von Jesus ertragene äußere Schicksal weiter auf sich nimmt, ja es als Erfahrung noch verdichtet. Die „Knechtsgestalt" als die „Hülle des Göttlichen" wird posthum noch zum „Wesen" Gottes gemacht. Wo sie sich vordem lediglich als „Hülle" der Wirklichkeit repräsentiert hat, ist sie als diese nun zur Wirklichkeit verdinglicht. Die schlechte Wirklichkeit „begnügt" sich nicht mehr damit, „Hülle zu sein, und vorüber zu gehen" (ebd.), ist doch die „im Grabe abgestreifte Hülle der Wirklichkeit" gerade als wirkliche Hülle wieder auferstanden. Im Klartext heißt dies, daß alle christliche Religion ihre Resurrektion unter dem Bann der leidenden und rächenden Individualität einerseits, der Re-Judaisierung der wirklichen Religionsausübung andererseits vollzieht. Wenn Hegel nun die Geschichte Jesu als mißlungene Versöhnung des Individuums mit seinem Schicksal wie auch mißlungene Verleiblichung des Geistes deutet, mithin das Christentum als Paradigma der Entzweiung darstellt, so liegt dem eine allgemeine Denkfigur zugrunde, die für seine Philosophie überhaupt zentral ist: die Versöhnung qua Entzweiung und Aufopferung. Mit Das Leben Jesu beginnt eine Übersetzung des Aufopferungs-Mythos in die Sprache der Vernunft. Stirb und Werde. Unter diesem Leitmotiv wäre das Leben Jesu das unglücklichere Pendant zum Leben des Sokrates, der immerhin sein Individuum noch in der Gesellschaft stehend aus dieser herausgehoben hatte. Der Gedankengang der Entwicklung des Individuums als Aufopferung und neue Entfaltung scheint Hegel trotz (oder

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gerade wegen) seiner radikalen Kritik des Christentums intensiver zu tangieren.20 Was mit Jesus und dem Christentum gescheitert ist, kann als eine bestimmte — noch defizitäre — Konstellation der allgemeinen Entwicklungsform des Individuums interpretiert werden, die nun konkreter ins Gesellschaftliche hinein („Volksreligion") zu versenken wäre. Der „spekulative Karfreitag" müßte durch die Geschichte wiederholt und nun auf eine höhere Stufe geführt werden. 2. Das „Positive" Anstelle der „objektiven Religion" steht in den Fragmenten ab Mitte/Ende 1795 die „positive Religion", der „positive Glaube" oder schlicht das „Positive" als zu kritisierender Gegenstand im Zentrum. Diese Umbenennung enthält auf den ersten Blick nicht viel neues. Nach wie vor ist die uns bekannte Religionskritik, die bald eine subjektivistisch erhöhte, bald eine in die historisch-soziale Realität diffundierte Moralität zum Maßstab nimmt, am Werk. Erst aus dem größeren Zusammenhang zeigt sich die inhaltliche Akzentverschiebung: Mit dem „Positiven" versucht Flegel offenbar das Moment der Verdinglichung, des Toten im Verhältnis von „subjektiver" und „objektiver Religion" genauer zu bestimmen. Der thematische Anknüpfungspunkt steht sozusagen im Zeichen der Lehren für die Geschichte, die aus Das Leben Jesu zu ziehen sind. Aus der Darstellung der moralischen Person Jesu folgt nun die genauere Explikation der dort vorbereiteten Kritik. Hegel schickt sich an, das rein Moralische im Leben Jesu von dem von vornherein in ihm angelegten „Positiven" zu scheiden (GW 1. 282—306 = N 153—173). Im Anschluß daran untersucht er die historische Entstehung und Entwicklung des „Positiven" im Christentum. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Aspekt der Institutionalisierung der christlichen Religion durch Kirche und Staat (GW 1. 306—351 = N 173—213). Schließlich läuft dieser Entwurf einer Herrschaftsge20 Daß Hegels Auffassung über das sich entwickelnde Individuum bereits in dieser Phase durch eine Art von „Metaphysik der Bedrohung“ gekennzeichnet ist, hat Hermann Schmitz (Hegel als Denker der Individualität. Meisenheim am Glan 1957. 68 ff) herauszuarbeiten versucht. Das Individuum entwickelt sich aus seinem Verhältnis zur bedrohenden Gegenmacht heraus, indem es diese versöhnend einverleibt. Günter Schulte (Hegel und das Bedürfnis nach Philosophie. Hildesheim, Zürich, New York 1982. 15) hat diesen Vorgang polemisch als „Umarmung des Schreckens" bezeichnet.

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schichte der christlichen Religion mit dem Versuch der theoretischen Aufhebung der Entzweiung einher. Nochmals stellt sich Hegel einschneidend die Frage nach einer möglichen emanzipatorischen „Volksreligion" im Spannungsfeld von griechischer Phantasiereligion und moderner christlicher Kultur (GW 1. 359—378 = N 214—231). Im Rahmen dieser Untersuchungen tauchen kursorisch systematische Fragen zum Begriff des „Positiven" auf. Und neben dem Vereinigungsbedürfnis im Sinne einer Theorie der Tat wird insgesamt die Konzeption einer von Schiller inspirierten ästhetischen Vermittlung von Bedeutung, die partiell in ein neues metaphysisches Staatsdenken übergeht. a) Zu allgemeinen Bestimmungen des „Positiven" 1) Mit dem „Positiven" umschreibt Hegel das, was er bisher wertnegativ als das Gegebene, historisch Tradierte, autoritär Vermittelte ausgeführt und als Form fremder Macht diagnostiziert hat. Das Ergebnis seiner Erörterung der „objektiven Religion" — nämlich die Unterscheidung in einen Teil, der subjektiviert wird, und einen Teil, der ein entfremdetes Objekt bleibt — scheint mit dem „Positiven" nun terminologisch klärend nach vollzogen. Es bezeichnet nämlich mehr oder weniger die Seite des nicht subjektivierten bzw. nicht subjektivierbaren Gegenstandes. Damit erhält der Gegensatz von „subjektiver" und „objektiver Religion" einen neuen Akzent. Das „Positive" stellt sich in gewisser Weise quer zu diesem Gegensatz und läßt deshalb auch eine Differenzierung auf der Seite der „subjektiven Religion" durchschimmern.Der unter dem Stichwort der Objektivierung des Subjektiven thematisierte Denkweg, die Kritik an der allzu verinnerlichten und privaten Moralität, wäre somit gleichfalls terminologisch präzisiert worden. Nun vollzieht Hegel diese Umakzentuierung des Gegensatzes allerdings nicht vollständig. Dem „Positiven" steht beispielsweise nicht explizit der adäquate Gegenbegriff des „Negativen" gegenüber, sondern nach wie vor die mit der „subjektiven Religion" konnotierte Moralität.22 Dennoch dürfte sich mit dem Gegenpart des „Positiven" Siehe dazu Ingtraud Görland: Die Kantkritik des jungen Hegel. 3; Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein. Bd 3. 133.

^ In der im Jahre 1800 verfaßten Einleitung zum Thema der Positivität der christli-

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auch ihre Bedeutung verschoben haben. Die Moralität nimmt denn auch stärker die Rolle eines treibenden Negativen ein, welches dem Gegebenen zuwiderläuft.^3 2) Das „Positive" ist aber nicht bloß im Rahmen dieses terminologischen Nachvollziehens de facto geleisteter Umdeutungen zu sehen; es indiziert auch, die Sache erweiternd, eine spezifische Problematik, in der Hegel sich nun stärker bewegt: nämlich jene des ganzen Staates, der Kirche, dabei vorwiegend der Rechtsioimen dieser Institutionen. Eine gewisse Auseinandersetzung Hegels mit dem Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht scheint mir dabei, allein im Hinblick auf die Bezeichnung „Positives", naheliegend zu sein.24 Bei näherer Hinsicht dürfte auch die Problematik der Kantischen Unterscheidung von Moralität und Legalität eine Rolle spielen. Kant unterscheidet Moralität und Legalität nicht nur in seiner Religionslehre, er reproduziert diese Unterscheidung in verschiedenster Weise auch in seiner Rechtslehre. So trennt er Rechte, die vom Staat als Zwangsgewalt ausgeübt werden können und solche, die nur statutarischer Natur sind, von „unverlierbaren Rechten" der Menschen ab. Diese sind in bezug auf die Staatsgewalt „negativ", sie beruhen auf allgemeiner natürlicher oder vernünftiger Einsicht.^5 In der allerdings erst 1797 erschienenen Metaphysik der Sitten nimmt Kant eine ähnliche Unterscheidung im Rahmen der vom reinen moralischen Gesetz zu trennenden „äußeren Gesetzgebung" vor. Hierzu stellt er differenchen Religion operiert Hegel mit dem Gegensatz von „natürlicher" und „positiver Religion" (vgl. N 139). 23 Das kritische Abarbeiten am bloß Gegenständlichen, Positiven, das Hegel später in all seinen Nuancen unter dem Begriff der Negativitäf vorführt, nimmt jedenfalls schon hier Gestalt an. 24 Zur Erörterung des Verhältnisses von Naturrecht und positivem Recht um 1790 siehe den informativen Beitrag von Diethelm Klippel: Naturrecht als politische Theorie. In: H. E. Bödeker / U. Herrmann (Hrsg): Aufklärung als Politisierung — Politisierung der Aufklärung. Hamburg 1987. 273 ff. — Zum Einfluß der Naturrechtslehre auf den jungen Hegel siehe Norberto Bobbio: Hegel et l'ecole du droit naturel. 14. Auch Jamme/Blühdorn (Positiv, Positivität: In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg, von J. Ritter und K. Gründer. Bd 7. Basel 1989. 1112) machen darauf aufmerksam, Hegels Begriff des „Positiven" bzw. der „Positivität" stamme aus den damaligen Naturrechts-Debatten (vgl. dazu das frühe Sulzer-Exzerpt Hegels in Dok 112—115). — Unmittelbar vor Hegel versucht bereits Reinhold den Gegensatz von Naturrecht und positivem Recht für die Religionsphilosophie fruchtbar zu machen. In Analogie dazu unterscheidet er zwischen „reiner" und „positiver Religion". Vgl. Karl Leonhard Reinhold: Briefe über die Kahtische Philosophie. Leipzig 1923. Bd 1. Sechster Brief. 139 f. 25 Vgl. Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis. AA 8. 303 ff.

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zierend neben die a priori durch Vernunft erkannten (äußeren) „natürlichen Gesetze" die sogenannten „positiven Gesetze" (AA 6. 224). Letztere können im Unterschied zu ersteren ohne äußere Gesetzgebung gar nicht verbindlich sein, sie sind auf eine positive Satzung unbedingt angewiesen. An anderer Stelle präzisiert Kant diese Unterteilung, indem er das „Naturrecht, das auf lauter Prinzipien a priori beruht", vom „positiven (statutarischen) Recht, was aus dem Willen eines Gesetzgebers hervorgeht", abhebt (ebd. 237). Eine ähnliche, jedoch insgesamt mehr technische Bestimmung des „positiven Gesetzes" findet sich in Fichtes 1796 erschienener Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaflslehre. „Positive Gesetze" sind ihm zufolge solche, die sich aus der Anwendung des Rechtsgesetzes „auf die möglichen Fälle, die Vorkommen können", ergeben.^^ ln diesem Zusammenhang ist der Einfluß von Kant und Fichte auf Flegel freilich nicht als unmittelbar zu verstehen, nicht die exakte Terminologie betreffend. Dies allein deshalb nicht, weil er das „Positive" zeitlich vor den genannten einschlägigen Werken von Kant und Fichte zu thematisieren beginnt. Gemeinsamkeiten ergeben sich aber aus dem methodischen Denkweg der Deduktion oder Anwendung der Moralität auf alle möglichen Gegenstände, der beispielsweise bei Kant programmatisch für die Rechtssphäre schon einige Jahre vorher festgelegt worden ist.^^ Hegels Bemühen, innerhalb der Rechtssphäre die Legalität nach dem Leitfaden der Vernunft zu konzipieren, den Staat mithin auch als moralisches Wesen, schließt damit gewiß an ein Kantisches Unternehmen an: Mit Kant und Fichte verteidigt Hegel allgemeine Freiheitsrechte, die die Vernunft präjudiziert und die deshalb nicht als äußere Gesetze bestimmt werden müssen bzw. als positive Vorschriften festzulegen sind. Allerdings spielt nun bei Hegel innerhalb dieses methodischen Denkweges das „Positive" eine weit zentralere Rolle als bei Kant und Fichte. Während diese es vornehmlich auf den statutarischen Teil der Gesetzesebene beziehen, wird es für Hegel geradezu zum Schlüsselbegriff seines weiteren Denkens. Das „Positive" fungiert als entscheidendes Theorem seines Entfremdungskonzepts. Es trifft das zu kritisierende Moment der Herrschaftsverhältnisse schlechthin und provoziert deshalb eine radikale, umgestaltende Kritik. Hegel bezeichnet mit ihm entspre26 Fichte: Werke. Bd 3. 103. 22 So beispielsweise in der genannten Schrift von 1793 Über den Gemeinspruch denken auch an Zum ewigen Frieden von 1795.

zu

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chend auch weniger einen bestimmten Sozialbereich als den reduzierten Zustand eines Verhältnisses verschiedener Bereiche. In diesem Sinne wäre es die Vergegenständlichung eines Nicht-Gegenständlichen oder besser; eines Nicht-bloß-Gegenständlichen. 3) Wenn das „Positive" dergestalt einen verdinglichten, nicht das Subjektive der Moralität gehobenen Gegenstand darstellt, so läuft die Kritik an ihm letztlich auf sein Verschwinden hinaus, sie läßt mit anderen Worten lediglich einen durch Moralität bedingten Gegenstand zu. Nun ist es allerdings fraglich, ob Hegel das „Positive" allein für diese Auffassung reserviert. Denkbar ist in diesem Verhältnis ja auch ein Gegenstand, der schlechthin nicht subjektivierbar bzw. nicht Gegenstand der Moralität sein kann. In der Tat scheint Hegel das „Positive" auch auf diesen Sachverhalt zu beziehen. So sieht er etwa den Bereich der Legalität nicht nur unter der Bedingung des Primats der Moralität, sozusagen im Sinne eines nichtverdinglichten Objektiven, sondern überhaupt als selbständigen Bereich, als Bereich, der sich dem der Moralität entzieht. Das „Positive" wäre damit nicht bloß als besondere Form eines Verhältnisses zu sehen, vielmehr auch als eigens verhandelter Gegenstandsbereich.28 Hegel verwendet den Begriff des „Positiven" in der Regel wertnegativ, denn das „Positive" ist das Verdinglichte, Tote. Gerade dort, wo er das „Positive" als eigenständigen, nichtsubjektivierbaren Bereich faßt und akzeptiert, ergibt sich nun auch ein eher wertneutrales Verständnis.29 Vor allem Theodor Haering hat die These vertreten, Hegel beurteile das „Positive" in gewisser Weise auch wertpositiv, er

28 Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd 3, 133, spricht in diesem Zusammenhang von zwei Bedeutungen des „Positiven". Zum einen kann das „Positive" dem Verständnis des nichtverdinglichten Objekts gleichgesetzt werden, zum anderen bezeichnet es den eigentlichen „negativen Charakter" der „Positivität": das entsubjektivierte oder verdinglichte Objekt. Damit faßt er das „Positive" aber lediglich als Moment einer Verhältnisbestimmung auf. Eine ähnliche Sicht hierzu auch bei Thomas Nipperdey: Positivität und Christentum in Hegels Jugendschrißen. Diss. Köln 1953. 23, 31 ff. 25 In diesem Sinne können jene Denkfiguren verstanden werden, mit denen Hegel analog dem Lessingschen ,ein Glaube / viele Religionen' operiert. Oftmals erscheint das „Positive" auch als ein Moment des sozialen Ganzen, das als notwendiges Übel akzeptiert werden muß, das zur „Unterstützung" des moralischen Glaubens sogar förderlich sein kann (vgl. GW 1. 356, 358 = N 237, 239). In der Einleitung von 1800 begreift Hegel das „Positive" noch pointierter in der Bedeutung eines notwendigen Gegenstandsbereichs: „. . . die Religion muß nun positiv sein, weil es sonst gar keine geben würde." (N 141)

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erwäge so etwas wie eine „gute Positivität".30^ Eine solche These scheint mir schwer haltbar zu sein, arri plausibelsten wäre sie noch, wenn man das „Positive" mit dem angesprochenen nichfverdinglichten Objektiven identifizieren würde. Sicherlich ist Hegel in der Verwendung des Begriffs nicht eindeutig und -läßt deshalb gelegentlich eine solche Identifizierung zu. Im Hinblick auf eine genauere und erweiternde Interpretation der Bedeutung des „Positiven" ist die Abgrenzung von einem solchen Verständnis allerdings sehr sinnvoll und liegt auch durchaus in der Intention des Textes. 4) Während Hegel bei der Erörterung des Verhältnisses von „subjektiver" und „objektiver Religion" bezüglich der Wahrhaftigkeit seines Unternehmens vorwiegend am Wirkungszusammenhang interessiert ist, tritt nun mit dem „Positiven" stärker auch ein Begründungszusammenhang hervor. Was rechtfertigt „subjektive Religion"? Auf welcher Autorität beruht eigentlich der „positive Glaube"? In dem Fragment Ein positiver Glauben. . . (GW 1. 352—358 = N 233—239) unternimmt Hegel den Versuch, das „Positive" diesbezüglich zu definieren. Den „positiven Glauben" bestimmt er als ein „System von religiösen Säzen, das für uns deswegen Wahrheit haben soll, weil es uns geboten ist von einer Autorität, der unsern Glauben zu unterwerfen wir uns nicht weigern können". (GW 1. 352 = N 233) „Positiv" bezeichnet an dieser Stelle weniger den Inhalt von Lehren denn die Form ihrer Autorität, also die bestimmte Form des Wahrheitsanspruchs. Genauer besehen bezeichnet es eine Autorität oder Wahrheitsform, die Wahrheit „unabhängig von unserem Fürwahrhalten" festsetzt; zu klären ist dabei analog zu 30 Vor allem im Zusammenhang der Religion Jesu spricht Theodor Haering (Hegel. Bd 1. 228 f) auch von einer „guten Positivität", d. h. von einem berechtigten „Positiven", das lediglich die Gefahr einer „falschen Positivität" in sich berge. Diese Deutung scheint mir nicht zulässig zu sein, zumal sie auf einem zu krassen Gegensatz von schlechtem Judentum und guter christlicher Religion basiert. Hegel zeigt doch gerade die Entwicklung einer christlichen Religion auf, die sich vom Judentum nicht zu emanzipieren vermag. Offenbar erst in der Jenaer Zeit verwendet Hegel den Begriff des „Positiven" bzw. der „Positivität" in einem wertpositiven Sinne, wobei er hier seine Bedeutung verändert, nicht mehr mit dem bloß Gegebenen gleichgesetzt wird, sondern mit der sittlichen Totalität. Aus dem falschen „Positiven" ist ein „wahrhaft Positives" geworden. Zu dieser Wandlung vgl. Helmut K. Kohlenberger: Der Begriff der Positivität aus geschichtsphilosophischer Sicht, ln: Hegel-Jahrbuch 1968/69. Meisenheim am Glan 1970. Besonders 258. Trotz dieser Umdeutung retten sich Reste des alten Verständnisses von „Positivität" in Hegels spätere Philosophie hinüber, insbesondere in die Kritik des Scheins innerhalb der Logik. Vgl. Michael Theunissen: Sein und Schein. Frankfurt a. M. 1980. 146.

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den zwei grundsätzlichen Bedeutungen des „Positiven", ob die Stellung des für uns bei bestimmten Gegenständen überhaupt in Betracht zu ziehen ist. Hegel rechnet diese Wahrheitsform zu den „objektiven Wahrheiten"3i. Diese sind nun für ihn jedoch gerade uninteressant bzw. inadäquat im Hinblick auf das Ziel einer selbsttätigen, vernünftigen Moralität. Die Absicht Hegels läuft darauf hinaus, aus den „objektiven Wahrheiten" auch „Wahrheiten für uns" oder „subjektive Wahrheiten" zu konzipieren. Dies ist offenbar so zu verstehen, daß das objektiv Gegebene, das Wahrheit beansprucht, nicht einfach hinfällig wird, der Akt des Subjektivierens aber auch nicht bloß als legitimierendes Einsehen in die „objektive Wahrheit" fungiert. „Objektive Wahrheiten", wo sie prinzipiell subjektivierbar oder „für uns" sind, müssen sichtlich dem Maßstab des Subjektiven standhalten können. Mit diesem Vorgang kommt Bewegung in den Gegenstand selbst; er wird nicht mehr nur durch eine „subjektive Wahrheit" in diese aufgelöst. In diesem Zusammenhang ist zudem ersichtlich, daß Hegel die zu prüfenden Gegenstände und die ihnen korrespondierenden Erkenntnisvermögen variiert. Wahrheiten sind ihm Wahrheiten für etwas, für ein bestimmtes Erkenntnisvermögen, sei es Phantasie, Anschauung, Verstand, Vernunft, Wille usw. Der Wahrheit beanspruchende Gegenstand wandert in seiner inneren Struktur von Dingen des Verstandes und Vorstellungsvermögens zum selbsttätigen Sollen, das in der Idee des natürlichen, freien Menschen fundiert ist. Das Problem der Wahrheit ist damit insgesamt nicht mehr nur in einem pragmatisch verstandenen vereinigungsphilosophischen Theorem, der richtigen Wirkung des Gedachten, verankert, sondern nun auch in einem gegenseitigen Prüfen und in einer Art Stufengang der vernünftigen Erkenntnis. Die problematisierte Wahr-

31 Im Zusammenhang der „objektiven Wahrheiten" unterscheidet Hegel drei Arten des „positiven" oder Autoritätsglaubens (vgl. GW 1. 352 f = N 233 f). Erstens erwähnt er den historischen, tradierten Glauben, der seinen Grund im „Zutrauen" zu einer Person, die ihn überliefert, hat und damit — durch diese bewußte Vermittlung — eine gewisse WUlkür des Glaubenden einschließt. Zweitens den Glauben der „positiven Lehren", der ein reiner Zwangsglaube ist, da er über keine Vermittlung aufgenommen wird. Sichflich verbindet Hegel mit diesem Glauben, dem wir es „schlechterdings nicht ausschlagen können zu gehorchen", einen dritten Glauben, den er in die Nähe des für ihn gültigen Vernunftglaubens bringt. Auch dieser stützt sich auf eine Autorität, allerdings auf jene, die uns die eigene Vernunft aufdrängt. Tatsächlich ergibt sich nun mit dieser dritten Art so etwas wie ein gutes „Positives", das Hegel ex definitione zur „subjektiven Wahrheit" rechnen sollte. Diese Konfusion ist für Hegels eigentliche Absicht, die in der Kritik des „Positiven" steckt, aber nicht weiter von Belang.

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heit soll verbunden sein mit der Norm des Subjektiven, die die bloßen „objektiven Wahrheiten" aufhebt; dabei ist sie implizit bezogen auf eine erkenntnisbedingte Genesis vernünftiger Moralität. Der „positive Glaube" kann deshalb auch als noch unentwickeltes, mangelhaftes Bewußtsein definiert werden. Ausdrücklich spricht denn Hegel auch vom „Glauben" als „Mangel des Bewustseyn, daß die Vernunft absolut, in sich selbst vollendet ist" (GW 1. 358 = N 238). Bekanntlich wird Hegel in Glauben und Wissen mittels dieser Argumentation der bloß glaubenden Vernunft auf die Sprünge helfen (vgl. GW 4. 315-324). b) Die Darstellung der „Sache selbst" Der eigentlichen Untersuchung über die Entstehung und Entwicklung des „Positiven" geht eine Art Einleitung voran (GW 1. 281 f = N 152 f), die erneut im Sinne eines Anfangs der Frage nach dem allgemeinen Wesen und Zweck der Religion nachgeht. Thematisch erscheint sie wie eine entwickelte Neufassung der Textpassage (GW 1. 153 f = N 60 f) aus den früheren Berner Fragmenten. Dort hatte Hegel jene Positionen des theologischen Christentums befehdet, die alle Kritik an diesem dadurch immunisieren, daß sie den Kritiker stets an eine „Vorstellung" über die Sache binden und dabei für sich selbst implizit oder explizit die richtige Auslegung derselben beanspruchen. Dabei wurde deutlich: Hegel will sich mit seiner Explikation zum Christentum auf einen solchen unproduktiven Sektenstreit nicht in gleicher Weise einlassen: „Ich glaube daher nicht in den Fehler derjenigen verfallen zu seyn, die andern die Kräze geben, um sie krazen zu können." (GW 1. 153 = N 61)^2 Hier nun nimmt Hegel diesen Streit um „dieses oder jenes System der christlichen Religion" wieder auf, wovon sich eines stets gegen das andere zur „christlichen Religion selbst" (GW 1. 281 = N 152) zu erheben behauptet. Diesmal geht er aber einen Schritt weiter, da er deutlicher die von ihm favorisierte Position der Aufklärung in die Konfrontation mit einbezieht und sie nicht mehr nur rhetorisch versichert und als ein Übergeordnetes setzt: „Die Behandlungsart der 32 Zur Bedeutung des Hegelschen Ausdrucks ,die Krätze geben, um sie kratzen zu können' siehe die Miszelle von Wolfgang Ritzel: Herkunft eines Hegelschen Ausdrucks. In: Hegel-Studien. 2 (1963), 278 ff.

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christlichen Religion, die zu unsern Zeiten im Schwange geht, die Vernunft und Moralität zur Basis ihrer Prüfung, und den Geist der Nationen und Zeiten in der Erklärung zu Hülfe nimmt, — wird von einem durch Kenntnisse, — und gute Absichten sehr ehrwürdigen Theile unsrer Zeitgenossen als wohlthätige Aufklärung angesehen, die zum Ziele der Menschheit, zu Wahrheit und Tugend führe, von dem andern durch gleiche Kenntnisse, und gleich wohlmeinenden Zweke respektabeln, noch dazu durch das Ansehen von Jahrhunderten und der öffentlichen Macht unterstützten Theile für haare Verschlimmerungen ausgeschrieen ..." (ebd.) So stehen sich nachgerade zwei Positionen gegenüber, die formell auf ein und dasselbe Fundament rekurrieren, zugleich aber unversöhnlich auf ihrer eigenen Position beharren. Diese Bedingungen gelten, wie erwähnt, nun auch für die eigene, bevorzugte Position, die sich damit vom Streit nicht einfach absetzen kann, ohne vorerst in ihm zu verbleiben. Mit dieser Streitkonstellation bewegt sich Hegel sichtlich in einer Problematik, die ihm in der „Einleitung" zur Phänomenologie des Geistes zur methodischen Crux wird: gemeint ist das Einlösen des Geltungsanspruchs einer philosophischen Position. In der Phänomenologie problematisiert Hegel dies am Beispiel der philosophischen Wissenschaft. Das „Auftreten" der Wissenschaft, auf deren Position Hegel selbst zu stehen beabsichtigt, ist hier vorerst auch lediglich das eine „neben anderem", ein „trockenes Versichern", das immer nur so viel gilt wie ein anderes (GW 9. 55). Von außen gesehen drängt sich in diesem Dilemma der Standpunkt der leeren Skepsis auf, den Hegel schließlich mit seinem Konzept der „dialektischen Bewegung" (ebd. 60) überwinden will.33 In unserem Text zieht Hegel zur Explikation seiner eigenen Position noch einen weiteren, den Streit verschärfenden Aspekt heran. Im Zuge der Reflexion über seine Abhandlung verweist er auf ein noch mißlicheres Dilemma. Da er nach dem Wesen und Zweck der christlichen Lehre fragt, kommt noch die Abwehrhaltung der christlichen Theologie auf ihrem eigenen Terrain hinzu. Sofern man sich dabei nach der Meinung der Theologen nicht mit einem „Phantom" des Christentums herumschlägt, sondern tatsächlich eine Seite des

33 Zu dieser Problematik in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes siehe Andreas Graeser: Kommentar, ln: G. W. F. Hegel: Einleitung zur Phänomenologie des Geistes. Stuttgart 1988. 63 — 72.

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Systems tangiert, setzt sich bald einmal eine bestimmte Autoritätsform der Argumentation durch. An diesem Punkte zählen am Ende nicht so sehr Argumente, vielmehr Affekte der perhorreszierenden Differenz oder des Mitleids. Aus beiden aufgewiesenen Streitkonstellationen heraus, dem Beharren auf der einen Position gegen die andere sowie dem mehr oder weniger sanften Abfedern des Anderen durch plane Autorität, ist nun Hegel zufolge freilich keine adäquate Lösung zu finden. Es zeigt sich eben, daß die Begründung einer Position auf der Ebene von Bekenntnisakten gar nicht zu leisten ist: „Ein Glaubensbekenntnis an die Spize dieser Abhandlung gestellt würde daher auch kein Auskunftsmittel seyn, sich befriedigend zu erklären (GW 1. 282 = N 152). Unstrittig steht auch Hegel vorerst bekenntnismäßig auf der Seite der Aufklärer und behauptet Vernunft und Moralität als Wesen und Zweck der Religion. Allerdings möchte er im folgenden gerade vermeiden, daß ein solches Bekenntnis als mehr genommen wird, als es tatsächlich ist. Das Bekenntnis, die Form oder der reine Anspruch einer Position sind Hegel zufolge lediglich eine „trokne Skizze", welche die „Meinung" erregen könnte, „als ob der Verfasser seine individuelle Überzeugung für etwas wichtiges ansähe, und seine Person bei dem Ganzen in Betrachtung käme ..." (GW 1. 282 = N 152 f). In dieser Haltung, die zugleich die Lösung des Streits intendiert, nimmt Hegel eine Denkfigur zuhilfe, die für seine philosophische Methode insgesamt sehr typisch ist: nämlich den Verweis auf die „Sache selbst". Entgegen dem formellen Streit der Positionen tut er seine Absicht kund, „fruchtbar für die Sache selbst die Gründe darzulegen und den Innhalt desselben (des Glaubenbekenntnisses — M. B.) hinlänglich zu rechtfertigen . . ." (GW 1. 282 = N 152). Diese angedeutete Auffassung ist nun konzeptuell gegen die Form des Bekennens gerichtet und verläßt dabei ihren eigenen vorgängig geäußerten Wahrheitsanspruch, indem sie ihn inhaltlich begründend und ausführend einlösen will. Der Bezug auf die „Sache selbst" ist insgesamt ein Plädoyer für den Inhalt einer Sache und dessen Darstellung im Streit von Wahrheitsansprüchen. Im vorliegenden Falle: für die Darstellung des Inhalts der Moralität, der aller Religion zugrunde liegt. In dieser Hinsicht ist Moralität nicht mehr ein Bekenntnis im eigentlichen Sinne, sondern ein allgemeiner, verschiedene Positionen umfassender „Grundsatz", der zum Ausgangspunkt genommen und nun an seiner Sache geprüft wird. Daß die „Moralität der Menschen" der höchste „Grundsatz" aller Bestimmungen über die Reli-

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gion tatsächlich ist, will Hegel schließlich „ganz allein in Bezug auf die Sache selbst" darzulegen versuchen. Der „Grundsatz" setzt offenbar die ganze Wahrheit nicht mehr voraus, er holt sie nachträglich ein. Inwieweit er im Bezug auf die „Sache selbst" bestätigt und berichtigt wird, wäre eine Frage des darstellenden Prüfungsverfahrens in actu. Was Hegel programmatisch als Bezug auf die „Sache selbst" anspricht, wäre somit theoretischdarstellend auszuführen. Mit der folgenden Untersuchung (GW 1. 282 ff = N 153 ff) können zumindest erste Bruchstücke einer solchen Ausführung aufgefunden werden. Hegel setzt nicht einfach unhistorisch Moralität dem „Positiven" entgegen, er generiert vielmehr eine Skizze des historischen Werdegangs der Moralität im Kampf mit dem „Positiven". Wenn auch vieles an dieser Reflexion über die „Sache selbst" sehr unausgegoren erscheint, so gibt Hegel mit ihr dennoch einen zentralen Hinweis an die Hand, wie er als Kritiker in streitende Positionen eingreift und wie er dabei eine Begründung seiner eigenen Position verstehen will; Indem er in streitenden Positionen seine eigenen Akzente setzt, versucht er zugleich, den formellen Wahrheitsanspruch zu destruieren. Im positiven Sinne soll damit der Inhalt der Positionen freigelegt werden, der nun darstellend zu prüfen wäre. Mit diesem Vorgang verallgemeinert Hegel immer auch das Prinzip, mittels dessen an die Sache heranzugehen ist, er betrachtet es sozusagen als allgemeinen inhaltlichen Maßstab, der mit der darstellenden Prüfung zu berichtigen ist. Für die Hegelsche dialektische Methode, die den Übergang von einem Gegenstand zum anderen thematisiert und dabei unter Bezug auf die „Sache selbst" den Wahrheitsanspruch der neuen Position einlösen will, ist mit diesem kurzen Fragment zweifellos eine erste wichtige Vorarbeit geleistet worden.

^ Daß diese Denkfigur das „ganze Geheimnis der Dialektik" birgt, hat besonders Bubner im Zusammenhang des entwickelten Hegelschen Systems festgehalten. Vgl. Rüdiger Bubner: Die „Sache selbst" in Hegels System. In; ders.: Zur Sache der Dialektik. Stuttgart 1980. 40 ff. — Im übrigen wird aus diesem Fragment ersichtlich, daß Hegel sich in Sachen Spekulation nicht nur mit Fichte und Schelling, sondern auch mit Reinhold auseinanderzusetzen begonnen hat. Dafür spricht einerseits seine Verwendung der typisch Reinholdischen Begriffe „Grundsatz", „Fundament", „Glaubensbekenntnis", andererseits die Kritik der ausufemden, argumentarmen Streite in Moral und Religion. Reinholds zentrale Absicht ist es ja, gegen die Dogmen und gegenseitigen Mißverständnisse der verschiedenen moralisch-religiösen Parteien durch die Aufstellung eines „allgemeingeltenden Grundsatzes" anzukämpfen. Siehe besonders Karl

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c) Das „Positive" des Christentums Die folgende Frage nach dem „Positiven" und die Darstellung „positiver" Gehalte am historischen Gegenstand knüpfen thematisch unmittelbar an Das Leben Jesu an. Was implizit mit der Geschichte des Leben Jesu als Kritik der reinen Moralität herausgeschält worden ist, versucht Hegel nun detaillierter offenzulegen. Die reine Moralität der Person Jesu wird ausdrücklich in die jüdische Gesetzeswelt hineingestellt und als ihr Derivat gedeutet. Jesus selbst hat das „Positive" mitverursacht. Während in Das Leben Jesu Hegel einen möglichst moralischen, reinen Jesus, der alles „Positive" von sich abstößt, sprechen läßt und dabei die damit konfligierenden Momente seines Handelns mehr in einem exoterischen Rahmen problematisiert, erörtert er das „Positive" an der Person Jesu nun ausdrücklich und gezielt aus dem Blickwinkel des institutionalisierten Christentums. 35 (a) Das Judentum Seine historische Skizze beginnt Hegel mit der Religion der jüdischen Nation.36 Ähnlich wie der Geist der Orientalen verkörpert ihm Leonhard Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Darmstadt 1963. Buch 1. 71 — 120. Für den historischen Aspekt der Hegelschen Untersuchungen sind vor allem zwei Werke als einflußreich anzusehen: Mosheims Kirchengeschichte (Institutiones historiae ecclesiasticae) und Gibbons Geschichte über den Untergang des römischen Reiches (The History of the Decline and Fall of the Roman Empire). Beide enthalten nicht bloß Materialien, auf die Hegel sich bezieht, sie korrespondieren auch auffällig seiner Beurteilung der christlichen Geschichte als Geschichte des Niedergangs der alten Freiheiten. Rolf K. Hocevar: Stände und Repräsentation beim jungen Hegel, 87 ff, hat bereits zeigen können, daß Hegel mit Mosheim vor allem auch die Auffassung teilt, wonach die kirchlichen Konzilien nach dem Vorbild der Staatsorganisation geschaffen worden seien. — Was Gibbon betrifft, so dürfte Hegel besonders das 14. und 15. Kapitel der History als anregend empfunden haben. Gibbon erörtert dort die Ursachen, die hinter der Ausbreitung des christlichen Glaubens im Innern des Römischen Reiches stehen: den Glaubenseifer der Christen; ihre glaubenswirksame Lehre von einem künftigen Leben, von Verheißungen und der Offenbarung; die Wirkungen mittels der Wundertaten; die reine strenge Moral; schließlich die Einheit und Disziplin, die für die Bildung eines neuen Staafes wichtig werden. 36 Hegels Kritik am Judentum bezieht sich auf eine bestimmte historische Formation desselben und zeigt sich in erster Linie als Kritik der reinen Legalität. Es geht ihm nicht um das Judentum als solches, um eine generelle Charakterisierung des jüdischen Volks. Siehe dazu Hans Liebeschütz: Das Judentum in der Geschichtsphilosophie des frühen Hegel. In: Hegel-Jahrbuch 1968/69. Meisenheim am Glan 1970. 324.

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diese Nation den Zustand einer rohen Entzweiung. Diese ist allerdings weniger mit einer Despotie der Gewalt verflochten denn mit einer despotischen Gesetzeslegalität. Im Judentum ist ein Geist am Werk, der „unter einer Last statutarischer Gebote zu Boden gedrükt" wurde (GW 1. 282 = N 153). Die Religion der Juden hinterläßt den Eindruck eines von der Moralität abgefallenen „Positiven", doch scheint ihr Hegel auch den Charakter eines urtümlichen „Positiven", in dem die Moralität erst noch erweckt werden muß, beizulegen. Wie schon in (GW 1. 121 = N 359) spricht Hegel zudem erneut von den „verkehrten Begriffen" der Juden, die Ursache und Wirkung ihrer Sittenverderbnis seien. Die Verkehrung ist dabei wohl als notwendiges reflexives Moment der Entzweiung überhaupt zu verstehen. Im Zustand der Entzweiung führt jede geäußerte Absicht zu ihrem Gegenteil, jeder Begriff besagt de facto das Gegenteil von dem, was er meint. Der Gedanke freier Moralität ist faktisch Zwang des Gesetzes, das äußerlich Rechtmäßige hat Unrechtmäßiges zur Voraussetzung. Umgekehrt wird dadurch das bloße Legale, Maschinelle zu einem Geistigen, Freien erhöht. ^7 (ß) Die spezifische Tugendreligion Jesu Jesus geht dem fälligen Bedürfnis nach einer „selbständigen Tugend" innerhalb der gesetzesdominierten jüdischen Welt nach, indem er einen genuinen Bereich individueller Moralität herausbildet. Wie nun konnte seine reine Tugendreligion in ihrer Entwicklung so leicht zu etwas „Positivem" werden? Bei der Beantwortung dieser Frage geht es Hegel nicht bloß darum, den Konflikt zwischen Lehre und Leben Jesu explizit zu machen, sondern auch um den Aufweis „positiver" Gehalte, die von Anbeginn in der Lehre Jesu mehr oder weniger latent vorliegen. Seine genauere Absicht ist es, die Gründe für das „Positive" in der „ursprünglichen Gestalt der Religion Jesu" und auch „im Geist der Zeiten selbst" aufzusuchen (GW 1. 286 = N 156). Hiermit setzt er sich freilich schon methodisch von Erklä37 Solche Verkehrungen porträtiert Hegel in der Phänomenologie des Geistes als Produkte des Verstandesdenkens. Sie treten dann auf, wenn der endliche Verstand sich ans Unendlich-Übersinnliche heranwagt und damit beide Welten — die sinnliche und die übersinnliche — unglücklich liiert: „So hat die übersinnliche Welt, welche die verkehrte ist, über die andere zugleich Übergriffen, und sie an sich selbst; sie ist für sich die verkehrte, d. h. die verkehrte ihrer selbst; sie ist sie selbst, und ihre entgegengesetzte in Einer Einheit." (GW 9. 99)

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rungstopoi ab, die die Entstehung des „Positiven" als eine äußere Verzerrung der ursprünglichen Lehre Jesu durch die spätere Kirche erklären, selbstverständlich auch von solchen, die in aller Selbstbespiegelung ihrer orthodoxen Position davon ausgehen, die Lehre Jesu sei schon „positiv" aus dem Munde des Meisters gekommen. Die Religion Jesu ist demgenüber aus Hegels Sicht von ihrem Ursprung her ein heterogenes Gebilde. Diese Einschätzung ergibt sich deutlich aus seiner Zuordnung der Religion Jesu zu einer Mischform von „philosophischer" und „positiver Sekte". Eine religiöse Sekte ist nach Hegel wie die Position, die gegen eine andere auftritt, ein „Positives". Dies gilt auch immer für die emanzipatorisch auf tretende Sekte oder Position. Solange sie Sekte bleibt, das Sektenmäßige neben dem zu verhandelnden Inhalt an sich hat, enthält sie den Mangel der Differenz. Nach wie vor verkörpert sie Trennung des Ganzen, die überwunden werden müßte. Dieser Sachverhalt trifft nun gerade auf die von Hegel günstig beurteilte „philosophische Sekte" zu. Eine „philosophische Sekte" kennzeichnet sich als eine bestimmte religiöse Lehre über „Vorstellungen von der Gottheit" (GW 1. 287 = N 157), durch die sie unmittelbar das Praktische des Glaubens oder der Moralität zum Ausdruck bringt. Wenn sie auch das Sektenmäßige, das mit ihrer Bestimmung gesetzt ist, nicht abstreifen kann, so ist sie dennoch einer Sekte im gewöhnlichen Sinne überlegen. Da sie die Lehre im strengen Sinne als unwesentlich deklariert, tritt sie dem Inhalt der Religion freier gegenüber. Hegels Vorstellungen über sie ähneln hier der Toleranzreligion Lessings. Die religiösen Lehren treten, wo es um Streitigkeiten geht, zugunsten des einen Glaubens zurück. Anders verhält es sich mit einer „positiven Sekte". Diese ist Sekte im eigentlichen Sinne, denn das Sektenmäßige ist ihr das inhaltliche Prinzip. Für sie allein, meint Hegel denn auch, „sollte man eigentlich den Namen Sekte aufbewahren ..." (GW 1. 288 = N 158). Die Religion Jesu entspricht für ihn nun gerade einer Art Sekte, in der das „positive Prinzip des Glaubens" durchaus besteht, in dem man aber „positive Lehren und befohlne Gebraüche" nicht als wesentlich betrachtet (ebd.). In der Tat ist sie dabei eine unvollständige Tugendreligion, zumal ihr fundamentum in re ein historisch gewachsenes „Positives" bleibt. Alles in allem hat sie sich von ihrem Verhältnis zum „Positiven" noch nicht emanzipiert, sondern höchstens den Anspruch dazu angemeldet. Hegel wird nie müde zu betonen, daß die Lehre Jesu auf jüdischem Boden gewachsen war, mithin jüdische Selbstverständlichkeiten in sie einfließen mußten. So

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konnte Jesus beispielsweise nicht umhin, sich in pragmatischer Absicht auf ein göttliches Erbe zu berufen oder den im jüdischen Glauben verankerten Messianismus für sich in Anspruch zu nehmen. Am meisten aber schadeten der Lehre Jesu die Wundertätigkeiten, mit denen er auf seine Moralprinzipien aufmerksam machen wollte (vgl. GW 1. 291 f = N 160 f). Die Wunder sind nachgerade neuralgischer Punkt des „Positiven", sie sind sozusagen ein Grundtypus des Glaubens im naiven Sinne des Wortes, eines Glaubens im Sinne des Akzeptierens auf „Treu und Glauben". Die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Wunder ist Hegel dabei nebensächlich — diese fiele nämlich in einen Disput über die Fähigkeiten verschiedener Erkenntnisvermögen, Wunder überhaupt zu verstehen —, wichtig ist hier Hegel, die Autoritäts/imkfton der Wunder zu monieren. Wunder begründen ihm zufolge einen „Umweg" zur Moralität über die „Autorität des Täters", der in der Regel sein Ziel verfehlt. Der Vernunft sind sie also zuwider, nicht weil sie ihr als übernatürliche Vorgänge unverständlich wären, sondern weil die Wunder sie korrumpieren, einem fremden Zweck anheimstellen. Die Vernunft aber muß sich auf sich selbst stützen können — so lautet Hegels gewichtigstes Argument. Mit den Wundern tangiert Hegel ein Moment des „Positiven", das eher einem Novum der Lehre Jesu zuzurechnen ist als der Herkunft aus der jüdischen Tradition. Weitere Momente in dieser Richtung macht Hegel sodann an der Ausbreitung der Lehre durch die Jüngerschaft fest: So führt die Verpflichtung der Jünger zur getreuen Wiedergabe der Lehre Jesu dazu, daß die Inhalte unter dem Zwang treuen Wiedergebens verblassen. Nach dem Tod und der Auferstehung Jesu wird der Christengemeinde solche Tätigkeit erst recht zum Kult. Das Andenken an den Lehrer bestärkt bei den Jüngern und Anhängern den bloßen Glauben an ihn, umsomehr als Jesus selbst bei seinem Abschied ein „äußeres Zeichen" seines Glaubens setzt. Sowohl das Verrichten in seinem Namen wie das Getauftwerden will er „zur Bedingung der Seeligkeit" gemacht wissen (GW 1. 296 = N 164). Dieses „Positive" steht nun „unzertrennlich" neben der Aufforderung zu einer reinen Tugendreligion und wird eine Entstehungsursache für die Trennung von Namen und Lehre Jesu sein. Der Name Jesu trennt sich vom Gehalt der Lehre und fortan auch von der Person Jesu; hierin liegt der Grund, daß im Namen Jesu, allein deshalb, weil der Name Autorität birgt, allmählich beliebige Dinge verrichtet werden können.

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Insgesamt entwirft Hegel als Antwort auf die Frage nach der Entstehung des „Positiven" so etwas wie eine negative Geschichtsphilosophie der ursprünglichen Tugendreligion Jesu. Die Religion Jesu depraviert zu einer „positiven" Religion, weil sie sich kraß vom alten öffentlichen Glauben abhebt, als „positives Tugendprinzip" zu materialisieren beginnt und sich mit dem alten Glauben amalgamiert. Im Unterschied zur alten öffentlichen Autoritätsreligion baut die Religion Jesu auf ein stark jenseitsgerichtetes „positives" Ideal, das sich als weltliche Macht durchsetzen wird. Der „positive" Sektenglaube, der in der Religion Jesu teils angelegt ist, teils durch Beifügungen durch die Jüngerschaft entsteht, ist eine Art Keimzelle des „Positiven" im Christentum. (Y)

Die Anwendung der „positiven" Sekte auf die Gesellschaft

Wenn eine Tugendreligion auf „positive" Gebote zurückgreift, ist sie für einen Staat als Herrschaftsinstrument einsetzbar. Sie verfehlt zwar das Ganze der Gesellschaft, den Staat als moralisches Wesen, erhebt sich dadurch aber gerade illegitimerweise zu einem Vergesellschaftungsprinzip . Im sozialen Ganzen ergeben sich mit diesem Zustand Inkonsistenzen und Gegensätze. Schon nur die Ausdehnung einzelner Religionssatzungen auf eine zahlenmäßig größere Gesellschaft stößt auf Schranken. Einige Religionsgrundsätze müssen schlichtweg aufgegeben werden (vgl. GW 1. 298 f = N 166 f). Dies betrifft vor allem die urchristlichen egalitären Forderungen nach „Gemeinschaft der Güter" und „Gleichheit".38 Die „Gemeinschaft der Güter", so urteilt Hegel, sei zurecht aufgegeben worden, da sie unter Bedingungen ungleicher Selbständigkeit der Individuen Zwangscharakter annehme. In einem homogenen Sektenkreis sind solche Bedingungen natürlich weit weniger gegeben als in einer größeren arbeitsteiligen Gesellschaft. Deshalb war sie dort auch angemessener. Von einem ähnlichen Schicksal sieht sich die Forderung nach „Gleichheit" ereilt. Auch sie kann — auf die Gesellschaft amplifiziert — nicht aufrecht erhalten werden. Formell behält man sie allerdings als verhimmeltes * In der Thematisierung der ursprünglichen Freiheit, Gleichheit und Gütergemeinschaft der ersten Christen scheint sich Hegel eng an den Untersuchungsgang Gibbons anzulehnen. Siehe hierzu Edward Gibbon: Die Geschichte des Verfalls und Unterganges des römischen Reiches. 383 ff, 389 ff.

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Ganzes bei. Ihr Gedanke gerinnt zu einem Ideologem der ChristenEinheit, das die inneren Entzweiungen überdecken soll. Wie die zur Gesellschaft gewordene christliche Sekte tradierte Lebensformen in verzerrter, karikierter Gestalt beibehält, führt Hegel in einer Reflexion über die Entsinnlichung des „Abendmahls" in der christlichen Geschichte aus (vgl. GW 1. 300—302 = N 169 f). Den zur Sekte gewordenen Christen ist das Abendmahl, das an die Stelle der jüdischen und römischen Opfermahlzeiten trat, zu einer „mysteriösen gottesdienstlichen Handlung" verkommen. Neben der Verwandlung des Mahls in eine zweckmäßige Abspeisung der Armen durch die Reichen wird ihm eine von Genuß von Speis und Trank unabhängige höhere Wirkung zugeschrieben. Mit der Ausdehnung der christlichen Gemeinde fällt gar noch die zweckmäßige, sinnlich-genußvolle Seite weg. Unter dem Vorwand, „daß die Mahle der geistlichen Liebe zuweilen in Gelage und Scenen einer fleischlichen Liebe ausgeartet seyen, . . . wurde nach und nach an der leiblichen Sättigung irruner mehr und mehr abgezogen, dagegen die geistliche, mystische desto höher angeschlagen ..." (GW 1. 301 f = N 169). Die christliche Legende, wonach Jesus beim letzten freundschaftlichen Mahl mit seinen Jüngern den „Genuß des Brodes" mit seinem „aufzuopferenden Leib", den „Genuß des Weins" mit seinem zu „vergießenden Blut" in Zusammenhang bringt, interpretiert Hegel indessen als ein „Sinnbild" der schönen menschlichen Gemeinschaft. Dieses hat zwar „natürliche" Gegenstände zum Inhalt, jedoch darf es bei der Deutung nicht unmittelbar auf diese bezogen werden, noch weniger ist es im Sinne einer unmittelbaren metaphysischen Vergeistigung dieser „natürlichen" Gegenstände zu nehmen. Hegels eigenes Verständnis des „Sinnbildes" neigt zum „natürlichen" Gegenstand, jedoch nicht ohne diesem eine spielerische Bewegung abzugewinnen und ihn auf eine höhere Stufe des Sinnlichen zu heben. Das „Sinnbild" erscheint ihm nämlich „spielend" erst da, wo es von der „ästhetischen Seite" betrachtet wird. Offenbar ist Hegel hier — ähnlich wie Schiller in seinen ästhetischen Reflexionen — darum bemüht, in den Naturgegenständen sinnliche Analogien zu den moralisch-gesellschaftlichen Prinzipien aufzufinden.3^ Die Gegenstände Wein

3® Siehe Schillers in Anlehnung an Kant formulierte Definition des Schönen: „Analogie einer Erscheinung mit der Form des reinen Wülens oder der Freiheit ist Schönheit (in weitester Bedeutung). Schönheit ist nichts anders, als Freiheit in der Erschei-

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und Brot wären gleichsam ein Analogon der genußvollen moralischen Gemeinschaft in der „natürlichen" Sinnenwelt. An dieser Stelle erhält Hegels Konzept einer neuen Moralität deutlich den Charakter einer natürlichen, d. h. mit einer bestimmten höheren Sinnlichkeit vermittelten Religion. Mit ihrem Blick auf Schillers ästhetische Moralität ruft sie vorerst nochmals ihre alten Vereinigungsbegriffe auf den Plan. Im Streit religiöser Meinungen tendiert Hegel wiederum zu einer vermittelnden Moralität, die in Anlehnung an Lessing dem „Herzen" seine Berechtigung läßt (vgl. GW 1. 302 = N 170). Gar im Namen des Fichteschen „Ich" darf dieses über „Tugendzerstöhrende Überzeugungen des Verstands und gelernte Worte des Gedächtnisses" triumphieren.

d) Das „Positive" des Staates „Du räumst dem Staate denn doch zuviel Gewalt ein. Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann." (Hölderlin, Hyperion)

Ab GW 1. 306 = N 173 steht der Staat, insbesondere sein Verhältnis zu Religion und Kirche, im Zentrum der Betrachtung; das „Positive" liegt somit in einer historisch entwickelteren Form als Gegenstand der Kritik vor. Hegel thematisiert den Staat als die Institutionalisierung des „Positiven", historisch gesehen als Entwicklung der christlichen Religion zum Kirchenstaat; in Abgrenzung dazu entwirft er sein Ideal des Staates — den Staat als „moralisches Wesen". Was diese Erörterung für den Staat als Staat bedeutet, d. h. wie weit der Staat in seinem strengen Sinne als Zwangsstaat wegfallen soll, bleibt unklar, auch wenn die scharfe Kritik sehr eindeutig ist. Aus den bisherigen Ausführungen hat sich gezeigt; Hegel verwirft dezidiert den Maschinenstaat, d. h. das bloß Institutionelle, Zwangshafte des Staates; er hält dagegen ein Gemeinwesen, einen moralischen oder sittlichen Staat hoch, wie er in den Bezeichnungen „Vaterland",

nung." — Analogie ist gleichsam „Nachahmung der Vernunft", der Formaspekt im stofflichen Gegenstand. (Schillers Briefwechsel mit Körner. Bd 2. 14.)

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„Geist", „Volksreligion" zum Ausdruck kommt. Bei näherem Hinsehen ergibt sich eine Spannung zwischen modernem Maschinenstaat und idealem Gemeinwesen nach antikem Vorbild, die Hegel jedoch nicht durchgängig als ausschließenden Gegensatz betrachtet. Es ist dargelegt worden, daß er einen dem Volksgeist untergeordneten institutioneilen Kern des Staates, insbesondere den emanzipatorischen Machtstaat, der Freiheitsrechte garantieren kann, durchaus akzeptiert. (a) Moralität und Legalität Die Untersuchung beginnt mit der Unterscheidung von drei Arten von Pflichten, die den Bereichen Zwangsstaat, Staat als „moralisches Wesen“ und religiöse Anstalten korrespondieren (vgl. GW 1. 306—309 = N 173—176). Die erste Art betrifft die „bürgerliche Verfassung"; gemeint ist hier jener Teil des Staates, den man als Gesetzesbereich der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnen kann. In diesem Bereich herrscht Staatszwang. Denn hier kommen lediglich Pflichten des Einzelnen in Betracht, die auf einem Recht des Anderen ihm gegenüber beruhen. Diese Pflichten gehen nur aus der Erkenntnis des Rechts des anderen Einzelnen, nicht aus einem tatsächlich Allgemeinen hervor. Der Staat ist in diesem Bereich sozusagen „Naturwesen", das den Zwang der Legalität durchsetzen darf und damit auch entsprechende Pflichten verbindet. Die Pflichten, die der Staat auf dieser Ebene fordert, sind jedoch nicht als reine Rechtspflichten zu verstehen; Hegel versucht vielmehr schon hier — wo der Zwangsstaat deutlich dominiert — eine Moralitätspflicht geltend zu machen. Die Erkenntnis der Pflicht, die auf dem Recht des anderen basiert, kann auch durchaus ohne direkte Rechtsforderung oder „den Ausspruch eines Richters" als moralische eingesehen werden. Dies Einsehen entspräche dem Desiderat, Zwangsforderungen möglichst ausschalten zu können. Die zweite Art Pflichten hat ihren Ursprung im allgemein Morali-

Eine ähnliche Sicht bereits bei Moses Mendelssohn: Jerusalem. 264, 266. Mendelssohn unterscheidet zwischen fordernden Pflichten von „Handlungen" und Gesinnungen, welche die „ächten Beweggründe" repräsenheren. Daran anknüpfend wird die Güte einer Regierungsform danach beurteilt, ob sie es versteht, auf Pflichten zugunsten von Sitten und Gesinnungen zu verzichten.

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sehen selbst. Sie umfassen sinngemäß den Teil des Staates, der verfassungsmäßig den Bereich der Moralität garantiert, diesen sogar aktiv sittlich-religiös unterstützt. Es handelt sich — auf einen Nenner gebracht — um den Staat als „moralisches Wesen". Als Beispiel führt Hegel die „Pflicht der Wohltätigkeit" an. Diese entspringe nun nicht mehr den Rechten an ein anderes Einzelnes, sondern beziehe sich auf ein Recht („Recht an Leben, Gesundheit usw."), das aus der „Menschheit überhaupt" abzuleiten sei. Die damit verbundene Pflicht ist eine rein moralische, die dem „moralischen" Staat oder den Menschen überhaupt auf erlegt wird. Im Bereich des Staates als des „moralischen Wesens" darf es prinzipiell keinen Zwang geben, die Ausübung der Moralität bedarf keiner vorschreibenden Gesetzeslegalität. Der Staat fungiert hier höchstens noch akzidentiell als „Naturwesen", er wirkt auf den Einzelnen als empirisches Individuum nur, sofern damit der Moralität dienliche Neigungen wie etwa „Mitleid" erregt werden sollen. In erster Linie ist der Staat als „moralisches Wesen" zudem bestimmt durch seine Pflicht, die er an die Moralität hat, weniger über seine Identifikation mit der Moralität selbst. Hegel unterstreicht emphatisch, daß der Staat, der gemeinhin Legalität zu seinem Zweck hat, nicht auf den Staat als „moralisches Wesen" übergreifen darf. So solle der Staat nicht „als Staat", sondern nur „als moralisches Wesen" Moralität von seinen Bürgern fordern, gleichfalls dürfe er keine Anordnungen zulassen, die „der Moralität entgegen sind, oder diese heimlich untergraben ..." (GW 1. 308 = N 175). Würde er „Gesetze" zur Beförderung der Moralität zulassen, so wären sie „widersprechend und lächerlich". Die dritte Art von Pflichten betrifft solche, die weder aus Rechten an einen Einzelnen noch an die Menschheit überhaupt entstehen. Es sind Pflichten, die „freiwillig", also aus sich selbst heraus übernommen worden sind. Die Pflicht anderen gegenüber kann hier lediglich im Rahmen einer vorgängig freiwilligen Zustimmung gültig sein und fällt dahin, sobald die Zustimmung durch Entschluß wegfällt. Hegel spricht in diesem Ealle von „Gesellschaften", in die jemand eintreten kann. Dabei hat er vor allem religiöse Anstalten, die verschiedenen Kirchen, im Auge, die gleichsam den Raum zwischen dem Legalitätsstaat und dem „moralischen" Staat ausfüllen und als Verbindungsglieder fungieren. Diese Anstalten sind in einem erweiterten Sinne staatlich, andernfalls würden sie nämlich den Staat konkurrenzieren, einen Staat im Staat darsteilen oder „eine im Staat vorhandene, vom

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Staat verschiedene Gewalt anerkennen ..." (GW 1. 307 — N 174). Ihr ideales Ziel wäre deshalb die religiöse Ausübung der Moralität, die mit der Pflicht des Staates an die Moralität einherläuft. Wo die Anstalten der Moralität zuwider sind und etwa die Moralität staatsähnlich zu legalisieren beginnen, hätte der Staat als Garant der Moralität sein höheres Recht auszuspielen. Mit dieser spezifischen Trennung und gegenseitigen Abstimmung von Moralität und Legalität entwirft Hegel eine Grundskizze eines idealen moralischen Staates, der sich von den bisherigen historischen Staaten deutlich abheben soll. Während im Judentum eine bloße Moralisierung der Legalität stattgefunden hat, ist der christliche Staat, wie Hegel im folgenden ausführt, einer neuen Legalisierung der Moralität aufgesessen. Der Kirchenstaat, der sich aus der „positiven" christlichen Sekte entwickelt hat, bildet sich nämlich über ein soziales System der Moralität heran (vgl. GW 1. 310 ff = N 176 ff). Die gelebte Moralität wird in soziale Normen involviert und ist dadurch bald gezwungen, sich als Glaubenssystem zu festigen, über Glauben oder Unglauben zu bestimmen, schließlich sich statutarisch zu konsolidieren. Moralität wird in der Folge an ein soziales Vertragssystem gebunden, am Ende funktioniert sie wie ein schlechter „bürgerlicher Staat". Die Geistlichen werden mithin auch „Beamte" des „geistlichen Staates", die sich im verbleibenden Gebiete freier Moralität wie „Gewissensräte" gebärden. Ein bedeutsames Vehikel dieses Vorgangs ist für Hegel dabei die psychologische Erziehung zur Unfreiwilligkeit. Der Eintritt in die Glaubensgemeinschaft der Christen ist dem Austritt allmählich immer weniger äquivalent. Da einem mit dem freiwilligen Eintritt faktisch mehr als nur eine gemeinsame Glaubensposition überantwortet wird, allerlei statutarische Zwänge und ein gesellschaftliches System von Rechten und Pflichten daran geknüpft sind, kommt der Austritt nicht mehr einer freien Entscheidung gleich, sondern einem drohenden Weg ins Nichts. Mit beginnender 41 Hegels Überlegungen ähneln hier der sogenannten erweiterten Staatskonzeption Antonio Gramscis. Die „Gesellschaften", die Hegel im Auge hat, spielen dieselbe Rolle wie die parastaatliche „societä civUe" bei Gramsci, sie fungieren als eine erweiterte zivile Form des Staates (Kirche, Vereinigungen u. a.), die den Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft und Staat sichern soll (vgl. Antonio Gramsci: Dans le texte. Paris 1977. 576 ff). Im Unterschied zu Gramsci findet bei Hegel diese Vermittlung der Staatssphären noch weit stärker innerhalb eines Staatsganzen statt, die Sphären sind noch vergleichsweise wenig ausdifferenziert. Ebensowenig problematisiert Hegel an dieser Stelle den harten Kern des politischen Staates (Armee, Polizei, Justiz).

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Hegemonie der christlichen Religion fällt auch die Freiwilligkeit des Eintritts in die Gemeinschaft dahin, der Gewissensdruck macht die Freiwilligkeit erst recht zur Farce. Der „Eintritt in die Gesellschaft" gilt nun als die „heiligste Pflicht gegen die Gottheit", der Austritt als „Eintritt in die Hölle" (GW 1. 313 = N 179 f). Die noch anstößigeren Zeichen einer legalisierten Moralität aber sind für Hegel die Mechanismen der Gewissensregelung und das damit verbundene Strafsystem. Die Wiederaufnahme dieser bereits in den frühen Berner Fragmenten behandelten Thematik wird hier folgenreich. Unübersehbar ist der Gewissenszwang, den die christliche Sekte schon früh auszuüben begann. Bald bestimmt sie am Gewissen den „Werth der Menschen" und knüpft daran entsprechende Belohnungen und Strafen (vgl. GW 1. 311 = N 178). Zwar können ihre Bestrafungen partiell nicht Gegenstand bürgerlicher Gerichte sein, dennoch werden sie bald ins Netz eines mehrdimensionalen Strafverfahrens verstrickt. Zum Gewissenszwang gesellt sich auch eine ganze Apparatur der „Psychologie", ein ganzes Lehrgebäude von Vorschriften über zu durchlaufende „Empfindungen" und „Gemüthszustände" (vgl. GW 1. 344 = N 206). Wiederum betreibt Hegel Entlarvungspsychologie an einer geistlichen Askese.Stile eines Apologeten sinnlicher Bedürfnisse beschreibt er die Askese als „geistliches Treibhaus", das sich bald „falsche Beruhigung" verschafft, bald, wenn das eigene Ideal der Vollkommenheit in Krise gerät, zu „Wahnsinn" und „Verzweiflung" führt (GW 1. 347 = N 209). Innerlich ist sie gespalten wie die Kirche, die den Widerspruch mit dem Staat kaschiert in sich aufhebt. Ähnlich ist die religiöse Psyche ein „Selbstbetrug", ein permanentes Überdecken des Widerspruchs von „gewöhnlichem" und „geistlichem" Menschen. Wo das „Bewustseyn des Widerspruchs zwischen den Beweggründen der Handlungen, und dem Schilde den man dabei aushängt", erkannt ist (GW 1. 348 = N 210), könnte dieser „Selbstbetrug" noch als „Heuchelei" demaskiert werden. Doch ist dieses „Bewustsein des Widerspruchs" der religiösen Psyche schon fast fremd oder bewußtlos geworden. 42 Hegel weist in diesem Zusammenhang auf die Romane von Marivaux hin, die seiner Meinung nach insofern von aufklärerischer Bedeutung sind, als sie zur „besseren Kenntnis der Natur der menschlichen Seele" beitragen (GW 1. 346 = N 208). Durch die Lektüre Marivaux' wird Hegel wohl auch einiges an Einsicht in die Dynamik der Herr-Knecht-Beziehung erhalten haben. Siehe dazu Peter Bürger: Herr und Knecht bei Marivaux. In: ders.: Studien zur Frühaufklärung. Frankfurt a. M. 1972.

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Im Umkreis der Überlegungen zur Gewissensregelung tritt nun gerade eine krasse Differenz zwischen dem Kantisch-Fichteschen und dem Hegelschen Moralitätskonzept zutage — eine Differenz, der Hegel sich allmählich kaum mehr entziehen kann. Geradezu ein Dorn im Auge müssen ihm auf seinem Denkweg mit Kant und Fichte deren Ausführungen zum Strafrecht sein, die eng mit ihren allgemeinen Moralitätsprinzipien verflochten sind. Während Hegel eine starke Abneigung gegen das Strafen hegt, die Todesstrafe mit Schaudern zurückweist und auch die Kerkerstrafe als abstoßend erachtet (vgl. Dok 217, 279), weisen ihm Kant und Fichte seinen selbstverständlichen Platz unter den Deduktionen der Moralität zu. Kants „kategorischer Imperativ der Strafgerechtigkeit" tritt zwar erst in der Metaphysik der Sitten von 1797 in aller Deutlichkeit hervor (vgl. AA 6. 336); jedoch sind Fichtes dem Grundtenor nach ähnliche Äußerungen zum „peinlichen Recht" bereits in der Grundlage des Naturrechts von 1796 enthaltenes, gQ Hegel die krasse Differenz zu seinen eigenen Vorstellungen schon am Ende der Berner Zeit einsehen kann. Fichtes Auffassung, wonach die „Hinrichtung unverbesserlicher Bösewichter . . . ein Übel, obgleich ein nothwendiges" seP^, dürfte Hegel weit von sich gewiesen haben. Eine solche Deduktion der Strafe steht in Widerspruch zu seinem moralischen Vereinigungsideal, das auch Verbrechen und Strafe nicht äußerlich fassen will. Sie sind abstrakt oder formalistisch, denn sie beruhen auf einem Prinzip, das „wirklich fromme Menschen mit Tagdieben, Tollhaüslern und Schurken gemeinschaftlich haben können..." (GW 1. 311 = N 178). Vor der Heiligkeit stellt es zwar alle gleich, in Wirklichkeit unterwirft es alle und setzt eine Hierarchie des Strafens. Es ist evident, daß diese Differenz Hegel schließlich auch gegenüber dem Kantisch-Eichteschen Moralitätskonzept als solchem skeptisch stimmt, am Kern dieses Konzepts zweifeln läßt. Hegel übt denn auch bereits eine sublime Kritik an einer Moralität, die zwar von der Legalität getrennt wird, diese aber insofern doch zurückholt, als sie sich selbst nach deren Prinzipien rekonstruiert, mit anderen Worten: ein Legalitätssystem auf Gewissensebene restauriert.

« Vgl. Fichte: Werke. Bd 3. 260 ff. Ebd. 282. — In Sachen Strafe, Verbrechen dürfte sich Hegels Meinung mit Schillers Diktum der „Leichenöffnung" des „Lasters" treffen. Vgl. Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Werke. Bd 16. 9. Die Geschichte der Bedingungen und Motive der Tat ist wichtiger als die trockene Tat selber.

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Hegel teilt durchaus mit Kant die Trennung von Legalität und Moralität — wie er überhaupt die „heilsame Trennung des Gebietes der Kräfte des menschlichen Geistes, die Kant für die Wissenschaft gemacht hat", befürwortet (GW 1. 349 = N 211). ln Gemeinschaft mit Kant weiß er sich auch im Programm des Subjektivierens objektiver Vernunft. Aber offenbar sieht er das gemeinsame Programm erst als Prinzip formuliert. An ihm haftet noch der Mangel, erst als abstraktes Sollen und nicht im Hinblick auf die konkrete Tat ausgeführt zu sein. So gesehen hat die Moralität die Legalität, mit einem späteren Begriff gesprochen, bloß in „abstrakter Negation" übersprungen. Daß Hegel über diese Stufe hinauswill, zeigt sich daran, daß ihm die neue moralische Subjektivität mit Kant noch unausgeschöpft zu sein scheint: „Die Vernunft stellt moralische, nothwendige und allgemeingültige Gesetze auf, insofern werden diese von Kant, obzwar in andern Sinne, als die Regeln des Verstands, — objektiv genannt; diese Geseze nun subjektiv oder zu Maximen zu machen, Triebfedern für sie zu finden, diß [ist] die Aufgabe, wo die Versuche unendlich divergiren." (GW 1. 350 = N 211) Das Subjektivieren will Hegel radikaler und konkreter verstehen. Deutlich läßt sich hier herauslesen, inwiefern ihm der Ausdruck „objektiv", der in Kants „praktischer Vernunft" nicht streng gegenständlich, sondern im Sinne des Sollensgesetzes gefaßt wird, Stein des Anstoßes ist. Wir haben gesehen, daß das Hegelsche Subjektivieren kein bloß versinnlichender Ausführungsakt eines gegebenen Objektiven sein will, sondern immer auch eine kritische Spitze gegen alles gegebene Objektive. Unter diesem forcierten Blick muß ihm nun auch die Kantische Auffassung einer „objektiven" praktischen Vernunft als etwas erscheinen, das an der Vorstellung eines gegebenen Objektiven nach wie vor haften bleibt. Hegel bekrittelt das Gegebene oder „Positive" denn auch im Bereich des nicht im strengen Sinne gegenständlichen Praktischen oder Moralischen. So gilt ihm nämlich auch als Kennzeichen der „positiven Religion", „daß sie das Sittengesetz den Menschen als etwas gegebenes aufstellt" (GW 1. 350 = N 212). Hegels Kritik an der Denkfigur des „Gegebenen" präsentiert sich schließlich auch als explizite Ablehnung des Apriorismus, der typisch Kantisch-Fichteschen Denk-Architektonik. Bezeichnenderweise geschieht dies im Zusammenhang seiner Aversion gegen die Kasuistik in der Moral: „Bei allen diesen Regeln der Moral und der Klugheit ist ä priori verfahren worden, d. h. ein todter Buchstabe ist zum Grunde gelegt, und auf ihm ein System aufgeführt worden, wie

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der Mensch handeln, empfinden, was diese und jene sogenannte Wahrheiten für Bewegungen hervorbringen sollen, — dem Gedächtnis ist über alle selbst die edelsten Kräfte der Seele die gesezgebende Gewalt eingeräumt worden." (GW 1. 343 f = N 206) Freilich sind diese Differenzen, wie dargelegt worden ist, schon in den früheren Fragmenten an den vielen Umakzentuierungen des Kantischen Ausgangspunktes dingfest zu machen. Im Unterschied zu früher scheint Hegel sich ihrer jedoch nun stärker bewußt zu werden, sie als grundlegender einzuschätzen. Aus seiner Kritik an der Legalisierung der Moralität im Gewissens- und Strafsystem reift die Einsicht, daß das Kantische Denken bei aller Befreiung von der bloßen Legalität selbst noch in dieser befangen bleibt. Nur schreckt Hegel vor dem letzten Schritt, Kants Position namentlich zu kritisieren, noch zurück. (ß) Staat, Religion, Moralität Die besondere Konstellation von Moralität und Legalität, die sich aus dem Aufbau der Pflichten ergeben hat, erweist sich als ein Übergreifen der Moralität über Legalität, ein Aufheben dieser in jene. Die Legalität soll möglichst überflüssig gemacht werden. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis von moralischem Staat und Zwangsstaat, sondern nun auch für das Verhältnis des moralischen Staates zu den Gesellschaften, zur Kirche. Allgemein ist konstatiert worden, der Staat dürfe als Staat nicht direkt auf die Moralität wirken, er müsse dazu als adäquates Mittel die Religion einsetzen (vgl. GW 1. 308 = N175). Nun ist damit zwar die Beförderung der Moralität des Zwangsstaats prinzipiell enthoben, jedoch die Problematik, die sich mit der Legalisierung der Moralität ergeben hat, noch nicht vollends ausgeschaltet. Nicht allein das Staatskirchentum, sondern jede kirchliche Einrichtung bindet Religion naturgemäß an eine Art von Vertrag. Religion ist von einem solchen nicht ablösbar, ohne ständig vom Zerfall bedroht zu sein. Wenn nun die Kirche anstelle des Staates zur Moralität erziehen soll, so bleibt aber immer noch ein Rest des „Positiven" auf erhöhter, moralischer Ebene übrig. Im weiteren geht es Hegel darum, auch diesen Rest des „Positiven" nochmals in die Moralität zu überführen. Religion und Kirche werden, so weit dies möglich ist, unter der Perspektive der Moralität konzipiert. Dabei stehen vor allem zwei Tendenzen der Kritik im Vordergrund. Zum einen argumentiert Hegel für eine Trennung der Religion vom „bürgerlichen Vertrag", d. h. des kirchlich-religiösen

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Teils des Staates vom Staat als Gesetzgeber und Willensbildner im Sozialen; zum anderen soll in einem „kirchlichen Vertrag" die Bedingung der Freiwilligkeit möglichst erfüllt werden können. Mit der ersten Tendenz drückt Hegel die Meinung aus, der „bürgerliche Vertrag" sei von Kirche und Religion deshalb zu trennen, weil sonst der bestimmte Kirchenglaube wiederum „positiv" zu einem allgemeinen Recht des Staates erhoben würde, mithin der alte Glaubenszwang bestünde. Demgegenüber solle der Staat lediglich Person und Eigentum eines jeden Bürgers sichern, „wobei seine religiöse Meinungen schlechterdings nicht in Betracht kommen ..." (GW 1. 317 = N 183). Die religiösen Meinungen sollen nur insofern Gegenstand des „bürgerlichen Vertrags" sein, als sie negativ, im Sinne eines Freiheitsrechts garantiert werden. Wiederum tendiert Hegel auf eine Trennung von Kirche und Staat, die dem „bürgerlichen Staate" (den Freiheitsrechten) zum Vorteil gereicht. Würde der Glaube einer Kirche auf den „bürgerlichen Vertrag" übergreifen, so wäre ein allgemeines Recht des Staates, das zu protegieren er verpflichtet ist, verletzt. Doch führt Hegel diese Trennung selbstredend vor allem zugunsten des Glaubens und der Meinungen durch. Sofern nämlich der „bürgerliche Vertrag" auf das kirchlich-religiöse Gebiet übergreift, fällt alle Glaubensfreiheit dahin. Hegel bekämpft das Übergreifen des Staates auf die Religion vor allem in der Sphäre der sozialen Willensbildung, ln Fragen des Glaubens darf im Prinzip kein „allgemeiner Wille" nach dem Vorbild einer politischen Körperschaft geltend gemacht werden. In diesem Sinne will er herausgehoben wissen, daß dasjenige, „was im bürgerlichen Vertrag möglich ist, seinen Willen dem allgemeinen zu unterwerfen, und diesen als Gesetz für sich anzusehen", für den „kirchlichen Vertrag" gegenstandslos ist. Ein solcher Vertrag wäre „in sich selbst unmöglich und wenn er doch gemacht worden ist, ganz null und nichtig" (GW 1. 328 = N 192; vgl. auch GW 1. 329, 332 = N 193, 195 f).“^^ Auch eine noch so repräsentative und demokratisch legitimierte Bestimmung über den richtigen Glauben wäre deshalb sinnlos. Es fragt sich im Anschluß daran, wie Hegel denn einen „kirchlichen Vertrag" idealiter bestimmt, ja ob überhaupt ein solcher angenommen werden kann? Wohl wäre in seinem utopischen Ideal der ® Hegel geht hier sichtlich einig mit Mendelssohn: „Die religiöse Gesellschaft macht keinen Anspruch auf Zwangsrecht und kann durch alle Verträge in der Welt kein Zwangsrecht erhalten." (Jerusalem. 269)

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„unsichtbaren Kirche" (GW 1. 310 = N 177) ein Vertrag im eigentlichen Sinne nicht mehr erforderlich. Doch ist Hegel immer auch realistisch genug, sein Ideal an den vorhandenen sozialen Verhältnissen und Möglichkeiten zu messen, ln diesem Fall kommt ein Vertrag der Kirche nach wie vor in Betracht. Es kann nämlich innerhalb von „Anstalten" zum Zwecke ihrer Erhaltung „allerdings ein Vertrag stattfinden", und die innere Organisation dieser Anstalt kann dabei auch eine Willensbildung über die Abstimmung und Repräsentation vorsehen (GW 1. 339 = 202). Hier nun erhält die zweite Tendenz von Hegels Erörterung — die Ereiwilligkeit, die ein solcher Vertrag zur Bedingung hat — eine zentrale Bedeutung. Nur unter der Prämisse der tatsächlich freiwilligen Zustimmung, sich in Eragen seines Glaubens durch einen „allgemeinen Willen" vertreten zu lassen, darf ein solcher Vertrag geschlossen werden. Dieser Vertrag wäre wohlgemerkt ein Vertrag der Kirche für sich, eine Regelung innerhalb ihrer selbst auf der Basis der äußeren Bedingung, Glaubensfreiheit nicht zu verletzen. Für die innere Verfassung der Kirche bevorzugt Hegel sichtlich ein demokratisches Ideal: der „Glaube der Kirche" soll „im strengsten Sinne ein allgemeiner Glaube dieser Kirche, d. h. aller einzelner seyn" (GW 1. 332 = N 196). Für einen „kirchlichen Vertrag", der mit dem „bürgerlichen" amalgamiert worden ist, wäre die Frage nach der genaueren Willensbildung des Glaubens völlig marginal, so oder so würde sie die allgemeinen Staatsrechte desavouieren. Für den „kirchlichen Vertrag", der den Staat nicht konkurrenziert, ist die Willensbildung nun für Hegel nicht mehr nebensächlich. Wird der Aspekt der „Zusammenstimmung aller zu Einem Glauben" wirklich relevant, so macht es einen Unterschied aus, ob er durch „Übereinstimmung des Glaubens aller von selbst" oder durch einen repräsentierten „Glauben aller" oder gar durch „Mehrheit der Stimmen" festgelegt sein soll (vgl. GW 1. 327 = N 191). Aus dem Ideal eines Glaubens, der „alle Einzelnen" einzubeziehen hat, spricht wohl zugleich Hegels Sehnsucht nach direkt demokratisch verfaßten Lebensformen überhaupf. Aus dem Zusammenhang seiner Erörterung heraus ist zudem anzunehmen, daß er für die Realisierung einer idealen „Zustimmung aller" den Bereich der religiösen Gesellschaft als besonders günstig erachtet. Zwar hat Hegel dieses Ideal in Anlehnung an Thukydides und Rousseau auch bereits für die politische Gesellschaft formuliert, doch ist inzwischen hier eine gewisse Skepsis auf getreten. Dem „bürgerlichen Vertrag" mutet er im Gegensatz

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zum „kirchlichen" infolge der Größe der modernen Gesellschaften nun weit eher zwangsstaatliche Anteile und statutarische Regelungen zu. Gerade dort, wo Hegel sich vom antiken Staats Vorbild löst und den weit komplexeren modernen Staat ins Auge faßt, dürfte er das Repräsentativsystem und die Willensbildung über Stimmenmehrheit weitgehend billigen.^ö Mit dieser auf Moralität hin konzipierten Kirche bzw. Religion ist Hegels Vorstellung vom Staat als „moralischem Wesen" nun auch in einem positiven Sinne näher bestimmt. Es ist in einem ersten Schritt aufgezeigt worden, wie der Staat Moralität aktiv unterstützen soll. Nun fragt sich allerdings, ob Hegel fortan die Beförderung der Moralität auf die kirchlich-religiösen Gesellschaften beschränkt, ob er nicht selbst noch dem politischen Staat eine Realisierung der Moralität zuschreiben will. Daran wäre die präzisierende Frage zu knüpfen, ob er nicht grundsätzlich nun die Moralität in jene Rolle drängt, die zuvor die Staatsreligion gespielt hat. Wird nun nicht gerade mit der Pluralisierung von Kirche und Religion eine einheitliche Moralität des Staates auf den alten Thron gestellt? ln der Tat scheint die staatliche Pflicht zur Moralität auch eine Art Staatsmoral oder Staatsgesinnung einzuschließen. „Bürger des Reichs der Moralität" zu sein, alles auf eine möglichst reine, gemeinschaftlich-freundschaftliche Moral („unsichtbare Kirche", „Freundschaftsvertrag") auszurichten — dies sind utopische Ideale, die Hegel offenbar über alle staatlich garantierte Moral erhebt. Auch im Kontext der Staatsverfassung sind sie präsent. So fragt Hegel ganz in Anlehnung an Montesquieu nach dem „unsichtbaren Einfluß" der Verfassung auf einen „tugendhaften Geist des Volks" (GW 1. 308 = N 175). Im Fragment Jedes Volk . . . kommt diese Tendenz noch auffälliger zum Vorschein. Dort vermischt sich die natürliche antike Staatsgesinnung mit moderner republikanischer Tugend. Der Staat gilt ^ Was Hegel im „bürgerlichen Vertrag" idealiter als möglich erachtet, läßt sich am ehesten erschließen, wenn wir ihn mit dem Ideal des kirchlichen Vertrags kontrastieren. Rolf-K. Hocevar: Stände und Repräsentation beim jungen Hegel, 79, auch Anm. 94, vertritt die Ansicht, Hegel sei — im Unterschied zum religiös-kirchlichen — im politisch-staatlichen Bereich durchaus dem modernen Repräsentationsstaat verpflichtet. Man könne in dieser Zeit bei Hegel von einem „liberal-rechtsstaatlichen, ,vertragsgeborenen' und vor allem repräsentativ verfaßten Staat, wie ihn die französische Verfassung von 1891 vorsah", ausgehen. Auch Otto Pöggeler (Hegels Option für Österreich. ln: Hegel-Studien. 12 (1977), 118 ff) sieht beim Berner Hegel den Gedanken einer Nationalrepräsentation im politischen Bereich vorliegen. In den Vertraulichen Briefen werde das Vertretungsprinzip überdies auf das Ständeprinzip ausgedehnt.

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über die sichtbare Institution hinaus als „Idee", als selbstverständliches Gemeinschaftsideal. Für den Griechen war die Idee von Vaterland und Staat „das unsichtbare, das höhere, wofür er arbeitete, das ihn trieb", ja ihm war der Staat gleichsam „Endzweck der Welt". Und die „Individualität" mußte vor dieser „Idee" geradezu „verschwinden" (GW 1. 368 = N 222). Für den Republikaner, so hält Hegel zustimmend fest, ist die Republik seine unsterbliche Seele: „. . . ihm schwebte der Gedanke vor, daß sie, seine Seele etwas ewiges sey." (GW 1. 370 = N 233). Dieses unsichtbare, aber doch weltlich-sinnliche Reich des Staates, das mir mit dem alten Ideal der „Volksreligion" übereinzustimmen scheint, kaum mit dem eben erörterten Konzept von Kirche und Religion, stellt demnach so etwas wie einen höheren moralischen Staat dar. Der Staat gewährt hier nicht mehr bloß negativ den Freiraum der Moralität, setzt nicht mehr nur Mittel zu deren Beförderung ein, er hat Moralität selbst zu repräsentieren. Der Staat als „moralisches Wesen" wäre hier ein Staat, der sich in die Moralität oder in die „Idee" aufgehoben hat. Die Frage, ob Hegel damit den Staat in einem schlechten Sinne moralisiert und anstelle der alten Staatskirche einen neuen Staat entwirft, der, nach einem Diktum des warnenden Hölderlin, zu einer „Sittenschule"^^ hergerichtet werden soll, läßt sich aber kaum bejahen.Bei aller Forderung nach moralischer Einheit des Staates ist nämlich auch immer der liberale Staatsgedanke als Korrektiv präsent. Ein bedeutsames Argument gegen diese Auffassung scheint mir auch aus der Tatsache hervorzugehen, daß Hegel Moralität und Religion nicht als Instrumente des Staates ansieht. Zwar spricht er etwas mißverständlich von der Religion als einem „Mittel", dessen sich der Staat bedient, jedoch ist der Zweck — die Moralität — darin bereits vorausgesetzt: die Momente Staat, Religion und Moralität werden so gut wie in keiner Kombination kausal oder instrumentell gefaßt. Eine moralische Eunktion hat der Staat nämlich lediglich dann zu übernehmen, wenn er bereits selbst zum „moralischen Wesen" erhoben worden ist. Das obengenannte Verhältnis problematisiert Hegel gemäß einer abgestuften Struktur von Teil und Ganzem. Seine Auffassung von einer staatlichen Moralität unterscheidet sich auch 47 „Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will." (Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd 11. Hyperion 2. 614.) 48 In apologetischem Sinne bejahen diese Frage freilich Interpreten, die Hegel deutsch-national vereinnahmen. So tendenziell Haering und Steinbüchel.

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wesentlich von Entwürfen einer aufgeklärten „natürlichen" oder „bürgerlichen Religion", die geradewegs auf die Interessenlage der sich konsolidierenden bürgerlichen Gesellschaft zugeschnitten sind. Der Staat als „moralisches Wesen" soll keine neue bürgerliche Moral sein, die, nach obsolet gewordener Kirchendressur, unter dem Deckmantel der Pluralisierung von Glauben und Meinung eine neue Dressur aufrichtet. Fern liegt Hegel ein bürgerliches Religions- und Moralitätsverständnis, wie es etwa Hobbes mit seinem „natürlichen Reich Gottes" vorschwebt, in dem es „eine einzige Art der Gottesverehrung" geben kann, nämlich diejenige, die „in den bürgerlichen Gesetzen vorgeschrieben wird".^^ Hier ist Religion dem Macht- und Maschinenstaat schlichtweg unterstellt oder sie ist, um ihren Status als höhere Sphäre zu retten, Projektion der Staatsordnung in eine Ordnung des allmächtigen Gottmonarchen. Aber auch die flexiblere Vorstellung der „bürgerlichen Religion" eines Rousseau dürfte Hegel kaum geteilt haben. Zwar könnte er mit Rousseau darin einig gehen, „daß jeder Bürger eine Religion habe, die ihm Liebe zu seinen Pflichten einflöße".50 Doch ein bürgerliches „Glaubensbekenntnis" im Stile Rousseaus und v. a. eine für den Gesellschaftsvertrag zurechtgezimmerte Religion, die zudem mit drastischen Strafmaßnahmen gepaart ist^i, sind für Hegel keinesfalls akzeptabel. Rousseaus Katechetik der „positiven Glaubenssätze", die in der „Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags" kulminiert, wäre entgegenzuhalten, was Hegel aller Katechetik entgegenhält: sie verwechselt die Denkform des Glaubens mit der bürgerlichen Produktionsform, sie operiert mit einem Glauben, den man „wie Geld ins Gehirn einstreichen" soll (GW 1. 341 = N 204). Wie niedrig Hegel das Zwangsmoment der Moralität ansetzt, zeigt seine Auffassung, wonach man jemanden, der sein Dasein der Freiheit der knechtischen „Veräußerung" preisgeben wolle, eigentlich nicht daran hindern dürfe. Denn: „. . . diß hiesse den Menschen zwingen wollen, Mensch zu seyn, und wäre Gewalt" (GW 1. 351 = N 212). Rousseaus Diktum, wonach man in einem solchen Falle jemanden „zwingt, frei zu sein"52, wäre dem völlig konträr. Es wäre übertrieben, im Rahmen dieser Ausführungen zu Staat, Kirche, Moral von einem klaren Staatskonzept Hegels zu sprechen. Thomas Hobbes: Leviathan. Teil 2. Stuttgart 1980. 304. ]ean-]acques Rousseau: Vom GeseUschaftsvertrag. Buch 4, Kapitel 8. 388. 51 Vgl. ebd. 389. 52 Ebd. Buch 1, Kapitel 7. 283.

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Im Unterschied zu den früheren Fragmenten haben wir aber immerhin ausführliche Skizzen zu einem ersten Staatsverständnis vor uns. Auffallend ist der Stufenbau von Legalität und Moralität. Die Moralität gilt in ihm stets als die höhere, übergreifende Sphäre, die das Legalitätssystem in sich einschließt, es dabei möglichst ausschaltet oder, wo dies nicht restlos gelingt, als untergeordnete Stufe der Moralität selbst zu fassen intendiert. Diese Abstufung spielt Hegel für die Beziehung des Staates der bürgerlichen Gesellschaft, dem wesentlich Zwangscharakter eignet, zum zwanglos agierenden „moralischen Staat" durch. Sie wiederholt sich in den Verhältnissen von Staat und Religion und von Religion und Moralität. Das Legale oder bloß Institutionelle wird in eine möglichst reine Moralität übergeführt. Mit diesem Verfahren zeigt sich im Keim Hegels (später explizit problematisierte) zwiespältige Einschätzung des modernen bürgerlichen Staates. Hegel spricht von dem „bürgerlichen Staat", der „bürgerlichen Verfassung" oder dem „bürgerlichen Vertrag" jeweils dann in einem wertpositiven Sinne, wenn er diese Begriffe gegen den religiösen Zwangscharakter des Kirchenstaates in Anschlag bringt. In diesem Falle verwendet er ,bürgerlich' als historischen Begriff; im Zentrum stehen die neuen bürgerlichen Freiheitsrechte, die der bürgerliche Staat seinem historischen Widerpart abgerungen hat. Soweit Hegel diese Begriffe im Umkreis des Legalitätsbereiches des modernen Staates einführt — sie also mit den Rechten und Pflichten des Zwangsstaates in Verbindung stehen — erhalten sie einen wertnegativen Sinn. ,Bürgerlich' ist dann mit dem Formaspekt der modernen bürgerlichen Gesellschaften und Staaten konnotiert: zurückgewiesen wird das Maschinelle, bloß Legale des Staates, damit immer auch das übermäßige ökonomische Interesse und allzu stark im Mittelpunkt stehende Eigentumsrecht. ^3 Diese zwiespältige Beurteilung des moHegel kontrastiert die neueren Staaten, in denen „Sicherheit des Eigentums" zur Maxime der Gesetzgebung geworden ist, mit den alten Verfassungen, die sich gegen Eigentum und Ökonomie ziemlich gleichgültig verhielten (vgl. Dok 168 f)- Es wäre hier gewiß verfehlt, Hegel ein klares Verständnis der „bürgerlichen Gesellschaft" im modernen Sinne zuschreiben zu wollen. Was Manfred Riedel (Hegels Begriff der „Bürgerlichen Gesellschaft" und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs, ln: ders. (Hrsg): Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Bd 2. Frankfurt a. M. 1975. 251 f) für die Hegelsche Rechtsphilosophie hervorgehoben hat, nämlich eine gewisse Befangenheit des Autors in einem Naturrechtsdiskurs, der die „bürgerliche Gesellschaft" noch in ihrem alten Sinne als „societas civilis" begreift, mag für unseren Hegel noch deutlicher zutreffen. Die „bürgerliche Verfassung" oder der „bürgerliche Vertrag" scheinen in

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dernen bürgerlichen Staates, die Hegel dem Sinnzusammenhang und nicht der Terminologie nach vornimmt, ist freilich ein konsequenter Ausdruck seines Versuchs, das antike Staatsvorbild mit dem moderneren bürgerlichen Staatswesen auf einen Nenner zu bringen. Gerade dieser Versuch führt im Endeffekt auch zu einer Doppeldeutigkeit hinsichtlich des Ideals in Hegels Staatsverständnis. Die höheren Sphären der Moralität (Kirche, unsichtbare Kirche, Staatsidee), die er aufgliedert, stellen deutlich ein Ideal des Staates dar, das nie ganz isoliert, als abstraktes höheres Ganzes dasteht, sondern im Sinne eines Ganzen, das die vorangehenden Sphären in sich schließt. Diesen Gedankengang vertritt er jedoch nicht durchgängig. Oft erscheint das Ideal in einer abstrakt-utopischen Form, die ganz für sich steht und die anderen Sphären nicht mehr einzubeziehen vermag. Am extremsten hierfür sprechen die Äußerungen zum Staat im Ältesten Systemprogramm, die geradezu ein anarchistisches Verschwinden des Staates nahelegen: „Die Idee der Menschheit voran — will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von der Maschine gibt. . . . Wir müssen über den Staat hinaus! — Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.“^ Diese Passagen des Programms erwecken den Eindruck einer radikalisierten Auslegung jener Staatskritik, die Herder mit seiner Polemik gegen die Staatsmaschine und Schiller mit dem Konzept des „ästhetischen Staates" vorgelegt haben.55 Daß Hegel am Ende der Berner Zeit eine in der Linie dieses Programms liegende gesamthafte anti-staatliche Wende vollzieht, ist jedoch kaum anzunehmen. Offensichtlich schwankt er am Ende der Berner Zeit zwischen einem Ideal, das die moderne soziale Realität einbeder Tat als kompatibler Teil des staatlichen Innenbereichs verstanden zu werden. Und die Parteinahme für den „bürgerlichen Staat" im Kampf gegen den Kirchenstaat geht offenbar auch nicht über die gängige naturrechtliche Forderung hinaus, dem bürgerhchen Teil des Staates gegenüber dem theokratischen mehr Nachdruck zu verschaffen. Doch spricht dies letztlich nicht dagegen, daß Hegel zugleich die dissoziierenden Kräfte der modernen bürgerlichen Gesellschaft bereits zu begreifen und implizit eine treffende JCritik an ihr zu üben beginnt. 54 MdV. 11 f, Z. 16-21. 55 Vgl. Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte . . . Sämtliche Werke. Bd 5. 516, 530 ff; sowie Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Werke. Bd 20. Brief 27. 410. Siehe auch Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. 90.

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zieht, und einem Ideal, das kämpferisch-utopisch die schlechte Realität überspringt. ^6 Ersteres liegt mit der näher ausgeführten Staatsauffassung Hegels in dieser Zeit vor, letzteres entspricht seiner in dieser Zeit ausdrucksvollen Aversion gegen alles Maschinelle sowie dem gängigen Pathos der Befreiung.Im Grunde ist dieses Schwanken auch Ausdruck der verschiedenen theoretischen Zugriffe und historischen Gewichtungen seines Staatsdenkens. Mit dem differenzierten Verhältnis von Moralität und Legalität schließt er — Kant und Fichte modifizierend — an eine eher statische Staatsbetrachtung an, die der modernen Realität Rechnung trägt. Mit seiner Einschätzung des modernen, entfremdeten Herrschaftsstaats argumentiert er aus einem geschichtsphilosophischen Staatsverständnis, das weitgehend die Antike zum Vorbild nimmt. Beide Seiten wird Hegel fortan in Einklang bringen müssen.

e) Das „Positive" als entfremdete Geschichte Im Fragment Jedes Volk . . ., das aus dem Jahre 1796 stammt, knüpft Hegel an zwei Problemaspekte aus den Fragmenten von 1793/94 an. Was als Malheur deutscher Geisteskultur konstatiert worden ist, nämlich das Entfremdet-Sein von aller eigenen Freiheitstradition und politischen Phantasie, kommt erneut zur Sprache (GW 1, 359—365 = N 214—219). Nochmals stellt sich pointiert die Frage nach einer möglichen politisch-kulturellen Erneuerung unter diesen ungünstigen Bedingungen. In diesem Zusammenhang rekurriert Hegel sodann auf das Ideal des griechischen Staatslebens, doch nun nicht mehr so sehr im Hinblick auf eine zu aktualisierende politisch-kulturelle Bewegung, als vielmehr im Sinne einer historisierenden Betrachtungsweise: Im Zen56 Dieses Schwanken in der Staatsauffassung finden wir übrigens auch bei Schiller. So erscheint bei ihm der „ästhetische Staat" einerseits als ein Ganzes, das den „dynamischen Staat" der Rechte und den „ethischen Staat" in sich aufgehoben enthält, andererseits als eine getrennte, verinnerlichte Gemeinschaftssphäre: „Existiert aber ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele; der That nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik in einigen auserlesenen Zirkeln finden ..." (Ebd. 412) 57 Die Krifik am Maschinenstaat kann in dieser Zeit bereits auf eine gewisse Tradition (Herder, Kant, Schiller) zurückblicken. Siehe dazu Otto Pöggeler: Das Maschinenwerk des Staates, ln; MdV. 201 ff.

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trum steht eine zur Darstellung getriebene historische Kontrastierung von „griechischer Phantasie- und christlicher positiver Religion" (GW 1. 365—378 = N 219—231). Hegel agiert dabei ausdrücklich als „denkender Geschichtsforscher", der nach materiellen und ideellen Triebkräften, die den Untergang der alten freiheitlichen Gesellschaften herbeigeführt haben, Ausschau hält. Systematisch bedeutsam ist in diesem Untersuchungsfeld Hegels Sicht einer Zerfallsdynamik historischer Entwicklung, die in den Imperativ, historische Selbsttätigkeit zurückzugewinnen, mündet. Der Entfremdungsgedanke wird unter dieser Optik mit weiteren Eacetten versehen. (a) Deutsche Nationalphantasien „Jedes Volk", so beginnt Hegel, „hat ihm eigene Gegenstände der Phantasie, seine Götter, Engel, Teufel oder Heilige", die in seinen Traditionen leben (GW 1. 359 = N 214). Besonders „freie Völker", die sich zu einer Nation vereinigt hatten, kannten diese Kultur und erlebten in ihr ihre Befreiung nach. Wie armselig ist dagegen die Freiheitskultur der Gegenwart, besonders die des deutschen Volkes. Wann immer Hegel zu einem Appell an ein künftiges „Wir", an eine freie deutsche Nation sich anschickt, geht dieser sogleich über in das wohlbekannte Lamento. Das christliche Deutschland soll seiner freiheitlichen Volksgeschichte so weit entäußert sein, daß diese sich in der Gegenwart nicht einmal mehr als unterdrückte, schweigende Kultur aufhält. Sie ist schlicht abwesend. Die Entäußerung deutscher Volksgeschichte entspricht für Hegel der Geschichte ihrer inneren Überformung durch das Christentum: dieses „hat Walhalla entvölkert, die heiligen Hayne umgehauen ..." (GW 1. 359 = N 215). Doch hat auch die neuere deutsche Aufklärung trotz allen gegenteiligen Versuchen diese Entäußerung bisher mitgetragen, etwa indem sie die letzten Residuen einer Volksphantasie eliminiert hat, die sich zuvor in den „Aberglauben" hinübergerettet hatten. Dies mag nicht ganz zu Unrecht geschehen sein, denn diese Phantasien, die von den Gespenstergeschichten des Rittertums oder des Klosterlebens zehrten, waren nurmehr „dürftige und traurige Reste einer versuchten Selbständigkeit, und eines versuchten Eigenthums .. ." (GW 1. 361= N 216). Dennoch wurde durch ihre Ausrottung, die bald zur „Pflicht der ganzen aufgeklärten Klasse der Nation" geworden ist, eine wichtige Verbindung zu einer möglichen

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Veredelung bestehender Volksphantasien durch die aufgeklärten Erzieher abgeschnitten. 58 Fortan leidet deutsche Aufklärung denn auch unter einem Bruch mit dem Volksleben, den sie selbst mit ihrem schwärmerischen, allegorisierenden Wiederaufleben eigener und entlehnter Volkskulturen nur befestigt. Doch an einem verfehlten Wiederaufleben allein liegt es nicht; paradoxerweise müßte das Volk erst auf den Stand seines Volkslebens gebracht werden. Hegel spielt dieses nun entstandene Dilemma nahezu bis zur Aporie durch. Fehl schlägt der Versuch, wie schon frühere Überlegungen angedeutet haben, eine eigene urtümliche, jedoch verlorene Volksphantasie zu restaurieren: „die verlorne Phantasie einer Nation wiederherzustellen, war von jeher vergeblich..." (GW 1. 362 = N 217). Ungeeignet ist die Re-mythologisierung der griechischen Antike; allein deshalb, weil da lediglich der gebildete Teil der Bevölkerung in diese eingeweiht ist. Ein ähnliches Schicksal erleiden Hegels Meinung nach die mehr gegenwartsbezogenen „lieblichen Spiele eines Hölty, Bürgers, Musäus" (GW 1. 361 = N 216), die für das Volk, da es in seiner übrigen Kultur zu weit zurückliegt, verloren sind. Eine positive Wirkung, wie sie die Stücke Shakespeares in der englischen Kultur erreicht haben, gelingt hier nicht. Die Phantasien der „gebildeten Theile" der Nation korrespondieren in keiner Weise mit jenen der „gemeinen Stände". Wiederum sieht sich Hegel der Not folgend auf die christliche Religion zurückgeworfen, deren Phantasien zumindest dem gebildeten wie dem ungebildeten Teil der Nation noch gemein sind. Obschon er nach wie vor von seiner scharfen Verurteilung des Christentums nicht abrückt, erachtet er es offenkundig als wichtig, daß Dichter und Philosophen in die religiösen Stoffe des Volkes eingreifen und, trotz allem bisherigen Mißlingen, auch aus christlichen Phantasien heraus eine Vereinigung von Gebildeten und Ungebildeten anstreben. Schillers ästhetisches Ideal dürfte ihn in dieser Richtung bestärkt haben. Bedeutsam ist es ihm im Hinblick auf die soziale Aufgabe des Dichters und auch in bezug auf die ästhetische Form in der Bearbeitung der Stoffe. Mit dem „freien Spiele der Seelenkräfte" soll nämlich nun ein Korrektiv zu der allzu strengen, steifen Glaubensform vorliegen (GW 1. 362 = N 217). Erst im Ältesten Systemprogramm tritt dieser 58 Die traurigen Reste dieser Phantasien aber zieht Hegel der moralisierenden christlichen Sinnlichkeit vor. Weit eher als in ihr werde der Mensch „in den Feenmärchen des Orients oder in unseren Ritterromanen Natur finden" (GW 1. 344 = N 206).

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Denkaspekt Hegels klarer zutage; er gipfelt im Imperativ einer ästhetischen Vereinigung mit dem Volk: „Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse . . . So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns."^^ Der Übergang ins Ästhetische als höchstes Prinzip und das Wagnis einer „neuen Mythologie", einer „Mythologie der Vernunft", scheinen Hegel einen Ausweg aus dem Dilemma eröffnet zu haben. Die alte Aufgabe der Versinnlichung der Religion erfüllt nun eine mit Moralität verschwisterte Schönheit. Dadurch verändert sich die Art und Weise des Umgangs mit der Volkskultur, zugleich scheint mit der „neuen Mythologie" programmatisch eine neue Religion angestrebt zu werden. In unserem Textabschnitt klingt der Entwurf einer neuen Religion mittels der ästhetischen Form nur schwach an. Der utopisch-harmonische Tonfall bleibt weg, und der Enthusiasmus für die Form dieser neuen Religion wird durch das Bewußtsein des ungeeigneten Stoffs der Volksphantasien gebändigt. Sofern Hegel als „denkender Geschichtsforscher" an diese Fragen herangeht, kann er seine resignative Haltung kaum verbergen.Strenggenommen überspielt aus dieser Sicht die Vorstellung einer neuen Religion Hegels Dilemma. Denn wo der moderne Republikanismus sich auf eine reale Volkskultur einläßt, kann er nicht umhin, entweder zu resignieren oder sich ein Stück weit mit den schlechten Zuständen zu arrangieren. Hegel scheint sich beim Gedanken an eine neue, ästhetische Religion dieser Tatsache nicht ganz zu entziehen. Noch ergeben sich keine Umwertungen der historischen Zeitperioden, nach wie vor bleibt das griechische Vorbild kräftig erhalten. Aber in schwacher Andeutung bahnt sich so etwas wie eine Fixierung an die deutsche Reformation an. Ihre Tendenzen der Entsinnlichung sind von Hegel hinlänglich 5** MdV. 13. Z. 20-25. Leitmotivisch kann hierzu die Anforderung gelten, die Gibbon an den Religionshistoriker stellt: „Der Theolog mag dem angenehmen Beruf folgen, die Religion zu beschreiben, wie sie vom Himmel niederstieg, im Gewände ihrer ursprünglichen Reinheit. Eine traurige Pflicht ist dem Historiker auferlegt. Er hat die unvermeidliche Mischung von Irrthum und Verderbtheit zu entdecken, welche sie während eines langen Aufenthalts auf Erden unter einer schwachen und entarteten Gattung annahm." (Edward Gibbon: Geschichte des Verfalls und Unterganges des römischen Reiches. 353.)

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dargestellt worden, aber immerhin, so argumentiert er die Sache etwas entlastend, hat ein Teil der deutschen Nation ein Interesse daran bekundet, ist sogar ein „Gefühl eines bleibenden Rechts, des Rechts, in seinen religiösen Neigungen seiner selbst errungenen oder erhaltenen Überzeugung zu folgen", entstanden (GW 1. 360 = N 215). Ob sich hier nicht eine erste Identifikation Hegels mit einer christlichgermanischen Geschichtsperspektive anbahnt? (ß) Zur Dialektik des aufgeklärten Christentums Dem sich präsentierenden aufgeklärten Christentum weist Hegel allerlei Widersprüche und Verkehrungen nach. Er demaskiert den Hochmut christlicher Aufklärerei und läßt zugleich deren innere Dialektik sichtbar werden. Sie entpuppt sich stets als das, was sie rhetorisch von sich weist: das für sie lächerlich Mythologische ist am Ende sie selbst. Den „Gemeinplatz" christlicher Aufklärung, wonach das Heidentum ein Zustand des „Unglücks und der Finsternis" gewesen sein soll, wo im Gegensatz zur nun bestehenden Moralität die reinste Unsitte und wildeste Phantasie geherrscht hätten, widerlegt Hegel durch die einfache Darstellung christlicher Praxis (vgl. GW 1. 365 ff = N 219 ff). Christliche Aufklärung braucht sich lediglich ihrer Geschichte zu erinnern, um das Dürftige, Trostlose, das sie den heidnischen Religionen andichtet, bei sich selbst zu finden. Unter ihrer Heilsgeschichte zeigt sich nur allzu bald eine obskure Realgeschichte. Und sofern sich die christliche Aufklärung als „Aufklärung durch Verstand" ausweist, um allfälligen Vorwürfen einer rationalen Kritik zuvorzukommen, ist sie nochmals daran zu erinnern, daß ihre Ausbreitung durch einen Verstand vorangetrieben wurde, der sich vor allem durch Wunder imponieren ließ. Wo immer sie sich von Historischem absetzt, daraus ein Vergangenes entstehen läßt, unterschlägt sie eigens gelebte Geschichte. Das Wundersame, Pabelhafte, das sie damit ausgrenzt, läßt sich freilich nicht beseitigen: Die Austreibung des Mythos durch die christliche Aufklärung führt bekanntlich zur Rache des Mythos. Die Sichtweise, aus der Hegel diese dialektische Kritik anbringt, ist die des Historikers, der von der idealen Geschichte zur realen hinabsteigt, Geistesprodukte auf deren materielle Genesis hin untersucht. Wo er explizit den „denkenden Geschichtsforscher" (GW 1. 365 = N 220) für sich in Anspruch nimmt, folgt er programmatisch einer

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Linie, die viel Gemeinsames mit der Schürfarbeit des Historikers Edward Gibbon aufweist. Sein besonderes Augenmerk gilt dem historischen Übergang der heidnischen Religion zur christlichen und der Struktur der Revolution an dessen Bruchstellen. In seinem Werk zur Geschichte des Verfalles und Unterganges des römischen Reiches wundert sich Gibbon in Ansehung der Entstehungsgeschichte der christlichen Religion über die mirakulöse Kraft, die eine Umwälzung der alten Welt und Religion bewirken konnte. Näher meint er dazu, die christliche Religion müsse, die alten Zustände untergrabend, in aller „Stille und Dunkelheit" in den Herzen emporgewachsen sein. Die „Umwälzung", die sie vollzogen habe und noch vollziehe, dehne sich über „dreizehn oder vierzehn Jahrhunderte" aus.^i Bei Hegel erkennen wir dieselbe Verwunderung über die Kraft, die in dieser Umwälzung steckt, über das „Gegengewicht", mit dem die alte Macht, deren Zusammenhang so perfekt, deren Glaube „mit tausend Fäden in das Gewebe des menschlichen Lebens verschlungen war", aus den Angeln gehoben werden konnte (GW 1. 366 = N 220). Und auch er erklärt sich dieses ungeheure Phänomen dadurch, daß neben den äußerlich sichtbaren Revolutionen eine „stille, geheime Revolution" stattfindet, die sich „unmittelbar im Geisterreich" zuträgt. Hegels Erörterungen zielen dabei noch in eine andere Richtung. Die „stille, geheime Revolution" geht zwar in einem „Geisterreiche" vor sich, das einem „Geist des Zeitalters" oder dem „Geiste der Zeit" zuwiderläuft oder unbewußt bleibt. Doch sind letztlich die Ursachen der Revolution auch im widersprüchlichen „Geiste der Zeit" selbst zu finden. Diese Tatsache bleibt nun sehr oft gerade dem „Geisterreich" verborgen. Indem Hegel eine Art List der Ursachen im „Geiste der Zeit" verankert sieht, argumentiert er der Tendenz nach historisch-materialistisch: nicht nur im „Geisterreich" sind die Ursachen und Triebkräfte der Revolutionen zu suchen, sondern auch weit tiefer in den Bedingungen der Zeit. Dieser Einsicht folgend, versucht Hegel etwa darzulegen, wie die Widersprüchlichkeit und Zersetzungsdynamik in den antiken Gemeinwesen durch ökonomische und politische Ursachen begleitet werden: „Glückliche Kriege, Vermehrung des Reichthums, und Bekanntschaft mit mehrern Bequemlichkeiten des Lebens, und mit Luxus erzeugten in

61 Ebd. 352.

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Athen und Rom, eine Aristokratie des Kriegsruhmes und des Reichthums ..." (GW 1. 368 = N 222). In den Abschnitten, in denen Hegel das Produkt der Umwälzung durch christliche Religion in den Blickpunkt rückt und es erneut mit dem griechischen Leben kontrastiert, neigt der denkende Historiker zum Entfremdungstheoretiker. Den gesellschaftlichen Zustand, den das Christentum einleitet, skizziert Hegel als Form der Entfremdung. Wiederum bindet er die Entstehung an gesellschaftliche Ursachen, nirgends nimmt er zu metaphysischen Erklärungen Zuflucht.Wo er die Denkweise des modernen aufgeklärten Christentums weiter untersucht, nähert sich die Entfremdungs-Diagnose ideologiekritischen Denkfiguren an: Aus dem entfremdeten Zeitgeist heraus generieren sich entsprechende idealisierte Denkformen, Denkformen, denen ihre Entstehung uneingesehen bleibt. Die mit der sozialen Entfremdung einherlaufende Herrschaftsstruktur illustriert Hegel vorerst am Staat bzw. an der Staatsidee. Aufgezeigt wird der Verlust des Staates für die selbsttätigen Individuen oder die Entäußerung des Staates von der tatsächlichen Gemeinschaft: „Das Bild des Staates, als ein Produkt seiner Thätigkeit verschwand aus der Seele des Bürgers; die Sorge, die Übersicht des Ganzen ruhte in der Seele eines einzigen, oder einiger wenigen; ein jeder hatte seinen ihm angewiesenen, mehr oder weniger eingeschränkten von dem Plaze des andern verschiedenen Plaz, einer geringen Anzahl von Bürgern war die Regierung der Staatsmaschine anvertraut, und diese dienten nur als einzelne Räder, die ihren Werth erst in Verbindung mit andern erhalten — der jedem anvertraute Theil des zerstükkelten Ganzen war im Verhältnis zu diesem so unbeträchtlich, daß der einzelne dieses Verhältnis nicht zu kennen oder vor Augen zu haben brauchte — Brauchbarkeit im Staate war der große Zwek, den der Staat seinen Untertanen sezte, und der So konstatiert auch Georg Lukdcs: Der junge Hegel, Bd 1, 145 f, ganz zurecht, Hegels Entfremdungsgedanke lasse an dieser Stelle eine anthropologische Optik wie etwa jene Feuerbachs bereits hinter sich. ® Dabei ergibt sich bereits jene Vorstellung von Ideologie, die Engels mit dem „falschen Bewußtsein" (vgl. MEW 39. 97) und Lukäcs mit dem Verdinglichungstheorem (vgl. Georg Lukäcs: Geschichte und Klassenbewußtsein. Darmstadt, Neuwied 1976. 170 ff) auf den Begriff bringen werden. — Zum Versuch, die unhinferfragten an-sich-Wahrheiten als ideologisches Bewußtsein zu interpretieren und damit Hegels Weg der dialektischen Erfahrung als dezidierte Ideologiekritik zu lesen, vgl. Rudolf Ruzicka: Selbstentfremdung und Ideologie. Zum Ideologieproblem bei Hegel und den Junghegelianern. Bonn 1977.

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Zwek, den diese sich dabei sezten, war Erwerb und Unterhalt, und noch etwa Eitelkeit. Alle Thätigkeit, alle Zweke bezogen sich izt aufs individuelle, keine Thätigkeit mehr für ein Ganzes, für eine Idee ..." (GW 1. 369 = N 223). Bemerkenswert ist hier, wie Hegel Entfremdung einerseits über die Struktur des dissozierenden Verhältnisses von allgemeinem Willen oder Willen aller und (ökonomisch-juristischem) Einzelinteresse, quasi als allgemeine Verselbständigung einer Privatsphäre gegenüber dem Staat beschreibt, andererseits als Resultat des Auseinanderreißens von Teil und Ganzem, mithin der Verdinglichung zu einem Legalitäts- oder arbeitsteiligen Maschinenstaat. So manifestiert sich nun die Herrschaft der Wenigen über die Vielen als „Regierung der Staatsmaschine", die ihren abstrakten Produzenten ihr „Räder"-Dasein zurückspiegelt. Nachempfunden wird hier mehr als nur der plane Herrschaftsstaat, das Bild der Aufteilung und Rekonstituierung eines „zerstükkelten Ganzen" übernimmt nachgerade Elemente des kopflosen modernen Verwaltungsstaates. Hegels Anlehnung an Schillers Primat eines harmonisch Totalen gegenüber einem Zerteilten, das schöpferisch nur Bruchwerk sein kann, ist dabei offenkundig. Hegels Kritik des entfremdeten Staates verdient aber gerade auch deshalb eine besondere Aufmerksamkeit, weil er mit ihr eine diesseitige Staatsidee gegen den verhimmelten Staat konzipiert, die einen Ausschnitt der Genesis seines weiteren Verständnisses von Philosophie offenlegt. Es ist auffällig, wie Hegel die Staatsidee in ihrer utopischen Ausgestaltung zusätzlich durch traditionell metaphysische Kategorien potenziert, die er allerdings als diesseitig fundiert deutet. Den Staat identifiziert er geradezu mit dem „höheren", der „allgemeinen Idee", dem „absoluten" oder „Ewigen" (GW 1. 368, 370, 375 = N 222, 223, 224, 227). Will er damit nochmals den Zielpunkt einer höheren, moralischen Sphäre des Staates, gleichsam eine allgemeine praktische Staatsphilosophie anvisieren? Diese Identifikation scheint mir weit mehr auszusagen. Mit ihr formuliert Hegel auch ein Bedürfnis nach Philosophie („Die Vernunft konnte es nie aufgeben, doch irgendwo das absolute, das selbstständige, praktische zu finden" (GW 1. 371 = N 224), das nun auf einer generelleren Ebene systematische Form anzunehmen beginnt. Ersichtlich ist ein praktisches Motiv im Hinblick auf sein philosophisches Desiderat, das Absolute aus seiner abstrakten Transzendenz in einen immanenten Bereich zurückzuholen. Diese Denkfigur verfeinert Hegel besonders in der Jenaer Zeit (Glauben und (Nissen) bis in die Erkenntnistheorie

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hinein. Ebenfalls ergibt sich hiermit ein zentrales Indiz für das spezifisch Hegelsche Verhältnis von Staatsidee und Metaphysik. Wir haben bisher gesehen, daß er bei seinen vereinigungsphilosophischen Versuchen mit Kant die alte Metaphysik zurückweist, den neueren Formen der Metaphysik, der „metaphysica specialis" Kants und der neueren Spekulation, zumindest skeptisch gegenübersteht. In dieser Phase führt Hegel metaphysische Termini wieder ein, verwendet und deutet sie aber in einer bestimmten neuen Weise. Seine neuen metaphysischen Konnotationen sind zum einen, wie erwähnt, in einem diesseitig-weltlichen Sinne zu verstehen. Eine andere zentrale Eigentümlichkeit ist ihre Konstituierung aus dem moralischen Staatsganzen heraus; sie treten als eine Art Überbau oder Umhüllung des Staatsganzen auf.^“^ Alles in allem sind sie mehr als Resultat eines Totalentwurfs der Moralität zu charakterisieren denn als Prämissen einer Seins- oder Natureinheit. Hegels „Metaphysik" ist hier eine verweltlichte Metaphysik des Staates, sein Gott ein politischer Gott. Unbestreitbar ist ihre Dynamik, ihr Bezug zur praktischen selbsttätigen Vernunft. Für Hegel widerspricht sie in keiner Weise der Selbsttätigkeit des Subjekts. Ganz im Sinne der angesprochenen ideologiekritischen Haltung führt Hegel sodann die Entfremdung gewisser Denkformen vor Augen, vor allem jene des aufgeklärten philosophischen Verstandes. Einer scharfen Kritik unterzieht er ein Denken, das man — neuerer Terminologie folgend — als „instrumentell" bezeichnen könnte; ein Denken, das sich von der Natur befreien und sinnliche Abhängigkeit vermeiden will, indem es Natur seinen Zwecken unterwirft und ihr die eigenen Gesetze vorschreibt. Eine solche „Umkehrung der Natur", so urteilt er, „konnte nichts anders als sich aufs fürchterlichste rächen." (GW 1. 374 = N 227) Deutlich verwendet er an dieser Stelle reflexive Figuren, die spätere Vertreter einer , Dialektik der Aufklärung' unter dem Aspekt der Naturbeherrschung behandeln.p>ie ^ Auf diese spezifische Physiognomie in der Entwicklung von Hegels Metaphysikverständnis deutet Georg Lassen {Hegel als Geschichtsphilosoph. Leipzig 1920. 11, 33 f) hin. Er versucht aufzuzeigen, wie Hegel in Anknüpfung an Kants geschichtsphilosophische Überlegungen den vereinigenden Geist aus einem sittlichen Staat herausmodelliert. Noch pointierter dann Justus Schwarz: Die anthropologische Metaphysik des jungen Hegel. Diss. Königsberg 1927. Besonders 4. Er sieht den Kern der Hegelschen Metaphysik in der sozialen Beziehung der Menschen und spricht deshalb auch von einer „anthropologischen Metaphysik". ® Zu denken ist hier selbstverständlich an die zentrale These von Adorno und Horkheimer zur Frage der Naturbeherrschung: .Jeder Versuch, den Naturzwang zu

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Unterwerfung der Natur durch die aufklärerische Denkform plant eine Befreiung, die sich faktisch einer unkontrollierten Naturabhängigkeit überantwortet. Gerade auch im Falle der inneren Natur „zeigte der Spiegel nichts mehr, als das Bild seiner Zeit..." (GW 1. 373 — N 226). Alles Interesse an ihr läuft auf eine abstrakte, „metaphysische oder transcendentale Seite der Idee von der Gottheit" hinaus. Auch wo eine neue „theoretische Vernunft" auftritt, die mit dynamischen Verstandesbegriffen zu operieren versteht und dadurch dem „unendlichen Objekt" gerecht werden will, wird das Naturobjekt unangemessen behandelt. Den größten Teil der Denkanstrengung verwendet man dazu, „Zahlenbegriffe, Reflexionsbegriffe von Verschiedenheit u. drgl. ja sogar bloße Wahrnehmungsvorstellungen von Entstehen, Schaffen, Erzeugen, auf ihr unendliches Objekt an[zu]wenden . . ." (GW 1. 373 f= N 227). Das als Postulat freigelegte unendliche Objekt fällt unter diesen Denkformen der abstrakten Verendlichung anheim. Im wesentlichen bindet Hegel diese Denkformen ans christliche Erbe zurück, das er jedoch noch spezieller, in eigener Sache dem Entfremdungsgedanken subsumiert. In diesem Bereich stößt man auf den emotiven Kern seines Entfremdungskonzepts, die Kritik wird energischer und treibt aus der Darstellung heraus wiederum zur Tat. Wohl nirgends erweckt Hegels Demontage des Christentums in den gesamten Berner Fragmenten dabei einen derart ausgeprägt „linkshegelianischen" Eindruck wie in den folgenden Passagen dieses Eragmentstücks. Das Christentum als Repräsentant einer „Objektivität der Gottheit" ist ihm Zeichen der Verdorbenheit menschlicher Natur („das kraftlose Geschlecht"), Zeichen der Sklaverei; das Bild der Gottheit bloß „eine Offenbahrung, nur eine Erscheinung dieses Geists der Zeiten" (GW 1. 375 = N 227 f). Wie der Staat sich entzweit und außer die Gemeinschaft setzt, ist auch die christliche Religion paradigmatisch in „Himmel" und „Erde" aufgeteilt. Symbolisiert ist damit eine Zweiteilung auf der Erde, die sowohl in der Natur wie im „Geisterreiche" noch für sich auf gefunden werden kann (vgl. GW 1. 373, 375 = N 226, 228). Hegel stellt ideelle oder symbolische Mystifi-

brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur umso tiefer in den Naturzwang hinein." (Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1975. 15) Zum Vergleich der Position des jungen Hegel mit dem Programm der ,Dialektik der Aufklärung' siehe auch Jürgen Habermas: Hegels Begriff der Moderne. In: ders: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. 1985. 34-58.

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zierungen gleichsam in ihrer reellen Fagon dar. Das christliche Diktum von der Verdorbenheit der menschlichen Natur, die kompensatorisch die Fhlfe des himmlischen Geistes erfleht, ist nur Signum des Widerspruchs in der Natur wie im Geist selber. Denn seine Kerngestalt liegt in unserem defizienten sozialen Verhältnis: im „Werk eines Wesens, das außer uns ist, dessen Theil wir nicht sind ..." (GW 1. 373 = N 226). Das Tun des Wesens außer uns beschränkt sich nicht auf bestimmte Begriffe oder einen bestimmten Gegenstand, ist es doch das hypostasierte Verhältnis im „Geiste der Zeit", das sich nun beliebig in Begriffen und Gegenständen reproduziert. Letztlich kritisiert Hegel nicht etwa Geistiges zugunsten des Natürlichen; seine Wendung zum reellen Verhältnis der Entfremdung soll gerade erst Natur und Geist in ihrer gemeinsamen Wirkungsweise freilegen. Auch die Religion als solche ist durch eine materielle Kritik am Christentum nicht einfach hinfällig geworden, denn sie ist nicht per se die diesseitige Flucht ins Jenseits, sondern ein konkreter Lebenszusammenhang, der aus seiner Verkehrung ebenso herauszulösen ist. Selbst der objektivierte Gott müßte ins Irdische zurückgeholt werden. Der „Geist der Zeit", der „nicht dem Maase nach in die Unendlichkeit hinaus" gesetzt worden ist (GW 1. 375 = N 228), lediglich eine schlechte Unendlichkeit gebildet oder sich in eine uns „fremde Welt" verwandelt hat, führte zur Entfremdung von Mensch und Gott. Sowohl Mensch wie Gott, meint Hegel in Fichtescher Terminologie, sind ein „Nicht-Ich" geworden. Im Namen Gottes, der ein „Nicht-Ich" darstellt und kein Subjektives mehr, haben Politik und Religion ihren Herrschaftspakt geschlossen.

3. Wege einer ästhetischen und spekulativen Vereinigungsphilosophie Viele Gedanken Hegels, die mit einem pragmatischen Unterton begonnen haben, liegen, wenn wir nun vom Ende zurückblicken, theoretisierter, systematisierter vor — in ihnen lassen sich die Konturen eines beginnenden philosophischen Konzepts auffinden. Ihr praktischer Anspruch ist nun weit akzentuierter durch die Abkunft einer in sich gegangenen theoretischen Reflexion gekennzeichnet, er geht nicht mehr derart unmittelbar auf das erste vorliegende Bedürfnis. Das vorwiegend praktische, die Not der Zeit repräsentierende Interesse einer Philosophie hat sich verfeinert, ohne dadurch schon seine Schärfe zu verlieren. Ein Funktionswandel der Philosophie

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macht sich leise bemerkbar: zur Kritik gesellt sich die Darstellung der Sache der Kritik. Die eigene Philosophie treibt in die Selbstreflexion. Einen ähnlichen Vorgang können wir bei den Vereinigungsversuchen Hegels festhalten. Entwickelt werden sie, wie dargelegt, prioritär im Problembereich einer Anwendung der Kantischen Postulate der „praktischen Vernunft". Am Ende der Berner Zeit Hegels stoßen wir nun zusätzlich auf seine Konfrontation mit ästhetischen und spekulativen Vereinigungsphilosophemen, eine Konfrontation, die nun auch an einen mehr theorieimmanenten Reflexionsrahmen gebunden ist. Den Anstoß zu dieser Neuorientierung gibt die spekulative Ich-Philosophie. Etwas äußerlich erscheint dabei Hegels Rezeption dieser neuen Problematik, da er bewußt einen Abwehrreflex gegen das allzu Spekulative allen Philosophierens entwickelt hat: Seinem praktischen Bedürfnis nach Philosophie kommt ein auf dünnen Prinzipien beruhender, in „esoterischer" Höhe schwebender Gedankenbau kaum entgegen. Dem Gang der spekulativen Überwindung des Kantischen Systems begegnet er mit Skepsis. Unverkennbar ist nun andererseits, daß er am Ende der Berner Zeit innerhalb der Staats- und Geschichtsauffassung metaphysische Begriffe („Ewiges", „Absolutes") in eigenständiger Konfiguration einzuarbeiten beginnt. Was gemeinhin als Spezifikum der Frankfurter Zeit gesehen wird, sein Übergang zu einem (natur-) spekulativen Vereinigungsdenken, der mit ein Ausdruck seiner Rückkehr zu Hölderlin sei, hat eine Vorgeschichte, die ihre originären Züge beibehalten wird. Wie Jamme in seiner Studie zur Frankfurter Zeit Hegels und Hölderlins aufgewiesen haÜ^, wird ihre gemeinsame Vereinigungsphilosophie ferner von Hegel in der Berner Zeit auch über einen pantheistisch-ästhetischen Kontext wesentlich vorbereitet.

a) Spuren einer ästhetischen Natur Einhellig läßt sich konstatieren, daß Hegel gegen Ende seiner Berner Zeit eine stärkere Sensibilität für Natur und Naturbetrachtung entwickelt, die, wie im Zusammenhang von Eleusis dargelegt, mit einer Sequenz seines gelebten Denkens zu tun hat. Diese Tendenz zeigt

^ Vgl. Christoph Jamme: Ein ungelehrtes Buch. 71 ff.

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sich auch im Rahmen seines kritischen Moralitätskonzepts. Ein ästhetischer Blick tritt merklich zum bisherigen Denken hinzu und beginnt dieses zu modifizieren; Bruchstücke ästhetischer Natur werden in die soziale Moralität eingewoben. In diesem Punkt ist Hegels Anlehnung an Kants Kritik der Urteilskraft wichtig; wohl noch bedeutender ist aber der Einfluß, den Schillers daran anknüpfende ästhetische Schriften auf ihn ausüben. Bereits in den Kallias-Briefen von 1793 äußert Schiller seine Absicht, Ereiheit und Natur, Vernunft und Sinnlichkeit mittels des Naturschönen und Kunstschönen zu verbinden. Er setzt hierin eine Programmatik fort, die Kant in der Kritik der Urteilskraft dargelegt hat; mit der Akzentuierung des Ästhetischen unter Kantischer Anleitung ist jedoch zugleich bald das Ärgernis Kant — der nicht überwundene Dualismus — mit im Spiel.Schillers Ringen mit der Vereinigungsfrage kreist um das Diktum: „Schönheit ist nichts anderes als Ereiheit in der Erscheinung."^^ Angesprochen ist damit der radikale Imperativ, Freiheit nicht jenseits der Natur, sondern als bestimmte Form in ihr zu begreifen. Die Koinzidenz von Freiheit und Natur glaubt Schiller im Medium der Ähnlichkeit oder des Analogischen aufweisen zu können.^® Freiheit oder Vernunft sind mit der Natur lediglich der Form nach, nicht rein logisch oder nach Stoffgesichtspunkten, zur Deckung zu bringen; nur die bestimmte Form eröffnet den Zugang zu einer gegenseitigen mimetischen Angleichung. Doch gelingen solche Vereinigungsversuche nur schwer ohne den Makel einer restituierten ausschließenden Tätigkeit. Die Versöhnungsreflexion ist Wie gezeigt, beeinflussen Schillers ästhetische Reflexionen Hegel nicht nur in seinen Naturbetrachtungen, sondern auch im Falle der sozialen und kulturellen Ausgestaltung des Moralitätskonzepts. Durch Schiller wird Hegels Vorstellung des moralischen Ganzen der Idee des Schönen angenähert. Vgl. dazu Annemarie Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. 43 ff, 90. ^ Vgl. Schillers Briefwechsel mit Körner. Bd 2. 41: „Was Ehr über das Beleidigende der Vorstellung von Pflicht äußerst, ist mir aus der Seele geschrieben. Immer hat mich dieser Punkt in dem Kantschen System geärgert." In Anmut und Würde (Werke. Bd 20. 284 f) entschuldigt Schiller die Härte der Kantischen Moralität, die leicht zu einer „mönchischen Ascetik" verleite, durch die Zeitumstände. Kant wird zum „Drako seiner Zeit, weil sie ihm eines Solons noch nicht werth imd empfänglich" zu sein scheint. ® Schillers Briefwechsel mit Körner. Bd 2. 14. ^0 Vgl. ebd. — Das Prinzip der „Analogie" verwendet bereits Kant in der Kritik der Urteilskraß, um die Beziehung der „teleologischen Beurteilung" zur Natur genauer besHmmen zu können. Eine Teleologie der Natur kann ihm zufolge Natur nicht „erklären", sondern sie lediglich in „Analogie mit der Kausalität" im Rahmen einer Naturforschung nach Zwecken problematisieren. Vgl. AA 5. 360 f.

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immer auch gezwungen, sich reflexiv über ihr eigenes Ausschlußverfahren zu reformulieren. Schiller vollführt dies im weiteren über das Gegensatzpaar „Form" und „Stoff". Gesucht wird nach der Vereinigung, in der die „Form" dem „Stoff" keine Gewalt antut, in der die „Form" lediglich auf das bereits Formhafte des Stoffs ausgeht und dieses mimetisch herausmodelliert. In diesem Gedanken, der in Anmut und Würde (1793) und besonders in Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) noch verdichtet wird, ist stets auch das Bedürfnis augenfällig, das Verbindende, Dritte der ästhetischen Dimension angemessen terminologisch auszudrücken. In Anmut und Würde verschärft Schiller die ganze Problematik insofern, als das Bewußtsein des ungelösten Dualismus hier klarer aufscheint; er bemerkt vorerst ganz Kantisch, auch die Schönheit sei eigentlich als „Bürgerin zweier Welten" zu verstehen.Erneut wäre die Vereinigung deshalb inniger zu entwerfen und im Ausdruck deutlicher zu fassen. Mit der emphatischen Betonung eines sogenannten „freyen Natureffekts" stößt Schiller auf das neue Dritte, das umfassende Prinzip. Die Schönheit kann nur begriffen werden als „Spiel". Den auftretenden Dualismus thematisiert Schiller auch am Verhältnis von Moralität und Ästhetik überhaupt. Hier ist er vielleicht noch gravierender zum neuralgischen Punkt geworden. Schiller erkennt den möglichen Widerspruch zwischen dem Schönen und Guten und stellt sich anschließend die Frage, was denn nun höher zu bewerten sei.^3 ßei (jer Beantwortung bleibt er im Unklaren: Rhetorisch stuft er deutlich das Ästhetische höher ein, faktisch dominiert aber das Strukturprinzip der Moralität. Den moralischen Dressurcharakter kann sich Schiller auch im Ästhetischen kaum vom Leibe halten. Im Ideal der „schönen Seele" beispielsweise wird alle Freiheit durch das „strenge Gemüt" so weit diszipliniert, daß auch eine nachträgliche „Änarchie der Sinnlichkeit" eher kompensatorisch wirkt. Über die Suche nach dem dritten, umfassenderen Prinzip wie auch über die Frage nach dem Verhältnis von Gutem und Schönem gibt die ästhetisch-politische Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen weiter Äuskunft. Im 14. und 15. Brief ist ausführlich vom Vgl. Schiller Werke. Bd 20. 260 f. 72 Vgl. ebd. 258, 264, 279. 73 Vgl. ebd. 277 f. 74 Vgl. ebd. 279.

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„Spieltrieb" als der ästhetischen Mitte die Rede. Im freien Spiel sollen Form und Stoff chiasfisch sich versöhnen; beide Pole treffen und vereinigen sich im zwanglosen Zwang der Phantasie und Einbildungskraft. Dem liegt immer auch eine Harmonievorstellung zugrunde, die auf ein Ganzes, eine Komposition der Teile hinauswill, dabei sowohl eine anthropologische wie auch gesellschaftstheoretische Bedeutung erhalten soll. Mensch und Staat sind in die Ganzheitsharmonie eingebunden. Am Ende des 2. Briefes reformuliert Schiller auch das Verhältnis von Freiheit oder Moralität und Ästhetik. Freiheit, so meint er, büße, wenn sie nicht mehr bloß in der reinen Moralität, sondern nun auch in der (verunreinigten) Sinnlichkeit gesucht werde, einen Teil ihrer radikalen Selbsttätigkeit ein, durch den Bezug zur Natur und zum Anderen gewinne sie aber an Realität. Vorerst scheint Schiller, indem er die Kunst „eine Tochter der Freiheit" nennt, der Ästhetik den Primat noch absprechen zu wollen, doch sieht er es alsbald als Grundsatz gerechtfertigt, „die Schönheit der Freiheit vorangehen" zu lassen. Am Ende ist es die Schönheit, „durch welche man zur Freiheit wandert". In vielem bleibt offen, wie Schiller sein Versöhnungswerk vollenden möchte. Einige seiner Reflexionen zeigen eine mögliche Auflösung des Dualismus über spekulative Einheitsprinzipien. Besonders gilt dies für den 19. Brief, wo er sich den „Zustand des menschlichen Geistes vor aller Bestimmung", den Zustand der „leeren Unendlichkeit", vergegenwärtigt. Schiller erwägt hier eine Art spekulativer Selbstschöpfung des Ich. Auf der anderen Seite — und dies ist wohl die durchgängigere Tendenz — bleibt er bei der anthropologisch und sozialtheoretisch fundierten Triade der Triebe (Stoff, Eorm, Spiel) stehen. Ob dieser Versuch als gelungen zu bezeichnen ist, wäre — wie schon an Hegels Berner Ansatz problematisiert — vorerst schon nur eine Frage der beurteilenden Optik. Eine als normbildend verstandene systematisierte Vereinigungsphilosophie (klassisch Schelling und Hegel) spricht ein anderes Urteil als das an der Zeit orientierte Bedürfnis nach vereinigender, d. h. praktischer Einlösung des postulierten Ideals. Schiller wäre wohl letztlich an diesem Bedürfnis zu messen, da in seiner Ästhetik ein Eingreifen ins Politische selbstverständlich ist. Schiller hat die Briefe ja auch als „politisches Glaubensbekenntnis" verstanden. Vgl. Dieter Borchmeyer: Aufklärung und praktische Kultur. Schillers Idee der ästheti-

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Zweifelsohne hat dieser Denkweg Schillers auf Hegel eingewirkt und offenbar auch wesentliche Anregungen zum Ältesten Systemprogramm gegebenZ^ Bezeichnend hierfür ist der skizzierte Entwicklungsgang, der vom moralisch gedachten („Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt. . .") „absolut freien Wesen" seinen Ausgang nimmt, über die Stationen der Physik, des Menschenwerks, der Welt des Staates und der Religion fortgeht und in der „Idee der Schönheit" kulminiert. Die „Idee der Schönheit" erscheint nicht nur als Endpunkt der Skizze, sie erweckt vielmehr den Eindruck eines neu gewonnenen Standpunkts der Freiheit, von dem aus künftige Betrachtungen vorzunehmen sind. Die „ästhetische Philosophie", in der gar die „Poesie" die „Lehrerin der Menschheit" ist, erfährt eine systematische Aufwertung. „Wahrheit" und „Güte" sind nun erst in der „Schönheit verschwistert". In der Zeit vor dem Ältesten Systemprogramm hinterläßt Schiller vor allem in Hegels Naturbeschreibungen im Bericht über eine Alpenwanderung (GW 1. 381—398 = Dok 221—244) deutliche Spuren. Hegel zeigt sich darin in erster Linie als nüchterner Naturbetrachter, der gleichsam nach dem „freien Natureffekt" Ausschau hält. Ähnlich wie Kant in der Kritik der Urteilskraft und Schiller wird äußere Natur in Hinsicht auf ihr Vermögen, eine Analogie der freien Vernunft zu sein, beur-

schen Erziehung. In: H. Brackert/F. Wefelmeyer (Hrsg): Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur. Frankfurt a. M. 1984. 127 f. Zum indirekten Einfluß Schillers auf das Älteste Systemprogramm siehe die Untersuchungen von Friedrich Strack: Systemprogramm und kein Ende. In: R. Bubner (Hrsg): Das älteste Systemprogramm. 124 ff; Annemarie Gethmann-Siefert: Die geschichtliche

Funktion der „Mythologie der Vernunft" und die Bestimmung des Kunstwerks in der Ästhetik. In: MdV 228 ff. Festzuhalten gilt es dabei, daß Hegels Anlehnung an Schiller im Systemprogramm als weit stärker gesehen werden muß als in unserem vorliegenden

Zeitabschnitt. Ein Versuch, die Ästhetik über die Moralität zu stellen, ist hier jedenfalls noch nicht zu sehen. Zudem sind natürlich auch andere Anregungen für Hegels stärker werdende ästhetische Position im Systemprogramm bedeutsam. Zu den relevanten Hintergründen dieses umstrittenen Schriftstückes sowie zur Frage nach dessen eigentlichem Verfasser siehe Rüdiger Bubner (Hrsg): Das älteste Systemprogramm; die Dokumentationsbeiträge in MdV; Friedhelm Nicolin: Aus der Überlieferungs- und Diskussionsgeschichte des ältesten Systemprogramms. In: Hegel-Studien, 12 (1977), 29—42; Bernhard Dinkel: Neuere Diskussionen um das sogenannte „Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus". In: Philosophisches Jahrbuch. 94 (1987), 342—361; Christoph famme: Ideen und Mythos. Replik zu B. Ehnkel: Neuere Diskussionen um das sog. „Älteste Systemprog-

ramm des deutschen Idealismus". In: Philosophisches Jahrbuch. 95 (1988), 371—375; Frank-Peter Hansen: „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus". Rezeptionsgeschichte und Interpretation. Berlin, New York 1989.

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teilt.Wo die Natur der Felsengebirge in den Blick des Betrachters fällt, erregt sie lediglich den öden Anblick der „ewig todten Massen" (GW 1. 392 = Dok 236). Die Vernunft findet in ihr nichts ihr Analoges, nichts, das sie anregen könnte. Wird sie selbst daran gemessen, so fällt in sie nichts anderes als ein gleichgültiges Sein, ein So-Sein, das keine Freiheit kennt, mithin nur den „Begriff vom Müssen der Natur" nahelegt (GW 1. 390 = Dok 234). Anders verhält es sich bei der bewegten Natur der Gewässer. Die freie Vernunft stößt auf eine sinnliche Form, die eine gewisse Entsprechung mit ihr hat. Hegel nähert sich, diese Übereinstimmung in die Sprache übersetzend, geradezu der Schillerschen Ideal-Begrifflichkeit an; „Desto mehr hat das anmuthige, zwanglose, freie Niederspielen dieses Wasserstaubs etwas Liebliches. Indem man nicht eine Macht, eine grosse Kraft erblickt, so bleibt der Gedanke an den Zwang, an das Muß der Natur entfernt und das Lebendige, immer sich Auflösende, Auseinanderspringende, nicht in Eine Masse Vereinigte, ewig sich Fortregende und Thätige bringt vielmehr das Bild eines freien Spiels hervor." (GW 1. 383 = Dok 224) Die Betrachtung des Wasserfalls regt geradezu zur gedanklichen Reflexion der bewegten Totalität des Bildes an. Hegel beschreibt die Wellen des Falles als kontinuierliches Büd, das sich „alle Augenblicke" auflöst und in jedem Moment von einem neuen verdrängt wird. Der Betrachter sieht dadurch „ewig das gleiche Bild, und sieht zugleich, daß es nie dasselbe ist" (GW 1. 388 = Dok 231). Diese ästhetischen Apercus sind, da Hegel sie durch das Problem des Betrachters in die Selbstreflexion treibt, auch für seine philosophische Methode aufschlußreich. Sie repräsentieren seine Bemühungen, ein angemessenes Verhältnis von Bewußtseinsart, Gegenstand und Ausdrucksform zu finden.Ob sie insgesamt in Hegels Entwicklung einen Übergang zum angesprochenen Primat des Ästhetischen dokumentieren, ist zu bezweifeln. Seine gleichzeitigen Denkversuche über den moralischen Staat scheinen hierfür insgesamt zu dominant zu sein. Hinzu kommt ein Indiz, das vielleicht eine etwas externe Sicht betreffen mag: Mit einem bestimmten Aspekt des Ästhetischen, dem Naturschönen, tut sich Hegel sichtlich

Siehe dazu besonders die Ausführungen zum „Dynamisch-Erhabenen" der Naturmacht im § 28 der Kritik der Urteilskraß. ^8 Siehe die in diesem Punkt sehr treffende Interpretation von Hermann Glöckner: Hegel. Bd 1: Schwierigkeiten und Voraussetzungen der Hegelschen Philosophie. 4. verb. Aufl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964. 371 ff.

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schwer. Jedenfalls findet seine Vorstellung einer freien Vernunft prinzipiell einen weit adäquateren Gegenstand im Sozialen. Aufmerksamkeit zeigt sie denn auch besonders dort, wo von der Sprache, den Lebens- und Produktionsformen oder der politischen Verfassung der Berner Landbevölkerung die Rede ist (vgl. GW 1. 389 = Dok 232 f). Freilich kann Flegel der Natur, verglichen mit Schiller, auch weniger ästhetischen Sinn abgewinnen. Hegels Naturbetrachtung wirkt, auch wenn sie ins Dynamische, Überschwengliche gleitet, sehr prosaisch. Dieser Eindruck bestätigt sich bei seiner Überlegung, welches Medium der Naturvermittlung am besten entspreche. Dem gemalten Bild der Natur zieht er die „Selbstansicht" vor, am Ende aber auch die „Beschreibung" (GW 1. 388 = Dok 231). Der ästhetischen Naturerfahrung sind allein damit Grenzen gesetzt.

b) ünsichere Spekulationen Unter Schillers Einfluß dürfte Hegels Verhältnis zur neueren IchSpekulation nur marginal auf die Probe gestellt worden sein. Schillers Explikation des ästhetischen Standpunktes am anthropologischen und sozialtheoretischen Gegenstand kommt Hegels praktischer Philosophie sicherlich sehr entgegen. Anders verhält es sich freilich mit Hegels unmittelbarer Auseinandersetzung mit der neueren Spekulation, den Entwürfen von Reinhold, Eichte, Hölderlin und Schelling. Hier gelingt Hegel eine integrierende Aufnahme nicht mehr so leicht. Nochmals sei an dieser Stelle an die Wegmarken der Auseinandersetzung erinnert; Über die Ich-Spekulation Eichtes ist Hegel wohl bereits Mitte 1794 informiert (vgl. 1. Teü, C. 3.). Eine sichtbare Beschäftigung mit ihr erfolgt ab 1795. Im Sommer dieses Jahres nimmt er sich das Studium von Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre vor (vgl. B I. 25), von Hölderlin und Schelling erfährt er im Frühjahr über deren Entwürfe zu einer Verbindung von „absolutem Ich" und Spinozistischer „Substanz" (vgl. B I. 19 f, 15, 22). Zudem Natürlich hat die Tatsache, daß Hegel in der Ästhetisierung der Berglandschaft relativ nüchtern bleibt, auch etwas mit seinem Verhältnis zum bernischen Geistesleben zu tun. Ganz so unrecht hat Gustav Emil Müller {Hegel. Denkgeschichte eines Lebendigen. Bern 1959. 83) nicht, wenn er meint, Hegels Bericht über eine Alpenwanderung sei sozusagen ein Gegenstück zu Albrecht von Hallers überschwenglicher Alpenverehrung.

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erhält er von Schelling dessen Schriften von 1794 und 95 zugesandt (vgl. B I. 23 Anm. 5; 29 ff). Um die Gegensätze, die sich für Hegel mit dieser Rezeption ergeben, zu verstehen, muß man von seinem faktischen philosophischen Selbstverständnis dieser Zeit ausgehen. Es genügt meines Erachtens nicht, sich auf seine Äußerungen im Briefwechsel zu verlassen. Die Zustimmung zum Gang der Spekulation, die er darin spontan äußert, betreffen eher den Enthusiasmus für die Sache denn die inhaltliche Gedankenarbeit an ihr. Die Differenzen werden gar nicht erst zum Problem. Zudem entschärft Hegel eine inhaltliche Kontroverse insoweit, als er seine mangelhafte Betätigung in diesem Bereich („Ich bin hier nur ein Lehrling"; B I. 32) kundgibt. Vieles, was Hegel rezipiert, übersetzt er offenbar auf seine eigenen Entwürfe. So bezieht er die Terminologie des „Ich" und „Nicht-Ich" auf sein Entfremdungskonzept, das „Ich" erhält ganz den Sinn seines metaphysisch anklingenden moralischen Staatsganzen, das „Nicht-Ich" stark die Konturen des „Positiven" (z. B. GW 1. 375 = N 228; B I. 29) Dem „Ich" wird die spekulative Spitze gerade gebrochen. Allein bei einem oberflächlichen Vergleich des Denkzugriffs hin zum spekulativen „Ich" ist diese kaschierte Differenz augenfällig. Während Hegel aus der Anwendung Kantischer Postulate der „praktischen Vernunft" allmählich ein strukturiertes moralisches Ganzes gewinnt — mehr im Sinne eines länger vorbereiteten Denkergebnisses auf ein inhaltliches „Ich" stößt —, springen die „Eichteaner" im Stile einer klassischen metaphysischen Letztbegründung gleichsam ins „absolute Ich" hinein. Mit gedanklichen Riesenschritten lösen sie die entzweiende Kantische Bedingungsstruktur auf, das reflexive Verhältnis von „transzendentalem Subjekt" und Objekt wird zugunsten des „absoluten Ich", eines bedingenden Unbedingten, aufgehoben. Das sich selbst setzende „Ich", die Fichtesche „Thathandlung", erhält den Sinn eines selbstbezüglichen „Seyns"®^, das Hölderlin und Schelling nuancierter als Fichte im Sinne der „intellektuellen An-

„Denkt man sich die Erzählung von dieser Thathandlung an die Spitze einer Wissenschaftslehre, so müßte sie etwa folgendermaßen ausgedrückt werden: Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Seyn." (Fichte: Werke. Bd 1. 98) Zum Verständnis dieses Fichteschen Seins-Konzepts siehe besonders Dieter Henrich: Fichtes Ich. In: ders: Selbstverhältnisse. Stuttgart 1982. 57—82.

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schauung", bald gegen Fichtes „Reflexion" als neue Spinozistische „Substanz" deuten^^. Bei aller bewußten und unbewußten Konfliktentschärfung Ffegels kündigt sich diese Differenz nun auch über eine leise Kritik an. Das spekulative „Ich" muß neben dem Esoterik-Vorwurf offenbar auch die Rüge mangelnder Vermittlung mit dem politisch-religiösen Gegenstand in Kauf nehmen. Indem es alle empirische Realität überfliegt, neigt es dazu, seine tatsächliche Macht idealistisch zu überschätzen. Auf die reale Situation politisch-religiöser Zustände verweisend, meint deshalb Hegel folgerichtig auch zu Schelling, „daß die Leute schlechterdings ihr Nicht-Ich nicht werden aufgeben wollen" (B I. 29). Und offensichtlich ein ähnlicher Einwand Hegels führt zu einer Selbstkritik Schellings: „Mein Hauptfehler war, daß ich die Menschen nicht kannte, daß ich zu viel von ihrem guten Willen — vielleicht zu viel von ihrer Divinationsgabe erwartet habe." (Ebd. 28). Aber eigentlich gravierender müßte die Differenz an dem Punkt werden, wo er von Hölderlin und Schelling die Verknüpfung des „Ich" mit dem Spinozistischen Pantheismus vor Augen geführt bekommt. Im Stile eines credo teilt ihm Schelling mit: „Ich bin indessen Spinozist geworden! — Staune nicht." (Ebd. 22) Zweifellos dürfte dies bei Hegel etliches Staunen ausgelöst haben. Nicht daß ihm diese vereinigungsphilosophische Strömung unbekannt gewesen wäre. Doch gerade die Argumente, die Kant und Eichte gegen den Dogmatismus der alten Metaphysik vorgebracht haben, lassen ihn diese Philosophie mit einigen Vorbehalten aufnehmen. Eür Kant und Pichte ist der Spinozismus ja eine Art einer dogmatischen SubstanzMetaphysik, ein Dogmatismus, der den Gedanken an ein freies, selbsttätiges Moralsubjekt nicht zuläßt.*2 Vor diesem Hintergrund kommt es nicht von ungefähr, daß sein vorsichtiger Einwand zu Schellings Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen die Präge der „Substanz" betrifft (vgl. Schellings sämtliche Werke. Bd 1. 181, 192 ff. — Zur näheren Darstellung und Problematisierung dieses Ansatzes bei Schelling siehe Harald Holz: Die Struktur der Dialektik in den Frühschriften von Fichte und Schelling. In: M. Frank/G. Kurz (Hrsg): Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen. Frankfurt a. M. 1975; Wolfgang Wieland: Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur. In: ebd. *2 Diese Kritik ergäbe sich auch dann, wenn Hegel dem spekulativen Gang Fichtes folgen würde. Denn das System Spinozas gilt darin explizit als dogmatisch bzw. repräsentativ für das höchste „Nicht-Ich". Vgl. Fichte: Werke. Bd 1. 121 f.

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ebd. 32). Hegel argumentiert im Sinne Kants gegen eine Ontologisierung der Substanz-Kategorie, ein Vorgehen, das er Schelling indirekt zu unterstellen scheint: „§ 12 Deiner Schrift legst Du dem Ich das Attribut als einziger Substanz bei; wenn Substanz und Akzidenz Wechselbegriffe sind, so scheint mir, wäre der Begriff von Substanz nicht auf das absolute Ich anzuwenden; wohl auf das empirische Ich, wie es im Selbstbewußtsein vorkommt..." Die Spinozistisch verstandene „Substanz" ist lediglich als eine vom „absoluten Ich" abgeleitete Kategorie zu nehmen, sie ist mit dem neuen absoluten Freiheitsbewußtsein nicht identisch. Die gegen den Dogmatismus gerichtete Argumentation erscheint noch dichter, wenn man Hegels Probleme mit dem Verhältnis von „Ethikotheologie" und „Physikotheologie" bedenkt, die er im Zusammenhang mit seiner Kritik an Fichtes Offenbarungskonzept äußert. In Anlehnung an Kants Kritik der Urteilskraft geht Hegel davon aus, daß lediglich ein moralischer Glaube eine adäquate Idee von Gott begründen kann (vgl. GW 1. 195 = N 361; B I. 17). Ob eine solche Idee, die der „Ethikotheologie" korrespondiert, nun auch auf nicht-moralische Gegenstände, z. B. sinnliche oder verstandesmäßige, übertragen werden darf, mithin auf eine „Physikotheologie", ist für ihn sehr zweifelhaft, schreibt er doch Schelling, er beabsichtige näher zu bestimmen „wieweit wir — nach Befestigung des moralischen Glaubens die legitimierte Idee von Gott jetzt rückwärts brauchen, z. B. in Erklärung der Zweckbeziehung usw., sie von der Ethikotheologie her jetzt zur Physikotheologie mitnehmen und da jetzt mit ihr walten dürften." (B I, 17) Mit derselben Frage ringt Hegel sichtlich im Bericht über eine Alpenwanderung. Hier lehnt er die „Physikotheologie" gar deutlich ab, allerdings handelt es sich hier um eine naive Form derselben. Hegel versucht sie aus bestimmten natürlichen und gesellschaftlichen Umständen heraus zu explizieren. So meint er, in der öden Natur der Bergwelt hätte die Idee der „Physikotheologie" kaum entstehen können. Denn hier müsse ja der Natur ® Vgl. Klaus Düsing: Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels. In: R. Bubner (Hrsg): Das älteste Systemprogramm. 79 f. — Düsing weist nach, daß Hegel sich mit dem Einwand z. B. auf die Fichtesche Kategorienlehre berufen kann und daß hinter ihm als Kernproblem Hegels Kritik des Gottesbegriffes der alten Metaphysik steckt. Dementgegen interpretiert Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik, 426 f, Anm. 54, Hegels Einwand zu unrecht als Beleg für dessen noch ungeklärte Vereinigungsphilosophie bzw. als reines Hegelsches Verlegenheitsprodukt.

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alles mühselig abgerungen werden, sie stelle sich nicht nach dem Zweck der Brauchbarkeit für den Menschen hin (vgl. GW 1. 391 = Dok 234 f). Die „Physikotheologie" wird demnach ziemlich direkt in Verbindung gebracht mit der städtisch-zivilisierten, technisch entwickelten Lebensform, die auf ein „fremdes Wesen", das dem Menschen alles bereitstellt, vertraut. Freilich ist mit dieser Sicht nicht das letzte Wort gesprochen. Wird das Problem in seinen systematischen Implikationen, die es für Hegel hat, gesehen, so erscheint es differenzierter und offener. Hegels genauere Fragestellung ist ja auch, „wieweit" eine Übertragung der „Ethikotheologie" stattfinden darf. Sie verrät seine vorangegangene Beschäftigung mit Kant. Kant beurteilt die „Physikotheologie", worunter er auch den Spinozismus subsumiert, als eine „mißverstandene physische Teleologie" (vgl. AA 5. 442). Sie gründet auf einem Gegenstand (physische Natur), der selbst nicht zu einer Begründung des Begriffs der Gottheit führen, in dem lediglich ein Telos unter regulativem Vorzeichen nachträglich gesucht werden kann. Letztlich ist sie, von der Moralität aus rückwärts betrachtet, nur eine „physische Teleologie", die eo ipso bestenfalls als „Vorbereitung" oder „Propädeutik" der Theologie dient. Die eigentliche Begründung der Theologie liefert die Moralität des Menschen, ohne den, wie Kant meint, „die ganze Schöpfung eine bloße Wüste" wäre (ebd.). Kant beraubt — kurz gesagt — die „Physikotheologie" ihres Begründungszusammenhangs, gesteht ihr dann aber doch in ihrem eingegrenzten Bereich einen Wirkungszusammenhang zu. Hegel scheint dieser Distinktion mehr oder weniger zu folgen, doch wird sich ihm das Problem, die „Physikotheologie" rückwärts zu akzeptieren, radikaler und tiefer stellen. Das „Walten" der „Ethikotheologie" in der „Physikotheologie" könnte den bloßen Rückfall in diese bedeuten wie auch eine progressive Veränderung der „Physikotheologie" im Hinblick auf eine Aufwertung der Natur. Ohne die Natur wäre für die Menschen die Schöpfung ja ebenfalls eine „bloße Wüste". Verständlich wird dies lediglich aus dem alten Dilemma, an dem Hegel zu zehren hat. Die Versinnlichung der Moralität ist ein nachhaltiges Desiderat seines Philosophierens, doch darf sie nicht um den Preis eines restaurierten Dogmatismus konzipiert werden. Die Natur oder Sinnlichkeit, die hierfür in Betracht kommt, ist vorerst aus ihrem alten System zu befreien. Bei aller Versinnlichungstendenz, die Anleihen bei alten metaphysischen Systemen macht, behält Hegel stets dieses kritische, verändernde Moment bei. Auch gegenüber der Naturspe-

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kulation ist diese Skepsis weiterhin angebracht. Wie eine auffordernde Antwort, seine verbleibende Skepsis abzulegen, kann schließlich eine kritische Äußerung Schellings gegenüber dem kantianisierenden „Kritizismus" verstanden werden. In den Briefen über Dogmatismus und Kritizismus von 1795 läßt Schelling, indem er rückwärts ins Paradies schreitet, seinen fiktiven Gegner wissen: „Ich verstehe dich. Aber laß uns den Fall setzen, daß einmal ein Klügerer über dich käme, der dir sagte: was einmal gilt, gilt rückwärts so gut, als vorwärts. Glaube also immerhin an eine absolute Causalität außer dir, aber erlaube mir auch rückwärts zu schließen, daß es für eine absolute Causalität kein Moralgesetz gebe, daß die Gottheit nicht die Schuld deiner Vernunftschwäche tragen, und, weil du nur durch das Moralgesetz zu ihr gelangen konntest, deswegen selbst auch nur mit diesem Maße gemessen, nur unter diesen Schranken gedacht werden könne. Kurz, solange der Gang deiner Philosophie progressiv ist, räume ich dir alles gern ein; aber, lieber Freund, wundere dich nicht, wenn ich den Weg, den ich mit dir durchgemacht habe, wieder zurückgehe, und rückwärts alles zerstöre, was du so eben mühsam aufgebaut hast. Du kannst dein Fleil nur in einer immerwährenden Flucht suchen: hüte dich, irgendwo stille zu stehen, denn wo du stille stehst, ergreife ich dich, und nöthige dich umzukehren mit mir — aber vor jedem unserer Schritte würde Zerstörung hergehen, vor uns Paradies, hinter uns Wüste und Einöde. Dieser psychologisierende Einwand Schellings gegen den „Kritizismus" trifft, sofern man ihn auf Hegel beziehen will, gerade nur den halben Sachverhalt. Wo nämlich Schelling kleinmütige „Vernunftschwäche" und „immerwährende Flucht" vor dem Weg rückwärts diagnostiziert, ist eben immer auch ein Rest kluger Vorsicht vor einem illusionären Regreß enthalten. Hegel steht gewissermaßen zwischen dem starren Kantischen Blick vorwärts und dem Schellingschen Versprechen eines paradiesischen Rückwärts. Sein „Kritizismus" beschränkt sich auf das kritische Moment, das den Rückweg gegen die Versöhnungsillusion absichert. Hegels Auseinandersetzung mit der spekulativen Philosophie präsentiert insgesamt ein recht zwiespältiges Bild: Der Spekulation, auf die er sich einzulassen beginnt, begegnet er zugleich mit einiger Zurückhaltung. Dem freiheitlichen Ich, das an dem bestimmten historisch-sozialen Gegen-

^ Schellings Sämtliche Werke. Bd 1. 289.

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stand haftet, bleibt der abstrakt-universalistische Charakter fremd. Falls Hegel seinem Denken so etwas wie ein Spekulatives abpreßt, ist es eben jenes utopisch-metaphysisch modifizierte moralische Ganze, keinesfalls ein allumfassendes Prinzip philosophischer Letztbegründung. Der Einwand gegen die Spekulation gründet neben den philosophisch-systematischen Erwägungen hauptsächlich auf einem praktischen Motiv; Da sie auf die alte Metaphysik zurückgreift, besteht die Gefahr eines reproduzierten Dogmatismus. Hegel kann dies mit seiner radikalen Kritik am orthodoxen politisch-kirchlichen System gerade nicht vereinbaren. Hegels Aversion gegen das spekulative Denken führt in dieser Konstellation nicht dazu, daß nun nach wie vor einem einseitigen Subjektivismus, letztlich wiederum einem Kantischen Dualismus der Moralität, das Wort geredet wird. Wenn Hegel mit Kant einen grundsätzlichen anti-metaphysischen Impetus teilt, Kant sich vor allem in kritischer Funktion zu eigen macht, so muß er dessen philosophisch-systematische Voraussetzungen nicht durchgängig übernehmen. Tritt bei Hegel die Kritik zugunsten der Darstellung zurück, so ist die Differenz zum Kantischen Konzept unübersehbar. Aber Hegel bricht mit einem einseitigen Subjektivismus nicht, indem er eine Objektivierung des Subjekts qua Rückführung in ein spekulatives Ganzes anstrebt. Sein Anspruch ist hier bescheidener, freilich nicht durch eine weniger reflexive Durchdringung polarer Begriffe gekennzeichnet. Das Hegelsche Subjekt oder „Ich" ist eben a priori stärker dem Gesellschaftlichen verhaftet als das spekulative und erreicht seine sukzessive Objektivierung über Staat und Gesellschaft.

Fassen wir abschließend Hegels Denkentwicklung hinsichtlich der Fragen des Kantianismus, der allgemeinen philosophischen Ausrichtung sowie der Entstehung der Vereinigungsphilosophie bzw. der dialektischen Denkweise zusammen. Hegels Kantianismus zeigt sich generell als Anwendung der Kantischen „praktischen Vernunft" bzw. Moralität auf die menschliche Natur, auf Geschichte und Staat zum Zwecke einer praktischen Philosophie der politisch-religiösen Befreiung. Dabei kann nicht von einer Anlehnung Hegels an Kant im Sinne eines Aufgehens in dessen Theorie, auch nicht von einer Rezeption der Kantischen Theorie en bloc ausgegangen werden. Hegel übernimmt verschiedene Grundgedanken Kants, deren Einheitlichkeit er nicht unbedingt vor-

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aussetzt. In Entsprechung dazu verlaufen seine Krise und sein Bruch mit dem Kantianismus; Erst nachdem die von ihm rezipierte Kantische Theorie an verschiedenen Stellen mit seinen eigenen Vorstellungen konfligiert, beginnt Hegel sich — und vorerst nur partiell — von ihr abzuwenden. Wo er mit ihr bricht, erfolgt kein Abbruch des Gedankens, ergibt sich keine Leerstelle eigenständiger Reflexion, sondern eine Freilegung der vorbereiteten Position. Hegels Kantianismus ist von Anbeginn mit einem Ideal des harmonischen griechischen Volkslebens und mit pietistischer Geisteshaltung amalgamiert. Unter Kantischem Buchstaben ergibt sich deshalb oft ein gegen Kant gerichteter Sinn. Der Entwurf einer dynamischen, ins Soziale versenkten „subjektiven Religion", den Hegel unter Kantischer Anleitung vertritt, zielt implizit gegen das „objektive Gesetz" und gegen die privatistische Struktur der moralischen Subjektivität Kants. In den Berner Fragmenten bis 1794 sehen wir Hegels zunehmende Akzentuierung einer reinen Moralität, die den empirischen Wirkungszusammenhang vorerst abwertet. Dort, wo Hegel reine Moralität gegen empirisch-sinnliche Gehalte des Christentums in Anschlag bringt, agiert er in der Folge radikaler als Kant, auch radikaler als Fichte, zu dem er sich diesbezüglich explizit äußert. Hegel läßt dezidierter als die beiden alles Empirische der reinen Moralität zum Opfer fallen. Sein resoluter Kantianismus ist freilich in diesem Kontext immer auch eine Abgrenzungsstrategie gegen die ebenfalls kantianisierende christliche Orthodoxie. Zugleich finden wir auf diesem Denkweg aber eine gegenläufige Spur. Hegels Konzept einer reinen Moralität korrespondiert bruchlos der idealen Sinnlichkeit der Griechen, es schließt (im Unterschied zu Kant und Fichte) den Menschen als Natur- und Gesellschaftswesen je schon mit ein. Auf diesem Hintergrund kann Hegel es sich sogar erlauben, allzu formelle, sinnlichkeitsferne Moralprinzipien als Resultate des entfremdeten natürlichen Menschen zu diagnostizieren. Deutlich wird die Abneigung gegen jene Ideale, die auf ein unendliches Sollen aus sind. In Das Leben Jesu und in den folgenden Fragmenten von 1795 und 1796 sehen wir, wie die Auffassung einer reinen Moralität bald weit tiefer in Krise gerät. Das Leben Jesu und die Ausbreitung seiner Religion führen Hegel vor Augen, wie die reine, ans isolierte Individuum geheftete Moralität im sozialen Leben scheitert und sich schließlich als Prinzip einer neuen Herrschaftsreligion im kirchlichen System durchsetzt. Nun attackiert er eine subjektive Moralität, die sich postwendend an die alte Legalität klammert und sublime Formen einer

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„legalen" Moralität konstituiert. Aus dieser Sicht wird Hegels Differenz zu Kant und Fichte besonders an jenen Punkten kraß, wo beide die Moralität auf Gegenstände der Legalität anwenden und damit der Tendenz nach — so vor allem mit ihren rigorosen Strafsystemen — reduzieren. Dasselbe gilt für eine Moralität, die in sich ein psychologisches System der Dressur herausgebildet hat. In diesem Punkt beginnt Hegel denn auch bereits, die spezifische Architektonik der Moralkonzepte von Kant und Fichte — den Apriorismus — zu kritisieren. Wenn Hegel die Kantische Position auch nicht namentlich angreift, so ist dies dennoch ein klares Indiz, daß er der Differenz zu ihr bewußt geworden ist. Jedenfalls erstaunt es keineswegs — ist vielmehr die erwartete Konsequenz der Hegelschen Explikation —, wenn er in den Frankfurter Fragmenten sehr bald die Kantische Philosophie explizit als „Positives" identifiziert: „kant. Philosophie — positive Religion" (N 385). Prüft man die Entwicklung des Hegelschen Moralitätskonzepts an der inhaltlichen Seite, so ist der unkantische Impetus in seiner Entwicklung sehr kontinuierlich. Jedenfalls gibt es keinen Grund zur Annahme, der Übergang vom Berner zum Frankfurter Hegel vollziehe sich bezüglich des Moralitätskonzepts als salto mortale! Anders verhält es sich in diesem ganzen Problembereich nun dort, wo Hegel seinen Kant in die Auseinandersetzung mit der spekulativen Ich-Philosophie einbringt. In diesem Punkt hält er hartnäckiger an Kant fest, in diesem Punkt ist auch der Übergang von der Berner zur Frankfurter Zeit weniger bruchlos. Bei der Konfrontation mit der spekulativen Ich-Philosophie spätestens ab Frühjahr 1795 neigt Hegel sichtlich dazu, diese bald abzulehnen, bald modifiziert auf sein eigenes Verständnis eines moralischen Ganzen zu übertragen. Er hält sich damit (mehr oder weniger bewußt) zu einem guten Teil an den die alte Metaphysik negierenden und sie zugleich einschränkenden Kantischen „Kritizismus". So meldet er nun auch neueren spekulativen Versöhnungsentwürfen gegenüber, die wieder mit Begründungsstrukturen der alten Metaphysik argumentieren, Vorbehalte an. Die eigentlichen Motivationen in dieser Frage liegen jedoch in Hegels praktisch-politischer Kritik: der Kantische „Kritizismus" dient dem Kampf gegen die alte Autorität des politisch-religiösen Systems. Der Kritiker Hegel ist hierin ausgeprägt Kantianer, da er im sozialen Bereich einen möglichen Rückfall hinter das Kantische Freiheitsideal befürchtet. Das Kantische Verständnis einer freien Moralität soll mit der Versinnlichung in einer gegenständlicheren Realität neu fundiert

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werden, dabei aber keinesfalls einem historisch überholten Gegenstand anheimfallen.

Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie sehr die christliche Religion und Theologie der Kritik ausgesetzt sind, einer Kritik, die zudem auch nicht nur im religiösen Bereich geltend gemacht wird, ist es gerechtfertigt, insgesamt von einer sozialtheoretischen oder politischen Ausrichtung Hegels in den Berner Fragmenten zu sprechen. Das heißt nicht, daß das Objekt der Darstellung, das moralisch-soziale Ganze, nicht sowohl durch einen politischen wie auch durch einen religiösen Bereich strukturiert ist, sondern daß sich innerhalb dieses Ganzen im Laufe seiner Entwicklung eine starke, zunehmende Tendenz zu praktisch-politischen Erklärungsansätzen ergibt. Während im sogenannten Tübinger Fragment die Wirkung der Religion hauptsächlich im Hinblick auf die Natur, die Triebfedern der Menschen erörtert wird, thematisiert Hegel in den Berner Fragmenten von 1793/94 die Machtfunktion des Staates, dem er dabei auch eine emanzipatorische Rolle im Blick auf eine neue „Volksreligion" zuschreibt, ln dem Fragment Man mag die widersprechendsten Betrachtungen . . . von 1795/96 konzipiert er einen moralischen Staat, der jeglichen religiösen Staat als obsolet erscheinen läßt, Religion der freien individuellen Ausübung anheimstellt oder im Sinne eines neuen natürlichen Gemeinschaftsideals unterstützt. Der gängigen Entwicklung des modernen bürgerlichen Staates steht der Hegelsche Entwurf dabei geteilt gegenüber. Während der Verfassungsstaat, der Staat der modernen bürgerlichen Freiheitsrechte, hochgehalten wird, fällt der damit verbundene Legalitäts- und Verwaltungsstaat unter den Begriff des bloßen Maschinenstaates. Mit dieser Beurteilung reicht er nahe an die Dynamik und Widersprüchlichkeit heran, die den Staat der modernen bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnen. In Jedes Volk . . . von 1796 präsentiert sich Hegels Religionskritik in einer erstaunlichen Affinität zur historisch-materialistischen Denkweise des jungen Marx. Die Kritik der christlichen Religion steigt hinab zur Kritik der Politik: Der christlichen, himmlischen Entfremdung entspricht eine irdische, staatliche, die in ihrer historischen Genesis darzustellen ist. Ebenso bemüht sich Hegel darum, die entfremdeten aufklärerischen Denkformen aus dem Geiste der Zeit heraus zu verstehen. Es scheint mir selbstverständlich zu sein, daß diese These einer

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„politischen" Ausrichtung Hegels aus einer mehr externen Sicht relativiert werden kann. Obschon er sein Moralitätskonzept an Politik und Geschichte konkretisiert hat, bleibt Hegel, so könnte man einwenden, dennoch durch seine Perspektive einer „Volksreligion" einer „religiösen" oder „theologischen" Ausrichtung verhaftet. Daß Hegel die verändernde Wirkung der „Volksreligion" oder der subjektiven Tat überschätzt und deshalb doch letztlich idealistisch vorgeht, mag ebenfalls ein zutreffendes Gegenargument sein. Doch ändert dies eigentlich wenig an der intern auf gezeigten Verlagerung zum Politischen und an deren zentraler Bedeutung in Hegels Berner Fragmenten.

Das Problem der Vereinigungsphilosophie kann bei Hegel prinzipiell nicht von dem der erfahrenen und gedachten Entzweiung losgelöst werden, auch nicht vom Desiderat einer praktisch-sozialen Realisierung der Vereinigung. Hegel vereinigt den Gegensatz von Vernunft und Sinnlichkeit im Begriff der „Volksreligion", sodann in einer entfremdungstheoretisch konzipierten diesseitigen, selbstbestimmten Lebensform. Daß bei aller begrifflichen Vereinigungsleistung das Moment der Kritik vor jenem der Versöhnung steht, hängt präzise mit dem in der sozialen Praxis verankerten Vereinigungsbedürfnis zusammen. Entzweiung wird dadurch in aller Härte gedacht, am radikalsten dort, wo sie am praktischsten wird, nämlich am Gegenstand der moralisch-kulturellen Erneuerung Deutschlands. Hier führt ihn der Bruch, der die Gesellschaft durchzieht, nahezu in die Aporie. Die Tiefe der gedachten Entzweiung prägt schlechthin seine historische Darstellung. Hegel schreibt seine Entfremdungsgeschichte hauptsächlich als Verfallsgeschichte. Das Christentum bringt den Zerfall der antiken Welt und depraviert sodann auch in sich selbst. Da Hegel auf der anderen Seite um die Unmöglichkeit einer realen Wiedergewinnung der alten Welt weiß, ergibt sich schließlich ein äußerst gegensätzliches Geschichtsbild, das im Spannungsfeld zwischen Antike und Moderne oszilliert. Die Versöhnung zeigt sich an utopischen Einsprengungen des moralischen Staates, sie bleibt eingeschlossen in den Imperativ der Praxis. Diese radikale Entzweiung muß Hegel, um zu einer harmonischeren Vereinigungsphilosophie zu gelangen, allmählich auf geben. Mit der Gegenwart muß er sich grundsätzlicher aussöhnen. Im Geschichtsbild Hegels läuft diese Aussöhnung über einen langwierigen Prozeß des Akzeptierens der

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christlichen Religion. In der philosophischen Systematik vollzieht sich der Wandel über die Hinwendung zu einer Spekulation, die das dynamische Subjekt stärker an ein Gegensubjekt oder an ein statisches Sein bindet. In den gesamten Berner Fragmenten ist Hegels vereinigungsphilosophische Intention um den Bereich einer, teilweise ästhetisch modifizierten, moralischen Ganzheit zentriert, d. h. um einen historisch dar gestellten und normativ entworfenen Bereich des Sozialen. Der Bereich des Natürlichen steht für Hegel eher am Rande zur Diskussion. Er bezieht ihn zwar, unter dem Einfluß Schillers, mit einem moralisch-ästhetischen Blick mit ein, doch geschieht dies nicht im Sinne eines grundlegend neuen Seins- oder Naturverständnisses. Wenn Hegel am Ende der Berner Fragmente seine Vereinigungsphilosophie deutlicher ins Metaphysische bzw. Spekulative treibt, so vollführt er dies ebenfalls nicht unabhängig von seinem Entwurf des Sozialen. Begriffe wie das „Absolute", „Ewige" sind nicht auf eine abstrakte neue Ontologie aus, sondern zeigen sich als begriffliche Fortsetzung der Staatsidee, als moralisch-ästhetische Umhüllung des Sozialen. Mit dieser Form der Vereinigungsphilosophie ist das Feld abgesteckt, innerhalb dessen wir von einer dialektischen Denkweise Hegels sprechen können. Es liegt hierin selbstverständlich keine reflektierte, methodische Dialektik vor, und wir finden im Vereinigungsobjekt auch nicht jene innige Beziehung von Momenten der Vereinigung und Differenz, wie sie durch den „Lebens"- und „Seins"-Begriff in Hegels Frankfurter Fragmenten repräsentiert wird.^^ Doch lassen sich insgesamt in dem dargelegten moralisch-sozialen Ganzen Strukturen der Totalität und Entzweiung ausmachen, die deutlich den Kantischen Dualismus hinter sich lassen. Hegels kritische Haltung zur neueren Spekulation, die wesentlich durch seinen Kantischen „Kritizismus" in Sachen Metaphysik bedingt ist, besagt nicht, daß er damit auch im Kantischen Dualismus verbleibt. Mit diesem „Kritizismus" muß er Kants philosophisch-systematische Voraussetzungen nicht durchgängig übernehmen. Diese Differenz scheint mir zentral zu sein für die Frage nach der Entstehung der dialektischen Denkweise. Der (undialektische) Kantische Dualismus

Dazu Christoph Jamme: Ein ungelehrtes Buch. 278 f.

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2. Teil: Hegels Berner Manuskripte

muß logisch nicht durch eine neue Metaphysik oder Spekulation überwunden werden. So gesehen greift die Frage nach der Entstehung der Dialektik, die allein den anti-dualistischen Gang der spekulativen Vereinigungsphilosophie als Untersuchungsfeld voraussetzt (Beispiel Kondylis), eindeutig zu kurz. Eine Überwindung des Dualismus vollzieht sich bei Hegel denn auch vermöge einer sozialen Totalität, welche die abstrakte Kantische Moralität hinter sich läßt. Diese Entwicklung verläuft dabei nicht nur über ein Vereinigungsideal, sondern — und dies wohl zur Hauptsache — über das Moment des Gegensatzes, das als bestimmte Entzweiung konkretisiert wird. Die reichlich abstrakten Gegensätze von „subjektiver" und „objektiver Religion" werden mit den Berner Eragmenten besonders durch den historisch-sozialen Entfremdungsgedanken zu einem Gegensatz von selbstbestimmter und fremdbestimmter Lebensform verdichtet. Eine befriedigende Neuformulierung des Gegensatzes von Vernunft und Sinnlichkeit liegt für Hegel damit freilich noch nicht vor, denn er hat die alten Gegensätze zum Teil bloß verschoben. Nach wie vor bestimmen sie die Begriffsarbeit. Zentral ist nun aber Hegels Erfassen des Gegensatzes als Erage der Entzweiung als innergesellschaftliches Problem. Entzweiung verliert ganz den Gharakter eines dualistisch verstandenen Gegensatzes: Sie unterstellt nicht mehr einen anthropologischen oder metaphysischen Urzustand, der den Menschen je schon in einen Bürger zweier Welten aufteilt, sie ist vielmehr ein Ergebnis gesellschaftlicher Entfremdung, der Herausbildung von Herrschaftsverhältnissen. Vom Konzept her bricht Hegel mit dem Verständnis eines Gegensatzes, der allein zwecks pädagogischer Wirkung der Aufklärungstheorie überbrückt werden soll. Bedenkt man, welche zentrale Rolle der Widerspruch in Hegels späterer Auffassung von Dialektik spielt, so ist diese Entwicklung nicht zu unterschätzen. Wird die Frage nach der Entstehung der dialektischen Denkweise schließlich weniger an allgemeinen Tendenzen (Versöhnungsideal, Entzweiungsgedanke), mehr an einzelnen Denk- oder Argumentationsfiguren festgemacht, ergeben sich mit den Berner Fragmenten ab 1795 aufschlußreiche Ergebnisse. Mit Das Leben Jesu bezieht Hegel das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft intensiver in die Siehe auch die Kritik an Kondylis (die Frage des dialektischen Widerspruchs betreffend) von Thomas Kesselring: Auseinandersetzung mit der „Hegel-Legende". In: Philosophische Rundschau. 29 (1982), 238 ff.

C. Christentum und Positivität

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Entzweiungsproblematik ein; dabei thematisiert er erstmals den Gedanken der Aufopferung der abstrakten Entzweiung im Übergang zu einer Vereinigung auf höherer Ebene. Die Dialektik des (faktisch mißlungenen) „spekulativen Karfreitags" liegt in einer Rohfassung vor. Geradezu zentral für die methodischen Aspekte der späteren Dialektik Hegels ist die Art und Weise der kritischen Darstellung, besonders am Beispiel des Eingriffs in streitende Positionen. Hegel argumentiert hierbei erstmals mit dem Verweis auf die „Sache selbst". Intendiert ist das Herauslösen des Inhalts aus der Eorm streitender Positionen, das lediglich dann gelingen kann, wenn die verhandelte Sache prozessual begriffen wird. Die dialektische Eorm der Einlösung eines Geltungsanspruchs, welche die Phänomenologie des Geistes minutiös nachvollzieht, ist mit der Kritik am „Positiven" bereits zum Problem erhoben. Man wird Hegels dialektische Denkweise insgesamt als eine Art von Dialektik der Praxis bezeichnen dürfen. Sie reflektiert nicht bloß Entzweiung am praktischen Gegenstand, sieht sie sich doch auch als praktisch-eingreifendes Denken, das sich erst in der Tat des neuen Zeitalters verwirklicht hätte. Dialektisches Denken folgt in dieser Beziehung ganz dem Imperativ, die „Schäze, die an den Himmel verschleudert worden sind", als „Eigenthum des Menschen" zu „vindiciren" (GW 1. 372 = N 225). Hätte der junge Marx Hegels Berner Eragmente zu Gesicht bekommen, hätte er darin wohl einiges von jener konsequenten Dialektik gefunden, die er beim alten Hegel so sehr vermißt hat.

LITERATURVERZEICHNIS

Hinweis: Die im folgenden aufgeführten Schriften Hegels werden jeweils mit den angegebenen Siglen zitiert. Die übrigen Titel werden, wenn sie in den Anmerkungen wiederholt Vorkommen, in verkürzter Form wiedergegeben.

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